Eine tanzende Kirche: Initiation, Ritual und Liturgie im spätmittelalterlichen Frankreich 9783412504762, 9783412501891


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Eine tanzende Kirche: Initiation, Ritual und Liturgie im spätmittelalterlichen Frankreich
 9783412504762, 9783412501891

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Symbolische Kommunikation in der Vormoderne Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst Herausgegeben von Gerd Althoff, Barbara Stollberg-Rilinger und Horst Wenzel

Philip Knäble

Eine tanzende Kirche Initiation, Ritual und Liturgie im spätmittelalterlichen Frankreich

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Zugl. Dissertation Universität Bielefeld © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Rebecca Wache, Bochum Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Pátria Druckerei, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50189-1

Inhalt Vorwort ...................................................................................................................... 7 1. Präludium............................................................................................................ 9 1.1 Fragestellung ............................................................................................... 11 1.2 Tanzterminologie....................................................................................... 14 1.3 Methodik, Quellen und ihre Grenzen................................................... 17 1.4 Forschungsstand ........................................................................................ 27 1.5 Gliederung................................................................................................... 36 2. Einblicke in das Verhältnis von Tanz und Kirche (16.–21. Jahrhundert)....................................................................................... 40 2.1 Wann ist Tanz gottgefällig? – Tanztraktate des 16. und frühen 17. Jahrhunderts......................................................................................... 41 2.1.1 Protestantische Traktate................................................................ 46 2.1.2 Calvinistische Traktate .................................................................. 67 2.1.3 Katholische Traktate ...................................................................... 83 2.2 Kuriositäten der Kirchengeschichte – „Gotische“ Tanzpraktiken im Spiegel von französischen Publikationen des 17. und 18. Jahrhunderts......................................................................................... 97 2.2.1 Vom Tanz zum Ballett.................................................................... 99 2.2.2 Der „Mercure de France“............................................................... 113 2.2.3 Sammlungen von Tanzverboten.................................................. 119 2.3 Den Glauben tanzen – Die Wiederentdeckung religiöser Tanzpraktiken in der Moderne ............................................................... 123 2.3.1 Ausdruckstanz................................................................................. 126 2.3.2 Eranoskreis ....................................................................................... 130 2.3.3 Liturgischer Tanz (1970–2012).................................................. 143 2.4 Fazit .............................................................................................................. 151 3. Ecclesia saltans? – Kirchliche Tanzverbote und Tanzpraktiken in Spätmittelalter und Renaissance .................................................................... 155 3.1. Tanzausbildung und Tanzpraktiken von Klerikern in weltlichen Kontexten .................................................................................................... 156 3.2 Kirchliche Tanzregulierungen vom 4. Laterankonzil bis zum Konzil von Trient (1215–1563) ............................................................ 167 3.3 Tanzpraktiken in der Religiosität des Spätmittelalters ...................... 180 3.4 Fazit .............................................................................................................. 202

6 Inhalt 4. Die Stellung der Kanoniker in den Bischofsstädten Sens und Auxerre um 1500 .............................................................................................................. 203 4.1 Zwischen Frankreich und Burgund: Die Städte Sens und Auxerre am Ende des Mittelalters ......................................................................... 204 4.2 Die topographische Einbindung der Kathedralviertel in die Regierung der Städte.................................................................................. 212 4.3 Geregelte Verhältnisse – Die Beziehungen von Kapitel und Bischof.................................................................................................. 223 4.4 Fazit .............................................................................................................. 240 Tafelteil ...................................................................................................................... 241 5. Die Tänze der Kathedralkapitel von Sens und Auxerre ............................ 253 5.1 Platon, der Tanz und das Labyrinth – Überlegungen zur Entstehung der Tänze in Sens und Auxerre ......................................... 263 5.1.1 Der „Kosmische Reigen“ und das Christentum....................... 264 5.1.2 Spiel und Tanz bei den Liturgikern des 12. und 13. Jahrhunderts.............................................................................. 279 5.1.3 Die französischen Kirchenlabyrinthe......................................... 291 5.2 Machtvolle Initiationsrituale – Die performative Kraft von Tänzen.................................................................................................. 302 5.2.1 Die Pelotte von Auxerre ................................................................. 303 5.2.2 Die Cazzole von Sens ..................................................................... 324 5.2.3 Andere Tänze in Auxerre und Sens ............................................ 329 5.3 Ausgetanzt – Das Verschwinden der Tänze im 16. Jahrhundert..... 337 5.3.1 Die Tanzregulierungen der Provinz- und Diözesansynoden.... 338 5.3.2 Das Ende der Cazzole von Sens ................................................... 346 5.3.3 Der Prozess um die Pelotte von Auxerre..................................... 352 5.4 Fazit .............................................................................................................. 380 6. Ausklang............................................................................................................... 382 6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse .......................................................... 382 6.2 Forschungsperspektiven............................................................................ 384 6.3 Ausblick ....................................................................................................... 386 Anhang ....................................................................................................................... 390 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... 390 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 390 Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................ 391 Personenregister.................................................................................................. 422 Ortsregister ......................................................................................................... 431

Vorwort Es begann mit einer Fußmassage. Anders kann man das Thema dieser Arbeit, denke ich, nicht erklären. Im Winter 2002/03 hatte ich mich, um ein Mädchen zu beeindrucken, an einem Freitagabend in ein restauriertes Bauernhaus ins ländliche Ostwestfalen begeben, wo die Wiederbegründung einer experimentellen Theatergruppe versucht werden sollte. Sieben andere Jugendliche und ich formten deshalb unsere Körper zu Statuen, experimentierten mit unseren Stimmen und massierten uns eben auch gegenseitig die Füße. Ich hatte dabei das Glück, die Zehen des etwa 60-jährigen Leiters zu kneten, der den ganzen Tag bereits ein anstrengendes Kurspensum absolviert hatte. Trotzdem waren wir begeistert. Wir spielten also fortan jeden Freitagabend Theater. Als ein Stilmittel kamen bald auch „historische Tänze“ dazu. Die Tänze der Renaissance und des Barocks haben mich in den folgenden Jahren parallel zu meinem Geschichtsstudium immer wieder begleitet. Am Ende des Studiums kam dann mit zwei Kommilitoninnen die Idee auf, in einer interdisziplinären Studiengruppe Tanzpraxis und historische Recherchen zusammenzuführen. Bei der Lektüre der Tanzlehrbücher und der Forschungsliteratur bin ich neben den vielen kirchlichen Tanzverboten auch auf tanzfreundliche Stimmen aus dem kirchlichen Umfeld gestoßen. Mein Interesse für das ambivalente Verhältnis von Kirche und Tanz war geweckt. Aus dieser Idee ist in den letzten Jahren nun die vorliegende Arbeit entstanden, die im Oktober 2013 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie als Dissertation angenommen wurde. Ich möchte mich bei meinem Betreuer Neithard Bulst herzlich dafür bedanken, dass er sich von Beginn an auf das Thema eingelassen und mich unterstützt hat. Ebenso bin ich Franz-Josef Arlinghaus als Zweitbetreuer für hilfreiche Nachfragen und Verbesserungsvorschläge zu Dank verpflichtet. Bei Kolloquien und Konferenzen in Amsterdam, Bielefeld, Frankfurt, Genf, Göttingen, Heidelberg, Köln, Leeds und Wolfenbüttel hatte ich die Möglichkeit, mein Projekt vorzustellen. Die Ideen und Vorschläge der VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen waren dabei stets hilfreich. Für Diskussionen, Kommentare, Anregungen und ein angenehmes Arbeitsumfeld danke ich den Kolleginnen und Kollegen des Arbeitsbereichs Mittelalter/Frühe  Neuzeit und der BGHS in Bielefeld, der Abteilung Mittelalter in Osnabrück und des Seminars für Mittlere und Neuere Geschichte in Göttingen. Für niveauvolle Gespräche auch zu später Stunde bedanke ich mich herzlich bei Prof. Frank Leicowitz und seinem Team. Die BGHS hat die finanzielle Durchführung der Arbeit durch ein Doktorandenstipendium ermöglicht, auch dafür vielen Dank.

8 Vorwort Für erste tänzerische Gehversuche haben Peter Ausländer und Tina von Behren-Ausländer einen entscheidenden Beitrag geleistet. Für das Beibringen der Playford-Tänze und die Literaturhinweise zu England sei Brian Walmsley herzlich gedankt. Mit meinen beiden Kolleginnen Janina Horstbrink und Nicola Kohlmeyer hat die praktische Umsetzung der Tanzlehrbücher immer sehr viel Freude gemacht. Ihnen gebührt ein großes Dankeschön, wie auch den Studierenden aus meinen Seminaren für die Bereitschaft, notfalls auf den Tischen zu tanzen. Für Anregungen, Verbesserungsvorschläge und Korrekturen möchte ich mich gerne bei Colin Arnaud, Bettina Bommersbach-Rudnik, Julia Breittruck, Gregor Rohmann und Tanja Skambraks bedanken. Das Korrekturlesen haben dankenswerterweise „helfende Familienangehörige“, Philipp Heil und vor allem der unschätzbare Thallian Wertimol übernommen. Barbara Stollberg-Rilinger, Gerd Althoff und Horst Wenzel waren so freundlich die Arbeit in die Reihe „Symbolische Kommunikation in der Vormoderne“ aufzunehmen, die von den MitarbeiterInnen beim Böhlau Verlag kompetent betreut wurde. Ach, was aus dem Mädchen geworden ist, für das ich die anfänglichen Strapazen auf mich genommen habe, wollen Sie wissen? Nun ja, sagen wir so. Das Füße-Massieren hat sich gelohnt. Wir haben im Sommer 2013 geheiratet. Nicht nur dafür Danke. Vlotho, im Oktober 2015 Philip Knäble

1. Präludium „Ein Satanisches Ritual“, so beschreibt es der örtliche Pfarrer Johannes Lehrner, sorgte im Frühjahr  2010 für Aufsehen im österreichischen 374-Seelen-Dorf Bildein. Oder vielleicht sollte man eher von zeitweise 373 Seelen sprechen, denn eine Person wurde für ihr Vergehen bis zum 1. Juni von ihrer kirchlichen Aufgabe als Lektor entbunden und durfte nicht zur Kommunion gehen.1 Was hatte sich ereignet? Friedhofsschändung? Ein Angriff gegen Geistliche? Ein Verbrechen gegen Kinder? Nichts von alledem, sondern eine „Tanzeinlage“ war es, die dem örtlichen Bürgermeister diese Strafe einbrachte. Er hatte wie viele andere den „G’schertn Ball“ besucht, wo sechs Bands und die Burleskeshow „La Petite Mort“ mit Stripeinlagen für lockere Tanzbeine und schwungvolle Hüften sorgen sollten. Gegen das göttliche Gebot, empfand der katholische Geistliche, und sah die temporäre Exkommunikation als gerechte Strafe für die Teilnahme an diesem Tanzvergnügen an. Als völlig überzogen wurde die Reaktion kommentiert, zahlreiche Gemeindemitglieder drohten mit Kirchenaustritt, fühlten sie sich doch in ein finsteres Mittelalter zurückversetzt, als die Kirche Tanz und andere Vergnügungen peinlich genau überwachte. Und zugegeben, weder die Kirchenväter mit ihren Hasstiraden noch die mittelalterliche Kirche mit ihren Verboten haben bisher durch ihre Begeisterung für Tänze von sich reden gemacht. Eher scheint der Ausspruch von Jacques de Vitry kennzeichnend für diese Epoche zu sein: „Chorea enim circulus est cujus centrum est diabolus“2 – „Der Tanz ist ein Kreis, dessen Mitte der Teufel ist“. Die historische Forschung sieht dies ganz ähnlich. „Jeder Tanz ist – davon waren die Theologen des Mittelalters überzeugt – eine Inszenierung des Teufels“3, urteilen Werner Röcke und Rudolf Velten 2007 in ihrem Aufsatz zur Tanzwut. Auch in dem mehr als 1000  Seiten zählenden Standardwerk „Geschichte der Religiosität im Mittelalter“ von Arnold Angenendt kommt der Autor zu diesem Urteil: „Zur Musik gehört der Tanz. […] Aber auch hiergegen richteten die Christen schärfste Kritik. Ihnen wurde der Tanz ‚schlechthin zum Ausdruck 1 Darüber berichtete der Artikel von Roland Pittner, „Nackte Tatsachen sorgen für Eklat“ im Kurier vom 22.06.2010, online unter: http://www.genios.de/pressea r c h i v / a r t i ke l / K U R / 2 0 1 0 0 6 2 2 / n a c kt e - t a t s a c h e n - s o r g e n - f u e r - e k l a t / 0750850820730690820952010%2006220223160055.html [Eingesehen am 30.09.2015]. 2 Jacques de Vitry, Sermones vulgares domini Jacobi Vitricensis, Paris, BNF, ms. lat. 17509, fol. 146, zitiert nach: Koal 2007, S. 32. 3 Röcke/Velten 2007, S. 312.

10 Präludium heidnischer Frömmigkeit‘. Das Mittelalter sah darin Teufelswerk.“4 Ganz ähnlich argumentiert Teresa Berger für die frühe Kirche: „Die Haltung der offiziellen Kirche gegenüber dem Tanz war nicht einfach ‚ambivalent‘, sondern eindeutig und übermächtig negativ.“5 Ebenso sieht Marion Koch die Auseinandersetzung der christlichen Kirche mit dem Phänomen des Tanzes als eine Aneinanderreihung von Tanzverboten: „Vom Frühchristentum ausgehend, ist die Geschichte des Tanzes die Geschichte seiner Verbote, seiner Zensur und seiner Moralisierung. Es gibt fortan keine Epoche, in der nicht versucht wird, den Tanz entweder gänzlich zu verbannen oder ihn zumindest unter Kontrolle zu bekommen. Durch die Reformation erfährt das ‚Nein‘ des Tanzes eine Radikalisierung.“6 Tanz spielte demnach – folgt man den genannten AutorInnen – in der Religiosität des Spätmittelalters nur eine marginale Rolle. Zu eindeutig sei die ablehnende Haltung der Kirche gewesen, als dass Tanz in legitimer Weise im sakralen Rahmen hätte stattfinden können. Tänze wurden – wenn überhaupt – nur verbotenerweise von Laien oder jungen Klerikern zu ausgelassenen Festen, wie etwa den karnevalesken Feierlichkeiten zwischen Weihnachten und Neujahr, aufgeführt. Als Belege für diese Sichtweise werden vor allem die zahlreichen Tanzverbote, die von Konzilien und Synoden beschlossen wurden, sowie tanzkritische Predigten und tanzfeindliche Passagen aus den Schriften der Kirchenväter angeführt. Besonders scharf geahndet wurde, wenn an Feiertagen oder in Kirchen getanzt wurde, vor allem der Klerus sollte sich des Tanzes enthalten. In den französischen Bischofsstädten Sens und Auxerre scheinen diese Verbote im Spätmittelalter wenig Geltung besessen zu haben. Dort fanden spätestens seit dem 14.  Jahrhundert bis zum Anfang des 16.  Jahrhunderts Tänze an Ostern, dem höchsten Feiertag der Christenheit, in den Kathedralen statt. Keineswegs verbotenerweise von Laien, sondern von den Kanonikern der Kathedralen. In Auxerre etwa tanzten die rund 50 Kanoniker auf dem im Kirchenboden eingelassenen Labyrinth und spielten sich einen Ball zu, der von einem Neuanwärter auf ein Kanonikat gestiftet wurde. Die Kanoniker zelebrierten die Aufnahme neuer Mitglieder somit jährlich durch einen Tanz, um anschließend mit Vertretern der Stadt und den herzoglichen bzw. königlichen Verwaltern ein Festmahl zu feiern. Auch bloß Teufelswerk? Oder gab es jenseits der Ablehnungen und Verbote noch andere Stimmen im mittelalterlichen Tanzdiskurs? Bereits 1999 merkte der Musik- und Tanzhistoriker Walter Salmen an, dass die Vorstellung einer ausschließlich tanzfeindlichen europäischen Kirche durch 4 Angenendt 2009, S. 421. 5 Berger 1985, S. 27. 6 Koch 1995, S. 158.

Fragestellung

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die vielfältigen Quellenbelege revidiert werden müsse. Er sieht „die Kirche des Mittelalters zwar nicht allerorten, jedoch vielerorts auch [als] eine ‚ecclesia saltans‘“7 an. Mit Verweis auf Salmen geht Irmgard Jungmann für das Mittelalter davon aus, „dass es rituellen Tanz als Form auch christlicher Gottesverehrung gegeben hat, dass Kleriker wie Laien in der Kirche um den Altar herum tanzten“8. Diese Einschätzungen werden von Barbara Ehrenreich bekräftigt, die das Spätmittelalter als Epoche ansieht, in der Tanz in Kirchen nicht nur toleriert, sondern durch tanzende Geistliche aktiv gefördert worden sei.9 Für den französischen Raum wird diese Sichtweise von Marianne Ruel bestätigt, denn erst im Verlauf des Spätmittelalters habe sich ein Verbot von Tänzen allmählich im kirchlichen Raum durchgesetzt: „Avant le moyen âge tardif, la danse est tolérable et tolérée, même pour les ecclésiastiques.“10 Für das 12.  Jahrhundert meint Julia Zimmermann annehmen zu können, dass „tanzartige Bewegungen sogar in der Liturgie ihren Raum haben“11. Ebenso hält Helga Kuhlmann eine Korrektur an der generell als tanzfeindlich beschriebenen Geschichte des Christentums für notwendig. Sie lehnt die These ab, dass die Reformation allgemein dem Tanz noch kritischer gegenüberstand und eine Verschärfung der Tanzverbote forderte. Stattdessen sollte kontextabhängig geprüft werden, welche Arten von Tanz mit welcher Begründung akzeptiert bzw. abgelehnt wurden.12

1.1 Fragestellung In meiner Dissertation möchte ich das skizzierte Spannungsfeld zwischen allgemeiner Verdammung von Tanz und „ecclesia saltans“ ausloten und untersuchen, in welcher Weise tänzerische Praktiken legitimer Ausdruck von Religiosität im kirchlichen Kontext des 15. und 16. Jahrhunderts werden konnten. Anstatt Tanz vorschnell als verbotene Körperpraxis zu stigmatisieren, geht es vielmehr darum, zu untersuchen, inwiefern und mit welcher Legitimation Tanzpraktiken in die Religiosität des Spätmittelalters eingebunden waren. Wer initiierte die Tänze, wer nahm daran teil und wann und wo fanden diese Tänze statt? Schließlich gilt es auch, danach zu fragen, welche Faktoren ein Verschwinden der Tanzpraktiken im Verlauf des 16. Jahrhunderts bewirkt haben. 7 8 9 10 11 12

Salmen 1999a, S. 24. Jungmann 2002, S. 15. Vgl. Ehrenreich 2007, S. 77. Ruel 2006, S. 372. Zimmermann 2007, S. 14. Vgl. Kuhlmann 2008, S. 215–20.

12 Präludium Fragen zur Religiosität in der Vormoderne – bevor die Welt entzaubert wurde – sind immer wieder Gegenstand der Geschichtswissenschaft.13 Auf der einen Seite scheint es keine Handlung im Alltag gegeben zu haben, die nicht in irgendeiner Form religiös konnotiert war, auf der anderen Seite wurde streng auf die Unterscheidung von weltlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit, Fastenzeit und Fest usw. geachtet. Ob jemand als Ketzer verbrannt wurde oder die Kirche zu ihren Grundfesten zurückführte, unterlag vielfältigen Aushandlungsprozessen, so dass Vorstellungen von Religiosität ständig performativ hergestellt wurden. Ich fasse Religion deshalb im Sinne Durkheims als „eine eminent soziale Angelegenheit“14 auf und interessiere mich deshalb für die sozialen Dimensionen von Religiosität bei gesellschaftlichen Handlungspraxen.15 Der Fokus auf das Soziale schließt dabei nicht die Ebene der Transzendenz aus, sondern die Vergesellschaftung wird gerade über die Thematisierung von Transzendenz möglich. Die Körperpraxis Tanz ist ein Medium, das eine Kommunikation mit dem Göttlichen erlaubt und es schafft, das Jetzt mit anderen Zeitebenen, wie etwa der Schöpfung, zu verbinden. Für die Arbeit beschränke ich mich auf Praktiken einer institutionalisierten Amtskirche, die in Bezug zur Liturgie oder ihrem Umfeld, d.h. in einem „paraliturgischen“16 Kontext, stattfinden. Damit sind Tänze gemeint, die in einem sakralen Raum wie einer Kathedrale, einem Kloster oder einem Kirchhof stattfinden, während christlicher Feiertage geschehen und von Geistlichen, die ordnungsgemäß geweiht wurden, praktiziert werden. Die Tänze befinden sich damit im Bereich des Außeralltäglichen, mit Durkheim könnte man sie als efferveszente Momente deuten,17 die im Christentum durch den Festkalender institutionalisiert wurden.18 Mit dem Fokus auf Tänze von Klerikern an kirchlichen Feiertagen im Kirchenraum sollen genau jene Personen in den Blick rücken, die in der Forschung bisher fast ausschließlich als Tanz ablehnende und ihn verbietende Gruppe aufgetreten sind. Von Beginen, spätmittelalterlichen Mystikern, von dem Häresieverdacht nahestehenden Orden oder von frühen christlichen Missionaren in Amerika und Asien mag man vielleicht irgendwelche Tanzpraktiken erwarten, von den Kanonikern der großen Kathedralkirchen dagegen weniger. Um herauszuarbeiten, dass auch diese Klerikergemeinschaften Tanz als Ausdrucksmöglichkeit von Religiosität verstanden, soll zunächst die Frage nach der Legitima13 14 15 16 17 18

Zum Forschungsstand vgl. Angenendt 2009, S. 21–31. Durkheim 1981, S. 28. Zu sozialen Formen von Religiosität siehe: Schreiner 2002, S. 10 ff. Zum Begriff „paraliturgisch“ vgl. Müller 2001, S. 66 ff., Rohmann 2013, S. 208. Vgl. Durkheim 1981, S. 296 ff. Vgl. Tyrell 1996, S. 436 f.

Fragestellung

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tion von Tanzpraktiken und ihren Regulierungen erneut aufgerollt werden. In einem zweiten Schritt soll dann anhand von zwei Fallstudien der Kanonikergemeinschaften von Sens und Auxerre die konkrete Ausgestaltung der Tänze, ihre Einbettung in den kirchlichen Festkalender und Legitimation sowie schließlich ihr Verbot im 16. Jahrhundert untersucht werden. Die Bischofsstädte Auxerre und Sens bieten sich insofern für einen Vergleich an, da beide Kathedralen dem Heiligen Stephanus geweiht sind, architektonische Ähnlichkeiten, wie etwa das Labyrinth im Kirchenschiff, besitzen und Gemeinsamkeiten bezüglich der liturgischen Gestaltung der Kirchenfeste aufweisen. Die Beschränkung auf eine Kirchenprovinz ist insofern sinnvoll, da die lokalen Traditionen der einzelnen Kathedralkapitel eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung und dem Ende kirchlicher Rituale spielten. Ein transnationaler Vergleich würde bei dem bisherigen Forschungsstand Gefahr laufen, voreilige Schlussfolgerungen der älteren, sich als universell verstehenden Tanzgeschichte zu reproduzieren.19 Der Fokus auf die Mikroebene erlaubt dagegen, Akteure zu benennen, ihre Verflechtungen im städtischen Herrschaftsgefüge darzustellen und unterschiedliche Interessen herauszuarbeiten. Die Dissertation behandelt damit einen nahezu klassischen Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft: männliche weiße Eliten20 im urbanen Raum Westeuropas. Die Verbindung mit Tanz, der im heutigen Westeuropa häufig mit weiblich, nicht-weiß und dem ländlichen Raum außerhalb Europas assoziiert wird, sorgt jedoch für Irritation und wendet neue Sichtweisen auf einen bekannten Gegenstand an. Somit wird ein Thema, das bisher vor allem die Ethnologie und Religionswissenschaft beschäftigte, auf die Geschichtswissenschaft ausgedehnt, und kann möglicherweise Brüche in einem Geschichtsbild bewirken, das versucht, die Entwicklung Europas als einen kontinuierlichen Prozess der Modernisierung darzustellen. Dabei geht es zunächst darum, das heutige westeuropäische Verständnis von Tanz kritisch zu hinterfragen.21 Zum einen hatte Tanz nicht nur den Stellenwert eines simplen Freizeitvergnügens, wie heutzutage häufig über Tanz geurteilt wird, sondern war ein zentrales Mittel politischer Kommunikation und gesell19 Etwa in den Arbeiten von Böhme 1886, Sachs 1933, Backman 1952, in Teilen auch noch bei Klein 1992. Als Perspektive für weitere Forschungen wäre dieser Vergleich dann äußerst interessant. 20 Dass es sich dabei um religiöse Eliten handelt, ist für den Zeitraum der Vormoderne keine allzu große Überraschung. 21 Renate Schlesier (2007, S. 132) macht darauf aufmerksam, „dass es in vielen Gesellschaften kein Wort gibt, das dem okzidentalen Konzept ‚Tanz‘ entspricht, und dass andererseits manche Gesellschaften über Begriffe verfügen, die zwar auch ‚Tanz‘ im okzidentalen Sinne, aber zugleich viel mehr umfassen“.

14 Präludium schaftlicher Inklusion und Exklusion.22 Zum anderen steht mit der Aufhebung der Tanzfeindlichkeit der Kirche die allgemein unterstellte kirchliche Verdammnis des Körpers zur Disposition. Körperliche Ausdrucksweisen von Religiosität sind für das Spätmittelalter vielfach belegt, allerdings werden sie vor allem mit dem Begriff der „Volksfrömmigkeit“23 in Zusammenhang gebracht. Untere Bevölkerungsschichten seien wegen mangelnder Latein- oder Lesefähigkeiten auf körperliche und visuelle Medien angewiesen gewesen. Tanz als legitime religiöse Praxis von gebildeten Geistlichen, den vielfach zitierten Verfassern der Verbote, ist in der Forschung bisher kaum in Erwägung gezogen worden. Der Untersuchungszeitraum umfasst das 15.  und 16.  Jahrhundert, wenngleich an einigen Stellen zum besseren Verständnis auf mittelalterliche Vorläufer oder das frühe 17. Jahrhundert verwiesen wird. Der Fokus ist dabei auf Frankreich und seine Nachbarn gerichtet, eben das, was man geläufig Westeuropa nennt. Zum einen bestehen Verbindungen der französischen Kirche zum römischen Papst, zum anderen lässt sich die Reformation in Frankreich nicht ohne die deutschen und schweizerischen Reformatoren erklären, ebenso ist die Gegenreformation schlecht ohne die spanischen Einflüsse vorstellbar. Zudem geht es mir darum, aufzuzeigen, dass Tänze im kirchlichen Kontext nicht auf Frankreich beschränkt waren, auch wenn die Praktiken und die Begründungen dafür regional sehr unterschiedlich ausgefallen sein mögen.

1.2 Tanzterminologie Eine universelle phänomenologische Abgrenzung von Tanz zu Bewegungen im Spiel, zum Schreiten zur Musik bei Prozession oder theatralen Gesten im Gottesdienst erscheint wenig sinnvoll. Dem Tanz soll sich deshalb semantisch genähert werden. Tanz ist das, was von den ZeitgenossInnen als Tanz bezeichnet wird. Eine etymologische Untersuchung der damaligen Tanztermini zeigt ein sehr umfangreiches Vokabular in den Volkssprachen. Allein für den mittelhochdeutschen Sprachraum weist Ann Harding zwischen 1150 und 1450 mehr als 200 unterschiedliche Termini für tänzerische Bewegungen und einzelne Tänze nach.24 Für das 15. und 16. Jahrhundert ist von einem ähnlich umfangreichen Vokabular auszugehen, klagt doch der Straßburger Prediger Geiler von Kai22 Exemplarisch dafür: Braun/Gugerli 1993, McGowan 2008a, Schulze 2012. 23 Vgl. zum Begriff: Holzem 2002, S. 258–270. 24 Vgl. Harding 1973, S. 5. Zimmermann (2007, S. 28.) merkt dazu an, dass sie längst nicht alle Bezeichnungen aufgenommen hat.

Tanzterminologie

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sersberg über die Anzahl der Tänze, „… wann ich sie all wolt erzellen, het ich wol ein gantze Wochen gnug zu schaffen“25. Für den französischsprachigen26 Raum liefert die Studie von Peggy Berman „French Names for the Dance to 1588“ ebenso zahlreiche Ergebnisse. Vor allem in Tanzlehrbüchern wird Tanz mit zahlreichen Wörtern beschrieben, aber auch tanzkritische Schriften führen stets eine Vielzahl von Namen auf, um die Verbreitung des Tanzes und seine Gefahren zu betonen. So enthält etwa das um 1520 für seine Studienkollegen humorvoll verfasste Tanzlehrbuch von Antoine Arena nicht nur die gebräuchlichen Begriffe dansare, choreare, ballare, tripudiare, sondern auch Bezeichnungen wie dansarisare, trepare, tricotare, die Bewegungsmuster genauer ausführen.27 Der Humanist Rabelais listet allein im fünften Buch seines „Pantagruel“ mehrere hundert verschiedene Bezeichnungen für Tänze auf,28 auch wenn ein Großteil von ihnen verschiedene Formen des branle29 umschreibt. Das in den kirchlichen Quellen verwendete Latein umfasst deutlich weniger Ausdrücke, was die Erkennung der Tanzbewegungen jedoch nicht erleichtert. Eine Klassifizierung der Tänze, wie sie häufig vorgenommen wird, etwa nach chorus (Reigen), saltatio (Sprungtanz) und tripudium (Dreischritt) scheint nicht sinnvoll, vielfach ist auch unklar, ob chorus in der Quelle nicht Gesang oder tripudium nicht Jubel bezeichnet.30 Zwar kennt bereits das klassische Latein den Begriff chorea zur Bezeichnung von Tänzen, doch der parallel verwandte Begriff chorus umfasst weiterhin noch Bewegungen zum Gesang.31 Ähnlich verhält es sich mit dem Verb ludere, das in der Vulgata sowohl spielerische als auch tänzerische Bewegungen wiedergibt. Somit wird deutlich, dass die strikte Trennung von Tanz und Musik vielmehr als Besonderheit der europäischen Moderne angesehen werden muss und sich nicht einfach auf die Vormoderne übertragen lässt. Vielmehr ist zunächst da25 Geiler von Kaisersberg, Johann, Predigten zu Brandt’s Narrenschiff, in: Scheible 1845, S. 554. 26 Im französischen Königreich wurde um 1500 neben dem Hochfranzösisch noch Okzitanisch (langue d’oc), Baskisch, Bretonisch und Flämisch gesprochen. Erst im 16. Jahrhundert setzte sich das Hochfranzösisch als Verwaltungssprache durch. Dazu: North 2007, S. 69 f. Da in den untersuchten Diözesen das Hochfranzösisch gesprochen wurde, wird sich im Folgenden auf diese Sprache konzentriert. 27 Vgl. Arena 1990, S. 9, Arenas Buch ist in einer Mischung aus Okzitanisch und Latein geschrieben. 28 Vgl. Berman 1968, S. 21. 29 Eine sehr verbreitete Tanzart in der französischen Renaissance, vgl. dazu: Saftien 1994, S. 179–187. 30 Vgl. Spanke 1930, S. 151, La Rue 1995, S. 25–29. Zur etymologischen Herleitung von „chorus“ (ΧOPÓΣ) vgl. Isar 2011, S. 7 ff. 31 Ausführlicher dazu: Rohmann 2013, S. 173–180.

16 Präludium von auszugehen, dass etwa der Begriff tripudium nicht Tanz oder Jubel, sondern Tanz und Jubel beschreibt. Dies würde den hebräischen Termini aus dem Alten Testament nahe kommen, die keine Differenzierung zwischen Freude, Musik und Tanz zuzulassen scheinen, sondern alle drei Aspekte in einem Begriff enthalten. Ist bereits bei diesen Ausdrücken die Gewichtung in die eine oder andere Richtung nur über den Kontext möglich, gilt dies erst recht für eine Reihe von anderen Begriffen. So verwendet der spätantike Autor Boëthius den Begriff lustrare zur Beschreibung einer Tanzbewegung. Erst das Wissen, dass Boëthius in diesem Fall das griechische Wort perichoreuein übersetzt, lässt erkennen, dass er an eine neoplatonische Denktradition anschließt, die auf die Kreisbewegung der Gestirne rekurriert.32 Zumindest für das 16. Jahrhundert scheint die Bedeutung greifbarer zu werden. Im Dictionarium Latinogallicum von Charles Estienne, das 1544 in Paris erschienen ist, wird tripudium mit danse übersetzt, das Verb tripudiare mit danser oder trepiner wiedergegeben. Auch das Wort chorus behält seine tänzerische Bedeutung und wird als „l’assemblée et couronne de ceulz qui voyent iouer les ieux, ou de gens qui dansent“ übersetzt.33 Bisherige Einteilungen nach schichtspezifischem Vokabular, wie es Böhme für das Mittelhochdeutsche mit den Begriffen tanz und reie vorschlägt34, oder systematische Einteilungen, wie sie unter anderem Curt Sachs35 mit der Unterscheidung von „engbewegten“ und „weitbewegten“ Tänzen versucht, bieten keine Hilfe. Dennoch wurden derartige Schemata in der Forschung häufig lange Zeit unkritisch übernommen. Für Böhmes Klassifizierung etwa zeichnet Julia Zimmermann einen weitreichenden Einfluss bis in die aktuelle Forschungsliteratur nach.36 Auch die von Jacques Chailley vorgeschlagene Unterteilung des Vokabulars in chorea und tripudium für religiöse Tänze und saltatio und ballatio für profane Tänze stößt für das Beispiel Auxerre an seine Grenzen.37 Die Beschreibung des 16. Jahrhunderts nutzt nämlich die Begriffe saltatio, tripudium und chorea, um die Bewegungen zu kennzeichnen. So bleiben nur die jeweils kontextabhängige Erschließung der Begriffe und die Einsicht, dass über die Art der Tanzbewegung häufig keine Aussage gemacht werden kann. 32 Vgl. Miller 1986, S. 479. 33 Estienne 1544a, S. 113, 695, die spätere Ausgabe des „Dictionarium Latinogallicum“ von Dupuys, Paris 1570, übersetzt „tripudium“ weiterhin mit „danse“. Das Lexikon enthält allerdings nicht mehr den Begriff „chorus“, sondern nur noch „chorea“. 34 Vgl. Böhme 1980, Bd. 1, S. 3–5. 35 Ganz zu schweigen von seinen problematischen Unterteilungen in „tanzarme“ und „tänzerische“ Völker oder „männliche“ und „weibliche“ Tänze, dazu: Sachs 1933, S. 7–33. 36 Dazu: Zimmermann 2007, S. 17. 37 Vgl. Chailley 1969, S. 364.

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1.3 Methodik, Quellen und ihre Grenzen „Ich hatte große Probleme mit Sprachen, konnte einfach nicht verstehen, warum man Sprachen so wichtig findet. Ich denke, auch heute, daß Bewegungen und Gangarten bei den Menschen viel wichtiger sind als Sprachen.“38 Helge Schneider, „Globus Dei“

Methodik I Einleitungen zu Tanz neigen dazu, sich irgendwann in scheinbar schwülstigen, esoterisch angehauchten Sätzen zu verlieren. Dies liegt vor allem daran, dass beim Tanzen Erfahrungen oder Sinneseindrücke stattfinden, die sich nicht in Sprache übersetzen lassen. Denn „Tanz, in seiner Vielfalt, verkörpert dieses Wissen als eine Praxis und in einer spezifischen Weise, die so nur dem Tanz eigen ist: nonverbal, als Körperbewegung, die Raum und Zeit gestaltet“39. Ich stehe damit vor dem Dilemma, dass der Tanz immer mehr ist, als es die Sprache wiedergeben könnte, ganz gleich, ob man ihn als ganzheitlich, als emotionale Erfahrung, als „tacit knowledge“ oder wie auch immer bezeichnet. Dieses Problem war bereits am Rande Gegenstand der älteren Forschung und wird in neueren Arbeiten, wie etwa bei Gabriele Brandstetter, zunehmend problematisiert: „Reden über Bewegung. Eine Sprache für die Erfahrung und die Wahrnehmung finden – dies ist eine Herausforderung, die nie gelingen kann. Dennoch lohnt es sich, sie anzunehmen, denn es ist die einzige Möglichkeit, die unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensformen zum Ausdruck zu bringen und sie in ein Verhältnis zu setzen, das die Spannungen, Widersprüche, die Lücken und die Grenzen sichtbar werden lässt.“40 Als Zugriff, um mit diesem Problem umzugehen, hat Milton Singer den Begriff „Cultural Performance“ vorgeschlagen, unter dem er „particular instances of cultural organization e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“41 versteht. Geprägt Ende der 1950er Jahre in der Ethnologie hat der Begriff innerhalb des „Performative Turn“42 der 1990er Jahre 38 Schneider 2009, S. 58 f. 39 Brandstetter/Wulf 2007, S. 9. 40 Ebd., S. 91. Siehe dazu auch: Witte 2007, S. 155–164, Thurner 2009, S. 33–48, Huschka 2009, S. 12–24, Schulze 2012, S. 17 f., 35–42. 41 Singer 1959, S. XII. 42 Dazu grundlegend: Bachmann-Medick 2009, S. 104–144.

18 Präludium Einzug in die Kulturwissenschaften gehalten, die „Cultural Performances“ als ein wesentliches Element gesellschaftlicher Ordnung betrachten und an ihnen das Geflecht aus politischem, sozialem und kulturellem Wandel untersuchen.43 Alle Arten von Aufführungen unterscheiden sich demnach von Artefakten oder Texten durch ihre Einmaligkeit, wodurch sie „weder fixier- noch tradierbar sind, sondern flüchtig und transitorisch“44. Nicht tradierbare Handlungen jenseits von teilnehmender Beobachtung zu untersuchen, wird häufig an der simplen Schwierigkeit scheitern, dass es für sie keine Quellen gibt. Historikerinnen und Historiker können nur über Texte und Artefakte versuchen, sich diesen Performances zu nähern, allerdings in dem Wissen, ihren Gegenstand nur verfehlen zu können. Der Grad der Verfehlung kann jedoch variiert werden. Fragen zu dem Komplex flüchtiger Performances und ihrem Auftreten in den Quellen beschäftigen auch mediävistische Forschungen zur symbolischen Kommunikation und Ritualen. Wie Barbara Stollberg-Rilinger anmerkt, erhält das inszenierte Ritual durch seinen Transfer in Schrift- oder Bildmedien eine zweite Inszenierung, deren Gattungstraditionen und Darstellungsweisen das Ritual verändern.45 Allgemein stellt sich dabei die Frage nach dem Stellenwert von Schriftlichkeit in diesen Gesellschaften, z.B. welche Gattungsmuster vorherrschen, welche Materialien verwendet werden, wer über Kenntnisse des Schreibens verfügt und inwiefern Schriftlichkeit und Mündlichkeit nebeneinander existieren.46 Sich diese Bedingungen zu vergegenwärtigen und offenzulegen, hilft, Rückschlüsse im Hinblick auf die Materialität der bewegten Körper, die Ereignishaftigkeit der Performance und die Ambivalenz von Bedeutungen ziehen zu können.47 Nachdem die methodischen Schwierigkeiten kurz angerissen worden sind und deutlich wird, dass die Rekonstruktion performativer Akte über Texte und Artefakte ein wesentliches Problem der Arbeit darstellt, sollen zunächst die in der Arbeit untersuchten Quellen vorgestellt werden. Dadurch wird deutlicher werden, welche inhaltlichen Fragestellungen und methodischen Herangehensweisen sich als fruchtbar erweisen könnten.

Quellen Informationen über Tänze im kirchlichen Kontext lassen sich aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Quellen gewinnen, die im Folgenden kurz systematisiert 43 44 45 46 47

Vgl. Fiebach 2004, S. 127 f. Fischer-Lichte 2003, S. 38. Vgl. Stollberg-Rilinger 2008, S. 17. Vgl. dazu: Müller 2001, S. 63–71. Vgl. Fischer-Lichte 2003, S. 40 f.

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werden sollen. Neben Quellen, die sich dezidiert mit Tanz befassen, liefert eine Reihe anderer Quellen implizit Hinweise auf tänzerische Praktiken der Vormoderne. Gerade im kirchlichen und juristischen Kontext, in dem ein hohes Maß an Schriftlichkeit herrschte, lassen Quellen immer wieder Hinweise auf die Thematik zu, auch wenn Tanz dabei nur Gegenstand eines Abschnittes oder Halbsatzes ist. Die Quellenlage für die Tänze in Auxerre und Sens wird noch einmal ausführlicher zu Beginn des vierten Kapitels behandelt.48 a) Tanzlehrbücher, Tanztraktate, Tanzhistoriographien Der Tanz war schon im Mittelalter Thema in Predigten, Bibelkommentaren und Streitschriften. Allerdings entstehen Abhandlungen über den Tanz und insbesondere Tanzlehrbücher erst im Spätmittelalter, als sich der Tanz als ein wesentliches Element in der Erziehung innerhalb des Adels herausbildet. Auch im aufstrebenden Bürgertum des 15. Jahrhunderts kommt der Wunsch auf, Tänze für Feste und feierliche gesellschaftliche Ereignisse zu erlernen und zu choreographieren. So entstehen bedingt durch die Herausbildung der Profession des Tanzmeisters und der damit verbundenen Verschriftlichung der Tanzschritte sowie der Medienrevolution des Buchdruckes im 15. Jahrhundert die ersten Abhandlungen über Tanz, deren Zahl seit dem 16. Jahrhundert deutlich ansteigt. Gemeinsamkeit all dieser Quellen ist, dass sie sich dezidiert mit Tanz befassen. Der Begriff Tanztraktate wird in der Forschung sowohl für Bücher verwendet, die sich in erster Linie die Vermittlung von Tänzen zum Ziel gesetzt haben, als auch für Werke, die sich mit der Frage befassen, ob und unter welchen Umständen Tanz erlaubt oder vielmehr nicht zulässig ist. Nur Letztere sollen im Folgenden als Tanztraktate bezeichnet werden, während Erstere unter dem Begriff „Tanzlehrbücher“ behandelt werden sollen.49 Die Tanzlehrbücher versuchen tänzerische Bewegungsabläufe über schriftliche Aufzeichnungen zu vermitteln, wobei sie sich in Umfang und Stil maßgeblich unterscheiden. Vor allem französische und italienische Autoren, vereinzelt auch englische und spanische Tanzmeister, haben Tanzlehrbücher verfasst, während aus Deutschland bis in das 17. Jahrhundert keine entsprechenden Werke überliefert sind. Angefangen von Auflistungen der Tanznotationen mit und ohne Musik über genaue Erklärungen von Bewegungsfolgen mit Bebilderung bis hin zu ausführlichen Ausführungen über die Geschichte, die Begründung und die gesellschaftliche Einordnung von Tanz bildet diese Quellengattung ein 48 Siehe S. 254–263 dieser Arbeit. 49 Verständlicherweise enthalten Tanzlehrbücher vielfach in ihren Einleitungen Apologien für den Tanz und ebenso lassen sich Hinweise auf Tanzbewegungen aus den Traktaten rekonstruieren.

20 Präludium breites Spektrum ab.50 Für diese Arbeit sind vor allem die darin enthaltenen Ausführungen über die Geschichte, die Begründung und die gesellschaftliche Einordnung von Tanz von Interesse, um Hinweise darauf zu bekommen, mit welchen Argumenten Tanz gerechtfertigt wird und ob sich dabei mit Tanzverboten und tanzkritischer Literatur auseinandergesetzt wird. Darüber hinaus bieten die Quellen Aufschluss darüber, zu welchen Anlässen welche Art von Tänzen getanzt wurde, wo diese stattfanden und in welcher Weise der Klerus dabei involviert war. Neben den Tanzlehrbüchern beurteilen auch die im 16. Jahrhundert in den Volkssprachen gedruckten Tanztraktate die zeitgenössische Tanzpraxis. Die Betrachtung erfolgt darin von einem moralisch-theologischen Standpunkt aus, wobei Bibel, Kirchenväter und klassische antike Autoren die wichtigsten Referenzen sind.51 Auch wenn Titel wie der „Tanzteuffel“ von Florian Daul oder „Ein gottseliger Tractat von einem ungottseligen Tanz“ von Johan von Münster eine sehr einseitige Sicht auf den Tanz nahelegen, finden sich in den Quellen Differenzierungen darüber, wann Tanz gestattet und wann er verboten ist. Dabei offenbaren die Traktate aber auch die Tanzanlässe und Tanzorte, wer an den Tänzen teilnimmt und die Art der Bewegungen. Sie sind überwiegend von Geistlichen verfasst – häufig basieren sie auf den schriftlichen Fassungen ihrer Predigten – und sind an andere Geistliche gerichtet, die sie als Orientierungshilfe für ihre Predigten verwenden oder direkt in ihren Kirchen verlesen. Die Traktate sind als Bestandteil des „Flugschriftenkrieges“ der Reformation zu verstehen, so dass die Diskreditierung der Tanzpraktiken anderer Konfessionen darin immer wieder Thema ist.52 Somit liefern sie wichtige Hinweise auf Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext ihrer Zeit. Die Tanztraktate des 16. Jahrhunderts enthalten bereits historische Exempla oder kurze geschichtliche Einführungen zum Tanz. Dezidierte historische Abhandlungen entstehen allerdings erst ab dem späten 17. Jahrhundert in Frankreich.53 Die wiederum vorwiegend geistlichen Autoren versuchen über einen Rückgriff auf historische Vorbilder aktuelle Tendenzen der französischen Tanzkultur am Hof zu legitimieren oder Veränderungen anzuregen. Beim Rückblick auf das Mittelalter streifen fast alle Arbeiten das Verhältnis von Tanz und Kirche in dieser Zeit. 50 Vgl. Saftien 1994, S. 103–106, 139–143, 203–205, 223–226, 268–287, Neville 2008a, S. 7. 51 Vgl. Petermann 1978, S. 3–8. 52 Für eine ausführliche Darstellung siehe Kap. 2.1. 53 Siehe dazu: Kap. 2.2.1.

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b) Kirchliche Tanzregulierungen Eine Religion, die den Anspruch erhebt, auf das gesamte Leben ihrer Gläubigen Einfluss zu nehmen, kommt im Spätmittelalter und der Renaissance nicht daran vorbei, sich mit Tanz auseinanderzusetzen. Kirchliche Rechtsetzung geschieht vor allem auf Konzilien, die unter päpstlicher Aufsicht einberufen werden, regional beschränkten Synoden einer Kirchenprovinz und den lokalen Bistumssynoden.54 Darüber hinaus entwerfen einzelne Bischöfe, päpstliche Legaten oder Institutionen wie die Pariser Sorbonne unabhängig von den Synoden Handlungsanweisungen. Diese normativen Quellen versuchen Anleitungen für ein legitimes Handeln zu implementieren sowie als deviant erachtetes Verhalten über Sanktionen zu bekämpfen.55 Hinweise auf eine Umsetzung oder vielmehr auf eine Nichtumsetzung dieser Vorschriften ließen sich möglicherweise auch in Visitationsprotokollen56 finden. Für die ausgewählten Fallstudien sind derartige Register jedoch nicht mehr vorhanden. c) Gerichtsbeschlüsse Uneinigkeiten darüber, inwiefern Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext erlaubt waren und ausgestaltet wurden, konnten zu Rechtsstreitigkeiten führen. Im Fall von Auxerre endete die Zerstrittenheit des Kapitels in einem Gerichtsprozess, der zunächst vor dem lokalen bailliage ausgetragen wurde und als Appellation an das Pariser Parlament ging. Im Verlauf des Prozesses fertigten die Schreiber der Gerichte Mitschriften an, die später in die Register des bailliage und Parlaments übertragen wurden.57 Die Gerichtsakten dokumentieren den Verlauf der Verhandlung bis zur Urteilsverkündung. Neben der offiziellen Bewertung des Gerichts lassen sie dabei auch Argumentationsstrukturen der einzelnen Parteien erkennen. Sie sind eine wichtige Quellengattung, um die Abschaffung der Tänze und die Beweggründe für ihr Verbot zu rekonstruieren.

54 Vgl. Pontal 1975, siehe dazu auch: Kap. 2.2 und 5.3.1. 55 Für protestantische Gebiete kamen als ganz ähnliche Quellengattung ab dem 16. Jahrhundert Kirchenordnungen auf, die jedoch hier nicht behandelt werden. Auch die weltlichen Tanzregulierungen in Dorf- oder Polizeiordnungen werden nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Vgl. zu diesen Quellengattungen: Sehling 1905–1913, fortgeführt vom Institut für Evangelisches Kirchenrecht 1955–80; Härter 1996 ff. 56 Zu dieser Quellengattung, ihrer Verbreitung und den erhaltenen Registern vgl. Coulet 1977, Oberste 1999. 57 Vgl. Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 321 f., AN x1a1541, fol. 434v–435r. Siehe dazu ausführlicher Kap. 5.3.3 dieser Arbeit.

22 Präludium d) Liturgische Bücher Wenn Tanz in einem liturgischen oder paraliturgischen Kontext stattfindet, ist davon auszugehen, dass sich in den liturgischen Büchern Spuren davon finden lassen. Als liturgische Bücher bezeichnet man Schriftstücke, welche die Auswahl der Messgesänge und Lesungen oder die Ausgestaltung der Feierlichkeiten an den Hochfesten oder allgemein das Verhalten im Kirchenraum regeln. Der Ordinarius/Liber ordinarius/das Ordinale etwa versucht den genauen Ablauf der Feste zu gestalten, das im Glossarium von Du Cange als „liber in quo ordinatur modus dicendi et sollemnizandi divinum officium“58 qualifiziert wird. Neben den Ordinarii gibt es eine Vielzahl anderer liturgischer Bücher. Während Antiphonar und Brevier die an den Festen gesungenen Lieder enthalten, dienen Rituale, Prozessionale und Manuale in erster Linie als präzise Anleitung für die Organisation der Zeremonien, die Glockengeläut, Anzahl der Chorknaben, Anzahl der Kerzen, die Dekoration des Altars etc. vorschreiben.59 In ähnlicher Weise beschreibt das Zeremoniale Kleidung, Farbgestaltung und Gesten im Kirchenraum. Jedes Kloster und jede Kathedrale verfügte damit über einen Fundus an diesen Büchern, die über das liturgische Jahr hinweg lokal Messe, Prozessionen und Feste regeln. Für besondere Feste existieren zudem eigenständige Messbücher, da sich Liturgie und Messausgestaltung dann deutlich vom restlichen Kirchenjahr abheben.60 Die liturgischen Bücher liefern somit hilfreiche Informationen zur Musik und möglicherweise auch zu Tänzen oder tänzerischen Bewegungen, da sie auch die Bewegungsabläufe für die Ortswechsel der Kleriker und Chorknaben beschreiben. Andererseits gibt es auch liturgische Handbücher, die versuchen die symbolische Bedeutung von Messfeier, Kirchenfesten und kirchlicher Architektur zu erläutern. Gerade im 12.  und. 13.  Jahrhundert entstand mit den Schriften von Johannes Beleth, Sicard von Cremona, Wilhelm von Auxerre und Wilhelm Durandus eine Reihe von liturgischen Handbüchern, die sich an gebildete Kleriker richten.61 Für die episkopale Messe etwa war das Werk „Rationale divinorum officiorum“ von Wilhelm Durandus, des Bischofs von Mende (1285–1296), bis in das 15. Jahrhundert ein zentrales Referenzwerk.62 Obgleich die Liturgiker den Anspruch erheben, für die gesamte Christenheit zu sprechen, erwähnen sie häu58 Du Cange 1886, Bd. 6, Sp. 57b, „ein Buch, in dem die Art der Sprache und der feierlichen Ausgestaltung des Gottesdienstes geregelt wird“. 59 Vgl. Martimort 1991, S. 62–66. 60 Zu dieser Quellengattung siehe: Martimort 1991, Lebeuf 1992, S. 9  f., Palazzo 1993. 61 Vgl. Kap. 5.1.2. 62 Vgl. Martimort 1991, S. 107 f.

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fig auch regionale und lokale liturgische Praktiken. Ihre Bücher liefern insofern wertvolle Informationen zur Entstehung und Verbreitung kirchlicher Tänze in Hoch- und Spätmittelalter. e) Diverse Schriftquellen Hinweise auf Tänze im religiösen Umfeld lassen sich zudem in vielen anderen Quellengattungen vermuten. Zum einen können sie Gegenstand der Korrespondenz von Bischöfen oder Reformatoren sein, die darüber berichten, wenn es Veränderungen im Tanzverhalten gibt. Reiseberichte und Festbeschreibungen nehmen sich möglicherweise des Themas an. Vereinzelt findet sich auch in Rechnungsbüchern der Eintrag, dass Musiker oder Chorknaben an bestimmten Festen Zuwendungen erhalten haben. Für die Tänze der Kanoniker stellen die Statuten und Register der Kathedralkapitel eine wichtige Quellengattung dar. Für Sens und Auxerre sind die Register jedoch nur lückenhaft überliefert, so dass dafür lediglich auf Abschriften und Publikationen aus dem 18. Jahrhundert zurückgegriffen werden kann.63 f) Bildquellen, Musik, Artefakte Neben den Textquellen liegt eine Reihe von Bildquellen aus den unterschiedlichsten Kontexten vor. Vor allem ihre Einbettung, sei es als Skulpturen oder Wandmalereien, in die architektonische Gestaltung des Kirchenraumes spielt dabei keine unbedeutende Rolle. Durch welche Raumeinheiten bewegen sich die Tänzer, auf welche nehmen sie Bezug, inwiefern ändert diese spezielle Anordnung von Körpern im Raum die Atmosphäre des Raumes? Die musikalische Untermalung der Tänze darf bei der Untersuchung nicht übersehen werden. Ergänzend zu den Lied- bzw. Gebetstexten der liturgischen Bücher wirkt auch die Verteilung der Textanteile und Singstimmen auf den Tanz ein. Welche Bewegungsabläufe unterstützt die Musik? Werden Instrumente verwendet? Nicht auszuschließen ist, dass bestimmte Artefakte, wie liturgische Gegenstände oder Kleidung, die bei den Tänzen verwendet wurden, erhalten sind und das Bild vervollständigen könnten.

Methodik II Nachdem dargestellt worden ist, welche Schwierigkeiten bei der Erforschung eines so flüchtigen Gegenstandes wie dem Tanz auftauchen können und welche Quellen für die Untersuchung zur Verfügung stehen, geht es darum, mögliche 63 Vgl. Bisaro 2011, S. 116, Villetard 1911, S. 105. Ausführlicher dazu Kap. 5.

24 Präludium methodische Zugriffe auszuloten. Ich orientiere mich zunächst an Forschungsansätzen aus der Historischen Anthropologie, die in Anschluss an Jacques Revel und Carlo Ginzburg eine experimentelle Offenheit beim Umgang mit Theorien aus Geschichtswissenschaften, Soziologie und Ethnologie vorschlagen.64 Durch einen Perspektivenwechsel von Mikro- und Makroebene, Überkreuzen von mentalitätsgeschichtlichen Vorstellungen einer longue durée und Mikrochronologie, gespickt mit „dichten Beschreibungen“ à la Geertz, Performanzforschung, Körpergeschichte, Diskursanalyse und interdisziplinären „Ritual Studies“ scheint das Themenfeld Tanz im kirchlichen Kontext von ganz unterschiedlichen Seiten betrachtet werden zu können. Das klingt sehr interdisziplinär, methodisch innovativ, dem Zeitgeist der Wissenschaft entsprechend und vor allem schrecklich schwammig. Darum versuche ich im Folgenden die Auswahl der verschiedenen Methoden, die auf meinen Schreibprozess einwirken, offenzulegen. Der Umfang, aber auch die Unverträglichkeit einiger Methoden untereinander bewirken eine Herangehensweise, die scheitern muss, aber versucht reflektiert zu scheitern, und (hoffentlich) gerade im Scheitern bisherige Erkenntnisse in Frage stellt, andere Sichtweisen aufzeigt und neue Forschungsfelder eröffnet. Meine Arbeit lässt sich in Anlehnung an Michel Foucault im weitesten Sinne als Bestandteil einer „Ethnologie des Abendlandes“65 verorten. Ein wichtiges Anliegen der Arbeit ist es, selbstverständliche Annahmen unseres imaginierten Kulturraumes, wie die Trennung von Kirche und Tanz, zu historisieren und ihre Konstruiertheit offenzulegen. Vor allem im ersten Kapitel folge ich zudem Ansätzen der historischen Diskursanalyse nach Landwehr und Sarasin, die ein weites Verständnis des Diskursbegriffes unter Einbeziehung der nonverbalen Praktiken vertreten. Eine körperliche Dimension des Diskurses ist bereits im foucaultschen Begriff des Dispositivs angelegt, lässt sich aber auch etymologisch begründen. Das lateinische discurrere kennzeichnet zunächst eine Bewegung und auch der französische Begriff discours kann im 16. Jahrhundert noch eine disperse Bewegungsart beschreiben.66 Somit könnten Elemente der Diskursanalyse angewandt werden, vor allem wenn man die Antwort des Tanzmeisters Arbeau auf die Frage nach der Zuordnung des Tanzes innerhalb der sieben freien Künste liest: „Mais principallement tous les doctes tiennent que la danse est une espece de Rhetorique muette, par laquelle l’Orateur peult par ses mouvemeňts, sans parler un seul mot, se faire entendre, & persuader aux spectateurs, quil est

64 Vgl. Tanner 2004, S. 114 f. 65 Landwehr 2008, S. 97. 66 Siehe Eder 2006, S. 10.

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gaillard digne d’estre loué, aymé, & chery.“67 Besonderes Interesse gilt dem Tanzdiskurs des 16. Jahrhunderts, in dem geistliche Autoritäten über Traktate und Predigten, über Strafen und eigene Verweigerung der Teilnahme an Tänzen versuchen Einfluss auf die „Grenzen des Tanzbaren“ zu nehmen. Die Disziplinen Anthropologie und Ethnologie erweisen sich als weit erfahrener im Umgang mit der Thematik, da sie sich seit ihren Anfängen mit Gesellschaften befasst haben, in denen religiöse Tänze eine bedeutende Rolle zu spielen scheinen.68 Häufig werden diese unter dem Begriff „rituelle Tänze“ beschrieben, so dass eine Anwendung des in der mediävistischen Forschung ohnehin schon prominenten Ritualbegriffs nahezuliegen scheint, mit dem sich seit einigen Jahren in zahlreichen Studien über die nonverbale Ebene der Gesten, Formeln und Symbole auseinandergesetzt wurde.69 Auch wird in jüngeren Forschungen auf die Verbindung von Ritualen mit den bildenden Künsten und der Musik hingewiesen,70 meines Erachtens wird dabei jedoch der rituelle Charakter von Tänzen noch weitgehend vernachlässigt.71 Mit Blick auf Tanzpraktiken könnte das „Grundvokabular“72 der symbolischen Kommunikation um ein bisher wenig beachtetes Feld erweitert werden. Als Rituale verstehe ich eine Folge von aufeinander bezogenen symbolischen Handlungen, Gesten, Bewegungen, Lautäußerungen, die sich durch eine gewisse Form und ihre Wiederholbarkeit auszeichnen. Rituale sind zudem „Cultural Performances“, deren Teilnehmende auf eine feierliche und demonstrative, sich vom Alltag abhebende Weise ihr Verhältnis zu bestehenden Ordnungs- und Wertesystemen ausdrücken.73 Durch sie können sowohl Identitäten bestimmter Gruppen durch Exklusion anderer gestärkt als auch Statuswechsel symbolisch vollzogen werden. Der performative Aspekt von Ritualen macht jedoch eine exakte Iteration unmöglich und eröffnet so Spielräume für Veränderungen. Ein 67 Arbeau 1588, S. 5r. „Im Allgemeinen halten alle Gelehrten den Tanz für eine Art stummer Rhetorik, durch die der Redner über seine Bewegungen – ohne ein Wort zu sagen – sich Gehör verschaffen kann und die Zuschauer überzeugen kann, dass er lebensfroh, würdig gelobt zu werden, liebenswert und reizend ist.“ 68 Vgl. Michaels 2007, Schlesier 2007, neuere Tendenzen der Forschung diskutiert Buckland 2006. 69 Siehe dazu exemplarisch Schmitt 1990, Althoff 2003, Martschukat/Patzold 2003, S. 1–33, Arlinghaus 2009, S. 274–291. 70 Dazu: Stollberg-Rilinger 2008, S. 15–19. 71 Eine aktuelle Ausnahme bilden Schulze 2012, S. 17–42, 459–462, Walsdorf 2013, S. 23–36. 72 Stollberg-Rilinger 2008, S. 18. 73 Vgl. Tambiah 1979, S. 119, Althoff 2003, S. 13  f., Stollberg-Rilinger 2008, S. 15, Schulze 2012, S. 26 f., Stollberg-Rilinger 2013b, 8–13.

26 Präludium Wandel von Ritualen spiegelt dabei stets Veränderungen im Macht- und Herrschaftsgefüge wider, wie auch neue Herrschaftsformen Änderungen an bestehenden Ritualen vornehmen.74 Da die Tänze in Sens und Auxerre anlässlich der Aufnahme neuer Kanoniker in das Kapitel praktiziert wurden, können sie als Rituale der Amtseinsetzung oder Initiation begriffen werden. Dabei kann auf zahlreiche Forschungen aufgebaut werden, die sich mit der Amtseinsetzung von Königen, Bischöfen oder städtischen Ratsherren auseinandergesetzt haben und die Einbindung bestimmter Gesten, wie etwa den Kniefall, als Bestandteil der Rituale diskutiert haben.75 Die Tänze sollen dabei nicht auf ihren Bewegungsaspekt reduziert und losgelöst untersucht werden, sondern ihre musischen und theatralen Aspekte sowie die Einbettung in die sakrale Architektur und den kirchlichen Kalender sollen dabei Berücksichtigung finden. Für beide Fallstudien möchte ich mich deshalb mit der Frage beschäftigen, inwiefern die Tänze in Anlehnung an Arnold van Gennep und Victor Turner als Rituale des Statusübergangs (Rites de Passage) betrachtet werden können.76 Während bei Turner Tänze nicht im Mittelpunkt der Beobachtung stehen, wird in vielen tanzethnologischen Studien die Bedeutung von Tänzen als Initiationsriten immer wieder betont. Ethnologische Untersuchungen lenken den Blick beispielsweise auf das Erlernen von Ritualen, auf „RitualexpertInnen“ und die Wirkungen von Trance. Es geht mir aber nicht um einen direkten Transfer dieser ethnologischen Ansätze auf das Spätmittelalter, sondern vielmehr um die Frage, welche bisher unberücksichtigten Sichtweisen und Herangehensweisen eine Betrachtung ethnologischer Forschungen77 zu den Themen religiöser Tanz und Rituale aufzeigen könnte. Zudem schließe ich an Arbeiten des Berliner Son74 Vgl. Althoff 2003, S. 10. 75 Steinicke/Weinfurter 2005, Weinfurter 2005, S. 1–9, Stollberg-Rilinger 2008, S. 21–44, 68–72. 76 Vgl. Van Gennep 1981, bes. S. 14 f., Turner 2005, S. 94–111, für eine mediävistische Auseinandersetzung mit Turner vgl. Arlinghaus 2004, S. 108–156, insbesondere S. 109 f., 148 f., Stollberg-Rilinger 2013b, S. 24 ff. 77 Neuere Ansätze aus der Ethnologie würden im Zuge des „Postcolonial Turn“ kritisieren, dass die ethnologische Forschung des 20. Jahrhunderts in politische Konstellationen, kulturelle Denkmuster und wissenschaftliche Konzepte dieser Zeit eingebunden war. Ethnologie war Bestandteil eines „colonial discourse“, der eine Hierarchie der Kulturen beinhaltete und einem Geschichtsbild folgte, das eine europäische Erfolgsgeschichte des Fortschritts zum zentralen Gegenstand hatte. EthnologInnen arbeiteten deshalb vielfach bewusst oder unbewusst mit binären Kategorisierungen wie zivilisiert/unzivilisiert, rational/emotional und konstruierten anhand dieses Schemas die von ihnen untersuchten Gesellschaften. Dies müsste bei der Verwendung dieser Studien reflektiert werden. Vgl. dazu Schlesier 2007, S. 134 f., Smith 2008, S. 1–5, 19–30.

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derforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ (2001–2010) um Erika Fischer-Lichte an, die nach der starken Konzentration auf Texte im Verlauf des „Linguistic Turn“ für eine Untersuchung gesellschaftlicher Handlungsprozesse plädieren. Galten Aufführungen, Zeremonien und Rituale bisher als Abbildungen von Gesellschaftsordnungen – wenn sie nicht als bloßes Beiwerk abgetan wurden –, wird seit dem „Performative Turn“ darauf Gewicht gelegt, dass sie Bedeutungen nicht nur abbilden, sondern auch selbst erzeugen.78 Da die Tänze in den Kirchen der Bischofssitze stattfanden, wurde häufig angenommen, dass die Bischöfe stets daran teilnahmen. Dies lässt sich vielerorts und auch für Sens nachweisen, in Auxerre dagegen scheinen die Quellen nahezulegen, dass die Tänze am Ostersonntag ausschließlich von der Kanonikergemeinschaft von Saint-Etienne zelebriert wurden. Die Kathedralgemeinschaften dürfen nicht – wie es lange Zeit geschehen ist – automatisch als Untergebene und Bedienstete der Bischöfe identifiziert werden. Viele Kanonikergemeinschaften hatten sich im Hochmittelalter das Recht erkämpft, sich ihre eigenen Statuten zu geben, und unterstanden nicht mehr der Rechtssprechung des Bischofs, sondern unmittelbar der des Apostolischen Stuhls. Die Arbeit beschäftigt sich insofern mit den komplexen Beziehungen und Machtgefügen zwischen Bischof und Kapitel, aber auch innerhalb der sich als Einheit verstehenden Kapitel. Somit stellt sich die Frage, inwiefern die Kanoniker über rituelle Tänze Identität performativ herzustellen versuchten, inwiefern sie dabei ihre Stellung zu anderen kirchlichen und städtischen Organisationsformen definierten und warum diese Rituale im 16. Jahrhundert an Akzeptanz verloren.

1.4 Forschungsstand Da die Erforschung spätmittelalterlicher Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext bisher kaum von der Geschichtswissenschaft behandelt worden ist, es gleichzeitig aber eine Fülle von Arbeiten aus ganz unterschiedlichen Disziplinen gibt, die das Thema berühren, gestaltet sich der Forschungsstand alles andere als übersichtlich. Es dürfte bezeichnend sein, dass die in der Forschung vielleicht am meisten rezipierte Publikation zum Verhältnis von Tanz und Kirche erstens mittlerweile 60  Jahre alt ist und zweitens aus einer Disziplin stammt, von der dieses Interesse wenig erwartet wurde. Es handelt sich um das 1952 veröffentlichte Werk „Religious Dances in the Christian Church and in Popular Medicine“ des schwedischen Pharmakologieprofessors Eugène Louis Backman 78 Vgl. Fischer-Lichte 2004a, S. 23–41.

28 Präludium (1883–1965), das zunächst 1945 in Stockholm unter dem Titel „Den religiösa dansen inom kristen kyrka och folkmedicin“ erschienen war. Wie schon der Titel verrät, interessierte den Mediziner Backman vor allem die Verbindung von Tanz und Krankheitskonzepten und die medizinische Heilung durch Tanz, so dass sich die zweite Hälfte seines Werkes auf die Geschichte der „Tanzepidemien“ konzentrierte. Neben der medizinischen Erklärung, die er in den Folgen der Mutterkornvergiftung sah, interessierte er sich auch für den religiösen Kontext der Tänze, die er im ersten Teil in den Kapiteln „Sacred Church Dances“ und „Popular Church Dances“ ausführlich beschrieben hatte.79 Seine Darstellung gilt trotz der inhaltlichen und methodischen Unzulänglichkeiten weiterhin als die umfangreichste Einführung in das Thema, was weniger für das Buch, als gegen die schlecht überschaubare Forschungslage spricht. Deshalb soll hier nur ein allgemeiner Überblick über die Forschungen zum Verhältnis von Tanz und Kirche in den wichtigsten Disziplinen erfolgen. Die Publikationen aus dem Bereich Theologie/Religionswissenschaft werden aufgrund ihrer Vielzahl, ihres ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Anspruchs und ihres Einflusses auf aktuelle religiöse Tanzpraktiken noch einmal eigenständig im ersten Kapitel behandelt. Ebenso wird der Forschungsstand zu den Tänzen in Auxerre und Sens zu Beginn des fünften Kapitels noch einmal separat erfolgen.80

Soziologie/Ethnologie Auch wenn sich kaum ein Werk der Soziologie dezidiert mit sakralen Tänzen des Mittelalters auseinandersetzte, besteht doch ein deutlicher Einfluss soziologischer Theorie innerhalb des Themenkomplexes. Es sind vor allem zwei Klassiker, Émile Durkheims (1858–1917) „Les formes élémentaires de la vie religieuse“ von 1912 und Norbert Elias’ (1897–1990) „Über den Prozeß der Zivilisation“ von 1939, die zahlreiche Studien zum Verhältnis von Tanz und Religion bis in die Gegenwart beeinflusst haben. Nicht von der europäischen Vormoderne, sondern von einer ethnologischen Arbeit zu den australischen Warramunga von 1899 ausgehend, entwickelte Émile Durkheim die These, dass sich die Vorstellung von Religion und damit die Entstehung von Gesellschaften aus Momenten der „Efferveszenz“, d.h. einem kollektiven, der Ekstase nahestehenden Tanz entwickelt habe.81 Durkheims 79 Vgl. Backman 1952, S. vii, 270. 80 Siehe: S. 254–263. 81 Dazu ausführlicher: Rutherford 2007, S. 297–303, Schlesier 2007, S. 135 f.

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These von den Wechselwirkungen von Tanz und Religiosität beschäftigte in den folgenden Jahrzehnten vor allem die ethnologische Tanzforschung. Während ältere Arbeiten Tanz bei außereuropäischen Gemeinschaften automatisch eine religiöse Funktion zuschrieben, wird die vorschnelle Verbindung von Tanz und Religiosität in neueren Arbeiten als Bestandteil des „Colonial Discourse“ problematisiert.82 Norbert Elias’ Studie über die Veränderungen der höfischen Kultur vom Mittelalter bis in die Moderne, die über „Psychogenese“, die innere, individuelle Affektkontrolle, und „Soziogenese“, die parallel dazu einhergehende gesellschaftliche Differenzierung und Zentralisierung von Macht, eine „Zivilisierung“ bestimmter Handlungen bewirkten, war Grundlage vieler Arbeiten zur (Sozial-) Disziplinierung. Mit explizitem Bezug zum Tanz zeigte Rudolf zur Lippe, wie die offenen Reverenzen und Tanzbewegungen der Renaissance innerhalb der Vormoderne stärker choreographiert wurden und damit zur Instrumentalisierung der Körper genutzt werden konnten.83 Bei der Untersuchung der Face-to-Face-Kommunikation in der Frühen Neuzeit behandelt Dmitri Zakharine auch Tanz und konstatiert, dass Kommunikation vor allem über Distanzen und Bewegungen von Körpern erfolgt. Er sieht im Verlauf des 16. bis 19. Jahrhunderts in Anschluss an Elias ebenfalls eine Regulierung und Standardisierung der Gestensprache, durch die soziale Strukturen inkorporiert wurden.84 Gabriele Kleins tanzwissenschaftliche Dissertation „FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes“ von 1992 und Marion Kochs Dissertation „Salomes Schleier“ von 1995 in Pädagogik wurden ebenfalls deutlich von Elias beeinflusst.85 Neben der höfischen Selbstdisziplinierung trat nun vor allem die Kirche als zentrale Disziplinierungsinstanz in Erscheinung, die bestrebt war, Tänze zu regulieren oder vollständig zu verbieten.86 In einer musiksoziologischen Studie etwa zeigt Irmgard Jungmann auf, wie weltliche und kirchliche Instanzen im 15. und 16. Jahrhundert Versuche unternommen haben, die Tanzpraktiken unterer Schichten zu normieren.87 In Dekalogdarstellungen, Predigten und ab dem 16.  Jahrhundert auch in Traktaten wurde von Geistlichen Kritik an Tänzen geübt, die parallel zum Gottesdienst 82 Vgl. Weidig 1984, Spencer 1985, Snyder 1986, S. 22–32, Nürnberger 2000, Krasberg 2002, Buckland 2006. 83 Zur Lippe 1988. 84 Zakharine 2005, bes. S. 7–15, 628–633. 85 Vgl. Koch 1995, S. 38–41, Jung 2001, S. 19. 86 Vgl. Koch 1995, ebenso Stocks 2000, die sich im Bezug auf Disziplinierung theoretisch aber weniger auf Elias, sondern auf Max Webers Konzept der christlichen, asketischen Lebensführung stützt. 87 Jungmann 2002.

30 Präludium stattfanden oder deren Bewegungen unangemessen erschienen. Im Gegensatz zu der Vorstellung einer tanzabstinenten Kirche macht Jungmann darauf aufmerksam, dass die Initiatoren der Verbote häufig selbst getanzt haben. Aktuelle Tendenzen der Soziologie, vor allem innerhalb der soziologischen Praxistheorie, greifen das verstärkte Interesse für körperliche Praktiken auf.88 Auch Ansätze, die eine „körperlich-leibliche Dimension des Handelns“89 als zentralen Bestandteil einer Handlungstheorie etablieren möchten, scheinen ein künftiges Interesse der Soziologie an der Körperpraxis Tanz anzudeuten.

Musikwissenschaft Tanz wissenschaftlich zu reflektieren, fand lange Zeit vor allem in der Musikwissenschaft statt, bevor sich die Tanzwissenschaft seit den 1990er Jahren als eigene Wissenschaftsdisziplin entwickelte. Die großen Tanzgeschichtsschreibungen, wie Franz Böhmes (1827–1898) „Geschichte des Tanzes in Deutschland“ 1886 oder Curt Sachs’ (1881–1959) „Weltgeschichte des Tanzes“ von 1933, sind von Musikwissenschaftlern verfasst worden. Die Bände sind weiterhin eine Fundstelle für Zitate und Hinweise, ihre häufig mit anthropologischen Konstanten und Dichotomien argumentierenden Deutungen sind allerdings ausgesprochen problematisch.90 Für das Verhältnis von Tanz und Kirche bleiben die Darstellungen außerdem weitestgehend auf kirchliche Konzilienbeschlüsse und die Tanzwut beschränkt. Ausgehend von der Jugendmusikbewegung als Bestandteil der Reformpädagogik der 1920er Jahre, begann ein Interesse für vormoderne Musik, den Nachbau von alten Instrumenten und den Versuch, die Aufführungspraxis dieser Epoche zu rekonstruieren.91 Die daraus entstandene Alte-Musik-Bewegung institutionalisierte sich innerhalb der Musikwissenschaft an einigen Universitäten, vor allem an der heute noch bestehenden „Schola Cantorum Basiliensis“. Die daraus entstandenen Forschungen, etwa in den Arbeiten von Wulf Arlt zu den Festoffizien französischer Kathedralen, behandelten dabei sekundär auch Tanzpraktiken von Geistlichen.92 In Frankreich hatte sich der Musikwissenschaftler André Pirro (1869–1943) ab 1930 intensiv mit der Musik der französischen Vormoderne auseinandergesetzt. Seine SchülerInnen Yvonne Rokseth (1890– 88 89 90 91

Vgl. Bourdieu 1987, S. 97–146, Reckwitz 2008, S. 97–130, Alkemeyer 2009. Böhle/Weihrich 2010, S. 7. Siehe dazu: Schlesier 2007, S. 138 f. Vgl. Kolland 1998, S. 379–394, für Ideen zur Aufführungspraxis vgl. Saftien 1984, 1988, Ausländer 1991. 92 Vgl. etwa Arlt 1970, 2000.

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1948)93 und Jacques Chailley94 (1910–1999), der 1952 den ersten Lehrstuhl für Musikgeschichte an der Sorbonne ins Leben rief, zeigten ein ebenso starkes Interesse an mittelalterlicher Musik. In ihren Aufsätzen demonstrieren sie die vielfältigen Tanzpraktiken französischer Geistlicher im Mittelalter und deuten bereits die fließenden Übergänge zwischen Tänzen und Prozessionen an, womit beide grundlegende methodische Herausforderungen problematisierten. Auch in Deutschland setzt in der Musikwissenschaft etwa zu dieser Zeit das Interesse für Tanz im kirchlichen Kontext ein. Vor allem Walter Salmen, der sich seit 1950 Fragen zu Musik und Tanz im Mittelalter widmete, hat in seinem umfangreichen Werk immer wieder das Verhältnis von Tanz und Kirche behandelt und als einer der ersten in Deutschland auf die Tanzpraxis des Klerus aufmerksam gemacht.95 Der Heidelberger Musikwissenschaftler Reinhold Hammerstein (1915–2010) konnte mit seinen Studien zu Darstellungen von Tanz und Musik in der christlichen Ikonographie des Mittelalters zudem zeigen, dass zahlreiche Kunstwerke die Musik des Teufels, aber auch tanzende Engel oder Davids Tanz vor der Bundeslade zum Thema haben.96 Er trug damit dazu bei, die positive Bewertung von Tanz in der klerikalen Kultur des Mittelalters aufzuzeigen. Ab den 1980er Jahren hat sein Salzburger Kollege Wolfgang Brunner mit Aufsätzen zu dem französischen Domherrn und Verfasser eines Tanzlehrbuchs Arbeau oder der lutherischen Tanzkultur des 16.  Jahrhunderts das musikwissenschaftliche Interesse an den Schnittstellen von Tanz und Christentum in der Vormoderne erweitert.97 Ein jüngst erschienener Aufsatz von Sara Falke bleibt dagegen weitgehend in den Deutungen der älteren universellen Tanzgeschichte verhaftet, macht aber in Anlehnung an Hammerstein zumindest ansatzweise auf positive Deutungen von Tanz im Christentum aufmerksam.98

Tanzwissenschaft Mit der Etablierung der Tanzwissenschaft als universitärer Disziplin in den 1990er Jahren haben nicht nur die wissenschaftlichen Arbeiten zum Tanz zuge93 Rokseth 1947, S. 93–126. 94 Chailley 1969, S. 357–380, Chailley 1949, S. 18–24. Wegen Chailleys unrühmlicher Tätigkeit am Pariser Konservatorium während der Besatzung – so soll er 1940 eine Liste der jüdischen Studierenden erstellt haben – entfachte der 2011 vorgebrachte Vorschlag, einen neuen Hörsaal in der Sorbonne nach ihm zu benennen, einen lautstarken Protest. Vgl. zu seiner Tätigkeit während des 2. Weltkrieges: Chimènes 2001. 95 Vgl. Salmen 1993, 1997a, 1999a, 1999b, 2008. 96 Vgl. Hammerstein 1962, 1974, 1980. 97 Vgl. Brunner 1983, 1991, 1994. 98 Vgl. Falke 2012, S. 50.

32 Präludium nommen, sondern auch Reflexionen über die Tanzhistoriographie. Zunehmend wird deshalb sehr kritisch auf die sich als universale Tanzgeschichte verstehenden Darstellungen von den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart geschaut und diese als eurozentrische Erzählungen des Balletts dekonstruiert.99 In dieser teleologischen Geschichtsschreibung fanden außereuropäische Tanzformen häufig nur als Relikte von „primitiven Kulturen“ Einzug und das europäische Mittelalter wurde weitgehend auf eine dunkle Epoche, geprägt von Pest, Totentanz und Tanzwut, reduziert. Die Tanzwissenschaft konzentrierte sich zunächst auf Themen zum späten 19., dem 20. Jahrhundert und der Gegenwartskunst. Zwar dominieren die Moderne und Zeitgeschichte weiterhin, allerdings sind in den letzten Jahren auch verstärkt Publikationen zum 17. und 18. Jahrhundert erschienen.100 Neben dem französischen Hofballett als klassischem Thema werden nun auch andere europäische Adelshöfe erschlossen, es wird sich aber auch mit der Tanzpraxis im religiösen Kontext, namentlich an den Jesuitenschulen101, dem Prozessionswesen in Sevilla102 oder der puritanischen Tanzkritik103 beschäftigt. Hierbei findet notwendigerweise eine Diskussion über die bisher hauptsächlich benutzten Quellen, Fotos, Bild- und Tonträger, Requisiten, Libretti und Choreographien statt, die für die Vormoderne nicht zur Verfügung stehen.104 So scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch das 16. Jahrhundert und das Spätmittelalter verstärkt Gegenstand der Tanzwissenschaft werden. Pionierleistungen haben bisher Margaret McGowan mit ihren Studien zum französischen Hofballett der Renaissance und Barbara Sparti, die sich vor allem mit den Tanzlehrbüchern der jüdischen Tanzmeister der Renaissance, ihrem Wirken und der Rekonstruktion ihrer Tänze beschäftigt, geleistet.105 Die Tanzlehrbücher der Renaissance sind durch das aus der Alte-Musik-Bewegung entstandene Interesse an der Rekonstruktion von Tänzen sicher die am meisten diskutierten Quellen dieser Epoche.106 Hierbei standen aber vor allem die Musik und Tanz99 100 101 102 103 104

Vgl. Klein 2010, S. 81–90. Siehe: Schroedter 2004, Anglo 2011. Rock 1996, Walsdorf 2011, 2013. Brooks 1988. Wagner 1997. Zu aktuellen Debatten zum Verhältnis von Tanz und Quellenkritik siehe: Buckland 2006, S. 3–51, Huschka 2009, S. 25–106, Thurner 2009, S. 9–32, dies. 2010, Jeschke 2010, S. 207–225, Schulze 2012, S. 17–41. Für einen Versuch, Tanzbewegungen aus dem Blickwinkel der Neurowissenschaften zu betrachten, sei auf Bläsing 2010 verwiesen. 105 McGowan 2008b, Sparti 2007, 2011. 106 Taubert 1968.

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bewegungen im Vordergrund, während sich kulturhistorische Fragestellungen erst später vor allem für den Hoftanz bzw. seine Differenz zu den Tänzen unterer Schichten entwickelten.107 Erste Impulse für Forschungen zum Tanz in der mittelalterlichen Religiosität haben jüngst Karen Silen, die sich in ihren Arbeiten mit der Tanzpraxis von französischen Studenten im 13. Jahrhundert oder der Begine Elisabeth von Spalbeek befasst, Jennifer Nevile mit einem Aufsatz zu Tanzpraktiken und religiöser Erfahrung im Spätmittelalter und Marie-Joëlle Louison-Lassablières Arbeiten zu den französischen Tanztraktaten des 16. Jahrhunderts geben können.108

Germanistik Die germanistische Mediävistik widmet sich seit mehreren Jahrzehnten der Erforschung der „geistlichen Spiele“ des Mittelalters. Stand zunächst die Edition der Dramentexte im Vordergrund, befassten sich mehrere Studien der letzten beiden Jahrzehnte im Zuge der boomenden Körpergeschichte und des „Performative Turn“ mit der Aufführungspraxis und Körperlichkeit der beteiligten Akteure. Als Mitinitiator des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ in enger Zusammenarbeit mit den Theaterwissenschaften trat insbesondere die Berliner Germanistik mit Ingrid Kasten, Volker Mertens und Werner Röcke hervor, die Arbeiten über das Verhältnis von Textualität und Performanz im geistlichen Spiel, zu rituellen Bewegungen im Prozessionswesen und zur Tanzwut als kultureller Praxis des Mittelalters vorlegten.109 Aus dem dortigen Graduiertenkolleg „Körper-Inszenierungen“ entstand 2003 die Dissertation von Julia Zimmermann mit dem Titel „Teufelsreigen – Engelstänze“.110 Mit Fokus auf die geistliche Literatur des deutschen Hochmittelalters deutete sie eine ambivalente Wahrnehmung von Tanz an, indem sie mit dem Motiv des Engelsreigens und zahlreichen Abbildungen von König David als tanzendem Spielmann positive Belegstellen vorbringen konnte. Im selben Jahr legte die französische Germanistin Marie-Thérèse Mourey ihre Habilitationsschrift vor, in der sie sich auf Tanzpraktiken im Heiligen Römischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert konzentriert.111 Sie stellt darin unter 107 Vgl. Saftien 1994, S. 10–14, Schroedter 2004, S. 1–4. 108 Silen 2007, 2008, Nevile 2008a, bes. S. 298–303, Louison-Lassablière 2000, 2003a, 2003b, 2007. 109 Vgl. Kasten/Fischer-Lichte 2007, Röcke 2007, S. 281–295, Röcke/Velten 2007, S. 307–329. 110 Zimmermann 2007. 111 Mourey 2003–2004.

34 Präludium anderem dar, wie in der deutschsprachigen Traktatliteratur dieser Zeit der Tanz als von Gott gesandtes Übel verunglimpft wurde. Andererseits kann sie auch aufzeigen, dass Tanzmeister um 1700 gegen einen den Tanz verbietenden Pietismus gerade die Gottgefälligkeit des Tanzes als Argument anführen. Beide Autorinnen umrahmen damit zeitlich meine Studie, die mit dem Augenmerk auf dem 15. und frühen 16. Jahrhundert eine Verbindungslinie zwischen beiden herstellt.

Geschichtswissenschaft Wie bereits angedeutet, war für die Geschichtswissenschaft das Verhältnis von Tanz und Kirche in der Vormoderne, wie auch das Thema Tanz im Allgemeinen, weitgehend ohne Belang. Einen sichtbaren Beleg für dieses Desinteresse bieten das „Lexikon des Mittelalters“ und die „Enzyklopädie des Mittelalters“, deren Artikel zu Tanz nicht von MediävistInnen, sondern von TanzwissenschaftlerInnen mit neuzeitlichem Schwerpunkt verfasst wurden.112 Allein in regionalgeschichtlichen Arbeiten und vor allem in der Volkskunde widmete man sich schon länger der Tanzthematik, wobei häufig jedoch vorschnelle Analogieschlüsse zwischen mittelalterlichen und aktuellen Tanzpraktiken gezogen wurden.113 Ein stärkeres Interesse für Tanz innerhalb der Geschichtswissenschaft entstand erst in der von August Nitschke in den 1970er Jahren initiierten „Historischen Verhaltensforschung“. Nitschke vertrat die These, dass sich historischer Wandel auch in körperlichen Bewegungen widerspiegele und sich soziale und politische Veränderungen direkt auf Tanz-, Spiel- und Kampfformen auswirken würden.114 Seine Schüler Volker Saftien, der eine Habilitation zu den höfischen Tänzen der Renaissance und des Barocks vorlegte, und Henning Eichberg, der in seinem Aufsatz „Geometrie als Barocke Verhaltensnorm“ die gleichen geometrischen Muster in Architektur, Tanz und Kampfweisen nachzeichnete, führten einige seiner Überlegungen weiter.115 Zwar konnte sich Nitschkes Ansatz in der Geschichtswissenschaft nicht durchsetzen, das Interesse für Bewegungen, Gestik und Körperwahrnehmung entwickelte sich jedoch weiter in der Körpergeschichte und in der Historischen Anthropologie. 112 Vgl. Rohmann 2013, S. 32, 171. 113 Vgl. etwa Martin 1914, S. 113–134, S. 225–229, Balogh, 1928, S. 1–14, Alford 1937, Kretzenbacher 1961, S. 16–22. Zu Heckers sehr frühen medizinhistorischen Studien zur Tanzwut siehe: Rohmann 2013, S. 35–48. 114 Vgl. Nitschke 1987, S. 14–44, ders. 1991. 115 Saftien 1994, Eichberg 1977. Nicht verschwiegen werden soll Eichbergs damaliges politisches Engagement innerhalb der Neuen Rechten.

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Da in Frankreich die konfessionellen Auseinandersetzungen deutlich stärker über den Tanzdiskurs wie auch über die Körperpraxis Tanz ausgetragen wurden, hat die französische Geschichtswissenschaft das Thema schon länger entdeckt. Als zentrale Arbeiten zu diesem Thema sind Anne Wérys Buch „La danse écartelée de la fin du Moyen Âge à l’âge classique“ und Marianne Ruels Studie über das Verhältnis der einzelnen Konfessionen zum Tanz im Frankreich der Frühen Neuzeit zu nennen.116 Auch der italienische Historiker Alessandro Arcangeli hat mit seiner Dissertation „Davide o Salomè?“ und zahlreichen Aufsätzen zum europäischen Tanzdiskurs in der Frühen Neuzeit wichtige Impulse für länderübergreifende Vergleiche geben können. Darin untersuchte er auch, mit welchen Argumentationslinien die kirchlichen Tanztraktate operierten.117 In der deutschen Geschichtswissenschaft blieb die Beschäftigung mit der Thematik abgesehen von einigen Arbeiten aus der Geschlechtergeschichte118 weitgehend aus. Erst in den letzten Jahren ist Tanz als Gegenstand von universitärer Forschung und Lehre wiederentdeckt worden. Mit den Arbeiten von Valeska Koal,119 die sich mit der Tanzkritik in Predigten des Spätmittelalters beschäftigt, und von Gregor Rohmann120 zur Tanzwut findet auch die religiöse Dimension des Tanzes wieder verstärkt Beachtung. Gregor Rohmann dekonstruiert in seiner Habilitationsschrift die Vorstellung von der Tanzwut als universelle Krisenbeschreibung des gesamten Mittelalters und zeigt dagegen ihre regionale Begrenzung auf das Rhein-Mosel-Maas-Becken und ihre zeitliche Beschränkung auf das 14. bis 17. Jahrhundert auf. In einer semantischen Analyse sucht er nach dem Diskursmotiv des „unfreiwilligen Tanzes“ und ordnet es in die ambivalente Haltung der Kirche dem Tanz gegenüber ein, „die gerade Deutungsspielräume eröffnete für den Umgang mit Tanz als Praxis wie als Metapher“121. Dabei liefert er den zurzeit umfangreichsten und aktuellsten Forschungsüberblick zum Tanz im kirchlichen Kontext und macht auf das Desiderat einer umfassenderen Untersuchung von sakralem Tanz aufmerksam.122 Erste Forschungslücken diesbezüglich zu schließen, ist Gegenstand meiner Arbeit.

116 Wéry 1992, Ruel 2006. Kürzere Artikel zu der Thematik im Mittelalter liefern auch: Riché 1985, S. 159–167, Horowitz 1989, S. 279–292. 117 Arcangeli 1992, 1994, 2000, 2008, 2011. 118 Etwa Weickmann 2002. 119 Koal 2005, 2007. 120 Rohmann 2009, 2011a, 2011b, 2013. 121 Rohmann 2013, S. 33. 122 Vgl. ebd., S. 196–202.

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1.5 Gliederung Ein erster Überblick über die Forschungslage hat gezeigt, dass Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext des Spätmittelalters bisher kaum wahrgenommen wurden bzw. vor allem als Ausnahmen und Abweichungen einer im Grunde tanzfeindlichen Kirche etikettiert wurden. Das zweite Kapitel versucht diese dominante Haltung in der Geschichtswissenschaft anhand einer ausführlichen Rezeptionsgeschichte selbst zu historisieren: Ausgehend von Tanztraktaten des 16.  Jahrhunderts, die noch von vielfältigen Tanzpraktiken zeugen, über die beginnende Tanzhistoriographie und Publizistik im 17. und 18. Jahrhundert, die Tänze im Kirchenraum des Mittelalters als bizarre Relikte diskutieren, bis zur Nichtwahrnehmung dieser Phänomene im 19. und frühen 20. Jahrhundert und schließlich zu ihrer Wiederentdeckung im liturgischen Tanz des späten 20. und 21. Jahrhunderts. Die Rezeptionsgeschichte beginnt mit der Betrachtung von katholischen, lutherischen und calvinistischen Tanztraktaten aus dem 16.  und frühen 17.  Jahrhundert. Das Zeitalter der Konfessionalisierung entfacht eine breite Auseinandersetzung darüber, was als legitime religiöse Praxis anzusehen sei. Das Thema Tanz spielt bei dem Versuch, konfessionelle Identitäten herzustellen, keine geringe Rolle, so dass die Autoren die Zulässigkeit von Tanz an zahlreichen Beispielen reflektieren. Gerade auf katholischer Seite werden Tanzweisen im religiösen Kontext von einigen Autoren als legitim betrachtet und verteidigt, was von ihrer Anerkennung bei Teilen des Klerus zeugt. Die gleichzeitige Kritik vor allem calvinistischer Autoren an den Tänzen unterstreicht ebenso eine verbreitete Tanzpraxis bei katholischen Festen. In den Traktaten zeigt sich eine sehr differenzierte und ambivalente Sichtweise auf den Tanz im kirchlichen Kontext. In einem zweiten Punkt soll dann anhand der Quellen aus dem 17.  und 18. Jahrhundert gezeigt werden, dass sich ein Wandel in der Bewertung der spätmittelalterlichen Tanzpraktiken vollzieht. Während der Tanz im Allgemeinen am Hof Ludwigs  XIV. Hochachtung erfährt, verschwindet ein Großteil der kirchlichen Tanzpraktiken in diesem Zeitraum und vergangene Tänze im kirchlichen Kontext werden zunehmend negativ beurteilt. Die Verfasser der ersten Tanzhistoriographien und einige Autoren der Zeitschrift „Mercure de France“ thematisieren Tänze im Kirchenraum nun im Zuge der Aufklärung als Kuriositäten ihrer Vorfahren und deuten sie diesbezüglich als bizarre Relikte einer als „Gotik“ bezeichneten Epoche. Zwar diskutieren die Autoren die Quellen zum Tanz im kirchlichen Kontext ausführlich, beschränken sich aber überwiegend auf normative Quellen oder solche, die ihrer Meinung nach das Bizarre der Prak-

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tiken besonders hervorheben. Ihre Selektion schafft damit ein Quellenkorpus, das die späteren wissenschaftlichen Arbeiten bis in unsere Zeit prägen sollte, zumal viele Originaldokumente während der Französischen Revolution zerstört wurden. Der dritte Punkt skizziert die Rezeptionsgeschichte des Tanzes im kirchlichen Kontext vom 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert kennzeichnete zunächst ein Desinteresse für den Tanz im kirchlichen Kontext, denn die Begeisterung der Romantik im 19. Jahrhundert erstreckte sich auf andere Aspekte des Mittelalters und die sich von Säkularisierung bedroht sehende katholische Kirche schien auch nur wenig Interesse zu haben, sich diesem Thema zu widmen. Zwar blieben Verweise auf derartige Tanzpraktiken in lokalhistorischen und volkskundlichen Studien erhalten, größeres Interesse erfolgt jedoch erst mit der Entstehung des Ausdruckstanzes im frühen 20. Jahrhundert und seiner Vorliebe für religiöse Themen. Von der Tanzkunst der Tänzerinnen beeindruckt, widmeten sich ab den 1930er Jahren Theologen und Religionswissenschaftler der Verbindung von Tanz und Kirche. Die ab den 1970er Jahren entstandene liturgische Tanzbewegung versuchte deren Überlegungen dann in Tanzpraktiken im Kirchenraum umzusetzen und diskutierte gleichzeitig die historischen Vorbilder. Das erste Kapitel stellt somit einige Schlaglichter der Forschungs- und Überlieferungsgeschichte zum Verhältnis von Tanz und Kirche vor, die es erlauben, die lange Nichtbeachtung der Geschichtswissenschaft dem Thema gegenüber besser zu verstehen und einen vertieften Überblick über den Forschungsstand zu erhalten. Im Anschluss an diese Rezeptionsgeschichte befasst sich das dritte Kapitel mit den weltlichen Tanzpraktiken von Geistlichen und dem Tanz im kirchlichen Kontext des 15.  und 16.  Jahrhunderts. Ausgehend von einer Betrachtung der weltlichen Tanzkultur wird deutlich, dass Tanz in allen Gesellschaftsschichten einen breiten Raum einnahm und Bestandteil von politischer Herrschaft und sozialer Differenzierung war. Gerade im Adel und dem aufsteigenden Bürgertum stellte Tanz eine Fähigkeit dar, die bei der Ausbildung beider Geschlechter Anwendung fand. Für ihre Erziehung kristallisiert sich in der Renaissance der Beruf des Tanzmeisters heraus. Hierbei stellt sich heraus, dass hohe Geistliche als Angehörige des Adels in ihrer Kindheit und während ihrer Universitätsstudien vielfach professionellen Tanzunterricht genossen haben. Sie waren nicht nur Gäste bei Krönungszeremonien, Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten, wo sie bereitwillig mit tanzten, sondern Bischöfe und der Papsthof richteten auch selbst Bälle aus und inszenierten Feste mit Berufstänzerinnen. Selbst bei den mehrjährigen Konzilien gehörten Bälle zum Programm der Kardinäle, Bischöfe und Gesandten. Mit dem Wissen über die vielfältige Tanzpraxis von Geistlichen

38 Präludium in weltlichen Kontexten werden in einem zweiten Abschnitt die bekannten Tanzverbote einer kritischen Relektüre unterzogen. Anhand der allgemeinen Konzilsbeschlüsse vom 4. Laterankonzil bis zum Konzil von Trient wird genauer geprüft, welche Tanzformen konkret für wen und wann verboten wurden. Der dritte Punkt stellt die Vielzahl religiöser Tanzpraktiken am Ausgang des Mittelalters vor. Visionen von Tanz in der Mystik, Tanzwut und Totentanz, aber auch Tanzprozessionen, geistliche Spiele und Tanzpraktiken in französischen Kathedralen werden kurz behandelt, um die Tänze in Sens und Auxerre besser einordnen zu können. Es zeigt sich, dass körperliche Ausdrucksweisen von Religiosität eher die Regel als die Ausnahme waren und auch das Medium Tanz dabei keine Seltenheit darstellte. Nachdem gezeigt worden ist, dass Tanz durchaus als legitime religiöse Praxis angesehen und in verschiedenen Kontexten ausgeübt wurde, geht es im Folgenden darum, diese Erkenntnisse im Rahmen einer Fallstudie der Tänze in Sens und Auxerre zu konkretisieren. Das vierte Kapitel versucht, dazu die bisher in der Forschung aus dem Kontext gerissenen Tanzpraktiken der beiden Kathedralkapitel stärker in ihren kulturellen und geographisch-historischen Rahmen einzubetten. Im ersten Abschnitt geht es zunächst darum, die Diözesen Sens und Auxerre in ihren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verflechtungen vorzustellen und ihre Lage im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen den Herzögen von Burgund und den französischen Königen zu skizzieren. Im zweiten Punkt wird dann konkreter auf die Stellung der Kapitel innerhalb der Stadt Bezug genommen. Untersucht wird dabei, inwiefern der Kathedralbezirk politisch und architektonisch in den urbanen Raum eingebunden war und in welcher Weise Räume genutzt und gestaltet wurden. Außerdem soll die Architektur der Kathedralen erschlossen werden, um herauszufinden, in welchen Raumkonstellationen die Tänze am Ostertag stattfanden. Der dritte Abschnitt befasst sich mit der Zusammensetzung der Kapitel, der Ämterverteilung, ihren Veränderungen und daraus resultierenden Konflikten. Zudem fragt er nach den Beziehungen zwischen Kapitel und Bischof, potentiellen Konfliktfeldern und ihren Stellungen in der geistlichen und weltlichen Administration. Ausgehend von diesem Hintergrundwissen widmet sich das fünfte Kapitel den Tänzen in Sens und Auxerre am Ostertag: der Cazzole123 von Sens und der Pelotte124 von Auxerre. Nach einer Darstellung der Quellenlage wird versucht die 123 Die Bezeichnung „Cazzole“ für den Tanz in Sens verwendet zuerst der Kanoniker JeanBasile-Pascal Fenel in einem Brief an Jean Lebeuf Mitte des 18.  Jahrhunderts. Vgl. Kap. 5, S. 261. 124 Der Begriff „Pelotte“ (auch „Pelote“) bezeichnet in den Quellen des Spätmittelalters neben dem lateinischen Wort „pilota“ das aus Tanz und Ballspiel bestehende Ritual am

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Entstehung der Tänze nachzuzeichnen, indem analysiert wird, inwiefern neuplatonische Vorstellungen von der harmonischen Kreisbewegung der Gestirne in einen christlichen Kontext verlagert wurden. Die Rezeption dieser Schriften an den Kathedralschulen von Chartres, Sens und Auxerre wie auch die Erwähnung von Tanzpraktiken in den liturgischen Handbüchern des 12. und 13. Jahrhunderts geben Hinweise auf mögliche Vorbilder und Inspirationsquellen. Im nächsten Punkt stehen die Performativität der Tänze und ihre rituelle Bedeutung im Vordergrund. In Anschluss an Turners Ansatz der „Liminalität“ werden die Tanzpraktiken als komplexe Initiationsrituale diskutiert, die Gemeinschaftsstrukturen nicht nur abbilden, sondern ständig neu kreieren. Abschließend stehen die schwindende Akzeptanz und das Ende der Tänze in Sens und Auxerre im 16. Jahrhundert zur Debatte. Betrachtet werden dazu zunächst die regionalen Konzilien der Kirchenprovinz Sens, aus deren Beschlüssen sich aber kein Verbot der Tänze am Ostertag erkennen lässt. Deshalb werden im Anschluss zentrale Akteure wie die Kanoniker der Kapitel, die örtlichen Bischöfe und im Fall von Auxerre das Pariser Parlament untersucht. Dabei wird in den Blick genommen, wie soziale, politische und religiöse Veränderungen auf ihr Handeln und damit die Abschaffung der Tanzpraktiken eingewirkt haben.

Ostertag in Auxerre. Der Begriff wird einerseits für das Spielgerät, anderseits für das gesamte Ritual verwendet.

2. Einblicke in das Verhältnis von Tanz und Kirche (16.–21. Jahrhundert) Was wäre ein Tanz ohne Vorspiel, ohne eine Verbeugung, ohne eine Aufforderung zum Tanz? Auch diese Arbeit kann nicht so abrupt beginnen, wie es manche – und längere Zeit auch der Verfasser – gewünscht hätten. Für das Verständnis tänzerischer Praktiken der spätmittelalterlichen Kirche scheint mir eine intensivere Rezeptionsgeschichte von den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts bis in die Gegenwart unumgänglich. Erst in dieser Langzeitperspektive lässt sich herausfinden, warum der Großteil der Forschung die spätmittelalterliche Kirche als ausschließlich tanzfeindliche Institution ansieht. Es wird deshalb untersucht, welche Vorstellungen eines „gottgefälligen“ Tanzes in den unterschiedlichen Jahrhunderten existierten und wie sich diese im Lauf der Zeit gewandelt haben. Dass ich das 16. und frühe 17. Jahrhundert heranziehe, da ich denke, dass sich mit den reformatorischen Bewegungen und ihrer vielfach zitierten Kritik an Ritualen und körperlichen Ausdrucksweisen von Religiosität einige Rückschlüsse auf frühere kirchliche Tanzpraktiken durchführen lassen, mag man verständlich finden. Bis in das 18. Jahrhundert vorzurücken mag man mir deshalb verzeihen, da ein Großteil der Quellen in erster Linie nur über Arbeiten aus diesem Zeitraum überliefert ist und eine Kontextualisierung dieser Arbeiten deshalb sinnvoll erscheint. Aber noch das 19., 20. und 21. Jahrhundert hinzuzuziehen, wirkt doch etwas vermessen. Dennoch wurde gerade in den letzten zwei Jahrhunderten das Bild einer ausschließlich tanzabstinenten und dem Tanz ausschließlich negativ gegenüberstehenden Kirche geprägt, so dass ich auf diese Rezeptionsgeschichte nicht verzichten möchte. Das weite Ausholen erklärt sich außerdem aus den fehlenden geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zum Verhältnis von Tanz und Kirche. Denn erst eine Aufarbeitung des Forschungsstandes zeigt, unter welchen Prämissen und in welche Richtungen bisher Tanz im religiösen Kontext untersucht wurde. Interdisziplinarität bedeutet deshalb zum einen, die vielfältigen Arbeiten aus Theologie und Religionswissenschaft der letzten Jahrzehnte zum Verhältnis von Tanz und Kirche zur Kenntnis zu nehmen. Es verlangt zudem, sich auch Publikationen zu öffnen, die sich nicht ausschließlich an ein wissenschaftliches Publikum richten. Begonnen wird jedoch auf ganz disziplinäre Weise. Zunächst beschäftige ich mich mit in der Geschichtswissenschaft bereits diskutierten Tanztraktaten des 16.  und frühen 17.  Jahrhunderts, in denen vornehmlich Theologen über den Tanz urteilten.

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2.1 Wann ist Tanz gottgefällig? – Tanztraktate des 16. und frühen 17. Jahrhunderts „Wie wurd der pürisch prophet zu unseren zyten tun, wenn er so mengerley musick in den templen sähe, und so mengerley mensuren der basdentzen, turdionen und hopperdentzen und anderer proportzen horte, und dazwüschen die zarten korheren in iren sydinen hembdlinen zum altar gen opffer gon? Warlich, er wurd aber schryen, dass sin wort die gantz welt nit erlyden möcht“1, schreibt der Züricher Reformator Ulrich Zwingli (1484–1531) im Jahr 1523 in einem Thesenkommentar zum Buch Amos. Er nutzt die Bibelstelle für eine Kritik an der musikalischen Ausgestaltung der katholischen Messfeier und geht dazu insbesondere auf das Beispiel des Tanzes ein, für den er Musik und Bewegungsabläufe beschreibt. Ist Tanz dabei nur ein weiteres Charakteristikum, wie etwa die Seidengewänder als Beleg für die luxuria der ohnehin schon verweichlichten Chorherren, um die Reformbedürftigkeit der Messe zu unterstreichen? Oder beziehen sich Zwinglis polemische Ausführungen auf Bewegungen zur Musik innerhalb der Messe, die von Zeitgenossen als Tanz wahrgenommen wurden? Gab es, etwas allgemeiner gefragt, Tänze im kirchlichen Kontext und inwiefern konnten diese legitime Ausdrucksweisen von Religiosität im Zeitalter der Reformation sein? Diesen Fragen soll sich in diesem Kapitel genähert werden. Von Interesse ist erstens, welche Ansichten im Tanzdiskurs des 16. Jahrhunderts in den unterschiedlichen Konfessionen bestanden. Untersucht werden soll dabei, ob Tanz stets als Sünde angesehen wurde oder ob es unterschiedliche Arten von Tanz gab, die differenziert wahrgenommen wurden. Welche Autoritäten und Argumente spielten dabei eine Rolle? Zweitens gilt es zu beobachten, inwiefern Tanz zum Gegenstand konfessioneller Abgrenzung wurde. In welcher Weise wurde Tanz verwendet, um die eigene Seite zu legitimieren bzw. die Gegenseite zu delegitimieren? Wurden einzelne Konfessionen als tanzfreudig bzw. tanzfeindlich eingestuft? Drittens steht zur Debatte, ob und in welcher Weise die Messe oder, weiter gefasst, religiöse Handlungen mit Tänzen in Zusammenhang gebracht oder als Tanz angesehen wurden. Gerade eine Kritik an eigenen Tanzpraktiken zwang das eigene Verständnis von Tanz zu reflektieren und darzulegen. Von Interesse ist nicht in erster Linie, wenn Tanz in weltlichen Kontexten verboten wurde, sondern wenn religiöse Ausdrucksformen wie Prozessionen oder liturgische Handlungen von der Gegenseite als Tanz beschrieben wurden. Diese Frage ließe sich vor allem dann klären, wenn lutherische oder calvinistische Vorwürfe 1 Egli 1981, S. 352 f., vgl. dazu: Venard 1992, S. 1223 f.

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(denn von diesen Seiten erwartet man eine derartige Kritik wohl zuerst), eine bestimmte religiöse Handlung der Katholiken sei Tanz, von katholischer Seite nicht widerlegt, sondern angenommen oder gar verteidigt würde. Anhand von Tanztraktaten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts sollen deshalb Einblicke in den Diskurs über Tanz gewonnen werden. Dafür werden Traktate aus dem deutschsprachigen und französischsprachigen Raum untersucht. Aufbauend auf den Ergebnissen von Alessandro Arcangeli, der die zahlreichen Debatten über Tanz für den europäischen Raum der Vormoderne nachgezeichnet hat,2 möchte ich meinen Schwerpunkt auf Tänze im kirchlichen Kontext legen, insbesondere wenn Tänze im Umfeld von Gottesdiensten stattfanden. Für den deutschsprachigen Raum werden acht Traktate, die bereits in einer Studie von Irmgard Jungmann3 unter dem Gesichtspunkt des Tanzverhaltens der „Volkskultur“ befragt worden sind, untersucht:4 – Gruner, Caspar, Evangelion Marci  VI. Ein Ratschlag widder die gotlosen tentz, Altenburg 1526. – Böschenstayn, Johann, Hebrayscher zungen leerer. Wünscht allen Tantzern und Tantzerin / ain schnell umb wenden am Rayen. Ain keychend hertze. Müde füß. Trübe augen …, Augsburg 1536. 2 Eine umfassende Einführung über den deutschen und französischen Kontext hinaus bieten: Arcangeli 1994, S. 127–155, ders. 2000, eine kurze Zusammenfassung, Clive 1961, S. 296–323. 3 Die Hinweise auf einige der Traktate habe ich ihrem Buch entnommen. Bei Jungmanns kurzen biographischen Einordnungen der Autoren ist allerdings Vorsicht geboten, da sie die Forschungen von Osborn und Arcangeli anscheinend nicht zur Kenntnis genommen hat. Für Johann Böschenstayn heißt es bei Jungmann (S. 34) beispielsweise: „Aus seinem Leben ist nur bekannt, was er in seiner Tanzschrift selber über sich zur Kenntnis gibt. Danach wurde er 1472 in Esslingen am Neckar geboren und starb 1540 in Ingolstadt. Er war Lehrer des Hebräischen und als Professor für hebräische Sprachen in Heidelberg tätig. Von ihm sind keine weiteren Schriften überliefert.“ Unabhängig von der Frage, inwiefern Böschenstayn seinen Tod in seiner Tanzschrift prophezeit haben mag, hat Böschenstayn weitere Werke verfasst. Der Titel seines Tanzbuches lautet: „Böschenstayn, Johann, Hebrayscher zungen leerer. Wünscht allen Tantzern und Tantzerin  /  ain schnell umb wenden am Rayen. Ain keychend hertze. Müde füß. Trübe augen …, Augsburg 1536“, siehe dafür: Dörner 2008, Sp. 230–247. Auch ihr Verweis darauf, dass sie Böhmes Angabe, Johan von Münster sei „Badischer Rat und Obervogt zu Pforzheim“ gewesen, nicht verifizieren kann, erklärt sich daraus, dass Jungmann die Ausgabe von 1594 verwendet. Zu diesem Zeitpunkt ist er noch „Amptmann“ der Grafschaft Wied, bei Veröffentlichung der Ausgabe von 1602 bekleidet er dann die von Böhme erwähnte Stellung, wie auf dem Deckblatt von 1602 vermerkt ist: „Jetzt Fürstlichen Marggraff Badischen Rhat  /  und Obervogt zu Pforzheim.“ 4 Eine Auflistung der deutschsprachigen Traktate findet sich bei Haitzinger 2009, S.  185  ff., eine Diskussion bei Petermann 1978, S. 1–5, Koch 1995, S. 162–184, Jungmann 2002, S. 151–169 und Mourey 2004, S. 382–419. Eine erste Einordnung einiger dieser Traktate erfolgt bei Osborn 1965, S. 83–89.

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Darin enthalten: Nettesheim, Agrippa von, Von den Rayen und Tentzen, 1533, dt. Übersetzung des Kapitels „De Saltationibus & Choreis“ aus: De incertitudine & vanitate scientiarum & artium, atque excellentia verbi Dei declamatio, Paris 1531. Ambach, Melchior, Vom Tantzen  /  Urtheil aus heiliger Schrift, Franckfurt am Mayn 1543. Ratz, Jacob, Vom Tanzenn, Obs Gott verspotten hat, obs sünd sey  … Mit verlegung des Falschen und onbescheyden urteils, M.  Melchior Ambach, Prediger zu Franckfurt, vom Tantzen, geschrieben, Schwäbisch Hall 1545. Spangenberg, Cyriacus, Vom Tantz. 45.  Predigt vom Ehespiegel, Eisleben 1561. Daul, Florian, Tanzteuffel: Das ist wider den leichtfertigen, unverschempten Welttantz und sonderlich wider die Gottßzucht und ehrvergessene Nachttänze, Franckfurt am Main 1569. Münster, Johan von, Ein Gottseliger Tractat von dem ungottseligen Tantz, Hanau 1602.

Für die französische Seite haben die Studien von Anne Wéry, Marie-Joëlle Louison-Lassablière und Marianne Ruel wichtige Vorarbeiten geliefert,5 die eine inhaltliche Einordnung erleichtert haben. Der religiöse Kontext spielt bei Wérys Arbeit über die Aufspaltung in einen religiösen und einen humanistischen Tanzdiskurs im 16. Jahrhundert eine größere Rolle als bei Jungmann,6 lässt aber in Bezug auf kirchliche Tanzpraxis noch einige Fragen offen. Die Arbeiten von Lousion-Lassablière haben ebenfalls mit ihren zahlreichen Einzelstudien zu einem besseren Verständnis der Traktate verholfen. Ebenso verweist Ruel in ihrer Studie über den Wandel von Tanz als Disziplinierungsform in Frankreich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert an einigen Stellen auf Tänze im kirchlichen Rahmen.7 Eine tiefer gehende Betrachtung, die sich insbesondere im Vergleich mit dem deutschsprachigen Protestantismus als fruchtbar erweisen könnte, findet jedoch bei allen nur in Ansätzen statt. Untersucht werden sollen folgende Traktate: – Anonym, Chrestienne Instruction touchant la pompe…Plus, l’Abus Invetré & Diabolique invention des Dances, Lyon 1551. – De la Tour, Bérenger, La Choréïde ou Louange du Bal aux Dames, Lyon 1556. 5 Dazu: Wéry 1992, S. 160–236, Louison-Lassablière 2003b, S. 116–130, 161–178, 197–212, und Ruel 2006, S. 124 ff. 6 Vgl. Wéry 1992, S. 230–237, 243–246. 7 Vgl. Ruel 2006, insbesondere S. 125–145, 152–157.

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– Paradin, Guillaume, Le Blason des danses, où se voyent les malheurs et ruines venant des danses, dont jamais homme ne revint plus sage ni femme plus pudique; Beaujeu 1556. – Chesnau, Thomas, Traicté des danses, Auquel il est monstré que les Danses sont des accessoires & dependances de paillardise, & par ainsi que d’icelles ne doit estre aucun usage entre les Chrestiens, Paris 1564. – Anonym, Apologie de la jeunesse sur le fait & honneste recreation des danses: contre les calomnies de ceux qui les blasment, Antwerpen 1572. – Daneau, Lambert, Traité des danses, Auquel est amplement resolue la question, asavoir s’il est permis aux Chrestiens de danser, Genève 1579–1582. – Arbeau, Thoinot, Orchésographie et traicté en forme de dialogue, par lequel toutes personnes peuvent facilement apprendre & practiquer l’hoinneste exercice des dances, Langres 1588. – Boiseul, Jean, Traitté contre les danses, La Rochelle 1606. – Robert, Antoine, L’anti-balladin, ou sommaire demonstration des maux, folies, et abus de la danse, Lyon 1611. Alle Traktate sind in den Volkssprachen geschrieben, obgleich die meisten Autoren fließend Latein beherrschten. Selbst die lateinischen Zitate sind bei den deutschsprachigen Autoren vielfach zusätzlich übersetzt, was sich durch die Adressaten der Texte erklärt. Die deutschsprachigen Traktate sollten nach Petermann als Vorlage bei Predigten dienen, aus denen Geistliche und gebildete Laien zitieren oder Auszüge davon vortragen konnten.8 Die genauen Schilderungen der Tänze und ihrer Anlässe versuchen die Gemeinde nicht abstrakt, sondern mit Beispielen aus ihren Erfahrungen zu erreichen und zu belehren.9 Auch Mourey geht davon aus, dass die Traktate Passagen und Zitate für eine Vielzahl von Anlässen, seien es Predigten oder öffentliche Versammlungen, boten.10 Für die französischen Traktate zeigt Anne Wéry ebenfalls auf, dass sie mit anschaulichen Beispielen aus alltäglichen Beobachtungen ihr Publikum direkt zu erreichen versuchen.11 Neben diesen Texten, in denen Tanz dezidiert Thema ist, wird auch in Predigten, Tanzlehrbüchern, Beschwerdebriefen und religiösen Programmatiken vielfach Bezug auf Tänze genommen. Da sie die Meinungen innerhalb des Tanzdiskurses ergänzen und die Autoren zu ihnen teilweise Bezüge herstellen, wird auf sie an einigen Stellen zurückgegriffen. 8 Fast alle von ihnen verzichten gänzlich auf Abbildungen, nur wenige besitzen eine Abbildung auf dem Titelblatt. 9 Vgl. Petermann 1978, S. 8–11. 10 Vgl. Mourey 2004, S. 386. 11 Vgl. Wéry 1992, S. 163.

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Die konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts wurden auf allen Ebenen von sozialen Praktiken geführt. Neben der Anzahl der Sakramente, der Bußpraxis oder der Art der Kirchenmusik wurden auch Kleidungswahl, Namensgebung und Festgestaltung Bereiche, in denen versucht wurde, eine konfessionelle Identität über Abgrenzung zu anderen Konfessionen herzustellen. Die körperliche Praxis des Tanzes bildete dabei keine Ausnahme, was wenig verwundert, wenn man sich die bedeutende Stellung von Tanz im gesellschaftlichen Leben dieser Zeit vergegenwärtigt.12 In diesem Sinne werden die Traktate auch als Versuch verstanden, bei der stetigen Gestaltung von konfessioneller Identität mitzuwirken,13 indem die Autoren versuchen über Tanz Grenzen zu anderen Glaubensformen zu ziehen. Im Folgenden wird eine analytische Trennung nach den Konfessionen protestantisch (lutherisch), calvinistisch und katholisch erfolgen, die nicht immer unproblematisch ist, da sie erstens eine klare konfessionelle Abgrenzung voraussetzt,14 zweitens andere christliche Religionsformen wie die Täuferbewegung ausgrenzt und drittens konfessionelle Identitäten über andere identitätsstiftende Faktoren wie Alter, Stand, Herkunft, Geschlecht usw. stellt.15 Zudem suggeriert die Einteilung in gewisser Weise feste Identitäten, anstatt ihre Brüchigkeit, Widersprüchlichkeit und Flexibilität anzuerkennen. Gerade im 16.  Jahrhundert gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Praktiken in der Religiosität, die erst durch Abgrenzungsbemühungen am Ende des 16. Jahrhunderts klarere konfessionelle Unterscheidungen erlauben. Insbesondere bei den nichtgeistlichen Autoren ist es schwierig zu bewerten, inwiefern konfessionelle Glaubensgrundsätze und religiöse Normen von ihnen übernommen werden, auch wenn sich über Taufe, Hochzeit, Konversion oder Begräbnis die Zugehörigkeit zu einer Konfession formal zuordnen lässt.16 Da aber nicht die konkreten Praktiken der Identitätsbildung im Vordergrund stehen, sondern den traktateigenen Logiken, die mit der Kategorie „Konfession“ operieren, gefolgt wird, habe ich mich entschieden, trotz der Schwierigkeiten an dieser Einteilung festzuhalten.

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Dazu: McGowan 2008a, vgl. auch Kap. 3.1. Einen Überblick dazu bietet Pohlig 2007, S. 23–49. Vgl. dazu: Stollberg-Rilinger 2013a. Zur Kritik an der Überschätzung konfessioneller Identität und der Forderung, religiöse Identität vielmehr als eine situativ wahrgenommene zu untersuchen, vgl. Missfelder 2010, S. 12 ff. 16 Vgl. etwa Wéry 1992, die neben den drei Konfessionen auch die Kategorie „humanistisch“ einführt.

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2.1.1 Protestantische Traktate Seit Mitte der 1520er Jahre widmeten sich protestantische Autoren dem Thema Tanz in eigenen Traktaten. Sie konnten dabei auf ein Tanzmotiv zurückgreifen, das schon seit einigen Jahre in Drucken und der Ikonographie präsent war: die Illustration des ersten Gebotes in den Dekalogdarstellungen. Wurde vorher die Abgötterei durch das Anbeten eines Idols dargestellt, trat seit dem Ende des 15.  Jahrhunderts der Tanz um das Goldene Kalb prominent in den Vordergrund.17 Insbesondere der Erfolg von Sebastian Brandts „Narrenschiff “ von 1494, bei dem das 87. Kapitel ebenfalls diese Szene zeigte,18 sorgte für eine weite Verbreitung des Bildmotivs. Lucas Cranach der Ältere fertigte für Melanchthons „Kurze Auslegung der Zehn Gebote“ 1527 die Stiche an, die zwei Jahre später in Luthers „Großem Katechismus“ übernommen wurden. Seitdem war der Tanz um das Goldene Kalb fest mit dem ersten Gebot verknüpft und die Verbindung von Tanz und Idolatrie ikonographisch hergestellt.19 In den Schriften setzte sich also gewissermaßen eine Diskussion um die Frage nach der Gottgefälligkeit von Tanz fort, die bereits am Ende des 15. Jahrhunderts ikonographisch aufgekommen war.20 Die Traktate Gruners, Nettesheims und Böschenstayns wurden zwischen 1526 und 1536 gedruckt, als noch nicht abzusehen war, welche Folgen die Reformation für die Kirche haben würde und in welche Flügel sie zu zersplittern drohte. Bauernkrieg, Wiedertäufer, Luthers Streit mit Zwingli, der Augsburger Reichstag, um nur einige Schlagworte zu nennen, machen deutlich, dass der Ausgang der später so genannten Reformation noch unklar war. Die Überlegungen zum Tanz von Ambach und Ratz fußen ebenfalls auf ihrer Predigttätigkeit um 1532, auch wenn die Drucklegung erst zwischen 1543 und 1545 erfolgte. Die Predigt Spangenbergs und Dauls „Tanzteuffel“ dagegen wurden nach dem Augsburger Religionsfrieden verfasst, als eine Zersplitterung der Kirche unwiederbringlich vollzogen schien und konfessionelle Territorien entstanden. Gleichzeitig wirbelten aber Calvinismus und Gegenreformation die konfessionelle Landkarte auf und brachten die Generation nach den ersten Reformatoren dazu, alte Fragen erneut zu diskutieren und neue aufzuwerfen. 17 Vgl. Jungmann 2002, S. 9–16, die dort auf die Dekalogdarstellungen der Gemmrigheimer Kirche aus dem 15. Jahrhundert hinweist. 18 „Drum weiß ich auf dem Erdenreich, keinen Scherz, der so dem Ernst sei gleich, als dass man Tanzen hat erdacht, auf Kirchweih und Primiz gebracht: Da tanzen Pfaffen, Mönch’ und Laien, die Kutte muß sich hinten reihen“, Brant 2004, S. 152 f. 19 Siehe dazu: Christin 2003, S. 18 ff., 42–49. 20 Vgl. Clive 1961, S. 308 f.

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Martin Luther Die Schriften Luthers waren für die protestantische Bewegung nach der Bibel – und für einige möglicherweise noch vor der Bibel – der wichtigste Referenzpunkt. In den vorgestellten Traktaten beriefen sich einige Autoren auf Luther und versicherten, dass ihre Ansichten mit denen Luthers übereinstimmen. Welche Position vertrat also Luther dem Tanz gegenüber? Martin Luther hat bekanntermaßen keine eigenständige Abhandlung zum Tanz verfasst, dennoch streift er das Thema immer wieder in seinen Reden, Briefen und Schriften. Als leidenschaftlicher Musiker und Komponist von Kirchenliedern konnte der Reformator mit Kritik an der Musik wenig anfangen: „Wer die Musicam verachtet, wie denn alle Schwärmer tun, mit denen bin ich nicht zufrieden. Denn die Musica ist eine Gabe und Geschenke Gottes, nicht ein Menschengeschenk.“21 Ebenso hegt Luther keine Bedenken gegenüber Tänzen bei Hochzeiten, was bei den Kritikern einer der Hauptanstoßpunkte war. Er dagegen hat keine Einwände gegen diese Bräuche: „[…] auch das man schoen tantzet, man mus darueber kein gewissen machen“22, solange es dabei züchtig und ehrenvoll zugehe. Der Wittenberger Reformator stuft zum einen die Gefahren von Tänzen nicht so drastisch ein, zum anderen lehnt er die Einstellung ab, Tanz generell als Sünde zu verurteilen. In seiner Kirchenpostille am zweiten Sonntag nach Dreikönig 1525 schreibt er: „Der glaub und die lieb lesst sich nicht aus tantzen noch aus sitzen, so du züchtig und messig drynnen bist. Die jungen Kinder tanzten ja on sunde, das thue auch und werde eyn Kind, so schadet dyr der tantz nicht, sonst, wo tantz an yhm selbs sunde were, muest man es den kindern nicht zu lassen.“23 Neben dieser Toleranz gegenüber weltlichen Tänzen24 übernimmt Luther die verbreitete Vorstellung von Tänzen im Himmel. So schreibt er beispielsweise an seinen Sohn Hans, was die Menschen nach der Auferstehung erwarte: „Und wenn sie allzusamen komen, so werden sie auch pfeiffen, Paucken, lauten und allerley andere Seitespiel haben, auch tantzen und mit kleinen Armbrüsten schiessen. Und er zeigt mir dort eine feine wiesen im Garten, zu tantzen zugericht […].“25 Luther teilt explizit die Position, dass Engel im Himmel tanzen würden: „Sed hic veniet Rex, qui mit Gottes recht umbgehen sol i.e. gotlich werck thun und guten Gehorsam haben, et ipsi etiam dominum honore afficiant. Sic ipse in celis regit, ubi cum angelis eitel freude und wunne, sie sprin21 22 23 24 25

Luther 1925, S. 382, vgl. Kuhlmann 2008, S. 216. Luther, WA 24, S. 418, vgl. Jung 2001, S. 189. Luther, WA 17/2, S. 64, vgl. Saftien 1991, S. 8. Vgl. Veit 1986, S. 13 ff. Luther, WA BR 5, S. 377, vgl. auch Kuhlmann 2008, S. 219.

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gen und tanzen, quando vident aliquid faciendum suo deo, des hertz brennet fur lust zu tun.“26 Luthers Ansicht vom Tanz lässt sich demnach als gemäßigte Position charakterisieren. Er sieht Tanz nicht generell als Sünde an, da gegen Tanz in geordneten Formen nichts einzuwenden sei. Auch im Himmel würden Tänze nach der Auferstehung stattfinden, wie auch die göttlichen Heerscharen Gott mit Musik und Tanz preisen würden. Caspar Gruner Der 1526 in Druck gegebene Kommentar zum 6. Kapitel des Markusevangeliums von Caspar Gruner27 möchte exemplarisch an der Geschichte des Tanzes anlässlich zu Herodes’ Ehrentag einen „Ratschlag widder die gotlosen tentz“ geben und aufzeigen, „was fur fruchte volgen / aus dem gotlosen Tantz“.28 Das Traktat beginnt mit der Nacherzählung der Geschichte aus dem Markusevangelium, die schließlich wie folgt kommentiert wird: „Ey du verdampte tantzerin sol vmb deines gotlosen tantzens willen / auff disen tag ein so redlicher man sterben / ein so heyliger man vmbkommen / der mehr ist daň ein Prophet […].“29 Indem die Bedeutsamkeit von Johannes, der Christus getauft hat und über die Propheten gestellt wird, herausgestrichen wird, soll auf die Schrecklichkeit der Folgen eines gottlosen Tanzes aufmerksam gemacht werden. Besondere Schuld wird auf die Figur der Salome, der Tochter der Herodias, gelegt, die seit dem Chrysostomus-Kommentar30 beliebtes Thema vieler mittelalterlicher Tanzpredigten war. Der Autor wendet daraufhin das biblische Exempel auf die zeitgenössische Tanzpraxis an. Wie in biblischen Zeiten folgt aus diesen Tanzveranstaltungen, besonders wird auf die Hochzeitstänze hingewiesen, nur Negatives. Sie sind Anlass „fur schand / spot / vň laster / fur bÖß gedancken / hírerey / vnd Ehebruch / fur zorn / neyd vň haß / stechen / hawen vň wÜrgen […]“31. Denn Tänze bestehen, im Gegensatz zu der im Mittelalter entwickelten Vorstellung des gottgefälligen kontrollierten Gestus, aus der „unordenlichen Bewegung des fleisch vñ pluts“32. Aus mangelnder Kontrolle des Körpers, der als Spiegelbild 26 Luther, WA 37, S. 85. 27 Verwendet wird die digitalisierte Form des Druckes VD16 G 3731 aus der Bayerischen Staatsbibliothek. Die Blattangaben orientieren sich an der vermutlich später hinzugefügten Zählung am oberen rechten Rand, das Traktat beginnt demnach mit 245r und endet mit 251r. 28 Gruner 1526, S. 245r. 29 Ebd. S. 247r. 30 Vgl. Johannes Chrysostomus 1916. 31 Gruner 1526, S. 248r. 32 Ebd., S. 248r.

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der Seele gilt, lässt sich auf eine unkontrollierte und damit gegen die göttliche Ordnungsvorstellung gerichtete Regung der Seele schließen.33 Nach einer eindrücklichen Warnung, diese Art von Tänzen zu unterlassen, zeigt Casper Gruner aber auf, dass deshalb keineswegs alle Arten von Tanz schlecht sein müssen: „Es sind auch etlich tentz / die nicht zu verwerffen sein / sie sein erlich / lÖblich / vň gut / Als nemlich die zum lob / freud / vnd dienst gottes gehÖren / der ich etlich erzelen wil.“34 Aus dem Alten Testament führt er dazu die Beispiele vom Miriams Tanz am Roten Meer und Davids Tanz vor der Bundeslade an. Für das Neue Testament weist Gruner auf die Tänze bei der Feier anlässlich der Wiederkehr des verlorenen Sohnes hin. Er lässt den biblischen Beispielen den Hinweis folgen, dass, wenn man sich an ihren orientiert, ersichtlich wird, welche Tänze gottgefällig sind und welche nicht: „Daraus mag nun wol ein Christen hertz erkennen  /  welche tentz frucht bringě / oder welche schaden gebern / daň welcher tantz nicht zu lob vň herligkeit Gottis gericht ist / mit lobgesengen gottes / zu eheren seině heyligen namen / der ist vnd wyrd streflich fur Got […].“35 Gruner lässt offen, wie diese Art von Tänzen aussieht oder wann sie getanzt werden. Somit ist unklar, ob er bei seinen Äußerungen beobachtete zeitgenössische Tanzpraktiken im Kopf hat oder lediglich die Bibelstellen zur Ermahnung anführt. Johann Böschenstayn/Agrippa von Nettesheim36 Der Hebraist Johann Böschenstayn (1472–1540) war, als er Luther 1518 auf dem Augsburger Reichstag traf, bereits ein angesehener Gelehrter. Luther lud den geweihten Priester Böschenstayn an die Universität von Wittenberg ein, wo er als Lektor für Hebräisch sein Wissen weitergeben sollte. Wegen der Ausrichtung des Faches und später auch wegen Fragen der Bilderkritik zerstritt er sich mit Luther, widmete sich in Verbindung mit dem Nürnberger Reformator Osiander aber weiterhin theologischen Fragen. In diesem Rahmen verfasste er 1533 eine Tanzkritik unter dem Titel „Johann BÖschenstayn, Hebrayscher zungen leerer. Wünscht allen Tantzern und Tantzerin / ain schnell umb wenden am

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Vgl. Schmitt 1990, S. 17 ff., 96. Gruner 1526, S. 249v. Gruner 1526, S. 250r. Da das Tanztraktat des Agrippa von Nettesheim als Anhang in Böschenstayns Schrift abgedruckt ist und dessen Argumentation stützen soll, wird Agrippas Traktat als Teil davon behandelt. Durch diese Rezeption fällt Agrippas Schrift unter die protestantische Seite, wohingegen seine eigene Weltanschauung schwer zu deuten ist. Vgl. dazu: MüllerJahncke 2008, S. 23–36.

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Rayen. Ain keychend hertze. MÜde fÜeß. TrÜbe augen.  […]“, die 1536 erneut gedruckt wurde.37 Böschenstayn, der sich in diesen Jahren vor allem in Nördlingen und Nürnberg aufhielt, richtet sich darin gegen die verbreiteten Hochzeits- und Kirchweihtänze der wohlhabenden oberdeutschen Städte. In diesem Zusammenhang fällt sein Urteil gegen den Tanz eindeutig aus: „Darumb ist iň der Heyligen Schrifft kein lob noch preiß von Tantzen […] sonder alweg arges. Die Juden tătzen vm das Kalb. Das schnÄd mÄdlin Herodiadis tantzed v das haupt Johannis des Heyligen Tauffers: ja / noch tausent stuck weren zŭ erzelen, da tantzen alweg ein laster ist […].“38 Die bekannten Beispiele aus der Bibel vom Tanz um das Goldene Kalb und Salomes Tanz belegen seiner Meinung nach eindeutig die Sündhaftigkeit und Unkeuschheit von Tänzen. Andere Bibelstellen führt er nicht auf, verweist jedoch auf „tausend“ weitere Beispiele – ob aus der Bibel, bleibt offen –, die er hätte anführen können. Böschenstayn malt immer wieder aus, wie sehr er von allen Seiten für seine Ansichten scharf kritisiert werde, so dass seine Einstellung zum Tanz nicht unumstritten erscheint. Er beklagt dabei, dass „gar vil heyliger leut“39 den Tänzen beiwohnen, anstatt zu versuchen diese zu verhindern. Ebenso kritisiert er bei Kirchweihen, für die er detailliert beschreibt, wie sich die Frauen für den Tanz zurechtmachen, „[…] das wir ein GÖtlichen dienst also verenderě  /  vň vnser Bethauß  /  daman Gotes wort solt brauchen / sollichen affen thant darauß gemacht haben“40. Er liefert damit einen Beleg für Tänze im Kirchenraum, die er wegen des Ortes und der Zeit an einem Feiertag eindeutig tadelt. Als Hebraist zieht er den Vergleich zu den Tanzpraktiken der jüdischen Bevölkerung, die am Sabbat weder Werkzeug noch Geld anfassen wollen, dafür aber den Tanz erlauben.41 Böschenstayn argumentiert weiterhin, dass der Tanz eine unnatürliche Tätigkeit sei, die den Menschen auf den Status eines Tieres bringen würde. Am Ende seiner Schrift druckt Böschenstayn im Anhang das kurze Tanztraktat des Humanisten und Arztes Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim „Von den Rayen und Tentzen“, die deutsche Übersetzung des Kapitels „De Saltationibus & Choreis“ aus seinem 1531 erschienenen Werk „De incertitudine & vanitate scientiarum & artium, atque excellentia verbi Dei declamatio“. Agrippa, 37 38 39 40 41

Vgl. Dörner 2008, Sp. 231 f. Böschenstayn 1536, S. 16 f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 12. Böschenstayn bezieht sich hierbei möglicherweise auf das Augustinuszitat: „Melius enim utrique tota die foederent, quam tota die saltarent“, Enarratio in Psalmum XXXII Sermo II 6, zitiert nach Rohmann 2013, S. 220.

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den Böschenstayn als „hochgelerten aller tugenden liebhaber“42 tituliert, greift bei seiner ablehnenden Haltung dem Tanz gegenüber einige Argumente der Gegenseite auf und setzt sich dabei insbesondere mit antiken griechischen Kosmosvorstellungen auseinander.43 Er führt aus: „… vnnd gestyrns lauff ab zígang und zísamen füegung als vŏ einem hymelischen wol zísamen gesetzten rayen die tÄntz iren vrsprung haben / vnd seyen also erstlich mit der erschaffung der welt auf der gÖter ordnŭg inn die welt koen.“44 Agrippa zählt einige Beispiele auf, wie Tanz bei den Griechen in Ehren gehalten wurde, Sokrates im hohen Alter noch tanzen lernte und Tanz vielfach als Gottesdienst angesehen wurde. Tanzbefürwortern, die sich deshalb auf diese antiken Traditionen berufen, hält er jedoch entgegen, dass die Griechen neben Tanz auch „eebruch, junckfrawě schwechen / eltern mord“45 von ihren Göttern gelernt hätten und somit als Inbegriff von Lasterhaftigkeit und Untugend gelten. In Rom hingegen, dem Zentrum von Weisheit und Anstand, wären alle Tänze verboten gewesen, obgleich er vorher die römischen Salierpriester als „tantzpfaffen“46 erwähnt. Die ablehnende Haltung Ciceros empfiehlt Agrippa deshalb als vorbildhaft. Unabhängig von diesem antiken Erbe macht er noch einmal zusammenfassend deutlich: „Vnd ist also dises spil und kurtzweil des tantz / ein deckel aller schand vnd laster vnnd ist für war die kunst des tantzens nit auß den himeln / sond aus dem bÖsen gaysten entsprungen.“47 Melchior Ambach/Jacob Ratz Eine ähnlich stark ablehnende Meinung gegenüber dem Tanz nimmt der Frankfurter Pfarrer Melchior Ambach48 (1490 bis ca. 1559) in seinem Traktat „Vom Tantzen / Vrtheil / Auß Heiliger Schrift / vnnd den alten Christlichen Lerern gestelt.“ ein. Die Schrift ist Bestandteil der seit den 1530er Jahren andauernden 42 Böschenstayn 1536, S. 14. 43 Agrippa setzt sich in seinem Hauptwerk „De occulta philosophia libri tres“ ausführlich mit Vorstellungen vom Kosmos auseinander, dazu: Müller-Jancke 2008, S. 30 ff. 44 Böschenstayn 1536, S. 21. 45 Ebd., S. 22. 46 Ebd., S. 21. 47 Ebd., S. 23. 48 Aus Ambachs Biographie ist bekannt, dass er zunächst Pfarrer in Neckarsteinach war und anschließend in Frankfurt und Sachsenhausen seelsorgerisch tätig war. Weitere von ihm überlieferte Traktate lauten „Von Zusauffen vnd Trunckenheit. sampt jren schönen früchten. Historien vnd Sprüche, auß heiliger Schrifft, die frucht der Trunckenheit fürbildende, zu sammen gestelt.“, 1545; „Klage Jesu Christi /|| wider die vermeinte Euangelische.  ||  Dero keyner/ ehr sey Hohes Oder Nidriges  ||  Geistliches oder Weltliches Standes  /  in seinem  ||  beruff rechtschaffen gefunden wird“, 1556, vgl. Bossert 1907, S. 44 f., 49 ff.

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Auseinandersetzung mit dem Pfarrer Jacob Ratz (um 1500–1565) aus Neckarbischofsheim, als Ambach noch Pfarrer im nahen Neckarsteinach gewesen war und beide sich bereits in Predigten unterschiedlich zum Thema Tanz geäußert hatten.49 Der Streit zwischen beiden zeigt, dass nicht nur Kritik konfessionsübergreifend geäußert wurde, sondern auch innerhalb einer Konfession die Meinung zum Tanz eine erhebliche Spannbreite aufweisen konnte. Melchior Ambach, ein ehemaliger Karthäusermönch, hatte sich schon früh den Lehren Luthers angeschlossen und war dafür mit mehreren Monaten Gefängnishaft bestraft worden. Zwar konnte er danach eine Stellung beim Markgrafen Philipp von Baden erhalten, 1528 gab er sein Amt als Prediger aber wieder auf, als der Markgraf die Feier des Fronleichnamfestes wieder einführen wollte. Daraufhin zog er nach Straßburg, wo er stärker mit den reformatorischen Lehren von Zwingli und Bucer in Kontakt kam. Nach der Schilderung aus Ratz’ Traktat hatte Ambach 1532 zu Bischesheym eine Predigt gegen das Tanzen gehalten, die später für zahlreiche Pfarrer abgeschrieben worden war. Die Geistlichen verlasen die Predigt in ihren Gemeinden, so dass viele Menschen verunsichert waren, ob man weiterhin tanzen dürfe, und sich deshalb an Jacob Ratz wandten. Dieser ließ sich eine Kopie der Predigt zukommen und gestaltete, um Ambach zu widerlegen, selbst eine Predigt zum Gleichnis des verlorenen Sohnes, für dessen Rückkehr ein Fest mit Tänzen veranstaltet wird, und verbreitete diese ebenfalls in Abschriften.50 Fünf Jahre später trafen sich Ratz und Ambach scheinbar zufällig bei einem Markt in Helmstadt im dortigen Pfarrhof, worüber Ratz folgende Anekdote überliefert: „Der fing nun an / er welt doch ghern wissen / was gíts am Tantz were / vnd wo es gott erlaupt hett. Ich antwort ihm / Gott hats erlaupt. Ecclesiast. iii. Tantzen hat sein zeyt / Er sagt / es stünd nit in der Bibel / Ich sagt / es stedt driňen / Er antwort / Es gelt ein maß wein / vnd ein gülden darzí / So sprach ich  /  Es gelt wol  /  Also langt einer die Bibel  /  síchts  /  vnd legts ime für  /  do erschrack er sehr vbel  /  wust nichts zí anworten  /  dan  /  der text ist falsch  /  Es stedt nit also im hebraischen  /  Ich sagt  /  Es stedt also im hebraischen / und Doctor Lutter / hats recht / vnd wol verteütscht / beruff mich des auff den buchstaben / und alle dolmetschen / Darnoch sagt ich zun geselen / den gulden / will ich M. Melchorn schencken / aber die maß weyn sol er eüch geben. Also zog ich fort […]“51.

49 Vgl. Osborn 1965, S. 86 f., Bossert 1907, S. 35 f. 50 Vgl. Bossert 1907, 35 f. 51 Ratz 1545, S. 34.

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Die Passage zeigt zum einen die unterschiedlichen Ansichten zum Tanzen, unterstreicht zum anderen aber auch, mit welcher Polemik theologische Auseinandersetzungen unter humanistischen Gelehrten geführt wurden. Ratz stellt sich nicht nur als besseren Bibelkenner dar, der sich auf die Übersetzung Luthers als Autorität stützen kann, gleichzeitig entwirft er Melchior Ambach als Karikatur seiner von ihm selbst geforderten Verbote. Ambach vereint alle von ihm selbst angeprangerten Laster, da er im Pfarrhof auf das göttliche Wort wettet, dabei Geld (Spielsucht) und ein Maß Wein (Trinksucht) gewinnen möchte und nachher die Auszahlung (Finanzbetrug) verweigert. Ratz dagegen überzeugt durch theologisches Wissen und erlässt dem Verlierer bescheiden dessen Wettschuld. Weitere fünf Jahre später, 1542, witterte Ambach, der zum Prediger in Frankfurt ernannt worden war, laut Ratz seine Chance zur Revanche. Ratz, inzwischen Prediger in Neuenstadt, war zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich stark angeschlagen und drohte zu erblinden, so dass Ambach seine Tanzkritik 1543 drucken lassen konnte, ohne eine Entgegnung fürchten zu müssen. Darin versucht er nicht minder boshaft Ratz’ Thesen zum Tanz zu widerlegen. Ratz, der sich von seiner Krankheit erholt hatte, veröffentlichte jedoch 1544/45 eine direkte Antwort auf Ambach52, den er darin als „Tantzuerpiettisch Heuchel Teufel“53 charakterisiert, mit dem Titel: „Ratz, Jacob, Vom Tanzenn, Obs Gott verspotten hat, obs sünd sey … Mit verlegung des Falschen und onbescheyden urteils, M. Melchior Ambach, Prediger zu Franckfurt, vom Tantzen, geschrieben.“ Das Vorwort dazu ist auf 1544 datiert.54 Ambach wiederum erweiterte sein Traktat 1545 mit einer „Wahrhafftige[n] verantwortung unnd widerlegung“ von Ratz, wodurch seine Schrift noch einmal um gut 30 Seiten erweitert wurde.55 Melchior Ambach stellt seinen Ausführungen eine pessimistische Zeitanalyse voraus, in der „vnzucht und Laster hefftigt vberhandt nemenn / alle Christliche zucht / scham und messigkeit veracht und verjaget ist […]“56. Um dagegen anzugehen, widmet er sich einem der Hauptübel der Zeit, nämlich dem 52 53 54 55

Vgl. Osborn 1965, S. 87. Ratz 1545, S. 68. Vgl. dazu Osborn 1965, S. 86. Ich beziehe mich im Folgenden auf diese erweiterte Ausgabe von 1545. Da keine Seitenzählung vorliegt, beziehen sich die Angaben auf meine Zählung, die sich an der Fünf auf dem Deckblatt als einzige Seitenzahl im Traktat orientiert. Eine andere Ausgabe von 1544 liegt ebenfalls vor, deren Titelseite mit dem Zitat aus Mt. 14 geschmückt ist: „Die Tochter Herodias tantzet vor inen / und es gefiel Herodes wol / und er schicket hin / und enthauptet Johannes.“ 56 Ambach 1545, S. 6.

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„schendtlichen  /  ehrlosen  /  und Heydnischem Tantzen“57. Nachdem sich der Frankfurter Pfarrer einige Seiten über die Hurerei von falschen Geistlichen und die Laster der Völlerei, der Trinksucht, des Glückspiels und des Finanzbetrugs ereifert hat, leitet er zum Tanz über, den er ebenfalls in dieser Linie sieht. Da Tanz aber nahezu überall auf unkeusche Weise praktiziert und zudem verteidigt und von Sünde freigesprochen werde, sieht sich Ambach gezwungen, auf diese Einwände zu reagieren.58 Als ersten Beleg für die Sündhaftigkeit von Tanz führt der Autor an, dass alles, was nicht aus dem Glauben heraus geschieht, zu unterlassen ist: „Also Tantzenn hat keinn wort Gottes / vnnd geschieht also on Glauben / darumb ist Tantzĕ Sünd.“59 Daraufhin setzt sich Ambach mit David und Miriam als zwei positiven Beispielen für Tänze aus der Bibel auseinander, die häufig – wie bereits oben bei Gruner –, als Apologien für das Tanzen angeführt wurden. Bei beiden erkennt er den Tanz als Ausdruck des Glaubens an, grenzt dies aber von Salomes Tanz und der Anbetung des Goldenen Kalbes ab. Alle aktuellen Tänze würden letzterem Beispiel folgen und seien deshalb ohne Glauben: „Nun wolan / wÖlt Gott die feinde Christi und seines volcks bekerten sich zu Christo / oder ersÖffen alle im roten Meer / wir wÖlten all mit Miriam paucken / pfeiffen / springen / vnd Tantzen / Aber nit Claus vň Gred miteinander / sonder Miriam mit den Frawen und Junckfrawen [...]“60. Das Motiv für Tanz im alttestamentlichen Kontext bildet demnach der Sieg über christliche Feinde und der Triumph des Christentums. Tanz dient dabei als Ausdruck von Freude, wobei Ambach darauf Wert legt, dass eine Annäherung der Geschlechter in diesem Fall unterbleibt. Der Grund, weshalb es zu Ambachs Zeiten keine gottgefälligen Tänze geben kann, liegt in seiner Weltsicht begründet. Der Einfluss des Teufels sei in dieser Zeit des „Antichristischenn Reichs“61 besonders stark und Laster und Untugenden seien überall präsent. Er zieht den Vergleich zur ägyptischen Gefangenschaft der Israeliten, während derer ebenso kein Tanz denkbar gewesen sei, denn Miriam habe erst nach dem Auszug getanzt. Ambach vertröstet den gottgefälligen Tanz auf die Zeit nach dem Jüngsten Gericht, dann erst „wirdt das volck Gottes frÖlich baucken / vnnd heraus gehn an den Reyen“62. Als weitere Gründe gegen Tanz im weltlichen Kontext führt er noch die Erregung der Fleischeslust und die damit verbundene Anstiftung zur Unkeusch57 58 59 60 61 62

Ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 9–15. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 19. Ebd.

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heit sowie die Verschwendung an Schmuck und Kleidung auf, wobei er auf das Traktat von Agrippa von Nettesheim verweist und Kirchenväter, wie Chrysostomus und Zyprianus, und Konzile zitiert. Tanz würde viele Laster vereinen und steigern, er wäre ein Grund, warum die Welt zurzeit so gottlos sei: „Ja Tantzen ist eigentlich ein vbung / nit vom Himmel kommen / sonder vonn dem leidigen teuffel / Gott zur Schmach erfunden.“63 Nachdem Ambach seine Vorbehalte gegen das Tanzen vorgebracht hat, widmet er sich der Widerlegung von Gegenargumenten, die mit Beispielen von Tanz aus der Heiligen Schrift operieren. Ausführlich geht er auf Belegstellen wie beispielsweise „Klagen hat sein zeit / Tantzen hat sein zeit“64 (Eccl. 3) ein. Im Wesentlichen argumentiert er damit, dass die in der Bibel aufgeführten Tänze nichts mehr mit den zeitgenössischen Tänzen zu tun haben, da die damaligen gottgefällig und keusch, die heutigen unkeusch und schlecht seien. Vor allem ein Übersetzungsfehler des hebräischen „Rotado/Rotad“ sei für die falsche Interpretation verantwortlich. Demnach „haben die dolmetscher Rotad  /  Tantzen / verdolmetscht / freude und frÖligkeit aber nicht des fleisches / damit wÖllen anzeigen“65. Melchior Ambach versteht die biblischen Beispiele für Tanz als geistige, nicht körperlich vollzogene Tänze. Ambach möchte seine Aufforderungen zur Keuschheit nicht als Lob auf das katholische Klosterwesen begreifen und damit in die Ecke eines Verteidigers des Katholizismus gerückt werden. „Man wil auch derhalben (wie jemandt sagen mÖcht) niemandts zu MÖnichen und Nonnen machen“, schreibt Ambach, „Denn wie diese bißher vnd noch in iren ClÖsteren / mit Tanzen vnd anderer unzucht / hauß gehalten / weiß meniglich.“66 Den Verweis darauf, dass in Klöstern in Vergangenheit und Gegenwart getanzt wurde und wird, sieht Ambach als Beleg für die mannigfaltige Unzucht der Ordensgeistlichen. Bereits zu Beginn des Traktats hatte er auf andere Laster des Katholizismus hingewiesen und Geistliche als Säufer und Völlerer gebrandmarkt. Tanz ist dem Grundtenor seines Traktates entsprechend ein wichtiges Indiz für die sündhaften Verfehlungen der katholischen Geistlichkeit. Ambach fordert im Abschluss alle Christen auf, Tanz zu unterlassen und auch die geheimen Tänze junger Menschen nicht zu tolerieren. Gegen Ende seines Traktates fordert er in Anlehnung an die im Geiste vollzogenen Tänze des

63 64 65 66

Ebd., S. 22. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd., S. 36.

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Alten Testamentes: „Lasset vns viel mehr im Geist wandlen  /  vnnd nicht des fleisches lust volbringen.“67 Wie bereits erwähnt, ist die Schrift des Neuensteiner Pfarrers Jacob Ratz „Vom Tanzenn / Obs Gott verpotten hab / Obs sünd sey“ als Antwort auf das Traktat von Melchior Ambach zu verstehen. Ratz, den Max Osborn am Ende des 19.  Jahrhunderts als „ein[en] echten Lutheraner der Zeit“ charakterisiert, der „noch Freude am frischen, fröhlichen Volksleben“68 habe, möchte darin die ihm viel zu weit ausufernde Kritik am Tanz, aber auch an den anderen von Ambach kritisierten Vergnügen wie Jagd, Spielen und Trinken zurückweisen.69 Gewidmet ist sein Werk Georg von Auw, dem württembergischen Statthalter und obersten Visitatoren.70 Da zu seiner Zeit „jeder Narr“ beginnt Bücher zu schreiben und dadurch viele Unwahrheiten verbreitet werden, vor allem durch eine „Fledermaus von Franckfort“71, die über eine von ihm 1532 gehaltene Predigt wettert, sieht Ratz sich schließlich doch genötigt, diese Behauptungen zu korrigieren. Damit Ambach nicht Verbote predigt, wo Gott keine gemacht hat, möchte der Autor „solchem büchlein mit guttem grund gÖttlichs worts zí widersprechen / dan es steckt nichts anders drinnen / dan ein heuchel geist / ein Münch und widdertauffer Geist“72. Ratz rückt Ambach damit in die Ecke der gefährlichsten Gegner des Protestantismus. Zum einen bedroht die beginnende Gegenreformation nach der Gründung der Jesuiten 1540 die Erfolge der Reformation, zum anderen hatte die Täuferbewegung in den Niederlanden und Westfalen wenige Jahre zuvor Münster für ein Jahr unter ihre Kontrolle gebracht und Täufergemeinschaften in Mähren forderten eine viel radikalere Reformation.73 Wie vielen anderen Autoren geht es Ratz um die Frage, ob Tanzen gottgefällig sei: „Es ist offtermals vnder den Theologen ein zanck gewest (sonderlich seyt der zeit / das die Münch die Cantzeln bestigen habê) Ob Tantzen sünd sey.“74 Er schildert eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Frage nach der Sündhaftigkeit von Tanz, die

67 Ebd., S. 39. 68 Osborn 1965, S. 87. 69 Der Untertitel lautet: „Und von anderen erlaupten kurzweilen der Christen / also / Spielen / Singen / Trincken / Jagen.“ Die folgenden Seitenangaben ergeben sich aus meiner Nummerierung, beginnend mit der Eins für das Deckblatt. 70 Vgl. Ratz 1545, S. 1. 71 Ebd., S. 3. 72 Ebd., S. 4. 73 Vgl. Moeller 2004, S. 245–262. 74 Ratz 1545, S. 4.

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seit dem 13. Jahrhundert geführt wird, wenn man mit den „München“ die Predigttätigkeit der Bettelorden ab diesem Zeitraum interpretiert. Der Neuensteiner Pfarrer unterscheidet in seinem Traktat vier Arten von Tänzen: „Im GÖttlichem wort vň helliger Schrifft / findě wir Vierley Tentz / Ein Geistlichen Tantz  /  Ein GÖtzen Tantz  /  Ein Burgerlichen Tantz  /  vnd ein Buben Tantz.“75 Geistliche Tänze zeichnen sich für Ratz dadurch aus, dass sie „frumme  /  hellige leüt  /  bey den rechten  /  waren Gotsdiensten  /  Gott zí lob / ehren vnd danck gethon haben / noch dem sie der hellig Geist Gottes getriben hatt“76. Er verweist auf den Tanz vor der Bundeslade, den er aber nicht auf David beschränkt, sondern als kollektiven Tanz ansieht, den der Heilige Geist über das Volk Israel gebracht habe. Jacob Ratz merkt an, dass bei diesem Tanz Musiker mit Trommeln, Pfeifen und Saiteninstrumenten anwesend gewesen seien und zum Tanz aufgespielt hätten.77 Er wendet sich gegen die verbreitete Kritik an Spielleuten, deren Musik häufig als Übel und Anstiftung zum sündhaften Verhalten gewertet wurde, so dass Spielleute und insbesondere Spielfrauen als soziale Randgruppen ohne Anrecht auf Armenspeisung oder ein kirchliches Begräbnis leben mussten.78 Ratz dagegen verweist explizit auf Psalm 150: „Lobet ihn mit paucken und reygen / lobet ihn mit seittě vnd pfeiffen.“79 Anhand des Freudentanzes nach der erfolgreichen Flucht aus Ägypten und anhand des Festes, an dem die Töchter Silos teilnahmen, macht er die Verbindung von Tanz und Kult deutlich: „Vnd ist diese kurzweil / gantz gemein gewest im altě testament bey den Gotsdiensten.“80 Ratz nimmt hiermit die gegenteilige Position von Ambach ein. Gegen dessen Versuche, jene körperlichen Tanzpraktiken als allein geistige Bewegung aus dem Alten Testament zu verbannen, argumentiert Ratz, dass diese dazugehörten und gottgewollt seien. Der Eifer, Tanz, Essen und Trinken zu verbieten, habe Gott nie gefallen und komme allein von zeitgenössischen Predigern. Auch ihre Drohungen, dass Gott beim Tanzen sofort strafend eingreifen werde, widerlegt Jacob Ratz mit einer Gottesnatur, die zuallererst „barmhertzig / Gnedig / gedültig / langmütig / von grosser gütte und treüwe“81 sei. Als erstem Autor klingen bei ihm Zweifel an der Ansicht an, dass gottgefällige Tänze allein auf biblische Zeiten beschränkt waren. Auch wenn er sich 75 76 77 78 79 80 81

Ebd., S. 9. Ebd. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. Salmen 2000, S. 7 f. Ratz 1545, S. 10. Ebd. Ebd., S. 8.

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dazu ein Urteil nicht erlauben möchte, verweist er darauf, dass „etlich Scolastici sagen / Das wo noch solche tentz geschehen / welche der hellig Geist treib / wie ein Maria und David  /  so weren sie auch verdienstlich“82. Schließlich weiß er selbst von derartigen Tänzen zu berichten: „Ich weyß etlich ort in Teutschem land / do man in der Christnacht / die iungen knaben vnd meidlin schon schmücket / vnd leßt sie tantzen fein ordentlich und züchtig vmb den hohen altar / do man ein wiegen mit eim kindlin hinsetzt / und engellin drumb her sten die es wiegen / Solchen Tantz / zí ehren der gepurt Christi vnd von eim unschüldigen alter gethon  /  west ich nit zu vrteilen“83. Diese von ihm geschilderten Tänze seien ohne unkontrollierte und unkeusche Bewegungen und geschähen, um Gott gegenüber die Freude über seine Gaben auszudrücken. Im Gegensatz zu Melchior Ambach, der Tänze verurteilt, weil sie nicht aus dem Glauben entstünden, folgert Ratz: „Dieser geistlich Tantz / ghet aus dem glauben / darumb ist er nit sünd.“84 Die im Gegenzug konzipierten Götzentänze betreffen die auch von den Tanzgegnern vorgebrachten Beispiele aus der Bibel, den Tanz um das Goldene Kalb und den Tanz der Baalpriester. Geistlicher Tanz sei bei diesen Formen vom Teufel korrumpiert worden. Ähnlich wie die geistlichen Tänze seien auch diese nach Meinung der meisten Autoren auf das Alte Testament beschränkt gewesen, Ratz sieht sie jedoch zu seiner Zeit noch bei zwei Beispielen prominent vertreten. Zum einen seien die vielfältigen Tänze im Gottesdienst der jüdischen Religion als Götzentanz zu werten, da der Heilige Geist sich von der jüdischen Religion abgewandt habe, als sie am Pfingstfest den Aposteln kein Gehör schenkten. In dieser Weise wären auch die „Türcken tentze“85, gemeint sind wohl religiöse Tänze der Muslime, Götzentänze. Das andere Beispiel betrifft die „Tentzen / freuden / vnd kurzweilen / welche die Papisten halten / auff iren ersten messen / Do mans gleich einer hochzeit anricht“86. Ähnlich wie bei Ambach werden bei Ratz katholische Geistliche durch ihre gottlosen Tänze diskreditiert. Der Tanz von Geistlichen bei ihrer ersten Messe war – wie sich bei den anderen Traktaten herausstellen wird – ein weit verbreiteter Brauch. Eine weitere Spitze gegen die „Papisten“ setzt der Autor bei der Beschreibung der Buben- oder auch Hurentänze, als deren bestes Beispiel der Tanz Salomes gelte. Diese Tänze zeichnen sich erstens durch Unkeuschheit und zweitens durch Ungehorsam gegenüber weltlichen und geistlichen Autoritäten aus. „Sol82 83 84 85 86

Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd. Ebd., S. 12 f.

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che Tentz / gehören in fraw Venus Berg“ schreibt Ratz deshalb, macht aber aufmerksam auf „die grossen pfaffen residentzen / do man solcher Tentz pfleget.“87 Der Pfarrer aus Neuenstadt präzisiert, dass mit den großen Pfaffenresidenzen vor allem die Bischofskirchen gemeint seien. Während seiner Studien in Metz soll sich ein derartiger Tanz bei einem Domherrn ereignet haben, der sich sechs Huren und einen Lautenspieler eingeladen hatte. „Do sie nun gezecht hetten / musten die huwern alle nacket vor dem geistlichen hern Tantzen / darnho mussten sie auff allen viern kriechen“88 Die zweite Hälfte des Traktats umfasst eine umfassende und detaillierte Auseinandersetzung mit der Argumentation aus Melchior Ambachs Traktat, dessen Fehldeutungen Kapitel für Kapitel aufgezeigt und mit Belegen aus der Bibel widerlegt werden. Tanz sei weder ein Gebot Gottes, noch habe er es verboten, sondern den Menschen stehe es frei, zu tanzen. Sie können dabei Gott tänzerisch verehren oder zur Unterhaltung ehrenhafte Tänze praktizieren, lediglich die beschriebenen Götzen- und Bubentänze sollten nach Ansicht des Autors verboten werden. In den vielfach kritisierten Hochzeitstänzen sieht Ratz generell keine Gefahr, hat doch Christus auch an der Hochzeit zu Kanaan teilgenommen, bei der nach jüdischem Brauch getanzt worden sei.89 Gemäß Eccl.  3 „Tanzen hat seine Zeit und Klagen hat seine Zeit“ sind die vielfach praktizierten anständigen Tänze nicht zu missbilligen. Lediglich an hohen kirchlichen Feiertagen von Weihnachten bis Dreikönig, vom ersten Fastensonntag bis Trinitatis und an Sonntagen mit Abendmahlsfeier90 soll die Obrigkeit darauf verzichten, „bürgerliche Tänze“ zu gestatten, weil dann keine Zeit zu tanzen sei. Da er aber bei den geistlichen Tänzen den Tanz der Kinder an Weihnachten um den Altar billigt, scheint es, dass an diesen Feiertagen geistliche Tänze stattfinden konnten. Ein Tanz von Kindern um den Altar wird auch bei dem protestantischen Reformator Thomas Naogeorg (1508–1563) erwähnt, der dies allerdings als Verfehlung der Katholiken anführt.91 Demgegenüber sieht Ratz im Tanz keine Bedrohung für die Christenheit. Die eigentliche Gefahr gehe von Heuchlern wie Ambach aus, die gleichsam wie Wiedertäufer und Katholiken das Wort Gottes verdrehen und damit die christliche Lehre verfälschen. Melchior Ambach reagierte auf diese starke Kritik an seinem Traktat, ganz im Stil des Humanismus, mit einer ebenso ironischen und boshaften Widerle87 88 89 90 91

Ebd., S. 31. Ebd. Vgl. ebd., S. 66 ff. Vgl. ebd., S. 17 f. Vgl. Davies 1980/81, S. 10.

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gung der gegnerischen Argumente und Person. Bescheiden stellt er dar, wie er nur Gottes Wort verkünden wollte und dafür von vielen Geistlichen Bestätigung erfahren. Lediglich eine Person habe sein „ehrlich und Christlichs Schreiben / … [sein] lere / ehre und ampt unwarhafftiglich und unfletiglich / nach Ratzen art / besudlet uň beschmeißt“92. Auf die genauen Widerlegungen, die unterschiedlichen Interpretationen von Nikolaus von Lyra, die boshaften Unterstellungen und Beleidigungen usw. kann – so unterhaltsam sie auch sein mögen – nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr ist von Interesse, ob Ambach seine Urteile revidiert oder durch neue Beispiele bekräftigt. Allerdings lässt sich aus seiner Ergänzung wenig Neues entnehmen, denn allein auf 20 Seiten listet Ambach peinlich genau alle Beleidigungen auf. Er sei ein Narr, Esel, teuflischer Heuchler, Schwärmer und Wiedertäufer genannt worden und widerlegt diese Beleidigungen ausführlich, um Ratz als streitlustig und lügnerisch darzustellen.93 Lediglich entnehmen kann man, dass auch er Hochzeiten kennt, bei denen keine teuflischen Tänze stattfinden und an denen auch seine Töchter teilnehmen dürften. Die beiden Traktate zeigen sehr gut, dass die Auseinandersetzungen um Frömmigkeitspraktiken und theologische Lehrmeinungen wie etwa die Abendmahlslehre innerhalb des protestantischen Lagers auch auf das Thema Tanz übergriffen. In der Akzeptanz von zahlreichen Tänzen durch Ratz sah Ambach eine Nähe zum Katholizismus. Die Auflistung der tanzfreien Tage von Ratz sieht Ambach jedoch „nach der Päpstlichen Mathematica auß gezirckelt“94 und vom „Päpstlichen Schüleren“ Jacob Ratz verbreitet. Ratz war in vielen Bereichen weniger bedacht, sich vom katholischen Lager abzugrenzen. So war er etwa auch bereit, die Änderungen des Interims nach 1548 bei seiner Pastorentätigkeit hinzunehmen. Ambach wiederum erschien Ratz als jemand, der sich von Luthers Lehren in eine ganz andere Richtung entfernt hatte. Ambach war, wie die Aufgabe seines Amts nach der Wiedereinführung der Fronleichnamsprozession gezeigt hat, weit weniger bereit, bei konfessionellen Differenzen Kompromisse einzugehen. In Straßburg hatte er durch den Kontakt mit der Lehre Zwinglis und Bucers eine spiritualistische Richtung eingeschlagen.95 Seine Forderungen, Trinkgelage, Spiele und Tänze zu verbieten, erschienen Ratz wenig mit der Linie Luthers gemein zu haben, sondern radikalen Strömungen näher zu stehen. Jacob Ratz 92 93 94 95

Ambach 1545, S. 44. Vgl. ebd., S. 62–79. Ebd., S. 57. Vgl. Bossert 1907, 35 f.

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bezeichnet Ambach deshalb in seinem Tanztraktat mehrfach als „Schwärmer“ und „Wiedertäufer“. Cyriacus Spangenberg Eine weitere Antwort auf eine generelle Verdammung des Tanzes, diesmal jedoch mit einem Abstand von fast 30 Jahren, schrieb Cyriacus Spangenberg (1528– 1604)96 innerhalb seiner 45. Predigt des Ehespiegels, der 1561 in Eisleben gedruckt wurde: „So kan ich mir doch auch die Beschreibung des Tantzes / die Agrippa / vnd etliche andere setzen / nicht gar gefallen lassen.“97 Spangenberg hatte im Umfeld Luthers und Melanchthons an der Universität Wittenberg Theologie studiert und war 1550 zum Rektor in Eisleben berufen worden.98 Zum Erscheinungszeitpunkt des Ehespiegels war er sowohl kirchlich als auch wissenschaftlich zu Reputation gelangt und stand in Diensten der Mansfelder Grafen, nachdem er 1558 Diakon und ein Jahr später Hofprediger in Mansfeld geworden war. Spangenberg betätigte sich zudem als geistlicher Liederdichter, war Verfasser eines Traktats über die Musikkunst und schrieb einige Abhandlungen zur Regionalgeschichte.99 Spangenberg teilt zwar durchaus die scharfe Kritik an einzelnen Tanzpraktiken, distanziert sich aber davon, alle Tänze durchweg als Teufelswerk zu verdammen. Im Gegenteil sieht er im Tanzen „ein freud vnnd kurzweil / eines ordentlichě Reyens / von GOTT seinem Volck erlaubt uň gegÖnnet / zu seiner Zeit“100. Spangenberg begründet sein Urteil mit dem Verweis auf die biblischen Beispiele von David und Miriam und spätere Heilige, bei denen ein Einfluss des Teufels auszuschließen sei. Dem Autor geht es in erster Linie um Tanzpraktiken anlässlich von Feierlichkeiten, vor allem bei Hochzeiten, denn er stellt Tanz in Zusammenhang mit Essen, Trinken und Fröhlichkeit dar. Solange diese Feste nicht übertrieben, also sündig und unkeusch gefeiert würden, hätten sie im christlichen Leben ihren Platz. Cyriacus Spangenberg unterscheidet daraufhin vier verschiedene Tänze: „In der heiligen Schrifft vň Historien findet man viererley TÄntz / Erstlich ein geistlichě Tantz / Zum andern ein GÖtzě tantz / Zum dritten ein BÜrgerlichen tantz / Vnd zum vierdten ein Bubentantz.“101 Deutlich ist die Anlehnung an Ratz, 96 Die hier zitierte Version ist diejenige aus dem Anhang von Florian Daul 1569, S. 88–99. 97 Daul 1569, S. 88. 98 Vgl. Jungmann 2002, S. 35. 99 Vgl. Schröder 1893, S. 37–41. 100 Daul 1569, S. 89. 101 Ebd., S. 92.

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wie bereits Osborn angemerkt hat,102 der genau diese Einteilung 15 Jahre zuvor vorgenommen hatte. Auch bei den Erläuterungen der Tänze wird Ratz von ihm wortwörtlich, mit lediglich geringfügig veränderter Schreibweise zitiert: „Der erste tantz / ist ein geistlicher tantz / welchen froe heilige leute / bey dě rechten warě Gottesdiensten / Gott zu lob / ehren vň danck gethan haben / nach dem sie der heilige Geist getrieben hat.“103 Spangenberg orientiert sich auch im Folgenden beim Aufbau sehr an Jacob Ratz’ Traktat bzw. übernimmt einzelne Passagen. Deutlich wird, dass Spangenberg zumindest für die biblischen Zeiten Tänze als Bestandteil von Gottesdiensten anerkennt. Im Folgenden führt er die Bibelpassagen von Miriams Tanz nach der erfolgreichen Durchquerung des Roten Meers und den Freudentanz der Töchter Silos an, die er als vorbildlichen Gottesdienst anerkennt. „Solche kurzweil ist gemeyn gewesen im altě Testament bey den Gottesdiensten / das auch Gott gebotte / sie solten vor im essen / trincken uň fro\elich seyn.“104 In seinem späteren Traktat „Von der Musica und den Meistersängern“ bescheinigt er der Musik heilende Wirkung, insbesondere geistliche Lieder würden den Traurigen Kraft geben und hätten den Märtyrern geholfen, ihre Leiden zu ertragen. Musik als göttliche Kunst rege die Menschen zu frommen Werken an. Miriam, in seiner früheren Predigt Vorbild für einen gottgefälligen Tanz, dient diesmal als Gesangsmeisterin und auch Davids Tanz wird diesmal unter dem Aspekt des Gesangs beschrieben.105 „Dieser Tantz hat nun mit dem alten Testament auffgehÖrt / das man in nicht mehr treibt / bey den Gotteßdiensten / es kann aber noch wol komen / das ein fro hertz mit besondern freuden und gaben ergetzet / GOTT zu lobe / seine hende zusaen schlegt / vor freuden auff springet und tantzet / das mÖchte man einen geistlichě tantz seyn lassen.“106 Geistlicher Tanz bleibt im Grunde ein Charakteristikum des Alten Testamentes, allerdings schließt Spangenberg nicht aus, dass auch zu seiner Zeit die Möglichkeit für geistliche Tänze bestehe. Im Gegensatz zu Ratz unterlässt er jedoch weitere Spekulationen, welche Tänze in seiner Zeit als geistliche Tänzen gelten können. 102 103 104 105

Vgl. Osborn 1965, S. 89. Daul 1569, S. 92. Ebd., S. 93. Vgl. Spangenberg 1598, S. 38–45. Allerdings übersetzt Spangenberg das Basilius-Zitat „Quid itaque beatius esse poterit quam in terra tripudium angelorum imitari“ (Basileus, Epist. Ad Gregorium, zitiert nach Sahlin 1940, S. 138) mit „Waß khan doch seeligers sein, Dann Daß mann hie uff Erden, der heiligen Engell frolockunge folgett“ (S.  32). „Tripudium“ verliert mit der Übersetzung „Frohlockung“ seine tänzerische Komponente. 106 Daul 1569, S. 94.

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Den Götzentanz dagegen konzipiert Spangenberg mit Verweis auf den Tanz um das Goldene Kalb als „Spott dem Geistlichen Tantz“107 gegenüber. Praktiziert wurde er bei den Heiden des Altertums, wozu Römer, Inder und Israeliten zählten. Anschließend widmet sich der Autor dem bürgerlichen Tanz, der die geordnete und angemessene Version von gesellschaftlichen Tänzen umfasst. Als Gegenstück dazu fungiert wiederum der Bubentanz, der sich durch Ausgelassenheit, falsche Tanzzeiten und -orte und generelle Unkeuschheit auszeichnet.108 Für den bürgerlichen Tanz liefert Spangenberg zahlreiche Bibelstellen, die belegen sollen, dass derartige Tänze in christlicher Zeit gebräuchlich waren. So folgert er am Beispiel von Mt.  11,17 („Wir haben euch gepfiffen  /  und ir habt nit getantzt“), dass die Kinder diesen Satz nicht ausgerufen hätten, wenn Tänze nicht üblich gewesen wären. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn und Christi Anwesenheit bei der Hochzeit zu Kanaan würden die Rechtmäßigkeit dieser Tänze belegen. In einem Ausspruch des Propheten Jeremia sieht er sogar Parallelen zu einem „rechten deutschen Tantz“109. Spangenberg folgt Ratz in der Argumentation, dass Gott den Tanz nicht verboten habe und er deshalb keine Sünde sei, wer jedoch „aller dinge wolt verdammen (wie die Wiedertäuffer thun)“110, mache sich der Sünde schuldig. Werden die Wiedertäufer als übertriebene Tanzfeinde angeprangert, so werden die Exempel zweier katholischer Bischöfe als Belege für die göttliche Bestrafung von Tanzenden aufgezählt. Bischof Johann von Naumburg († 1352) und Erzbischof Ludwig von Magdeburg († 1378) seien beide durch Gottes Zorn beim Tanzen verstorben. Auch ein Brückeneinsturz 1277 bei Utrecht, bei dem 200 Menschen starben, sei durch einen „leichtfertigen Tantz“ verursacht worden, „wiewol die Papistischen Historienschreiber ein andere ursach solls unfalls setzen / ihre Abgötterey zu bestetigen (Hartmannus Schedel / In Chronico Chronicorum)“111. Florian Daul 1569 veröffentlichte der Pfarrer Florian Daul den „Tanzteuffel: Das ist wider den leichtfertigen, unverschempten Welttantz und sonderlich wider die Gottßzucht 107 108 109 110 111

Ebd. Vgl. Jungmann 2002, S. 162 ff. Vgl. Daul 1569, S. 97. Ebd., S. 96. Ebd., S. 106. In Hartmann Schedels Weltchronik heißt es dazu: „Dieweil man zu Uttrich auf eyner prügken ob der musel tanzet do wardt dz allerheilligt sacrament zu einem krancken allda fürgetragen. unnd demselben sacrament von den tantzern kein zucht noch ere erbottě. Darŭb zerprache die prugt und fieln bey zwayhŭdert menschě in den fluss der musel uň ertrunckě darinn zu straff irer vergessung got schuldiger danckperkeit“ (Schedel 2004, S. 217).

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und ehrvergessene Nachttänze“, bei dem er als Anhang den eben erwähnten 1561 erschienenen Ehespiegel von Cyriacus Spangenberg anfügte. Möglicherweise hat Spangenbergs „Jagdteufel“ von 1560 Dauls Titelwahl beeinflusst.112 Generell entstand in der Mitte des 16. Jahrhunderts im Protestantismus eine reiche Teufelsliteratur; vom Spiel-, Sauf-, Hosen- bis hin zum Lügenteufel werden alle potentiellen Laster und schlechten Eigenschaften in Form des Teufels personifiziert.113 Daul zitiert alle diese Teufelsbücher und rechtfertigt sein Traktat damit, dass für den Tanz noch ein derartiges Buch fehlen würde. Der 1522 geborene Daul war Pfarrer in Schellenwalde, einem Dorf bei Neustadt in Oberschlesien. Daul, der sich selbst als „vngelerter / gemeiner PÖbels Predicant vň Lehrer“114 bezeichnete, kritisiert die Vielzahl der weltlichen Tanzveranstaltungen im ländlichen Raum. Dauls Traktat zeichnet sich durch sehr detaillierte Beschreibungen der Tanzweisen, Kleidung, Orte etc. aus, die er täglich beobachten kann oder von denen ihm berichtet wird.115 In theologischer Hinsicht kann er im Vergleich zu den anderen Traktaten nicht mithalten. Der Autor stellt dabei in einer Mischung aus Verzweiflung und Humor die große Begeisterung der Menschen für den Tanz dar, die auf Kosten des Engagements für die Kirche gehe. Bei notwendigen Reparaturmaßnahmen kirchlicher Gebäude würden sich Obrigkeit und Bauern sehr bescheiden zeigen, allerdings würden sie tatkräftig bei der Errichtung der Tanzhäuser mithelfen.116 Er klagt ebenso darüber, dass viele Menschen Ausreden fänden, um sonntags nicht zur Kirche zu gehen („Es Regnet / es Schneyet / es ist heyß / es ist kalt / es ist bÖser weg etc“117), zum Tanz, der „Teufels Wallfahrt“, aber jederzeit strömen würden (bei „Schnee / Regen / bÖß oder gut wetter / da hindert sie nichts / sollen sie gleich ein Beyn brechen“118), sonntags die Kirche eher verließen und zum Katechismus am Nachmittag niemand mehr käme. In der Argumentation von Agrippa von Nettesheim und Melchior Ambach geißelt er öffentliche Tänze, die ohne Erlaubnis und ausschweifend stattfinden, bei ihm stehen besonders die Vernachlässigung des Gottesdienstes und die vom Tanzen und beim Ansehen unanständiger Tänze verursachten Krankheiten im 112 Petermann sieht mehrere Teufelsbücher, wie Joachim Westpides „Hoffahrtsteufel“ oder Konrad Partas „Lügenteufel“, von Spangenberg beeinflusst, vgl. Petermann 1978, S. 38. 113 Vgl. Osborn 1965, passim. 114 Daul 1569, Vorrede. 115 Vgl. Mourey 2004, S. 412–415. 116 Vgl. Daul 1569, S. 2–4. 117 Ebd., S. 29. 118 Ebd., S. 25.

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Mittelpunkt. Zwar gesteht er ein, dass es auch gottesfürchtige und redliche Formen von Tanz gebe, die er im Geiste Luthers keinesfalls kritisieren möchte, aber der Großteil der zeitgenössischen Tänze sei eine Huldigung des Teufels. Eine überstrenge Kritik am Tanz unterstellt er dagegen der katholischen Seite: „Der Bapst hat den Tantz verbotten / denn er ist ein Ehefeind gewesen.“119 Da es an anderer Stelle wiederum, als er die schnellen Bewegungen und die Zurschaustellung von unbekleideten Körperteilen beim Tanz mit einem „Welsch Belvidere“ vergleicht, heißt: „Bellvidere / ein lust hauß zu Rom / hinder des Bapsts pallast“120, möchte Daul die Widersprüchlichkeit der päpstlichen Lehre darstellen. Auf der einen Seite verdamme der Papst, als Synonym für die katholische Kirche, ehrenhaften Tanz, während er zugleich unanständige Tänze in einem Bordell praktiziert. Im Besonderen stört Daul beim Tanz das „Mitregieren der Weiber“121 durch die Tänze, so dass er für diesen Fall das Exempel der ansonsten als Heiden und Feinde angesehenen Türken122 zitiert: „Türcken halten dißfalls noch bessere zucht / die ihre Weiber und Jungfrawen fleissig bewaren vnnd innhalten.“123 Frauen galten neben Spielleuten als besonders gefährlich, da Erstere durch ihre Bewegungen wie Salome Männer verführten, Letztere durch ihre Ungebundenheit, d.h. durch ihre Stellung jenseits eines ordo, arbeitsfaul seien und nur Schlechtigkeiten im Kopf hätten. Beide Gruppen waren – vor allem wenn sie in der Person der weiblichen Spielleute vereint werden – Hauptangriffspunkt der mittelalterlichen Tanzpredigten.124 Pfarrer müssten laut Daul, auch auf die Gefahr hin, dadurch Spott und Beleidigungen ausgesetzt zu sein, entschieden gegen diese Form von Tänzen vorgehen. Denn wenn „des Pfarrherrn tÖchter dabey biß an mitternachte“125 teilnehmen, müssen alle Verbote wirkungslos bleiben. Gegen Ende des Traktats, nachdem er die obligatorischen Bibelstellen von der Anbetung des Goldenen Kalbes und Salomes Tanz nacherzählt hat, ermahnt er noch einmal, die schweren Folgen der Sünden beim Jüngsten Gericht nicht zu vergessen. Dazu berich119 120 121 122

Ebd., S. 19. Ebd., S. 37. Ebd. Dauls Traktat endet mit einem selbst gedichteten Liedtext, in dem in elf von zwölf Strophen gebetet wird, dass Gott die osmanische Armee vernichten möge. In der zwölften Strophe möchte Daul Gott dafür mit Pfeifen loben und danken. 123 Daul 1569, S. 35. Auf der nächsten Seite stützt er diese Argumentation mit dem Sprichwort „Der Ofen vnd die frawen sollen daheim bleiben“. 124 Vgl. Salmen 2000, S. 1–14. 125 Daul 1569, S. 17.

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tet er von „historischen Beispielen“: vom polnischen König Pompilius126, den Gottes Strafe wegen seiner Tänze ereilt hatte, von einem wundersamen Zwangstanz, der sich am Palmsonntag 1551 in Reichenbach ereignet hatte, und vom Tanz zu Kölpigk 1025. Daran soll deutlich werden, dass Gott diese dem Teufel geweihten Tänze nicht ungestraft lässt.127 Das Motiv des unfreiwilligen Tanzes als göttliche Strafe zieht sich seit dem Hochmittelalter durch die tanzkritischen Predigten und Schriften,128 allerdings scheint dies, wie die zahlreichen Beispiele vom Tanz aus Dauls Traktat zeigen, seine Wirkung bisher verfehlt zu haben. In den Traktaten mangelt es nicht an Tanzteufeln, Hurentänzen, gottlosen Reigen und allen Arten von Sünde, die aus dem Tanz entstehen, dennoch findet eine grundlegende Verdammung des Tanzes lediglich in den Schriften von Agrippa von Nettesheim und Johann Böschenstayn statt. Alle anderen sehen den Tanz an sich nicht als Sünde, sondern differenzieren in Gott gefällige und ungefällige Tänze.129 Letztere sehen sie vor allem bei den abendlichen Tanzveranstaltungen junger Leute unter Alkoholeinfluss, wo für die Autoren neuartige und als sehr lebhaft beschriebene Tänze trotz Verbots der Obrigkeit praktiziert werden.130 Außerdem wird das Ausufern von Hochzeitstänzen im Kontext einer allgemeinen Luxus- und Konsumkritik angeprangert.131 Beides sind weltliche Anlässe, die jedoch ihre religiöse Komponente erhalten, indem sie an Sonn- und Feiertagen stattfinden und damit vielfach als (sehr erfolgreiche) Konkurrenz für die Gottesdienste wahrgenommen werden. Bleiben gottgefällige Tänze bei Melchior Ambach und Caspar Gruner weitgehend auf das Alte Testament beschränkt, zeigen Jacob Ratz und der ihn paraphrasierende Spangenberg, dass auch zu ihrer Zeit gottgefälliges Tanzen möglich sein konnte. Jacob Ratz beschreibt dafür von Kindern vor den Krippen aufgeführte Tänze zu Weihnachten. In allen Traktaten bilden die biblischen Geschichten die Grundlage der Argumentation, deren zahlreiche und deutungsoffene Beispiele zum Tanz ein breites Interpretationsspektrum bieten. Als Argumente gegen ein Tanzverbot werden vor allem David, Miriam und die Töchter Silos aus dem Alten Testa126 Ein polnischer König/Fürst aus dem 9. Jahrhundert, der der Sage nach für seinen unzüchtigen Lebenswandel von Nagetieren totgebissen wurde. Die Parallele zur Sage vom „Rattenfänger“ zu Hameln zieht unter anderem Lütcke 1843, S. 55. 127 Vgl. Daul 1569, S. 71–75. 128 Vgl. Rohmann 2009, S. 14 ff. 129 Vgl. Arcangeli 1994, S. 128. 130 Vgl. Jungmann 2002, S. 162–170, die daran aufzeigt, inwiefern eine Reglementierung und Disziplinierung von Tänzen der unteren Schichten angestrebt wurde. 131 Zur Luxuskritik in dieser Zeit siehe: Bulst 1988, S. 29–57, ders. 1991, S. 39–52.

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ment sowie das Gleichnis vom verlorenen Sohn und die Hochzeit von Kanaan (bei der Tanz im Text nicht erwähnt wird) aus dem Neuen Testament angeführt. Auch Mt. 11,17: „Wir haben für Euch auf der Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt“, und Eccl.  3: „Klagen hat sein zeit  /  Tantzen hat sein zeit“, sind Gegenstand von Kontroversen über die richtige Auslegung. Für Melchior Ambach sind sie spirituell zu werten, weshalb daraus nicht auf körperliche Tanzformen geschlossen werden kann, so dass er für allein geistige Tänze plädiert. Die Traktate vermitteln innerhalb des Protestantismus einen vielfältigen und ambivalenten Diskurs, bei dem die Position, dass Tanzen generell eine Sünde sei, jedoch nur eine Minderheit vertritt. Im Kontext konfessioneller Auseinandersetzungen zeichnet sich der Trend ab, dass ein striktes Tanzverbot die Meinung von Wiedertäufern und damit zu verwerfen sei. Gerade Ambach wird von Ratz vorgeworfen, durch seine ablehnende Position sich wie ein Wiedertäufer zu verhalten. Der katholischen Seite wird dagegen eher vorgeworfen, dass sie unzüchtige Tänze nicht nur leichtfertig toleriere, sondern dabei mitwirke und sie sogar in Klöstern und Bischofssitzen selbst veranstalte. Bei Daul und Ratz wird zudem auf die Scheinheiligkeit der Geistlichkeit und insbesondere des Papstes Wert gelegt, da einerseits Tänze verboten würden, andererseits die katholische Geistlichkeit alle Arten von widernatürlichen Tänzen ungezwungen mit Prostituierten praktiziere. Dabei wird sowohl auf aktuelle Beispiele als auch auf Historien verwiesen, was die Notwendigkeit der Reformation im Nachhinein rechtfertigt. Drittens wird den Katholiken der Vorwurf gemacht, „Götzentänze“ bei ihren Messfeiern und religiösen Festen zu veranstalten, um sie damit dem Vorwurf der „Abgötterey“ auszusetzen. Bei Ratz wird explizit auf die erste Messe von Geistlichen verwiesen, bei der ein Tanz stattfindet. Ausgenommen von dieser Kritik bleiben aber die an Heiligabend praktizierten Tänze von Kindern um den Altar, an denen Ratz keine Sünde feststellen kann.

2.1.2 Calvinistische Traktate Die von Luther angeregte Reform der Kirche hin zu ihren frühchristlichen Ursprüngen hatte vor allem Auswirkungen auf das Reich, während die Rezeption seiner theologischen Schriften in Frankreich wegen der erfolgreichen Repression kaum stattfand. Reformatorische Gedanken verbreiteten sich dort vor allem durch Johannes Calvin, nachdem seine theologische Streitschrift „Institutio religionis christianae“ 1536 erschienen war, die 1541 ins Französische übersetzt wurde. Die Austragung der religiösen und politischen Konflikte fand in Frankreich dadurch zwar später statt, dafür aber, wie die zahlreichen Religionskriege

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zeigen, wesentlich intensiver. Calvins Lehre132 führte zudem im Reich zu neuen Impulsen, wo sich einige Städte und Territorien seiner Theologie aufgeschlossen zeigten. Neben den französischsprachigen Traktaten soll deshalb auch ein deutscher Calvinist zu Wort kommen. Da der Calvinismus und insbesondere die Stadt Genf zu Calvins Zeiten bekanntlich als Inbegriffe von Disziplinierung und Tanzfeindlichkeit gelten und die strengen Verbote gegenüber Glücksspiel, Musik und Tanz häufig zitiert werden, ist es von besonderem Interesse, zu erfahren, welche Stellung dem Tanz in den Traktaten beigemessen wird.133 Zunächst muss man sich allerdings in Erinnerung rufen, dass diese Verbote nicht erst mit Calvin begannen, sondern – wie in vielen Städten der Schweiz, Frankreichs und im Reich – bereits Bestandteil der städtischen Policeyordnungen waren.134 Dennoch ist es richtig, dass unter Calvin eine Verschärfung der Gesetze stattfand. „S’il y a aulcun que chante chansons deshonnestes, dissolues ou oultrageuses ou dance en virollet ou aultrement, il tiendra prison par troys, puis sera renvoyé au consistoire“135, so lautete der Beschluss der „Ordonnances sur la police des eglises de la campagne“ vom 3. Februar 1547. Auch der Einzug der Hochzeitsgesellschaft in die Kirche sollte nach dem „Projet d’ordonnance sur les mariages“136 ohne zum Tanz aufspielende Musiker erfolgen. Diese Gesetze waren die logische Konsequenz von Calvins Lehre, in der das Tanzen eindeutig verdammt wurde: „Or on sait bien, que les danses ne peuvent estre sinon des preambules à paillardise, qu’elles sont pour ouvrir la porte notamment à Satan, et pour crier qu’il vienne, et qu’il entre hardiment. Voila qu’enporteront tousiours les danses.“137 Mit Tanz als Teufelsdienst und Vorwand zur paillardise lieferte Calvin zwei Motive, die uns in den calvinistischen Traktaten immer wieder begegnen werden. Dass Calvins theologische Tanzverdammung und die gesetzlichen Tanzverbote auch in der Praxis Anwendung fanden, lässt sich aus einem Brief Calvins erfahren, der von der Verhaftung einiger Tänzer berichtet.138 Doch ähnlich wie 132 Es sei angemerkt, dass Calvin nicht im Alleingang Genf reformierte, sondern auch andere Reformatoren wie Guillaume Farel und Pierre Viret ihren Anteil daran hatten, dazu: Bruenig 2008, S. 175 f. 133 Für das Verhältnis vom Calvinismus zum Tanz immer noch aktuell: Clive 1961, S.  296–323. Die Passagen bei Wéry 1992, Arcangeli 2000 und Ruel 2006, und damit auch meine Ausführungen, basieren im Wesentlichen auf diesem Aufsatz. 134 Vgl. Ruel 2006, S. 136. 135 Clive 1961, S. 297. 136 Der Beschluss ist auf den 10. November 1545 datiert, die Umsetzung erfolgt möglicherweise aber erst im Jahr 1562, dazu: Clive 1961, S. 304. 137 Calvin, Sermon XXXVIII sur le Deutéronome, zitiert nach: Clive 1961, S. 296 f. 138 Vgl. Clive 1961, S. 297.

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bei der Schließung der Gasthäuser, die nach kurzer Zeit gelockert wurde, musste Calvin 1561 für die Tanzverbote eingestehen: „On a bien quelque temps fait defense de danser, on a fait semblant d’observer la loy, mesme il y en avoit quelques chastiemens: aujourd’hui on s’en mocque, tellement que c’est une chose permise.“139 Auch in den französischen Zentren des Calvinismus blieben vollständige Tanzverbote Wunschdenken. In Saumur erfolgte 1593 gar die Gründung einer „Académie de Danse Protestante de Saumur“, an der vor allem junge Adelige aus dem Reich während ihrer Kavalierstouren im Tanzen unterwiesen wurden.140 Dennoch blieb der Versuch, öffentliche Tänze gänzlich zu verbieten, Bestandteil der calvinistischen Bestrebungen. Die Tanzkritik diente auch zur Abgrenzung von den Praktiken auf katholischer Seite, über die Calvin berichtet: „Il n’est jà besoing de reciter combien les paillardises sont permises entr’eulx, quelle licence il y a de s’entrebatre, quel congé on ha de se desborder en toute follie et mesme infameté, comment les jeux, danses et tous excez y sont impuniz.“141 Für die untersuchten calvinistischen Traktate ist hingegen zu hoffen, dass sie ausgiebig „besoin de réciter“ hatten, um somit einen tieferen Einblick in die Tanzpraktiken ihrer Gegner zu erhalten. Johan von Münster Das von Johan von Münster (1560–1632) verfasste Werk „Ein Gottseliger Tractat von dem ungottseligen Tantz“, zunächst 1594 erschienen – weitere ergänzte Auflagen wurden 1602 und 1604 gedruckt –, offenbart die Sicht eines deutschen Calvinisten auf den Tanz. Johan studierte in Heidelberg, Magdeburg und Straßburg bevor er Anstellung bei verschiedenen Adeligen erhielt, für die er auch in diplomatischen Missionen im Ausland unterwegs war. Aus seinen zahlreichen Schriften lässt sich sein Werdegang verfolgen. 1591 bezeichnet er sich in einem seiner Traktate als Junker Johan von Münster zu Vortlage, 1594 ist er dann „Amptmann“ der Grafschaft Wied. Bei einer späteren Ausgabe seines Tanztraktates 1602 bekleidet er die Position eines Obervogts zu Pforzheim. Bei allen Dienstherren wirkte er ebenso bei der Einführung der Reformation mit. Ab ca. 1590 ist ein Dienst in der Grafschaft Bentheim-Tecklenburg wahrschein139 Calvin, Sermon  XII sur la premiere Epistre à Timothée, zitiert nach Clive 1961, S. 297, siehe zur Auseinandersetzung von Calvin mit der Genfer Familie Perrin, bei der Tanz immer wieder Gegenstand ist: Ruel 2006, S. 162–169. 140 Vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 178. 141 Calvin 1984, S. 182, vgl. Wéry 1992, S. 41. Ähnlich ablehnend äußert sich Calvin auch über die katholischen Tänze am Johannistag: „Abusi sunt … papistae, ut profanum morum inducerent in celebrando Ioannis natali. Hoc omitto, quod tripudiis et saltationibus ac omne genus lasciviis …“, zitiert nach Clive 1961, S. 304.

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lich, um 1600 trieb er die zweite Reformation Baden-Durlachs und um 1605 die in Lippe voran. Ebenso unterstützte er die Einführung des calvinistischen Glaubens in der Grafschaft Nassau.142 Johan von Münster war zudem literarisch sehr aktiv. Neben seinem Tanztraktat veröffentlichte er unter anderem einen Leitfaden zur Erziehung und Aussteuer von Kindern, das Werk „Ein Christlicher Underricht Von den Gespensten Welche bey Tag oder Nacht den Menschen erscheinen“ (1591) und arbeitete an einer Neuauflage des 1570 erschienenen Adelsspiegels von Johan Willing.143 Obgleich er zu Beginn seines Werkes Matt. 14,6 zitiert: „Da aber Herodes seinen Jarstag beging, da tanzte die Tochter der Herodias für ihnen. Das gefiel Herodes wol“144, und auch im Titel auf den „ungottseligen Tantz“ verweist, liefert Johan von Münster keine allgemeine Verbannung des Tanzes. Er wettert zwar sehr vehement gegen bestimmte Tanzpraktiken,145 jedoch unterteilt er nach einer kurzen Abhandlung über gängige Tanzbezeichnungen in seinem zweiten Teil den Tanz in einen „gottseligen“ und einen „ungottseligen“ Tanz.146 Der gottselige Tanz wird wiederum nach einem „geistlichen“ und einem „leiblichen“ Tanz differenziert.147 Ersteren charakterisiert Johan als einen Tanz, „welcher auß empfindung geistlicher ding / vnnd auß grosser freud der seelen / die entweder auß anhÖrung / lesung vnnd betrachtung GÖttliches worts: auch auß dem gebrauch der H.  Sacramenten: oder sonst auß betrachtung der wolthaten GOTtes an ihm selbst / oder an der ganzen Kirchen Christi / oder besondern dero glidern bewießen / durch regung des H. Geistes / einen GottesfÖrchtigen Menschen ankommet: vnnd denselben bey sich innerlich verborgen behelt“148. Ähnlich wie bei anderen Autoren ist auch bei Johan von Münster der Beweggrund für den Tanz ausschlaggebend. Nicht der Zeitpunkt oder der Ort sind für einen solchen 142 Vgl. Kartschoke 1996, S. 140 f. 143 Dass sein umfangreiches Wirken nicht nur auf Gegenliebe gestoßen ist, wird an folgendem Werk deutlich: Hutter, Leonhard, Calvinista Aulico-Politicus: Das ist, Eigentliche Entdeckung, und gründliche Widerlegung etlicher Calvinischen, Politischen Rathschläge, welche Johann. von Münster fortzupflantzen, und sonderlich in das Hochlöbliche Hertzogthumb Holstein etc. einzuschieben, sie eben starck bemühet, Wittenberg 1615. 144 Münster 1602, S. 167. 145 Siehe Koch 1995, S. 169 ff. 146 Münster 1602, S. 172 f. Insofern kann ich Jungmann nicht folgen, für die Johan von Münster nicht zwischen erlaubten und unerlaubten Tänzen differenziert, vgl. Jungmann 2002, S. 165. 147 Vgl. Münster 1602, S. 172 f. 148 Ebd., S. 173.

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Tanz in erster Linie von Bedeutung, sondern der Auslöser, wie zum Beispiel die Einflüsterung durch den Heiligen Geist. Sakramentsspendung und Lesung suggerieren jedoch, dass gerade die Kirche dafür als geeigneter Ort und die Messe als geeigneter Zeitpunkt erscheint. Dies ist nicht nur ein Beleg für eine positive Tanzmetaphorik, sondern auch wenn diese Art von Tanz für Außenstehende nicht zu erkennen ist, bleibt es für den Autor ein Tanz. Wie viele Menschen von diesem geistlichen Tanz bewegt oder vielmehr nicht bewegt waren und wie sich dies in ihrer Religiosität äußerte, lässt sich aus den untersuchten Quellen nicht erschließen. Um den Tanz als soziales Phänomen zu fassen, werfen wir einen Blick auf körperliche Ausdrucksformen von Tänzen, die bei Johan von Münster wie folgt beschrieben werden: „Den leiblichen Gottseligen Tanz heisse ich einen solchen Tanz  /  der zwar auch von der seelen eines GottesfÖrchtigen menschen empfunden: aber darneben mit einem eusserlichen zÜchtigen geberd, offenbaret: vnd von einem Maň alleine oder von einer jungfrawen oder frawen allein besonders / Gott zu ehren vnd zu lob ehrlich vnd zÜchtiglichen gehalten wird.“149 Der Autor führt für diese Art von Tänzen nicht weniger als 10 Beispiele aus der Bibel an. Er beginnt mit den bekannten Passagen vom Tanz Miriams und den Tänzen nach dem Sieg Sauls über die Philister, beides Reigen von Frauen aus Freude über gewonnene Kämpfe. Nach David als drittem Exempel folgen Silos Töchter. Daraufhin erwähnt er Elia, Salomo und Tänze nach der babylonischen Gefangenschaft. Aus dem Neuen Testament zitiert Johan von Münster die Geschichte von Johannes dem Täufer, „welcher in seiner Mutter der H. Elisabeth leibe von freuden getanzt oder gehÜpffet hat, als sie den gruß Marie hÖrete“150. Vor allem in Bezug auf den Tod Johannes’ des Täufers, der bei den bisherigen Autoren auf den Tanz Salomes zurückgeführt wurde, ist erstaunlich, dass Johannes selbst als Vorbild für einen gottgefälligen Tanz gilt. Zum anderen erweitert das Hüpfen die Möglichkeiten der vorher beschriebenen „eusserlichen zÜchtigen geberd“. Als Gegenstück zu den gottseligen Tänzen finden sich im Traktat auch zahlreiche Beispiele für gottlose Tänze, die ebenfalls in geistige und leibliche unterteilt sind. Besonders aufschlussreich ist Johans Differenzierung nach Tänzen, bei denen weltliche Personen mitwirken, und Tänze, an denen geistliche Personen teilnehmen: „Der Tanz von geistlichen Personen (wie sie selbst meynen) gehalten / ist wiederu dreyerley. Nemlich 1. Pfaffen. 2. ein MÖnch. 3. ein

149 Ebd., S. 173 f. 150 Ebd., S. 176.

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Nonnen Tanz.“151 Anlässe für Tänze von Weltgeistlichen und Ordensgeistlichen sind ihre Initiationsrituale und deren Jahrestage. Priester tanzen so etwa bei ihrer ersten Messe. Alle geschilderten Tänze kritisiert der Autor aufs Heftigste und vergleicht sie mit den Sprüngen eines Bräutigams zur Hochzeit: „Ein recht Christlich Herz kan diesem gastgebot und Tanz eines jungen Predigers / ohn zorn Gottes: verachtung des heyligen Predigampts: vnnd beschmeissung seines gewissens: auch ohn ärgernis: vnnd erhaltung vnd ernehrung dieses groben PÄpstlichen irrthumbs nit beywohnen.“152 Johan von Münster bringt diese Beispiele nicht nur auf abstrakter Ebene, sondern verweist auf konkrete Beispiele von Tänzen, die sich im Stift Osnabrück und im Bistum Münster ereignet haben. „Item er frage auch die Alten / die noch bey vns alhir zu Lengercke  /  vor etlichen jahren gelebt haben  /  vnd noch leben / wie die Pfaffen / MÖnche / Nonnen / ja die ganze gemeinde damals mit dem verfluchten bilde Margarethae getanzet und geÜbet haben.“153 Schenkt man Johan von Münster Glauben, gab es etwa um 1550 am Fest der Hl. Margarethe einen Tanz, an denen Geistliche und Gemeinde teilnahmen. Dass es sich dabei um keinen Einzelfall handele, unterstreicht er mit der Aussage, dass bei den Katholiken an den Festen von Sankt Johannis und Sankt Vitus getanzt werde.154 Auch die Bewegungen und Gesten der Geistlichen bei der katholische Messe scheinen nach Johan von Münsters Verständnis einem Tanz zu gleichen: „Das hupffen und springen der Pfaffen  /  das sie thun mit recken und strecken vor ihren altÄren / wann sie die verfluchte /messe halten / ist auch einem Tanz nicht vil vngleich.“155 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Traktat von Johan von Münster die Bandbreite der Meinungen zum Tanz noch einmal erweitert. Zum einen liefert er eine Fülle von Argumenten aus der Bibel für Formen von gottgefälligem Tanz. Zum anderen werden im Traktat zahlreiche Beispiele für gottungefällige Tänze in der Region Osnabrück und Münster geschildert, die im Zusammenhang mit religiösen Handlungen, z.B. Verehrung der Hl. Margarethe, stattfinden. Zudem wirken dabei mit Priestern, Mönchen und Nonnen alle Arten von Geistlichen mit. Tanz scheint in den religiösen Praktiken der Katholiken dieser Region gegen Ende des 16. Jahrhunderts verbreitet gewesen zu sein. Außerdem 151 152 153 154

Ebd., S. 205. Ebd., S. 208. Ebd., S. 209. Zu den Tänzen anlässlich der Feste der beiden Heiligen vgl. Rohmann 2013, S. 495– 624. 155 Münster 1602, S. 216.

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zeigt die Kritik des Calvinisten, dass auch Lutheraner an „ungottseligen“ Tänzen partizipieren. Stellt das Traktat von Johan von Münster das einzig bekannte Traktat eines Calvinisten aus den deutschsprachigen Gebieten dar, so finden sich für den französischsprachigen Raum dagegen deutlich mehr Beispiele. Die spätere Reformation in Frankreich, die dafür umso erbitterter in den zahllosen Religionskriegen umkämpft wurde, entzündete sich auch am Tanz – und damit ist keineswegs nur die „Bartholomäusnacht“ gemeint. Chrestienne instruction Das anonyme Traktat156 „Chrestienne Instruction touchant la pompe  …  Plus, l’Abus Inveteré & Diabolique invention des Dances“, das 1551 in Lyon erschienen ist, gilt als erstes französisches Tanztraktat, durch die „la Querelle sur la Danse“157 ihren Anfang nimmt. Auf 45 Folioseiten beschäftigt sich der Autor grob mit drei Themen. Zunächst schreibt er gegen das Tragen von luxuriöser Kleidung an,158 die alle Frauen in Prostituierte verwandele, widmet sich dann dem Hochmut im Allgemeinen und kritisiert im letzten Drittel die Sünde des Tanzens. Da jeder Teil stilistisch dem zeitgenössischen Aufbau einer Predigt gleicht, Katholiken als Papisten bezeichnet werden und der Autor Heiligenverehrung sowie Fronleichnamsfest ablehnt, ist es wahrscheinlich, dass es sich bei dem Verfasser um einen calvinistischen Geistlichen handelte.159 Der anonyme Autor beginnt seine Ausführungen mit Bezug auf den ersten Paulusbrief an Timotheus160: „Que les anciens soyent sobres, graves en meurs, prudens, sains en foy, en charité, et en patience“161, und fordert, diese Tugenden nicht nur für die Erwachsenen, sondern auch für die Jugend zu beachten. Denn in dieser korrumpierten Welt würden durch den Tanz allerlei Verbrechen wie Ehebruch und Vergewaltigung entstehen. Neben diesem pädagogischen Appell an die Eltern, ihre Kinder vom Tanz und den dadurch entstehenden Gefahren 156 Die Ausgabe der BNF enthält den später eingeklebten Hinweis, dass das Buch zunächst Viret, dann Farel zugeschrieben wurde. Eine weitere Ausgabe befindet sich in der Bibliothèque de l’Histoire du Protestantisme français in Paris. Bezüge im Text lassen eine Entstehung im calvinistischen Milieu von Lyon vermuten, dazu: Louison-Lassablière 2003a, S. 101–114, 2003, S. 116. 157 Louison-Lassablière 2003a, S. 113. 158 Zu Kleiderkritik und Kleiderordnungen siehe: Bulst/Jütte 1993. 159 Vgl. Louison-Lassablière 2003a, S. 101 f. 160 1.  Tim  3,2: „Es soll aber ein Bischof unsträflich sein, eines Weibes Mann, nüchtern, mäßig, sittig, gastfrei, lehrhaft, nicht ein Weinsäufer, nicht raufen, nicht unehrliche Hantierung treiben, sondern gelinde, nicht zänkisch, nicht geizig.“ 161 Chrestienne Instruction 1551, fol. 2v.

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fernzuhalten, enthält das Traktat eine Kritik an katholischen Tanzpraktiken während der vier jährlichen Handelsmessen und der christlichen Feiertage. Der calvinistische Autor stellt einen umfangreichen Kalender von Feiertagen vor, an denen von Katholiken getanzt wurde, und erwähnt dabei Dreikönig, Maria Verkündigung, Pfingsten, Fronleichnam und St. Johannis.162 Schenkt man dem anonymen Autor Glauben, wurden fast alle hohen Feiertage außer Weihnachten und Ostern in Lyon von Tänzen begleitet. Bei der Aufzählung der Feiertage geht er nicht chronologisch vor, sondern listet sie nach ihrem Grad der Verfehlung vom christlichen Glauben auf.163 Der anonyme Verfasser beginnt mit Pfingsten, über dessen Festgestaltung er zu berichten weiß: „La Pentecouste n’aporte-elle pas autant de fanfares, tesmoin le cheval fol qui court au pont du Rosne à Lyon, où se font grandes danceries.“164. Die Feier des Cheval Fol an Pfingsten bestand in Lyon seit Beginn des 15. Jahrhunderts, nachdem ein Aufstand von Handwerkern gegen die städtische Verwaltung und die königlichen Beamten gescheitert war. Da die Bewohner der Flusshalbinsel und der mit Häusern bebauten Rhonebrücke sich nicht daran beteiligt hatten, dankte ihnen ihr Grundherr, der Abt von Ainay, mit der Gründung einer Bruderschaft, die fortan jedes Jahr die Loyalität seiner Untergebenen und den Sieg des Königs feierte. Ein als König auf einem Pferd verkleideter Mensch tanzte dabei durch die Straßen, um die Aufständischen zu verspotten.165 Diese Aufführung, die jedes Jahr die Verbindung von königlicher Macht und katholischer Kirche von Neuem performativ herstellte, wird vom Autor als Profanisierung eines christlichen Festtags gewertet. Mit dieser Sichtweise berichtet er auch über Fronleichnam: „En Iuin la Feste-dieu c’est à dire la feste d’une Idole blanche, le Dieu de paste des papistes, quil font dancer ce iour la parmy les rues, ou se font plusieurs moresques et bateleries.“166 Die Hostienverehrung an Fronleichnam wird in der calvinistischen Tradition als Idolatrie eingestuft, so dass die Prozessionen durch die Straßen um das Allerheiligste auf eine Stufe mit dem Tanz um das Goldene Kalb gehoben werden. Tanz wird somit zur Grundform der Idolatrie und wurde – so der Analogieschluss – vom Teufel in die Welt gebracht, um die Menschen zum Glaubensabfall zu verleiten. Der teuflische und dämonische Einfluss bildet den Hintergrund für die katholischen Tanzpraktiken, wie etwa zum Johannestag: „Ne faut-il pas dancer au tour du feu, comme si saint Jean estoit bien honoré par telles badineries, et sorceleries? […] La chose 162 163 164 165 166

Vgl. Ruel 2006, S. 138. Vgl. Louison-Lassablière 2003a, S. 108. Chrestienne Instruction 1551, fol. 38v. Vgl. Lousion-Lassablière 2003a, S. 107. Chrestienne Instruction 1551, fol. 39r.

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serait trop longue de descrire tous les patrons que font des gens de mestier, dont un chacun a son idole, pour en ce iour-là, dancer tour leur foul.“167 Derartige Leute wären dem Wahnsinn verfallen, die „ne peuvent entendre la musique et poursuivent leurs danse, [qui…] sont enragez, phantastiques, hors de sens, & démoniacles.“168 Zum Schluss liefert der Autor eine „Chanson contre l’abus damnable et detestable des dances“, die auf die Melodie des Liedes „A qui me doy-je retirer“ gesungen werden kann. „A qui me doy-je retirer“ war ein bekanntes Liebeslied, das in mehreren Liedersammlungen des 16. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann.169 Der Text handelt von einem Mädchen, das, nachdem es von seiner Liebe verlassen worden ist, den Freuden des Lebens entsagt. Das Motiv, dem Vergnügen zu entsagen, nimmt der anonyme Verfasser auf und wendet es auf den Tanz an. Darin legt er den Eltern nahe, diese Enthaltsamkeit auch bei ihren Töchtern zu beachten: „Peres & meres, gardez bien Que vos filles n’allent aux Dances: Car elles n’aprennent point de bien, Sinon tout malheur et méchances.“170

Abschließend warnt das Lied noch einmal vor den tausend Schlechtigkeiten, die der Tanz hervorruft: „Conclusion, Dances ne sont Que tout espoir de paillardise, Par Dances mille maux se font, et mille excez de gourmandise Paillard en Dances, fait divise.“171

Es ist durchaus möglich, dass das auf eine bekannte Tanzmelodie gesungene Antitanzlied bei den abendlichen Versammlungen der Hugenotten auf den Straßen Lyons gesungen wurde. Der reformierte Prediger Claude Baduel († 1561) 167 Ebd., fol. 39v–40r. 168 Ebd., fol. 40v. 169 Vgl. etwa: Chardavoine, Jehan, Recueil des plus belles et excellentes chansons, Paris 1576, S. 229 ff. 170 Chrestienne Instruction 1551, fol. 44r. 171 Chrestienne Instruction 1551, fol. 45r.

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berichtet in einem Brief 1551 über diese Praxis, beschreibt aber, dass vor allem Psalmverse und religiöse Texte gesungen werden.172 Das anonyme Traktat aus Lyon zeigt eine Vielzahl unterschiedlicher Tanzformen, die von Katholiken an ihren hohen Feiertagen praktiziert werden. Der calvinistische Verfasser brandmarkt sie ausnahmslos als vom Teufel angeleitete Irrungen. Da aus Tanz auch bei Anlässen, die nicht unmittelbar an Feiertage oder den Kirchenraum gebunden sind, nur Schlechtigkeiten entstehen, empfiehlt er den Eltern, streng auf die Tanzabstinenz ihrer Kinder, insbesondere ihrer Töchter, zu achten. Thomas Chesneau Der „Traicté des danses, Auquel il est monstré que les Danses sont des accessoires & dependances de paillardise, & par ainsi que d’icelles ne doit estre aucun usage entre les Chrestiens“173, in Paris 1564 erschienen, wird allgemein dem reformierten Verleger Thomas Chesneau zugeschrieben.174 Der Autor setzt sich darin mit der Frage auseinander, ob das Tanzen lobenswert, verdammungswürdig oder eine gleichgültige Tätigkeit sei. Dabei geht es ihm, wie auch dem anonymen Verfasser der „Chrestienne Instruction“, in erster Linie darum, reformierte Christen vom generellen Tanzverzicht zu überzeugen. Während viele die Kirchenreform begrüßten und überzeugt seien, die katholischen Irrlehren und Abgöttereien zu bekämpfen, kritisiert er, dass beim Tanz eine gewisse Zurückhaltung zu spüren sei: „Car plusieurs, & gens de qualite, & en compagnies notables, demandent si c’est mal-fait de danser, veulent qu’on leur ameine quelque passage formel de l’Escriture, auquel les Danses soyent prohibees & defendues: autrement ils ne pensent point de mal faire en dansant“175. Er macht dagegen deutlich, dass man gegenüber dem Tanz ähnlich strikt wie beim Bilderverbot vorgehen müsse, denn Tanz sei ein „… tableau, auquel toute vilenie & infection fut pourtraite“176. Chesneau setzt den Tanz mit Spielen und Glücksspielen gleich, deren Verbot in der Bibel viel deutlicher ausfällt und deren Ablehnung er von seinen LeserInnen viel eher erwarten kann. Da er eingestehen muss, dass sich kein generelles Tanzverbot in der Bibel finde, definiert er Tanz als eine unkeusche Geste, die 172 Vgl. Louison-Lassablière 2003a, S. 110. 173 Ich habe die digitale Version der Ausgabe der sächsischen Landesbibliothek verwendet, die nach Arcangeli die einzige öffentlich zugängliche sein soll, dazu: Arcangeli 2000, S. 141. 174 Vgl. Arcangeli 2000, S. 140 f., Louison-Lassablière 2003a, S. 116 f. 175 Chesneau 1564, S. 4. 176 Ebd., S. 9.

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zur Unzucht verleitet, wofür er nun eine Vielzahl von Bibelstellen präsentieren kann.177 Im folgenden historischen Abriss macht er deutlich, dass der Tanz seinen Ursprung in der heidnischen Götzenverehrung habe und vom Teufel in die Welt gesandt worden sei. Durch ihn sei der Tanz auch zu den Israeliten gekommen, deren Tanz um das Goldene Kalb ebenso eine Form der Idolatrie war. Der Tanz sei eine infame und ungesunde Tätigkeit, der, wie Salomes Tanz, der Tanz bei Sichem oder der Tanz um das Goldene Kalb gezeigt haben, massenhaft Tod verursacht habe: „Quand nous oyons raconter ces choses, nous devrions avoir une telle horreur des Danses, que les cheveux nous dressassent en la teste, toutesfois & quantes qu’il est question de danser.“178 Anschließend setzt sich Chesneau mit dem Argument der Gegenseite auseinander, dass in der Bibel von Gläubigen getanzt wurde, und stimmt zu, dass es sich bei Miriams Reigen nach dem Sieg am Roten Meer und dem Tanz der Frauen nach Davids Sieg über Goliath um zwei gottgefällige Freudentänze gehandelt habe. Auch Davids Tanz vor der Bundeslade erwähnt er im Anschluss. Allerdings sieht er keine Möglichkeit, diese mit den aktuellen Tänzen zu vergleichen, wie er deutlich macht: „Car c’est une chose certaine, qu’il y autăt de difference entre leurs Danses & celles desquelles ont usé les saincts personnages, qu’il y a entre le mariage, & la fornication, c’est-à-dire, entre chasteté & paillardise.“179 Anhand von drei Punkten versucht er diese Unvereinbarkeit zu illustrieren. Das erste Argument betrifft den Umstand (occasion) des Tanzes. In der Bibel erfolgte er nach unmittelbarer Rettung durch Gott vor großer Gefahr und war eine Geste der Dankbarkeit gegenüber Gott. Zweitens wollten die Tänzerinnen den israelitischen Bräuchen gemäß ihre inneren Regungen in sichtbare, reine Gesten übersetzen, wohingegen die aktuellen Tänzer ihr schamloses Herz offenbaren wollen. Das dritte Argument zielt auf eine durch klimatische Bedingungen verursachte kulturelle Differenz von Okzident und Orient, die sich auf die Gestik auswirkt: „Le troisieme poinct, c’est la coustume & façon de faire des nations orientalles, touchant les gestes externes, laquelle est grandement differente d’avec celle des nations de deça.“180 Durch die dortige Hitze würden die ethnischen Gemeinschaften des Orients zu expressiven Gesten neigen, während für den Okzident wegen der Kälte langsame Gesten angemessen seien. Die Klima- und damit auch Kulturgrenze zieht Chesneau zwischen Griechenland

177 178 179 180

Vgl. ebd., S. 7–11. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 24.

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und Rom, da bei den antiken Griechen Tanz sehr geschätzt, im antiken Rom hingegen abgelehnt wurde.181 Chesneaus Traktat bietet eine rigorose Verdammung jeglicher Tanzformen. Es will durch seine Argumentation vor allem Reformierte überzeugen, den Tanz nicht als gleichgültig, sondern als Erfindung des Teufels anzusehen und ihm zu entsagen, während die Kritik an katholischen Tanzpraktiken außer einem Verweis auf mit Frauen tanzende Bischöfe182 keine Rolle spielt. Lambert Daneau Der studierte Jurist Lambert Daneau (1530–1595) liefert mit seinem „Traité des danses, Auquel est amplement resolue la question, asavoir s’il est permis aux Chrestiens de danser“ einen weiteren Beitrag zum Tanzdiskurs der Reformierten. Als einflussreicher französischer Calvinist, der sich durch die Ausarbeitung einer reformierten Moraltheologie ausgezeichnet hatte, musste er nach der Bartholomäusnacht nach Genf fliehen, wo er bald eine Professur an der theologischen Akademie erhielt. Dort gab er neben Moraltraktaten, Exegesekommentaren und Übersetzungen im Jahr 1579 bei dem Verleger François Estienne auch seine Ansichten zum Tanz heraus, die 1580 und 1582 weitere Auflagen erlebten.183 Die späteren Ausgaben sind leicht verändert und man merkt ihnen an, dass sie auf aktuelle Ereignisse wie die calvinistische Reformsynode von Figeac oder das 1581 aufgeführte Hofballet „Le Ballet comique de la Reine“ reagieren.184 Daneaus Werk ist wie eine Predigt aufgebaut, in der er anhand von 20 Kapiteln die Frage, ob den Christen zu tanzen erlaubt sei, im Einklang mit der calvinistischen Lehre eindeutig verneint. Er beginnt sein Traktat mit der Widerlegung eines Vorwurfes, der den calvinistischen Autoren häufig gemacht wurde: Sie wollten alle Formen der Erholung verbieten. Daneau bekräftigt nun, dass Erholung grundsätzlich begrüßenswert und bestimmte Arten von Springen und Voltigieren, die den Körper geschmeidig machen, deswegen erlaubt seien. Die Erholung müsse jedoch angemessen und ehrenhaft sein und dürfe keineswegs als Vorwand für weltliche Vergnügen genutzt werden. Genau Letzteres sei bei den 181 Vgl. ebd., S. 24 f. 182 „… mais aujourd’huy il y à aucuns Evesques qui se trouvět aux Dansent, & eux mesmes dansent avec les femmes …“ Chesneau 1564, S. 14. 183 Vgl. Koch 1995, S. 163, Louison-Lassablière 2003b, S. 162 f. Neben diesen drei Auflagen gibt es noch ein Manuskript, das eine Kopie der Ausgabe von 1580 darstellt, und eine lateinische Ausgabe mit dem Titel „De saltationibus et choreis, pius et eruditus tractatus. Quo quidem illas inter Christianos ferendas non esse demonstratur“ von 1581. 184 Vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 163 f.

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gegenwärtigen Tänzen der Fall.185 Alle Bewegungen, die er detailliert wiedergibt, seien „effects, suites, & depědances de tresgrands vices, comme d’idolatrie, d’yurongnerie, de paillardise [...]“186. Tänze sind dadurch erstens mit ihrer Lasterhaftigkeit eine Form des moralischen Verfalls und zweitens durch ihre blasphemische Handlung eine Abkehr vom Glauben. Als dritten Punkt weist der Genfer Professor auf die unnatürlichen Bewegungen des Körpers hin, die den Menschen zum Tier machen würden.187 Daneau sieht es demnach als Aufgabe eines jeden reformierten Christen an, diese Tänze aus den Kirchen zu vertreiben und dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen seien: in die Hölle. Die Vorstellung des Teufels, der Besitz von Körper und Seele der Tanzenden ergreift, durchzieht die gesamte Schrift.188 Sein Traktat richtet sich so einerseits gegen innerkirchliche Reformgegner, die an Tänzen zu Hochzeiten festhalten. Er beschreibt, dass trotz Calvins Verboten in Genf Glücksspiele weiterhin Bestand haben, und hofft nun, dass sie durch sein Traktat endgültig verschwinden werden.189 Andererseits werden die Katholiken als Befürworter und Verbreiter von Tänzen gebrandmarkt: „Auiourd’huy par tout où les idolatries ont esté renouvellees par cofrairies & festes de patrons, les danses n’ont pas failli de se trouver là, comme compagnes inséperables [...]“190. Mit der Kritik an den Tanzpraktiken der Katholiken geht auch ein Vorwurf an das französische Königshaus einher, mit der Beschäftigung von Tanzmeistern und ihren Hofbällen an dem moralischen Verfall teilzuhaben. Seine Hoffnung setzt er dagegen auf Heinrich von Navarra, dem er die Ausgabe von 1580 widmet und dem er nahelegt, auf Tänze an seinem Hof zu verzichten. Denn so wie Salome einst durch ihren Tanz König Herodes dazu gebracht hat, Johannes den Täufer zu ermorden, könnten auch aktuelle Tänze die Herrschenden beeinflussen gegen die wahren Christen, also die Calvinisten, vorzugehen.191 Die positiven Tanzbelege aus der Bibel verheimlicht Daneau nicht, jedoch macht er den Unterschied zwischen diesen und den aktuellen Tanzpraktiken deutlich: „Et si peut on outre cela prědre coiecture que c’estoyět danses 185 186 187 188 189 190 191

Vgl. Daneau 1579, S. 3–12. Ebd., S. 6. Siehe dazu: Louison-Lassablière 2003b, S. 171. Vgl. ebd., S. 169. Vgl. Clive 1961, S. 298. Daneau 1579, S. 7. „Certes il n’y avoit point de danses en la compagnie de Christ et de sainct Jean Baptiste; mais bien en la cour d’Hérodes où toute soullieüre regnoit, jusques aux incestes. Voilà l’origine des danses d’aujourd’hui, leur compagnie ordinaire et leur usage tout commun“, Daneau 1580, S. 13, vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 174.

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d’hommes & de femmes sans distinction. Car il est parlé de tout le peuple: & ailleurs, où les danses estoyět des femmes seulement, la distinction est notoiremět exprimee. Voilà doc un exemple des danses du tout propre & accordant à celles d’auiourd’huy.“192 Daneau spannt hier den Gegensatz zwischen gottgefälligen, biblischen Tänzen und den aktuellen Tänzen auf. Jean Boiseul Das 1606 in La Rochelle gedruckte Traktat von Jean Boiseul „Traitté contre les danses“ reiht sich in die Ansichten zum Tanz innerhalb des französischen Calvinismus ein. „Tout ce qui plaist au sens de la chair ne doit pas pourtant estre jugé bon“193, so leitet Boiseul sein Werk mit Verweis auf Ecclesiasticus 2,2 ein und stellt somit zum Tanz fest: „C’est ce que nous en nos Eglises iugeons des danses: que ce n’est qu’une liesse charnelle, folie, & vanité.“194 Da jedoch viele Tänze als gut ansehen und diese Ablehnung kritisieren, möchte er – wie so viele vor ihm – anhand von Heiliger Schrift, Kirchenvätern, Konzilien und weltlichem Recht sowie antiken Autoritäten überprüfen, ob sein Urteil gerechtfertigt sei. In einem ersten Kapitel widmet sich Boiseul „Le mal qui est aux danses“195 und argumentiert, dass Tänze Gott beleidigen würden. Besonders Tänze von Mädchen und Frauen würden Satan dazu verhelfen, Jagd auf die Seelen zu machen.196 Zur Bekräftigung verweist er darauf, dass Wahnsinn („C’est une folie qui les tient“197) und Krankheit häufig Auslöser für Tänze seien. Der Tanz um das Goldene Kalb dient dem Autor dazu, den Tanz als Form der Idolatrie einzuführen, für die er nicht nur Beispiele aus Bibel und Antike, sondern auch aktuelle Belege aus dem entdeckten Amerika vorweisen kann. In der Hafenstadt La Rochelle trafen mit den Schiffen aus der Neuen Welt auch neue Informationen über die Lebensweise der dortigen Bevölkerungen ein. Aus Reiseberichten über Brasilien, Patagonien und Nordamerika gibt Boiseul an, erfahren zu haben, dass die heidnischen Menschen dort den Teufel ständig tanzend anbeten würden und unablässig tanzen müssten. Boiseul sieht einen ähnlichen Wahn in den „danses d’un S. Victus“ in Europa verbreitet.198 Boiseul geht daraufhin auf die Argumente der Tanzbefürworter ein und widerlegt sie anhand der oben zitierten Autoritäten in ähnlicher Weise wie seine 192 193 194 195 196 197 198

Daneau 1579, S. 78. Boiseul 1606, S. 3. Ebd. Ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 6–11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14 ff.

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Vorgänger. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Vokabular. Die Bewegung von David vor der Bundeslade sei nicht als Tanz zu verstehen, sondern bedeute „sauter de ioye“199. Aus dem Römerbrief meint er dagegen ein Tanzverbot herauszulesen, da das Wort „comesationibus“ alle Art von Vergnügen, von Sauferei und Fresserei bis hin zu Tanz und Maskeraden bedeute.200 Boiseul zieht eine deutliche Verbindung zwischen den Festessen und dem Tanz. Das Sprichwort „Après la panse vient la danse“, das sich so oder ähnlich in fast allen calvinistischen Traktaten findet, warne vor dem übermäßigen Fleischgenuss, der das eigene Fleisch zu sündigem Verhalten anrege.201 Der Tanz sei laut dem Autor eine Perversion der gottgefälligen Musik, über die Gott sehr verärgert sei. Obwohl viele den Tanz befürworten und „introduire en nos Eglises“202 wollen, lehnt er dies entschieden ab, „car la danse est n’est ni ordonnee de Dieu, ni necessaire, ni bonne pour un pouvoir abuser“203. Obwohl mit Bibel, Patristik, antiken Autoren und Konzilsentscheidungen den Calvinisten die gleichen Quellen für ihre Tanztraktate zur Verfügung stehen wie den Protestanten, fällt ihr Urteil über den Tanz deutlich schärfer aus. Tanz im weltlichen Kontext wird von ihnen wegen seines teuflischen, tierischen und wahnhaften Charakters eindeutig negativ bestimmt und ausnahmslos abgelehnt. Die Autoren lassen keine Möglichkeit aus, auf die Folgen dieser Bewegungen, sei es moralische Verkommenheit, Überheblichkeit oder Idolatrie, hinzuweisen.204 Mit dieser Argumentation müssen die biblischen Beispiele, über die die Calvinisten mit ihrer Rückbesinnung auf die Heilige Schrift schlecht hinwegsehen können, für einen von Gott tolerierten Tanz, etwa Miriams Reigen und Davids Tanz, als deutliche Ausnahmen erscheinen, die nichts mit den aktuellen Tänzen gemein haben. Während Johan von Münster oder Lambert Daneau den Tanz als eine Devotionsform zumindest für das Alte Testament billigen und alle aktuellen Tänze vehement davon abgrenzen, verwirft Jean Boiseul die Vorstellung eines gottgefälligen Tanzes, indem er Davids Gebärden vor der Bundeslade den Tanzstatus abspricht. Die calvinistischen Autoren versuchen die reformierten Christen als eine Glaubensgemeinschaft zu entwerfen, die der Sünde des Tanzes nicht erlegen ist. 199 Ebd., S. 30. 200 „Sicut in die honeste ambulemus non in comesationibus et ebrietatibus non in cubilibus et inpudicitiis non in contentione et aemulatione“, Römerbrief 13,13. 201 Vgl. Wéry 1992, S. 181 ff. 202 Boiseul 1606, S. 30. 203 Ebd., S. 22. 204 Vgl. Clive 1961, S. 305, Ruel 2006, S. 138 f.

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Diese Verdammung des Tanzes steht im Zusammenhang mit einer generellen Gestikkritik, aus der sich das Ideal eines immobilen Pastors entwickelt, der über das Wort und nicht die Geste die Gläubigen erreicht. Da der lutherische Protestantismus in Frankreich nur marginal vertreten ist, bzw. im Calvinismus aufgeht, wird konfessionelle Identität über die Abgrenzung zur katholischen Kirche hergestellt. Deren Tanzpraktiken werden wiederum ausführlich aufgezählt und Feiern von Bruderschaften und Prozessionen als gottlose Tanzpraktiken stilisiert, die Formen der Idolatrie seien. Hierbei werden alle Tanzformen, die an christlichen Feiertagen stattfinden, als päpstliche Missstände gedeutet, wie bereits Arcangeli herausgearbeitet hat: „The folk dances that were regularly held on the feasts of Catholic saints were viewed as popish rite linked to the ceremonial and idolatrous nature of Catholicism.“205 Außerdem wird deutlich, dass Bewegungen bei liturgischen Handlungen und Schrittmuster einer Prozession, wie sie auf katholischer Seite stattfinden, als Tänze oder tanzartige Bewegungen gedeutet werden. Ist dies bei protestantischen Traktaten vereinzelt erwähnt worden, so zeichnet sich bei Johan von Münster und insbesondere in den französischen Traktaten ab, dass der gezielte Verweis auf die katholischen Tanzpraktiken ein zentrales Argument ihrer Schriften darstellt. Immer wieder wird die katholische Messe mit Tanz und Mimenspiel verglichen, um die seit der Antike bekannte Polemik gegen Tänzer und Gaukler auf die Priester zu übertragen.206 Beispielhaft führt der Reformator Pierre Viret (1511–1571), der 1531 Paris verlassen musste und dann nach Genf ging207, diese Gleichsetzung in seinem 1554 publizierten Werk „Des actes des vrais successeurs“ an. In den Kapiteln 29 „Comment les Papistes n’ont plus de couleur pour maintenir les singeries de leurs Messe et leurs ceremonies, que les danseurs à maintenir les danses et de la vanité et rage qui est aux danses“ und 30 „De la convenance de la Messe avec les danses“ widmet er sich dem Vergleich von Tanzpraktiken und katholischer Messe: „Tout ce qui y est là fait (à la messe) ressemble mieux à une basse danse, ou à une morisque et farce, qu’aux institutions de Jesus Christ.“208 Es ist der Versuch, eine als heilig angesehene Geste als „inszeniert“ zu entlarven. Die katholische Messe, so der Vorwurf, sei damit nur ein Theaterspiel. Damit ist die Kritik an den katholischen Devotionsformen und ihrer Messe mehr als deutlich. Im folgenden Abschnitt wird dargestellt, wie die

205 206 207 208

Arcangeli 2008, S. 284. Vgl. Ruel 2006, S. 152 f. Zur Biographie: Bruening 2008, S. 177–180. Viret 1554, S. 36, zitiert nach Ruel 2006, S. 153.

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katholischen Autoren auf den Angriff reagierten, dass gotteslästerliche Tänze Bestandteil ihrer sakralen Handlungen seien.

2.1.3 Katholische Traktate Die unvorhergesehenen Auswirkungen der Lehren des deutschen Augustinermönches Martin Luther und der anderen Reformatoren brachte die krisenerprobte katholische Kirche in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts in starke Bedrängnis. Die theologischen und die damit einhergehenden politischen und sozialen Veränderungen der Reformation tangierten fast alle Bereiche des sozialen Lebens und führten auch auf katholischer Seite zu einem Aufblühen der Traktatliteratur. So wurde auch auf das Thema Tanz Bezug genommen, allerdings mit großen regionalen Unterschieden. Im deutschsprachigen Raum nämlich wurde dem Thema Tanz kein eigenes Traktat von katholischer Seite gewidmet. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass es dort kaum Tanzpraktiken von Geistlichen gab und das Thema Tanz bzw. eine Kritik daran in den Schriften Luthers oder anderer Reformatoren keinen wichtigen Platz einnahm.209 Aber auch die Angriffe der lutheranischen Autoren auf die verwerflichen Tänze der katholischen Kirche in den folgenden Jahrzehnten blieben unbeantwortet, so dass im Reich im 16. Jahrhundert nach den bisherigen Erkenntnissen kein katholischer Autor den Versuch unternahm, eine eigenständige Tanzschrift zu verfassen.210 In Frankreich dagegen, wo die erste calvinistische Schrift 1551 erschienen war, nahmen bald einige Katholiken zu den Vorwürfen Stellung.211 Parallel zu diesen Schriften wurde sich zeitgleich auch auf dem Konzil von Trient (1545– 1563) mit der Tanzproblematik auseinandergesetzt. Das Thema taucht bei den Beratungen allerdings nur am Rande auf, wenn einzelne Dekrete im Zuge der Reform des Lebenswandels von Klerikern eine Tanzkritik vornehmen.212 Bei den katholischen Autoren sticht vor allem Bérenger de la Tour hervor, da er kein Kleriker war und dem Tanz vielmehr eine humanistisch-poetische Reflexion widmete. 209 Vgl. Arcangeli 1994, S. 132–137. 210 1610 veröffentlichte der Jesuit Conrad Vetter „Der Evangelische Lauttenschlager / Das ist: Zwo schöne und über alle Lautten liebliche Betrachtungen  /  bey dem HimmelRäyen und Engelischen Tantz / deren so in der CharfreytagsProcession sich selbsten Discipliniren“. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine moralische Abhandlung, sondern um die Musik für zwei Tänze. Auffallend ist auch, dass das Werk eine Übersetzung aus dem Spanischen ist, wo Tänze im kirchlichen Kontext während der Osterfeierlichkeiten verbreitet waren, vgl. dazu: Kap. 3.3. 211 Vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 115–130. 212 Vgl. dazu Kap. 3.2.

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Guillaume Paradin Guillaume Paradin (1510–1590) veröffentlichte 1556213 sein Traktat „Le Blason des danses, où se voyent les malheurs et ruines venant des danses, dont jamais homme ne revint plus sage ni femme plus pudique“, das als erste dezidierte Abhandlung eines Katholiken über den Tanz nach der Reformation gilt. Guillaume war wie sein Bruder Claude und seine Onkel Jean und Lancelot Kanoniker des Stifts Notre-Dame von Beaujeu und zum Erscheinungszeitpunkt seines Traktates Dekan des Kapitels.214 Er hatte in Paris Theologie studiert und war zunächst Hauslehrer eines Adeligen in Lyon, bevor er 1545 Kanoniker wurde. Von ihm sind 20 Werke überliefert, wobei er sich vor allem als Historiker von Burgund und Lyon auszeichnete.215 Das Traktat offenbart ein umfangreiches historisches Wissen über die Antike, wie es typisch für humanistische Gelehrte dieser Zeit war. „L’ennemy des lumieres a tendu ses filetz en ce monde par divers lieux, mesmement es danses, et mommeries“216, so beginnt Paradin das seiner Nichte gewidmete Werk und verdeutlicht damit, dass der Teufel den Tanz und damit das Unheil in die Welt gebracht habe. Als besonders gefährlich sieht er es an, „que les danses furent introduites es Sacrifices des Idoles, soubs pretexte de religion“217. Tanz sei ein vom Teufel erdachtes Mittel, um die Religion zu korrumpieren. Durch den Tanz entstehe nach Paradin somit aus einem Gottesdienst ein Götzendienst. Deshalb kann es für ihn keine legitimen Formen von Tanz in der christlichen Religion geben. Bevor sich der Dekan von Beaujeu aber den zeitgenössischen Tänzen widmet, liefert er eine Beschreibung antiker griechischer und römischer Tanzpraktiken, die er vereinzelt mit den Praktiken seiner Zeit vergleicht. Daraufhin leitet Paradin zum Tanz um das Goldene Kalb über, bei dem die Israeliten die Idolatrie der Ägypter, des gottlosesten Volkes aller Zeiten, übernommen hätten. Die deutliche Kritik an ägyptischen Glaubensvorstellungen liegt auch darin begründet, dass die Befürworter von Tanz Ägypten als Entstehungsort der Vorstellung vom Tanz der Gestirne ansehen.218 Er leitet damit eine Reihe von Warnlegenden von 213 Da 1566 eine weitere Auflage erfolgte, wird dies in der Literatur, wie bei Stramberg 1836, Wéry 1992 und Louison-Lassablière 2003b, ebenso als Ersterscheinungsdatum angegeben; Arcangeli 2000 spricht von „1556 (ma probabilmente 1566)“. In der Edition von 1830 wird dagegen 1556 angegeben, was Ruel 2006 übernimmt. 214 Vgl. Wéry 1992, S. 301. 215 Vgl. Méras 1986, S. 1–4. 216 Paradin 1830, S. 5. 217 Ebd., S. 8. 218 Etwa bei Bérenger de la Tour.

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der Bibel über die Kirchenväter und das Mittelalter bis hin zu seiner Zeit ein, in denen die Tanzenden jeweils von Gott direkt bestraft werden. So deutet er den Tanz der Töchter von Silo nicht als Ausdruck des Glaubens, sondern sieht ihre Entführung als Strafe für ihren Tanz an: „Ce fut le salaire de celles qui estimoient que le service de Dieu consistast en danses.“219 Gerade religiöse Menschen und Gemeinschaften seien durch den Tanz in das Verderben gezogen worden. Durch den Handel mit Ungläubigen und ihrer „danse horrible et funeste“220 sei der Templerorden der „superstition sathanique“221 erlegen und daraufhin zerschlagen worden. Aus dem gleichen Grund sei der Erzbischof von Magdeburg 1380 gestorben, als dessen Palast bei einer Tanzorgie zusammenbrach.222 Auch zu seiner Zeit seien Tanzpraktiken im religiösen Kontext weit verbreitet, wie der Dekan von Beaujeu in seinem Kapitel: „Que c’est un grand malheur de faire des Danses devant et dedans les Eglises, et Festes des Saints“223 lamentiert: „Et se font telles danses la pluspart du temps pendant le divin service: et aux portes des temples, Eglises, cemetieres, et en certeins lieux dedans les Eglises mesmes: et sont les paroissiens tant destitués de la creinte de Dieu, tant vuides de honte, tant pleins d’impudence de ce vanité, tant affamés de sainte doctrine, tant abandonnés de bons pasteurs, qu’ilz ne se soucient que d’accomplir leurs foles affections, quelque pris que ce soit. Et qui pis est se font telles tragiques bacchanales le plus souvent es lieux dediés à la glorieuse Virge Marie.“224 Ohne ins Detail zu gehen, schildert Paradin eine verbreitete Tanzkultur im kirchlichen Kontext, bei denen Friedhöfe und Kirchen als geweihte Räume als Tanzorte dienen. Auch im Prozessions- und Wallfahrtswesen seien Tänze laut Guillaume Paradin keine Seltenheit: „D’avantage y a certains lieux dediés à aucuns Saints qu’on dict avoir esté menestriers, ou ceulx qui vont en voiage, dansent devant les aulters mesmes, estimans leurs danses estre grandement aggreables aux Saints.“225 Indem der katholische Geistliche aufzeigt, dass die Tänze zur Verehrung eines Heiligen getanzt werden, wird deutlich, dass sie einem religiösen Motiv entspringen. Vor allem der Verweis, dass einige Heilige ehemals menestriers waren, rückt die Tätigkeit und den Tanz in ein anderes Licht. 219 220 221 222 223 224 225

Paradin 1830, S. 35. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 44–50. Ebd., S. 81. Ebd., S. 81 f. Ebd., S. 82 f.

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Paradin sieht diese Tänze als Unterwanderung der Religion an und führt an, dass seit dem Konzil von Toledo 633 immer wieder von der Kirche gegen Tänze eingeschritten worden sei. Allerdings fänden die Menschen immer wieder Entschuldigungen, um zu tanzen, und würden dabei in erster Linie auf den Tanz von David verweisen. Guillaume Paradin dagegen sieht Davids Tanz als völlig unvereinbar mit den Tänzen seiner Zeit an: „Et estant ravy d’une ioye et consolation interne de l’esperit de Dieu qui le portoit, alloit dansant fort haultement, de sorte que ce corps luminieux estoit illustré d’une vehemente et profonde contemplation de l’inenarrable gloire de Dieu, et estant souleué de la force de l’esperit, abandonnoit la terre.“226 David entrückt mit seinem Tanz förmlich der irdischen Sphäre, wodurch die Körperlichkeit des Tanzes vollständig in den Hintergrund gerät. Davids Tanz erscheint dadurch einzigartig und von allen zeitgenössischen Tänzen getrennt, so dass Paradin rhetorisch fragen kann: „En ceste danse celeste et spirituelle qui a il de semblable aux danses voluptaires et charnelles?“227 Guillaume Paradins Traktat liefert eine konsequente Verdammung des Tanzes als Teufelswerk von katholischer Seite. Der Autor muss jedoch eingestehen, dass seine Ansicht nicht von allen geteilt werde, sondern im Gegenteil vielfältige Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext seiner Zeit existieren, gegen die er anschreibt. François Bérenger de la Tour „Choréïde, autrement louenge du bal aus dames“ lautet der Titel eines 1556 veröffentlichten Gedichtes des französischen Poeten François Bérenger de la Tour (†  um 1559)228. Das Werk ist in Lyon entstanden, dessen Schmelztiegel aus Messen, Reisenden und Druckereien das Umfeld sowohl für zahlreiche Dichter als auch religiöse Erneuerungen bot. 1551 war hier das erste calvinistische Tanztraktat erschienen und auch Paradins Werk erschien 1556 im nicht weit entfernten Beaujeu. Gegen die calvinistische und katholische Tanzkritik, die zweite Session von Trient hatte gerade ebenfalls eine Kritik an Tanzpraktiken geäußert,229 verfasste de  la  Tour nun seine Verteidigung der Tanzkunst.230 In 336 Achtzeilern rühmt der Dichter den Tanz als Inbegriff der Seele: „Le Bal est le propre de l’âme.“231 Mit Verweis auf antike Mythologie, Bibelpassagen und 226 227 228 229 230 231

Ebd., S. 87. Ebd. Vgl. Chalmers 1812, Bd. 5, S. 34. Siehe Kap. 3.2, S. 177 ff. Vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 197 f. De la Tour 1556, S. 5.

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historische Beispiele betrachtet er dieselben Quellen wie die anderen Autoren, allerdings liegt sein Schwerpunkt auf der griechischen Antike. Anstatt aber an einzelnen Beispielen abzuarbeiten, wann Tanz gottgefällig sei und wann nicht, zielt sein Gedicht darauf ab, den Tanz auf einer allgemeinen Ebene als Ausdruck der Harmonie der Sphären zu betrachten: „Les Cieux ont esté les premiers, Et seront aussi les derniers, Qui ont dansé, & danseront. Et quand plus ce trein ne feront, Quand plus ne verrons les adresses Des sept Planettes danseresses, Leur acord, leur tour, leur cadance, Et de tous points lairront la danse.“232

De  la  Tour greift hier auf antike platonische und pythagoräische Vorstellungen von einer harmonischen Kreisbewegung der Planeten zurück, die bereits im Tanztraktat von Lukian von Samosata eine wichtige Rolle spielten und die gesamte Tanzkunst der Renaissance beeinflussten.233 Der Tanz der Planeten bestehe vom Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende. Diese zeitlose Vorstellung einer ewig gültigen Harmonie brauche sich deswegen auch nicht mit Fragen zu beschäftigen, wann Einschnitte in der Tanzgeschichte stattfanden, z. B. wann der göttliche Tanz korrumpiert wurde: „Ce bal divin & gracieux, Prenant son origine aux Cieux.“234

Dieser göttliche Tanz habe deshalb bereits in vorchristlicher Zeit bestanden und sei auch bei den Griechen verbreitet gewesen, wie er in Anlehnung an die antiken Beschreibungen des Theseusmythos, wonach Theseus seinen Sieg über den Minotaurus mit einem Tanz zelebrierte, zeigt.235 Da jeder Tanz sich an den tanzenden Himmelskörpern orientiere, kann Bérenger de la Tour den Tanz auch in einen christlichen Kontext transferieren, bei dem die Engel im Reigen um Gott kreisen. 232 233 234 235

Ebd., S. 4 f. Vgl. Berghaus 1992, S. 48 f. Siehe auch Kap. 5.1. De la Tour 1556, S. 7. „L’orgie des Dieux fut ainsi, en Delon on dansait aussi, A l’entour de leur sacre autel, Avec leur lyre: & moyen tel“, De la Tour 1556, S. 11.

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Einblicke in das Verhältnis von Tanz und Kirche „Les rengs de l’Eglise, & des Anges Chantans les divines louenges, Sont nommez Choeurs, car on void en ce L’acord imité de la danse.“236

Der göttliche Lobpreis findet seine Entsprechung im Gesang und Tanz der Engel. Die himmlischen Chöre umkreisen den Schöpfer mit Gesang, so dass deutlich wird, dass dem Begriff Chor eine Bewegungsdimension innewohnt. Jenseits von aktuellen positiven Beispielen oder Kritiken liefert Bérenger de la Tour einen Lobpreis auf den göttlichen Tanz der kreisenden Himmelskörper. Als humanistisch gebildetem Laien sind ihm die Vorstellungen einer antiken Harmonielehre dabei weit wichtiger als konkrete Beispiele aus dem konfessionellen Tanzdisput. Apologie de la jeunesse Das anonyme Traktat „Apologie de la jeunesse sur le fait & honneste recreation des danses: contre les calomnies de ceux qui les blasment“, das 1572 in Antwerpen gedruckt wurde, liefert eine Verteidigung des Tanzes gegen die von Chesnau vorgebrachten Argumente. Der wahrscheinlich katholische Autor237 setzt sich darin vehement gegen die von den Calvinisten vorgebrachte Kritik, Tänze seien generell lasterhaft und Anlass zur Sünde, zur Wehr: „Il faut donc bien inferer que toutes danses ne sont pas vicieuses, ny lascives, ou impudiques: & que selon affection, & intention des danseurs, la danse est bonne, ou mauvaise: car si elle se fait en gloire de Dieu, & de ses saints: comme au iour des festes & solênitez de Dieu, & de son Eglise par honeste recreation, & non par affection lascive, impudique, ou vicieuse.“238 Im Gegensatz dazu vertritt der Autor wie bereits Thomas von Aquin die These, dass der Tanz je nach Intention der Ausführenden gut oder schlecht sein könne.239 Lobenswert sei er dann, wenn er zur Verherrlichung Gottes eingesetzt werde, wofür die kirchlichen Feiern als geeignete Anlässe erscheinen. Dem Traktat merkt man ebenfalls den Einfluss humanistischer Schriften an, nicht zuletzt der „Choréide“ von Bérenger de la Tour. Der anonyme Verfasser sieht im Tanz eine Imitation der göttlichen Sphärenharmonie, welche die Himmelskörper im Reigen bewege: „Mais qu’est-il besoin icy d’alleguer les exemples des animaux? Ne voyons-nous pas en bel ordre, rang, & suitte les bransles ordinaires, mou236 Ebd., S. 13. 237 Dazu Ruel 2006, S. 385, zum Traktat siehe auch: Wéry 1992, S. 368–382, Arcangeli 2000, S. 141 ff., Louison-Lassablière 2003b, S. 118. 238 Apologie de la jeunesse 1572, S. 3, zitiert nach Wéry 1992, S. 256. 239 Vgl. Sonntag 2013, S. 250 ff.

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vements agiles, cadences asseurées de ceste grande assemblée des corps celestes, conduicte par une divine harmonie, & parfaitte musique, qui tacitement admoneste, esmeut, & incite l’homme à baller, voltiger, & danser d’un pas reglé & mesuré.“240 Harmonie, Ordnung, Perfektion, Maßregelung sind die Begriffe, mit denen der Tanz in Zusammenhang gebracht wird. Die Vorwürfe der calvinistischen Tanzkritiker, der Tanz mache den Menschen zum Tier, bringe Unordnung und Wahnsinn, erscheinen dadurch ungerechtfertigt. Denn der Ursprung des Tanzes liege im Himmel, er sei ein Geschenk Gottes und nicht eine Erfindung des Teufels oder ein heidnisches Relikt. Deswegen werden die tanzkritischen Traktate vom Autor als Unterstellungen und unwahre Behauptungen abgetan. Er bezeichnet sie in Anlehnung an Davids Frau Michal, die dessen Tanz vor der Bundeslade kritisierte und dafür mit Unfruchtbarkeit bestraft wurde, als Michoalistes: „Pour toute conclusion, donc mes amys, ne vous esmouvez aucunement par les vaines & faulces allegations de ce Micholaistes, pour estre divertis d’une si sainte, ancienne & louable recreation: mais plutost estants appuyez sur tant d’authoritez puisées des saintes escritures & exemples de la sage antiquité, en toute modestie vous vous esbatez à la gloire de Dieu: & par ces graves, decens, & bien composez mouvements de votre corps, qui se font à la danse, vous glorifiez le principal Autheur & facteur d’icelluy. Amen. FIN.“241 Der körperliche Akt des Tanzes wird als Glorifizierung Gottes gedeutet und damit dem Gebet gleichgesetzt. Eine deutlichere Verteidigung der Tanzkunst hätte der anonyme Verfasser kaum liefern können. Thoinot Arbeau Die „Orchésographie et traicté en forme de dialogue, par lequel toutes personnes peuvent facilement apprendre & practiquer l’honneste exercice des dances“ stellt nach dem Werk Guillaume Paradins eine weitere Abhandlung eines französischen Kanonikers über den Tanz dar, allerdings mit einem deutlich anderen Schwerpunkt. Das Werk wurde 1588 nicht als Traktat, sondern als Tanzlehrbuch in Dialogform gedruckt und wurde von Jehan Tabourot (1520–1595) unter dem Pseudonym Thoinot Arbeau verfasst. Trotz der Verteidigung von Tanz bei Teilen des katholischen Klerus schien Tabourot ein Pseudonym angebracht, denn ein Tanzlehrbuch stellte einen gänzlich anderen Bezug zum Tanz her als eine theologische Streitschrift. Die „Orchésographie“ wurde vor allem als wichtigste Quelle für die Rekonstruktion von Tänzen der Renaissancezeit

240 Apologie de la jeunesse 1572, S. 7, zitiert nach Wéry 1992, S. 233. 241 Apologie de la jeunesse 1572, S. 12, zitiert nach Wéry 1992, S. 244.

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rezipiert,242 sie enthält neben den Tanzbeschreibungen aber auch Aufschlüsse über den Tanzdiskurs ihrer Zeit. Jehan Tabourot hatte in Poitiers und anderen Städten243 Rechtswissenschaften studiert, bevor er 1546/47 Kanoniker des Kathedralkapitels von Langres wurde. Familiäre Beziehungen mögen ihm den Eintritt erleichtert haben, da bereits zwei ältere Brüder Kanoniker waren und sein Onkel Jean Pignard das Kapitel als Dekan leitete.244 Über seine Ankunft in Langres berichtet er später in der „Orchésographie“: „Du commencement que je vins demeurer en ceste ville de Lengres, on ne parloit que de dances, mascarades et allegresses. Nous avions maistre Claudin qui iouoit divinement bien des instruments et nous faisoit exercer gaillardement.“245 Der Kanoniker zeigt damit seine Wertschätzung für Tänze zu Beginn des Traktates. Er sieht Tänze als unerlässlich für das Leben in der bürgerlichen und höfischen Gesellschaft an und lobt ihre gesundheitsfördernde Wirkung, ihre Möglichkeiten zur Entspannung und als Vorbereitung auf den Kriegsdienst. Lediglich bei körperlich expressiven Tänzen wie der volta oder beim branle des hermites, bei dem die Tanzenden die Bewegungen von Geistlichen imitieren, möchte er Kritik anbringen.246 Die bekannten Tanzkritiken, die er seinem fiktiven Dialogpartner Capriol in den Mund legt, versucht Arbeau zu widerlegen, indem er zahlreiche positive Beispiele für Tanz aus der Antike anführt. Er präzisiert, dass sich die Kritik von Moses nicht gegen das Tanzen richtete, sondern gegen die Anbetung eines heidnischen Symbols, und „quant a Cicero, il avoit des varices & iambes enflées, & blaimoit ce qu’il n’eust sceu faire, disant qu’il ne voioit guieres dăcer ceulx qui estoiět á ieun“247. Cicero wird exemplarisch für die anderen Tanzkritiker als verbitterter, kranker Mann beschrieben, der junge Leute um ihre Beweglichkeit und Fähigkeiten beneide. Der Kanoniker sieht Tanz allerdings nicht nur auf die heidnische Antike beschränkt, sondern auch innerhalb der christlichen Kirche sei Tanz von Beginn an fester Bestandteil gewesen: „En l’eglise primitive la coustume continuée iusques en nostre temps, a esté de chanter les hymnes de nostre eglise en dançant & ballant, & y est encor en plusieurs lieux observée.“248 Arbeau zieht eine durch242 Vgl. dazu Saftien 1994, S. 140–143. 243 Louison-Lassablière vermutet Paris und Blois, vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 55. 244 Zur Biographie siehe: Viard 1989, S. 10–46, Louison-Lassablière 2003b, S. 55 f., anders lautende Angaben bei Kirchner 1991, S. 17 f., und Czerwinski 1878 scheinen weniger glaubwürdig. 245 Arbeau 1588, fol. 75v. 246 Vgl. ebd., fol. 85r. 247 Arbeau 1588, fol. 3r. 248 Ebd., fol. 3r/v.

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gängige Linie von Tanzpraktiken seit der Frühkirche bis in das 16. Jahrhundert und verweist auf den engen Zusammenhang von Hymnensingen und Tanz. Derartige Tänze, wie er sie noch an einigen Orten praktiziert sieht, seien keineswegs Neuerscheinungen eines moralischen Verfalls, sondern werden in eine lange christliche Tradition eingeordnet. Jehan Tabourot sieht Tanz in Verbindung mit Musik als Bestandteil der sieben freien Künste an. Wie wichtig die Künste auch noch im 16.  Jahrhundert sind, belegt ein Eintrag im Kapitelregister, wonach Tabourot wegen seiner mathematischen Fähigkeiten und seiner umfassenden Fähigkeiten in den anderen freien Künsten 1562 die Restauration der Türme übertragen wurde. 1567 wurde er Kantor der Kathedrale und damit für die musikalische Leitung des Chors und die Aufsicht der Chorknaben und der Schulen zuständig.249 Am Anfang seines Traktats erinnert er sich, wie Tänze im kirchlichen Kontext früher – ob vor seiner Zeit als Kantor oder zu Beginn seiner Tätigkeit bleibt offen – keine Seltenheit waren: „Nous practiquos telles resiouissances aux iours de la celebration des nopces, & ez solemnités des festes de nostre Eglise, encor que les reformez abhorrent telles choses mais ilz meriteroient d’y estre traictez de quelque gigot de bouc mis en paste sans lard.“250 Arbeau macht deutlich, dass Tanz an Hochzeiten und zu den Kirchenfesten stattfand, was er als legitime Ausdrucksweise von Religiosität ansieht. Die reformierten Gemeinden würden sich hingegen durch Tanzabstinenz an diesen Festtagen auszeichnen, wofür sie schändlichste Schmähungen verdient hätten. Am Beispiel der pavane, eines langsamen und erhabenen Schreittanzes, macht Arbeau deutlich, wie ein Tanz im Kirchenraum bei einer Hochzeit ablief: „Noz Ioueurs d’instruments la sonnět quant on meyne espouser en face de saincte Eglise une fille de bonne maison, & quant ils conduisent les prebstres, le batonnier & les confreres de quelque notable confrairie.“251 Arbeau liefert mit seinem Tanzlehrbuch nicht nur eine Verteidigung der höfischen und bürgerlichen Tanzpraktiken, indem er ihren gesellschaftlichen Stellenwert betont, sondern lässt auch immer wieder durchblicken, dass Tänze im Kirchenraum kein Anlass zur Sünde seien. Ganz im Gegenteil bedauert er das allmähliche Verschwinden dieser Praxis, wofür er den Calvinisten die Schuld gibt. 249 Vgl. Viard 1989, S. 25 f., 46. 250 Arbeau 1588, fol. 3v. Die Übersetzung des letzten Halbsatzes, wie mit den Protestanten zu verfahren sei, ist alles andere als eindeutig. Davies (1984, S. 29) schlägt vor: „they deserve to be fed on goat’s meat cooked in a pie without bacon.“ 251 Arbeau 1588, fol. 28v.

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Antoine Robert Im Jahr 1611 gibt der katholische Geistliche Antoine Robert ein Traktat mit dem Titel „L’anti-balladin, ou sommaire demonstration des maux, folies, et abus de la danse“252 heraus. Das Werk ist seinem Onkel, ebenfalls ein Kleriker, gewidmet, der dem Autor den Anstoß für das Verfassen seiner Tanzkritik gegeben hat: „Monsieur, ce qui m’a induit de mettre au jour cest abregé de maux, folies, & abus de la danse, a esté l’advertissement que vous m’avez donné qu’il y avoit des Cabanistes mescontens de ce qu’en l’exortation que suivant vostre commandement ie fis en vostre Eglise la feste des bien-heureux Apostre S. Pierre & S. Paul, au mois de juin dernier, j’avois blasmé tous tels excez, & desreglemens: ils y pourrount voir à quoy en fin de branle revient tout tel saquin badinage, & le peu de subject qu’ils ont de gronder. Mais comme ie le mets en voye d’estre mal traicté de plusieurs, ie vous supplie de luy estre favorable, l’agreant, & recevant de la mesme affection qu’il vous est dedié par Vostre tres-humble nepeux A. Robert.“253

Der Priester aus Lyon breitet darin eine vehemente Verurteilung des Tanzes aus und eröffnet damit eine Argumentation, welche ein Teil des katholischen Reformklerus, vor allem die Vertreter des Jansenismus, gegen Ende des 17. Jahrhunderts weiterführen wird.254 Ähnlich wie die calvinistischen Autoren vor ihm sieht er seine Zeit von einer „folie des danses“255 geprägt, die Ursache für eine Vielzahl von Sünden und Verbrechen seien. Gegen diejenigen, die Tänze verteidigen, zeigt er anhand der bekannten Bibelpassagen, warum der Tanz ablehnend zu betrachten sei: „Ceux a qui Satan fallacieux a faict estimer que les sainctes lettres ne condamnoient en rien les danses, s’adviseront (& ie m’ě asseure) des surprinses dont use tel adversaire. D’autant qu’en premier lieu il est porté en L’Exode, que Moyse voyant les danses des Israëlites il en fut tellement fasché qu’esmeu de colere il poussa de telle puissance les tables que Dieu luy avoit donné, qu’il les mit en pieces.“256 Er kritisiert, wie bei Hochzeiten und in Tavernen immer wieder der Sünde des Tanzens gefrönt werde und dass viele Eltern nicht hartnäckig genug versuchen würden, ihre Kinder vom Tanz fernzuhalten.257 Seine ablehnende Haltung 252 Verwendet wird die Ausgabe der Bibliothèque Nationale de France. 253 Robert 1611, S. 3 f. 254 Vgl. Ruel 2006, S. 187, 334. Über Antoine Robert ist außerhalb seines Traktates und der Informationen, die er darin über sich gibt, nichts bekannt. 255 Robert 1611, S. 5. 256 Ebd., S. 18. 257 Er folgt damit der Argumentation des anonymen Autors der Chrestienne Instruction von 1551.

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wird jedoch nicht von allen seinen Glaubensbrüdern geteilt, wie Antoine Robert schmerzhaft eingestehen muss. Ganz im Gegenteil kämen manche Geistliche ihrer Aufgabe, Tänze zu verbieten, nicht nach, sondern würden vielmehr selbst den Tänzen beiwohnen: „Ie suis comme forcé de dire, qu’au lieu que ces venerables personnes devroient abhorrer les danses, c’est là où est la retraite de leurs plus grands plaisirs, & contentemens: & au lieu de les bannir par des salutaires remonstrances, ils inventent les moyens de les entretenir, d’estimans bien honnorez d’avoir les premieress aubades: en en telle sorte se monstrent si aveuglés & de corps & d’entendement, que tant s’en faut qu’ils remonstrent les offenses qui se commettent par le moyen de la danse, qu’eux mesmes acheminent les autres à telle debauche, & sont bien aises de faire, ou entendre un court sermon, pour puis apres mener un branle qui foit long: De façon que si l’on les voit gens de robe longue, & de Breviaire le matin, ills paroissent le reste du iour si bien troussez en courtaux par les Cabanes [...]“258.

Für derartige Geistliche empfindet der Priester aus Lyon nur Verachtung und beschimpft sie als sittenlos, als Pest und Gift für den Glauben.259 Diese Geistlichen würden nicht davor halt machen, die Gotteshäuser mit ihren Tänzen zu entehren, wie auch religiöse Bruderschaften Musiker zu Gottesdiensten beschäftigen würden, „par ce que ie scay des lieux où telle chose est tellement pratiquée le iour mesmes du sainct Sacrement“260. Anschließend versucht er mit einer Reihe von Warnlegenden die Tanzfreudigkeit seiner Leser zu bekämpfen. Neben der Geschichte vom Tod der Salome beim Tanz auf dem Eis, die er aus dem Werk des byzantinischen Geschichtsschreibers Nicéphoros Grogoras (†  um 1360) entnommen hat, schildert er vor allem aktuelle Beispiele aus dem brabantischen Raum. Er selbst habe zudem in jungen Jahren eine unehrenhafte Tänzerin gesehen, die als Strafe Gottes im Anschluss an ihren Tanz gestorben sei.261 Somit nutzt Antoine Roberts Tanztraktat im Wesentlichen die von den Calvinisten bekannten Argumente, um Tanz bei gesellschaftlichen Anlässen und im sakralen Raum zu verbieten. Die katholischen Traktate zeigen sehr unterschiedliche Betrachtungen zu der Frage, ob Tanzen als Sünde zu werten sei. Während Guillaume Paradin und Antoine Robert den Calvinisten in ihrer strikten Ablehnung von Tanz ebenbürtig 258 259 260 261

Robert 1611, S. 59 f. Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 92–96.

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sind, liefern die „Apologie de la jeunesse“ und das Tanzlehrbuch von Arbeau eine Verteidigung der Tanzkunst. Es erscheint ihnen keinesfalls als Sünde, wenn Tanz zum Lobpreis Gottes verwendet werde, und beide Autoren führen zahlreiche Beispiele dafür an, dass dies nicht allein auf alttestamentliche Zeiten beschränkt gewesen sei, sondern noch immer verbreitet sei oder, wie Arbeau wehmütig anmerkt, wenigstens noch bis vor Kurzem vielfach praktiziert worden sei. Auch Paradin und Antoine Robert berichten von Tanz im kirchlichen Kontext, üben jedoch scharfe Kritik an den Tänzen. Die katholische Seite umfasst damit die größte Spannweite des Bewertungsschemas. Anne Wéry merkt zu Recht an, dass die beiden Schriften auf katholischer Seite, die das Tanzen am stärksten verteidigen, die „Apologie de la Jeunesse“ und die „Orchésographie“, die Identität ihrer Verfasser verschleiern, da das Traktat anonym und das Tanzlehrbuch unter einem Pseudonym herausgegeben wurde.262 Ob daraus aber auf eine generell tanzfeindliche Stimmungslage der katholischen Seite gefolgert werden kann, ist zweifelhaft, denn andere katholische Geistliche wie etwa Simon Vigor zögern nicht, sich namentlich als Befürworter erkennen zu geben. In einer Fastenpredigt in seinem 1588 erschienenen Werk „Sermons Catholiques“ schreibt er: „Sauter en l’hôneur de Dieu est chose loüable. Je ne dis pas seulement chanter en l’Eglise estre agreable à Dieu, mais aussi sauter et danser de joye à l’honneur de Dieu. Cela sert pour rembarrer les heretiques qui nous calomnient quand nous faisons des feux de joye la veille de S. Jean & allegue ce que faisoit David devant l’arche, qui sautoit & dansoit. Et anciennement les chappiers, id est, ceux qui portes les chappes en allant à la procession à l’entour de l’Eglise, ils dansoient selon les motets.“263 Dabei muss eine Toleranz von katholischer Seite gegenüber Tänzen nicht primär religiösen Motiven entspringen. Kardinal Caietanus, der zur Zeit der Bauernkriege päpstlicher Legat im Reich war, setzt sich für den Erhalt der Tänze ein, um Unruhen zu vermeiden: „Imprudenter arcentur a choreis rustici festis diebus choreizare assueti, qui nisi occuparentur choreis, vacarent otio et malis machinationibus perturbativis reipublicae.“264 Da die katholischen Traktate allesamt aus dem französischsprachigen Raum stammen, wird auf lutherische Ansichten zum Tanz kein Bezug genommen. Für ihre eigene Konfession belegen alle Traktate vielfältige Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext, die von den Tanzgegnern kritisiert, von den Befürwortern verteidigt werden. Bei den tanzkritischen Traktaten von Antoine Robert 262 Vgl. Wéry 1992, S. 335. 263 Vigor 1588, fol. 150. 264 Caietanus, Summula, 1584, S. 44–45, zitiert nach: Arcangeli 1994, S. 131.

Wann ist Tanz gottgefällig?

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und Guillaume Paradin spielt die calvinistische Seite so gut wie keine Rolle, die anderen Autoren dagegen geißeln sie als Tanzverächter. Die Tanzabstinenz der Calvinisten wird als falsch und verlogen betrachtet, Arbeau wirft ihnen insbesondere vor, durch ihre überzogene Tanzfeindlichkeit viele lobenswerte Praktiken verdrängt zu haben. Er und der anonyme Verfasser der „Apologie de la jeunesse“ betrachten die religiösen Tanzformen der Katholiken als gottgefällig und überaus wichtig für den sozialen Zusammenhalt.265 Wie gezeigt wurde, greifen die Autoren aller Konfessionen mit Bibel, Patristik, antiken Philosophen, Konzilsentscheidungen und historischen und aktuellen Beispielen auf dieselbe Quellengrundlage zurück. Die Ansicht, Tanz generell als Sünde zu verwerfen, findet sich dabei nur bei wenigen Autoren und dann am ehesten in den calvinistischen Traktaten. Fast alle Autoren unterteilen mehr oder weniger deutlich in göttliche und weltliche Tänze. Die alttestamentlichen Beispiele von David und Miriam werden dabei als religiöse Tanzpraktiken anerkannt, die der Verehrung Gottes dienen, lediglich bei Melchior Ambach und Jean Boiseul wird versucht, sie als spirituelle Metapher zu deuten, die ohne körperliche Bewegung auskam. Ansonsten dominiert bei den Tanzgegnern die Ansicht, dass die ehemals gottgefälligen Tänze im Laufe der Zeit korrumpiert worden seien und die aktuellen Tanzformen nichts mehr mit ihnen gemeinsam hätten, sondern Sünde seien. Katholische und protestantische Autoren verteidigen aber ebenso oft die zeitgenössischen Tanzpraktiken. Der am Anfang von Zwingli geschilderte Vergleich der Bewegungen von Domherren mit einem Tanz steht – wie gezeigt werden konnte – keineswegs allein da, sondern reiht sich in zahlreiche Schriften aus dem Umfeld von Humanismus und Reformation ein. Besonders in den calvinistischen Traktaten werden Parallelen zwischen Tanz und Bewegungen beim Gottesdienst gezogen, wie es etwa Pierre Viret oder Johan von Münster kritisierten: „Das hupffen und springen der Pfaffen / das sie thun mit recken und strecken vor ihren altären / wann sie die verfluchte /messe halten / ist auch einem Tanz nicht vil ungleich.“266 Diese Vorwürfe sind Bestandteil einer calvinistischen und protestantischen Polemik, die den Tanz als teuflisch, unnatürlich und eitel ablehnt, um damit auf die Weltlichkeit der katholischen Geistlichen hinzuweisen. Die Kritik ist überspitzt und polemisch, wie eine lutherische Satire zeigt: „Morgens strichen die lieben herrlin herfür mit ungeweschen henden und gond mit großer andacht über 265 Die Ansicht vertritt bereits Ruel 2006, S. 142: „Les catholiques brandissent reliques et danses comme les signes les plus évidents de leur identité.“ 266 Münster 1602, S. 216.

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altar, machen große kreuz, zerdenen ire arm und reißen die selzamisten bossen über altar, als wölten si den morischken danz springen.“267 Aber sie wird deshalb so oft und hartnäckig vorgetragen, weil sie nicht aus der Luft gegriffen ist. Denn auch deutsche Protestanten richten den Vorwurf, die Katholiken begingen mit ihren Tänzen an den Feiertagen unheilige Handlungen, in abgeschwächter Form an die papsttreuen Geistlichen, die sich zumindest in Frankreich mit den Beschuldigungen auseinandersetzen. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Tanz und Gottesdienst bildet somit ein Schlachtfeld der konfessionellen Auseinandersetzungen. Es ist auffallend, dass das Thema Tanz zunächst bei den Lutheranern (ab 1525), dann bei den Calvinisten (ab 1551) und zuletzt bei den Katholiken Gegenstand von Traktaten wird. Während in den deutschsprachigen Gebieten vor allem weltliche Tanzpraktiken im Vordergrund stehen und nur vereinzelt Vergleiche zwischen Tanz und katholischen Frömmigkeitspraktiken aufkommen, werden in den calvinistischen Traktaten dagegen körperliche Praktiken bei Prozessionen und Gottesdiensten mit Tanz verglichen. Von katholischer Seite wird nun auf zweierlei Weise darauf reagiert. Guillaume Paradin und Antoine Robert greifen die Kritik auf und kritisieren es, wenn Geistliche in welcher Form auch immer an Tänzen partizipieren. Autoren wie der anonyme Verfasser der „Apologie de la jeunesse“ und Arbeau weisen dagegen die Kritik zurück und betonen die Rechtmäßigkeit der Tänze im kirchlichen Kontext. Für sie sind Tänze ein wichtiger Bestandteil des katholischen Glaubens und Ausdruck von Frömmigkeit an hohen Feiertagen. Tänze und Prozessionen, und den von ihnen durchschrittenen und sakral gemachten Raum, gilt es gegenüber calvinistischen Angriffen zu behaupten. Tanz ist für sie ein sichtbares, hörbares und fühlbares Zeichen katholischer Identität. Dass der Streit um die Rechtmäßigkeit des Tanzes in Frankreich nicht nur über Traktate, sondern auch über die Tanzpraxis ausgetragen wird, zeigen viele Beispiele, so etwa ein Beschwerdebrief aus dem Jahr 1566 an den Rat von Montpellier: „[...] la plus infirme populace par trois suivans dimanches, en nombre de cinq à six cents hommes, s’en alla avec leurs femmes et enfans armez de pierres et autres secrettes armes, leurs enseignes déployées, tambourins batans, dansant, sautant comme les Coribantes et Manades du temps passé, criant en despit des Huguenos nous danserons. A quoy nous savons que l’Evesque et principaux de vos Magistrats les ont provoquez, contre vos Editz.“268 Die Tänze werden als ausgelassen und als mit Sprüngen und Geschrei ausgeführt dargestellt. Der Verfas267 Schade 1863, S. 67. 268 Ruel 2006, S. 141.

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ser vergleicht sie mit den Tänzen der Coribanten und Mänaden aus dem Gefolge von Dionysos, um ihren heidnischen und rauschhaften Charakter zu betonen. Galten die Feste bisher als Anlässe, an denen städtische und/oder religiöse Identität konstruiert und bestätigt, aber auch verändert wurde, wird im 16. Jahrhundert die konfessionelle Identität ein wichtiges Thema.269 So werden bereits hybride Identitätsmuster um eine weitere mögliche Identitätsfacette erweitert. Prozessionsrouten, soziale Hierarchien innerhalb der Aufstellung, Inklusion und Exklusion von potentiellen Teilnehmenden erhalten eine zusätzliche Brisanz. Um auf die anfängliche Frage einzugehen, woher die dominante Vorstellung einer tanzfeindlichen Kirche kommt, so kann diese nicht schon seit dem 16.  Jahrhundert bestehen. Die untersuchten Traktate haben ein breites Meinungsspektrum offenbart, das in einem ambivalenten Tanzdiskurs mündet. Auch die hier nicht behandelten englischen Traktate des 16. Jahrhunderts scheinen diese Ambivalenz zu bestätigen.270 In allen Konfessionen wird auf religiöse Tanzpraktiken verwiesen, nur in der Bewertung sind sich die Autoren uneinig Um herauszufinden, wann sich die Vorstellung einer einheitlich tanzkritischen Kirche durchsetzte, müssen wir also weiter voranschreiten.

2.2 Kuriositäten der Kirchengeschichte – „Gotische“ Tanzpraktiken im Spiegel von französischen Publikationen des 17. und 18. Jahrhunderts Folgt man den Epocheneinteilungen der Tanzgeschichte, welche die Renaissance häufig bis 1650 reichen lassen, bis der absolutistische Hofstaat Ludwigs  XIV. neue Tanzformen hervorbringt, erscheint es naheliegend, den Wandel in der Mitte des 17.  Jahrhunderts genauer unter die Lupe zu nehmen. Alle Studien heben hervor, dass in diesem Zeitraum der Tanz am französischen Königshof wie auch in der übrigen Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert einnahm. Zugleich zeichneten sich mit der unter Ludwig XIV. 1661 gegründeten Académie royale de danse eine Professionalisierung sowie die Anfänge einer ästhetischen und historischen Reflexion über den Tanz ab. Von Interesse ist vor allem der Umstand, dass gegen Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich lebhafte Debatten über die neue Kunstform des Balletts und seine Beziehung zum bisherigen Tanz aufkamen, in denen auch das Ver269 Vgl. Kühnel 1991, S. 85, Missfelder 2010, S. 12 f. 270 Etwa bei Northbrooke, John, A Treatise against Dicing, Dancing, Plays and Interludes with Other Idle Pastimes, London 1577, oder Stubbes, Philip, Anatomy of the Abuses in England, 1583, dazu: Davies 1984, S. 30 ff., Arcangeli 2000, S. 147–162.

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hältnis von Tanz und Kirche thematisiert wurde.271 Die intensive Beschäftigung mit der Tanzgeschichte steht also im Zusammenhang mit der Diskussion über die Erneuerung der französischen Tanz- und Ballettkultur, die vor allem durch Jean-Baptiste Lullys (1632–1687) neue Musiktheaterformen vorangetrieben wurde. Wie Stephanie Schroedter in ihrer Habilitationsschrift herausgearbeitet hat, fand in diesem Zeitraum ein Wandel vom „Ballet de Cour“ zum „Ballet en Action“ statt: Der Schautanz der Adelsgesellschaft wurde zunehmend vom Theatertanz mit Schauspielproduktionen zurückgedrängt.272 Während der Mitte des 18. Jahrhunderts proklamierte der Jurist Louis de Cahusac in seinem Werk „La danse ancienne et moderne, ou Traité historique de la danse“ eine Neuorientierung in der Tanzkunst, bei der zunehmend professionelle TänzerInnen im Zentrum stehen sollten. Er schloss damit an eine Diskussion an, die bereits in anderen historischen Arbeiten zum Tanz angestoßen worden war. Cahusac war auch Autor zahlreicher Artikel zum Thema Tanz in Didérots „Encyclopédie“273, so dass sich die Frage stellt, inwiefern seine Forderung nach einer Reform des Balletts Bestandteil des Aufklärungsdiskurses war. Neben diesen Veröffentlichungen zur Tanzgeschichte lässt sich eine Beschäftigung mit dem Thema Tanz und Kirche in der monatlichen Zeitschrift „Mercure de France“ beobachten. Hier stehen vor allem Fest- und Tanzpraktiken im kirchlichen Raum des Mittelalters im Blickpunkt, die den Autoren seltsam und deshalb berichtenswert erscheinen. In dieser Zeitschrift findet sich auch ein Artikel des Abbé Jean Lebeuf, der darin die Kombination von Tanz und Ballspiel an Ostern in Auxerre als rückständige und lächerliche Zeremonie des Mittelalters beschreibt.274 Dies ist insofern interessant, als zur selben Zeit eine Reihe von Geistlichen ebenfalls Werke verfassen, in denen umfangreiche Listen von Theater- und Tanzverboten seit der Frühkirche gesammelt werden. Ausgangspunkt dieses Kapitels ist also zunächst die Beobachtung von drei zeitgleichen Phänomenen: der Beschäftigung mit der Geschichte des Tanzes im Zusammenhang mit einer Reform des französischen Balletts, der Thematisierung von Tanz unter dem Label „Gotische Kuriositäten“ in den aufklärerischen Debatten des „Mercure de France“ und des Interesses an einer Sammlung von 271 Die Frage, wie Wissen über Tanz nun neu generiert wird und über welche Medien dieses Wissen kommuniziert wird, wäre von einem wissenschaftsgeschichtlichen Standpunkt aus sicherlich ergiebig, zumal das 17. Jahrhundert und frühe 18. Jahrhundert als Epoche epistemischer Brüche gelten. Die Betrachtung kann sich bei mir jedoch nur auf ein Minimum beschränken. 272 Vgl. Schroedter 2004, S. 10. 273 Vgl. Brandstetter 2009, S. 79–82. 274 Zu Lebeuf ausführlicher Kap. 5, S. 255–259.

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Tanz- und Theaterverboten. Bei allen genannten Punkten betätigten sich in erster Linie Geistliche als Autoren. Insbesondere die Mitglieder des Jesuitenordens, die in ihren Schulen selbst Theaterstücke und Ballette inszenierten, partizipierten an diesem Diskurs.275 Für meine Arbeit ist entscheidend, dass zu diesem Zeitpunkt zum einen umfangreiche Werke zur Geschichte der Tanzkunst entstanden, zum anderen ein Großteil der Quellen für Tänze im kirchlichen Raum in Frankreich gesammelt, veröffentlicht und kommentiert wurde. Das bedeutet, dass der Maßstab, was einzelne Autoren dieser Epoche unter Tanz bzw. Ballett verstanden, welche Ansichten sie zum Verhältnis von Tanz und Kirche hatten, welche Bibliotheken ihnen offenstanden, grundlegend für die Auswahl und Überlieferung der Quellen war. Ihre Einordnung bestimmte lange die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema, so dass ein Überblick über ihre Werke und ihr Umfeld für das Verständnis der Quellen und ihre Überlieferungsgeschichte außerordentlich wichtig erscheint.

2.2.1 Vom Tanz zum Ballett Judith Rock hat darauf aufmerksam gemacht, dass sieben von zehn Tanzbüchern, die zwischen 1658 und 1760 in Frankreich erschienen, von Geistlichen verfasst wurden. Allein fünf davon entstammen der Feder von Autoren aus dem Jesuitenkolleg Louis-Le-Grand in Paris. Fast alle anderen wurden in dem von den Jesuiten herausgegebenen „Journal de Trévoux“ (1701–1767) rezensiert.276 Zugleich zeichnet sich der Zeitraum durch eine enge Verzahnung von Tänzen am königlichen Hof und dem Jesuitenorden aus. Die Leiter der königlichen Tanzakademie, Pierre Beauchamp (Leiter 1669–1687) und Louis Pécour (Leiter 1687–1729), inszenierten nicht nur am Hof von Versailles, sondern hatten auch die tänzerische Leitung am Pariser Jesuitenkolleg inne. Hier und an anderen Schulen wurden in jedem Jahr durch die Schüler aufwendig choreographierte Ballette gezeigt, wobei für einzelne Inszenierungen auch die Teilnahme der jesuitischen Lehrer belegt ist.277 Ohne auf die Tanzausbildung und Aufführungen der Jesuitenschule weiter eingehen zu wollen,278 bleibt zumindest festzuhalten, dass die jesuitischen Autoren was Tanzpraxis und -theorie betrifft auf der Höhe ihrer Zeit waren. Im „Journal de Trévoux“ erschien etwa 1704 eine Re275 276 277 278

Zum Tanz auf der Jesuitenbühne vgl. grundlegend: Walsdorf 2013. Vgl. Rock 1996, S. 18. Vgl. ebd., S. 106. Dazu ausführlich: Walsdorf 2013.

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zension zum Werk des Tanzmeisters Raoul-Auger Feuillet, in der nicht nur seine Tanznotation diskutiert, sondern auch einzelne Schaubilder daraus abgedruckt wurden. Seine neuartige Tanznotation wird darin als „une invention des plus heureuses“279 gelobt und in die Entwicklung der bisherigen Notationen von der Antike bis zu Arbeau eingeordnet. Die hohe Reputation ihrer Inszenierungen, ihre Anbindung an das Ballett am königlichen Hof und ihr fundiertes Wissen über antike und zeitgenössische Tanztheorie sind bei der Untersuchung der von Jesuiten verfassten Traktate zu berücksichtigen. Auch außerhalb des Jesuitenordens war den Abbés des späten 17.  und 18. Jahrhunderts die Tanzkunst bekannt. Sie partizipierten an der Salonkultur ihrer Zeit, nahmen am künstlerischen Leben teil und waren meist ebenso mit dem höfischen Leben vertraut. Die weit gereisten „Abbés diplomates“280 waren umfassend gebildet und verfolgten ästhetische und wissenschaftliche Neuerungen mit höchster Aufmerksamkeit. Ihre Interessen waren, wie man aus ihren umfangreichen Publikationen ersehen kann, sehr breit gestreut: Der Tanz war häufig eine davon.281 Im Folgenden sind vor allem vier Autoren von geschichtlichen Darstellungen über Tanz von Belang, deren Werke in Frankreich zwischen 1668 und 1754 erschienen sind. Bei Michel de Pures „Idée des spectacles anciens et nouveaux“, Paris 1668, und Claude-François Ménestriers Abhandlungen „Des représentations en musique anciennes et modernes“, Paris 1681, und „Des Ballets anciens et modernes selon les règles du théâtre“, Paris 1682, handelt es sich um die Arbeiten von geistlichen Autoren. Die anderen Werke, die erwähnte dreibändige Tanzgeschichte „La danse ancienne et moderne, ou Traité historique de la danse“, La Haye 1754, von Louis Cahusac und Jacques Bonnets „Histoire Générale de la danse sacrée et profane“, Paris 1723, sind von weltlichen Autoren verfasst. Auf eine „danse sacrée“ wird bei Letzterem explizit im Titel, beim Anderen im Text Bezug genommen. Wie wir sehen werden, sind den Autoren die vorangegangenen Werke vertraut und sie übernehmen an einigen Stellen gezielt Zitate oder ganze Passagen ihrer Vorgänger – allerdings häufig ohne dies kenntlich zu machen.

279 Journal de Trévoux 1704, S. 692. 280 Schroedter 2004, S. 96. 281 Bestes Beispiel für diese weitläufigen Interessen ist sicherlich Jean Lebeuf, vgl. dazu. Kap. 5, S. 255 ff. Rebekka von Mallinckrodt stellte unlängst fest, dass fast alle Traktate zur Schwimmkunst vom 16. bis zum 18. Jahrhundert von Geistlichen verfasst wurden, vgl. Mallinckrodt 2008, S. 368–372.

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Michel de Pure Michel de Pure (1620–1680), der Sohn einer Lyoner Kaufmannsfamilie, wurde bereits im Alter von 14 Jahren Kanoniker in Saint-Symphorien in Trévoux, wodurch ihm gleichzeitig ein Studium am Collège des Grassins im Pariser faubourg Saint-Jaques ermöglicht wurde. Durch Beziehungen seines Onkels am Hof, insbesondere zum Bruder von Richelieu, erhielt Michel de Pure 1647 das Ehrenamt eines königlichen geistlichen Ratgebers. In Paris machte er unter anderem die Bekanntschaft François Hedelins (1604–1674), besser bekannt als Abbé d’Aubignac, der mit seiner „La Pratique du théâtre“, Paris 1657, eine umfangreiche Schrift zu Theater und Tanz vorlegte.282 Aus seinem umfangreichen und vielseitigen literarischen Werk interessiert uns die 1668 in Paris erschienene „Idée des spectacles anciens et nouveaux“, in der er sich im zweiten Teil der aktuellen Tanzkunst widmet. De Pure beschreibt darin die Feste und Spektakel am Hof Ludwigs  XIV. und plädiert dafür, sich stärker an den römischen Theaterformen als an den griechischen Dramen zu orientieren.283 De  Pures Ausführungen über die antiken Theaterformen und die zeitgenössischen Komödien, Bälle, Karussells und Maskeraden zeigen ihn als Kenner seines Faches. Er lobt gewisse Tänze, tadelt andere, ordnet zu, welche den Männern und welche den Frauen schmeicheln, und baut eine Theorie zur Kommunikationsform des Balletts auf: „C’est une representation muette, où les gestes & les mouvemens signifient ce qu’on pourroit exprimer par des paroles.“284 Was bei ihm dagegen völlig fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Ballett oder der Tanz an sich gottgefällig seien. Der Kanoniker aus Saint-Symphorien kommt ohne einen Bibelbeleg, ohne einen Verweis auf die Patristik aus, sein Werk umfasst ästhetische Reflexionen, die ausschließlich auf der Philosophie und Tanzpraxis der heidnischen Antike basieren. De Pure braucht sich keinen theologischen Fragen zu widmen, was in den früheren Traktaten und auch in den Tanzlehrbüchern undenkbar gewesen wäre. Selbstverständlich gehört sein Werk zu einer anderen Gattung als die bisherigen Quellen, aber es handelt sich um eine Gattung, die 60  Jahre vorher so nicht denkbar gewesen wäre. Hatte sich die theologische Diskussion des 17. Jahrhunderts zum Thema Tanz erledigt? Gab es noch Formen von Tanz im kirchlichen Kontext? Oder war de Pures Werk lediglich eine Ausnahme? Für diese Fragen lohnt es, einen Blick auf andere Tanzhistoriographien dieser Zeit zu werfen.

282 Vgl. Schroedter 2004, S. 37 f., Mourey 2004, S. 193 f. 283 Vgl. Schroedter 2004, S. 39 f. 284 De Pure 1668, S. 210.

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Claude-François Ménestrier Der Jesuit Claude-François Ménestrier (1631–1705), der 1658 in seiner Heimatstadt Lyon ein Ballett zu Ehren von Louis XIV. organisiert hatte, wurde anschließend zu einem profunden Kenner und Kritiker neuer Ballettinszenierungen. Er veröffentlichte innerhalb kurzer Zeit zwei Abhandlungen zur Kunst des Balletts: „Des représentations en musique anciennes et modernes“ (Paris 1681) und „Des Ballets anciens et modernes selon les règles du theatre“ (Paris 1682).285 In diesen greift er die von de Pure angestoßene Diskussion auf und thematisiert, inwiefern Tanz als eigene Kunstform betrachtet werden könne und welche theoretischen und ästhetischen Grundlagen ihn auszeichneten.286 Claude-François Ménestrier wurde 1631 in Lyon geboren und begann seine Ausbildung am dortigen Collège de la Trinité. Im Alter von 15 Jahren trat er dem Jesuitenorden bei und war kurz darauf Lehrer in Grenoble und später in Wien. Er vertiefte seine Kenntnisse in Latein, Griechisch und Hebräisch, befasste sich aber auch mit der deutschen, spanischen und italienischen Literatur seiner Zeit.287 Ménestrier stand in engem Kontakt mit den Gelehrtenzirkeln der Region und trug dort seine Ideen vor. Einige seiner Gedichte wurden im „Mercure Galant“ veröffentlicht.288 Im späteren Verlauf seines Lebens war der vielseitig gebildete Ménestrier als Gestalter von Inschriften und Emblemen nicht nur am Jesuitenkolleg Louis-le-Grand, sondern auch bei Hochzeiten und Begräbnissen der königlichen Familie ein willkommener Gast. Für seine Bücher zu Musik und Ballett gibt er an, über 200 Referenzen gelesen zu haben. Sowohl klassische antike Autoren, wie Platon und Lukian, als auch neuere Arbeiten, wie die „Harmonie Universelle“ von Marin Mersenne (1588–1648), gehörten zu seiner Lektüre.289 Um sich der Bedeutung von Tanz in religiösen Kontexten zu nähern, ist zu beachten, dass Ménestrier eine Unterscheidung von Tanz und Ballett einführt. Seine Bewunderung, wie aus seinem Werk „Des Ballets anciens et modernes“ ersichtlich wird, gilt vor allem dem Ballett, das er im Vergleich zu einfachen Tänzen als wahre Kunst ansieht: „… la simple danse est un mouvement qui n’ex285 1658 hatte er bereits einige „Remarques pour la conduite des ballets“ und 1669 einen „Traité des Tournois, Joustes, Carrosels et Autres Spectacles Publics“ veröffentlicht. Für die aktuelle Forschungslage zu Ménestrier sei auf den Sammelband von Sabatier, 2009, verwiesen. Ansätze zur Rezeption von Ménestrier in der späteren Literatur zum Verhältnis von Tanz und Christentum bei Mead 1910, S. 52. 286 Vgl. Schroedter 2004, S. 36 f. 287 Zu ausführlicheren Informationen zu seiner Biographie siehe Schroedter 2004, S. 43. 288 Vgl. Loach 2009, S. 24. 289 Siehe: McGowan 2008a, S. 132.

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prime rien, & observe seulement une juste cadence avec le son des instrumens par des pas & des passages simples ou figurez, au lieu que le Ballet exprime selon Aristote les actions des hommes, leurs moeurs & leurs passions.“290 Das Ballett hingegen zeichne sich dadurch aus, dass die Akteure Gefühle und die Zustände ihrer Seele repräsentieren. Er bedauert, dass seine Zeitgenossen diese Fähigkeit immer mehr verlören und sich auf schöne Schritte und cadences konzentrieren würden.291 Ménestriers Wertung setzt eine klare Unterscheidung von danse simple und ballet voraus, die sich im 17. Jahrhundert vollzieht, aber nicht auf das 15. und frühe 16. Jahrhundert übertragen werden kann. Er schreibt folglich in erster Linie keine allgemeine Tanzgeschichte, sondern eine Geschichte des Balletts, das antike Vorläufer hat, gewissen ästhetischen Regeln unterliegt und eine sehr komplexe Kunstform ist, wie er in seinem Werk herausarbeitet. Die Gegenwart mit der Antike zu vergleichen, so lautet der Anspruch Ménestriers, wofür er nach dem Ursprung des Balletts suchen möchte. Dafür untersucht er auch die Etymologie des Begriffs und analysiert dafür die Bedeutungen im Hebräischen, Griechischen, Lateinischen und den modernen Sprachen.292 Da aber auch das Ballett eine Form des Tanzes bleibt und aus dem Tanz hervorgegangen ist, beginnt er seine Arbeit mit Ausführungen über den Tanz. Was mein Interesse betrifft, aus Ménestriers Abhandlungen über das Ballett etwas über spätmittelalterliche Tänze im kirchlichen Kontext zu erfahren, so scheinen diese zunächst nicht sehr ergiebig zu sein. Zwar enthalten die von ihm beschriebenen Aufführungen eine Vielzahl von Bezügen zu religiösen Themen, sei es, dass die Religion, wie etwa auch die Gerechtigkeit, als Person im Ballett dargestellt wird oder biblische Erzählelemente in die Tänze einfließen, Tänze von Geistlichen oder Tanzdarbietungen im Kirchenraum sind jedoch kein Thema. Allerdings wurden auf den französischen Barockbühnen allgemein keine christlichen Heiligen dargestellt, wie auch Geistliche nicht als Tänzer bei den Balletten agierten.293 Ménestrier macht deutlich, dass nach der Herrschaft Konstantins des Großen durch „la stupidité de dix ou onze siecles ignorans“294 das Ballett bis zur Renaissance verdrängt worden sei. Erst dann sei es in Italien wiederbelebt worden und nach Frankreich gekommen, wo es in den letzten 20 Jahren zu seiner Blüte gekommen sei. Die Geschichte des Balletts ist damit gleichzeitig eine Erzählung über das dunkle Mittelalter. 290 291 292 293 294

Ménestrier 1682, S. 154. Vgl. Sabatier 2009, S. 141. Vgl. Ménestrier 1682, S. 7 f. Vgl. Heiter 2012, S. 59–71. Ménestrier 1682, S. 5.

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Dennoch beginnt der Abt das Vorwort seiner Abhandlung mit einer Bestandsaufnahme der Tanzpraktiken seiner Zeit: „J’ay vû encore en quelques Eglises le jour de Pâques les Chanoines prendre par la main les Enfans de Choeur, & en chantant des Hymnes de rejouissance danser dans l’Eglise: pour ne rien dire des coûtumes scandaleuses, que la simplicité avoit introduites il y a deux ou trois siecles …“295. Ménestrier macht damit auf zwei unterschiedliche Traditionen von Tänzen im kirchlichen Kontext aufmerksam. Zum einen auf eine lange Tradition von sakralen Tänzen, deren Vorläufer sich auf jüdische und griechische Glaubensvorstellungen zurückführen lassen würden und im Christentum lange Zeit verbreitet gewesen seien. Diese Tänze würden, so Ménestrier, zu seinen Zeiten noch in den Kirchen Spaniens zelebriert, in Frankreich seien sie bis zum Verbot durch den Pariser Bischof Odo um 1200 verbreitet gewesen, der beanstandete: „Prohibeant Sacerdotes ne fiant choreae, maxime in tribus locis, in Ecclesiis, in Coemeteriis & Processionibus.“296 Davon abzugrenzen seien Tanzpraktiken, die erst im 14.  und 15.  Jahrhundert entstanden seien und die Ménestrier generell als skandalös verurteilt und die deshalb zu Recht von der Mehrzahl der Bischöfe, also nicht von allen, verboten worden seien. Über die Entstehung letzterer Tänze schweigt sich der Autor wie versprochen aus, mit Ersteren beginnt er seine Geschichte der Tänze. Der Tanz „fut en son origine une espece de mystere & de ceremonie“297, durch den Gott sich dem Volk Israel offenbart habe. Der Tanz von Moses und seiner Schwester wird damit zum ersten „Ballet d’Action de graces“298. Dass Tanz damit ein Medium zur Anbetung Gottes sei, wird am Beispiel von David ersichtlich, der „invite le peuple à danser pour honorer Dieu“299. Die Tanzverbote der Kirchenväter, wie etwa bei Johannes Chrysostomus, richteten sich deshalb nur gegen heidnische Tänze, nicht gegen den Tanz allgemein. „Mais il faut […] de mauvaise humeur, ou ignorant pour écrire comme ont fait quelques-uns, que c’est un crime à un Chrétien de danser“300, stellt der Jesuit deutlich heraus. Dennoch macht Ménestrier Einschränkungen, wann Tänze 295 Ebd., ii. 296 Ebd., S. 13. Ebenso schreibt er im Vorwort: „Nous ne faisons plus des Actes de Religion, les danse comme ont fait les Juifs, & les Infideles …“ Einen Widerspruch zwischen dem kirchlichen Tanzverbot des Pariser Bischofs um 1200 und seinen eigenen Beobachtungen von tanzenden Geistlichen im 17. Jahrhundert macht Ménestrier nicht aus. 297 Ebd., S. 8. 298 Ebd., S. 9. 299 Ebd., S. 11, der Autor verweist dabei auch auf Psalm 149: „Laudate eum in Tympano, & Choro: Laudate eum in Chordis & organo.“ Vgl. für weitere Ausführungen zum Tanz im Alten Testament und seiner musikalischen Begleitung, Ménestrier 1681, S. 14–19. 300 Ménestrier 1682, S. 14 f.

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zulässig seien. Zum einem differenziert er nach Alter und bemerkt dazu, dass Ballette tanzen eine Angelegenheit der Jugend sei. Gesetzte Doktoren und Magistrate und generell Ältere sollten nicht im Theater auftreten, weshalb er auch Platon und Sokrates, die noch im hohen Alter getanzt bzw. erst dann den Tanz erlernt hätten, für wenig weise hält. Aristippos, der die Philosophie zugunsten des Tanzens aufgab, oder Nero, der nur tanzte und Theater spielte, aber nicht regierte, erscheinen ihm als extravagant und wenig vorbildhaft. Bestimmte Ämter, die Würde und Anstand verlangen, sind ihm zufolge mit dem Theatertanz unvereinbar. In diesem Kontext sieht er es auch als gerechtfertigt an, dass die Kirche ihren Bediensteten diese unwürdigen Amusements untersagt.301 Nach diesen ersten Überlegungen widmet sich der französische Geistliche den religiösen Tänzen der heidnischen Antike. Anhand der griechischen und lateinischen Textpassagen stellt er sehr detailliert dar, dass die Griechen verschiedene Tänze hatten, um ihre selbst immer wieder tanzenden Götter zu verehren. Ohne auf Details eingehen zu können, sind zwei Beobachtungen interessant. Erstens die Bemerkung, dass saltatio und tripudium die lateinischen Begriffe für das französische danse seien; und zweitens der Verweis auf die von Lukian von Samosata und den Pythagoräern entwickelte Vorstellung, Gott als Zahl und Harmonie zu betrachten, die durch abgemessene Tanzschritte verehrt werde. Die Pythagoräer, so fährt Ménestrier fort, glaubten zudem, dass Gott „les agitoit interieurement par de certains tremoussemens qu’ils appelloient fureur sacrée“302. Diese göttlichen Eingebungen seien in den christlichen Kontext transferiert worden, da auch Propheten wie David, Johannes der Täufer im Mutterleib und Maria bei der Verkündigung durch den Heiligen Geist von diesen Eingebungen berührt worden seien.303 Ménestrier deutet hier im Gegensatz etwa zu Johan von Münster rund 80 Jahre vor ihm die Tänze nicht spirituell, sondern als körperlich vollzogene Tänze. Diese „tremoussemens obligeoient à danser ceux qui en étoient agités“304, so dass nicht nur der tanzende David als Symbol zur Verfügung steht, sondern auch der tanzende Johannes im Mutterleib und die tanzende Maria. Allerdings sei bei göttlich inspiriertem Tanz Vorsicht geboten, da auch der Teufel, um die Ungläubigen zu täuschen, ähnliche Bewegungen verursachen könne. Damit ist die Problematik angesprochen, dass eine phänomenologische 301 Vgl. ebd., S. 16 f. 302 Ebd., S. 24. 303 Ménestrier zitiert die dazu passenden Bibelstellen: „Cor meum & caro mea exultaverunt in Deum vivum“ (Psalm 83), „Ut facta est vox salutationis tuae in auribus meis, exultavit in gaudio Infans in utero meo“ (Lk 1,44), „Magnificat anima mea Dominum. Et exultavit spiritus meus in Deo salutari meo“ (Lk 1,47–48). 304 Ménestrier 1682, S. 25.

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Unterscheidung in diesem Fall nicht möglich sei. Nicht die Bewegungsart, sondern nur die Ursache lasse erkennen, wann ein Tanz göttlich und wann teuflisch inspiriert sei. Daraufhin leitet Ménestrier zu den „Danses mysterieuses“ über, die so heißen, „parce qu’elles exprimoient les Caracteres des Divinitez pour qui elles se faisoient“305. Für den christlichen Kontext wird als biblisches Beispiel wiederum David angeführt, zudem aber auch auf das Hohelied verwiesen. Auch außerhalb der Bibel gab und gibt es nach Ménestrier eine Vielzahl von Menschen, die aus dem Glauben heraus getanzt hätten: „Les Apôtres, les Martyrs, les Docteurs, & les Soldats Chrétiens qui ont combattu pour la Foy contre les Ennemis de l’Eglise sont comparez dans le Cantique des Cantiques à des troupes de Soldats qui dansent après le Combat.“306 Außerdem dient dem Jesuiten der Reigen der Engel als Vorbild für den irdischen Tanz, wofür er auf den Kirchenvater Basileus verweisen kann: „Quid itaque beatius esse poterit quam in terra Tripudium Angelorum imitari?“307 Nach der Vorstellung der religiösen Gründe schließt der Autor seine Bemerkungen zur Geschichte des Tanzens mit weiteren Überlegungen aus den Dispositionen der Natur ab. Als Erholung für den Körper, als therapeutisches Mittel, um die Temperamente der Jugend in die richtige Bahn zu lenken, zur Formung eines starken Körpers und als Vorbereitung auf den Kriegsdienst seien Tänze nicht nur in den griechischen Stadtstaaten von Bedeutung gewesen.308 Die von Ménestrier anschließend entwickelte Geschichte des Balletts mit zahlreichen Beispielen aus der Antike und zeitgenössischen Aufführungen führt zu weit von unserem Thema fort.309 Allerdings scheinen seine etymologischen Betrachtungen über den Ursprung des Balletts für diese Untersuchung lohnenswert. Zunächst grenzt sich Ménestrier von Lukian von Samosata ab, der auf einen „Bal mesuré des Astres, & aux diverses conjonctions des Estoiles fixes & errantes, pour dire que c’est du branle des Cieux …“310 verwiesen und den Tanz damit auf den Anbeginn der Welt datiert habe. Ménestrier selbst wählt nicht den Sternenreigen direkt als Ausgangspunkt des Balletts, sondern die Tänze der Ägypter, welche aber ebenso versuchten, die Harmonie des Universums und die Bewegung der Sterne nachzuahmen. In Griechenland sei diese Vorstellung mit den Wendungen des Labyrinths, in dem Theseus den Minotaurus besiegte, verbun305 306 307 308 309 310

Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 29–34. Dazu: Schroedter 2004, S. 46 f., Dahms 1998, Sp. 302 f. Ménestrier 1682, S. 35.

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den worden: „J’appelle ces Dances Ballets, parce qu’elles n’étoient pas de simples Dances comme les autres, mais des Representations ingenieuses, des mouvemens du Ciel & des Planetes, & des Evolutions du Labyrinthe, dont Thesée sortit.“311 Aus der griechischen Antike sei zudem der Name des Balletts entlehnt, der sich vom griechischen „βαλλειν“ herleiten lasse: „Et parce qu’on joüoit à la Paume en dansant comme a remarqué le même Athenée, c’est le Balle qu’on a fait les noms de Bal, Ballet, & Ballade de nôtre langue, le Ballo des Italiens, & le Bailar des Espagnols.“312 Der Begriff Ballett leitet sich folglich vom griechischen Wort für Ball ab. So argumentiert auch Suidas, der vermeintliche Autor eines griechischen Lexikons aus dem 10. Jahrhundert. Da man Ball spielte, während man tanzte, habe sich daraus der Name Ballett entwickelt, der auch ins Lateinische übertragen worden sei, wie der jesuitische Autor anhand der Konzilsbeschlüsse von Braga im 6. Jahrhundert „Si quis balationes ante ecclesias ferit“ und des Konzils von Rom 826 „Ballando, verba turpia decantando“ zu beweisen versucht.313 Inwiefern diese Herleitung etymologisch richtig ist, sei zunächst dahingestellt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wird sie zumindest von einem französischen Geistlichen vertreten und ausführlich begründet. Auf die Verbindung von Tanz und Ballspiel hat unlängst auch Wolfgang Behringer aufmerksam gemacht. In seinen Arbeiten zum Sport in der Frühen Neuzeit zeigt er, wie sich mit der Renaissance eine Begeisterung für zahlreiche Ballsportarten entwickelte. Für diese Spiele entstanden zunächst in den italienischen Städten, im 16. Jahrhundert dann auch in Frankreich und England eigene Sportstätten, die sala della balla. In diesen großzügigen Ballhäusern fanden zunehmend Tanzaufführungen statt, die wegen der Räumlichkeiten in Italien als ballo in Frankreich als ballet bezeichnet wurden.314 Festzuhalten bleibt, dass Ménestrier einen Zusammenhang zwischen Ballspiel und Tanz sieht, der eng an den Theseusmythos und das Labyrinth geknüpft ist.315 Ausgehend von Ménestrier, der noch mit eigenen Augen sakrale Tänze in einigen Kathedralen Frankreichs beobachten konnte, gilt es nun herauszufinden, welche Vorstellungen von einem „danse sacrée“ sich gut 40 Jahre später bei Jacques Bonnet finden.

311 312 313 314 315

Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. Vgl. ebd. Vgl. Behringer 2010, Sp. 388 f. Vgl. Kap. 5.1.

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Jacques Bonnet Die 1723 in Paris erschienene „Histoire Générale de la danse sacrée et profane“ wurde vom Schatzmeister des Pariser Parlamentes, Jacques Bonnet (1644–1724), kurz vor seinem Tod herausgegeben. Obwohl er sie unter seinem alleinigen Namen veröffentlichte, knüpft sie im Wesentlichen an die Studien seines Bruders Pierre Bonnet (1638–1708) und seines Onkels Pierre Bourdelot (1610–1685), zweier angesehener Ärzte, an.316 Beide arbeiteten an einer Musik- und Tanzgeschichte, konnten sie aber vor ihren Ableben nicht mehr vollenden. Bonnet bediente sich aber nicht nur bei nahen Verwandten, sondern war auch ein eifriger Rezipient von Ménestriers Arbeiten, aus denen er ganze Passagen zitierte. Er übernahm insofern viel von dessen Gedankengut, teilte allerdings nicht die Idee, dass sich bereits in der Antike die Vollendung der Tanzkunst vollzogen habe, sondern sah ähnlich wie Jean Baptiste Du Bos317 – bei dem er einzelne Abschnitte entlehnt – das zeitgenössische französische Ballett als Höhepunkt der Tanzgeschichte an.318 Wie die Titelwahl deutlich macht, interessiert sich der Autor für die Verbindung von Tanz und Religiosität. Was Jacques Bonnet dabei unter der Bezeichnung „danse sacrée“ versteht, soll im Folgenden genauer herausgearbeitet werden. In der Approbation spricht der königliche Zensor, Abbé Richard, der gleichzeitig das Amt des Dekans der Kanonikergemeinschaft Sainte-Oppurtune von Paris bekleidete, davon, wie verbreitet Tänze in Kirchen und bei Prozessionen in Italien, Spanien und Portugal seien, und dass sie ebenfalls in der Provence und dem Languedoc praktiziert würden. Gleichzeitig warnt er vor den durch Tänze verursachten „désordres“319, die dazu geführt hätten, dass der Tanz mittlerweile kritisch betrachtet werde. Eine Unterscheidung von „danse sacrée“ und „danse prophane“ sei bisher nicht erfolgt, umso wichtiger, dass Bonnet sich ihrer annehme.320 Nach einem Einführungskapitel über den antiken Tanz im Allgemeinen widmet sich der Autor der „danse Sacrée, comme la plus respectable“321. Alle späteren Tänze hätten sich aus den religiösen Tänzen entwickelt, deren Ur316 Vgl. Schroedter 2004, S. 107. 317 Jean-Baptiste Du Bos (1670–1742), Kanoniker von Beauvais, ein begeisterter Opernund Theaterkenner, der in seinen „Refléxions critiques sur la Poésie et la Peinture“ auch wichtige Gedanken zum Ballett formulierte. Siehe dazu: Schroedter 2004, S. 94–98. 318 Vgl. Schroedter 2004, S. 108. Sie bezeichnet Bonnet nicht unberechtigterweise als „Meister des Plagiats“, ein Titel, der 2004 noch nicht allzu viel Konkurrenz aus der Gegenwart zu befürchten hatte. 319 Bonnet 1723, S. xxxiii. 320 Vgl. ebd., S. xxxiii. 321 Ebd., S. 31.

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sprung Jacques Bonnet nach Pythagoras und Lukian bei den Ägyptern verortet. Sie tanzten „pour représenter en quelque maniere le mouvement des Astres, que pour le culte de la Religion“322. Auch im späteren Verlauf seines Werkes bezieht sich der ehemalige Schatzmeister des Pariser Parlaments auf Pythagoras, der glaubte, „que l’origine de la danse Sacrée étoit fondée sur ce que Dieu étoit regardé par les Grands-Prêtres comme un nombre mistérieux, & comme une harmonie qui vouloit être honorée par des cadences mesurées“323. Die Vorstellung von der Kreisbewegung der Gestirne, von der vollkommenen Harmonie der Göttlichkeit findet somit ihre Entsprechung im rhythmischen Kreistanz. Der Tanz von Moses und seiner Schwester Miriam nach der erfolgreichen Durchquerung des Roten Meeres sei der erste religiöse Tanz der Hebräer gewesen, die fortan viele religiöse Feste mit Tänzen feierten. Nicht nur in Ägypten, im Judentum und bei den Griechen seien sakrale Tänze verbreitet gewesen, auch im Christentum hätten glaubenseifrige Menschen vor und in Kirchen zu christlichen Hymnen getanzt. Insbesondere an den Festen, deren Termine nach der Bewegung der Planeten berechnet würden, seien Tänze wichtige Bestandteile gewesen. In den Kirchen erinnere die Bezeichnung Chor noch an den ehemaligen Ort dieser Tänze: „Le nom de Choeur est demeuré à cette partie des Eglises Romaines où les Prêtres chantent & font leurs cérémonies, & où l’on dansoit aussi quelquefois il n’y a pas fort longtems, aux chants des Cantiques & des Hymnes de réjouisssance.“324 Im Zuge eines moralischen Verfalls und nach Ausschweifungen, die sich bei den Tanzanlässen ereignet hätten, seien die sakralen Tänze von den kirchlichen Autoritäten im 12.  Jahrhundert verboten worden. Bonnet erwähnt in diesem Zusammenhang die Synodalstatuten des Bischofs Odo von Paris, die von anderen Bischöfen und in königlichen Edikten übernommen worden seien.325 Dennoch sei mit diesen Verboten der sakrale Tanz nicht vollständig aus den Kirchen verschwunden, sondern werde noch an einigen Orten praktiziert: „Néanmoins malgré les soins de l’Eglise pour détruire ces abus, l’on voyoit encore vers le milieu du siecle précedent à Limoges, à la fête de S. Martial Apôtre du Limousin, le peuple danser en rond dans le choeur de l’Eglise de ce Saint, … Limoges n’est 322 Ebd., S. 32. 323 Ebd., S. 53. 324 Ebd., S. 38, in der Rezension des jesuitischen Journal de Trévoux werden diese vielfältigen Tanzformen im Alten Testament und in der Frühkirche zurückgewiesen, dazu: Journal de Trévoux 1724, S. 859–868. 325 Diese Argumentation findet sich – wie oben erwähnt wurde – auch bei Ménestrier. Bonnet formuliert aber deutlicher eine moralische Verfallsgeschichte, während sich Ménestrier dagegen einer derartigen Bewertung enthält.

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pas le seul lieu en France où l’usage de la danse Sacrée subsiste encore, surtout en Provence, aux Processions solemnelles.“326 Bonnet sieht folglich in den Prozessionen Südfrankreichs den sakralen Tanz noch lebendig. Auch in Spanien und Portugal, fährt er fort, habe sich noch eine umfangreiche Tanzkultur bei den Prozessionen erhalten. Der Autor schildert zudem, dass an den Vorabenden der Marienfeste sich junge Mädchen vor den Kirchen versammeln würden, um dort die Nacht mit Hymnengesang und Tänzen zu verbringen.327 Diese Tänze vergleicht er mit denen aus dem Frühchristentum. Bonnet kann diese Tänze positiv beurteilen, da er zwischen ernsthaften, würdevollen Tänzen und heidnischen, skandalösen Tänzen differenziert. Nur Letztere seien von den Kirchenvätern zu Recht scharf verurteilt worden. Daraus ein generelles Tanzverbot für Christen zu fordern, sei deshalb abwegig: „C’est pourquoi j’ose dire après un Auteur célebre, qu’il faut être bien de mauvaise humeur pour écrire, comme ont fait quelques Auteurs, que c’est un crime à un Chrétien que de danser, même des danses modestes, puisque L’Ecriture-Sainte n’en condamne que l’abus. Les danses graves & innocentes ont toujours été admises aux réjouissances publiques & aux spectacles, & elles ont paru même très-utiles pour l’éducation de la jeunesse chez toutes les Nations, pour perfectionner la vie civile.“328

Der berühmte Autor ist niemand anderes als Ménestrier, dessen Ausführungen er hier fast wortwörtlich wiedergibt. Als grenzwertig sieht Bonnet die im VI. Kapitel vorgestellten Maskenbälle an, die ihren Ursprung in den römischen Saturnalien hätten. Damals sei es erlaubt gewesen, an Karneval maskiert an den Bällen teilzunehmen und das Nichterkennen des Gegenübers sei dabei ein wichtiger Bestandteil gewesen, so dass das Lüften der Maske als Vergehen gegolten habe. Unter Ludwig  XIV. waren Maskenbälle sehr beliebt und Bonnet gibt einige Beispiele für solche Veranstaltungen. Für den Karneval verweist er zudem auf das fünfte Buch der „Mémoires de l’Espion Turc“329, der darin über die Feiern der Katholiken berichtet: 326 327 328 329

Bonnet 1723, S. 44 f. Vgl. ebd., S. 50 f. Ebd., S. 40. Der in Frankreich lebende Genuese Giovanni Paolo Marana (1642–1693) veröffentlichte 1684 die Aufzeichnungen des „L’espion du Grand-Seigneur“. Er behauptet darin, die Briefe eines türkischen Spions entdeckt zu haben, der 45 Jahre unentdeckt in Paris gelebt habe. Marana habe die im Original in Arabisch geschriebenen Briefe übersetzt. Der türkische Spion ist eine literarische Strategie Maranas, die französische Gesellschaft durch einen scheinbar fremden Blickwinkel beschreiben zu können.

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„Il dit que ceux qui professent la Religion Romaine, ont un mois dans l’hyver où la plûpart du peuple de l’un & de l’autre séxe, même les gens du premier ordre, se masquent, les uns pour courre le bal la luit, d’autres pour courre le jour dans les rues, comme des fous; & que leur folie finit le Mercredi des Cendres, où tout le peuple va le matin dans les Eglises, se mettre à génoux devant des Prêtres qui leur font une croix au front avec une cendre qui a la vertu de les remettre dans leur bon sens.“330

Der Karneval zur Zeit Ludwigs  XIV. wird als Volksfest beschrieben, bei dem auch Geistliche maskiert mitgetanzt hätten. Louis Cahusac Das 1754 erschienene dreibändige Werk „La danse ancienne et moderne, ou Traité historique de la danse“ von Louis Cahusac (1706–1759) erlebte eine rasante Verbreitung in Frankreich, der bald Übersetzungen ins Italienische und Deutsche folgten. Cahusac hatte Rechtswissenschaften studiert und arbeitete am Gerichtshof von Toulouse, bevor er 1742 eine Anstellung in Paris als Sekretär des Herzogs von Clermont erhielt. Er hatte bereits 1733 seine erste Tragödie verfasst und veröffentlichte seit den 1740er Jahren Tragödien, Komödien sowie Ballett-Libretti und nicht zuletzt etwa 40 Artikel zu Musik und Tanz in Diderots „Encyclopédie“. Seine dreibändige Tanzgeschichte sollte universelle Kriterien für die Beurteilung der Tanzkunst bereitstellen, wozu er eine ausführliche Diskussion der antiken Ballette und ihrer Wiederentdeckung im Italien des 15. Jahrhunderts liefert. Im Vorwort grenzt er sich besonders von dem Werk des Abbé Du Bos ab.331 Obgleich die Geschichte des Balletts bereits von Bonnet und Ménestrier behandelt wurde, sieht Louis Cahusac das Thema seines Buches als neuartig an, denn Bonnets Werk sei vollkommen unnütz. Ménestriers Arbeit sei zwar ein exzellentes Buch, „mais il roule tout entier sur un genre que nous n’avons plus“332 und sei deshalb nicht geeignet, das gegenwärtige Tanztheater zu beschreiben. Auch Cahusac möchte den sakralen Tanz von Beginn an darstellen und verspricht sowohl seinen Erfolg als auch seine Dekadenz und den daraus folgenden Niedergang zu beschreiben. Er folgt der bereits beschriebenen Linie Israel, Ägypten, Griechenland und Rom, wo Tanz als Imitation der kosmischen 330 Bonnet 1723, S. 157 f. Bonnet merkt an, dass diesen Ausführungen wenig Glauben zu schenken sei, da sie ja von jemandem verfasst worden seien, der den katholischen Glauben habe kritisieren wollen. Ob er wirklich an den türkischen Autor glaubte oder eher eine ironische Spitze setzte? 331 Vgl. Schroedter 2004, S. 102 ff. 332 Cahusac 1754, S. xxi.

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Harmonie praktiziert worden sei. „Tous les Peuples enfin du Monde connu“333, darunter auch die Gallier und Alemannen, hätten eine Form des Tanzes zur Verehrung ihrer Gottheiten praktiziert, ihre Priester seien stets Tänzer gewesen. Tanz sei in dieser Form auch bei den ersten Christen gebräuchlich gewesen und in der Spätantike hätten vielfältige tänzerische Devotionsformen im Christentum geblüht, als die Menschen „pleins d’une sainte joie“334 an den Feiertagen getanzt hätten. Besonders bei Märtyrerfesten hätten Prozessionen um die Altäre stattgefunden, die in den Reigen der Apostel, der Heiligen, der Jungfrauen und Engel eine Vielzahl gottgefälliger Tanzvorbilder gefunden hätten.335 Dann beginnt auch er die bekannte Verfallsgeschichte zu zeichnen, wie menschlicher Hochmut diesen reinen Tanz korrumpiert habe, so dass ihn Päpste und Konzilien und auch die königlichen Beschlüsse mit Recht verboten hätten. Lediglich in einigen katholischen Ländern, wie Spanien, Portugal und dem 1659 von Spanien an Frankreich abgetretenen Roussillon, fänden noch Tänze zu Ehren von Heiligen statt, außerhalb Europas seien sie noch bei den Türken präsent. Im nördlichen Frankreich dagegen seien die Tänze, wie Ménestrier sie noch vor 70 Jahren habe beschreiben können, gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus den Kathedralen verschwunden. Auch die Tänze von Laien an kirchlichen Feiertagen wie dem Johannistag würden, nachdem dort Tanz nur noch als Mittel zu sexuellen Ausschweifungen verwendet worden sei, nicht mehr praktiziert.336 Das Interesse der Autoren galt der neuen Kunstform des Balletts, die nun systematisch nach ästhetischen Vorstellungen vom einfachen Tanz abgegrenzt wurde. Als Vorläufer des französischen Balletts wird vor allem die Tanzkunst der heidnischen Antike gesehen, womit die Tanzpraktiken des Mittelalters gleichzeitig eine Abwertung erfahren. Bereits Stephanie Schroedter machte auf die negative Bewertung des Mittelalters bei den vorgestellten Autoren aufmerksam: „Nicht anders als bei Ménéstrier bleibt auch bei De Cahusac das Mittelalter ein dunkles Kapitel, dem – allein auf Tanzverbote der Kirchenväter reduziert – nur marginale Bedeutung innerhalb seiner tanzhistorischen Betrachtungen zukommt.“337 Ihr Urteil schießt zwar etwas über das Ziel hinaus, denn es werden nicht nur Tanzverbote erwähnt, aber für ein Ballett, dass keinen direkten Bezug zum Kirchenraum hat und nicht als Ausdruck von Religiosität angesehen wird, ist das 333 334 335 336 337

Ebd., S. 39. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 47 f. Vgl. ebd., S. 49–58. Schroedter 2004, S. 106.

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Mittelalter vor allem vom ästhetischen Standpunkt aus keine Referenz mehr, wie besonders bei de Pure deutlich wird.338 Die anderen drei Autoren sind sich einig, dass es seit dem Frühchristentum verbreitet Tänze im kirchlichen Kontext gegeben habe, die aus dem antiken Vorbild einer Nachahmung der Sphärenharmonie hervorgegangen seien. Der kosmischen Ordnung entsprach ein geordneter heiliger Tanz, der an den Festtagen der Kirche an den heiligen Stätten praktiziert wurde. Ménestrier liefert dabei eine Verbindung von Tanz und Ballspiel, die zum einen seit der Antike bestand, aber auch Hinweise auf den jeu de paume, einer prominenten Ballsportart des 13. bis 17. Jahrhunderts, bietet. Die Tänze im Kirchenraum wurden nach Meinung der Autoren wegen ihres moralischen Verfalls um 1200 vom Pariser Bischof Odo verboten und spielten seitdem kaum noch eine Rolle. Was keiner von ihnen jedoch beachtet ist, dass Odos Verbote nur für die Diözese Paris galten, die im Mittelalter noch kein Erzbistum war und deren Stellung, verglichen mit dem Paris des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, deutlich geringer war.339 Was religiöse Tänze in Frankreich, und insbesondere solche, die von Geistlichen getanzt wurden, betrifft, so spielten sie zu Lebzeiten der Autoren kaum noch eine Rolle. Zu Ménestriers Zeit gegen Ende des 17. Jahrhunderts waren sie im Begriff, zu verschwinden, und wurden bereits von ihm kritisiert. In der Mitte des 18. Jahrhunderts konnten die Autoren nur noch auf die iberische Halbinsel, das bis 1659 zu Spanien gehörende Roussillon und einige Beispiele aus dem Prozessionswesen verweisen. Die französische Tanzgeschichtsschreibung zwischen 1650 und 1750 zeigt eine veränderte Wahrnehmung und Bewertung von religiösen Tänzen. Ob sich diese Sichtweise auch in anderen Publikationen dieser Zeit niederschlägt, soll uns im weiteren Verlauf beschäftigen.

2.2.2 Der „Mercure de France“ Neben der beginnenden Tanzhistoriographie widmete sich zu Beginn des 18.  Jahrhunderts ein weiteres Medium dem Verhältnis von Tanz und Kirche: die monatlich erscheinende Zeitschrift „Mercure de France“. Auf sie soll ein besonderes Augenmerk gelegt werden, da in den Ausgaben der 1720er Jahre eine Auseinandersetzung mit den spätmittelalterlichen sakralen Tänzen stattfand, die vor allem als kuriose Bräuche betrachtet wurden. Einmal entfacht, scheint das Thema das Interesse von zahlreichen LeserInnen geweckt zu haben. In vielen veröffentlichten Briefen wird auf vorherige Ausgaben der Zeitschrift Bezug ge338 Vgl. Mourey 2004, S. 261 f. 339 Vgl. Kap. 3.2.

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nommen und an die Diskussion angeknüpft, so dass ein Großteil der spätmittelalterlichen Quellen zum Tanz im kirchlichen Kontext in den Artikeln behandelt wird, zum Teil sogar nur in ihnen überliefert ist. Der „Mercure de France“ war 1672 als „Mercure galant“ von Donneau de Visé (1638–1710) gegründet worden, der die monatliche Zeitschrift bis 1710 herausgab. Stand am Anfang ein satirischer Geist im Mittelpunkt, musste dieser nach dem königlichen Verbot der Zeitschrift 1716 weichen, da „des choses scandaleuses et même injurieuses à la réputation de plusieurs personnes“340 abgedruckt worden waren. Ein Intermezzo unter dem Namen „Nouveau Mercure“ folgte bis 1724, mit der Prämisse, aus dem Mercure eine weniger frivole Zeitschrift zu machen. Unter der Herausgeberschaft von Antoine de la Roque (1724–1744) wurde diese Richtung beibehalten und das Augenmerk stärker auf die Themen Archäologie und Beaux-Arts gelegt, die im 18. Jahrhundert allerdings ein sehr breites Spektrum umfassten.341 De la Roque benannte die Zeitschrift in „Mercure de France“ um, die unter diesem Namen – „dédié au Roy“ – bis 1792 erschien. Der Mercure orientierte sich einerseits am Tagesgeschehen, berichtete von Festen und kommentierte neue Opern und Theaterstücke, aus denen häufig Auszüge abgedruckt wurden. Die Zeitschrift enthielt zudem eine Auflistung bekannter Hochzeiten und Todesfälle in Frankreich und dem Ausland, interessierte sich aber auch für andere Ereignisse, wie die Weinernte oder die Sichtung von Seemonstern. Andererseits wurden neben dem aktuellen Bezug auch Artikel abgedruckt, die sich mit historischen Themen befassten. Besonders den Denkwürdigkeiten und Kuriositäten im religiösen Leben der Vorfahren wurden in den 20er und 30er Jahren des 18. Jahrhunderts einige Artikel gewidmet. Den Anstoß für die Debatte scheint der im Januar 1724 veröffentlichte Brief eines „Gentilhomme de Bourgogne“ an einen „M. Moreau de Mautour“342 gegeben zu haben, der den Ursprung der Fête des Fous343 und ihre Ausgestaltung während der Feier der „Mère Folle de Dijon“344 zum Thema hat. Der unbekannte Autor aus Burgund versucht den Ursprung der Fête des Fous von Dijon, die noch 340 Deville 1910, S. xii. 341 Vgl. ebd., S. xiii. 342 Der Adressat Philibert Bernard Moreau de Mantour (1654–1737) schrieb Gedichte und interessierte sich für Inschriften. Er lieferte auch die französische Übersetzung des „Rationarium temporum“, eines Werkes eines jesuitischen Autors zu Beginn des 17. Jahrhunderts, das sich mit der Kalenderberechnung befasst. 343 Zur Fête des Fous vgl. Heers 1983, Dahhaoui 2005, S. 33–46, Harris 2011, ausführlicher dazu: Kap. 3.2. 344 Zu dieser Feier vgl. Rossignol 1855.

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im 18. Jahrhundert durch die örtlichen Narrengemeinschaften ein Begriff war,345 zu rekonstruieren und paraphrasiert dazu aus dem Register des Sekretärs Rhotarius aus der Kirche von Autun von 1411: „qu’à la Fête dite Follorum, on conduisoit un âne, & que l’on chantoit hé, tire âne, hé, hé, &c. que plusieurs alloient à l’Elise déguisez, & avec des habits grotesques, ce qui fut défendu depuis & abrogé.“346 Der Autor erläutert zudem nähere Details zu den Feierlichkeiten in Dijon, die nicht weiter zu interessieren brauchen. Wichtig ist, dass das Groteske und Seltsame, dass Rituale der französischen Kirche des Spätmittelalters, die dem Publikum des 18. Jahrhunderts merkwürdig und befremdlich erscheinen, in den Blickpunkt rücken.347 Im April 1725 wird ein Brief von „M.L.C.D.V.D.“ aus Evreux an den Herausgeber M. de la Roque abgedruckt, der sich mit einem „terme bizarre“348 aus dem Spätlateinischen befasst, dem Begriff Abbas Conardorum. Der Autor erklärt darin, eine Anfrage klären zu wollen, die nach eben jenem Begriff gefragt habe. Passend zum Karneval erscheint dazu sein Brief, und er verspricht, dass „le Public pourra s’en divertir, autant que de la Mere Folle de Dijon, dont il est parlé dans celui du mois de Janvier 1724“349. Ähnlich wie in Dijon sei auch in Evreux ein Festumzug organisiert worden, der von einem gewählten Abbé des Conards angeführt worden sei. Der Brief richtet sein Augenmerk auf die Verkleidungen und seltsamen Lieder, die dem Autor besonders berichtenswert erscheinen: „On menoit promener M. L’Abbé par toutes les ruës de la Ville, & dans tous les Villages de la banlieuë, monté sur un Asne, & habillé grotesquement, on chantoit des Chansons burlesques pendant cette marche, dont voici quelques couplets.“350 Auch in diesem Artikel werden Auszüge aus einem städtischen Register zitiert und es wird auf Parlamentsbeschlüsse aus Paris und Rouen aus dem 16.  Jahrhundert verwiesen, um die Wahrheit der Angaben zu bestätigen. Im Juni wird ein weiterer kurzer Brief desselben Autors veröffentlicht, der auf ein Buch zu dem Thema aus dem 16. Jahrhundert aufmerksam macht, das der Autor jüngst entdeckt habe. Die beiden Briefe über den Abbas Conardorum scheinen das Interesse von Abbé Jean Lebeuf (1687–1760) geweckt zu haben, der, nachdem er bereits mehrere Artikel im Mercure veröffentlicht hatte, sich im Juli 1725 in der Zeitschrift dazu äußert. Lebeuf stellt darin das Beispiel aus Evreux in einen größeren 345 346 347 348 349 350

Vgl. ebd., S. 3. MdF, janvier 1724, S. 63. Vgl. Du Tilliot 1751, S. 88–94. MdF, avril 1725, S. 724. Ebd., S. 725. Ebd., S. 726.

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Kontext, indem er zeigt, dass ähnliche Feste auch in Lisieux sowie Autun gefeiert wurden und auch in anderen Städten keine Seltenheit waren: „Il n’y avoit pas jusqu’à certains Chapitres de Cathedrales de France qui n’eussent un Abbé qu’on appelloit l’Abbé des Foux.“351 Derartige Feiern seien auch bis vor kurzem noch in einer Kathedrale verbreitet gewesen, deren Name jedoch nicht genannt wird.352 Sowohl die Kanoniker der Kathedrale als auch die Subdiakone hätten an diesen Feierlichkeiten mitgewirkt, die Lebeuf in der Manier seiner Vorgänger wie folgt beschreibt: „Les folies que cet Abbé êtoit chargé de réformer n’étoient que certaines ridiculitez grossieres …“353. Der Narrenabt wurde in dieser Kirche am 18. Juli gewählt, was dem Autor Raum zu Spekulationen gibt. Der 18. Juli gilt als Gedenktag des Heiligen Arnold, wobei mehrere Personen in Betracht kommen. Neben dem Bischof Arnold von Metz sei laut Lebeuf die Verehrung eines verheirateten Mannes, der im 6. Jahrhundert im Wald von Iveline ums Leben gekommen war, oder des Heiligen Arnold aus Düren denkbar: „L’autre est S. Arnold qui étoit joüeur de Violon au IX. siecle, & qui mourut proche Duren dans le Duché de Juliers.“354 Der erwähnte Heilige Arnold soll als Sänger und Harfenspieler aus Byzanz an den Hof von Karl dem Großen gekommen sein, wird aber auch als fahrender Musiker und Orgelspieler bezeichnet. Er wird als Schutzpatron der Musiker und Organisten verehrt, so dass eine umfangreiche musikalische Gestaltung seines Festes anzunehmen ist. Lebeuf erwähnt ebenso die Fête de l’Âne und ihre bizarren Praktiken. „Je ne desespere pas qu’on ne revienne de même de plusieurs coutumes grossieres & gothiques, à mesure qu’on connoîtra le cas qu’il en faut faire.“355 Das Eselsfest sei ebenfalls in vielen Kathedralen zelebriert worden. Über Rouen sei er darüber durch ein Dokument aus der königlichen Bibliothek informiert, für Sens zitiert er selbst in seinem Brief einige Verse, die vor der Kirche gesungen worden seien, und aus seiner Heimatstadt Auxerre liege ihm eine Rechnung aus dem 15. Jahrhundert für Musiker vor. Diese Feiern wären „des nuages ou des ombres dans les coutumes Ecclesiastiques“356 gewesen. „Puisque l’explication de certains termes bizarres de la basse Latinité vous fait plaisir“357 – so beginnt Lebeuf einen weiteren Artikel vom Februar 1726 – 351 MdF, juillet 1725, S. 1595. 352 Aller Wahrscheinlichkeit nach ist damit Auxerre selbst gemeint. Siehe dazu: Kap. 5.2.3, S. 332–336. 353 MdF, juillet 1725, S. 1595. 354 Ebd., S. 1597. 355 Ebd., S. 1601. 356 Ebd. 357 MdF, février 1726, S. 218.

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möchte er an die bewährte Thematik anknüpfen und etwas über die „anciennes Réjoüissances Ecclesiastiques durant les Fêtes de Noël, à l’occasion du mot: Defructus“358 berichten. Diesen Begriff habe der Autor in den Akten eines Provinzkonzils der Kirchenprovinz Narbonne aus dem Jahr 1551 entdeckt, auf dem im 47. Kanon die Abschaffung dieser Festausgestaltung in Zusammenhang mit dem Verbot von Tänzen im Kirchenraum beschlossen worden sei. Wie befremdlich und unglaubwürdig die Schilderungen über einige kirchliche Bräuche des Spätmittelalters im „Mercure de France“ manchen LeserInnen vorgekommen waren, lässt Lebeuf weiter unten in seinem Brief durchblicken: „Il est étonnant de voir des personnes dont la pieté est si portée à tout excuser ou à ne rien croire, qu’elles ne peuvent s’empêcher de dire, que tout ce qu’on rapporte de cette Fête des Fous, de la conduite de l’asne, des danses & jeux dans l’Eglise, & autres semblables spectacles, est faux, & n’a jamais existé. Elles disent … qu’il est impossible qu’on ait fait dans l’Eglise toutes les actions ridicules qui y sont marqueés. Quand on leur ajoûte que le celebre M. du Cange rapporte les mêmes choses dans son Glossaire, après les Manuscrits authentiques du temps, & après même les Livres d’Eglise encore existants, ils en sont quittes pour secoüer la tête & nier le fait.“359

Seine Auflistung wirkt wie eine Sammlung von Exzessen im Kirchenraum, darunter auch der Tanz, die er nach eigenen Angaben aber alle durch Originalmanuskripte aus dieser Zeit belegen könne. Im Anschluss verweist er zudem auf die Beschlüsse der Theologen der Sorbonne aus dem Jahr 1444, die bereits damals diese Feiern zu verbieten versucht hätten.360 Die LeserInnen des Mercure brauchen sich für weitere Denkwürdigkeiten nicht zu lange gedulden. Im April  1726 berichtet der unbekannte Autor aus Evreux über eine weitere Zeremonie aus seiner Heimatstadt: „C’est avec plaisir, Monsieur, que je vous envoye le petit détail que vous m’avez demandé; je m’attends bien que vous en ferez part aux Auteurs du Mercure de France, qui pourront réjoüir encore une fois le Public aux dépens de la simplicité & de l’ignorance de nos Ancêtres.“361 Der Verfasser schildert darin die Ceremonie de la Saint Vital, die am Tag des Heiligen, dem 28. April, in der Kathedrale von Evreux stattgefunden habe und sich bis zum 1. Mai habe erstrecken können. Es habe sich um ein Fest gehandelt, bei dem die Mitglieder des Kathedralklerus, d.h. die Kanoniker, 358 359 360 361

Ebd., S. 218. Ebd., S. 222. Vgl. dazu Harris 2011, S. 1–3, 218–224. MdF, avril 1726, S. 694.

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die Kapläne und die Chorknaben, mit unterschiedlichen Aufgaben teilgenommen hätten. Die Feierlichkeiten hätten eine Vielzahl von musikalischen Einlagen, wie Glockengeläut und Gesang, und Bewegungselementen enthalten. Vor allem eine Prozession, die Procession noire, faszinierte den Autor im Besonderen, so dass er sie ausführlicher beschrieb: „La Procession noire faisoit au retour mille extravagances, comme de jetter du son dans les yeux des passans, de faire sauter les uns par-dessus un balai, de faire danser les autres, &c.“362 Wiederum ist der Tanz Bestandteil einer als extravagant beschriebenen kirchlichen Festpraxis. Lebeufs Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Bereits im Mai 1726 befasst er sich mit einer „ancienne danse Ecclesiastique“363, die uns später noch ausführlich beschäftigen wird, der Pelotte von Auxerre.364 Ein Jahr darauf kommt er in der Mai-Ausgabe von 1727 noch einmal auf diese zu sprechen, als er über die Fêtages d’Angers schreibt, die der französische König Franz I. 1536 mit der Pelotte verglichen hatte.365 Auch in den anderen Monaten bleibt Lebeuf dieser Thematik treu. Im Winter desselben Jahres berichtet er über eine weitere „grotesque Ceremonie“366, das Fest des Kinderbischofs in Toul, das er auch als „bizarre Comedie Ecclesiastique“367 bezeichnet. Im „Mercure de France“ erscheint zwischen 1724 und 1727 eine ganze Reihe von Artikeln, die sich mit kirchlichen Festen des Spätmittelalters befassen. Bei den Verfassern handelt es sich um eine Handvoll von Autoren, neben dem namentlich bekannten Lebeuf tut sich vor allem ein Verfasser aus Evreux hervor. Der Zeitraum der von ihnen besprochenen Feste erstreckt sich auf das 14. bis 16. Jahrhundert, auch wenn vereinzelt auf Berichte aus dem 13. Jahrhundert verwiesen wird. Auffallend ist, dass es sich fast ausschließlich um kirchliche Feste der Kathedralkapitel handelt. Es sind stets Kanoniker, Kapläne und Chorknaben, deren Zeremonien beschrieben werden. Die Autoren versichern, dass sie die Originalquellen vor Augen gehabt hätten. Der erste Aufsatz spricht von „deux écrits authentiques“368, während der Autor aus Evreux darlegt: „Ce fait, Monsieur, vous paroîtroit incroyable, s’il n’étoit expressément ainsi marqué dans des Actes autentiques & originaux, que j’ai entre les mains …“369. Da in einigen 362 363 364 365 366 367 368 369

Ebd., S. 698. Lebeuf 1726, S. 911. Dazu ausführlich Kap. 5. Siehe: MdF, may 1727, S. 921 ff. MdF, décembre 1726, S. 2664. Ebd., S. 2665. MdF, janvier 1724, S. 61. MdF, avril 1726, S. 697.

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Fällen die Quellen des 14. und 15. Jahrhunderts heute nicht mehr erhalten sind, bleiben die Aufsätze vom Anfang des 18. Jahrhunderts die frühesten Belege für diese Feiern. Die Autoren begnügen sich dabei damit, einzelne passende Passagen oder lateinische Ausdrücke daraus zu zitieren bzw. lediglich auf ein Dokument zu verweisen und es zu paraphrasieren. Ihre Ansicht, dass es sich bei diesen Festen um bizarre Vergnügen von weniger fortschrittlichen Menschen handele, wirkt sich auf die Auswahl der Textpassagen aus. Da die Eingebundenheit der Feiern in die Liturgie und eine theologische Legitimation von vornherein verworfen wurden, werden vielmehr die Praktiken hervorgehoben, die sich von den Gottesdiensten des 18. Jahrhunderts unterscheiden. Es handelt sich um die bizarren Rituale einer als Gotik bezeichneten Epoche, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Ungewöhnliche Handlungen wie Ballspiel, Tanz oder Springen, das Treiben eines Esels in die Kirche, unpassende Kleidung und Maskierungen, seltsame Lieder und Ausrufe werden genannt, um die Andersartigkeit hervorzuheben. Bei fast allen dieser Feste wurden in irgendeiner Weise Kanoniker mit Tanz in Verbindung gebracht, bevor im 16. Jahrhundert diese Praktiken kritisiert, verboten oder Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten wurden. Im Kontext dieser Beschreibungen ist auch der Artikel von Lebeuf mit dem Titel „Explication d’un terme de la basse Latinité“370 anzusiedeln, der den Tanz auf dem Kirchenlabyrinth von Auxerre behandelt. Wiederum handelt es sich um ein Thema, das Bizarres aus dem Mittelalter zu bieten hat und dadurch die LeserInnen des Mercure ansprechen und unterhalten soll. Unter diesem Aspekt muss Lebeufs Artikel gelesen werden und seine Quellenauswahl und seine Interpretation sind dementsprechend zu berücksichtigen.

2.2.3 Sammlungen von Tanzverboten In den Tanztraktaten des 16. Jahrhunderts zitierten die Autoren immer wieder bekannte Beispiele aus den Tanzverboten von Kirchenvätern, päpstlichen Erlassen oder Konzilien. Und auch die Verfasser der Tanzgeschichten verwiesen an einigen Stellen auf prominente Tanzverbote, wie oben schon am Beispiel der Beschlüsse des Pariser Bischofs Odo deutlich wurde. Allerdings entstehen in Frankreich am Übergang vom 17.  zum 18.  Jahrhundert mit den Werken von Jean-Baptiste Thiers, Jean-Baptiste Lucotte Du  Tilliot und Edmond Martène

370 MdF, may 1726, S. 911–925.

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nun erstmals umfangreiche Sammlungen dieser Verbote.371 In England hatte der Puritaner William Prynne in seinem „Histrio-Mastix“ bereits 1633 eine ausführliche Liste mit antiken und mittelalterlichen Tanz- und Spielverboten vorgelegt.372 Ganz ähnlich wie die Autoren im „Mercure  de  France“ befassten sich Thiers und vor allem Du Tilliot mit der Fête des Fous. Während Thiers’ Arbeit von 1686 in die Artikel des Mercure eingeflossen ist, verweist Du  Tilliot immer wieder darauf, seine Meinung zur Fête des Fous nach der Lektüre der oben vorgestellten Artikel aus dem „Mercure de France“ revidiert zu haben. In den Veröffentlichungen des Mercure spielten die Verbote der Fête des Fous nur eine untergeordnete Rolle, denn der Reiz der Berichterstattung lag darin, dass diese Feiern von Geistlichen mit aller Hingabe gestaltet und von ihnen als Normalität angesehen worden waren. Jean-Baptiste Thiers (1636–1703) behandelt in seinem 1686 erschienenen „Traité des jeux et des divertissements“ auf über 500 Seiten alle Arten von Spielen und Vergnügungen. Obwohl er im Vorwort sein Urteil über sie mit den Worten „j’y explique les sentimens de l’Eglise touchant les jeux & les Divertissemens, permis ou défendus aux Chrétiens …“373 als ergebnisoffen beschreibt, werden die von ihm aufgelisteten Vergnügungen fast ausnahmslos als schändlich verworfen. Dabei fängt er seine Kapitel nie mit einem generellen Verbot an, sondern erläutert, dass die Vergnügungen unter bestimmten Umständen durch die Kirche erlaubt sein könnten, um diese Einschränkungen dann aufzuheben. Ein Beispiel über die Beschreibung der Oper macht diese Argumentation deutlich: „L’Opera seroit un divertissement assez honnête & assez innocent pour les Chrétiens, s’il n’avoit rien de contraire à leur profession. Mais c’est ce qui ne paroît pas quand on examine les choses de prés. Car enfin le but de l’Opera est d’émouvoir les passions: & le but de la Religion Chrêtienne au contraire et de les calmer, de les abattre & les détruire autant qu’il est possible en cette vie.“374 Im Kontext seiner weitläufigen Spielverbote kritisiert der Kleriker aus Chartres, nachdem er sich mit Wort- und Glücksspielen auseinandergesetzt hat, im Zusammenhang mit Maskeraden und Komödien auch alle Formen von Tanz: „La danse n’est point un divertissement indifferent. Les Conciles & les Peres la 371 Thiers 1686, Du Tilliot 1741. Das vierbändige Werk „De antiquis ecclesiæ ritibus“ des Mauriners Edmond Martène (1654–1739) enthält zwar ebenfalls eine Vielzahl von Tanzverboten, sie sind allerdings nicht an einer Stelle gebündelt aufgeführt, sondern über alle Bände verteilt. 372 Siehe: Prynne 1633, S. 220 ff. 373 Thiers 1686, S. II. 374 Ebd., S. 308.

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défendent à tous les Fidèles. Elle est particulièrement défenduë aux Ecclesiastiques.“375 Dementsprechend erfolgt auch seine Bewertung von Tänzen, die eine Bedrohung für jeden Gläubigen darstellen würden. Seine besondere Kritik gilt den Tänzerinnen, deren Darbietungen er wohl mit Bezug auf die Kirchenväter mit sexueller Freizügigkeit und Wahnsinn gleichsetzt. Neben einer Diskussion der Schriften der Kirchenväter, die bereits die Tanztraktate des 16.  Jahrhunderts und die Tanzhistoriographien des 17.  und 18.  Jahrhunderts leisteten, führt Thiers nun erstmals auch die Kanones zahlreicher Konzilien auf. Er listet dazu ca.  35 Konzilsbeschlüsse von Beginn des 13. Jahrhunderts bis 1674 auf, in denen Regulierungen von Tanz ausgesprochen werden. Als ersten Synodalbeschluss, der den französischen Geistlichen das Tanzen und selbst das Anschauen von Tänzen verbiete, zitiert er die um 1200 verabschiedeten Beschlüsse des Pariser Bischofs Odo, die er in französischer Sprache paraphrasiert: „Il est absolument défendu aux Ecclesiastiques d’assister aux jeux deshonnêtes, ni aux danses.“376 Odos Synodalstatuten waren, wie zu Beginn des Kapitels gezeigt wurde, in der französischen Tanzgeschichtsschreibung als Wendepunkt interpretiert worden. Mit dem absoluten Tanzverbot für Geistliche, das jedoch nur für die Diözese Paris und nicht für das gesamte Königreich gegolten habe, habe weitgehend eine verbreitete früh- und hochmittelalterliche Tanzkultur im kirchlichen Kontext geendet, so die Autoren. Thiers zeigt mit seiner Liste dagegen auf, dass auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder versucht wurde, den Tanz von Geistlichen zu sanktionieren. Der Schwerpunkt seiner Sammlung liegt nämlich auf Frankreich und dem 16. und 17. Jahrhundert. Er zitiert Auszüge aus den Statuten von Sens 1514, Reims 1564, Lyon 1566, Lyon 1577, Bordeaux 1583, Bourges 1584, Aix 1585, Toulouse 1590, Avignon 1594, Narbonne 1609377, Saint-Malo 1618, Limoges 1619, Alet 1640, Evreux 1644, Clermont 1653, Châlons-sur-Marne 1657, Aix 1658, Sens 1658, Orléans 1664, Evreux 1664, Agen 1666, Autun 1669 und Aix 1672.378 Zugleich muss er zur Schande der Katholiken eingestehen, dass die französischen Calvinisten auf ihren Synoden am Ende des 16. Jahrhunderts den Tanz deutlich schärfer verurteilt und Vergehen gegen die Verbote härter bestraft hätten.379 Später im Text nimmt Thiers im Zusammenhang mit der Fête des Fous noch einmal Bezug auf die Tanzverbote, denn er versammelt dabei nicht nur alle Ver375 Ebd., S. 299. 376 Ebd., S. 341. 377 Bei Thiers zwar chronologisch richtig angeordnet, aber irrtümlicherweise auf 1509 datiert. 378 Vgl. Thiers 1686, S. 341–345. 379 Vgl. ebd., S. 340 f.

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bote, die sich gegen diese Feier selbst richten, sondern auch kirchliche Verbote gegen die Aufführungen von Gauklern und gegen profane Tänze.380 Über die Fête des Fous urteilt er ebenso deutlich: „Mais cette fête meritoit bien mieux d’être appelée la fête du diable, à cause des insolences effroïables, & des scandales horrible, & des turpitudes execrables qui s’y faisoient.“381 Hier werden wiederum etwa 30  Konzilsbeschlüsse, zum großen Teil dieselben, die bereits bei den Tanzverboten verwendet wurden, angeführt. Nun werden aber nicht nur einzelne Sätze oder Halbsätze zitiert, sondern häufig ganze Passagen. Die Fête des Fous scheint Thiers ein besonders verachtenswerter Brauch gewesen zu sein, eine Einstellung, die Jean-Baptiste Lucotte du Tilliot (1668–1750) gut 50 Jahre später teilen sollte. Die Auswirkung von du Tilliots 1741 erschienenen „Memoires pour servir à l’histoire de la Fête des Foux, qui se faisoit autrefois dans plusieurs Eglises“382 auf die Forschung zum Narrenfest kann kaum überschätzt werden, zumal sein Einfluss auf die Standardwerke von Chambers und Fassler unverkennbar ist.383 Der gentilhomme im Dienste des Herzogs von Berry, Jean-Baptiste Lucotte du Tilliot, gibt darin vor, eine generelle Geschichte der Fête des Fous zu schreiben, ist aber in erster Linie ein Lokalhistoriker für seine Heimatstadt Dijon. Seinen Folgerungen zur dortigen Feier der Mère-Folle, welche die zweite Hälfte des Buches umfassen, stellt er eine zeitlich und geographisch weit gestreute Sammlung von Verboten und Zitaten voran, deren Verallgemeinerungen mittlerweile sehr kritisch gelesen werden.384 Auch du Tilliot präsentiert nach einer ausführlichen Diskussion verschiedener Feierlichkeiten im Kirchenraum, die er unter dem Namen Fête des Fous zusammenfasst, eine Aufzählung von etwa 20 Konzilsbeschlüssen. Wie bereits Tanja Skambraks angemerkt hat, sind große Teile seiner Liste direkt von Thiers übernommen.385 Die Veränderungen in der zeitgenössischen Tanzpraxis haben im Frankreich des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts eine Reihe von Arbeiten entstehen lassen, in denen die aktuell entstehenden Ballette mit antiken Tanzformen verglichen werden. Die gebildeten Autoren dieser tanzhistoriographischen Studien, die zum Teil Geistliche waren, behaupten darin, dass Tänze im kirchlichen Kontext in Frankreich im 18. Jahrhundert nur noch marginal vorkämen. 380 381 382 383 384 385

Vgl. Skambraks 2010, S. 357. Thiers 1686, S. 441. Eine zweite Auflage erschien 1751, die im Folgenden verwendet wird. Vgl. Skambraks 2010, S. 359 f. Vgl. Harris 2011, S. 283. Vgl. Skambraks 2010, S. 360, so sind etwa die Seiten 55–60 bei du Tilliot identisch mit Thiers S. 443 ff.

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Außer in einigen Regionen Südfrankreichs würden sie allenfalls noch in Spanien und Portugal praktiziert. Eine reichhaltige kirchliche Tanzpraxis wird zwar vom Frühchristentum bis in das 12.  Jahrhundert konstatiert, da das Mittelalter jedoch nicht als Referenz für die aktuellen Debatten dient, werden die Tänze dieser Zeit kaum beschrieben. Die Zeit zwischen dem 5. und dem 14. Jahrhundert findet aus ästhetischen Gründen kaum Interesse bei den Autoren. In den im „Mercure de France“ veröffentlichten Briefen findet dagegen eine Thematisierung der sakralen Tänze des Mittelalters statt. Das Augenmerk ist diesmal nur auf das Mittelalter gerichtet, auf Bezüge zu biblischen und antiken Tanzpraktiken oder zu zeitgenössischen Tanzformen wird verzichtet, geht es doch darum, diese Tänze als Spezifikum eines als „gotisch“ bezeichneten Mittelalters zu disqualifizieren. Es sind aufgeklärte Geistliche, die diese bizarren Tanzpraktiken ans Licht bringen und als Entgleisungen abstempeln. Eine Kontinuität dieser Praktiken zur aktuellen Kirche, in der sich gerade eine Reform der Liturgie durchsetzt, wird heftig verneint – ganz so, wie bei den Königskrönungen versucht wird, mit Wandteppichen die gotische Architektur der Kathedralen zu durchbrechen. In den Aufsätzen wird zudem immer wieder die Verbindung zwischen Tanz im kirchlichen Kontext und der Fête des Fous gezogen, die alle Imagination des frühen 18. Jahrhunderts über das Mittelalter in sich aufnehmen kann. Der Fête des Fous, in deren Beschreibungen eine Vielzahl von Praktiken unterschiedlicher Feiertage und Jahrhunderte vereint werden,386 werden ganze Listen von kirchlichen Tanz-, Spiel- und Theaterverboten entgegengesetzt, so dass ihre Ausübung als deviantes Verhalten gegen einen vorausschauenden Klerus und König gelten muss. Der Tanz im Kirchenraum, der zu dieser Zeit nicht mehr praktiziert wurde, wird mit einer rückwärtsgewandten Kirche des Spätmittelalters in Zusammenhang gebracht, von der man sich entschieden abgrenzen will. Mit der Moderne sollten diese kirchlichen Tanzpraktiken dann weitgehend in Vergessenheit geraten.

2.3 Den Glauben tanzen – Die Wiederentdeckung religiöser Tanzpraktiken in der Moderne „Kein christlicher Ritus kennt den Tanz“387, schreibt der damalige Kardinal Joseph Ratzinger in seinem 2000 erschienenen Buch „Der Geist der Liturgie“. Alles das, was in Bezug auf die christliche Liturgie als Tanz bezeichnet werde, sei kein 386 Vgl. zu dieser Problematik, die sich bis in die aktuelle Forschung durchzieht: Skambraks 2010, S. 357–361, Harris 2011, S. 4–10. 387 Ratzinger 2000, S. 171.

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Tanz, sondern „rhythmisch geordnetes Schreiten, das der Würde des Vorgangs gemäß ist, die verschiedenen Wege in der Liturgie innerlich in Zucht nimmt und ordnet, ihnen so Schönheit und vor allem: Gott-Würdigkeit gibt“388. Lediglich in der Volksfrömmigkeit – was immer man dann konkret darunter verstehen mag – fänden sich Tanzpraktiken, die von der Kirche toleriert wurden, vor allem wenn sie als weltliches Fest außerhalb des Gottesdienstes erfolgen würden. Ratzinger steht damit – wie in der Einleitung angedeutet wurde – im Einklang mit dem Gros der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Auch er sieht Tänze als Praxis von Laien an und grenzt sie so von einem ehrfürchtigen und züchtigen „Schreiten“ der Geistlichen im Gottesdienst ab. Mit Tanz dagegen werden Attribute wie Ausgelassenheit, Freude, aber auch Unkontrollierbarkeit und Weltlichkeit verknüpft, die seine Verwendung im sakralen Raum – zumindest in Europa – unmöglich erscheinen lassen. Nur galten diese Ansicht und die Unterscheidung von Tanz und rhythmisch geordnetem Schreiten auch für das Spätmittelalter? In diesem Abschnitt geht es deshalb zunächst darum, die Vorstellung einer tanzfeindlichen Kirche im Anschluss an die bisherige Entwicklung zu historisieren. Dazu werden sowohl theologische Bewegungen der letzten Jahrhunderte, die versuchen Tanz in den kirchlichen Kontext und die Liturgie zu integrieren, beleuchtet, als auch bedeutsame Kritiken an Tanz im kirchlichen Kontext aus dieser Zeit vorgestellt. Beide Seiten haben ein Interesse daran, sich theologisch mit dem Tanz auseinanderzusetzen, so dass der Großteil der historischen Arbeiten zum Tanz in diesen Kontexten entstanden ist. Wie schon Gregor Rohmann kürzlich in seiner Habilitationsschrift deutlich gemacht hat, ist die Beschäftigung der historischen Fachwissenschaft mit Tanz in christlichen Kontexten dagegen bisher allenfalls als spärlich zu charakterisieren.389 Eine Aufarbeitung der Forschungslage, die für die Bewertung vormoderner Tänze im kirchlichen Kontext unerlässlich scheint, kann die bisherigen Arbeiten aus den anderen Disziplinen nicht ignorieren. Denn nur dann kann deutlich werden, auf welchen Erkenntnissen bisherige Arbeiten fußen und welche Vorstellungen sie vom Tanz im kirchlichen Kontext des 15. und 16. Jahrhunderts weiterhin tradieren. Aus der sehr umfangreichen Literatur habe ich eine Auswahl treffen müssen und vor allem die Arbeiten untersucht, die sich intensiver mit einer historischen Einordnung befassen, ihr theologischer Beitrag ist für mich dabei nebensächlich. Diese Kontextualisierungen stammen aus der Hand eines Mediävisten und können deshalb nur die Oberfläche berühren. Es kön388 Ebd. 389 Vgl. Rohmann 2013, S. 32.

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nen zudem nur Schlaglichter gesetzt werden, die einzelne Bewegungen erhellen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Meine Auswahl ist im Wesentlichen beeinflusst durch den von Marion Keuchen herausgegebenen Sammelband „Tanz und Religion“ (2008), die Studie von Vogler u.a. „Tanz und Spiritualität“ (1995), das Nachwort von Kurt Petermann zum „Tanzteuffel“ (1978) und die Arbeiten von Helga Gundlach Sonnemann, insbesondere den Aufsatz „Tanz als Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung in Deutschland“ (2002).390 Zuletzt sei auf die Dissertation von Dania Marco „La danza nella Chiesa“ verwiesen, die darin eine kurze Rezeptionsgeschichte der letzten 100 Jahre mit globalen Ausblicken vorgelegt hat. Von diesen Arbeiten inspiriert, wurden drei Schlaglichter ausgewählt, die helfen können, die Vorstellung einer tanzfeindlichen Kirche besser zu kontextualisieren. Im Nachwort zu Florian Dauls „Tanzteuffel“ machte der damalige Leiter des Leipziger Tanzarchivs Kurt Petermann auf die umfangreiche tanzkritische Literatur der evangelischen und katholischen Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts aufmerksam, in der bis hin zu so detaillierten Fragen wie nach der „Behandlung der Tanzwirte im Beichtstuhl“391 Stellung genommen wird. Entgegen dieser tanzfeindlichen Einstellung in den Kirchen entwickelte sich im Ausdruckstanz ein neues Interesse für Religiosität, was im ersten Abschnitt behandelt wird. Zudem wird kurz auf einige künstlerische und philosophische Arbeiten eingegangen, denn ohne ein bestimmtes Heine-Gedicht oder Nietzsche-Zitat scheint keine Arbeit über sakralen Tanz vollständig. Dafür sind die Zitate auch zu schön. Ein weiteres Schlaglicht soll auf die 30er bis 50er Jahre des 20. Jahrhunderts geworfen werden, und dabei der seit 1933 in der Schweiz tagende „Eranoskreis“ beleuchtet werden. An diesen interdisziplinären Gesprächen über Philosophie und Religion nahmen unter anderem der Jesuit Hugo Rahner (1900–1968), der niederländische Theologe Gerardus van der Leeuw (1890–1950), der Schriftsteller Max Pulver (1889–1956), der Sexualforscher Havelock Ellis (1859–1939) und der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung (1875–1961) teil.392 Aus Interesse an religiösen Körperpraktiken befassten sich einige der genannten Autoren mit der Geschichte des sakralen Tanzes. Zeitgleich entwickelten und praktizierten in Frankreich die Schwestern Josette und Renée Foatelli Formen sakraler Tanzkunst in Kirchen und Klöstern. Neben ihren praktischen Anleitungen zum Tanz 390 Nicht verschwiegen werden soll, dass bis auf Petermann alle zitierten AutorInnen nicht nur zu liturgischem Tanz forschen, sondern mehr oder weniger aktiv Tänze choreographieren und in der „Szene“ involviert sind. Die Verbindungen näher aufzuzeigen wäre eine andere Arbeit. 391 Petermann 1978. S. 12. 392 Vgl. Leutzsch 2008, S. 106 f.

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veröffentlichte Renée Foatelli 1939 auch eine theoretische Abhandlung393, die 1947 in erweiterter Fassung herausgegeben wurde. In einem dritten Punkt interessieren mich die Initiativen aus dem Umfeld des „sakralen/liturgischen/meditativen“ Tanzes der letzten 40 Jahre. Auch wenn in den Arbeiten dazu die Tanzpraxis häufig im Vordergrund steht, haben verschiedene AutorInnen theologische Arbeiten dazu vorgelegt, die eine mehr oder weniger ausführlich dargestellte historische Einordnung enthalten.

2.3.1 Ausdruckstanz Die Autoren des 18. Jahrhunderts hatten die Tanzpraktiken der mittelalterlichen Kirche als Exzesse einer als „Gotik“ bezeichneten Epoche gebrandmarkt. Im religiösen Leben ihrer Zeit spielte der Tanz hingegen so gut wie keine Rolle mehr. Mit der Aufklärung verbreitete sich die schon in der Reformation angelegte Vorstellung, Gottes Wirken geistig – und das bedeutet gleichzeitig nicht-körperlich – mit dem Verstand zu fassen. Sollte sich die tanzabstinente Haltung der Kirche irgendwann doch durchgesetzt haben, dann sollte man annehmen, dass es im 19. Jahrhundert gelang, gilt doch das „Viktorianische Zeitalter“ als Inbegriff der Unterdrückung aller Formen von Freude und körperlicher Expressivität. Die Romantikbegeisterung des frühen 19. Jahrhunderts, die vielfach auf das Mittelalter Bezug nahm, sparte den Tanz im Kirchenraum zumindest weitgehend aus. Auch in der entstehenden Geschichtswissenschaft bestand im Verlauf des 19. Jahrhunderts wenig Interesse am Verhältnis von Kirche und Tanz. Zwar waren die Forscher im deutschsprachigen Raum dem Mittelalter gegenüber mehr als aufgeschlossen, sahen sie doch in den mittelalterlichen Kaisern und dem Heiligen Römischen Reich wichtige Vorbilder für einen noch zu schaffenden bzw. nach 1871 nach Expansion strebenden Nationalstaat. Ihr zentraler Fokus lag aber eindeutig auf einer personen- und staatszentrierten nationalen Politikgeschichte.394 Die ersten Bemühungen in Richtung einer historischen Kulturwissenschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzten zwar andere Akzente, die Beschäftigung mit dem Tanz im kirchlichen Kontext gehörte aber auch dort nicht dazu.395 In Frankreich setzte im 19. Jahrhundert gleichfalls ein Mittelalterboom in der nationalen Geschichtsschreibung ein. Neben der Hinwendung zur höfischen Dichtung und ritterlichen Idealen des Hochmittelalters, welche die Kirche weit393 Sie trägt den Titel: Les danses religieuses dans le christianisme. 394 Vgl. Schieffer 2005, S. 48 ff. 395 Zu der Entstehung der historischen Kulturwissenschaften um 1900 vgl. Oexle 1996, S. 14–41.

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gehend ausblendete, gab es auch Arbeiten, die sich für Rituale im Umfeld der Kirche, man denke etwa an Michelets „La sorcière“396, interessierten. Allerdings wurde hierbei die mittelalterliche Kirche als verbietende und das „vitale“ Leben des „Volkes“ regulierende Instanz entworfen, von deren Vertretern man als Letztes Tanzpraktiken erwartet hätte. Die katholische Kirche, die in Deutschland ab 1870 im so genannten „Kulturkampf “ steckte, während in Frankreich zur selben Zeit ebenfalls die Debatte um den Laizismus entbrannt war, hatte ebenfalls andere Themen auf der Tagesordnung bzw. wenig Elan, ein in ihren Augen unrühmliches Kapitel ihrer Geschichte aufzudecken. Die theologischen Standardwerke des frühen 20. Jahrhunderts spiegeln dann auch die Unvereinbarkeit von Tanz und Kirche wider. Das katholische „Dictionnaire de Théologie Catholique“ liefert zwar einen sehr umfangreichen Artikel über Tanz, blendet aber die kirchlichen Tanzpraktiken in der eigenen Geschichte aus. Für Kleriker sei Tanz seit der Antike verboten, was gemäß dem Corpus Iuris Canonici und dem Konzil von Trient im Mittelalter bzw. zu Beginn der Frühen Neuzeit bestätigt worden sei. Lediglich für Ordensfrauen in den kolonialen Missionsgebieten, „dans les paroisses moins chrétiennes“397, wo Tänze verbreitet seien, könne eine Ausnahme erlaubt werden, falls durch ein zu striktes Tanzverbot ein Großteil der jungen Ordensschwestern Gefahr laufe, ihren Orden wieder zu verlassen.398 Erst in dieser Unvereinbarkeit von Tanz und Glauben während des 19. Jahrhunderts können Heinrich Heines Verweis auf antike Religiosität „Tanzen war ein Gottesdienst, war ein Beten mit den Beinen“399 oder Nietzsches viel zitiertes Zitat „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“400 ihre volle Subversion entfalten. Dass Tanz in Nietzsches Schriften von der „Geburt der Tragödie“ bis zum „Zarathustra“ eine wichtige Rolle spielt, ist in der Forschung bisher wenig rezipiert worden.401 Wie Kimerer LaMothe gezeigt hat, taucht der Tanz vor allem an den Stellen in den Werken auf, wo Nietzsche zu christlichen Moralauffassungen seiner Zeit Stellung bezieht. Im Gegensatz zu vielen aktuellen Nietzsche-Lektüren, die vor allem durch Heideggers Interpretation geprägt sind, haben einige TänzerInnen des frühen 20. Jahrhunderts sein Werk als eine Philosophie des Tanzes gedeutet.402 396 Michelet 1862. 397 Ortolan 1909, Sp. 132. 398 Vgl. ebd., Sp. 131 f. Diese Toleranz hängt wohl auch mit den Vorstellungen von einer natürlichen Tanzaffinität von indigenen Frauen in den Köpfen der weißen männlichen Missionare zusammen. 399 Heine 1845, S. 35. 400 Nietzsche o.J., S. 36. 401 Eine Auflistung der Stellen findet sich bei Röller/Zur Lippe 2001, S. 13–19. 402 Vgl. LaMothe 2006, S. 2–7.

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Um die Jahrhundertwende ging der Impuls für die Beschäftigung mit Tanz und Christentum nämlich zunächst von künstlerischer Seite aus. Dem neuen Interesse für Gottglauben, Mystik und Religiosität folgend403 waren es die Künstlerinnen und Künstler des Expressionismus, die sich in ihren Werken und Performances mit religiösen und spirituellen Themen auseinandersetzten, wobei das Augenmerk zunächst auf die so genannte „Primitive Kunst“ gerichtet wurde. Bald wurden aber auch die Antike und biblische Beispiele von den KünstlerInnen entdeckt, auf Leinwänden und als Skulpturen verewigt oder als Tanzrevue auf die Bühne gebracht.404 Die berühmten Ausdruckstänzerinnen des frühen 20.  Jahrhunderts, Isadora Duncan, Ruth St. Denis, Martha Graham oder Mary Wigman, sie alle trieb die Entwicklung neuer Tanzformen jenseits des Balletts an und sie alle verstanden dieses Vorhaben als Suche nach einer neuen Form von Religiosität. Die US-amerikanische Tänzerin Isadora Duncan (1877–1927) ließ sich dabei neben den Schriften Nietzsches zunächst von der klassischen Antike inspirieren. Sie wandte sich als eine der ersten Tänzerinnen von den ästhetischen Idealen und Trainingsformen des Balletts ab und entwickelte neue Formen des Ausdruckstanzes. 1904 gründete sie zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth eine Schule in Berlin-Grunewald mit Schwerpunkten auf Gymnastik und tänzerischer Ausbildung, die 1909 nach Darmstadt übersiedelte. Die zahlreichen Darbietungen, die sie zusammen mit ihren Schülerinnen auf Tourneen absolvierte, ließen sie rasch bekannt werden. Die Neuartigkeit ihrer Tanzweise ließ schon zeitgenössischen Stimmen, wie dem Schriftsteller Hans Brandenburg in seinem Werk „Der moderne Tanz“ von 1913, Isadora Duncan als Begründerin des Modernen Tanzes erscheinen.405 Ihre improvisierten Tanzformen verstand sie in Anlehnung an Nietzsche als eine Kritik an der christlichen Körperfeindlichkeit ihrer Zeit und sie begriff ihre Tanzkunst als eine Form, die christliche Religion zu überwinden, um eine Renaissance der Religion einzuleiten.406 Eine Suche nach spiritueller Erfahrung trieb zur selben Zeit auch die amerikanische Tänzerin und Choreographin Ruth St. Denis (1879–1968) um. Die Tochter einer methodistischen Farmerfamilie aus New Jersey betrieb dabei einerseits Lektüren über den Buddhismus, besuchte aber ebenso katholische Gottesdienste und übte sich in Yoga, um daraus neue Tanzformen zu entwickeln.407 Ihr Mann Ted Shawn beschrieb seine Hinwendung zum Tanz ebenfalls als durch religiöse Motive begründet: „I was a student of theology who became a dancer … 403 404 405 406 407

Vgl. Angenendt 2001, S. 28. Dazu ausführlicher: Macel 2011. Vgl. Fleischle-Braun 2001, S. 35–40. Vgl. LaMothe 2006, S. x. Dazu: Fischer 2009, S. 204–213.

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I did not abandon religion for dancing, but I sought it in the dance.“408 Die von ihnen gemeinsam gegründete Tanzschule und ihre Tanzgruppe „Denishawn“ war zwischen 1915 und 1931 in den USA sehr erfolgreich. Neben der tänzerischen Ausbildung achtete insbesondere Ruth St. Denis auch darauf, den SchülerInnen spirituelle und philosophische Texte näherzubringen. Somit kam auch ihre Schülerin Martha Graham als Mitglied der Gruppe „Denishawn“ mit der neuen Tanzsprache und der Philosophie von Nietzsche in Kontakt. In einem ihrer ersten Interviews erklärt sie: „I owe all that I am to Nietzsche and Schopenhauer.“409 Als spätere Solokünstlerin sah sie Tanzkunst als Form einer religiösen Erneuerung an, die durch ihren körperlichen Akt dazu beitragen sollte, die in der damaligen Zeit in den USA verwurzelte christliche Feindlichkeit gegenüber dem Körper, insbesondere dem weiblichen Körper, zu überwinden. In ihren Stücken nahm sie immer wieder Bezug auf biblische Themen und tanzte vor allem weibliche Protagonistinnen aus der Heiligen Schrift, wie Judith, Eva, Maria Magdalena und die Gottesmutter Maria.410 Ihr Stil und ihre Sprache beim Unterrichten von Tanz ähnelten einer Predigt und sie beschrieb ihre TänzerInnen, denen sie ebenso eine Nietzsche-Lektüre verordnete, als „athletes of God“.411. Im Deutschland der 20er Jahre fand der Ausdruckstanz besonders über die Schülerin des Choreographen Rudolf von Laban (1879–1968), Mary Wigman (1886–1973), Verbreitung.412 Wigman hatte in Dresden nach der Trennung von Laban seit 1920 eine eigene Tanzschule und führte in dieser bedeutenden Stadt des Expressionismus zur Weimarer Zeit zahlreiche Darbietungen mit ihren SchülerInnen auf. Sie wählte für ihre Aufführungen Themen wie „Die Nonne“, „Der Tänzer unserer lieben Frau“, „Der Tempeltanz“, aber auch „Der Totentanz“ und sah ihre Tanzperformances als Hingabe an die Göttlichkeit. Über diese Art zu Tanzen schrieb sie: „Feierlich tanzen heißt: Tempeldienst tun, heißt: ein Amt im Dienst einer übergeordnet anerkannten Idee erfüllen […], heißt das Irdische – zeitlich Gebundene – in uns dem Göttlichen – überzeitlichen – in uns zu vermählen.“413 Als der evangelische Theologe Paul Tillich 1925 eine Professur für Religionswissenschaften in Dresden übernahm, war er von den Tanzdarbietungen der Wigman-Schule so begeistert, dass er selbst Tanzunterricht bei ihr nahm: „Mary 408 409 410 411 412

Zitiert nach: Davies 1984, S. 77. Stodelle 1984, S. 38, zitiert nach: LaMothe 2006, S. 8. Vgl. LaMothe 2006, S. 8. Ebd., S. x. Auch wenn es für diese Arbeit keine weitere Relevanz besitzt, soll Wigmans und Labans künstlerisches Engagement für den Nationalsozialismus in den 1930er Jahren nicht verschwiegen werden. Siehe dazu: Karina/Kant 1996. 413 Schwan 2009, S. 218.

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Wigman selbst gab uns in unserer Diele Gymnastikunterricht, wobei Paulus sich weigerte, sich vornüber zu beugen. Er behauptete es schade seinem Kopf “414, schreibt seine Frau Hannah Tillich rückblickend in ihrer Biographie Anfang der 1990er Jahre. In seinen theologischen Arbeiten verschweigt Tillich nicht, dass die expressionistische Malerei und der neue Ausdruckstanz sein Verständnis von Religion stark beeinflussten.415 Nicht nur der Theologe Tillich war von den neuen Tanzformen inspiriert, auch zahlreiche andere Theologen und Philosophen nahmen in den folgenden Jahren immer wieder Bezug auf die neue Form des Ausdruckstanzes. Der Soester Pfarrer und Leiter der „Beratungsstelle für kirchliche Kunst in Essen“ Paul Girkon (1889–1967) diskutierte in seinem Aufsatz „Tanz und Liturgie“ 1927 ebenso die Einflüsse des Ausdruckstanzes im Speziellen und des Expressionismus im Allgemeinen auf die kirchliche Kunst. Obwohl die christlichen Kirchen den kultischen Tanz bisher abgelehnt hätten und ablehnen würden, sah er seit Beginn der 20er Jahre diese deutliche Kritik aufweichen, da sich einzelne Kirchen neuen Kunstformen öffnen würden. „Die große Woge religiös-mystischen Gefühls“416, die im Ausdruckstanz angelegt sei, sieht er als Chance, Tanz zumindest in den evangelischen Kirchen zu integrieren.417 Es ist schon erstaunlich, wie die von Nietzsche im Zarathustra geäußerte Kritik an der christlichen Moral kaum 40 Jahre später über die von ihm inspirierten Bühnentänzerinnen wiederum dankbar von christlichen Theologen und Religionswissenschaftlern aufgenommen wurde. Eine der davon angeregten, fruchtbarsten Reflexionen lieferte der sogenannte „Eranoskreis“.

2.3.2 Eranoskreis Die Villa „Casa Gabriela“ am Ufer des Lago Maggiore im schweizerischen Ascona diente seit 1933 als Ort der von Olga Fröbe-Kapteyn (1881–1962) organisierten Eranostagungen. Die studierte Kunsthistorikerin hatte sich seit den 20er Jahren mit Theosophie sowie indischer Philosophie und Meditation befasst und unterhielt bereits Kontakte zu spirituellen und wissenschaftlichen Kreisen in Europa und Amerika. Vor allem die Verbindungen zum Psychologen Carl Gustav Jung und die Organisation der Darmstädter „Schule der Weisheit“ veranlassten 414 Tillich, Hannah, Ich allein bin. Mein Leben, Gütersloh 1993, S. 126, zitiert nach: Schwan 2009, S. 214. 415 Vgl. Schwan 2009. S. 214. 416 Girkon 1927, S. 23. 417 Siehe auch Girkons Arbeiten zum Verhältnis von Kunst und Religion in: Gaffron, Hans-Georg, Bibliographie Paul Girkon, 2010, http://www.evangelisch-am-hellweg.de/ fileadmin/download/texte/bibliographie-paul-girkon.pdf [Eingesehen am 30.09.2015].

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sie, in ihrer Villa in Ascona die Eranostagungen ins Leben zu rufen.418 In der Nähe von Ascona wurde bereits seit etwa 1910 auf dem Berg Monte Verità, jenem „berühmten Sammelpunkt lebensreformerischer, politischer und religiöser Utopisten und Revolutionäre, Aussteiger und Bohémiens“419, über spirituelle und wissenschaftliche Themen diskutiert, künstlerische Grenzgänge gewagt und mit neuen Gesellschaftsformen experimentiert. Auch der Tanzpädagoge Rudolf von Laban hatte auf dem Berg mit seiner Schülerin Mary Wigmann zwischen 1913 und 1919 unterrichtet.420 An den ab 1933 von Fröbe-Kapteyn organisierten jährlichen Tagungen nahmen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen teil, um acht Tage lang über philosophische, religiöse und spirituelle Themen zu diskutieren. Die Vorträge wurden anschließend in den Eranos-Jahrbüchern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vor allem die Verbindung von indischen und chinesischen Meditationen und Philosophien mit antiker und christlicher Mystik kennzeichnete die Themenwahl in den Anfangsjahren. Mit dem Interesse an Meditationstechniken wie Yoga sowie spirituellen und körperlichen Ausdrucksweisen von Religiosität scheint auch eine Beschäftigung mit körperlichen Glaubensformen im Christentum und damit die Frage nach dem Verhältnis von Tanz und Christentum aufgekommen zu sein. Mit den Möglichkeiten eines sakralen Tanzes befassten sich während der Tagungen die oben erwähnten Havelock Ellis, Gerardus van der Leeuw und Hugo Rahner.421 Weitere Arbeiten von Theodorus van Baaren und Eduard Schulz,422 dessen Lehrer Friedrich Heiler ebenfalls den Tagungen beiwohnte, zu Tanz und Christentum sind deutlich davon beeinflusst. Diese unter der Bezeichnung „Eranoskreis“423 versammelten Arbeiten sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. 418 419 420 421

Vgl. Reibnitz 2000, S. 426 ff. Ebd., S. 426. Vgl. Fleischle-Braun 2001, S. 61. Auch der Schweizer Psychologe Max Pulver legte im Eranos-Jahrbuch von 1942 einen Aufsatz zu der Thematik unter dem Titel „Jesu Reigen und Kreuzigung nach den Johannesakten“ vor. 422 Auf Schulz’ 1940 eingereichte und nicht veröffentlichte Dissertation wird im Folgenden nicht eingegangen. 423 Eine ausführlichere Einordnung der Eranostagungen in den politischen und religiösen Kontext und die Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts sowie ihrer Verbindungen zum Dadaismus oder den Rosenkreuzlern kann ich leider nicht vornehmen, sie wäre verständlicherweise dringend notwendig. Einen ersten Überblick bieten zumindest Reibnitz 2000, S. 425–440, Barone 2004, auf allgemeinerer Ebene: Kerbs/ Reulecke 1998. Kritik von Kolleginnen und Kollegen aus der Neuzeit wäre (nicht nur an dieser Stelle) willkommen.

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Obwohl er selbst nicht mehr an den Eranostagungen teilnehmen konnte, muss zunächst noch auf zwei Aufsätze von George R.  S. Mead (1863–1933) verwiesen werden, der sich schon einige Jahre zuvor mit ähnlichen Fragen beschäftigt hatte und die späteren Diskussionen geprägt hat. Mead war lange Zeit ein führendes Mitglied in der von Helena Blavatsky gegründeten „Theosophical Society“, bevor er sich 1909 von der Gesellschaft abwandte und mit der „Quest Society“ eine eigene Organisation gründete. Er beschäftigte sich sehr intensiv mit den religiösen und philosophischen Strömungen im Hellenismus und der Verbindung von vorderasiatischen Mysterienkulten und griechischer Philosophie.424 Seine Arbeiten inspirierten vor allem den Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung, wurden aber auch – wie noch deutlich werden wird – von anderen Teilnehmern der Eranostagungen rezipiert. Meads besonderes Interesse an den GnostikerInnen, von deren Texten er eine Vielzahl edierte und übersetzte,425 ließ ihn auf die Johannesakten426 stoßen. Ausgehend von diesem apokryphen Text, in dem die Idee eines himmlischen Tanzes transportiert wird, befasste sich Mead auch mit religiösen Tanzpraktiken des christlichen Mittelalters. Seine beiden Aufsätze „Ceremonial Game-Playing and Dancing in Medieval Churches“ (1912) und „Dancers und Banquets in Medieval Churches“ (1913) wurden zusammen mit einem weiteren Aufsatz 1926 als Buch „The Sacred Dance in Christendom“ nachgedruckt.427 Havelock Ellis (1869–1939), ein britischer Soziologe und Sexualforscher, befasste sich innerhalb seines umfangreichen Werkes auch mit Überlegungen zum Tanz. Er veröffentlichte 1923 unter dem Titel „The Dance of Life“428 eine Studie über die Lebenskunst, bei der er Religion, Kunst und Wissenschaft als „drei Ausdrucksformen desselben tiefen Triebes“429 betrachtet. Eine Trennung 424 Vgl. Goodrick-Clarke 2005, S. 1–32. 425 Vgl. Barone 2004, S. 25–28, 251. 426 Eine gnostisch-christliche Schrift aus dem 3. Jahrhundert nach Christus, die das letzte Abendmahl als Reigen von Christus und seinen Aposteln beschreibt, vgl. dazu: Pulver 1942, S. 141–178, Rohmann 2013, S. 456–464. 427 Das Werk ist in keiner öffentlichen Bibliothek in Deutschland nachgewiesen und ist leider auch per Fernleihe nicht erhältlich. In der British Library gilt es als vermisst. Die schwere Erhältlichkeit seines Werkes wie auch die Skepsis bezüglich seines theosophischen Hintergrunds haben dazu geführt, dass Meads Arbeiten in der jüngeren deutschen Forschung bisher kaum rezipiert worden sind. Ich bin deshalb Dr. Robert Gilbert, dem Herausgeber des „Christian Parapsychologist“ zu großem Dank verpflichtet, der mir die Kopien der Aufsätze hat zukommen lassen. 428 Die deutsche Übersetzung, auf die ich mich im Folgenden beziehe, erschien 1928 in Leipzig unter dem Titel „Der Tanz des Lebens“. 429 Ellis 1928, S. 7.

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dieser Trias, so seine grundlegende These, sei erst in Folge der christlich-europäischen Moderne entstanden. Ellis stützt sich bei seinen Untersuchungen auf anthropologische und ethnologische Forschungen aus dem kolonialen Kontext430 des späten 19. und frühen 20.  Jahrhunderts, aus denen er das Volk der Lifu-Insulaner431 als Beispiel auswählt, dessen Kultur in erster Linie auf künstlerischen Ausdrucksformen wie Musik, Gesang und Tanz basiere. Ihr Sinn für die Künste und die Ästhetik spiegele sich in allen Verhaltensformen wider, die Havelock als vorbildhaft und nachahmenswert für europäische Kulturen preist und deren Verlust er bedauert: „Diese ganze lifuanische Lebenskunst ist jedoch durch das Christentum mit seinen üblichen Begleiterscheinungen untergraben worden.“432 Ebenso beschreibt er die Bevölkerung Chinas als Beispiel für eine anerkannte Hochkultur als spielfreudig und musisch begabt. Aus der Vorliebe für Zeremonien, Kunst und Philosophie als höchste Form des Spiels habe sich in China ebenfalls eine Lebenskunst entwickeln können. Auf der Suche nach dieser Lebenskunst beschäftigt sich Havelock Ellis mit der „Kunst, die am deutlichsten aus dem Stoff des Lebens besteht und so am treuesten und klarsten die verschiedenen Arten des Lebens in schöne Formen übersetzen kann“433 – der Tanzkunst. Ellis verknüpft darin die schon aus den Tanztraktaten des 16. Jahrhunderts bekannte Entwicklungslinie des Tanzes von Ägypten über Griechenland nach Rom bis ins frühe Christentum als antike Beispiele mit Berichten von Ethnologen über den religiösen Charakter von Tänzen außerhalb Europas. In allen Beispielen sieht er den Tanz als Inbegriff der von ihm postulierten Lebenskunst und als Grundlage von Religion an: „Alle Religionen, nicht nur die primitiven, sind ursprünglich in irgendeinem Grad Tanz gewesen, manchmal sogar ihrem ganzen Wesen nach.“434 In Folge dessen vergleicht er Tanzpraktiken der indigenen Bevölkerungen Nord- und Mittelamerikas aus dem 18. Jahrhundert mit Berichten von Anthropologen über Tänze im Australien des 19. Jahrhunderts, mit türkischen Derwischtänzen des 20.  Jahrhunderts und alttestamentlichen Tänzen, da sie alle einem religiösen Ursprung entstammen würden. Inwiefern bringt Ellis nun Tanzformen aus dem christlichen Westeuropa in diesen Kontext ein?

430 Die unter anderem auf Stereotypen wie Kannibalismus rekurrieren, zur postkolonialen Kritik an diesen Vorstellungen vgl. Smith 2008, S. 1–5, 19–30. 431 Bestandteil des heutigen französischen Kollektivs sui generis „Nouvelle Calédonie“. 432 Ellis 1928, S. 15. 433 Ebd., S. 29. 434 Ebd., S. 33.

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Für das zweite und dritte nachchristliche Jahrhundert verweist er auf die gnostischen Johannesakten, die er als „Jesushymne“ und „heiligen Tanz“435 beschreibt. Weitere positive Belegstellen für den Tanz bei den Kirchenvätern entnimmt er den oben erwähnten Aufsätzen von Mead. Für die europäische Vormoderne stellt er diesbezüglich fest: „Bis vor wenigen Jahrhunderten war es nichts Ungewöhnliches gewesen, daß in den Kirchen getanzt wurde, und selbst jetzt hat sich in entlegenen Winkeln der christlichen Welt dieser Brauch noch erhalten. In englischen Kathedralen ist noch bis ins vierzehnte Jahrhundert hinein getanzt worden. In Paris, in Limoges und in anderen französischen Städten tanzten zu Ostern die Priester im Chor bis ins siebzehnte Jahrhundert […]“436. Anschließend bringt Ellis weitere Beispiele aus Südfrankreich und Spanien, wo sich religiöse Tänze wie in Sevilla noch deutlich länger gehalten hätten. Die deutliche Kritik am Tanz erwächst nach Meinung des Autors daraus, dass der Tanz seit Anbeginn der Menschheit eine erotische Funktion als Werbetanz entwickelt habe. Eine Verdrängung des Tanzes aus der europäischen christlichen Kultur sieht er mit dem Protestantismus437 seit dem 16. Jahrhundert aufkommen, der in den letzten 400  Jahren die schon in der Antike bekannte Tanzkritik verstärkt habe. „In unserer modernen Welt“, schreibt der britische Sexualforscher, „hat sich der berufsmäßige Tanz, der Tanz als Kunst, von der Religion vollkommen losgelöst und sogar im biologischen Sinn auch von der Liebe.“438 Diese Abkehr vom vitalen Tanz als tiefste Form der von Ellis angestrebten Lebenskunst wird vom Autor scharf kritisiert. Allerdings schöpft er durch neue Formen des Tanzes, wie sie von Isadora Duncan und Ruth St. Denis praktiziert würden, Hoffnung, den Tanz „als das Leben selbst“439 zu begreifen. Insbesondere mit Ruth St. Denis, die Ellis’ literarische Arbeiten bewunderte, diskutierte der passionierte Tänzer über die philosophischen Dimensionen des Tanzes.440 Eine ähnliche Aufwertung von Tanz, wie Havelock Ellis sie anstrebte, unternahm einige Jahre später auch der niederländische reformierte Theologe Gerardus van der Leeuw (1890–1950), dessen Ideen später von seinem Schüler Theodorus van Baaren (1912–1989) weiter ausgearbeitet wurden. Beide studierten Ägyptologie und Religionswissenschaft, die sich erst zu Beginn des 435 Ebd., S. 35. 436 Ebd., S. 36. 437 Ellis spricht auf Seite 54 von „… jenem Geist […], der in England Puritanismus heißt, und der sich dann über den größeren Teil von Europa, in Böhmen ebenso lebendig wie in England ausgebreitet hat.“ 438 Ellis 1928, S. 43. 439 Ebd., S. 55. 440 Vgl. Grosskurth 1985, S. 316 f.

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20. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin entwickelt hatte und theologische Fragestellungen um soziologische und anthropologische Ansätze erweiterte.441 Van Baaren folgte van der Leeuw nach dessen Tod auf den Lehrstuhl für Religionsgeschichte in Groningen. In seinen beiden Büchern „In dem Himmel ist ein Tanz …“442 und „Vom Heiligen in der Kunst“443 unternimmt Gerardus van der Leeuw eine Betrachtung des Verhältnisses von Religion und den Künsten, wobei er sich nicht auf den Tanz beschränkt, ihn jedoch ebenfalls als die ursprüngliche Kunstform ansieht. Seine historische Beobachtung beginnt van der Leeuw in der Frühzeit, in der Kunst und Religion noch eine Einheit gebildet hätten: „Der primitive Mensch betet und tanzt zu gleicher Zeit.“444 Im Laufe der Zeit habe sich diese Verbindung voneinander zu lösen begonnen, bis sich Kunst und Religion in der Moderne schließlich vollständig voneinander losgelöst hätten. Lediglich in einigen Momenten würden es Tanz und Religion auch in der Moderne schaffen, diese Differenzierung aufzuheben. Eben diese kurzen Begegnungen versucht Gerardus van der Leeuw in seinen Arbeiten aufzuzeigen.445 Sein Anliegen ist es, die vorherige Einheit, die mit der Moderne verloren gegangen sei, wiederherzustellen. Anstatt also Tanz in Bühnentanz und Ball, in Sport und Vergnügen zu trennen und jedem einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Art zuzuweisen, fordert er die Rückkehr zu einem noch nicht differenzierten Tanz: „Wir haben Tanz- und Konzertsäle und Kirchen und mancherlei Räume gebaut; aber es fehlen uns mit den Kathedralen die Orte, wo Jeder tanzt, singt und musiziert.“446 Allerdings bleiben seine Beispiele aus der Zeit der Kathedralen weitestgehend auf bekannte Beispiele von Totentanz, Tanzwut und dem Tanz der Chorknaben in Sevilla beschränkt, vereinzelt zitiert er jedoch aus spätmittelalterlichen Traktaten. Sein Schwerpunkt liegt, was bei seinem wissenschaftlichen Werdegang wenig verwunderlich ist, 441 LaMothe 2004, S. 109–116. 442 Leeuw, Gerardus van der, „In dem Himmel ist ein Tanz …“ Über die religiöse Bedeutung des Tanzes und des Festzuges, München 1931. Originalausgabe: „In den hemel is eenen dans …“ Over de religoeuze beteekenis van dans en optocht, Amsterdam 1930. 443 Leeuw, Gerardus van der, Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957, ist die deutsche Übersetzung der dritten Auflage von 1955 des Originals „Wegen en Grenzen“. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich die zweite und dritte Auflage des niederländischen Originals deutlich von einander unterscheiden, da nach van der Leeuws Tod 1950 eine Neuordnung des Textes stattfand. Die dritte Auflage verzichtet zudem ebenso wie die deutsche Übersetzung auf die Illustrationen. Siehe dazu: Hubbeling 1983, S. 2–4. 444 Leeuw 1931, S. 7. 445 Vgl. Hubbeling 1983, S. 3. 446 Leeuw 1931, S. 6.

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auf Ägypten und der griechischen und römischen Antike. Dabei liefert er interessante Hinweise zum antiken Theseusmythos und zu Tänzen in Labyrinthen, ohne allerdings den Tanz in Auxerre zu erwähnen.447 Van der Leeuw konstatiert, dass seit der Spätantike im Christentum eine ablehnende Haltung gegenüber dem Tanz dominiere, da der Tanz häufig Bestandteil von Theaterdarbietungen gewesen und dadurch als heidnisches Relikt bekämpft worden sei. Er kontextualisiert die spätantiken und mittelalterlichen Tanzverbote insofern, dass er ihre Verbindung mit Verboten von Theater und Glücksspiel sieht. Prozessionen als „eine Art erstarrte[r] Tanz“448 hätten sich dagegen in katholischen und orthodoxen Ländern wie Italien und Griechenland noch bis zu seiner Zeit halten können. Die protestantischen Kirchen hätten dagegen religiöse Formen von Tanz gänzlich verbannt und für die Haltung der reformierten Kirche in den Niederlanden der damaligen Zeit muss er eingestehen: „… die Idee eines religiösen Tanzes ist daher in der protestantischen Kirche unmöglich.“449 Trotz dieser ablehnenden Haltung bestehe durch den Modernen Ausdruckstanz die Hoffnung, die verlorene Einheit von Tanz und Religion wiederzuerlangen: „In diesem Zusammenhang nenne ich mit Ehrfurcht den Namen derjenigen, die uns zum ersten Mal die Herrlichkeit des Tanzes wieder offenbart hat: Isadora Duncan. Wohl hat sie schon manche ausgezeichneten Nachahmer gehabt, aber sie hat den Anfang gemacht. Und nur dann, wenn der Tanz wieder als eine Kunst anerkannt wird, wenn die ihm innewohnende Möglichkeit des universellen Ausdrucks durch schöne Beispiele wieder deutlich gemacht geworden ist, erst dann wird er auch wieder das Heilige zum Ausdruck bringen können.“450 Nach Leeuws Tod wurde Theodorus van Baaren 1952 sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl „Phänomenologie der Religion“ an der Universität Groningen. Auch ihm ging es in seinem Werk „Selbst die Götter tanzen“451 um die Frage nach der Vereinbarkeit von Tanz und Religion in einer historischen Betrachtung. Van Baaren fordert ebenso wie sein Vorgänger, die bisherige Ablehnung aufzugeben und Tanz als Ausdruck von Religiosität anzuerkennen: „Kunst und Religion sind zwei Formen, in denen der Mensch auf das, was er als außermenschlich und übermenschlich erlebt, antwortet und sich damit auseinandersetzt. Darum gehören Religion und Tanz so eng zusammen. […] Der Tanz kann allem Aus447 448 449 450 451

Vgl. ebd., S. 18–24, vgl. dazu. Kap. 5.1.3. Ebd., S. 30. Ebd., S. 32. Ebd., S. 58. Van Baaren, Theodorus, Selbst die Götter tanzen. Sinn und Form des Tanzes in Kultur und Religion, Gütersloh 1964. Originalausgabe: Dans en Religie, Zeist 1962.

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druck geben, was den Menschen bewegt, auch seinen religiösen Empfindungen, und der große Feind des Tanzes ist nicht die Religion, sondern eine puritanisch verarmte Art von Moral, die den Leib und seine Freuden ausschließlich als Instrumente und Äußerungen der Sünde betrachtet  [...]“452. Allerdings würden zu seiner Zeit nur wenige diese Auffassung teilen, da viele Menschen den Tanz weiterhin als Sünde wahrnähmen. Dieses negative Bild hängt laut van Baaren mit der Bekämpfung des Tanzes in Folge der Christianisierung zusammen. Die „abendländische Kultur nimmt eine Ausnahmestellung ein. Anderwärts sehen wir Tanz und Religion immer wieder Hand in Hand.“453 Für meine Arbeit ist vor allem das zweite Kapitel aus van Baarens Buch interessant, das unter dem Titel „Tanz und Religion“ auch ausführlicher auf die europäische Vormoderne eingeht. Wie im Literaturverzeichnis zu erkennen ist, hat der Autor mit Chambers, Mead, Gougaud und Backman die wesentlichen Arbeiten zum Verhältnis von Tanz und Religion gelesen und argumentiert auf dem damaligen Stand der Forschung. Allerdings beschränkt er sich wie seine Vorgänger darauf, in weiten Teilen des Werkes vor allem kurz kommentierte Zitate aneinanderzureihen. Van Baaren sieht die Christianisierung Westeuropas in der Spätantike und die Folgen der Reformation im 16.  und 17.  Jahrhundert als zwei bedeutsame Einschnitte innerhalb der religiösen Tanzgeschichte an. Im Mittelalter dagegen habe sich noch etwas vom Zusammenhang von Religion und Tanz bewahrt, wie van Baaren am Beispiel von Auxerre ausführt: „In der Kathedrale von Auxerre fand im Mittelalter am Tag des Heiligen Stephanus ein Ballspiel statt, Pelota, dessen Regeln in einem Dekret vom Jahre 1396 erhalten sind. Die Priester bildeten eine Reihe, der Dekan an der Spitze. Zur Musik der Osterhymne ‚Victimae paschali laudes‘ tanzte man in einem Dreischritt, Tripudium, um das Labyrinth …“454. Abgesehen von einigen Fehlern in der Beschreibung – das Dekret stammt aus dem 16. Jahrhundert, getanzt wird an Ostern, nicht an St. Stephan und nur der Dekan tanzt ein tripudium, die Kanoniker eine chorea – kann van Baaren zusammen mit anderen Quellen aufzeigen, dass Tänze im kirchlichen Kontext des Mittelalters stattfanden. Mit Hochzeiten, dem Osterfeiertag, der Profess von Mönchen und Nonnen oder der ersten Priesterweihe weist er Tanzpraktiken bei kirchlichen Festen nach und kann anhand der Mystik aufzeigen, dass unabhängig von der Tanzpraxis eine positive Vorstellung von Tanz exis-

452 Van Baaren 1964, S. 134. 453 Ebd., S. 31. 454 Ebd., S. 33 f.

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tierte.455 Im dritten Kapitel, „Formen des religiösen Tanzes“, kann er zudem die Verbindung von Tänzen mit neuplatonischen Vorstellungen vom harmonischen Tanz der Gestirne in der Spätantike oder zum Prozessionswesen herstellen.456 Auch seine Ausführungen zum Totentanz oder der Tanzwut – wenn auch nach dem heutigen Stand der Forschung teilweise überholt – argumentieren zunächst aus den Quellen heraus und halten sich mit Verallgemeinerungen weitestgehend zurück. Außerdem versucht der niederländische Theologe eine Klassifizierung religiöser Tänze für das Mittelalter vorzunehmen: „Wir finden im Mittelalter in der Kirche ernsthafte sakrale Tänze, daneben aber auch, gleichfalls ernstgemeinte, Parodien. Doch auch profane Tänze fanden in der nächsten Nähe der Kirche und des Gottesdienstes statt. All diese Tänze wurden offiziell energisch bekämpft und, bis auf eine Ausnahme, auch nach und nach ausgerottet […]“457. Indem van Baaren aufzeigt, dass sowohl profane, etwa von Spielleuten aufgeführte, Tänze im Umfeld der Kirchen stattgefunden hätten, als auch die häufig unter dem Begriff „Narrenfest“ subsumierten Tänze nicht in erster Linie ein Widerstand gegen den Klerus, sondern als „ernstgemeinte Parodien“ Bestandteil der mittelalterlichen Religiosität gewesen und vom Klerus gefördert worden seien, deutet er erste Herangehensweisen für eine Analyse dieser Tanzpraktiken an. Der Jesuit Hugo Rahner (1900–1968) widmete sich der Verbindung von Tanz und Religion innerhalb seiner Ausarbeitung zu einer spielerischen Liturgie, die einen stärkeren Anteil von Bewegungsdimensionen und dabei vor allem Tanz beinhalten sollte. Das 1952 erschienene Buch „Der Spielende Mensch“ fasst Rahners Ideen zu einer „Theologia ludens“ zusammen, in der Spiel in erster Linie als Tanz gedeutet wird: „Damit aber kommen wir in eine Gedankenwelt, von der hier, gleichsam als Abgesang unserer Theologia ludens, gesprochen werden soll. Alles Spiel ist irgendwo am Grunde seines Wesens ein Tanz, ein Reigen um die Wahrheit. Immer war das sakrale Spiel ein Tanzspiel.“458 Das Werk ist eine Weiterführung seines Vortrags auf der Eranostagung 1948, der 1949 im Eranos-Jahrbuch abgedruckt worden war. Rahners Buch erlebte bis heute insgesamt zwölf Auflagen und ist eines der meist zitierten Werke bei Studien über sakralen Tanz. Rahner setzt sich darin intensiv mit den antiken und zum Teil auch den mittelalterlichen Quellen auseinander, so dass historische Abrisse in späteren Ar455 456 457 458

Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 76–81. Ebd., S. 36. Rahner 1960, S. 59.

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beiten häufig auf seinen Erkenntnissen basieren. Profunde Kenntnisse darüber hatte der Jesuit als Professor für Kirchengeschichte im schweizerischen Sitten erworben, wo er von 1939 bis 1946 Vorlesungen über antike und mittelalterliche Kirchengeschichte, aber auch zur Kunstgeschichte des Hochmittelalters gehalten hatte, die er ab 1946 in Innsbruck fortsetzte. In der Schweiz nahm er seit 1940 regelmäßig an den Eranostagungen teil, die sich in den Jahren vor allem mit dem Verhältnis von Gnosis und Frühchristentum befassten.459 Seinem Werk sieht man diesen Einfluss mit Verweisen auf Carl Gustav Jung, Karl Kéreny oder Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ deutlich an. Auch in einem späteren Aufsatz von 1965 mit dem Titel „Vom Sinn des Tanzens“ kommt er noch einmal auf die Bedeutung von Tanz zurück. Hugo Rahner entwickelte dabei den Entwurf des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga (1872–1945) zum „Homo ludens“460 weiter zur Verbindung des spielenden Gottes mit dem spielenden Menschen in einer spielenden Kirche: „Weil Gott ein Deus vere ludens ist, muß der Mensch ein homo ludens sein.“461 Da Rahner Gott als spielendes Wesen versteht, das die Schöpfung spielerisch vollzogen habe, und er auch die Ewigkeit als Spiel und Tanz interpretiert, werden beide als positive Tätigkeiten gedeutet: „Spiel und Reigen sind darum, wo immer sie hienieden echt und ernst gelingen, eine Antizipation des Himmlischen, eine in Geste oder Ton oder Wortgefüge hineingeformte Vorwegnahme jener Harmonie zwischen Seele und Leib auf Gott hin, die wir Himmel nennen.“462 Dass er dabei nicht an Tanzpraktiken der Populärkulturen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz denkt, stellt er in seinem späteren Aufsatz heraus, in dem er derartige Tänze als „entseelte Formlosigkeit“ und als „Springübungen, die man noch Tanz nennt“463, geißelt. Dem gegenüber stellt er das geistvolle Tanzen, das „nur möglich aus der inneren Harmonie der Seele mit dem göttlichen Gesetz, mit dem schöpferischen Rhythmus des Heiligen Geistes“464 sei. Der katholische Theologe Gereon Vogler urteilt über Rahner: „Dennoch ging es da stets um ein himmlisches und gerade nicht um ein greifbares irdisches Tanzen. Vielleicht ließe sich das jedoch von den Kanonikern behaupten, die in einigen französischen Kathedralen des Mittelalters würdigen Schrittes in die Liturgie hineingetanzt sind.“465 459 460 461 462 463 464 465

Vgl. Neufeld 1994, S. 148 f., 196 ff. So der Titel seines gleichnamigen Buches von 1938. Rahner 1960, S. 26. Ebd., S. 12 f. Rahner 1965, S. 10. Ebd., S. 11. Vogler u.a. 1995, S. 10.

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Die Vorstellung von Tanz bei Rahner ist deutlich von der platonischen Idee einer harmonischen Kreisbewegung der Gestirne geprägt, deren Rezeption er in seinem ersten Kapitel bei heidnischen Neuplatonikern, aber auch bei einigen Kirchenvätern der Spätantike nachzeichnet.466 Diese bei den Kirchenvätern ausgeprägte Vorstellung eines göttlichen Spiels sieht Rahner in der christlichen Mystik des Mittelalters, etwa bei Mechthild von Magdeburg, fortgesetzt.467 Im vierten Kapitel, „Das himmlische Tanzspiel“, deutet Rahner nun jedes Spiel in erster Linie als Tanz, zumal seine spätantiken Quellen häufig von Spiel und Tanz sprechen. Er zeigt zunächst erneut die große Bedeutung des Sternenreigens in der antiken Philosophie bei Plotin, Philon oder Lukian von Samosata auf, um dann den Einfluss dieser „antiken Astralfrömmigkeit“468 bei Honorius Augustodunensis, einem mittelalterlichen Autor des 12. Jahrhunderts, nachzuweisen.469 Für das Mittelalter orientiert sich Rahner vor allem an Gougauds Aufsatz. Er stimmt ihm insofern zu, dass der Tanz nie offizieller Bestandteil der Liturgie gewesen sei, allerdings an zahlreichen Orten, etwa in Sevilla, Tänze im Kirchenraum stattgefunden hätten und sich, wie er in sehr bildhafter Sprache ausdrückt, „sakrale Tänze um den Kern der nüchtern strengen Liturgie gerankt haben“470. Während Rahner hierin eine mittelalterliche christliche Tradition sieht, zieht er bei den Tänzen der französischen Kathedralkapitel an Ostern eine Verbindung zu „altgermanische[n] Osterbräuche[n]“471, wobei er sich auf die Eranostagung von 1943 zur Thematik der Ostersonne und auf germanistische Literatur der NS-Zeit beruft.472 Abgesehen von diesen missglückten Deutungen stellt er die aus der Literatur des 18. Jahrhunderts überlieferten Quellen und ihre Kommentierung bei Gougaud zu den Tänzen in Auxerre und Besançon richtig dar. 466 467 468 469 470 471 472

Vgl. Rahner 1960, S. 15–27. Siehe auch Kap. 5.1. Siehe dazu Rahners drittes Kapitel „Die spielende Kirche“, Rahner 1960, S. 44–58. Ebd., S. 66. Vgl. dazu: Kap. 5.1.2, S. 279 ff. Rahner 1960, S. 70. Ebd., S. 73. Rahner verweist hier auf Robert Stumpfls „Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas“ von 1936. Der ein Jahr später tödlich verunglückte Stumpfl, 1904 in Wien geboren, war seit 1933 Mitglied der österreichischen NSDAP und Mitglied des Much-Kreises, zu dem auch Richard Wolfram gehörte, der sich 1934 mit einer Arbeit über die Tänze germanischer Männergruppierungen und ihr Nachwirken bis in Tanzpraktiken der Gegenwart habilitierte. Diese der NS-Ideologie nahestehenden Versuche, die liturgischen Dramen des Mittelalters auf germanische Vorläufer zurückzuführen, sind mittlerweile von der Forschung widerlegt worden. Zu Stumpfl: Kühlmann 2006, S. 364, Ash 2010, S. 205.

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Im selben Zeitraum, in dem bei den Eranostagungen über sakralen Tanz diskutiert wurde, beschäftigten sich auch in Frankreich die beiden Schwestern Renée und Josette Foatelli mit der Thematik. Im Gegensatz zu den theoretischen Überlegungen des Eranoskreises suchten die beiden Tänzerinnen in der Tanzpraxis die Verbindung zwischen Glauben und Tanz. Die französische Zeitung Ouest-Eclair berichtete am 13.  Januar  1937 über ihre bevorstehende Aufführung: „Le récital chorégraphique qu’elles organisent comprendra particulièrement des danses de leur nouvelle méthode, danse de caractère, danses sacrées – signalons en passant que les Foatelli qui se consacrent particulièrement aux oeuvres catholiques, ont récolte partout un accueil des plus enthousiastes.“473 Andere Zeitungsartikel berichteten ebenfalls vom Erfolg dieser Aufführungen, machten gleichzeitig auch auf die Neuartigkeit der tänzerischen Umsetzung von biblischen Themen aufmerksam. In den 50er Jahren gründeten die Schwestern Foatelli in Paris die École de danse religieuse, an der sie ihr Verständnis von religiösem Tanz in einer Mischung aus klassischem Ballett zu religiöser Musik und gregorianischen Gesängen weitergaben.474 Aus dieser Praxis ging 1939 eine theoretische Abhandlung hervor, die 1947 in einer erweiterten Fassung herausgeben wurde.475 Der Jesuit Alphonse de Parvillez (1891–1970) schrieb dazu im Vorwort der Ausgabe von 1947: „Il fallait l’enthousiasme d’une artiste pour se jeter ainsi dans la mêlée! Mettre en lumière la place et l’influence des danses religieuses dans le Christianisme, en montrer la légitimité et l’utilité, en favoriser le renouveau, c’était déclarer la guerre aux adversaires les plus tenaces: l’ignorance, le parti pris, le préjugé et la routine.“476 Renée Foatellis künstlerischer Enthusiasmus scheint sich durchaus auf ihre Recherchen übertragen zu haben, denn sie vereint in ihrer historischen Abhandlung von der Antike bis zur Gegenwart die wichtigsten Arbeiten des damaligen Forschungsstandes. Vor allem Gougauds Aufsatz von 1914 und die von der Schwedin Margit Sahlin 1940 in Uppsala auf Französisch veröffentlichte Dissertation „Étude sur la carole médiévale – L’origine du mot et ses rapports avec l’église“ dienten ihr als Referenz. Sahlin, die als eine der ersten Frauen in Schweden 1960 zur evangelischen Pfarrerin ordiniert wurde477, unternimmt darin den Versuch, das französische Wort carole von der Litanei Kyrie eleison herzuleiten 473 Ouest-Eclair vom 13. Januar 1937, http://ouestfrance.cd-script.fr/opdf/1937/01/13/29/ Finistere/1937-01-13_29_09.pdf [Eingesehen am 30.09.2015]. 474 Vgl. Marco 2000, S. 127. 475 Foatelli, Renée, Les danses religieuses dans le christianisme, Paris 1947. 476 Foatelli 1947, S. 11. 477 Zu Sahlins Leben vgl. Nordlander 2010.

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und somit gesungene und getanzte Prozessionen als Vorläufer für mittelalterliche Tanzpraktiken zu postulieren.478 Foatelli liefert in ihrem Buch eine Tanzgeschichte des Christentums von den Vorläufern im Alten Testament bis in das 20. Jahrhundert mit zusätzlichen Kapiteln zum Totentanz und Prozessionswesen. In ihrem vierten Kapitel „Danses d’Eglise au Moyen âge“, das den Zeitraum von 395 bis 1453 abdeckt, liefert sie eine präzise Darstellung der Quellen, versucht dabei möglichst die ältesten Überlieferungen wiederzugeben, zitiert beispielsweise direkt Lebeuf für Auxerre, und scheut sich nicht, ihre Lücken und Grenzen einzugestehen.479 Vor allem das Kapitel zum Totentanz zeigt ihre guten Quellenkenntnisse und die Umsicht ihrer Schlussfolgerungen, die gänzlich auf irgendwelche Vermengungen mit der Pest oder Tanzwut verzichten. Abschließend kommt sie so zu dem Urteil, dass Tanz zwar vielfach im Christentum stattgefunden habe, allerdings nie Bestandteil der Liturgie gewesen sei. Insofern zieht sie es vor, von „danses d’église“ anstelle von „danses liturgiques“ zu sprechen.480 Wie ich nur andeuten konnte, bilden die Tagungen zur Verbindung von westlicher und östlicher Philosophie, Religion und Lebenskunst des Eranoskreises den Rahmen für eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tanz und Christentum. Ellis, van der Leeuw und van Baaren sind direkte Befürworter davon, Tanz in den Gottesdienst zu integrieren bzw. zu reintegrieren, weshalb sie sich in ihren Werken der Geschichte des Tanzes in den Religionen widmen. In methodischer Hinsicht ist vor allem ihre phänomenologische Arbeitsweise auffallend, gemäß der sie Tänze nach einem bestimmten Gesichtspunkt, z.B. Liebestanz oder kosmischer Tanz, klassifizieren und dann epochen- und kulturübergreifend alle ihnen passenden Beispiele aufzählen.481 Vergleiche sind somit zwischen antiken griechischen Tänzen, englischen Tänzen des 16. Jahrhunderts, japanischen Tänzen des 19. Jahrhunderts und brasilianischen Tänzen des 20. Jahrhunderts möglich, wobei zahlreiche Beispiele aus den rassistischen Beschreibungen der kolonialen Wissenschaften entlehnt sind, die in den indigenen Bevölkerungen häufig Relikte der Frühgeschichte sahen. Trotz dieser unhistorischen Vergleiche wird in den Arbeiten, vor allem bei van Baaren und Rahner, auf die Aufsätze des 20. Jahrhunderts und die wenigen wissenschaftlichen Publikationen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Bezug genommen. Der 478 479 480 481

Vgl. Sahlin 1940, S. 212 f. Vgl. Foatelli 1947, S. 43–55. Vgl. ebd., S. 102. Zur phänomenologischen Methode siehe: LaMothe 2004, S. 129–158.

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Tanz im kirchlichen Kontext des Mittelalters wird fast immer in Zusammenhang mit antiken, vor allem neuplatonischen Vorstellungen gebracht. Die Arbeit von Renée Foatelli argumentiert mit dem Verzicht auf ausufernde Vergleiche deutlich vorsichtiger und versucht stärker eine Quellenkritik anzubringen. Während die wenigen Exemplare ihres Buches allerdings in den Bibliotheken verstaubten, erfuhren die Arbeiten des Eranoskreises, insbesondere das mittlerweile in zwölfter Auflage erschienene Werk von Hugo Rahner, weite Verbreitung. Vor allem die zahlreichen Initiativen in und außerhalb der Kirchen, Tanz in den Gottesdienst oder zumindest das religiöse Leben zu integrieren, beriefen und berufen sich bei ihrem Streben häufig auf die Arbeiten des Eranoskreises.

2.3.3 Liturgischer Tanz (1970–2012) „Eine dreieinhalbstündige Veranstaltung irgendwo zwischen Pop-Festival und Abendmahlsgottesdienst“482 – so wird über die „Liturgische Nacht“, eine Neuerung des evangelischen Kirchentages 1973, berichtet. Was 1973 noch als Ausnahme wahrgenommen wurde, hat sich in den letzten Jahren längst nicht nur auf evangelischen Kirchentagen etabliert. Neben einer Vielzahl allgemeiner Tanzveranstaltungen, bei denen Volkstänze aufgeführt werden, Seniorentanz auf die Bühne kommt, zu Popmusik gefeiert wird oder Tanz beim „Afrikafest“ stattfindet, ist auch Tanz als Gebetsform vielfach vertreten: Ob als „Tanzbibliodrama“ einer „Kirchentänzerin“, als Workshop einer Dozentin für „Meditation des Tanzes“, als eine Kombination aus Bibelerzählung und Tanz, als „Tanzexerzitien“ oder als Ausklang des Kirchentags im „Kirchentagswirbel“.483 In den letzten 40 Jahren gab es in verschiedenen christlichen Kirchen Versuche, Tanz in den kirchlichen Kontext, den Gottesdienst, die Liturgie zu integrieren. Nicht nur auf Kirchentagen werden die Möglichkeiten dazu diskutiert und ausprobiert, auch bei Veranstaltungen wie der „Nacht der offenen Kirchen“ gibt es Angebote und Aufführungen von Tanzkreisen. Diese Ansätze greifen dabei auf Traditionen verschiedener Religionen und Glaubensströmungen zurück und wählen vielfältige theatrale Methoden für ihre tänzerischen Aufführungen. In diesem Umfeld ist eine Reihe von Studien entstanden, die sich mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und wissenschaftlichen Ansprüchen dem Thema „Tanz 482 Linz, Manfred, War der Düsseldorfer Kirchentag ein Erfolg?, in: Liturgische Nacht, S. 84, zitiert nach Schroeter-Wittke 2008, S. 10. 483 Alle Zitate aus dem Programm: https://kirchentag2011.s3.amazonaws.com/DEKT33_ Programmheft2011e.pdf [Eingesehen am 30.09.2015].

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und Kirche“ genähert haben.484 Um diese körperlichen Ausdrucksformen von Religiosität einordnen und gegen Kritiker verteidigen zu können, wurden nun aus den Schriften der Kirchenväter Passagen zitiert, die Tanz in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Gerade Schriften aus der Frauenmystik des Mittelalters wie bei Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg wurden in der feministischen Theologie herangezogen. In interkultureller Perspektive wurde zudem häufig Bezug auf das Werk von Jalaluddin Maulana Rumi († 1273) genommen, der zeitgleich aus sufistischer Tradition stammend Tanz in seiner Poesie einen hohen Stellenwert einräumte und zu den Begründern des Ordens der tanzenden Derwische zählt.485 Wie soll nun mit diesem heterogenen, räumlich weit gestreuten und durch die Sekundärliteratur bisher kaum untersuchten Phänomen der meditativen Tanzgruppen und Bestrebungen, die Liturgie um (weitere) körperliche Ausdrucksformen zu erweitern, umgegangen werden? Die denkbar einfachste Lösung, die ambivalenten Strömungen als populärwissenschaftlich zu disqualifizieren und dann mit Begriffen wie „esoterisch“ oder „feministisch angehaucht“ zu etikettieren, wie es in der Wissenschaft häufig geschah und geschieht, erscheint mir wenig sinnvoll. Eine Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Bestrebungen zum Tanz im kirchlichen Kontext würde eine eigenständige Arbeit verlangen, die ich hier nicht leisten kann. Im folgenden Abschnitt kann ich deshalb nur eine grobe Skizzierung dieses Phänomens vornehmen, wobei ich – ähnlich wie beim Eranoskreis – weder seiner Komplexität vollständig gerecht werden noch eine in allen Facetten angemessene Kontextualisierung leisten kann. Ich interessiere mich in erster Linie für Initiativen aus dem Umfeld der christlichen Kirchen, die versuchen an christliche Tanztraditionen anzuschließen und sich deshalb mit der Geschichte des Tanzes im kirchlichen Kontext auseinandersetzen.486 Räumlich geht es mir, wie in der Einleitung schon deutlich gemacht, vor allem um Deutschland und Frankreich, deren Impulse jedoch auch einem globalisierten Raum entstammen. Blicken wir zurück auf den Kirchentag 1973, der unter den sich mit Tanz auseinandersetzenden protestantischen TheologInnen häufig als Wendepunkt wahrgenommen wird, da mehrere tausend Menschen Tanz bei einer religiösen Veranstaltung wahrnahmen. In der Sonderausgabe zum Kirchentag der rheinischen Kirchenzeitung „Der Weg“ wurde darüber wie folgt berichtet: „Da tanzte 484 Einen Überblick dazu bieten Vogler u.a. 1995. 485 Vgl. ebd., S. 26. 486 Dabei betrachte ich auf „klassische Weise“ die publizierten Aufsätze und Bücher der AutorInnen. Die performativen Ausdrucksweisen, bspw. im Tanz oder als Musical, bleiben außen vor.

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jung und alt miteinander, als gäbe es nicht Jahre und Auffassungen, die sie voneinander trennten. Und immer wieder heiße Musik von Dr.  Ronny Sequeira. Schlager zum Lob Gottes. Wilder Ringelreihen, mit tausenden Füßen auf den Boden der nüchternen nackten Halle gestampft. Zum Dank an Jesus Christus.“487 Dr.  Ronny Sequeira ist der Rahner-Schüler Ronald Sequeira-Prabhu, der nach dem Tod Hugo Rahners 1968 bei dessen Bruder Karl Rahner 1970 seine Promotion abschloss. Darin entwickelt er im Schlussteil ein Modell, das Vaterunser durch eine Gebärdensprache aus indischen Tänzen darzustellen.488 Einige Jahre später legte er mit seiner Monogaphie „Spielende[n] Liturgie. Bewegung neben Wort und Ton im Gottesdienst am Beispiel des Vaterunsers“489 ein einflussreiches theologisches Werk zur religiösen Gebärdensprache und dem religiösen Tanz vor, dass in Protestantismus und Katholizismus rezipiert wurde. Sequeira vertritt die Ansicht, dass trotz der sich entwickelnden ablehnenden Haltung der Kirchenväter und der daraufhin erfolgenden Tanzverbote in Kirchen getanzt wurde: „Alle Kenner des sakralen Tanzes im Christentum sind sich darüber einig, daß die Kirche (Volk und Klerus) immer getanzt haben.“490 In einer tabellarischen Übersicht fasst er die wichtigsten Anlässe dafür zusammen: Narrenfest, Kinderfest, Ostertänze, Tänze am Weißen Sonntag, Fronleichnamstänze, Totentänze und Prozessionstänze. Die Tänze in Auxerre, in Sevilla und die Echternacher Springprozession werden gesondert erwähnt, ebenso die Tänze der koptischen Kirche.491 Gegen diese spätantiken und mittelalterlichen Tanzformen grenzt er die „Jahrhunderte des Stillstandes“492 ab, die er von 1614 bis 1903 ansetzt. Im 20. Jahrhundert und besonders nach der Öffnung der katholischen Liturgie für Bewegungsphänomene durch das zweite Vatikanum sei Tanz wieder als Möglichkeit für den Gottesdienst in Betracht gekommen, deren mögliche Umsetzung der Rahner-Schüler dann 1973 in Düsseldorf vorstellte. Eine ähnlich öffentlichkeitswirksame Aufführung wie die „Liturgischen Nächte“ der Kirchentage stellte John Neumeiers Aufführung der Matthäuspassion in der Hamburger Michaeliskirche 1980 dar, in dem nach dem letzten Abendmahl eine Tanzszene nach der Beschreibung aus den gnostischen Johannesakten inszeniert wurde. Neumeier konnte dabei an Vorbilder aus den USA anknüpfen, wo bereits in den 1970er Jahren das Leben Christi tänzerisch um487 Scharnhorst, Thorsten, Zu Gott gebetet und getanzt, in: Liturgische Nacht, S. 96, zitiert nach: Schroeder-Wittke 2008, S. 11. 488 Vgl. Berger 1985, S. 43. 489 Schon der Titel verrät das geistige Erbe Hugo Rahners. 490 Sequeira 1977, S. 102. 491 Vgl. ebd., S. 102–107. 492 Ebd., S. 103. Worauf sich seine Eckpunkte dabei beziehen, bleibt unklar.

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gesetzt wurde. Seitdem wurde immer häufiger, wie von Vittorio Biagi 1985 in Palermo, von Neumeier 1995 in Hamburg, 1998 bei der „Großen Messe“ von Uwe Scholz in Leipzig oder in Felix Ruckerts Ballett „Messiah Game“ 2005, die Lebensgeschichte Christi choreographiert.493 Auch in Frankreich fand bereits seit den 1970er Jahren eine Integration von Tanz in religiöse Darstellungen statt. Die Inszenierungen des Balletttänzers und Choreographen Maurice Béjart wie „Nijinsky, Clown de Dieu“, bei dem um den gekreuzigten Christus getanzt wird, lösten kontroverse Diskussionen aus. Eine vermittelnde Position vertrat Lucile Rossel in der Zeitschrift „Les Saisons de la danse“, indem sie einen kurzen Überblick über die Geschichte des religiösen Tanzes gab. Darin betont sie die ablehnende Haltung des Christentums seit der Antike: „Alors que tous les arts sont arbitrés et exaltés par l’église, la danse est progressivement exclue.“494 Erst in den letzten Jahren sei durch Vorreiter wie etwa Béjart495 der Tanz wieder als Medium der Kommunikation mit dem Göttlichen erkannt worden.496 Mit der Verbindung von Tanz und Heiligkeit befasst sich in derselben Zeitschrift auch ein Beitrag von Christian Chanabis von 1980. Sein philosophisches Essay verzichtet allerdings auf historische Bezüge.497 Aktuell inszeniert die Choreographin Catherine Golovine seit den 90er Jahren Ballettstücke zu religiöser Musik wie dem „Te Deum“ in französischen Kirchen und dem ehemaligen Papstpalast in Avignon.498 Seit den 1980er Jahren sind in Frankreich und vor allem in Deutschland mehrere Initiativen entstanden, die sich dem liturgischen Tanz gewidmet haben. Die agierenden Gruppen blieben zunächst lokale Zusammenschlüsse, die vor allem eine Kritik an ihrer Arbeit in den Gemeinden zu entkräften versuchten. Nach Vogler u.a. ist es vor allem der Tanzpädagogin und Choreographin Maria-Gabriele Wosien zu verdanken, dass das Interesse für Tanz in den Kirchen neu belebt worden sei. Wosien entwickelte zusammen mit ihrem Vater, dem Choreographen Bernhard Wosien (1908–1986), in der Mitte der 1970er Jahre eine 493 Vgl. Müller 1999, S. 114 ff., Leutzsch 2008, S. 128 f. 494 Rossel 1977, S. 33. 495 Durch Béjart inspiriert, über den er bereits 1969 eine Biographie verfasste und dem er im Vorwort zu seinem Buch „Danser devant les dieux“, Paris 1989, für seine langjährige Freundschaft dankt, befasste sich etwa auch der Musikwissenschaftler Paul Bourcier mit dem sakralen Tanz. 496 Vgl. Rossel 1977, S. 32 f. Allerdings ist Rossels Datierung von Ménestriers „Des ballets anciens et modernes selon les règles du théâtre“ falsch. Das Werk stammt aus dem Jahr 1682, nicht 1657. 497 Vgl. Chanabis 1980, S. 41. 498 Vgl. Marco 2000, S. 128 ff. Dort auch Hinweise auf weitere französische KünstlerInnen.

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neue Form der „Tanzmeditation“, indem sie Schrittfolgen aus vornehmlich südosteuropäischen Volkstänzen mit klassischen Musikstücken kombinierten.499 Ab 1976 lehrten beide diese Tanzmeditation als Form eines esoterischen Erkenntnisweges und als Selbsterfahrung in der schottischen New-Age-Gemeinschaft „Findhorn“.500 Maria-Gabriele Wosiens Buch „Sacred dance“ (1974) und das später auf deutsch erschienene „Sakraler Tanz“ (1988) machten den Begriff des sakralen Tanzes in der Öffentlichkeit bekannt, so dass auch das Interesse für die kirchlichen Arbeitsgruppen zur Vereinbarkeit von Liturgie und Tanz anwuchs. Während in Deutschland der Boom des liturgischen Tanzes erst ab den späten 1970er Jahren einsetzte, war in England und den USA schon früher darüber diskutiert worden. In einem Sammelband aus dem Jahr 1982 berichtete ein katholischer Priester über seine Initiative, die Bibellesung von TänzerInnen choreographisch begleiten zu lassen. In diesem Kontext ist die Publikation des promovierten Philosophen Harvey Cox (geb. 1929) zu verorten, der als einer der führenden Theologen der USA und wichtiger Vertreter der Befreiungstheologie gilt. 1965 hatte er von seinem Buch „The Secular City“ mehrere Hunderttausend Exemplare verkauft, was für ein theologisches Werk durchaus beachtlich ist. Vier Jahre später veröffentlichte er „The Feast of Fools. A Theological Essay on Festivity and Fantasy“501, bei dem er das mittelalterliche Narrenfest zum Anlass nimmt, über die gegenwärtige Gesellschaft zu reflektieren. Aus einer kapitalismusskeptischen Perspektive kritisiert er, dass durch die fortschreitende Rationalisierung das Fest als Gegenpol zum Arbeitsalltag, als Zeitpunkt des Exzesses, des Spielerischen, der Gesellschaftskritik fast verschwunden sei. Dieser Verlust bedrohe sowohl das religiöse Leben als auch den als „Homo festivus“ gedeuteten Menschen in seiner Existenz. Allerdings bestehe Hoffnung, da Cox in nicht-westlichen Kulturen502 und den westlichen Gegenkulturen der 1960er Jahre eine erhaltene Festkultur bzw. eine Wiederbelebung der Festkultur sieht.503 Im dritten Kapitel „Ein Tanz vor dem Herrn“ schildert er das Eindringen von Musik und Tanz in die Gottesdienste und verteidigt sie gegen KritikerInnen: „Die volle Bedeutung des jüngsten Einbruchs der Massenmedien, der Jazzgot499 Vgl. Vogler u.a. 1995, S. 14 f. 500 Vgl. Wosien, Homepage: http://www.sakraltanz.de/mgwosien/mgwosien.html [Eingesehen am 30.09.2015], für eine Kritik an Findhorn siehe: Ditfurth 1996. 501 Cox, Harvey, The Feast of Fools. A Theological Essay on Festivity and Fantasy, Cambridge 1969. Ich verwende im Folgenden die 4. Auflage der deutschen Übersetzung: Das Fest der Narren, Stuttgart 1972. 502 Cox’ Kulturalisierungen des bspw. gefühlvollen und ausgelassen feiernden Schwarzen sind aus einer postkolonialen Perspektive deutlich zu kritisieren. 503 Vgl. Cox 1972, S. 14–29.

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tesdienste, der Tanz- und Rockveranstaltungen in die Kirche ist freilich schwer fassbar.“504 In einem kurzen historischen Rückblick skizziert er den aussichtslosen Kampf einer kirchlichen Elite gegen den religiösen Tanz, der sich allen Verboten widersetzt habe und bei religiösen Festen nicht wegzudenken gewesen sei: „Sie [die Tänzer] liefen am Rand der Prozessionen mit oder ergriffen überhaupt von ihnen Besitz. Sie tauchten bei Pilgerzügen auf, sie bestimmten das Klima an heiligen Tagen und bei Festen.“505 Auch wenn Cox unbestimmt lässt, wer diese „Tänzer“ sind, erscheinen sie im Kontext des Buches über das Narrenfest nicht als Mitglieder des hohen Klerus oder des Adels, sondern scheinen eher einer einfachen, vitalen „Volkskultur“ zu entstammen. Obgleich Harvey Cox im Vorwort betont, dass es sich nicht um eine historische Arbeit handele, wurde sie häufig unter dieser Lesart betrachtet.506 Der Interpretation von Michael Bachtin507 folgend, versteht Cox das Fest als Umkehrung der Ordnung, als subversive Kritik an Herrschaft und Normen. Harvey Cox’ Arbeit hat das „Narrenfest“ auch außerhalb der Fachöffentlichkeit bekannt gemacht und das Bild vom Narrenfest als spielerische Parodie der Ordnung, als Aufbegehren von weniger Privilegierten gegen eine Herrschaftsschicht geprägt.508 Einige Jahre später legte Reverend John Gordon Davies  (1919–1990), Theologieprofessor in Birmingham, ein Werk zum liturgischen Tanz vor.509 Ihm folgte 1984 „Liturgical Dance. A Historical, Theological and Practical Handbook“510, in dem er eine sehr intensive Auseinandersetzung mit den Quellen leistete. Im Vorwort offenbart er selbstkritisch, dass sein historisches Kapitel eng an Backman angelehnt sei, obgleich dessen Angaben nicht immer zu vertrauen sei.511 Allein für das Mittelalter (1100–1500), einer Zeit, in der „the evidence for dancing in churches is without question very plentiful“512, stellt Davies eine Zeitleiste mit knapp 50  Einträgen von Tanzverboten und Tanzerwähnungen zusammen. Unter den jüngeren theologischen Arbeiten zeichnet sich Davies’ 504 505 506 507 508 509 510

Ebd., S. 68. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 11 f. Vgl. Bachtin 1990. Vgl. Skambraks 2010, S. 370 f. Davies, John, Worship and Dance, Birmingham 1975. Davies, John, Liturgical Dance. A Historical, Theological and Practical Handbook, London 1984. 511 Vgl. Davies 1984, S. x: „Backman is reliable as regards the Middle Ages but he was clearly not at all at home in the early centuries: his translations are questionable, his interpretations highly suspect and many of his references are wrong.“ 512 Davis 1984, S. 45.

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Werk, was die historische Dimension betrifft, insofern durch besondere Sorgfältigkeit aus. Auch auf katholischer Seite wurde sich seit den 1970er Jahren mit der Frage nach dem Stellenwert von Tanz im Gottesdienst beschäftigt. Die Schriftstellerin und Ordensfrau Silja Walter (1919–2011) gab 1974 einen Band mit Gedichten und kurzen Prosatexten unter dem Titel „Tanz vor dem Herrn heraus“. Dem Buch hat sie eine 30-seitige Zitatensammlung angehängt, die positive Bewertungen von Tanz im kirchlichen Kontext von den Kirchenvätern bis hin zu zeitgenössischen TheologInnen enthält.513 Ebenso wurde Sequeiras Werben für eine spielerische Theologie in den 1980er Jahren von Teresa Berger aufgegriffen. In ihrer 1984 vollendeten Dissertation, von der Teile ein Jahr später unter dem Titel „Liturgie und Tanz“ veröffentlicht wurden, plädiert sie für eine Einführung von Tanzpraktiken in den Gottesdienst: „Ganz weit gefasst, geht es mir zunächst darum, Bewegung als Bestandteil des Gottesdienstes zu legitimieren […]. Das weite Gebiet der Bewegungsmöglichkeiten soll dabei konkretisiert werden am Beispiel des Tanzes als einem speziellen Bewegungsphänomen.“514 Berger bemängelt darin das Fehlen von aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten zu der Thematik und ist deshalb für ihren Überblick über das christliche Mittelalter weitestgehend auf Gougaud und die Arbeiten des Eranoskreises angewiesen. Deren Beispiele gibt sie wieder und übernimmt dabei auch deren Fehler, etwa van Baarens Datierung der Pelotte von Auxerre auf den Tag des Hl. Stephan.515 Ihre Schlussfolgerung, das Verhältnis von Tanz und Kirche als problematisch und ambivalent zu deuten, überzeugt dennoch. Neben der Arbeit von Theresa Berger hat Dania Marco mit ihrer 2000 an der Päpstlichen Lateranuniversität eingereichten Dissertation „La danza sacra nella chiesa“ eine umfassende Studie zum sakralen Tanz vorgelegt. Auch Marco geht es um die Bereicherung des Gottesdienstes und einer christlichen Meditation durch tänzerische Bewegungen. Ihre Arbeit umfasst neben der bereits erwähnten Rezeptionsgeschichte des letzten Jahrhunderts auch eine historische Abhandlung seit der Antike. Ihre Passagen zum Mittelalter basieren vor allem auf Foatelli und Curt Sachs, kommen aber weder im Umfang noch der Qualität an Foatellis Arbeit heran.516 Die zahlreichen Versuche, Tanz in die Liturgie zu integrieren, haben die katholische Kirche immer wieder zu Stellungnahmen veranlasst. Auf erste Be513 514 515 516

Vgl. Walter 1974, S. 129–163. Berger 1985, S. 1. Vgl. ebd., S. 29–35. Marco 2000, S. 79–84.

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wegungen innerhalb der katholischen Kirche reagierte die Gottesdienstkongregation bereits 1975 und machte deutlich: „Tanz kann in keiner Form zum Bestandteil liturgischer Feiern gemacht werden. Damit würde ein extrem unheiliges und entheiligendes Element in die Liturgie eingeführt, und das würde eine profane Atmosphäre schaffen, die alle Teilnehmer und Anwesenden an weltliche Orte und Situationen erinnern müsste.“517 Vor einigen Jahren widmete sich der Bonner Philologe und bekennende Altkatholik Heinz-Lothar Barth 2005 in der vom „Sankt Petrus Canisius Werk“ herausgegebenen „Kirchlichen Umschau“ mit seinem Artikel „Der Tanz um den Tanz in der christlichen Liturgie“ diesem Thema. Er reagiert damit vor allem auf die wenige Jahre zuvor erschienene und nun stärker rezipierte Arbeit von Dania Marco. Zunächst geht es dem Autor darum, klarzustellen, dass die Beschäftigung mit Tanzformen im Gottesdienst außerhalb vom Katholizismus entstanden sei: „Es dürfte uns kaum verwundern, daß der Wunsch nach stärkerem körperlichem [sic!] Einsatz im Gottesdienst auch aus (ursprünglich protestantischen) pfingstlerischen Kreisen herrührt.“518 An einem zu Beginn des 21. Jahrhunderts als überwunden geglaubten Katholizismus-Protestantismus-Dualismus bemerkenswert ist, dass die in Europa lange Zeit als ausschließlich tanzfeindlich eingestuften protestantischen Kirchen nun als die Erfinder des Tanzes im kirchlichen Kontext kritisiert werden. Barths Empfehlung an die gläubigen Katholiken lautet, diese Versuche möglichst zu unterlassen: „Letztlich gilt diese Einschätzung aber mehr oder minder für all jene modernen Experimente mit dem Tanz in der Liturgie. Also folgen wir dem Hl. Vater und geben sie auf bzw. beginnen sie erst gar nicht.“519 Barths Kritik an der Arbeit von Dania Marco wird von einem sich selbst als katholischen Kirchenmusiker bezeichnenden Blogger unterstützt. Nachdem er sich darüber ereifert hat, wie der päpstliche Zeremonienmeister von Papst Johannes Paul II. 2002 bei einer Seligsprechung zweier Märtyrer in Mexiko Tänze habe zulassen können, die einem heidnischen Brauch entstammen würden, warnt er vehement: „Obwohl die Ablehnung des Tanzes in der Liturgie durch die Kirche klar ist, und die Gefährlichkeit des unreflektierten und eigenmächtigen Einfügens fremder Elemente in die Liturgie nachgewiesen ist, bieten zahlreiche katholische Bildungshäuser und andere Kursanbieter nach wie vor Ausbildungen für liturgischen Tanz an. Übrigens verdreht auch Dania Marco 517 Kongregation für den Gottesdienst 1975, zitiert nach: Allen, John, Von Marini zu Marini, http://www.summorum-pontificum.de/meinung/marini.shtml [Eingesehen am 30.09.2015]. 518 Barth 2005, S. 7. 519 Ebd.

Fazit

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die Quellen nach belieben [sic!] oder ignoriert vorangeganene [sic!] kirchliche Verurteilungen.“520 Soweit einige Eindrücke aus einer intensiv geführten Debatte, die mittlerweile eine Vielzahl eigener Homepages und Foren hervorgebracht hat. Während die BefürworterInnen eine christliche Tanztradition in den Vordergrund stellen, verweisen TanzkritikerInnen auf die Fremdheit des Tanzes als profanes Element in der christlichen Liturgie. Beide Seiten können sich auf mehr oder weniger im Zusammenhang zitierte Passagen aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter berufen, die ambivalent gedeutet werden. Während die eine Seite kritisiert wird, in der Geschichte in inflationärer Weise Kulttänze nachweisen zu wollen, wird der anderen Seite vorgehalten, nicht anerkennen zu wollen, dass Begriffe wie tripudium und chorus auch einen Tanz beschrieben. Auch wenn der Schwerpunkt der Auseinandersetzung auf biblischen Zeiten und der Frühkirche liegt, wird dennoch immer wieder auf das Mittelalter Bezug genommen. Was die TheologInnen und BefürworterInnen des liturgischen Tanzes seit den 1970er Jahren vom Eranoskreis unterscheidet, ist der stärkere Praxisbezug. Ziel ist es nicht in erster Linie über das Verhältnis von Tanz und Religion zu reflektieren, sondern praktische Ansätze zu entwickeln, in denen diese Formen erprobt werden können. Dass über Tanz nicht nur diskutiert wird, sondern auch wieder getanzt wird, ist sicher für viele erfreulich, inwiefern es allerdings für meine Fragestellung über das Verhältnis von Tanz und Kirche im Spätmittelalter hilfreich ist, bleibt dagegen eine andere Frage. Deutlich geworden ist, dass die neueren Forschungen zum Verhältnis von Tanz und Kirche im Spätmittelalter vor allem von religionswissenschaftlicher und theologischer Seite, zum Teil auch aus der Tanzpraxis entstanden sind. Vergleicht man den Eintrag zu „Tanz“ in der aktuellen Ausgabe der „Theologischen Realenzyklopädie“ mit den älteren Auflagen, kann man diese Entwicklung gut ablesen.

2.4 Fazit Die oben angesprochenen Arbeiten ab den 1970er Jahren haben, wie gesagt, in erster Linie einen theologischen Anspruch, nehmen aber teilweise durchaus eine intensive historische Betrachtung vor. Allerdings wird dabei vor allem die ältere Literatur zitiert und Passagen daraus arrangiert, was die AutorInnen auch of520 „Über den liturgischen Tanz“, Artikel eines „katholischen Kirchenmusikers“ vom 11.11.2009 auf seinem Blog: http://caecilia-quintaessentia.blogspot.com/2009/11/ uber-den-liturgischen-tanz.html [Eingesehen am 30.09.2015].

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fen eingestehen. Sequeira geht es etwa primär um eine Schematisierung der von ihm als bekannt bezeichneten Tänze. Er verweist für weitere Informationen auf die Arbeiten von Gougaud, Backman, Sachs und van Baaren, zitiert aber auch mehrfach aus Rahners Texten.521 Auch Teresa Berger stützt sich in erster Linie auf Gougaud, Backman, van der Leeuw, van Baaren und Rahner und nimmt zudem die französischen Arbeiten von Rokseth und Chailley zur Kenntnis.522 Cox’ Aufruf orientiert sich in erster Linie am zeitgenössischen Theater von Artaud und der Neuen Musik von John Cage, seine historischen Beispiele zitiert er aber auch aus Backman und van der Leeuw. Auch jüngere Arbeiten, wie die von Reinhold Müller, kommen selten über die bekannten Interpretationen hinaus, können dafür aber deutlich positiver auf die Akzeptanz von Tanz im Kirchenraum zurückblicken: „Wir erleben seit der Zeit der Jahrhundertwende, wie mit neuer Kraft der Tanz wieder dort eindringt, wo er hergekommen ist: in die Religion.“523 Allerdings fallen seine Betrachtungen zum Mittelalter in Stereotype von „erotisch-ekstatischen Kulttänzen“524 von Hexen, Tanzwut und Totentanz zurück. Eine intensive historische Betrachtung, die an die Arbeiten des Eranoskreises heranreicht und teilweise darüber hinaus führt, liefert dagegen die private „Forschungsstelle für sakralen Tanz“. Dieses von Gereon Vogler initiierte Archiv ist in Anschluss an die „Mönchengladbacher Tagungen zum sakralen Tanz“ Anfang der 90er Jahre entstanden und sammelt alle Formen von Publikation zum Verhältnis von Tanz und Religion. Die ebenfalls von Gereon Vogler betreute Homepage kirchentanz.de bietet ergänzend dazu eine ausführliche Bibliographie zu der Thematik. Archiv und Homepage scheinen seit etwa 2000 kaum noch aktualisiert worden zu sein.525 Etwas später als Vogler legte Helga Gundlach  Sonnemann ihre Forschungsergebnisse vor, die ebenfalls dazu beitrugen, den Forschungsstand übersichtlich darzustellen.526 Auch John Gordon Davies gelingt es in seinen Arbeiten, das Quellenkorpus für den englischen Raum zu erweitern. Ansonsten scheint sich aber ein festes Quellenkorpus herauskristallisiert zu haben, auf das immer wieder rekurriert wird. Die Bibelpassagen und Zitate der Kirchenväter sind bekannt, die Tanzverbote und ihre fehlende Umsetzung längst Allgemeingut und Echternach, Sevilla und Auxerre als die drei prominenten Beispiele dürfen in keiner Arbeit fehlen. Eine weitere umfangreiche Dar521 522 523 524 525 526

Vgl. Sequeira 1977, S. 104. Vgl. Berger 1985, S. 29–35. Müller 1999, S. 8. Ebd., S. 67. www.kirchentanz.de [Eingesehen am 30.09.2015], vgl. auch Vogler 1995, S. 15–18. Vgl. Gundlach Sonnemann 2000, 2001, 2002.

Fazit

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stellung religiöser Tanzpraktiken, wie etwa Backman sie anstrebte und wie sie in gekürzter Form in den späteren Arbeiten passierte, ergibt, denke ich, für die gegenwärtige Arbeit wenig Sinn. Sie würde Rahners oder van Baarens Werke ohne ihre theologischen Schlussfolgerungen wiedergeben, Gougauds oder Backmans Arbeiten an einigen Stellen korrigieren, auf einige Beispiele verzichten, andere hinzunehmen, den Blickwinkel weiter auf eine globale Ebene verschieben, sprachlich modernisieren, weitgehend auf Vergleiche mit aktuellen Tänzen verzichten, aber dennoch Gefahr laufen, zu einer kommentierten Zitatensammlung zu verkommen. Auf dieser allgemeinen Ebene scheint eine weitere Bearbeitung insofern wenig produktiv. Meiner Ansicht nach wäre es ertragreicher, sich auf einen bestimmten Aspekt, auf eine räumliche und zeitliche Eingrenzung zu konzentrieren. Das ausgewählte Beispiel sollte hinreichend Quellen für eine intensivere Bearbeitung liefern, so dass die fragmentarischen Überlieferungen aus einigen Orten, wo häufig nur ein Verbot oder ein einzelner Eintrag eines Chronisten Aufschluss geben, nicht ausreichen würden. Eine bessere Quellenlage liegt für die in fast allen Arbeiten erwähnten Kathedral- oder Labyrinthtänze im französischen Raum vor. Aus diesem Grund wurden die Beispiele von Auxerre und Sens von der Forschung ausführlicher diskutiert. Wo sollte ich aber ansetzen, ohne die ständig zitierte Arbeit von Lebeuf zu Auxerre erneut zu paraphrasieren? Die in diesem Kapitel erfolgte Rezeptionsgeschichte würde es zum einen nahelegen, Lebeufs Aufsatz im Kontext des 18. Jahrhunderts und der Kritik an den „gotischen Missbräuchen“ des Mittelalters zu begreifen. Lebeuf unter diesem Blickwinkel zu lesen und seine Ausbildung sowie sein Interesse an den Tänzen genauer zu erforschen, bietet demnach einen kritischen Zugang zu seiner Geschichte der Pelotte von Auxerre. Da auf die Cazzole von Sens die Ergebnisse von Auxerre stets bedenkenlos übertragen wurden, ändert sich durch eine kritische Betrachtung der Pelotte auch deren Beurteilung. Zusätzlich gilt es aber auch, danach zu fragen, ob in Sens in der Tat ein Tanz in Verbindung mit einem Ballspiel stattfand oder ob der dortige Tanz möglicherweise anders ausgestaltet wurde. Außerdem bleibt bisher offen, wer an den Tänzen in Auxerre und Sens partizipierte. Natürlich ist bekannt, dass es sich um Kanoniker der Kathedralkapitel handelt, dass Vertreter der Stadt anwesend sind, dass eine 12-köpfige Kommission über die Abschaffung berät, aber jenseits des Tanzes wurde nie eingehender danach gefragt, wer diese Kanoniker eigentlich sind. Woher stammen sie, wo leben sie in der Stadt, welche (rechtliche) Stellung haben sie inne, in welchem Verhältnis stehen sie zu ihrem Bischof ? Wo haben sie Tanzen gelernt? Um sich diesen Fragen für Auxerre und in ähnlicher Form für Sens zu nähern, scheint es

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sinnvoll, zu untersuchen, wie die politische, ökonomische und soziale Lage in beiden Städten im 15. und 16. Jahrhundert aussah. Erst wenn man sich vom direkten Bezug der Tänze an Ostern in Auxerre und Sens zu aktuellen liturgischen Tanzpraktiken etwas löst und sich für tiefer gehende Betrachtungsweisen öffnet, Machtbeziehungen jenseits eines Elite-Volk-Dualismus ernst nimmt und sie in die ambivalenten Ansichten und Praktiken von Tanz dieser Zeit einbettet, könnten die Beispiele helfen, sich dem komplexen Forschungsproblem des spätmittelalterlichen Tanzes im kirchlichen Kontext auf eine bisher unbekannte Art zu nähern. Dazu soll im nächsten Kapitel ein Überblick über die spätmittelalterlichen Tanzpraktiken von Geistlichen erfolgen.

3. Ecclesia saltans? – Kirchliche Tanzverbote und Tanzpraktiken in Spätmittelalter und Renaissance Um den Stellenwert, den der Tanz in den Gesellschaften des 15. und 16. Jahrhunderts einnahm, ermessen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass der Tanz als eine Kunstform nicht außerhalb der politischen, sozialen oder religiösen Sphäre lag. Vielmehr ist Jennifer Nevile zuzustimmen, dass Tanz stets eine „close relationship with, and participation in, the contemporary intellectual, political, and artistic milieu“1 hatte. Da die Verflechtungen der Körperpraxis Tanz mit den politischen und gesellschaftlichen Ebenen in den letzten Jahren mehrfach herausgearbeitet worden sind,2 soll zu dieser Thematik lediglich eine kurze Zusammenfassung der aktuellen Forschung erfolgen. Vielmehr soll es in dem Kapitel darum gehen, die Einbindung des Klerus in die Tanzkultur dieser Zeit zu untersuchen und danach zu fragen, welche theoretischen und praktischen Kenntnisse Geistliche über den Tanz hatten. Verfügten sie selbst über Tanzpraxis und wie hatten sie sich diese angeeignet? Wann nahmen sie an Tänzen teil, wann hielten sie sich davon fern? Es könnte nämlich einen Unterschied ausmachen, ob ein im Kloster erzogener Mönch als späterer Bischof seine Ansichten zum Tanz äußerte oder ob derselbe Bischof in seiner Jugend Tanzunterricht genossen hatte und selbst ein eifriger Tänzer war. Mit dem Zweifel an einem vollständig tanzabstinenten Klerus stehen auch die bereits im ersten Kapitel angesprochenen Tanzverbote zur Diskussion. Im zweiten Abschnitt werden deshalb die Entscheidungen der gesamtkirchlichen Konzilien vom vierten Laterankonzil (1215) bis zum Konzil von Trient (1546–63) einer kritischen Relektüre unterzogen. Dabei sollen die von ihnen beschlossenen Tanzkritiken und Verbote herausgearbeitet werden und analysiert werden, was konkret verboten wurde und für wen diese Verbote Gültigkeit beanspruchen konnten. Der dritte Abschnitt stellt den Tanzverboten die vielfältigen positiven Deutungsmuster und Tanzpraktiken im religiösen Kontext des Spätmittelalters gegenüber. Die Tänze der französischen Kathedralkapitel erscheinen insofern nicht mehr als extravagante Bewegungsformen, sondern können als Bestandteil umfangreicher Tanzpraktiken innerhalb der spätmittelalterlichen Religiosität eingeordnet werden. 1 Nevile 2008b, S. 2. 2 Vgl. Braun/Gugerli 1993, Nevile 2008b, McGowan 2008a, 2008b, Schulze 2012.

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Kirchliche Tanzverbote und Tanzpraktiken

3.1. Tanzausbildung und Tanzpraktiken von Klerikern in weltlichen Kontexten Der italienische Historiker Francesco Guicciardini (1483–1540), der selbst Musik und Tanz wenig Wertschätzung schenkte, musste dennoch eingestehen, dass diese Fertigkeiten den Weg zu der Gunst von Prinzen eröffneten. Für viele, die Ämter an den Höfen bekleiden, seien gerade ihre Tanzkünste der Grund für ihre Karriere oder ihren Reichtum.3 So wollten beispielsweise am englischen Hof von Elisabeth I. (1558–1603) die Gerüchte nicht verstummen, dass Sir Christopher Hatton den Aufstieg in seine politischen Ämter allein seinen beeindruckenden Tanzkünsten verdankte. Elisabeth selbst ließ keine Gelegenheit aus, die Abgesandten der europäischen Fürstenhäuser mit ihren Tanzschritten zu beeindrucken. Die Tanzdarbietungen demonstrierten sowohl Eleganz und Würde und damit politische Handlungsfähigkeit der Königin als auch ihre Gesundheit und Beweglichkeit, was die Gesandten als Beleg für ihre Fertilität deuteten und potentielle Heiratskandidaten auf die Insel schickten.4 Auch im höheren Alter galt die Fähigkeit zu tanzen weiterhin als Indikator für Gesundheit und Regierungsfähigkeit, wie ein Brief von Sir John Stanhope an Lord Talbot von 1589 verdeutlicht: „Ich versichere Sie, die Königin ist bei sehr guter Gesundheit; ihre morgendlichen Leibesübungen bestehen – neben Musizieren und Singen – aus sechs bis sieben Galliarden.“5 In ähnlicher Absicht tanzte auch der französische König Franz I. (1515–1547) am Ende seines Lebens noch vor dem Gesandten aus Ferrara.6 Ganz gleich ob Hochzeit, Gesandtenbesuche oder Herrschereinzüge in den Städten, der öffentlich vollführte Tanz gehörte stets zu den politischen Anlässen dazu. Die Sphäre des Politischen7 in der Renaissance ohne Tanz zu denken, dürfte deshalb äußerst schwer fallen. Die Tanzkultur, die sich im 16.  Jahrhundert an allen europäischen Höfen durchsetzte, hatte ihre Vorbilder in den italienischen Städten und dem burgundischen Hof des Spätmittelalters. Bereits im 14. Jahrhundert hielt der burgundische Ritter Geoffroi de Charny († 1356) über die Bedeutung der Tanzkunst fest: „Et toutevoies devroit il sembler que li plus beaux gieux et li plus beaux esbatemens que telles gens qui tel honnour veulent querre devroient faire seroient qu’il ne se doivent point lasser de jouer, de jouster, de parler, de dancer et de 3 4 5 6

Vgl. McGowan 2008b, S. 96. Vgl. Braun/Gugerli 1993, S. 19–23. Ebd., S. 21. Vgl. McGowan 2008b, S. 101. Zu Tänzen anlässlich der Vermählung von Philipp von Spanien und Maria von England 1554 siehe: Kelsey 2012, S. 87. 7 Zum Begriff des Politischen in der Vormoderne vgl. Bulst 2009, S. 7–12.

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chanter en compaignie de dames et de damoiseles ainsi honorablement comme il puet et doit appartenir et en gardant en fait et dit et en tous lieux leur honneur et leurs estas, que toutes bonnes gens d’armes le doivent ainsi faire de droit.“8 Die Fähigkeit zu tanzen wird hier bereits als erstrebenswerte Tugend für den adeligen Edelmann entworfen und diente damit gleichzeitig als soziales Unterscheidungsmerkmal zu anderen Schichten. Durch choreographierte Tänze und Tanzschritte, die eigene Lehrmeister erforderten, sollte sich der adelige Körper anders durch den Raum bewegen als der bürgerliche oder bäuerliche.9 Das Tanzlehrbuch10 der Marguerite d’Autriche aus dem späten 15. Jahrhundert ist eines der ersten Beispiele für eine neue Komplexität von Schritten und Schrittfolgen, die schriftlich festgehalten wurden. Die Abgrenzungsbemühungen der Elite gegenüber unteren Schichten wurden somit auch im Tanz ständig performativ neu hergestellt. Aber nicht nur bei Hofe wurde eifrig getanzt. In den städtischen Tanzhäusern, die ab dem 14. Jahrhundert vielerorts entstanden, trafen sich Kaufleute und Zünfte regelmäßig zum Tanz. In den jüdischen Vierteln der Städte lassen sich Tanzhäuser sogar schon seit dem 12. Jahrhundert in Köln, Trier, Erfurt, Eger, Speyer und Worms nachweisen. Auch in Frankfurt, Ulm und Augsburg lassen sich Tanzhäuser ab dieser Zeit ausfindig machen, die jedoch im Zuge der Pestpogrome zerstört wurden.11 Vielerorts traten die Zünfte als Organisatoren von Tänzen auf. In Straßburg hält der Stadtschreiber Sébald Büheler für das Jahr 1538 fest: „In diesem Jahr 1538 haben die Schumacher einen Schwerdttanz gehalten und mit itel blossen schwerdtern getanzt in der Statt umher, und sonst auch viel burger; welcher lust gehabt der hat mögen mittanzen, die haben aber nichts angehabt dann allein schöne kleider so gut wie ein jeder hat mögen haben, und hat den tanz gefuert ein schumacher den man hat den Specklin genant, der hat gewohnt gegen dem stockgericht hinüber oben an dem Ungelt, hinuff noch der Oberstrassen zu.“12 Auch für die Schneiderzunft notiert der Schreiber, dass sie einen Moriskentanz aufgeführt haben. Rund hundert Jahre früher hatte die Kaiserkrönung Sigismunds im Jahr 1433 die Bewohner Nürnbergs zu Freudentänzen veranlasst: „alle welt tantzet: knaben, knecht, mait, und erber frawen und gesellen an zal“13. Dieser kurze Einblick mag genügen, um einen Eindruck zu vermitteln, welchen hohen Stellenwert die Tanzkunst für die Gesellschaften 8 9 10 11 12 13

Nevile 2008b, S. 59. Vgl. Nevile 2008b, S. 85–90. Les basses danses 1987. Dazu: Salmen 1997b, S. 92. Büheler 1887, S. 83. Blackburn/Strohm 2001, S. 162.

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des Spätmittelalters und der Renaissance hatte. Wie sollte es also der Klerus schaffen, sich diesen vielfältigen Tanzpraktiken zu entziehen? Beginnen wir dort, wo man am ehesten Tanzpraktiken von Geistlichen vermuten könnte: bei den Renaissancepäpsten. Der Papsthof der Renaissance ist nicht zuletzt für seine aufwendige wie ausgefeilte Festgestaltung bekannt. Der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard (um 1450–1506) hat in seinem „Liber Notarum“14 alle Ereignisse und Veranstaltungen am Papsthof festgehalten. Aus dem Zeremonientagebuch wird ersichtlich, dass Festessen, Umzüge, Wagenrennen und Stierkämpfe als Feierlichkeiten in Rom stattfanden, an denen der Papst mit seinem Hof beiwohnte. Auch der päpstliche Palast diente als Ort zahlreicher Feierlichkeiten. Dass Tänze Bestandteil der Feiern waren, belegt das Tagebuch des Johannes Burckard mehrfach.15 Unter dem Pontifikat von Alexander VI. (1492–1503) etwa findet sich für den 31. Oktober 1501 folgender Eintrag: „In sero fecerunt cenam cum duce Valentinense in camera sua, in palatio apostolico, quinquaginta meretrices honeste, cortegiane nuncupate, que post cenam coreoverunt cum servitoribus et aliis ibidem existentibus, primo in vestibus suis, deinde nude. Post cenam posita fuerunt candelabra communia mense in candelis ardentibus per terram, et projecta ante candelabram per terram castanee, quas meretrices ipse super minibus et pedibus, nude, candelabra pertransuentes, colligebant, papa, duce et Lucretia sorore sua presentibus et aspicientibus.“16 Diese Darbietung von 50  leicht  bekleideten Tänzerinnen im Papstpalast stand bereits kurz nach der Aufführung in heftiger Kritik. Einige Kardinäle beklagten das päpstliche Verhalten und in Rom zirkulierten Schmähschriften und Plakate, die auf satirische Weise die Feierlichkeiten beschrieben. Auch außerhalb Roms, in Venedig und im Reich, entstanden Protestschriften gegen die als unangemessen betrachtete Feier.17 Auch an hohen Feiertagen wurden Tänze zur Unterhaltung veranstaltet. Kurz nach Weihnachten, um das Fest der Unschuldigen Kinder herum, notierte der päpstliche Zeremonienmeister: „Post prandium, fuit habitum in platea sancti Petri festum Romanorum, quod jovis carnisprivii in Agone haberi consuevit; adducte XII carruce regionum de antiquitatibus Romanorum que non intelligentur, more solito. In nocte, in camera pape, recitate sunt diverse comedie et

14 Burckardi, Johannis, Liber Notarum. Ab anno MCCCCLXXXIII usque ad annum MDVI, hg. v. Enrio Celani, Città di Castello 1911. Zur Einführung in das Werk vgl. Burckard 2003, S. 11–38. 15 Vgl. Heers 2003, S. 120 ff. 16 Burckardi 1919, S. 303. 17 Vgl. Heers 2003, S. 130 f., Burckard 2003, S. 379, 392.

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facte moresche et alie choree.“18 Tänze und Morisken zu veranstalten, war jedoch keine Erfindung von Papst Alexander VI. Bereits 1459 choreographierte der Tanzmeister Guglielmo Ebreo Tänze im Dienste von Papst Pius II. (1458– 1464) während des Empfangs von Alessandro und Francesco Sforza in Mantua.19 Die Teilnahme an Bällen oder ihre Ausrichtung beschränkte sich nicht auf das italienische Renaissance-Papsttum, dem man als Inbegriff des moralischen Verfalls ohnehin alles zutraut, sondern lässt sich auch für hohe Geistliche aus Italien, Frankreich und den deutschsprachigen Gebieten nachweisen. Für Italien lässt sich das Mitwirken von Geistlichen an Tanzveranstaltungen aus den Briefen von Isabella d’Este (1474–1539), der Markgräfin von Mantua, rekonstruieren. Im Frühjahr 1515 berichtet Isabella, dass sie im Haus von Lorenzo dem Prächtigen anlässlich des Karnevals an Feierlichkeiten teilgenommen habe. Bis in den Abend wurde dort in Gegenwart von mehreren Kardinälen getanzt. Nach einem zweistündigen Mahl wurden die Tänze bis 1 Uhr morgens fortgesetzt.20 Aus dem Brief geht ebenfalls hervor, dass der Großteil der Kardinäle maskiert am Fest teilgenommen hat. Im Juni desselben Jahres schreibt Isabella, dass sie für ein Fest in Porto bei Mantua zu Ehren ihres Onkels, des Kardinals von Aragon, vom ihm darum gebeten worden sei, die Unterhaltung zu organisieren. Da der Kardinal ausdrücklich wünschte, Tänze im lombardischen Stil anzuschauen, lud sie benachbarte Adelige ein und bat diese, alle Frauen und Männer, die als gute Tänzer galten, mitzubringen.21 Über ein Fest mit Tanz und theatralen Darstellungen, das sich 1542 in Trient ereignete, liefert ein italienischer Abt eine sehr detaillierte Beschreibung. Er berichtet ausführlich über die verschiedenen Tänze und Maskeraden. Anstatt aber diese Aktivitäten zu tadeln, lobt er: „Poi comparirono due ballerine, una viniziana e l’altra macherata, qual si dicena esser ferrarese, che con due uomini ballarono divinamente.“22 Am französischen Königshof gehörten Tänze und Maskeraden ebenfalls zum festen Unterhaltungsprogramm, so dass der venezianische Botschafter 1559 in seine Heimat berichtete, dass täglich Tänze am Hof stattfanden.23 Auch der englische Botschafter schreibt 1565 über die französischen Feste an den nicht gerade tanzabstinenten Hof Elisabeths  I.: „There is nothing but dancing and mummeries.“24 Tänze und Maskeraden dienten dabei nicht nur der Zerstreuung, 18 19 20 21 22 23 24

Burckardi 1911, S. 312. Vgl. Salmen 1997a, S. 12. Vgl. Sparti 2007, S. 37. Vgl. ebd. Zitiert nach Salmen 2006, S. 98. Vgl. McGowan 2008a, S. 128. Ebd.

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sondern wurden als integraler Bestandteil von Machtdemonstration, politischer Lagerbildung und sozialer Kontrolle inszeniert. Und wenn sie der Zerstreuung dienten, dann einer durchdachten Zerstreuung, die Adelige davon abhalten sollte, Komplotte zu schmieden. So zumindest schilderte es Katharina von Medici ihrem Sohn Karl  XI. in einem Brief und empfahl ihm, jede Woche zwei Bälle zu veranstalten, um kritische Adelige auf andere Gedanken zu bringen.25 Die hohe Geistlichkeit Frankreichs konnte sich diesen Veranstaltungen nicht entziehen, wollte sie nicht Gefahr laufen, Kontakte und Einfluss am Hof zu verlieren. 1580 beklagte sich etwa der päpstliche Gesandte, dass drei Kardinäle an einer höfischen Maskerade teilnahmen.26 Diese Begeisterung für Tänze, Maskeraden und Moresken am Königshof bestand spätestens seit der Regierung von Franz I. Margaret McGowan hat in ihrer 2008 erschienenen Studie die Vielzahl der Tanzveranstaltungen am königlichen Hof aufgelistet und analysiert. Daraus wird zum einen deutlich, dass bei Taufen Tänze unmittelbar nach dem Gottesdienst stattfanden und der Klerus ihnen beiwohnte. Zum anderen zeigt die Auflistung der Örtlichkeiten, dass auch der bischöfliche Palast von Paris als Veranstaltungsort für Bälle fungierte.27 Nicht allein der hohe Klerus, wie etwa der Kardinal von Lorraine, der mehrfach mit König Franz I. Maskeraden – unter anderem als Bär verkleidet – tanzte, war dem Tanz gegenüber mehr als aufgeschlossen. Aus den königlichen Rechnungsbüchern erfahren wir, dass „Monseu Vivault, capellan de la Major“28 24 Florin als Entschädigung für die Ausarbeitung der Choreographie anlässlich des siegreichen Italienfeldzuges in Marseille erhielt. Derartige Feste beschränkten sich nicht auf Italien und Frankreich, wie sich den Tagebuchaufzeichnungen des schlesischen Ritters Hans von Schweinichen (1552–1616) entnehmen lässt. Bei einem Besuch in Köln berichtet er davon, an einem „Mummenschanz“ der adeligen Nonnen vom St. Marienkloster teilgenommen zu haben. „Wir waren also lustig mit den Nonnen, tanzten und trunken sehr“29, notierte er 1576 in seinen Aufzeichnungen. Was weitere Tänze von Geistlichen im Heiligen Römischen Reich betrifft, haben wir durch die Warnlegenden der Prediger aus dem 16. Jahrhundert einen ersten Eindruck gewonnen. Im Traktat von Cyriacus Spangenberg wurde auf den Tod eines Bischofs beim Tanz als Beleg für göttliche Strafe für unanständige Tänze Bezug genommen. Der Autor berichtet darin über den Bischof von Naumburg, Johann 25 26 27 28 29

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 249–253. Baux u.a. 1904, S. 50. Vgl. auch McGowan 2008a, S. 133 f. Salmen 1999b, S. 72, dort weitere Beispiele von tanzenden Ordensgeistlichen.

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von Miltitz: „Ist derhalben am Reyen zwischen zweyen Weibern / mit denen er zugleich getanzt / umbgefallen / und plötzlich gestorben.“30 Spangenberg zitiert an dieser Stelle die deutsche Übersetzung des Chronicon Citicensi, in dem für das Jahr 1351 der Tod des Bischofs beim Tanz vermerkt ist: „Eodem anno in die sancti Iohannis ewangeliste Iohannes episcopus Nunburgensis dictus de Meldingen multas dominas invitaverat ac solaciose vixerat, tandem agressus coream, inter duarum dominarum manus corizando expiravit.“31 In seiner Kritik an den Tänzen von katholischen Geistlichen weiß Spangenberg auch von einem Fall von 1376 zu berichten, als der Erzbischof von Magdeburg, Ludwig, Landgraf zu Düringen, ein großes Fest veranstaltete und dabei bei Tänzen mit Frauen viel „leichtfertigkeit“ und „üppigkeyt“ getrieben hätte. Aus Unachtsamkeit der Diener entfachte sich ein Feuer und bei dem Versuch, sich aus dem Tanzsaal zu retten, stürzte der Erzbischof schwer und starb am nächsten Tag an einer Kopfverletzung.32 Diese Beispiele sind zwar späteren Warnlegenden entnommen, werden jedoch bereits in der zeitgenössischen Chronistik des 14. Jahrhunderts erwähnt. Insofern können sie als Beleg für die Fest- und Tanzkultur der deutschen Geistlichkeit herangezogen werden. Neben den Bischöfen lassen es sich auch Klöster und Abteien nicht nehmen, Tanzveranstaltungen zu organisieren. Die Rechnungsbücher der Augustinerabtei St. Nicolai in der Nähe von Passau enthalten Ausgaben für Spieler anlässlich des „neytharttancz“33. Geldzuwendungen an Musiker und Tanzorganisten sind auch aus anderen Klöstern überliefert. In Breslau beispielsweise bezahlte ein Abt im Jahr 1468 Musiker für Tänze, für die extra Frauen in das Kloster eingeladen worden waren.34 Wenn reiche Klöster und Bischofshöfe Tänze organisierten, war es nur konsequent, wenn derartige Feste auch auf den Konzilien stattfanden. Gerade auf den großen kirchlichen Konzilien wie Basel oder Trient, die sich über mehrere Jahre erstreckten, wurde nicht nur lebhaft debattiert, sondern es fanden auch zahlreiche Festveranstaltungen statt. Insbesondere wenn das Konzil von Hochadeligen oder gar Königen besucht wurde, war es selbstverständlich, dass zu deren Ehren ein Fest gegeben wurde. Jacques Bonnet35 berichtet in seiner 30 Daul 1569, S. 106. 31 Cronica S. Petri Erfordensis moderna 1889, S. 382. 32 Vgl. Daul 1569, 107f. Spangenberg verweist auf die 1558 erschienene Chronik „Ecclesiastica historia sive metropolis Alberti Crantzii nunc primum in lucem edita …“, in der dieser auf S. 320 den Tod nach der „chorea“ des Erzbischofs berichtet. Beim Todesjahr ist allerdings eher vom Jahr 1382 auszugehen. Siehe dazu den entsprechenden Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Bd. 19, Leipzig 1884, S. 561 ff. 33 Salmen 1999b, S. 72. 34 Vgl. ebd. 35 Ausführlicher zu Bonnet vgl. Kap. 2.2.1 dieser Arbeit.

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Tanzgeschichte von 1723 etwa, dass Philipp II. von Spanien bei seinem Besuch auf dem Konzil von Trient eine derartige Ehre zuteilwurde: „… où le Cardinal Hercule de Mantoue présidoit, tous les Chefs du Concile par délibération convinrent de donner au Roi une fête galante, & digne de la magnificence d’une assemblée si considérable: les Dames les plus distinguées de la Ville de Trente, y parurent avec beaucoup d’éclat. La somptuosité du festin fut suivi d’un bal de cérémonie, dans le goût d’Italie, dont le pompeux appareil merita l’applaudisement de Philippe II, qui y dansa avec autant de liberté que de modestie, de même que les Cardinaux & autres grands Prélats qui se trouverent dans le cercle du bal. On peut insérer de-là que l’Eglise ne condamne pas absolument l’usage de la danse, mais bien les abus qu’on en peut faire; sans quoi le Cardinal Pallavicin n’auroit pas rapporté un fait si favorable pour elle, dans son histoire du Concile de Trente.“36

Dass es sich bei dem Beleg diesmal nicht um eine Erfindung des aufgeklärten 18. Jahrhunderts handelt, lässt sich daran erkennen, dass Bonnet auf die „Istoria del Concilio di Trento, scritta dal P. Sforza Pallavicino, della Comp. di Giesù ove insieme rifiutasi con auterevoli testimonianze un Istoria falsa divolgata nello stesso argomento sotto nome di Petro Soave Polano“ verweist, die 1656/57 als Chronik des Konzils erschien. Mit ausdrücklicher Unterstützung des Papstes entwarf der Jesuit Pallavicino eine offizielle Darstellung der Geschichte des Konzils als Widerlegung der 1619 erschienenen „Historia del Concilio Tridentino, nella quale si scoprono tutti gli artifici della corte di Roma … di Pietro Soave Pollano“.37 Dass Bonnet diese Passage richtig übersetzt hat, musste auch der Rezensent im jesuitischen „Journal de Trévoux“ anerkennen. Allerdings fand er, dass Bonnets Interpretation von tanzenden Kardinälen zu weit ginge. Sie seien lediglich als Zuschauer anwesend gewesen.38 Dass Kardinäle tatsächlich bei abendlichen Bällen mitgetanzt haben, lässt sich den Aufzeichnungen von Angelo Massarelli (1510–1566), dem Sekretär des Legaten Cervini, vom 3. und 4. März 1546 entnehmen.39 Demnach hatte der Kardinal von Trient, Christoph Madruzzo, in seiner Residenz anlässlich einer Hochzeit ein großes Festessen mit anschließendem Ball veranstaltet, bei 36 Bonnet 1723, S. 121 f. 37 Vgl. Journal de Trévoux 1724, S. 875–878, dort auch Kritik an Bonnets falscher Datierung. 38 Vgl. Journal de Trévoux 1724, S. 876 f. 39 Tagebuch Massarellis, CT 1, S. 507 f., abgedruckt in Dumeige 1975, S. 446 f. (zitiert wird hier und im Folgenden die deutsche Übersetzung 1978, S. 497 ff.), vgl. dazu Ruel 2006, S. 130 f.

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dem er selbst als Reigenführer die Tänze eröffnete. Die von ihm eingeladenen Gäste, unter anderem die Bischöfe von Feltre, Agde und Lyon, nahmen gemäß der höfischen Tradition ebenfalls an den Tänzen teil. Als Christoph Madruzzo am nächsten Tag hörte, dass sich die päpstlichen Legaten darüber beschwerten, zeigte er sich erstaunt: „(Der Kardinal von Trient) sagte (in Gegenwart Massarellis), er habe gehört, daß die (päpstlichen) Legaten sich darüber aufgeregt hätten, daß er einige Bischöfe gestern an seinem Hof zum Ball geladen habe; er (Madruzzo) sei darüber sehr überrascht gewesen, da dies in aller Ehrbarkeit und Anständigkeit geschehen sei gemäß der örtlichen Gepflogenheiten.“40 Die Reaktion des ausrichtenden Kardinals von Trient zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der Geistliche Bälle besuchten und veranstalteten. Die Einwände dagegen schienen ihn vielmehr zu überraschen, zumal der Ball standesgemäß und den regionalen Sitten gemäß abgehalten worden war, er demnach kein Fehlverhalten zu erkennen vermochte. Bei einer anschließenden Befragung anderer Kardinäle zeigte sich, dass diese Meinung durchaus geteilt wurde. Kardinal Del Monte sah ebenso keinen Grund, Kritik an dieser Art von Bällen zu üben, vielmehr versicherte er, wenn die „Gesundheit es gestattet hätte (er litt an der Gicht), wäre er gerne dabei gewesen und hätte es den anderen gleich getan.“41 Der englische Kardinal Reginald Pole konnte ebenfalls kein Fehlverhalten erkennen. Er erklärte, dass es in England nicht nur selbstverständlich sei mit, Frauen zu tanzen, sondern ihnen auch einen Kuss zu geben, „natürlich unter Wahrung des Anstands und mit größter Ehrfurcht und christlicher Liebe“42, wie er hinzufügte. Allerdings erhielt die kritische Position zumindest Unterstützung bei dem Kardinal Cervini: „Er zeigt sich über die Angelegenheit aufs höchste entrüstet; er betonte, es sei für einen Bischof schlechterdings unerlaubt, auf den Ball zu gehen, zumal an diesem Ort und dieser Zeit, wo sie doch zusammengekommen seien, um das bedrohte sittliche Leben des christlichen Volkes zu bessern, die Kirchenreform zu betreiben und den anderen durch Gebote und eigenes Beispiel eine Norm ihres Lebens zu geben. Jetzt werden alle sagen: Was läßt sich von den in Trient versammelten Bischöfen Gutes erwarten, wenn sie sich vor allem mit Tänzen und anderen Reigen verschiedener Art beschäftigen.“43 Die Schilderungen machen deutlich, dass es innerhalb des hohen Klerus keinen Konsens darüber gab, ob es während eines Konzils gestattet sei, zu tanzen, 40 41 42 43

Dumeige 1978, S. 498. Ebd. Ebd. Ebd.

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oder nicht. Auch die Kritik Cervinis richtete sich in erster Linie gegen Bälle während des Konzils, nicht jedoch gegen die Teilnahme von Bischöfen und Kardinälen an Bällen im Allgemeinen. Die vorgestellten Beispiele haben aufzeigen können, in welcher Weise Geistliche Tanzvorführungen beiwohnten und an Bällen teilnahmen. Es wird deutlich, dass geistliche Würdenträger wie Kardinäle, Bischöfe und Äbtissinnen demnach keineswegs von diesen Festlichkeiten ausgeschlossen waren, sondern sie vielmehr häufig selbst als VeranstalterInnen von Festen auftraten. Die Ausrichtung von und Partizipation an Bällen scheint damit ein so integraler Bestandteil adeliger Selbstdarstellung und Lebensweise gewesen zu sein, dass auch eventuell konträre Handlungserwartungen der kirchlichen Gesetzgebung wenig daran ändern konnten, zumal die Fähigkeit zu tanzen allen Adeligen seit ihrer Kindheit vertraut war. Wenn der Tanz in so zahlreichen Kontexten eine große Rolle spielte, verwundert es nicht, dass der Tanz wesentlicher Bestandteil der Erziehung war. In allen Tanzlehrbüchern des 16.  Jahrhunderts wird immer betont, dass die Fertigkeit, gut zu tanzen und sich anmutig zu bewegen, für das gesellschaftliche Leben unerlässlich seien.44 Baldassare Castigliones (1478–1529) „Il Libro del Cortegiano“ von 1528 spiegelt den Wandel in der Renaissance zu den neuen Tugenden eines Edelmanns wider. Im Gespräch darüber, welche Fertigkeiten einen Hofmann auszeichnen sollten, wird als Gegenstück der sich allein auf das Kriegshandwerk verstehende Adelige entworfen: „Jedoch wollen wir andererseits nicht, dass er sich allzu rau zeige und Worte wie ‚Meine Gattin ist das Schwert‘ im Munde führt; auch soll er nicht mit trotzigen Mienen herumblicken, wie wir sie an Berto gesehen haben. Solche Leute anzuführen ist eine leichte Sache, wie es eine witzige Dame in der vornehmen Gesellschaft in der launigsten Weise mit einem Poltron getan hat, den ich jetzt nicht nennen will. Sie hatte ihn zu einem Tanz aufgefordert, den er ablehnte, ebenso wollte er von Musik nichts wissen und schlug überhaupt jeden Zeitvertreib mit dem Bemerken aus, derartige Kindereien seien nicht sein Beruf. Als ihn endlich die Dame fragte, was denn eigentlich sein Beruf sei, gab er mit scheelem Gesicht den Bescheid: ‚Kämpfen!‘ Treffend erwiderte sie: ‚Ich möchte dafürhalten, dass es, da jetzt keine Kriegsläufe sind, es auch bis zur nächsten Schlacht noch dauern wird, das Beste, was ihr tun könnt, wäre, Euch ordentlich mit Fett zu bestreichen und mit aller Eurer Wehr und Waffen irgendwo in ein Zeughaus zu stellen, bis man Eurer wieder bedarf, damit ihr dann nicht noch rostiger seid als jetzt.‘“45 44 Vgl. Salmen 1997a, S. 7–30, Asch 2008, S. 145–148. 45 Castiglione 1996, S. 27.

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Baldassare Castigliones Zitat verdeutlicht, dass der Edelmann neben seinen Kampftalenten auch umfangreiche Fertigkeiten in Tanz und Musik aufweisen musste, wollte er sich nicht im gesellschaftlichen Leben lächerlich machen. Der ideale Edelmann zeichne sich vielmehr durch eine Anmut des Körpers aus, die er durch das Fechten, Reiten und Voltigieren, Tanzen, Ballspielen und Ringen erhält. Auch für junge Damen wird das Tanzen empfohlen, wenn sie sich an Adelshöfen aufhalten wollen, wie aus dem knapp 50 Jahre später erschienenen Traktat „La Civil Conversatione“ von Stefano Guazzo (1530–1593) hervorgeht. Der Autor rät darin den Vätern, bei der Erziehung ihrer Töchter auf folgende Fertigkeiten zu achten: „Si le pere les veut mettre à la cour, au service de quelque Princesse, de maniere, qu’il faut qu’elles sachent lire, escrire, discourir, chanter, sonner, baller et faire proprement tous ce qui sert à l’ornement des dames de cour.“46 Als Vermittler dieser Tugenden traten in Westeuropa mit der Renaissance die Tanzmeister als neues Berufsbild auf. Für Italien sind schon seit dem 15. Jahrhundert die ersten Tanzmeister, die maestri del ballo, für alle wichtigen Städte wie Ferrara, Florenz, Venedig oder Neapel bezeugt. Albrecht Dürer berichtete während seines Aufenthalts in Italien in Venedig 1506 ebenfalls von dem in seinen Augen sündhaft teuren Tanzunterricht. Auch in Nordspanien, Burgund und Böhmen lassen sich bereits im 15. Jahrhundert Tanzmeister nachweisen.47 Die im 15. Jahrhundert noch vor allem zwischen Höfen und Städten reisenden Tanzmeister begannen sich um 1500 niederzulassen, so dass in ganz Westeuropa Tanzschulen entstanden. Aus England berichtete Juan Luis Vives (1492–1540), der Gesandte Aragons, im Jahr 1527 von der Unsitte, dass allerorten Tanzschulen aus dem Boden schossen.48 Auch Shakespeare unterrichtet uns in seinem Drama „Heinrich V.“ über die florierenden englischen Tanzschulen: „They bid us to the English dancing-schools, And teach lavoltas high and swift corantos, Saying our grace is only in our heels, And that we are most lofty runaways.“49

Seit Beginn des 16. Jahrhunderts, spätestens mit den Italienfeldzügen Franz’ I., kamen die ersten Tanzmeister nach Frankreich und unterrichteten fortan Kinder des Adels und des Bürgertums, von denen viele eine geistliche Laufbahn an46 Guazzo, La Civile Conversatione, S. 395  f., zitiert nach: Brooks 2000, S. 199. Bei Brooks finden sich weitere Beispiele für die Tanzausbildung von Frauen. 47 Vgl. Salmen 1997a, S. 8 ff., 14, Wagner 1997, S. 12. 48 Vgl. Wagner 1997, S. 13. 49 Henry V., III.V, 32–35.

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strebten. Im Gefolge von Katharina von Medici erreichten dann immer mehr italienische Tanzmeister den französischen Königshof. Einer von ihnen, Balthazar von Beaujoyeux (um 1535–1587), sollte bald federführend bei der Erziehung der Prinzen ab 1555 mitwirken.50 Nicht nur innerhalb der königlichen Familie, sondern in weiten Kreisen des französischen Adels setzten sich die in Castigliones Werk beschriebenen Ideale des Hofmanns durch. Jacques de Savoie (1531–1585), der Herzog von Nemours und ein vorbildlicher Kavalier, wurde von seinen Zeitgenossen mit eben diesen Tugenden beschrieben. Er konnte hervorragend springen, voltigieren, war in verschiedenen Ballspielen beschlagen und war eben auch ein exzellenter Tänzer.51 Für die Bischöfe und Kardinäle des 16. Jahrhunderts, die in der Mehrheit eine (hoch-)adelige Herkunft hatten, ist eine Ausbildung durch Tanzmeister in der Jugend wahrscheinlich. Da eine geistliche Laufbahn nicht seit der Geburt festgelegt war, sondern sich später entschied, wurde in der Erziehung deshalb zunächst kein Unterschied gemacht, sondern die Söhne wurden in den gleichen Fähigkeiten unterwiesen. Auf dem Konzil von Trient mangelte es folglich nicht an versierten Tänzern. Was die Tanzfertigkeiten der Geistlichen aus dem Niederadel oder dem Bürgertum betrifft, die vielfach die Kanonikate besetzten, liefern uns zwei Tanzlehrbücher aus dem 16. Jahrhundert einige Hinweise. Thoinot Arbeau – alias Jehan Tabourot – informiert als Kanoniker selbst über die Tanzerziehung dieser Zeit. In seiner bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutierten „Orchésographie“ schildert der Domherr aus Langres, wie er in seiner Jugend in den 1530er und 1540er das Tanzen erlernt hatte. Der 1520 in Dijon geborene Arbeau studierte in seiner Heimatstadt und in Poitiers und möglicherweise auch in Paris, bevor er 1542 in das Kapitel in Langres aufgenommen wurde.52 Wie er in seinem Lehrbuch berichtet, wurde er während seines Studiums der Rechtswissenschaften von einem Tanzmeister unterrichtet.53 Im Vorwort seines Buches legt er seinem Dialogpartner, dem Tanzschüler Capriol, zudem ein Lob über seine Geschicklichkeit beim Tanz in seiner Jugend in den Mund. Auch Antoine Arena (1500–1544), der Verfasser des Tanzlehrbuches „Ad suos compagnones studiantes“ und wichtigste Referenz für Arbeau, beschreibt darin, wie wichtig es sei, Tänze zu lernen, um in der Gesellschaft geachtet zu werden. In der Forschung wird angenommen, dass Arena es um 1519/20 konzipierte, auch wenn seine Veröffentlichung erst zehn Jahre später erfolgte.54 Louison-Lassablière dagegen 50 51 52 53 54

Vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 161 f. Vgl. Jusserand 1986, S. 258. Vgl. Kirchner 1991, S. 17. Vgl. Arbeau 1588, fol. 26v. Arena 1990, S. 5.

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macht darauf aufmerksam, dass seine Ausführungen zur Erziehung deutlich von Castigliones 1528 publiziertem Werk inspiriert zu sein scheinen.55 Arena widmet das Werk seinen Studienkollegen aus dem Bürgertum und versichert ihnen, dass das Tanzen für das gesellschaftliche Leben unerlässlich sei: „La qualité de la danse manifeste celle de l’homme, et c’est grâce aux basses danses que tu feras valoir, et l’on te citera parmi les plus brillants.“56 Vor allem die Damen würden darauf achten, wer gut zu tanzen verstehe, und diejenigen verlachen, die es nicht können. Da an den Universitäten die Professoren das Tanzen nicht unterrichteten, beklagt sich Arena, müsste man es anderswo, bei den Tanzmeistern, erlernen.57 Schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Unterricht durch professionelle Tanzmeister für Studenten aus dem Bürgertum wie Arena und Arbeau also möglich. Die Bischöfe und Kardinäle, aber auch Kanoniker des 16. Jahrhunderts verfügten über eigene Tanzpraxis, die sie während ihrer Studien an Universitäten oder durch Tanzmeister in ihrer Jugend erlernt hatten. Für das 14. und 15. Jahrhundert bleibt hingegen weitgehend unklar, ob und auf welche Weise Klerikern Tanzschritte und Körperhaltung vermittelt wurden, allerdings gilt dies allgemein für den Tanzunterricht in diesen Jahrhunderten.58 Die Vorstellung, dass weltfremde Geistliche, die selbst nie getanzt hatten und das Tanzen verachteten, in einer generellen Verdammung des Körpers auch rigide Tanzverbote erließen, mag vielleicht für einige Ordensgeistliche aus dem 12. und 13. Jahrhundert gelten. Für den Klerus des 15. und 16. Jahrhunderts und insbesondere für die adeligen Bischöfe und Kardinäle, die für den Erlass und die Durchsetzung dieser Verbote verantwortlich waren, trifft dies jedoch kaum zu. Deshalb soll im nächsten Punkt nun genauer untersucht werden, was in den viel zitierten Tanzverboten kritisiert wurde.

3.2 Kirchliche Tanzregulierungen vom 4. Laterankonzil bis zum Konzil von Trient (1215–1563) Eine ausführliche Beschäftigung mit den kirchlichen Tanzverboten ist von der Forschung bisher nicht geleistet worden und wird immer wieder als wichtiges 55 56 57 58

Vgl. Louison-Lassablière 2003b, S. 48 ff. Arena 1990, S. 57. Ebd., S. 59. Vgl. Salmen 1997a, S. 7–10.

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Desiderat benannt.59 Auch an dieser Stelle können die von Dronke auf mehrere hundert60 geschätzten Verbote nicht behandelt werden. Dafür wäre auch zunächst eine systematische Untersuchung der Akten der allgemeinen Konzilien und der Provinzkonzilien unerlässlich, um Stoßrichtungen in der kirchlichen Gesetzgebung erkennen zu können. Inwieweit darüber hinaus Tanzregulierungen aus Predigten und Bußbüchern eine normative Wirkung entfalteten, wäre weiterhin zu überprüfen. Ich beziehe mich in diesem Teil der Arbeit lediglich auf die allgemeinen Konzilien vom 4. Laterankonzil bis zum Konzil von Trient, die Gültigkeit für die gesamte lateinische Christenheit beanspruchen. Ich bin mir im Klaren darüber, dass ohne die Provinzkonzilien mögliche regionale Unterschiede ausgeblendet werden, mir geht es jedoch zunächst darum, Tendenzen in der kirchlichen Gesetzgebung aufzuzeigen. In einem späteren Teil der Arbeit werden dann die für die Fallbeispiele relevanten Regulierungen für die Kirchenprovinz Sens dezidierter untersucht.61 Allerdings darf die hohe Anzahl der Normierungen nicht zu dem Schluss führen, die mittelalterliche Kirche nur als Tanz verbietende Instanz zu betrachten. Das erste Kapitel hatte bereits gezeigt, dass die Vorstellung einer tanzfeindlichen Kirche vor allem eine Konstruktion der Moderne ist. Die Traktate des 16. Jahrhunderts zeigten nicht nur eine verbreitete kirchliche Tanzpraxis, sondern machten auch die ambivalente Bewertung dieses Phänomens deutlich. Wie sind demnach die vor allem im 17. Jahrhundert aufkommenden Listen von Tanzverboten, die in den darauf folgenden Jahrhunderten immer wieder zitiert wurden, in diesem Kontext zu verstehen? Die Feststellung, dass die Verbote keine Akzeptanz erfuhren und trotzdem weiter getanzt wurde, ist sicherlich in vielen Fällen richtig. Der erste Einwand richtet sich demnach gegen die Umsetzung von Tanzverboten und fragt, inwiefern sich eine Norm in der Praxis widerspiegelte. Neben der Umsetzung sollten die Verbote selbst aber auch genauer betrachtet und untersucht werden, was genau für wen, wann und wo verboten wurde. Die Initiatoren der Verbote waren, wie oben dargelegt wurde, häufig dem Tanz nicht abgeneigt oder selbst geübte Tänzer. Der zweite Einwand richtet sich somit gegen eine Pauschalisierung der Tanzverbote und fordert ihre differenzierte Betrachtung.62 Zudem darf nicht vergessen werden, dass nicht allein kirchliche Konzilien und Synoden, sondern auch weltliche Instanzen wie Städte oder Könige Gesetze und Beschlüsse zur Regulierung der Tanzpraktiken erließen. 59 60 61 62

Jüngst von Haines 2010, S. 55, und Rohmann 2013, S. 181. Vgl. Dronke 1977, S. 16, zitiert nach Haines 2010, S. 55. Vgl. Kap. 5.3.1. Vgl. zu dieser Forderung und einem ersten Vorschlag zur Systematisierung: Rohmann 2013, S. 181–187.

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Das vierte Laterankonzil unter Papst Innozenz III. (1198–1216) gilt als eines der wichtigsten Reformkonzilien der Kirchengeschichte. Die Versammlung, an der über 400 Bischöfe teilnahmen, setzte mit der Festlegung von regelmäßigen Synoden und Visitationen zwei Institutionen ein, welche die Orthodoxie der Gläubigen und Lebensgewohnheiten des Klerus ständig im Auge behalten sollten. Die Idee dieser „révolution pastorale“63 war im Pariser Becken gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstanden, wo Lothar von Segni (der spätere Innozenz  III.), Odo de Sully (†  1208) und Guillaume de Seignelay (†  1220), die späteren Bischöfe von Paris, und Robert de Courson († 1219) wirkten. Die Synodalstatuten von Paris, die der dortige Bischof Odo de Sully 1204 veröffentlicht hatte, beeinflussten die Beschlüsse des Laterankonzils erheblich.64 Von den 1215 verabschiedeten 70 Konstitutionen befassen sich acht damit, die Sitten der Kleriker zu reformieren. Sie verfolgen das Ziel, den Klerus als eigenen ordo in seinem Aussehen und seinen Praktiken deutlich von den Laien unterscheidbar zu machen. Neben der strikten Forderung nach Keuschheit versuchte das Konzil auch weltliche Vergnügen wie den übermäßigen Alkoholkonsum und die Jagd zu verbieten. Im unmittelbaren Anschluss an diese Forderungen heißt es im Kanon 16: „Kleriker sollen keine weltlichen Berufe oder Gewerbetätigkeiten ausüben, zumal wenn sie unehrenhaft sind, und an Spielmännern, Gauklern und Komödianten kein Interesse zeigen. Gasthäuser meiden sie gänzlich, es sei denn, sie sind auf Reisen darauf angewiesen. Sie betreiben keine Würfel- oder Glücksspiele und sind bei solchen Spielen auch nicht dabei.“65 Diese Aufzählung wie auch die anschließende Regulierung der Kleiderordnung ist im Kontext weltlicher Vergnügen zu verorten. Ganz allgemein wird der Umgang mit GauklerInnen und Spielleuten untersagt, die eine Vielzahl von Tätigkeiten, darunter auch Tanz, ausüben. Das Tanzen selbst allerdings wird bei diesem Verbot nicht eigens erwähnt. Auch der nächste Kanon, der die Müdigkeit der Kleriker beim Morgengottesdienst kritisiert, nachdem sie in den Nächten Gelage abgehalten haben, verweist nicht explizit auf den Tanz. Die beiden Konzile von Lyon waren in erster Linie durch aktuelle politische Fragestellungen geprägt. Gegenstand auf dem 1. Konzil 1245 war vor allem der Konflikt zwischen Papsttum und dem deutschen Kaiser Friedrich  II.  (1220– 1250). Außerdem wurde über die Tartareneinfälle im Osten Europas, einen 63 Pontal 1975, S. 44. 64 Vgl. ebd. 65 „Clerici officia vel commercia saecularia non exerceant, maxime inhonesta, mimis, ioculatoribus et histrionibus non intendant et tabernas prorsus evitent, nisi forte causa necessitatis in itinere constituti; ad aleas vel taxillos non ludant, nec huiusmodi ludis intersint“, Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 243.

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möglichen Kreuzzug und eine Vereinigung mit der Ostkirche debattiert. Daneben wurden zwar auch Fragen wie etwa zum Zinswesen erörtert, Reformdekrete zum Lebenswandel des Klerus wurden jedoch nicht verabschiedet.66 Das zweite Konzil von Lyon 1274 führte in erster Linie den Gedanken einer Vereinigung mit der Ostkirche unter der Oberhoheit des römischen Papstes weiter, wozu eine Delegation aus Konstantinopel eingereist war. Zwar hatte der Papst auch wieder den Gedanken der Kirchenreform angestoßen und im Voraus um Gutachten über den Zustand der Kirche und den Lebenswandel der Gläubigen gebeten und auch erhalten, letztlich beklagte Gregor X. allerdings, dass die Fragen zur Kirchenreform auf dem Konzil kaum behandelt wurden. Lediglich im 25. Kanon „De immunitate ecclesiarum“ wird die Sakralität der Kirche betont, in der künftig keine weltlichen Veranstaltungen mehr stattfinden sollen. Die Aufzählung enthält ein Verbot von weltlichen Beratungen, Gerichtssitzungen, Handelsgeschäften, Wochenmärkten oder Alltagsgeschwätz; von Tanz oder Musik ist jedoch keine Rede.67 Das Konzil von Vienne fand von Oktober 1311 bis Mai 1312 in Südfrankreich statt, wobei die Stadt Vienne zu dieser Zeit noch nicht zum französischen Königreich gehörte. Es steht am Anfang des Avignoneser Exils (1309–1377), bei dem die Päpste von der Politik der französischen Könige beeinflusst Rom verließen. Gerade den Entscheidungen des Konzils von Vienne ist diese Mitwirkung anzusehen, ließ doch Philipp IV. gleichzeitig im nahen Lyon eine Generalversammlung der weltlichen Mächte des Königreichs durchführen und reiste kurz darauf selbst zum Konzil.68 Der König setzte dort erfolgreich die Zerschlagung des Templerordens und die Aufteilung seines Vermögens durch, was das vorherrschende Thema des Konzils von Oktober 1311 bis März 1312 war. Im Anschluss daran verabschiedete das Konzil eine Reihe von Dekreten zu theologischen und juristischen Fragen sowie zum Lebenswandel des Klerus. In diesem Kontext wurde am 6. Mai 1312 im Zuge der Reform der Ordensgeistlichen die Visitation der Frauenklöster beschlossen: „Deshalb richten die Visitatoren mit Eifer ihre Aufmerksamkeit gewissenhaft darauf, daß die Nonnen keine Seidengewänder, keinen Pelzbesatz, keine Seidentücher, kein langes und hoch frisiertes Haar, keine karierten und gestreiften Hauben tragen, sich nicht 66 Vgl. Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 274. 67 Vgl. ebd., S. 328: „Cessent in illis universitatem et societatum quarumlibet consilia, conciones et publica parlamenta. Cessent vana et multo fortius foeda et prophana colloquia. Cessent confabulationes quaelibet. […] Cessent in ecclesiis earumque cimiteriis negotiationes et praecipue nundinarum ac fori cuiusque tumultus. Omnis in eis saecularium iudiciorum strepitus conquiescat.“ 68 Vgl. Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 333 f.

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an Tanzbelustigungen und Festen der Weltlichen beteiligen, sich nicht bei Tag oder bei Nacht auf Gassen oder Straßen herumtreiben oder sonstwie ein vergnügliches Leben führen.“69 Die Verbote kritisieren eine Verletzung der Ordensregeln, da teure Kleidung dem Armutsgelübde und das Verlassen des Klosters der restriktiven Klausur nicht entsprachen. Gerade für Nonnenklöster war die Überwachung der Klausur eine der am häufigsten vorgebrachten Forderungen seit Beginn des 13. Jahrhunderts.70 Im Visitationsregister des Erzbischofes von Rouen, Eudes Rigaud (1248–1275), etwa ist an mehreren Stellen verzeichnet, dass Nonnen trotz dieser Verbote getanzt und Musiker in den Klausurbereich eingeladen haben.71 Der Tanz wurde somit in Vienne als Bestandteil weltlicher Vergnügen verboten, allerdings explizit nur für weibliche Ordensgeistliche. Wie im ersten Teil des Kapitels deutlich wurde, waren adelige Äbtissinnen und Nonnen häufig Gäste bei diesen Festen oder richteten sie selbst aus, was das Konzil zu maßregeln versuchte. Waren bisher nur Verbote von Tänzen im weltlichen Kontext aufgekommen, wird in Vienne zum ersten Mal auf einem allgemeinen Konzil im Mittelalter der Tanz im Kirchenraum thematisiert. Im Dekret 22, wo das Vernachlässigen der Liturgie beklagt wird, heißt es: „Manche Kleriker und auch Laien scheuen sich nicht einmal, zumal an den Vigilien bestimmter Feste, während sie in den Kirchen beten sollten, in den Kirchen und auf ihren Friedhöfen ausschweifende Tänze aufzuführen, bisweilen Liebeslieder zu singen und viele Zügellosigkeiten zu begehen. Daraus folgen wiederholt Kirchen- und Friedhofschändungen, Frivolitäten und andere Verfehlungen. Zur Beleidigung der göttlichen Majestät und zum Ärgernis des dabeistehenden Volkes wird meistens der Gottesdienst gestört.“72 Woher kommt nun diese Kritik an parallel zum Gottesdienst stattfindenden Tänzen von Laien und Geistlichen, die als Störung der Liturgie betrachtet werden? 69 „Visitatores autem huiusmodi sollicitudinis studium diligenter impendant, ut moniales ipsae […], pannis sericis, variorum foderaturis, sandalitiis, comatis et cornutis crinibus, scacatis et virgatis caputiolis non utantur, non choreas, non festa saecularium prosequantur, non die noctuve per vicos et plateas incedant, aut voluptuosam alias vitam ducant …“, Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 373. 70 Vgl. Parisse 1983, S. 181–189. 71 Vgl. Rigaud 1852, S. 44. 72 „Nonnulli etiam tam clerici quam laici, praesertim in festorum certorum vigiliis, dum in ecclesiis deberent orationi insistere, non verentur in ipsis earumque coemeteriis choreas facere dissolutas et interdum canere cantilenas ac multas insolentias perpetrare, ex quibus ecclesiarum et coemeteriorum violationes, inhonesta variaque delicta quandoque sequuntur et ecclesiasticum plerumque perturbatur officium in divinae maiestatis offensam et adstantium scandalum populorum.“, Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 378.

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Ein möglicher Erklärungsansatz wäre es, die nun vorgebrachte Kritik gegen Tänze im Kirchenraum und auf Friedhöfen in Zusammenhang mit der Sakralisierung eben dieser Orte im Hochmittelalter zu stellen. Kirchen und noch stärker Friedhöfe gelten heute vor allem als Räume, die ausschließlich für religiöse Handlungen wie Gottesdienst, Taufe, Beerdigungen und Totenandacht reserviert sind. Als in den letzten Jahrzehnten wegen sinkender Mitgliederzahlen zahlreiche Gemeinden fusionierten und Kirchen verkauft wurden, kam häufig die Kritik auf, dass heilige Orte durch Restaurants und Diskotheken entweiht würden. Dass in Kirchen nun gegessen und getanzt wird, ist zwar für uns heutzutage etwas Außergewöhnliches, es war in der langen Geschichte des Christentums allerdings kein Einzelfall. Denn Kirchen als Räume zu begreifen, in denen abgesehen vom jährlichen Schulkonzert nur dezidiert religiöse Aktivitäten stattfinden, wird der multifunktionalen Nutzung von Kirchen und auch Friedhöfen im Hochmittelalter nicht gerecht. Für das Frühchristentum stand zunächst auch nicht die Heiligkeit des Ortes, sondern die der Menschen im Vordergrund. Gemäß der Stelle aus dem Matthäusevangelium „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“73 zeigt sich, dass auf der Versammlung der Gläubigen der Fokus liegt, und nicht auf einem bestimmten Ort des Zusammentreffens. Für die Friedhöfe hat Michel Lauwers herausgearbeitet, dass die Vorstellung des Friedhofs als exklusiver Ort für die Toten im direkten Umfeld von Kirchen eine hochmittelalterliche Erfindung war.74 Vor dem Hochmittelalter waren Friedhöfe multifunktionale Orte, an denen Zusammenkünfte stattfanden, Recht gesprochen, gehandelt und gefeiert wurde. Vielfach waren auf ihnen Häuser errichtet und Gärten angelegt worden und sie dienten als Wohnstätten. Ab dem 11. Jahrhundert wurde von Seiten der Kirche zunehmend versucht diese Plätze des sozialen Lebens allein den klerikalen Autoritäten zu unterstellen. Der Friedhof sollte ausschließlich den Toten vorbehalten bleiben, deren Erinnerungskultur durch Begräbnisse und Gedenkfeiern die Kirche zu dominieren versuchte. Damit einher ging eine strikte Separierung der Toten, denn nur christlich getaufte Menschen, welche in die ständische Ordnung integriert waren, hatten das Recht – aber auch die Pflicht –, dort bestattet zu werden. Alle anderen, etwa Juden, Heiden, Spielleute, Prostituierte oder Selbstmörder wurden separat beigesetzt.75 Diesen Funktionswandel der Friedhöfe hat Dominique Iogna-Prat in ähnlicher Weise für das Kirchengebäude nachweisen können. Auch hier treten 73 Mt 18,20, Bibel 1978, S. 28. 74 Vgl. Lauwers 2005, S. 166–175. 75 Vgl. ebd., S. 165 f.

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ab dem späten 11. und frühen 12. Jahrhundert Bemühungen auf, den Kirchenraum ausschließlich für sakrale Handlungen zu reservieren und die als unpassend definierten Handlungen daraus sukzessive zu verbannen. Zunächst galt es, den Altarraum zu kontrollieren, dann die Seitenschiffe und schließlich auch die Vorplätze. Dieser Wandel vollzog sich mit der Vorstellung, die Kirche als Haus Gottes zu begreifen. Die Sakralität der Personen verlor damit zwangsläufig an Bedeutung, da sie nun in die Materialität der Gebäude einfloss. Die Weihe der Friedhöfe und Kirchen, deren rituelle Praktiken im Hochmittelalter entstanden, und die jährliche Feier der Kirchweihe waren Bestandteile dieses Prozesses.76 Dieser Reinheitsanspruch führte zwangsläufig zu Konflikten mit den Menschen, die diese Räume vorher genutzt hatten und deren Tätigkeiten als unangemessen und unheilig gebrandmarkt wurden. Auf welche Orte, auf welche Plätze, auf welche großen Gebäude, die so zentral lagen, hätte man auch ausweichen können? Die Verbote von Tanz auf Friedhöfen und in Kirchen müssen in dem Zusammenhang der Aufwertung dieser Orte als sakrale Orte gesehen werden. Die Begründung von Vienne besteht darin, die Tänze als Beleidigung Gottes zu bezeichnen, indem die Tanzenden nicht die Heiligkeit dieser Orte anerkennen. Die begleitenden Lieder werden explizit als Liebeslieder hervorgehoben, die einem weltlichen Kontext entstammen. Die zahlreichen Synodalstatuten aus dem 13. und frühen 14. Jahrhundert, die Tanz in Kirchen und auf Friedhöfen verbieten, präzisieren oftmals, um was für Tänze es sich dabei handelte. Im Konzil von Liège wurde dazu 1288 beschlossen: „Nous défendons également aux joueurs, aux histrions, aux danseuses d’exercer leurs jeux ou leurs bouffonneries dans l’église, au cimetière ou dans le portique, pendant les processions ou les rogations; et qu’en ces lieux, l’on ne danse pas.“77 In den Synodalstatuten tauchen Tanzverbote selten exponiert auf, sondern sie sind häufig Bestandteil einer längeren Aufzählung, bei der auch Holzschlag, Handel und Versammlungen verboten werden. Das Konzil von Basel war am 25. Juli 1431 vom päpstlichen Legaten, dem im Februar desselben Jahres durch eine Bulle des inzwischen verstorbenen Papstes Martin V. (1417–1431) die Leitung dazu übertragen worden war, eröffnet worden. Da der neue Papst Eugen IV. (1431–1447) vom Konzil beschuldigt wurde, er habe die Absicht, das Konzil zu verlegen, kam es auf der Versammlung immer wieder zu Streitigkeiten. 1437 verließen die papsttreuen Legaten und Bischöfe das Konzil und setzten die Beratungen bis 1445 in Ferrara fort, während die rest76 Vgl. Iogna-Prat 2006, S. 168–195, 259–282, Rohmann 2013, S. 130–133. 77 Zitiert nach Lauwers 2005, S. 264, ähnliche Verbote werden im 13. Jahrhundert auch in Rouen, Avignon, Trier, Utrecht und Würzburg erlassen.

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lichen Teilnehmer, bei weitem die Mehrheit, bis 1449 weiterhin in Basel tagten. Wegen dieser Uneinigkeiten wurden allein die bis 1437 getroffenen Entscheidungen von beiden Seiten anerkannt.78 In diesem Zeitraum verabschiedete das Konzil am 9.  Juni  1435 eine Serie von Dekreten, die sich mit dem korrekten Verhalten im Kirchenraum befasste.79 In Frankreich, wo sich die Könige ab dem 15. Jahrhundert von den Verbindlichkeiten der päpstlichen Beschlüsse zu lösen versuchten, wurden die Entscheidungen 1438 in der Pragmatischen Sanktion von Bourges mit leichten Adaptionen bestätigt.80 Im letzten Punkt „De spectaculis in ecclesia non faciendis“ wurde in Basel festgelegt: „Es gibt auch noch jenen entsetzlichen Mißbrauch, der in einigen Kirchen häufig vorkommt: An bestimmten Festen des Jahres verkleiden sich einige Leute mit Mitra, Stab und Pontifikalgewändern und spenden nach Art der Bischöfe den Segen. Andere sind am Fest, das man in manchen Gegenden das Fest der Narren, der Unschuldigen oder der Kinder nennt, wie Könige und Herzöge verkleidet. Wieder andere treiben Masken- und Theaterscherze, veranstalten für Männer und Frauen Tänze und Reigen und verlocken die Menschen zu Spektakel und Gelächter. Schließlich bereiten andere dort Gelage und Festmähler. Dies lehnt die heilige Synode ab, sie setzt fest und befiehlt den Ordinarien, den Dekanen und Kirchenrektoren unter Strafe des Entzugs aller kirchlichen Einkünfte für drei Monate: Sie dürfen nicht weiter zulassen, daß diese oder ähnliche Belustigungen, auch Handels- oder Marktgeschäfte, in der Kirche, die das Haus des Gebets sein muß, und auf dem Friedhof veranstaltet werden. Sie dürfen ferner nicht versäumen, Übertreter durch kirchliche Zensur und andere Rechtsmittel zu bestrafen. Alle Gewohnheiten, Statuten und Privilegien, die diesbezüglich mit diesen Dekreten nicht im Einklang stehen, erklärt die heilige Synode für nichtig, es sei denn, sie sähen schwerere Strafen vor.“81 78 79 80 81

Vgl. Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 452. Vgl. Harris 2011, S. 208. Vgl. ebd., S. 209 f. „Turpem etiam illum abusum in quibusdam frequentatum ecclesiis, quo certis anni celebritatibus nonnullis cum mitra, baculo, ac vestibus pontificalibus more episcoporum benedicunt, alii ut reges ac duces induti, quod festum fatuorum vel innocentum, seu puerorum, in quibusdam regionibus nuncupatur, alii larvales et theatrales iocos, alii choreas et tripudia marium ac mulierum facientes homines ad spectacula et cachinnationes movent, alii comessationes et convivia ibidem praeparant: haec sancta synodus detestans, statuit et jubet tam ordinariis, quam ecclesiarum decanis et rectoribus, sub poena suspensionis omnium proventuum ecclesiasticorum trium mensium spatio, ne haec aut similia ludibria, neque etiam mercantias seu negotiationes nundinarum in ecclesia, quae domus orationis esse debet, ac etiam coemeterio exerceri amplius permittant, transgressoresque per censuram ecclesiasticam, aliaque iuris remedia punire non negligant. Omnes autem consuetudines, statuta ac privilegia quae his non concordant circa haec decretis, nisi forte

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Auch in Basel wurde der Tanz in eine Reihe mit anderen weltlichen Tätigkeiten gestellt. Das Konzil präzisierte jedoch zum ersten Mal, welche Feiern mit der Kritik gemeint waren. Der Beschluss spricht von einem Fest, das als Narrenfest, Fest der Unschuldigen oder als Fest der Kinder bezeichnet wird. Das Fest der Unschuldigen Kinder wurde am 28. Dezember zum Andenken der von Herodes ermordeten Kinder gefeiert. An diesem Tag oder anderen Tagen zwischen St. Nikolaus und Dreikönige fand in zahlreichen Kirchen und Klöstern Frankreichs, Englands und Deutschlands die Wahl eines Kinderbischofs oder Kinderabtes statt.82 Das Narrenfest war ebenfalls ein liturgisches Fest Ende Dezember, das in zahlreichen Kirchen begangen wurde. Der Liturgiker Johannes Beleth erwähnte bereits im 12. Jahrhundert ein Fest der Subdiakone, „quod vocamus stultorum“83, bei dem Tänze (tripudia) stattfanden. Aus dem Spätmittelalter sind aus einigen Kirchen Ordinarien erhalten, die den Festablauf und die dazugehörigen liturgischen Gesänge und Bewegungsformen beschreiben.84 In seinem Verbot vermengte das Konzil von Basel somit die Feierlichkeiten zweier unterschiedlicher Feste, die als besonders verwerflich gebrandmarkt wurden. Dass die in der Kritik genannten Punkte nur wenig mit dem Ablauf der vielerorts veranstalteten Kinderbischofsfeste gemein hatten, offenbart ein zehn Jahre später erlassenes Verbot der Pariser Sorbonne. Im März 1445 wurde von der theologischen Fakultät von Paris ein Brief an die Bischöfe und Kapitel Frankreichs gesandt, in dem noch einmal die Ausschweifungen während der Fête des Fous beschrieben und vehement ein Verbot dieses Festes gefordert wurden: „[...] quos divini officii tempore videret larvatos, monstruosos vultibus, aut in vestibus mulierum aut lenonum vel histrionum choreas ducere in choro, cantilenas inhonestas cantare, ossas pingues supra cornu altaris juxta celebrantem missam comedere, ludum taxillorum ibidem exarare, thurificare de fumo fetido ex corio veterum solutarium, et per totam ecclesiam currere, saltare [...]“85.

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maiores adiicerent poenas, irritas esse haec sancta synodus decernit“, Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 492, vgl. auch: Mansi XXXIX, 108, sess. XXI, can. 11. Zur Verbreitung und liturgischen Legitimation dieses Festes vgl. Dahhaoui 2005, 2006, 2008 und Skambraks 2010, 2013. Vgl. Johannes Beleth 1976, S. 133 f.: „Festum hypodiaconorum, quod vocamus stultorum, a quibusdam perficitur in Circumcisione, a quibusdam vero in Epiphania, vel in eius octavis. Fiunt autem quatuor tripudia post Nativitatem Domini in Ecclesia, leviratum scilicet, sacerdotum, puerorum, id est minorum aetate et ordine, et hypodiaconorum, qui ordo incertus est.“ Zu Johannes Beleth vgl. Kap. 5.1.2 dieser Arbeit, S. 282 ff. Dazu: Harris 2011, passim. PL 207, Sp. 1171. Französische Übersetzungen des Briefes erfolgten durch Thiers 1686, S. 441, und Du Tilliot 1751, S. 8 f. Chambers 1903, S. 194, übertrug den Text ins Englische, zur Rezeption des Briefes vgl. Skambraks 2010, S. 361, Harris 2011, S. 1–3.

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Wie Max Harris zeigen konnte, wurde dieser Brief in der Forschung lange Zeit als eine allgemeingültige Beschreibung der Fête des Fous eingestuft, der die verschiedenen Praktiken des Festes objektiv widerspiegele.86 Ohne regionale oder zeitliche Beschränkung schien der Brief das Fest als ein paganes Ritual zu entlarven, das im gesamten französischen Königreich seit der Antike überdauert hatte. Schaut man sich dagegen genauer an, in welchem Umfeld das Schriftstück entstanden ist, wird deutlich, dass von einer allgemeinen und objektiven Beschreibung kaum die Rede sein kann. Die Pariser Theologen hatten zwei Monate vor der Veröffentlichung ihres Schreibens nämlich eine Bitte des Bischofs von Troyes, Jean Leguise (1426– 1450), erhalten, der sich von ihnen eine theologische Rückendeckung gegen die Feiern der Fête des Fous in seiner Stadt erhoffte.87 Leguise, der bereits seit knapp 20 Jahren Bischof der Stadt war, hatte Anstoß an der Fête des Fous in den Kirchen von Saint-Pièrre und Saint-Etienne genommen, die in diesem Jahr nicht nur vier anstatt der bisherigen zwei Tage dauerte, sondern durch das Verhalten des für das Fest gewählten Narrenerzbischofs auch die Würde des Erzbischofs verletzt hätte. So zumindest schilderte er die Feierlichkeiten in einem Brief an den Erzbischof seiner Kirchenprovinz Sens, Louis de Melun (1433–1474): „[...] en leurs esglise, à ladicte feste aux folz, […] en encore ceste présente année ont esleu et faict ung arcevesque des folz vicaire d’icelle esglise, lequel la veille et le jour de la Circoncision nostre Seigneur fit le service en ladicte esglise vestu in pontificalibus, en baillant le [sic!] bénédiction solempnelle au peuple. Et avec ce, ledict arcevesque, en allant parmy la ville faisoit porter la croix devant luy et bailloit la bénédiction en grant dérision et vitupère de la dignité archiepiscopal.“88 Insbesondere war er aber darüber verärgert, dass während eines jeu de personnages er selbst und zwei Kanoniker, die das Fest ebenfalls kritisierten, verspottet wurden. Da beide Kirchen direkt dem Erzbischof von Sens unterstanden, hatte der Bischof von Troyes keine Möglichkeiten, dagegen vorzugehen, wie er selbst im Brief darlegt. Er wandte sich deshalb an den Erzbischof, an den König, den er um die Durchsetzung der Pragmatischen Sanktion von Bourges bat, und an die theologische Fakultät der Pariser Sorbonne. Die Pariser Theologen selbst nutzten die Gelegenheit, aus den Anschuldigungen des verärgerten Bischofs von Troyes nun ein allgemeines Verbot der Fête des Fous zu veranlassen. Zunächst fassten sie eine Reihe ganz unterschiedlicher Feste, wie etwa das Fest des Kinderbischofs, das Fest des Bohnenkönigs oder das 86 Vgl. Harris 2011, S. 1–3, 218–224. 87 Vgl. ebd., S. 218. 88 Rousse 1983, S. 41.

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Fest der Subdiakone unter dem Begriff Fête des Fous zusammen. Die Theologen fügten dann aus Verboten der Frühkirche, aus Elementen von weltlichen Festen, Gerüchten über ähnliche Feiern in anderen Kirchen sowie aus dem Beschluss des Konzils von Basel eine allgemeine Beschreibung der Fête des Fous zusammen. Im Brief wurde die Beschreibung der Fête des Fous dann so präsentiert, als würden derartige Feste im gesamten Königreich stattfinden. Zudem konstruierten sie die Festlichkeiten als Relikt der heidnischen Saturnalien, die mit all diesen Exzessen vollständig verboten gehöre. Mit seiner kritischen Relektüre des Briefes urteilt Max Harris über das Verbot der theologischen Fakultät: „The theologians’ letter is not a reliable account of the Feast of Fools at all times and everywhere. It is not even an accurate description of the Feast of Fools in the cathedrals of northern France around 1445. Rather, it is a historically conditioned, highly prejudiced attack on the Feast of Fools, taking advantage of Leguise’s particular troubles in Troyes to further a general campaign against the Feast of Fools.“89 Wenn auch die Beschreibungen im Brief der theologischen Fakultät wenig mit der eigentlichen Ausgestaltung der Feste zu tun haben mochten, stellte die Kritik an ihnen doch eine wesentliche Stoßrichtung der kirchlichen Tanzregulierungen dar. Das Verbot von Basel und der Sorbonne richtete sich jedoch ausschließlich gegen die Tänze, die im Umfeld der Kinderbischofsfeiern und der Fête des Fous praktiziert wurden, alle anderen Tänze im liturgischen Umfeld blieben davon ausgeschlossen. Das Konzil von Trient90, das zwischen 1545 und 1563 in der norditalienischen Stadt tagte, war von kirchlichen und politischen Veränderungen der Reformation geprägt. Im Konzil sollte Stellung zu den Lehrmeinungen der Reformatoren bezogen und gleichzeitig der Anspruch umgesetzt werden, die Kirche grundlegend zu reformieren. Da der Lebenswandel von Geistlichen, insbesondere die Vernachlässigung ihrer seelsorgerischen Aufgaben, ein häufiger Kritikpunkt der Reformatoren war, war es ein wesentliches Anliegen, den Lebenswandel des Klerus zu reglementieren. Allerdings waren Reformen in dieser Hinsicht seit dem Mittelalter verbreitet. Wie wir gesehen haben, gab es kaum ein Konzil, das nicht den Versuch unternommen hatte, den Lebenswandel der Geistlichkeit zu reformieren. Dennoch setzte das Trienter Konzil einen stärkeren Akzent auf die Würde der Geistlichen,91 die sich in ihrer gesamten Erscheinung und ihrem Handeln von den dörflichen und städtischen Gemeinschaften abgrenzen soll89 Harris 2011, S. 224. 90 Da das 5. Laterankonzil keine Dekrete zum Tanz verabschiedet hat, wird es in dieser Arbeit nicht behandelt. Seine Beschlüsse sind u.a. abgedruckt bei Wohlmuth 2000, Bd. 2, S. 593–655. 91 Vgl. Ruel 2006, S. 127 f.

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ten, so dass ihre hierarchisch übergeordnete Stellung immer sichtbar bliebe. Das Konzil bestimmte deshalb für den gesamten Klerus: „So ist es für Kleriker, die zum Los des Herrn berufen sind, geziemend, ihr Leben und den gesamten Sittenwandel so zu gestalten, daß sie in Kleidung, Haltung, Bewegung, Rede und in allen anderen Dingen nichts als Ernst, Besonnenheit und eine tief religiöse Einstellung erkennen lassen.“92 Das Dekret strebte eine Disziplinierung der Sitten und des gesamten Auftretens der Priester inklusive Gestik an. Mit Bourdieu könnte man von der Formierung eines klerikalen Habitus sprechen.93 Das Stichwort lautet moderatum, die Mäßigkeit und Angemessenheit des Lebenswandels, der die Geistlichen fortan auszeichnen soll. Was genau darunter verstanden werden sollte, oder vielmehr: was damit nicht mehr vereinbar schien, wurde vom Konzil weiter unten ausgeführt: „Deshalb hat die heilige Synode folgendes festgelegt: All die zahlreichen und nützlichen Regelungen, die anderweitig von Päpsten und heiligen Konzilien über Lebensweise und Wohlanständigkeit, über Bildung und Gelehrsamkeit, die von Klerikern festzuhalten, sowie über Luxus, Schwelgereien, Tanz, Glücksspiel, Tändeleien, jegliche Vergehen und schließlich weltliche Geschäfte, die zu meiden sind, getroffen wurden, müssen in Zukunft unter Androhung derselben oder sogar noch schwererer Strafen, die nach dem Urteil des Ordinarius auferlegt werden, Beachtung finden.“94 Tänze (choreae) werden in diesem Rahmen in Anlehnung an mittelalterliche Konzilien unter einer Reihe von Vergnügungen gefasst, die unter die Sünde der luxuria fallen. Das Verbot des Tanzes steht in einem Satz mit Würfelspielen, Spielen und Bereicherung bei Handelsgeschäften, die allesamt einem weltlichen Kontext zuzurechnen sind. Es handelt sich in etwa um die Vorwürfe, die der protestantische Prediger Melchior Ambach in seinem Tanztraktat von 1545 erhoben hatte.95 Dass Tänze, die in Kirchen zelebriert wurden, unter das Verbot fallen, scheint dagegen nicht der Fall zu sein. Ähnliche Verordnungen wie für die Priester wurden auf dem Konzil von Trient im 12. Kanon der 24. Sitzung bei den Vorschriften für die Kathedralkapitel beschlossen: „Darüber hinaus tragen sie ständig – sowohl in der Kirche, 92 „Quapropter sic decet omnino clericos in sortem Domini vocatos vitam moresque suos omnes componere, ut habitu, gestu, incessu, sermone aliisque omnibus rebus nil nisi grave, moderatum ac religione plenum prae se ferant“, Wohlmuth 2002, Bd. 3, S. 737. 93 Vgl. Bourdieu 1987, S. 97–222. 94 „Statuit sancta synodus, ut, quae alias a summis pontificibus et a sacris conciliis de clericorum vita, honestate, cultu doctrinaque retinenda, ac simul de luxu, commessationibus, choreis, aleis, lusibus ac quibuscumque criminibus, necnon saecularibus negotiis fugiendis copiose ac salubriter sancita fuerunt, eadem in posterum eisdem poenis, vel maioribus, arbitrio ordinarii imponendis, observentur“, Wohlmuth 2002, Bd. 3, S. 738. 95 Vgl. Ambach 1545, S. 9–15, dazu auch: Kap. 2.1.1, S. 53.

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als auch außerhalb – dezente Kleidung. Von unerlaubter Jagd, von Vogelfang, Tanz, Spelunken und Spielen halten sie sich fern.“96 Wie schon bei der Tanzkritik beim allgemeinen Klerus ist auch hier das Tanzverbot im Rahmen von Verboten profaner Vergnügen zu verstehen. Die üblichen adeligen oder bürgerlichen Praktiken wie die Jagd oder der Gasthausbesuch wurden als unangemessen für Kanoniker erklärt. Tanz im kirchlichen Rahmen scheint dagegen nicht Gegenstand der Regulierung zu sein, denn für liturgische Musik wird explizit auf die Provinzsynoden verwiesen: „Für alle übrigen Fragen, welche die gebührende Durchführung der Stundenliturgie betreffen, sowie für die entsprechende Art des Singens oder Musizierens in der Liturgie, die Regelung für die Zusammenkunft und den Verbleib im Chor und überhaupt alles, was die Diener der Kirche angeht und dringend der Klärung bedarf, wird die Provinzialsynode entsprechend dem Wohl und den Gepflogenheiten einer jeden Provinz eine verbindliche Form vorschreiben.“97 Die normativen Handlungsanweisungen sind Bestandteil eines Programms, das die Dignität der Geistlichen stärken soll. Hierfür entwirft das Konzil Anordnungen, das Sakrale stärker vom Profanen zu trennen, indem es die Teilnahme von Klerikern bei als weltlich angesehenen Anlässen reglementierte.98 Der tanzende Priester wurde dem Abbild Christi nicht mehr gerecht. Die Beschlüsse von Trient wurden in den folgenden Jahren in ganz unterschiedlicher Ausprägung auf den Provinzkonzilien verbreitet. In Mailand wurde etwa 1565 beschlossen: „Les ecclésiastiques n’assisteront point aux fables, aux comedies, aux joutes, aux tournois, ni autres spectacles vains et profanes de peur que leurs oreilles et leurs yeux, qui sont consacrez au culte de Dieu, ne soient soulliez par des actions et par des paroles badines et impures.“99 In Reims dagegen wurden im selben Jahr einige Modifikationen zum Tanzverbot verabschiedet: „On proposait d’interdire les danses dans toutes occasions, le cardinal de Lorraine fut d’avis qu’on les tolérat dans les noces. Il tenait disait-il de sa vertueuse mère, que les danses sont moins dangereuses que l’oisiveté.“100 96 „Vestitu insuper decenti, tam in ecclesia, quam extra, assiduo utantur, ab illicitisque venationibus, aucupiis, choreis, tabernis lusibusque abstineant“, Wohlmuth 2002, Bd. 3, S. 767. 97 „Cetera, quae ad debitum in divinis officiis regimen spectant, deque congrua in his canendi seu modulandi ratione, de certa lege in choro conveniendi et permanendi, simulque de omnibus ecclesiae ministris, quae necessaria erunt; et si qua huiusmodi: synodus provincialis pro cuiusque provinciae utilitate et moribus certam cuique formulam praescribet“, Wohlmuth 2002, Bd. 3, S. 767. 98 Vgl. Ruel 2006, S. 128. 99 Heers 1983, S. 67. 100 Ruel 2006, S. 130.

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Bei einer differenzierten Betrachtung der Verbote zeigte sich, dass ein generelles Tanzverbot von keinem Konzil formuliert wurde. Wie Jeannine Horowitz herausgearbeitet hat, beanstandeten die Konzilbeschlüsse des 13. bis 15. Jahrhunderts erstens vor allem Veranstaltungen von Laien, von denen sich Geistliche fernhalten sollten.101 Auch dem Trienter Konzil ging es vor allem um die stärkere Trennung von Heiligem und Profanem, in dessen Folge Geistlichen die Teilnahme an als weltlich erachteten Festpraktiken untersagt wurde. Die am Anfang des Kapitels vorgestellten Beispiele von tanzenden und Tänze ausrichtenden Bischöfen und Äbtissinnen zeigen jedoch, dass diese Verbote vielfach umgangen wurden. Zweitens gerieten profane Tänze, die an sakralen Orten oder parallel zum Gottesdienst stattfanden, in den Fokus der kirchlichen Kritik. Häufig machte dabei die Anwesenheit von Gauklern und Spielleuten das Kriterium für die ablehnende Haltung aus. Verbote gegen diese Gruppen bestanden seit der Antike, wo der Schwerpunkt auf einer Bekämpfung heidnischer Kulte lag, bei denen Tänzerinnen und Mimen eine wichtige Rolle zukam.102 Im Hochmittelalter wurden die Darbietungen von Gauklern erneut verboten, wobei diesmal die Sakralisierung der Kirchen und Friedhöfe und damit der Verlust der Multifunktionalität dieser Orte von Bedeutung waren. Durch das Konzil von Basel standen drittens mit dem Narrenfest und dem Kinderbischofsfest nun auch Tänze von Geistlichen in einem paraliturgischen Rahmen unter Strafe. Damit wurde eine Reihe weit verbreiteter kirchlicher Festpraktiken kritisiert, die bisher erst auf einigen Provinzsynoden beanstandet worden waren. Jenseits dieser drei Stoßrichtungen gab es jedoch keine Einschränkungen für Tänze im kirchlichen Kontext. Die Konzilsbeschlüsse fokussierten stets auf bestimmte Arten von Tanz, bestimmte Teilnehmende, bestimmte Orte oder bestimmte Feste, so dass von einem totalen Tanzverbot keine Rede sein kann. Die Tanzregulierungen erlaubten vielmehr indirekt einen Spielraum, in dem Tänze im kirchlichen Kontext stattfinden konnten. Die vielfältigen Formen, wie dieser Spielraum genutzt wurde, werden deshalb im nächsten Punkt Thema sein.

3.3 Tanzpraktiken in der Religiosität des Spätmittelalters Der Tanzhistoriker Walter Salmen stellte bereits 1999 in seinem Buch „Tanz und Tanzen vom Mittelalter bis zur Renaissance“ die These auf, dass „die Kirche des Mittelalters […] zwar nicht allerorten, jedoch vielerorts auch eine ‚ecclesia 101 Vgl. Horowitz 1989, S. 286. 102 Vgl. Salmen 2000, S. 7–12.

Tanzpraktiken in der Religiosität des Spätmittelalters

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saltans‘ war“103. Auch aus der in den Tanztraktaten vorgebrachten Kritik ist bereits deutlich geworden, dass Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext keineswegs selten waren. Dieser Abschnitt soll nun einen Überblick über die vielfältigen Formen von Tanz in den religiösen Vorstellungen und Praktiken des Spätmittelalters und der Renaissance geben. Erst wenn deutlich wird, in welchem Ausmaß bei Prozessionen und geistlichen Spielen, aber auch im Umfeld der Liturgie getanzt wurde, können die Tänze in Sens und Auxerre innerhalb dieser Praktiken eingeordnet werden und verlieren etwas vom Stigma des Außergewöhnlichen. Die frühchristliche Vorstellung des Engelsreigens, des Kreistanzes der himmlischen Heerscharen zum Lob Gottes findet sich auch in der Mystik des Hochund Spätmittelalters wieder.104 Gemeinsam mit der Vorstellung von Christus als himmlischem Spielmann sind sie die häufigsten Bezüge zu Tanz in den mystischen Schriften dieser Zeit. Ähnlich wie König David als saltator, als springender und tanzender Spielmann ab dem 12. Jahrhundert in Texten und Darstellungen auftauchte, waren seit dem 14. Jahrhundert Abbildungen von Christus als Fiedler und Tanzmeister entstanden. Bereits bei David konnten die verachteten und das Seelenheil gefährdenden Gesten eines Gauklers eine Aufwertung erfahren, indem er sie zur Verehrung der Bundeslade vollführte und damit in einen heilsgeschichtlichen Kontext rückte.105 In einer Darstellung aus dem 11. Jahrhundert, die den thronenden David Harfe spielend und von Musikern umgeben zeigt, lautet der Titulus der Bildumrahmung: „Histrio fit David sub causa religionis, ipsem et ad cantum saltabat more ciclopum.“106 Als Form des Gottesdienstes war der Tanz in diesem Fall nicht mehr eine Anstiftung zur Unkeuschheit, sondern eine Performanz der Demut. Mit dieser Interpretation konnte auch Bernhard von Clairvaux die Mönche des Zisterzienserordens als Gaukler und Tänzer bezeichnen. Denn ebenso wie David von seiner Frau Michal verspottet wurde, werde auch die Demut und die Gottesfürchtigkeit der Zisterzienser häufig nicht anerkannt. In einem Brief an den Kanoniker Oger schrieb Bernhard 1140: „Was scheinen wir in Wirklichkeit den weltlichen Menschen anderes zu tun als zu spielen, wenn wir das, was jene in dieser Welt anstreben, im Gegensatz zu ihnen meiden, und wenn wir anstreben, was jene meiden? Wir leben tatsächlich wie die Gaukler und Tänzer (ioculatores et saltatores), die im Gegensatz zur menschlichen Sitte mit dem Kopf nach un-

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Salmen 1999a, S. 24. Siehe dazu ausführlicher Kap. 5.1.1. Vgl. Zimmermann 2003, S. 531–561, dies. 2007, S. 289–336. Zitiert nach Zimmermann 2003, S. 561.

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ten und den Füßen nach oben auf den Händen stehen und gehen und auf diese Weise alle Augen auf sich lenken.“107 Was bei Bernhard noch als vage Metapher diente, wurde im 13. Jahrhundert in der wahrscheinlich von einem Zisterzienser verfassten Verslegende „Le Tumbeor Nostre-Dame“ weiter ausgemalt. Die Legende erzählt von einem Gaukler, der sich entschließt, in ein Zisterzienserkloster einzutreten. Von seinen Mitbrüdern verspottet, da ihm weder die Stundengebete noch das Vaterunser geläufig sind, beschließt er, die Mutter Gottes fortan mit den Fertigkeiten zu preisen, die er sein bisheriges Leben lang praktiziert hat: mit Akrobatik, Springen und Tanz. Als sein Tanz vor dem Marienbild in der Krypta der Klosterkirche von einem Mitbruder entdeckt wird, informiert dieser den Abt und beide schleichen sich wiederholt in die Krypta, um den Tanz unbemerkt zu beobachten. Mehrfach werden beide dabei Zeuge einer Erscheinung Marias, die zusammen mit Engeln den Körper des sich verausgabenden Tänzers stützt und ihm kühle Luft zufächelt. Der Tanz des Gauklermönches, der ebenso wie David nur mit einem Lendenschurz bekleidet mit seinen Sprüngen seine Demut zeigt, stellt eine weitere Facette des seit dem 12. Jahrhundert in Frankreich bekannten demütigen, gottgefälligen Tanzes dar.108 Ab dem 13. Jahrhundert berichteten ebenfalls MystikerInnen im deutschen Raum von derartigen Visionen und verliehen dem Tanz damit eine „christologisch orientierte Dignität“.109 Die Begine und spätere Zisterzienserin Mechthild von Magdeburg (um 1207–1282) schreibt über Christus als Tanzmeister in ihrem Werk „Das fließende Licht der Gottheit“: „Ich mag nicht tanzen, Herre, du leitest mich denn. Willst du, dass ich sehre springe, So musst du selber vorsingen. – So springe ich in die Minne …“110.

107 „Nam revera quid aliud saecularibus quam ludere videmur, cum, quod ipsi appetunt in hoc saeculo, nos per contrarium fugimus, et quod ipsi fugiunt, nos appetimus more scilicet ioculatorum et saltatorum, qui, capite misso deorsum pedibusque sursum erectis, praeter humanum usum stant manibus vel incedunt, et sic in se omnium oculos defigunt?“, zitiert nach: Zimmermann 2007, S. 326. 108 Vgl. Klamt 1997, S. 289–294. Die Darbietung histrionischer Ausdrucksformen bleibt nicht auf das Tanzen beschränkt. In der Kathedrale von Amiens befindet sich das Grab eines Jongleurs, der im 13. Jahrhundert Maria durch seine Ballwurfkunst verehrt hat. 109 Salmen 2008, S. 5. 110 Zitiert nach Baaren 1964, S. 38. Zu Mechthild von Magdeburg vgl. Zimmermann 2007, S. 107–112.

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Auch der Dominikanermönch Heinrich Seuse (ca. 1295–1366) berichtet in seinen Schriften über den Freudentanz im Himmel: „Die ganze himmlische Heer richtet vor neuen Wundern die Augen auf mich und betrachtet mich. Ihre Augen sind wieder und wieder in meine gelenkt, ihre Herzen mir zugeneigt, ihre Seele und ihr Gemüt ohne Unterlaß mir zugebeugt. Wohl dem, der das Liebesspiel, den Freudentanz in himmlischer Wonne an meiner Seite, an meiner schönen Hand in fröhlicher Sicherheit immer und ewig tanzen soll! Ein einziges Wörtlein, das so lebendig aus meinem süßen Munde klingt, übertrifft aller Engel Gesang, aller Harfen Klang, alles süße Saitenspiel.“111 Es geht in den Visionen nicht um eine Verherrlichung des irdischen Tanzens, sondern um eine spirituelle Suche der Seele, die sich zeitgenössischer Vorstellungen von Tanz bedient. Inwiefern diese Tanzvorstellungen der Seele bei den Mystikern beiderlei Geschlechts von körperlichen Tanzbewegungen begleitet waren, ist in der Forschung sehr umstritten. In der unio mystica dienten Christus Musik und Tanz dazu, die suchende Seele zu locken und zu umwerben wie auch die Freuden der himmlischen Hochzeit anzukündigen.112 Ähnlich erwartete die jungfräulichen Nonnen die Aussicht auf den Reigen der seligen Jungfrauen.113 Eine Hildesheimer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert enthält dazu folgende Passage: „Herr Jesus tanzt als erster vor, Er führt die Braut in seiner Hand, Er ist’s, der jubiliert. Jubilus ist sein Nam’! Gesegnet, der da jubiliert!“114

Die Figur des Christus als Vortänzer findet sich auch in dem im 14. Jahrhundert entstandenen Gedicht „Christus und die minnende Seele“. Mehrere Handschriften, wie diese von 1496, enthalten Illustrationen (Abb. 1, siehe Tafelteil, S. 241). Passend zu der Textpassage „Hie wil er ir vortrumen und springen das si blib in iren sinnen“ ist Christus als Reigenführer dargestellt, der den Takt und die Bewegungen zum Tanz vorgibt.115

111 112 113 114 115

Heinrich Seuse 1911, S. 27 f. Vgl. Salmen 2008, S. 6. Vgl. Zimmermann 2007, S. 114–119. Baaren 1964, S. 112. Dazu ausführlicher: Hinkel 2013.

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Auch in religiösen Liedern wird die Thematik von Christus als Reigenführer aufgegriffen. Im Liederbuch der Anna von Köln heißt es in einem um 1530 verfassten Gesang: „Sy dragen dar up den krans, getzeiret myt wissen cleyderen, sy gaent myt Jhesus an den dantz myt also groisser eren.“116

Das Bild des Kreistanzes der Engel, von Jesus als Musiker und Tanzmeister, der die Seele zum Tanz auffordert, ist in der deutschen Mystik des Spätmittelalters, vor allem bei den Zisterzienserinnen, verbreitet. Die positiven Wertungen von Tanz sind offensichtlich, gleichzeitig wird aber ihr Bezug zur Transzendenz deutlich, da immer wieder die Abgrenzung von irdischen Tänzen betont wurde. Ob sich diese Visionen in irgendeiner Form in einer körperlichen Praxis niedergeschlagen haben, bleibt strittig, wenn auch Ingrid Kasten betont, dass die Überwindung des Körpers zunächst eine Konstruktion dieses Körpers und eine Erfahrung dieser Körperlichkeit voraussetzt.117 Nur in einigen Fällen lässt sich der Kontext rekonstruieren, in dem die Lieder gesungen wurden, und auch dann ist weiterhin unklar, ob und wie getanzt wurde. Der in den mystischen Schriften angesprochene Tanz der Engel bildete zudem ein geläufiges Bildmotiv im späten Mittelalter. Er wurde allerdings nicht nur in der Malerei verewigt, sondern in den Geistlichen Spielen auch auf die Bühne gebracht. Die Aufführung der Heilsgeschichte, vom Alten Testament bis zu Geburt, Tod und Auferstehung Christi, von Szenen aus dem Leben der Heiligen oder von Moralitäten war ein fester Bestandteil der mittelalterlichen Frömmigkeit. Während geistliche Spiele im Hochmittelalter fast ausschließlich von Geistlichen in Klöstern und Stiftskirchen konzipiert und im unmittelbaren Umfeld des Gottesdienstes aufgeführt wurden, gab es im Spätmittelalter eine Vielzahl theatraler Darstellungen in und außerhalb der Kirche, die von ganz unterschiedlichen Akteuren durchgeführt wurden.118 Mit Fokus auf dem kirchlichen Kontext interessieren hier vor allem die Spiele, die von Geistlichen im Kirchenraum 116 Salmen 1999b, S. 69. Jesus findet sich als Tanzmeister auch in einem anderen Lied des Spätmittelalters: „Heia, wie süß er fiedelt! Die Saiten kann er rühren, von Freud zu Freude führen! Jesus der Tanzmeister ist, er wendet sich hin, er wendet sich her, alle Engel tanzen nach seiner Ehr …“, zitiert nach Salmen 2008, S. 9. 117 Vgl. Kasten 1998, S. 100. 118 Vgl. Freise 2002, S. 13–27, siehe auch: Kasten/Fischer-Lichte 2007, Müller 2010, S. 161–182.

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aufgeführt wurden, weswegen Fastnachtsspiele oder die Darstellungen von Passionsbruderschaften nicht behandelt werden.119 Walter Salmen hat aufgezeigt, in welchem breiten Panorama Tänze Bestandteil der Spiele sein konnten: „Insgesamt waren die Tänze in dem Bereich zwischen Weihnachtsspielen, Weltgerichtsspielen, moralités und tableaux vivants bei Festgelagen eingegliedert in den weitgespannten Erscheinungsrahmen von den metaphysischen Reigen der Engel und Christus als himmlischem Fiedler bis hin zu den Grotesken der Morisken sowie der Verdammten.“120 Trotz dieser Bandbreite scheinen aber vor allem drei Figuren oder Figurengruppen im geistlichen Spiel in Zusammenhang mit Tanz aufzutreten: Maria Magdalena, Salome und der Tanz um das Goldene Kalb. Die Figur der Maria Magdalena, in der seit der Patristik verschiedene biblische Frauen vereint wurden, findet sich in vielen spätmittelalterlichen Passionsspielen.121 Die Rolle der Maria Magdalena, die aus eigenem Entschluss zur schamlosen Sünderin, dann aber geläutert wird, ermöglichte es, ein zentrales Thema des Mittelalters, die Frage nach Sünde und Vergebung, auf die Bühne zu bringen. Gerade ihr sündhaftes Leben wird in den Spielen ausführlich thematisiert und vor ihrer Bekehrung wird Maria Magdalena dabei häufig als Musikerin und Tänzerin dargestellt. In einem Passionsspiel in Angers vom Ende des 15. Jahrhunderts etwa findet sich die Anweisung für Maria Magdalena und ihre Begleiterinnen, zu tanzen: „Ycy chantent Magdaleine et ses damoyselles quelque joyeuese chanson en soy demenant joyeusement et honnestement.“122 Das ehrbare Tanzen vor der Konversion von Maria Magdalena, wie für Angers beschrieben, bildet in den Spielen jedoch die Ausnahme. Vielmehr dient die Körperpraxis Tanz dazu, ihre Selbstverliebtheit, ihre sexuelle Promiskuität, ihre Unruhe oder ihren Hang zum Luxus darzustellen.123 Im Benediktbeurer Passionsspiel wird explizit darauf verwiesen, dass sie in weltlichen Gewändern ihre Bewegungen vollführen solle.124 Häufig wird Maria Magdalena in den Mysterienspielen vom Teufel zum Tanzen verleitet. Im Alsfelder Passionsspiel ist es Luzifer selbst, der sie zum Tanz auffordert und mit dem sie gerne „manchen frolichenn Sprung“125 vollzieht. Ebenso häufig ergreift sie aber selbst die Initiative 119 Zur schwierigen Abgrenzung dieser Idealtypen der Forschung vgl. Simon 2007, S. 18– 45. 120 Salmen 1994, S. 343 f. 121 Zu Maria Magdalena im Geistlichen Spiel siehe: Röcke 2007, S. 281–295. 122 Zitiert nach: Dominguez 2007, S. 235. 123 Vgl. Röcke 2007, S. 284 ff. 124 Vgl. Salmen 1999b, S. 71. 125 Zitiert nach Röcke 2007, S. 285.

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und fordert junge Männer zum Tanz auf. Im Passionsspiel von Jean Michel, das 1486 seine erste Aufführung erlebte, fragt sie ihren männlichen Begleiter, ob er nicht Lust habe, drei oder vier Stunden mit ihr zu tanzen.126 In einem Frankfurter Passionsspiel ruft sie ebenso aus „Ach meister, phiff uff, las, lass uns springen“127. Das Tanzmotiv von Maria Magdalena bleibt vom Mittelalter bis in die Renaissance bestehen, allerdings werden ihre Bewegungen den zeitgenössischen Tanzpraktiken angepasst. Scheint sie in einer Beschreibung aus St. Gallen um 1300 noch einen Reigen aufzuführen, tanzt sie Ende des 15.  Jahrhunderts in Donaueschingen einen höfischen Paartanz. Möglicherweise handelt es sich um eine Form der Basse Danse, die sie auch auf einem Stich von Lucas van Leyden 1519 vollführt. Das Motiv des Martyriums von Johannes dem Täufer ist seit dem 12. Jahrhundert eines der beliebtesten Sujets der Mysterienspiele. Thorsten Hausamann hat anhand von italienischen und deutschen Texten der geistlichen Spiele aufgezeigt, dass der Tanz der Salome darin häufig aufgeführt wurde. Dabei gab es sowohl Versionen, bei denen Salome als Solotänzerin auftrat, als auch solche, bei denen sie mit ihren Freundinnen gemeinsam tanzte.128 Auch in Frankreich sind Mysterienspiele am Tag von Johannes dem Täufer nachgewiesen. Eine auf 1488 datierte Abschrift der „Passion Nostre Seigneur Jhesu Christ“ aus Semur enthält die Anweisung, dass Salome vor Herodes singen und tanzen solle.129 In Mons in der Grafschaft Hennegau erfahren wir aus dem Text eines Passionsspiels von 1501, dass Salome einen Moriskentanz zur Musik eines Tambourins aufführte.130 Die Moriske entspricht in ihrer Bewegung den spätmittelalterlichen Salomedarstellungen, die bevorzugt in der Rückwärtsbewegung einen Handstand (in etwa die „Brücke“, an der man im Sportunterricht so oft scheiterte) aufführt. Der Kopfstand symbolisierte insofern auch die Umkehrung der Ordnung, so dass diese Bewegung bei den Beschreibungen von Fallsüchtigen oder dämonisch Besessenen auftaucht.131 Diese akrobatische Bewegung gehörte auch zum gängigen Repertoire der mittelalterlichen Spielfrauen. Der Tanz um das „Goldene Kalb“ war ebenfalls ein Thema, das bei einigen Spielen auf die Bühne gebracht wurde. Im Mittelpunkt stand dabei nicht nur der Vorwurf der Abgötterei, sondern auch die Möglichkeit, die jüdische Bevölkerung zu karikieren oder als Feind der Ordnung darzustellen. In Luzern ließ man 126 127 128 129 130 131

Vgl. Slim 1980, S. 462. Ebd. Vgl. Hausamann 1980, S. 195 ff. Vgl. ebd., S. 198. Vgl. dazu: Blackburn/Strohm 2001, S. 170. Vgl. Rohmann 2013, S. 514.

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die jüdisch gekleideten Darsteller einen „Tantz umb dz guldin kalb“132 aufführen, während im Wiener Osterspiel von 1472 gefordert wurde, dass die Akteure auf jüdische Art singen und tanzen sollen. Im Stadtgarten von Hall in Tirol wurde neben Gobelins, Tüchern und einer gemalten Hölle auch ein goldenes Kalb als Kulisse verwendet, um das „mit antisemitischem Eifer getanzt wurde“133. Während Maria Magdalena vor ihrer Bekehrung und Salome als Sünderinnen auftreten und deshalb sündhaft tanzen, der Tanz um das Goldene Kalb als Beleg für die Idolatrie aufgeführt wird und der Tanz des Teufels als Perversion der Ordnung erscheint, finden sich in den Spielen auch Tänze im Einklang mit der göttlichen Harmonie. Hildegard von Bingen (1098–1179) hatte in ihren mystischen Schriften das Bild vom Kreistanz der Engel aufgenommen. Ruth Lightbourne hat zeigen können, dass der Reigen der Engel auch in ihrem Mysterienspiel „Ordo Virtutum“, bei dem Gut und Böse um die Seele ringen, dargestellt wurde. Die fünfzehn Tugenden, die von den Nonnen aus Hildegards Kloster gespielt wurden, vollführen dabei im zweiten Akt einen von Musikinstrumenten begleiteten Kreistanz.134 Für eine weiterführende Untersuchung wäre nun von besonderem Interesse, wo genau diese Spiele stattfanden und wer die Rollen tanzte. Wurden sie ausschließlich von Geistlichen gespielt oder durften diese gerade nicht daran teilnehmen, weil bevorzugt Teufel, Juden und Ketzer als Gottferne tanzten? Wurden weibliche Personen auch im 15.  Jahrhundert noch von männlichen Geistlichen dargestellt, wie es im 12. und 13. Jahrhundert die Regel war?135 Und wenn ja, erlernten sie dann auch akrobatische Springbewegungen, wie sie für Salomes Tanz kennzeichnend waren? Prozessionen Das procedere, das Voranschreiten der Prozession, ermöglicht verschiedene Bewegungsformen, die nicht selten mit einem Tanz verglichen oder als Tanz bezeichnet werden136. Es ist also schwierig, die zu dieser Zeit praktizierten Schreittänze, wie etwa Basse Danse oder Pavane,137 vom gemessenen Schreiten bei den 132 133 134 135

Salmen 1994, S. 344. Salmen 2006, S. 52. Vgl. Lightbourne 1991, 45–65, bes. 53 f. Vgl. Luzarche 1856, S. 2: „Tunc tres parvi vel clerici, qui debent esse Marie“, vgl. dazu: Cohen 1951, S. 23. 136 Villetard, Sahlin und Backman nahmen an, dass die kirchlichen Prozessionen stets als Tänze zu werten seien. 137 Zur Choreographie der Tänze siehe: Arbeau 1589, fol.  24v–38r, Taubert 1968, S. 61–70, Saftien 1994, S. 29–61, 161–165.

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Prozessionen zu trennen wie auch die Praktiken als sakral oder profan zu unterscheiden. Neben den sonntäglichen Prozessionen im Kirchenraum mit der Segnung der Altäre forderte der liturgische Kalender mehrere Prozessionen im Jahr, von denen die Wichtigsten an Palmsonntag, Mariä Lichtmess und Fronleichnam sowie in Spanien und Italien während der gesamten Karwoche stattfanden.138 Die musikalische und szenische Gestaltung der Prozession wurde im Spätmittelalter immer wichtiger. Zu den Fronleichnamsprozessionen wurden Musiker und Sänger eingestellt, deren Fertigkeiten für dieses Ereignis geschätzt wurden. Die Forschungen zum Prozessionswesen sind in den letzten Jahren sehr intensiv betrieben worden und Fragen von Inklusion und Exklusion, Hierarchien sowie Performativität wurden dabei diskutiert.139 Die Untersuchungen zeigen eine Vielzahl der Anlässe, wie Patronatsfest, Beerdigung, Hochzeit, Empfang des Königs und Verlaufsformen, denen dieser kurze Überblick nicht gerecht werden kann. Im Anschluss an diese Forschungen werden Prozessionen als multimediale Performances verstanden, in denen in Bezug auf bestehende Wertvorstellungen unterschiedliche soziale, politische und religiöse Inhalte generiert oder bestätigt werden. Die Vielzahl der Elemente einer Prozession enthält die Beschreibung eines Pilgers aus dem 16. Jahrhundert über eine Prozession zum Schrein der Hl. Anna in Cuenda: „This town and republic comes many times to it in procession with its crosses and celebrates its day with great ceremony. A very solemn procession departs from the parish church of the town, accompanied by many clergy, crosses, pennants, and musicians – all that can be gathered together, and sometimes flageolets and sackbuts, cornets, and flutes; many dancers come and different kinds of instruments. There are many skits performed. On arrival at the shrine mass is said with the maximum dignity.“140 Tanz, Satire und ehrbarer Gottesdienst sind für den Beobachter keine Gegensätze, sondern allesamt Bestandteil der Prozession in Cuenda. Auf derartige Tänze hatten auch die französischen Tanzhistoriker des 17. und 18. Jahrhunderts verwiesen, die solche Formen noch in Südfrankreich, Portugal und Spanien beobachtet oder von ihnen gehört hatten. Ménestrier erwähnt, dass 1609 die Seligsprechung von Ignatius von Loyola in Portugal aufwendig gefeiert wurde, und paraphrasiert dazu die Beschreibung des Bischofs von Fossombrone, Octavio Accoromboni (1549–1625). Dabei wurde das Bildnis des Seliggesprochenen in einer Prozession des gesamten Kle138 Vgl. Ashley/Hüsken 2001, S. 7. 139 Zum Forschungsstand vgl. Löther 1999, S. 6–23, Ashley/Hüsken 2001, S. 1–53, Gengnagel 2008, S. 3–15, Arlinghaus 2011, S. 87–91. 140 Zitiert nach Ashley/Hüsken 2001, S. 21.

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rus der Stadt durch die Straßen getragen. Bestandteil der Prozession waren vier große Wagen, welche unter anderem allegorisch die Stadt Mailand und die Kirche darstellten. Zwischen den Wagen zogen ganze Truppen von Tänzern und der Bischof versicherte seinen Adressaten in Italien, dass besondere Prozessionen Tänze beinhalten, die der Zeremonie eine besondere Würde verleihen.141 Prozessionen waren auf der gesamten iberischen Halbinsel im 15. und 16. Jahrhundert weit verbreitet. Vor allem an Fronleichnam fanden in vielen Städten Tänze statt. Am Bekanntesten ist sicherlich die Aufführung der Chorknaben in der Kathedrale von Sevilla, die als „Los Seises“ auch heute noch jedes Jahr dort stattfindet. Lynn Brooks hat eine umfangreiche Studie zur Geschichte dieses Tanzes und seiner liturgischen Einbindung vorgelegt.142 Auch in den deutschsprachigen Gebieten lassen sich getanzte Prozessionen nachweisen. Johan von Münster berichtet in seinem Traktat über eine Prozession bei Osnabrück, bei der die gesamte Gemeinde mit ihrem Geistlichen getanzt haben soll.143 Ebenso enthält eine um 1360 verfasste Liedersammlung des Kollegiatstifts St. Kastulus in Moosburg, das sogenannte Moosburger Graduale, Hinweise auf eine Tanzprozession. Das vom Dekan Johannes von Perchhausen komponierte Lied „Cum itur extra ecclesiam ad choream“ beschreibt einen vom Bischof angeführten Reigen außerhalb des Kirchenraums.144 Möglicherweise enthielt auch die Kölner „Gottestracht“, eine jährlich am zweiten Sonntag nach Ostern stattfindende Prozession, tänzerische Elemente, wenn Domsänger und Spielleute die Prozession musikalisch begleiteten.145 Überhaupt lassen sich im Rhein-Mosel-Gebiet mehrere Prozessionen ausmachen, deren bekannteste sicherlich die „Echternacher Springprozession“ sein dürfte. Wenn man sich mit dem Tanz im kirchlichen Kontext beschäftigt, darf die in allen einschlägigen und auch den nicht einschlägigen Arbeiten zitierte „Echternacher Springprozession“ nicht fehlen. Ähnlich dem Tanz in der Kathedrale von 141 Vgl. Ménestrier 1682, S. 99 ff., eine englische Übersetzung davon bei Perugini 1915, S. 83 ff. Interessant ist auch, wie die Seligsprechung in der Neuen Welt gefeiert wurde. In Lima etwa wurden ebenfalls aufwendige Tänze inszeniert, siehe dazu: Stevenson 1976, S. 298 f. 142 Vgl. Brooks 1988. 143 Vgl. Münster 1602, S. 209. 144 Vgl. Backman 1952, S. 86 ff., Brewer 2011, S. 31–49. Die zweite Strophe „Tangat, angat in chorea“ verweist noch einmal deutlich auf die Tanzbewegung, Chailley 1969, S. 360. 145 Im 18. Jahrhundert hielt der voraustanzende „Gecken-Bähnchen“ eine Fahne mit der Darstellung des tanzenden Davids in den Händen, dazu: Klauser 2007, S. 106. Inwieweit diese Fahne und die Tanzweise im 16. Jahrhundert gebräuchlich waren, ist jedoch völlig unklar.

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Sevilla hat sie den Vorteil, dass sie auch heute noch existiert und sich seit 2010 sogar in der Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ der UNESCO wiederfindet. Die Prozession findet an Pfingsten jedes Jahres im luxemburgischen Echternach statt, bei der mehrere tausend Teilnehmer in einer Art getanztem Sprungschritt zum Grab des Heiligen Willibrord pilgern. Über das Alter der Springprozession wurde viel spekuliert. Aus der Mitte des 16. Jahrhunderts sind ein Gemälde, das den Prozessionszug zeigt, und ein juristisches Schriftstück überliefert. Zusammen mit einem Reisebericht von Browerus († 1617) bilden sie die wesentlichen Quellen, welche die Prozession schon als eine etablierte Devotionsform beschreiben, so dass ihr Beginn auf das Spätmittelalter datiert werden kann. Die Willibrordverehrung selbst ist deutlich älter, da bereits Ende des 11. Jahrhunderts von einer sehr alten Tradition gesprochen wird.146 Der Jesuit Jean Bertholet schildert die Prozession in seiner „Histoire ecclésiastique et civile du duché de Luxembourg et comté de Chiny“ in der Mitte des 18. Jahrhunderts wie folgt: „Y étant arrivés les Pélérins font une espece de danse, ou des sauts, où l’on doit avancer trois pas & reculer deux. Cette danse, qu’on appelle Procession votive, commence de grand matin, au-delà du Pont de la Sure, le Mardy de Pentecôte. Les Danseurs y étant assemblés, on leur fait une exhortation, après quoi ils se rangent trois à trois, & commencent leurs sauts, au son d’une infinité de Hautbois, de Musettes, des Violons, & d’autres instruments.“147 Die in der Literatur gezogene Verbindung zwischen Springprozession und Tanzwut oder der Versuch, die Prozession mit der Verehrung des heiligen Vitus zu verbinden, entstammen den Vorstellungen aus dem späten 18.  und frühen 19. Jahrhundert. Diese Prozessionen der gesamten Pfarrgemeinde oder mehrerer Gemeinden waren an Pfingsten in der Maas-Mosel-Eifel-Gegend verbreitet und lassen sich auch in Prüm und Verviers nachweisen.148 Totentanz und Tanzwut Der Totentanz ist sicher eines der meistbearbeiteten Themen der mittelalterlichen Geschichte.149 Die Vorstellung vom Tod, der jeden Menschen, gleich welchen Standes, unwiderruflich zum letzten Tanz abholt, hat eine Vielzahl von Deutungen hervorgebracht. Die Vermengungen von Tanzwut, Totentanz, 146 147 148 149

Vgl. Krier 1870, S. 38–43. Bertholet 1742, Bd. 2, S. 177. Vgl. Rohmann 2013, S. 206 f. Aus der kaum überschaubaren Literatur sei nur verwiesen auf: Clark 1947, Wackernagel 1966, S. 302–371, Hammerstein 1980, Delumeau 1983, S. 84 ff., Saftien 1991, S. 2–18, Wéry 1992, S. 134–150, Salmen 1993, S. 119–126, Corvisier 1998.

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Teufelsglaube, Hexenprozessen in der von der Pest gezeichneten Epoche des Spätmittelalters haben sicherlich einiges zur Popularität des Themas beigetragen, sie haben jedoch wenig mit den Beschreibungen in den Quellen gemeinsam.150 Aber auch jenseits dieser – gerade auch in der Tanzgeschichtsschreibung sehr prominenten – Sichtweise bleibt das Forschungsthema sehr komplex. Ich folge hier der Forschungsrichtung, den Totentanz in erster Linie im Umfeld der Bußpredigten zu deuten, die vor dem unvorbereiteten Tod warnen.151 Der Tod ist unausweichlich, er kann jede und jeden egal welchen Alters und Standes treffen, so mahnen die Wandbilder an Kirchen und Friedhöfen und die späteren Drucke. Wenn der Tod und seine Gesellen zum Tanz aufspielen oder auffordern, kann sich niemand entziehen. Allerdings ist der Tod im Christentum nur ein Übergang, dem entweder direkt die Hölle oder – für die meisten nach einem Verbleib im Fegefeuer – das ewige Leben folgt.152 Dieser unfreiwillige Tanz mit dem Tod wurde gerade im 15. Jahrhundert szenisch aufgeführt und nur diese praktizierten Totentänze interessieren uns in diesem Ausschnitt. Die Beschreibungen und Wandmalereien des Totentanzes scheinen nämlich erst im Anschluss an eine Aufführungstradition entstanden zu sein. Der französische Historiker Émile Mâle sieht die theatralen Darstellungsweisen als Innovation für die Kunst im Spätmittelalter. Mâle entdeckte auch in der Bibliothek von Rouen ein Manuskript153 des Abbé Mignet aus dem 18. Jahrhundert, der darin ein inzwischen verschollenes Manuskript zitiert. Es enthielt die Beschreibung eines Tanzes in der Kirche von Caudebec in der Normandie aus dem Jahr 1393. Für das 15. Jahrhundert lassen sich auch für Florenz und Paris aufgeführte Totentänze nachweisen.154 In Paris soll auch während des Provinzkapitels des Franziskanerordens von 1453 ein Totentanz aufgeführt worden sein.155 Die Informationen zu diesen Tänzen sind spärlich, häufig ist lediglich der Ort, Kirche oder Friedhof, bekannt und dass ein Totentanz dargestellt wurde. Die später 150 Zu diesen weniger gelungenen Deutungsversuchen vgl. die Kritik von Rohmann 2013, S. 231. 151 Vgl. Saftien 1992, S. 9, grundlegend dazu: Hammerstein 1980, S. 23–41. 152 Vgl. Rohmann 2013, S. 231 f. 153 Bibliothèque de Rouen, Ms. 2213, Y, 39, fol. 69, vgl. Gougaud 1914, S. 230. 154 Vgl. Wackernagel 1966, S. 317. Im 17. Jahrhundert werden dann in den süddeutschen Jesuitendramen wieder Totentänze aufgeführt, dazu: Dürrwaechter 1897, S. 89–115. 155 „Sexcallus solvat D. Joanni Caleti Matriculario S. Joannis quatuor simasias vini per dictum Matricularium exhibitas illis qui Choream Machabaeorum fecerunt. 10. Julii nuper lapsâ horâ Missa in Ecclesia S. Joannis Evangelistae propter Capitulum Provinciale frarum Minorum“, MdF, septembre 1742, S. 1955, siehe auch du  Cange, Stichwort: Machabaeorum chora.

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entstandenen Wandmalereien und Drucke erlauben es, die Tänze als Reigen zu deuten. Vor allem in der lateinischen Dichtung wird die Musik des Totentanzes als Gegenentwurf zum harmonischen liturgischen Gesang konzipiert. Mit Flöte, Schalmei und Dudelsack erhält der Tod die Instrumente, die bereits länger als teuflisch gekennzeichnet sind, weil sie keine exakte Modulation der Töne erlauben und deshalb disharmonisch klingen. Auch der Tanz wird parallel dazu als ungeordnet und wild beschrieben, insbesondere den geistlichen Personen erscheint die Tanzweise neu und unbekannt.156 Welcher Zusammenhang aber zwischen diesen Aufführungsformen und den spätantiken und frühmittelalterlichen Tänzen bei Begräbnissen oder an den Heiligengräbern besteht, ist schwer zu deuten. Zumal anhand der kirchlichen Tanzverbote sichtbar wurde, dass Kirchenraum und Friedhöfe für ganz verschiedene Formen von Tanz genutzt wurden. Nicht jede Spielmannsdarbietung auf den zentral gelegenen Friedhöfen folgte dabei den Motiven der franziskanischen und dominikanischen Bußpredigt. Deshalb sind die im deutschsprachigen Raum des 16.  Jahrhunderts auftauchenden Berichte über praktizierte Totentänze kritisch zu betrachten. In Dresden wurden 1555 mehrere Personen verhaftet, weil sie in Hemden oder unbekleidet nachts über die Gräber gesprungen waren.157 Aus dem Basler Urfehdebuch erfahren wir, dass im Jahr 1531 sechs Bürger „in geistwis in wissen kleidern den totentanz getriben“.158 Bei beiden Beispielen handelt es sich nicht um Geistliche, sondern um Laien, die zumindest in Dresden durch ihr Verhalten delinquent geworden sind. Aus diesen spärlichen Beschreibungen ist jedoch völlig unklar, aus welchen Motiven die Tanzenden handelten, wie sie tanzten und was wiederum die Obrigkeit dazu bewog, diese Formen als Totentanz zu deuten. Ähnlich wie der Totentanz wurde auch die Tanzwut zum festen Bestandteil der Krisenerzählung vom Spätmittelalter, so dass Sachs in der Tanzwut eine Weiterentwicklung von „Pestabwehrtänzen“159 sah. Gabriele Klein deutete die Tanzwut in Anschluss an zur  Lippe als eine „Tanzrevolte“160 gegen ein körperfeindliches, die menschlichen Triebe unterdrückendes Herrschaftssystem. Auch bei ihr fließen die Topoi Teufelsglaube, Wahnsinn und Ekstase zusammen: „Die Tanzwut zeigte den Tanz als Medium zwischen Toten und Lebenden, als Todverkündung und Lebensenthebung. Historisch in den Tran156 157 158 159 160

Vgl. Hammerstein 1980, S. 40 f., 44 f. Vgl. Salmen 1993, S. 122. Ebd. Sachs 1933, S. 171. Klein 1992, S. 68.

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cetänzen der Naturvölker verwurzelt und auch schon im Altertum bekannt, symbolisieren die Totentänze eine Strafe Gottes; sie waren Ausdruck einer ‚satanischen Realität‘.“161 Entgegen dieser Krisenbeschreibung des europäischen Spätmittelalters hat Gregor Rohmann nun jüngst in seiner Habilitationsschrift vorgeschlagen, die Tanzwut vielmehr als mittelalterliche Auseinandersetzung mit der platonischen Vorstellung der „mania“ in Zusammenhang zu bringen und als „kulturell konstruierte Krankheit“162 zu deuten. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Tanzpraktiken im Umfeld der Tanzwut beschränken sich vor allem auf die Regionen entlang der Flüsse Rhein, Maas und Mosel. Hier lassen sich in Zusammenhang mit der Heiligenverehrung von Johannes dem Täufer und Vitus eine Reihe von Tanzwallfahrten nachweisen. Die Angaben der Rechnungsbücher, etwa aus Breisach und Treffelhausen, erwähnen zwar Tänze im Kirchenraum, über ihre genaue Einbindung in die Heiligenverehrung oder gar Choreographieansätze schweigen sie sich allerdings aus. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, hatten calvinistische Tanzkritiker des 16.  Jahrhundert wie Johan von Münster von Tänzen gesprochen, die bei der ersten Messe eines Priesters oder der Weihe von Mönchen und Nonnen stattfanden.163 Nach Backman vollzogen Ordensgeistliche, bevor sie ihre weltlichen Kleider ablegten, noch einen lebhaften Tanz, ehe diese Praxis 1385 verboten wurde. Allerdings erwähnt Backman nicht, wo und gegen wen dieses Verbot veröffentlicht wurde.164 Für Straßburg lässt sich in den Ratsbeschlüssen von 1518 nachweisen, dass dort ein Priester vor seiner ersten Messe tanzte. Der Tanz wurde aber nur deshalb gesondert erwähnt, weil wegen der „Tanzkrankheit“ ein Musikverbot erlassen worden war und für diese Feier eine Ausnahme gemacht wurde.165 Deshalb ist es wahrscheinlich, dass auch in vorherigen Jahren ein Tanz vor der ersten Messlesung stattgefunden hatte. Tänze konnten nicht nur bei der ersten Weihe, sondern auch bei den Jahrestagen dazu stattfinden, wie auch heute noch das silberne Priesterjubiläum gefeiert wird. Die Äbtissin des Nürnberger Klarissenklosters, Caritas Pirckheimer, Schwester des Humanisten Willibald Pirckheimer, feierte ihre 25 Jahre als Äbtissin und ihre zugleich 50 Jahre zurückliegende Profess am Ostertag 1529 im dortigen Kloster. Ihre Nichte Katharina, die ebenfalls als Nonne im Kloster lebte, berichtete ihrem Vater in einem Schreiben über diese Feier: „da wir geßen 161 162 163 164 165

Ebd. Rohmann 2013, S. 628. Vgl. Münster 1602, S. 205. Vgl. Backman 1952, S. 91. Vgl. ebd., S. 90.

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hatten zu nacht ein dancz […] es danczten die alten als wol als die jungen […] und die praut [= die Jubilarin] schlug auf einem hackpret.“166 Tänze der französischen Kapitel Der Rektor der Pariser Universität Nicolas de Clamanges (1360–1437) beklagte sich darüber, dass französische Geistliche die Heiligenvigilien mit lasterhaften Liedern und Tänzen verbringen: „An den Vigilien der Festtage wird in den Kirchen selbst bei liederlichen Liedern getanzt, Priester geben das Beispiel, die Nachtwachen mit Würfelspiel und Fluchen hinzubringen.“167 Dass seine Kritik am Tanz an den Festtagen nicht aus der Luft gegriffen ist, belegt ein Prozessional der Kathedrale Notre-Dame in Paris aus dem 14. Jahrhundert. Für den Weihnachtsabend enthält es die Anweisung, dass nach der Einsegnung des Weihwassers eine Prozession per choream zum Gesang des Antiphons „Alma redemptoris“ stattfinden solle.168 Aber nicht nur bei den Kanonikern von Notre-Dame schienen Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext hoch im Kurs zu stehen. In zahlreichen anderen Kanonikergemeinschaften Frankreichs, vor allem in den Kathedralkapiteln, gab es gerade im Umfeld der hohen christlichen Feiertage ausgefeilte Tanzpraktiken. In der Kathedrale Le Puy-en-Velay, einem Pilgerort im Zentralmassiv, gab es zur Weihnachtsoktav, dem Fest der Beschneidung des Herrn am 1. Januar, einen Tanz von Chorknaben, der seit dem Spätmittelalter existierte. Zwei Manuskripte aus dem 16. Jahrhundert enthalten das Offizium, also die Lieder und Texte für das Prosolarium, wie das Fest in der Regionalsprache genannt wurde.169 Das Fest wurde auch als „festum de clargastres“, als Fest für die jungen Kleriker bezeichnet, weil die Chorknaben bei den Feierlichkeiten eine wichtige Rolle spielten.170 Da die Kirche beanspruchte, einen Teil der Vorhaut Christi als Reliquie zu besitzen, war das Fest lokal von großer Bedeutung und entsprechend aufwendig gestaltet. Es begann am Abend des 31. Dezembers im Chor der Kathedrale und endete zum Nachtgebet des zweiten Abends. Während bereits in der Nacht auf den zweiten Tag im Gesang auf den Tanz der Engel

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Pfanner 1966, S. 241, zitiert nach: Salmen 1999b, S. 72. Huizinga 1969, S. 222. Vgl. Wagner 1997, S. 10. Vgl. Blackburn/Strohm 2001, S. 167. Vgl. Harris 2011, S. 109 f. Zur Überlieferungsgeschichte siehe: Arlt 2000, S. 324 ff. Der Text ohne musikalische Notation ist abgedruckt bei Chevalier 1894. Die Handschriften befinden sich in der Bibliothèque Municipale von Grenoble (MS 4413) und in der Bibliothèque du Grand Séminaire von Le Puy. 170 Vgl. Harris 2011, S. 109.

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verwiesen wurde,171 tanzten am Abend des zweiten Tages die jungen Kleriker selbst. Nach der Vesper begaben sich alle Kleriker der Kathedrale in den Kapitelsaal, woraus sie dann ins Refektorium zogen.172 Nach der Lesung begaben sie sich für das erste Komplet zum Kreuz und verteilten sich im Kreuzgang.173 Während der Chor einstimmig sang, lautete die Anweisung für die jungen Kleriker (clericuli) zu tanzen: „Quisque chorus unum versum. Clericuli tripudiant.“174 Dann sangen zwei Chorknaben das kurze Benedicamus, worauf sich eine Prozession zur Kapelle des Heiligen Kreuzes anschloss und die Chorknaben wiederum (oder weiterhin) tanzten.175 Zuletzt begab sich das Kapitel von Le Puy vor die Kapelle zum Heiligtum von Johannes dem Täufer, wo die Chorknaben nun „tripudiant firmiter“176, während sie „Hoc in hoc, hoc in hoc, hoc in hoc, in a[n]no“177 sangen. Bis in das 18. Jahrhundert, und damit möglicherweise am längsten, wurden Tänze von französischen Geistlichen an dem Bischofssitz Besançon praktiziert. Ein Brief aus dem „Mercure de France“ von 1742, dessen Verfasser ähnlich wie Lebeuf und andere Autoren des Mercure der 1720er Jahre dem Tanz im Kirchenraum ablehnend gegenüberstand, berichtet darüber, dass Tänze dort erst 1738 abgeschafft wurden.178 Ein Rituale der Kollegiatkirche Sainte-Marie-Madeleine aus dem Jahr 1582 enthält dazu den Eintrag: „Finito Prandio, post Sermonem, finita Nona, fiunt Choreae in Claustro, vel in medio Navis Ecclesiae, si tempus fuerit pluviosum, cantando aliqua carmina ut in Processionariis continetur. Finita Chorea [...] fit collatio in Capitulo cum vino rubeo & claro & pomis

171 „Angelorum chori per etera Tripudiant Et nunciant Eterno. Patri federa“, Chevalier 1894, S. 21. 172 Vgl. Harris 2011, S. 109. 173 „Modo vadunt ad Crucem [et dividuntur in claustris], ut in primo Complectorio“, Chevalier 1894, S. 49. Die nächste Anweisung lautet „Ad rotas in Ciborio et ad Crucem“ (S. 51). „Ad rotas“ könnte hier eine Kreisaufstellung der Kleriker beschreiben oder auf Räder mit Glocken hinweisen, die an einer anderen Stelle des Festes erwähnt werden. Vgl. dazu: Chevalier 1894, S. 60. 174 Chevalier 1894, S. 51. 175 „Ad processionem in choro Crucis et clericuli tripudiant“, Chevalier 1894, S. 54. 176 Chevalier 1894, S. 57. 177 Ebd. 178 Vgl. MdF, septembre 1742, S. 1930–1955, die Quellenzitate werden übernommen von Gougaud 1915, S. 235, und in der Forschungsliteratur wiederholt, vgl. dazu Rohmann 2013, S. 243. Einen ausführlicheren Kommentar leistet allein Mead 1913, S. 249–259.

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vulgò nominates des Carpendus.“179 Ein Ordinarium aus der Mitte des 17. Jahrhunderts bestätigt diese Angaben fast wörtlich.180 Demnach fand am Abend des Ostertages im Kreuzgang von den Kanonikern und Kaplänen ein Tanz statt, der bei schlechtem Wetter in das Kirchenschiff verlegt wurde. Die Bewegungen der an den Händen gefassten Geistlichen wurden durch gesungene Lieder aus dem Prozessionale der Kirche rhythmisiert, so dass die Ostersequenzen den heilsgeschichtlichen Rahmen des Tanzes bildeten. Anschließend begaben sich die Teilnehmer in den Kapitelsaal, wo sie gemeinsam aßen und tranken. Tanz und Mahl wurden zusammen als „Bergeretta“181 bezeichnet, auch wenn der Autor des 18. Jahrhunderts davon ausgeht, dass der Name zunächst nur auf den Tanz bezogen war. Ebenfalls im Kloster der Kathedrale von Chalons-sur-Sâone fand an Pfingsten ein Tanz des Kathedralklerus statt.182 Durch das Verbot des Tanzes, das Bischof Cyrus de Thyard (1594–1624) Anfang des 17. Jahrhunderts durchsetzte, wie der örtliche Kanoniker Claude Perry (1602–1685) in seiner 1659 erschienenen „Histoire civile et ecclésiastique, ancienne et moderne de la ville et cité de Chalon-sur-Saône“ schildert, sind wir über seinen Ablauf unterrichtet. Der Autor aus dem Jesuitenorden charakterisiert den Bischof als äußerst gläubigen und demütigen Mann, der gegen zahlreiche Missbräuche vorgegangen sei: „D’ailleurs, il supprima encore une autre coustume, qu’une fondation bien ancienne pouvoit en quelque façon excuser, & l’avoit rendüe tolerable. Les Complies de la Pentecoste estant finies, le Doyen, les Chanoines & les Habitüez sortoient de l’Eglise en procession, & venoient dans le petit cloistre. Il y a au milieu du préau un Dôme, & au dedans une masse de pierre taillée en rond, & des images aussi de pierre à l’entour. La procession y estant arrivée, tous se prenoient l’un apres l’autre par le bout de leur Surpelis, & en chantant quelque Respons de la feste de la descente du S. Esprit sur les Apostres, ils faisoient quelques tours en rond à l’entour de ce Dôme. Et bien qu’on n’y fist rien qui ne fût dans la bienseance & dans la modestie, & qui ne fût institüé à bon dessein, toutefois parce que le peuple appelloit cette ceremonie la danse des Chanoines, l’Evesque & le Chapitre iugerent de concert qu’il falloit abolir cette coustume.“183 179 MdF, septembre 1742, S. 1939. 180 „Sumpto Prandio, & finito Sermone, Domini Canonici & Capellani, manibus se tenentes, Choream agunt in Claustro, vel in medio Navis Ecclesiae, si tempus sit pluviosum. Postea itur in Capitulo, & ibi sit Collatio. Bibitur trina vice; etiam distribibuuntur poma Carpandorum“, MdF, septembre 1742, S. 1939 f. 181 Zu Deutungsvorschlägen des Namens vgl. Mead 1913, S. 250. 182 Backman 1952, S. 76. 183 Perry 1659, S. 435 f.

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In Chalons-sur-Sâone dienten das Pfingstfest und die dazugehörigen Kirchengesänge als Rahmung einer Kreisprozession. Sie fand im kleinen Kreuzgang des Klosters statt, in deren Mitte sich ein mit Skulpturen gesäumter Steindolmen befand. Hierbei fassten sich Dekan, Kanoniker und Mitglieder des niederen Chores im Gegensatz zu Besançon nicht an den Händen, sondern berührten sich an den Enden der „Surpelis“184, einem über der Almutia getragenen leinenen Überwurf. Das Beispiel von Chalon-sur-Sâone verdeutlicht auch den fließenden Übergang zwischen Prozession und Tanz, denn die Kreisbewegung der Geistlichen als Tanz zu deklarieren, war keine Selbstbezeichnung, sondern stammte aus den unteren Schichten. Dennoch schien dies bereits zu genügen, dass Bischof und Kapitel in Eintracht die Prozession künftig unterließen, so schildert es zumindest Claude Perry rund 50 Jahre nach dem Verbot. Der Chor der Kirche St. Martial in Limoges diente nach den Ausführungen von Jacques Bonnet zu Beginn des 18. Jahrhunderts, am Tag des Hl. Martial als Raum für eine getanzte Heiligenverehrung: „Néanmoins malgré les soins de l’église pour détruire ces abus, l’on voyoit encore vers le milieu du siècle précedent à Limoges, à la fête de S. Martial Apôtre du Limousin, le peuple danser en rond dans le choeur de l’Eglise de ce Saint, & qu’à la fin de chaque Psaume, au lieu de chanter Gloria Patri, ils chantoient le langage du pays, Saint Marceant pregas per nous, & nous épingaren per vous; c’est-à-dire, S. Martial, priez pour nous, & nous danserons pour vous: cette coutume s’est depuis abolie.“185 In Limoges wurde nicht nur in der Kathedrale getanzt, sondern auch im örtlichen Benediktinerkloster lassen sich Tänze zumindest für das 13. Jahrhundert nachweisen. Die Mönche aus dem Kloster, einem bedeutenden Wallfahrtsort, der für 184 „Surpelis, s. m. Ornement Ecclesiastique que les Prestres seculiers portent l’esté pardessus leur soutane, lors qu’ils chantent l’Office, ou qu’ils preschent. Il est fait de toile, & va qusqu’à mi-jambe, avec deux aisles de même estoffe qui pendent plus bas. On orne les surpelis de riches points & dentelles. Ce mot vient du Latin superpellicium …“, Furetière 1690, Bd. 3, Artikel „Surpelis“. Du Cange fasst unter superpellicium: „Vestis linea, manicata, sic appellata, inquit Durandus in Ration. lib. 3. cap. 1. n. 10. 11: Eo quod antiquitus super tunicas pellicias de pellibus mortuorum animalium factas induebatur, quod adhuc in quibusdam Ecclesiis observatur. Superpelliciale indumentum“, du Cange, 1883–1887, Bd. 7, Sp. 666a. In Totentanzdarstellungen sind Kanoniker häufig mit ihren superpellica abgebildet, auf die auch im Begleittext Bezug genommen wird. 185 Bonnet 1723, S. 44 f. Cahusac berichtet leicht verändert: „En France même, au milieu du dernier siècle, on voyoit encore les Prêtres & le Peuple danser en rond dans le choeur de S. Leonard. A la fin de chaque psaume, ils substituoient au Gloria Patri ce verset qu’ils chantoient avec les plus vifs transports de zéle & de joie; San Marceau pregas per nous, & nous espingaren per bous“, Cahusac 1754, S. 50 f. Beide Autoren geben keine weiteren Hinweise auf ihre Quellen. Gougaud scheint einen Kompromiss aus beiden Berichten zu gestalten, indem er den Ort von Bonnet, aber die Beteiligung des Klerus von Cahusac übernimmt, vgl. Gougaud 1915, S. 236.

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seine große Bibliothek berühmt war, veranstalteten in ihrem Kloster im 13. Jahrhundert mehrfach eine chorea. Die Chronik des dortigen Bibliothekars Bernard Itier († 1225) listet zwei choreae im Umfeld des Patronatsfestes auf und präzisiert für 1215, dass sie an der Oktav des Festes stattfanden. Eine weitere chorea wird 1278 von den nachfolgenden Chronisten erwähnt.186 Unterschiedliche Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext lassen sich auch aus Provins, etwa 40 km von Sens entfernt und der gleichen Diözese zugehörig, nachweisen. Eine Stadtgeschichte, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem lokalen Gelehrten Christophe Opoix (1745–1840) verfasst wurde, liefert hierfür eine Zusammenfassung vormoderner Tänze an den Heiligenfesten. Ähnlich wie die Aufsätze im „Mercure de France“ möchte auch er den Einwohnern von Provins über einige seltsame Feste und Riten der Vorfahren berichten und widmet sich in diesem Zusammenhang Tierprozessen, dem Narrenfest und mehreren Tänzen.187 Bei dem Tanz am Tag des Heiligen Thibauld, eines Kamaldulensermönches, der zu Beginn des 11. Jahrhunderts in Provins geboren worden war, zogen Jungen und Mädchen vom Vorplatz der dem Heiligen geweihten Kirche tanzend zum Grafenpalast. Seit wann dieser Tanz stattfand und ob der Klerus daran partizipierte, bleibt nach Opoix’ Schilderung unklar, er verweist lediglich auf 1670 als Jahr der Abschaffung. In der Stiftskirche Saint-Quiriace war der Klerus dagegen eindeutig an den Tänzen beteiligt. Zum einen fand hier an Maria Geburt ein Tanz in Zusammenhang mit einem szenischen Spiel statt. Der Vikar der Kirche erwählte eine junge Frau aus der Gemeinde, die ganz in blau gekleidet im Chorraum platziert wurde. Der Vikar begrüßte die Maria symbolisierende Jungfrau mit den Worten Ave regina und führte sie an der Hand zur Kirchenpforte, wo er einen Paartanz mit ihr begann. Entstehungszeit und Choreographie sind auch in diesem Fall nicht herzuleiten, wiederum berichtet uns Opoix nur vom Ende des Tanzes 1710, als er als skandalös betrachtet wurde.188 An Ostern war dann nicht mehr nur der Vikar, sondern das gesamte Kapitel zum Tanz gefordert. Zwei Einträge aus den Rechnungsbüchern aus der Mitte des 15. Jahrhunderts erwähnen Ausgaben für Wein anlässlich der „danse du choeur“189. Weitere Rechnungen deuten darauf hin, dass die Kanoniker seit 186 187 188 189

Vgl. Chailley 1969, S. 364. Vgl. Opoix 1823, S. 434–444. Vgl. ebd., S. 437. 1436: „Le premier mars, jour de Pasques, pour quatorze pintes de vin, à la danse du choeur …“; 1444: „Pour la danse du choeur, après vêpres, douze pintes de vin“, zitiert nach: Opoix 1823, S. 438. Da ich auf die Tänze in Provins erst nach Abgabe der Dissertation aufmerksam gemacht wurde, blieb leider keine Zeit für notwendige Nachfor-

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dem 14. Jahrhundert einen nicht näher bestimmten Tanz aufführten, um anschließend Männer und Frauen aus der städtischen Oberschicht zum Umtrunk einzuladen. 1564 wurde er abgeschafft. Die Beispiele aus Provins zeigen eine Bandbreite der Tanzformen im kirchlichen Kontext im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Ganz ähnlich wie in Provins oder in Auxerre, wo Lebeuf in seiner Stadtgeschichte im 18. Jahrhundert die Quellen zur Pelotte zusammenstellte, ist auch in Nîmes in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Stadtgeschichte mit kirchengeschichtlichem Schwerpunkt entstanden. Der Autor, der Conseiller am örtlichen Gerichtshof und Historiker Léon Ménard190 (1703–1767), veröffentlichte zwischen 1750 und 1758 eine siebenbändige „Histoire civile, ecclésiastique et littéraire de la ville de Nismes“. Im dritten Band seines Werkes berichtete er ganz im Stil der bereits vorgestellten Autoren des „Mercure de France“ über „une fête bizarre, […] sous le titre de fête des fous“191. Ménard sieht die Ausgestaltung des Festes im Vergleich zu anderen Städten Frankreichs als sehr gemäßigt an. Einen wesentlichen Bestandteil der Feierlichkeiten stellten Tänze von Geistlichen und Laien in der Kathedrale und anderen Kirchen in Nîmes dar. Max Harris hat zu Recht dazu angemerkt, dass der Begriff Fête des Fous in den zeitgenössischen Quellen nicht vorkommt, sondern eine Interpretation des 18.  Jahrhunderts durch Ménard darstellt.192 Am Weihnachtstag, dem 25.  Dezember  1394, verkündete der örtliche lieutnant général des sénéchal, Gilles Vivien, zusammen mit einem Notar und einem Ausrufer in den Straßen von Nîmes und vor der Kathedrale, dass wegen des weiter andauernden Schismas und der Trauer über die Zerstrittenheit der Kirche künftig keine Tänze mehr in den Kirchen von Nîmes stattfinden sollen. Bei Zuwiderhandlung drohe allen Personen eine Strafe in Höhe von zehn Livres tournois.193 Die Kirchen sollen seiner Meinung nach ein Haus des Gebetes sein,

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schungen. Die Angaben von Opoix mit dem ungewöhnlichen Ostertermin, der Übertragung der Quelle in ein zeitgenössisches Französisch und dem Verzicht auf „pièces justificatives“ sind natürlich höchst problematisch. Zur Biographie Léon Ménards siehe: Germain 1857, S. 1–22. Ménard, Bd. 3, 1752, S. 93, seine „pièces justificatives“ enthalten die Transkriptionen der wesentlichen Quellen aus dem Register des Kathedralkapitels. Eine Zusammenfassung davon findet sich bei: Harris 2011, S. 160–166. Vgl. Harris 2011, S. 166. „Mandament est, de par la cort de mossenhor lo senescal, que coma la glieysa sié en grant tribulacion de present; en la qualla glieysa continuablement deu hom far preguieyras, sen cessar, & per especial al temps & en las festas ordenadas per Dieu pregar, & en los locs à so ordenatz, que neguna persona, de qualque estat que fié, justiciabla al rey nostre senhor, non sia si ardida doras en avant de dansar dedins los luocs ordenatz à Nemze per Dieu pregar, on mieils al jour d’euy se devon far plors que dansas, par la

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das durch skandalöse Tanzpraktiken von Geistlichen und Laien beiderlei Geschlechts verunreinigt werde. Soweit eine Argumentation, die im Einklang mit den Verbotsbemühungen der allgemeinen Konzilien zu stehen scheint. Diese Sichtweise wurde von den Kanonikern der Kathedrale und den Vertretern der Stadt jedoch keineswegs geteilt, die sich dem Verbot heftig widersetzten. Eine gute Woche später, am 3. Januar, richteten die beiden Konsuln Pierre Foucard und Antoine Maurel im Namen aller weltlichen Bewohner von Nîmes eine Beschwerde an Etienne Laune, den Vertreter des örtlichen Bischofs, in der sie das Vorgehen des Leutnants verurteilten. Die Argumentation lautete einerseits Amtsanmaßung, da der königliche Bevollmächtigte kein Recht habe, im Kathedralbezirk, dessen Jurisdiktion Bischof und Kapitel unterstehe, Erlasse zu verkünden.194 Zweitens wurde dargelegt, dass der gemeinsame Tanz von Kanonikern sowie weltlichen Männern und Frauen keineswegs schändlich sei, sondern ein Ausdruck des Lobpreises Gottes anlässlich der Geburt des Erlösers. Der Tanz stelle einen alten legitimen Brauch dar, der noch nie Anlass zur Kritik gegeben habe.195 Auch die Kanoniker hatten unverzüglich nach der Verkündung Informationen eingeholt, ob die Kritik von Gilles Vivien durch andere weltliche Machthaber unterstützt werde. Da aber die oben genannten Magistrate, der königliche Richter (juge-royal-ordinaire), der königliche Stellvertreter (viguier royal) und der königliche Anwalt (avocat du roi), versicherten, Vivien habe ohne ihr Wissen gehandelt und sie würden seine Meinung nicht teilen, arbeiteten die Kanoniker zum 4.  Januar eine Beschwerde an den König aus, die sie Vivien durch einen Kanoniker zukommen ließen.196 Die Kanoniker versicherten ebenso, dass der Tanz integraler Bestandteil des liturgischen Kalenders der Kathedrale sei. An Weihnachten (25.12.) werde die Geburt des Herrn, an St. Stephan (26.12.) das Fest der Diakone gefeiert, zu Ehren von Johannes dem Evangelisten (27.12.) das Fest der Presbyter begangen und zum Fest der Unschuldigen Kinder (28.12.) aus union de sancta glieyza; & aysso solz le pena de x. lieuras Tornencas,  …“, Ménard, Bd. 3, 1752, S. 126. Der Erlass ist wie vor dem 16. Jahrhundert im Nîmes üblich auf Okzitanisch verfasst. 194 Vgl. Ménard, Bd. 3, 1752, S. 96, Harris 2011, S. 161. 195 „Tum eciam quia talis celebritas gaudiosa, & similes fieri assuete in ecclesia supradicta, fit & fieri consuevit ob honorem, reverenciam, & gloriam filli die & ejus nativitatis sancte, in qua totus universalis populus christianus congaudet, festivando instrumentis musicalibus resonantibus, ad Dei honorem, gloriam, & laudem, & ejus nativitatis, ut est notorium; sic quòd talis tripudiosa leticia in dicta ecclesia, ad finem supradictum laudabilem & permissum, est fieri conssueta, à tanto tempore citrà de cujus contrario memoria non existit, per cives & habitantes Nemausi & eorum uxores, unâ cum canonicis bonis & honestis …“ Ménard, Bd. 3, 1752, S. 127. 196 Vgl. Ménard, Bd. 3, 1752, S. 96 f.

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den Reihen der jungen Kleriker ein Kinderbischof (novus episcopus) gewählt.197 Zur zusätzlich Legitimation verwiesen die Kanoniker auf den Umstand, dass in der Vergangenheit solch hohe Persönlichkeiten wie der französische König Johann II. (1350–1372), die Herzöge von Berry, Anjou und Burgund und selbst mehrere Kardinäle am Fest teilgenommen hätten.198 Der Tanz in Nîmes werde aus Freude und zur Ehre Gottes mit ehrenwerten Männern und Frauen in der Kathedrale getanzt, was völlig im Einklang mit den Statuten der Kirche stehe und bereits seit langer Zeit praktiziert werde199. Die vorgestellten Beispiele von Tanz im kirchlichen Kontext waren chronologisch und regional weit gestreut, was eine stärkere Kontextualisierung erfordert hätte. Mir kam es jedoch vor allem darauf an, deutlich zu machen, welche vielfältigen und unterschiedlichen Tanzpraktiken es im Spätmittelalter gab und wie die Tänze in die Religiosität dieser Zeit eingebunden waren. Die Vorstellung vom gottgefälligen Tanz der Engel oder von Christus als zum Tanz aufspielendem Spielmann in den mystischen Schriften zeugt von einer positiven Wertung in diversen Kontexten von Tanz. Gleichwohl bleibt offen, ob diese Vorstellungen lediglich spirituell gedacht waren, oder sich in Tanzpraktiken äußerten. Zweifelsohne körperlich getanzt wurde jedoch bei geistlichen Spielen, wo vor allem Salome und Maria Magdalena als Tänzerinnen auftraten. Diente der Tanz hier dazu, um die Weltlichkeit und Sündhaftigkeit beider Personen darzustellen, zeigt sich bei den von Hildegard von Bingen konzipierten Mysterienspielen und bei Prozessionen ein anderes Bild. In Sevilla unterhielt der Kathedralklerus sogar einen eigenen Tanzmeister für seine Chorknaben, der gegen eine nicht unerhebliche Bezahlung mit den Schülern die Choreographie für den Fronleichnam einstudierte. Auch an anderen hohen Feiertagen, wie in der gesamten Weihnachtsoktav und an Ostern, fanden in zahlreichen Kirchen Tänze von Chorknaben und Kanonikern, zum Teil auch mit der Gemeinde, statt. Ver197 Vgl. ebd., S. 131. 198 Vgl. Harris 2011, S. 162, Ménard, Bd. 3, 1752, S. 132. 199 „[...] & per tres dies sequentes propter gaudium dicte festivitatis, cum eorum parentibus, & aliis nobilibus & notabilibus, probis & honestis viris, & mulieribus hujus civitatis; & aliis quibuscunque ibidem interesse volentibus, in eorum recreationem qui per totum annum sub ferula existunt, cùm regulares existant; & hiis tribus diebus per statuta ecclesie ab observanciis regularibus relaxantur, sicut & per totum mundum regulariter observatur, ne honor die & merita sanctorum in oblivionem à fidelibus deducantur, infra dictam eccelisiam, tanquàm in loco magis publico & honesto, undè aliqua sinistra haberi non possit suspicio, ex concessione sanctorum patrum & patronorum suorum, sibi & suis predecessoribus facta palàm & publicè, & horâ debitâ de die, modo debito & honesto, cum eorum habitu tripudiare & gratulare habeant & eis fit permissum“, Ménard, Bd. 3, 1752, S. 131.

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suche, diese Tänze einzuschränken oder zu verbieten, wurden von den Kapiteln energisch bekämpft, welche die Tanzpraktiken als gottgefällig und förderungswürdig erachteten. Insbesondere die im Vergleich dichte Überlieferung für die französischen Bischofsstädte deutet an, dass Tänze von Kanonikern an hohen christlichen Festtagen kaum als Ausnahme zu werten sind.

3.4 Fazit Die Vorstellung einer ausschließlich tanzfeindlichen und tanzabstinenten Kirche konnte durch drei Einwände korrigiert werden. Zunächst wurde aufgezeigt, dass der Großteil des hohen Klerus, die Bischöfe, Äbtissinnen und Kardinäle, und auch viele Kanoniker in ihrer Erziehung selbst Tanzfertigkeiten erlernt hatten. Ihre geistlichen Weihen hinderten sie häufig nicht daran, weiterhin an den im adeligen Festkalender fest verankerten Tanzveranstaltungen als Zuschauende und Tanzende teilzunehmen. Vielfach traten sie zudem selbst als Organisatoren von Bällen auf. Anschließend wurden die in der Sekundärliteratur vielfach zitierten Tanzverbote der allgemeinen Konzilien einer genaueren Durchsicht unterzogen. Die Untersuchung hat offenbart, dass dabei nie ein generelles Tanzverbot formuliert worden war, sondern lediglich Regulierungen gegen bestimmte Zeiten, Orte und Arten von Tanz verabschiedet wurden. Dabei standen vor allem Darbietungen von Histrionen oder das gemeinsame Tanzen von Geistlichen und Laien in der Kritik. Was die Tanzpraktiken in einem paraliturgischen Rahmen betrifft, so zielte die Stoßrichtung der Einschränkungen vor allem auf die unter dem Begriff Fête des Fous versammelten Feste ab. Daran anknüpfend konnte durch den dritten Einwand demonstriert werden, dass jenseits dieser Regulierungen ein Raum für Vorstellungen von gottgefälligem Tanz und dessen körperliche Praxis bei Geistlichen existierte. Bei Prozessionen, dramatischen Darstellungen oder bei der Initiation von Klerikern konnten Tanzdarbietungen Bestandteil performativer Aneignungsformen der Heilsgeschichte sein. Insbesondere in Frankreich zeigt sich die Tendenz einer vielfältigen religiösen Tanzkultur, die vor allem von den Kathedralkapiteln gepflegt und verteidigt wurde. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Tänze in Sens und Auxerre nicht mehr als bizarre Entgleisungen oder deviante Praktiken, sondern als ein Bestandteil der elaborierten Tanzkultur im kirchlichen Kontext des Spätmittelalters.

Zwischen Frankreich und Burgund

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4. Die Stellung der Kanoniker in den Bischofsstädten Sens und Auxerre um 1500 Die Tänze von Geistlichen in den Kathedralen von Auxerre und Sens beeindruckten in erster Linie, weil es Tänze von Geistlichen waren, und nicht, weil sie in Auxerre und Sens stattfanden. Dass die Tänze an Ostern, dem höchsten Feiertag der Christenheit, praktiziert wurden, machte sie verständlicherweise noch einmal besonders spannend. Im Fall von Auxerre faszinierten außerdem vor allem die Verbindung von Tanz und Ballspiel und das Labyrinth als Tanzort. Über mögliche symbolische, mythologische oder heilsgeschichtliche Anlehnungen wurde bisher in der Forschung viel spekuliert, für die – im Vergleich dazu zugegeben ziemlich banal klingenden – Fragen, wo genau die Tänze stattfanden und wer daran teilnahm, war dagegen weniger Interesse vorhanden. Für die englisch- und deutschsprachigen Arbeiten zu dem Thema waren Sens und Auxerre irgendwelche Bischofsstädte in Frankreich. Und damit hatte es sich weitgehend.1 Für die lokalhistorischen Arbeiten, die sich sehr detailliert mit der Topographie der Städte, der Position der Kathedralviertel in der Stadt oder der Lebensweise der Kanoniker befassten, waren die Tänze an Ostern wiederum kein Thema oder lediglich eine Randbemerkung wert.2 Da aber eine Vielzahl von Einflüssen für die Toleranz oder Abschaffung von Tänzen im kirchlichen Kontext denkbar ist, verspricht gerade eine intensivere Betrachtung der politischen und religiösen Lage der Kathedralkapitel sowie der Motive und Interessen der Akteure neue Erkenntnisse. Um der Kritik an den bisherigen Studien gerecht zu werden und den bemängelten „luftleeren“ Raum auszufüllen, widmet sich dieses Kapitel deshalb den Kathedralkapiteln von Sens und Auxerre. Zuerst geht es darum, Sens und Auxerre als kirchliche Administrationsbereiche vorzustellen wie auch die Lage der Städte und ihre Bedeutung in den Auseinandersetzungen zwischen den burgundischen Herzögen und der französischen Krone zur Geltung zu bringen. Zudem wird kurz auf die beginnende Reformation in den Diözesen eingegangen. Denn wenn es Veränderungen in kirchlichen Ritualen oder Rechtsformen 1 Wrights Fokus auf Labyrinthe in ganz Europa und ihre vielfältigen Nutzungen ließen wenig Raum für Kontextualisierungen, Eisenberg fußt diesbezüglich vor allem auf Wright. Eine Ausnahme stellt Zellmann 2007, S. 43–50, 65–73 dar, die eine erste Einbettung für Auxerre vornimmt. 2 Für Sens vgl. etwa Cailleaux 2009, S. 34: „C’est sur cette place et autour du puits que se déroulaient diverses réjouissances civiles ou liturgiques. Les jeunes mariés y avaient accès pour faire danser la noce et le clergé y pratiquait, jusqu’en 1517, la danse liturgique de la Carrole le soir de Pâques.“ Eine Ausnahme für Auxerre stellt dabei Fourrey 1934 dar.

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Die Stellung der Kanoniker in den Bischofsstädten Sens und Auxerre

in den 20er und 30er Jahren des 16.  Jahrhunderts gegeben haben sollte, liegt es nicht allzu fern, sie in einen Zusammenhang mit der Reformation zu stellen. In einem zweiten Punkt sollen die urbanen Lebensräume näher untersucht werden. Wie ist der Kathedralbezirk in die Stadt eingebunden, welche anderen religiösen Gruppen gibt es, wer lebt im Kathedralbezirk, in welchem Verhältnis steht das Kapitel zur städtischen Verwaltung? – das sind Fragen, die in diesem Abschnitt im Vordergrund stehen. Drittens soll versucht werden, die rechtliche Stellung und Zusammensetzung der Kapitel genauer in den Blick zu nehmen. Untersucht werden soll, woher die Kanoniker stammten und über welchen sozialen Hintergrund sie verfügten. Außerdem soll betrachtet werden, wie in beiden Kathedralen die Stellung zwischen Kapitel und Bischof geregelt war und inwiefern Machtverhältnisse zwischen ihnen ausgehandelt wurden.

4.1 Zwischen Frankreich und Burgund: Die Städte Sens und Auxerre am Ende des Mittelalters Die politische Lage Frankreichs im 14.  und 15.  Jahrhundert wurde vor allem durch den Hundertjährigen Krieg geprägt. Die Auseinandersetzungen zwischen dem englischen und französischen Königshaus um die Herrschaft über Frankreich und der gleichzeitige Aufstieg Burgunds zu einer europäischen Großmacht blieben nicht folgenlos für die Diözesen Sens und Auxerre. Insbesondere Auxerre, das sowohl die Krone als auch die Herzöge von Burgund als ihren Machtbereich betrachteten, geriet dabei in das Spannungsfeld beider Mächte. Mit der Regierung des burgundischen Herzogs Johann Ohnefurcht (1404–1419) spitzten sich die bereits bestehenden Spannungen zwischen den Parteigängern Burgunds und denen des französischen Königtums weiter zu. Nachdem König Karl  VI. (1380–1422) nach dem Bal des Ardents – endlich eine mittelalterliche Tanzveranstaltung, für die sich die Forschung schon lange interessiert –die Regierung abgegeben hatte, wurde Frankreich von einem Regentschaftsrat verwaltet. Beide Parteien versuchten diplomatisch und militärisch auf die Herrschaft des Landes Einfluss zu nehmen. Wegen der Geisteskrankheit von König Karl VI. stützten sich die Königstreuen auf dessen Bruder Ludwig, den Herzog von Orléans. Als Ludwig 1407 auf offener Straße von Anhängern des Herzogs von Burgund ermordet wurde, entbrannte zwischen beiden Parteien ein offener Bürgerkrieg.3 Das Bistum Sens und insbesondere das Bistum und die Stadt Au-

3 Vgl. Schmale 2000, S. 80 f.

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xerre wurden wegen ihrer günstigen geographischen Lage zum Schauplatz von Plünderungen und Kämpfen. Letztlich ging das französische Königtum aus dem Hundertjährigen Krieg und dem Niedergang Burgunds nach dem Tod Karls des Kühnen 1477 gestärkt hervor. Der Grund dafür waren nicht nur territoriale Rückgewinne und Eroberungen, sondern auch die Anerkennung des königlichen Gerichtswesens. In der Krise hatten sich die bailliages und sénéchaussées auf unterer Gerichtsebene, und die Regionalparlamente und das Pariser Parlament als höchste Instanzen der Rechtsprechung, als fähige Institutionen der königlichen Verwaltung bewährt.4 Die Wiedererlangung und der Ausbau der königlichen Souveränität sorgten auch für eine stärkere Einflussnahme der französischen Könige auf die Organisation der Kirche auf Kosten der römischen Kurie, die mit der „Pragmatischen Sanktion von Bourges“ 1438 begann und 1516 mit dem „Konkordat von Bologna“ ihren Abschluss fand. Beide sicherten der Krone weitreichende Rechte bei der Besetzung geistlicher Ämter zu. Außerdem wurde bei der Pfründenvergabe nicht nur die päpstliche Mitsprache reduziert, sondern auch die adelige Patronatspolitik beschnitten.5 Nominell behielten die kirchlichen Institutionen zwar ihr Wahlrecht, mussten aber durch die Beschlüsse von Bourges dem Monarchen das Recht zugestehen, „wohlwollende Empfehlungen zugunsten von Personen auszusprechen, die sich Verdienste erworben haben und zum allgemeinen Wohle des Reiches wirken wollen.“6 Auch demographisch und wirtschaftlich stellten das Ende des 15.  Jahrhunderts und das beginnende 16. Jahrhundert eine Zeit des Aufschwungs dar. Langsam erreichten die Bevölkerungszahlen wieder den Stand vor den verheerenden Pestepidemien, die beide Diözesen in ähnlicher Weise wie das gesamte Königreich und weite Teile Europas getroffen hatten. Zugleich entwickelte sich mit den steigenden Einnahmen der kirchlichen Grundherren wieder eine rege Bautätigkeit, in deren Zuge auch umfangreiche Reparaturen und Umbauten an den Kathedralen von Sens und Auxerre stattfanden. Dadurch, dass die französische Krone ihre Macht auf die kirchliche Organisation und Ämtervergabe ausgedehnt hatte, sah sie durch die Reformation gerade erst erworbene Privilegien gefährdet. Die Lehre Luthers konnte im Gegensatz zum Reich in Frankreich zunächst kaum Fuß fassen. Dabei war die politische Haltung von Franz I. gegenüber dem Protestantismus durchaus ambivalent. Gerade in den Zeiten, in denen er im Krieg mit dem deutschen Kai4 Vgl. ebd., S. 88–95. 5 Vgl. Ehlers 2009, S. 383 ff. 6 Rapp 1995, S. 349.

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ser Karl V. (1519–1556) stand, versuchte er protestantische Reichsfürsten zur Unterstützung zu gewinnen. Allerdings gingen das Pariser Parlament und die Pariser Sorbonne als wichtige Institutionen der Herrschaft in Frankreich deutlich repressiver gegen protestantische Strömungen vor. Vor allem nutzen sie ihre Vollmachten während der Gefangenschaft des Königs diesbezüglich aus. Bereits 1521 wurden Luthers Werke durch die königliche Gerichtsbarkeit verboten. Auf den im selben Jahr abgehaltenen Provinzsynoden, unter anderem in der Kirchenprovinz Sens, wurde die Lehre Luthers als häretisch verworfen. 1529 wurde der Übersetzer von Luthers Schriften ins Französische, Louis Berquin, in der Hauptstadt Paris verbrannt.7 Besonders nach der „Affaire des Placards“ 1534 spitzte sich die Lage weiter zu. In der Nacht auf den 18.  Oktober waren in Paris und anderen wichtigen Städten Flugblätter angeschlagen worden, die die katholische Messe als Missbrauch bezeichneten. In Paris machten Gerüchte über vermeintliche Anschläge von Lutheranern die Runde. Das Parlament ergriff umgehend die Initiative und organisierte Sühneprozessionen in Paris. Zugleich wurden nur zwei Wochen später die ersten Verantwortlichen verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Da auch innerhalb des Schlosses von Amboise, wo der Hof residierte, ein derartiges Schriftstück gefunden wurde, sah sich der König persönlich bedroht. Im Januar nahm er nach der Rückkehr nach Paris an einer großen Prozession teil, welche die Rechtmäßigkeit der katholischen Messe unterstrich und die Protestanten als Häretiker ausgrenzte. Viele französische Protestanten, darunter auch Jean Calvin, zog es ins Exil nach Straßburg, Basel oder Genf, von wo aus die weiterhin versteckt agierenden Protestanten unterstützt wurden.8 Die Auswirkungen der Reformation in Auxerre sind vor allem durch die Stadtgeschichte des bereits ausführlich vorgestellten Lebeuf und den Lokalhistoriker Chardon bekannt. Gerade Chardon offenbart mit seinen Beschreibungen Luthers, des „génie malfaisant“9, oder der Hugenotten als „cruels ennemis, qui y renouvelèrent les excès les plus horribles des Huns et des Normands“10 seine kritische Position zum Protestantismus, so dass seine Schilderungen mit Vorsicht zu genießen sind. Zumindest in den ersten Jahren der Reformation scheint es kaum Anhänger des neuen Glaubens in der Diözese von Auxerre gegeben zu haben.11 Erst für das Episkopat von François Dinteville II. (1530–1554) wird 7 8 9 10 11

Vgl. Venard 1992, S. 448–452. Vgl. Greengras 1987, S. 24–27. Chardon 1834, S. 297. Ebd., S. 292. „Malgré ses absences, l’hérésie de Luther qui vint à s’éveler, ne trouva aucune entrée dans son Diocèse“, Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 574.

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berichtet, dass um 1540 die ersten protestantischen Prediger im südwestlichen Bereich der Diözese, in der Loire-Gegend, aufgetaucht waren. Lebeuf bezeichnet sie als „Luthériens“12. Bei mehreren Visitationen zwischen 1543 und 1551 wurde der Abfall vom Glauben für einige Orte vermerkt. Ein Priester aus der Gegend, der sein Eintreten für die Reformation öffentlich durch eine Heirat demonstrierte, wurde 1551 als Häretiker verbrannt.13 Auch in der Diözese Sens wurde das erste Aufkommen der Lehren Luthers durch die Obrigkeit erst ab demselben Zeitraum wahrgenommen. In der nördlich angrenzenden, zur Kirchenprovinz Sens gehörenden Diözese Meaux fanden von Luther inspirierte Reformversuche schon Anfang der 1520er Jahre statt, scheiterten 1525 jedoch, als sich der örtliche Bischof offiziell zum katholischen Glauben bekannte.14 Der conseiller Jacques Leroux erhielt 1545 den königlichen Auftrag, sich „au Pays de Sens et terres adjacentes contre les prédicateurs et pratiquant l’hérésie et leur punition“15 zu informieren. Wenige Jahre später erfahren wir aus den Aufzeichnungen eines Kanonikers der Kathedrale, dass Gilles de Barville, Kanoniker und Erzdiakon von Melun, seinen eigenen Neffen, einen Juristen aus Sens, der Häresie beschuldigte. Nach dem Urteilsspruch war er es selbst, der für seinen Neffen den Scheiterhaufen entzündete. Zu Beginn der 1560er Jahre hatte sich der protestantische, nun calvinistisch geprägte Glaube in der Stadt verbreitet und eine Gemeinde von mehreren hundert Personen hervorgebracht. Ihre Duldung fand ein blutiges Ende, als im April 1562 etwa achtzig Protestanten von einem aufgebrachten Mob ermordet und ihre Häuser angezündet wurden.16 Sens Einen Erzbischof im Palast von Sens, Primas ganz Galliens, sucht man in der Kirchenorganisation des heutigen Frankreich vergeblich. 1627 wechselte das Vorrecht an den Bischof von Paris und der Bischofssitz der nach der Französischen Revolution geschaffenen Diözese Sens-Auxerre wurde 1973 nach Auxerre verlegt. Die sous-préfecture des Departements Yonne zählt heutzutage etwa 25.000 Einwohner. Was noch an die Bedeutung im Mittelalter erinnert, ist vor allem die Kirche St.  Etienne, eine der ersten gotischen Kirchenbauten Frankreichs aus dem 12. Jahrhundert. Zu dieser Zeit verbrachte Thomas Becket einen 12 Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 589, ab den 1560er Jahren werden Reformierte bei ihm als „Calvinistes“ bezeichnet, vgl. etwa Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 389. 13 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 589 ff., Sot 2009, Bd. 3, S. 86. 14 Zur „Gruppe von Meaux“ und ihrem Scheitern vgl. Veissière 1986, S. 179–368. 15 Zitiert nach Challe 1863, S. 23. 16 Vgl. ebd., S. 23 f., 44–56.

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Teil seines Exils in Sens und auch der von Friedrich Barbarossa aus Rom vertriebene Papst Alexander III. residierte zwischen 1162 und 1165 in der Stadt. Auch im Spätmittelalter war die Bedeutung von Sens nicht zu unterschätzen. Alle Versuche der Pariser Bischöfe, sich der Dependenz der Erzbischöfe von Sens zu entziehen, blieben letztlich erfolglos. Selbst Louis de Beaumont, Bischof von Paris am Ende des 15.  Jahrhunderts, musste sich, nachdem er durch eine päpstliche Bulle zumindest die persönliche Exemtion erreicht hatte, schließlich geschlagen geben und einen Entschluss des Pariser Parlaments akzeptieren.17 Vor allem die Sens-Clique in der Entourage des französischen Königs Karls V. (1364–1380), angeführt vom Erzbischof Guillaume de  Melun (1344–1376), zeugte vom politischen Einfluss der Erzbischöfe.18 Die Bezeichnung „de Sens“ findet sich im 14. Jahrhundert jedenfalls auffallend häufig in den Namenslisten des Pariser Parlaments. Als Paris wegen des Aufstandes durch Etienne Marcel und der Jacquerie19 für den König verschlossen blieb, regierte Karl V. von Sens aus. Die erste vom König einberufene Ständeversammlung tagte ebenfalls nicht in Paris, sondern in der Bischofsstadt an der Yonne.20 Neben dem Sitz der Erzbischöfe zeugt auch die Einrichtung eines königlichen bailliage in der Stadt, der zu Beginn des 11. Jahrhunderts als einer der ersten in Frankreich geschaffen wurde, von der politischen Bedeutung der Stadt. Obwohl der Gerichtshof im Verlauf des Spätmittelalters einige Zuständigkeitsbereiche, wie etwa Auxerre, 1435 abtreten musste, regelte der bailliage die Rechtsprechung auch zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch über ein großes Gebiet.21 Dennoch spiegeln die zunächst erfolglosen Widerstände der Pariser Bischöfe und die Reduzierung des Einflussbereiches des bailliage erste Anzeichen für einen Niedergang im 15. Jahrhundert wider. Sens verlor auch deshalb an Bedeutung, da es wirtschaftlich und demographisch durch die Kriege und umherziehende Bewaffnete in Mitleidenschaft gezogen wurde. Englische Truppen belagerten die Stadt mehrfach im Verlauf des 14. Jahrhunderts und verwüsteten das Umland. Das nur etwa 5 km von Sens entfernte Dorf Soucy wurde 1378 vollständig niedergebrannt. Seit 1415 begann eine erneute Belagerungswelle. Von Truppen des burgundischen Herzogs unterstützt, eroberten englische Soldaten 1420 die Stadt und hielten sie zehn Jahre in Besitz. Auch nachdem 1430 die Engländer vertrieben worden waren, blieb die Lage unsicher, so dass weiterhin viele Felder nicht mehr bestellt wurden. Die Einnahmen des Kathedralkapitels belegen 17 18 19 20 21

Vgl. Fourrey 1953, S. 14 f. Vgl. Tabbagh 2009, S. 144 f. Zur Jacquerie siehe: Bommersbach 2008, S. 46–81. Vgl. Ehlers 2009, S. 251 f. Vgl. Meunier 2011, S. 66–69.

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den Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge durch Missernten und Kriege in dieser Zeit. Sie betrugen 1457 nur noch die Hälfte im Vergleich zu 1411, im Jahr 1470 sanken sie im Vergleich zu 1411 sogar auf ein Viertel.22 Selbst so hohe und gut bewachte Persönlichkeiten wie die Erzbischöfe Jean de Nanton (1423– 1432) und Louis de  Melun (1432–1474) waren vor Übergriffen nicht gefeit. Beide wurden bei Reisen im Umland gefangen genommen und erst gegen ein Lösegeld freigesetzt.23 Auxerre Auch heute noch residiert in Auxerre ein Bischof der Diözese Sens-Auxerre, allerdings in einem deutlich kleineren Maßstab. Der prächtige Bischofspalast beherbergt die örtliche Präfektur des chef-lieu des Departements Yonne, der Bischof selbst residiert in der deutlich weniger prächtigen maison diocésaine. Sinkende Zahlen von Gläubigen und damit auch an Einnahmen haben Auxerre den Vorsitz der Kirchenprovinz gekostet. Sie wird seit einigen Jahren vom Erzbischof von Dijon geleitet – der noch an die alte Pracht von Sens erinnernde Titel eines „Erzbischofes“ von Sens-Auxerre bleibt jedoch weiterhin bestehen. Wer sich nicht gerade für Fußball oder Rebsorten interessiert oder gerne als Freizeitkapitän durch das französische Fluss- und Kanalsystem schippert, dem dürfte Auxerre kaum ein Begriff sein. Im Mittelalter sah die Lage dagegen ein wenig anders aus. Auch vor 500 Jahren spielten der Weinanbau und der Flusshafen eine wichtige Rolle in Auxerre. Die Weinberge um die Stadt herum stellen die wirtschaftliche Grundlage der Stadt dar, so dass der Franziskaner Salimbene von Parma schon im 13.  Jahrhundert über den Weinanbau in Auxerre berichten konnte: „… Il y a là un grand district ou échêvé, un grand territoire, que j’ai vu de mes propes yeux, où les montagnes, les collines et les plaines sont toutes cultivées en vigne. Les hommes de ce pays ne sèment, ni moissonnent, ni n’amassent dans leurs greniers, mais ils envoient leur vin à Paris, car tout près de la ville, il y a un fleuve, qui mène à Paris. Ils le vendent si bien et en tirent tout, nourriture et vêtements.“24 Es war nicht allein die Menge an Wein, sondern auch die Qualität – nicht umsonst schickte der Bischof seine besten Weine an den König und den Papst –, die den Reichtum der Stadt ausmachten. Der Fluss Yonne bot eine schnelle und sichere Anbindung an die Hauptstadt und auch wichtige Fernstraßen, wie etwa der bedeutende Handelsweg von Lyon nach Boulogne-sur-Mer, 22 Vgl. Cailleaux 2009, S. 24. 23 Vgl. Tabbagh 2009, S. 183. 24 Rocher 1984, S. 146. Die Weinstadt Auxerre wird bereits im 9. Jahrhundert erwähnt, siehe dazu: Lebeuf 1723, S. 29.

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führten seit der Römerzeit durch Auxerre.25 Über Paris wurde der Wein weiter in die Normandie und nach England exportiert. Dort wurde Wein nicht nur für jede Messe benötigt, sondern die Ordensgemeinschaften achteten streng darauf, die ihnen durch die Benediktsregel garantierten Rationen täglich zu erhalten. Der wirtschaftliche Erfolg lässt sich auch am Münzrecht ablesen, das Graf und Bischof im 12. Jahrhundert erhielten.26 Wegen seines Wohlstandes und seiner geographischen Lage wurde Auxerre noch stärker als Sens immer wieder in die kriegerischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Zu Beginn des Hundertjährigen Krieges war die Stadt 1359 von englischen Truppen erobert worden, die für ein halbes Jahr Quartier in der Stadt bezogen und sie zur Plünderung freigaben. Bereits wenige Jahre später wurde Auxerre von einer Pestepidemie schwer getroffen.27 Ohne eine lokale Leidensgeschichte schreiben zu wollen, bestimmten die Geißeln Krieg und Pest auch die nächsten hundert Jahre. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts litt die Stadtbevölkerung unter dem Bürgerkrieg zwischen den Armagnacs und ihren Verbündeten und den Bourguignons, den Anhängern des Herzogs von Burgund. 1412 wurde der Frieden zwischen beiden Parteien in Auxerre geschlossen. Für vier Wochen residierte der König mit seinem Gefolge im Bischofspalast, während sein Heer in und vor Auxerre lagerte. Ob der Vertrag in der Kathedrale, dem Bischofspalast oder dem Kapitelsaal der Kanoniker unterzeichnet wurde, ist unklar.28 Deutlich wird jedoch, dass die großen Gebäude des Kathedralviertels auch für weltliche Versammlungen genutzt wurden. Der König musste überstürzt abreisen, da sich durch die Hitze des Sommers eine Pestepidemie in der Stadt ausbreitete. Doch auch dieser Friedensvertrag schaffte kaum Ruhe, da weiterhin Truppen um Auxerre ihr Unwesen trieben, so dass die Stadt sich gezwungen sah, Vertreter nach Paris zu schicken, die von der bedrohlichen Lage berichten sollten. Nach der Niederlage der Franzosen bei Azincourt 1415 nahmen die Verwüstungen derart zu, dass die Stadt 1417 einen Vertrag mit dem Herzog von Burgund schloss. Von da an befanden sich Truppen des Herzogs und des Königs in der Gegend. Aus Angst vor deren Übergriffen weigerten sich die Kanoniker, bei Prozessionen die Stadttore zu verlassen.29 Durch die Ermordung von Herzog Johann Ohnefurcht 1419 flammten die Konflikte wieder verstärkt auf. Die Gegend von Auxerre wurde erneut von Trup25 26 27 28 29

Vgl. Sapin 2011, S. 20 f. Vgl. Lebeuf 1723, S. 32. Vgl. Rocher 1984, S. 113 f. Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 272. Vgl. ebd., S. 277.

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pen durchzogen und in Auxerre eine burgundische Garnison eingesetzt, während gleichzeitig die verbündeten Engländer in der Stadt lagerten. Durch die Kämpfe lagen zahlreiche Ländereien der Kanoniker brach. Über die Entsetzung einer Stadt, deren Grundherr die Kanoniker waren, zeigten sich diese einem Vasallen des Herzogs gegenüber so dankbar, dass sie von nun an jährlich eine Dankesmesse feierten und ihm und seinen Nachfolgern eine ewige Präbende zusicherten.30 Auch in den Folgejahren blieb die Situation angespannt. Als Jeanne d’Arc im Juni 1429 mit dem königlichen Heer nach Reims zog, wurde ihr der Einzug verweigert.31 Vor den Toren kampierte nun ein weiteres Heer, das sich aus dem Umland ernährte und den Handel brach liegen ließ. Erst als die Grafschaft Auxerre im Frieden von Arras 1435 dem Herzog von Burgund zugesprochen wurde, erlebte die Stadt zunächst friedliche Jahre. Die andauernden Plünderungen im Umland, Einquartierung von Truppen und hohe Kriegssteuern hatten zu einem wirtschaftlichen Niedergang zu Beginn des 15. Jahrhunderts geführt. Ein Großteil der Felder war verwüstet und die Weinhänge lagen brach. Der Aufschwung, der durch den Frieden langsam stattfand, wurde durch eine schwere Pestepidemie gegen Ende der 1460er Jahre zunichtegemacht.32 Die Pest wütet auch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder in Auxerre. Vor allem in den Jahren 1515, 1531 und 1544 traten immer wieder verheerende Epidemien auf. Wegen der Pestgefahr verließ die Stadt, wer es sich leisten konnte. Der bailliage etwa residierte in den Pestjahren in St. Bris, etwa 10 km südöstlich von Auxerre.33 Sens und Auxerre waren vom 12.  bis zum 14.  Jahrhundert prosperierende Bischofsstädte in Frankreich. Vor allem Sens war als Sitz eines Erzbischofes, dessen Kirchenprovinz auch Paris umfasste, von großer religiöser und politischer Bedeutung. Der Wohlstand und die geographische Lage beider Städte sorgten dafür, dass sie während des Hundertjährigen Krieges in zahlreiche militärische Konflikte involviert waren. Belagerungen, Plünderungen und in Auxerre auch verheerende Pestepidemien sorgten für einen demographischen und wirtschaftlichen Einbruch vom Ende des 14. Jahrhunderts bis in die 1470er Jahre. An der Wende zum 16. Jahrhundert setzte dann ein Aufschwung ein. Die Lehren Luthers konnten in beiden Diözesen, wie in weiten Teilen Frankreichs, zunächst kaum Fuß fassen. In den Jahren, in denen die Tänze abgeschafft wurden, gab es keine lokalen protestantischen Gemeinden, die Kritik an der 30 31 32 33

Vgl. ebd., S. 283. Vgl. Rocher 1984, S. 118. Vgl. Weigert 2000, S. 77 f. Vgl. Chardon 1834, S. 293.

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liturgischen Gestaltung der Kirchenfeste ausüben oder eine Bedrohung hätten darstellen können. Größere, nun calvinistisch orientierte Gemeinden gab es dort erst ab den 1550er Jahren.

4.2 Die topographische Einbindung der Kathedralviertel in die Regierung der Städte Mit den großen städtebaulichen Änderungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich das Stadtbild vieler Orte grundlegend gewandelt. Ebenso bewirkte die Säkularisation die Überführung von Kirchen- und Klosterbesitztümern in staatliche, städtische und private Hand, wenn sie nicht während der Französischen Revolution beschädigt oder zerstört wurden. Auch im 16. und 17. Jahrhundert blieb die Architektur keineswegs statisch, wenn man etwa in den Kirchen die Konstruktion des Lettners oder ihre „Barockisierung“ bedenkt. Es ist deshalb selbst in Städten wie Sens und Auxerre, wo pittoreske Steinund Holzbauten heute noch die Straßen säumen, Vorsicht geboten bei der Annahme, dass es hier noch so aussieht wie vor 500 Jahren. Und selbst dort, wo es wenig architektonische Änderungen gab, bedeutet dies nicht, dass man sofort das Spätmittelalter vor Augen hat. Eine wesentliche Anregung durch den „spatial turn“ liegt gerade darin, die Wahrnehmung und Vorstellung von Menschen, ihre Art, Räume zu nutzen, mit ihnen umzugehen und mit ihrer körpereigenen Materialität mitzugestalten, zu berücksichtigen.34 Raum ist insofern keine statische Größe, sondern er wirkt dynamisch auf Handlungen ein, wie auch Räume erst durch Praktiken hergestellt werden. Erst das Zusammenspiel von Liturgie, Architektur und Bewegung, um nur einige Faktoren zu nennen, schafft ein soziales Arrangement von Körpern und Artefakten, in dem die Akteure ihre eigenen rituellen Sinnmuster herausbilden.35 Sens Auch heute noch dominieren die Kathedrale St. Etienne und der große Bischofspalast samt Versammlungssaal für die Provinzsynoden das Zentrum von Sens. Die Präsenz des Erzbischofs zu Sens, des anerkannten Primas von Gallien, und der Kanoniker der Kathedrale waren hier im Mittelalter deutlich zu spüren. Unter den anderen Pfarrkirchen und Klöstern der Stadt gab es kein Bauwerk, das 34 Grundlegend dazu: Löw 2005, S. 130–151, 263–273, Bachman-Medick 2009, S. 284–328. 35 Vgl. Heath 2005, S. 277 f.

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sich mit der Größe der Kathedrale messen konnte. Die lange Tradition, die Stadt aber allein als „siège d’un clergé omniprésent et omnipotent“36 anzusehen, wurde kürzlich von Etienne Meunier kritisiert. Er macht darauf aufmerksam, dass auch die Juristen das Bild der Stadt im Spätmittelalter erheblich geprägt haben. Sens war seit Beginn des 11. Jahrhunderts Sitz eines bailliage royal, und damit einer der vier großen bailliages des Königreiches. Für die Mitte des 16. Jahrhunderts, als der Einzugsbereich des Gerichts bereits verkleinert worden war, konnte Meunier nicht weniger als 144 Personen nachweisen, die für den Gerichtshof arbeiteten.37 Die politische Verwaltung der Stadt Sens, wie vieler anderer Städte im Mittelalter auch, ist keineswegs einfach zu entschlüsseln. Sie bestand aus Vertretern verschiedener geistlicher und weltlicher Statusgruppen, welche die Herrschaft über einzelne Politikfelder oder geographische Viertel der Stadt für sich beanspruchten. Nachdem die ehemals von einem Grafen regierte Stadt im 11. Jahrhundert in den Besitz der Krondomäne gekommen war, teilten sich der königliche Vogt, der Erzbischof und die Kanoniker die Regierung von Sens. Die Bewohner des Faubourg St. Vif unterstanden dem Abt des dort gelegenen gleichnamigen Klosters.38 Ende des 12. Jahrhunderts gestattete der König den Bürgern von Sens nach mehreren, teilweise blutigen Auseinandersetzungen das Stadtrecht, was Anfang des 14. Jahrhunderts wieder zugunsten der Verwaltung durch einen königlichen Vogt zurückgenommen wurde.39 Erst 1474 verlieh der französische König den Bewohnern von Sens erneut das Recht, einen Stadtrat, einen Bürgermeister und Schöffen zu wählen.40 Dank der Arbeiten von Denis Cailleaux41 in den letzten Jahren lassen sich die Topographie des Kathedralbezirks und die Lebensweise der Kanoniker im Spätmittelalter gut rekonstruieren. Der Kathedralbezirk, Cloître genannt, erstreckte sich nördlich der Kathedrale bis zur Stadtmauer über einen rund drei Hektar großen Bereich, in dessen Zentrum sich ein zentraler Platz mit Brunnen befand. Im Osten reichte das Viertel bis zu den erzbischöflichen Gärten, im Westen schloss die Porte de la Charronnerie unmittelbar an das Hôtel-Dieu an und südlich begrenzte es der Erzbischofspalast42 (Abb. 2, siehe Tafelteil, S. 242). 36 37 38 39 40 41 42

Meunier 2011, S. 67. Vgl. ebd., S. 65–89. Vgl. Quantin 1857, S. 7–10. Vgl. ebd., S. 25 f. Vgl. Ordonnances des roys de France, de la troisième race, Bd. 18, 1968, S. 16–20. Cailleaux 1999, 2009, S. 27–54. Vgl. Cailleaux 2009, S. 29–33.

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Allerdings residierte der Primas von Gallien im Spätmittelalter nur selten in seinem Palast. Bei seinen häufigen Aufenthalten in Paris bewohnte er das Hôtel des Barrés bzw. das Hôtel de Sens, ein ehemaliges Anwesen der französischen Könige. In Sens selbst stand den Bischöfen seit Tristan de Salazar ein weiteres Haus zur Verfügung, allerdings zogen sie es vor, auf ihren Schlössern bei Noslon, Saint-Julien oder Brienon zu residieren.43 Neben dem Palast befand sich die im 12.  Jahrhundert gegründete kleine Kapelle Saint-Laurent. Bis in das 17.  Jahrhundert verrichteten hier sieben Kanoniker die liturgischen Aufgaben. Es handelte sich bei ihnen um ein eigenes Kapitel, das unabhängig vom Kapitel von St. Etienne war. Jeden Tag hielten sie in der kleinen Kirche den Gottesdienst ab und hatten durch die Erzbischöfe ausreichend Ländereien und eine schön ausgestattete Kirche bekommen. Da diese außerdem bei der Einsetzung der Suffraganbischöfe benutzt wurde, zeigt sich, wie eng die Anbindung dieser Kanoniker an den Bischof war. Seit dem 12.  Jahrhundert wurde die räumliche Trennung der Viertel von den anderen Teilen der Stadt durch eine etwa vier Meter hohe Maueranlage mit Wassergraben deutlich sichtbar gemacht.44 Der Zugang zum Viertel wurde über fünf Tore kontrolliert, die tagsüber für den Verkehr geöffnet waren, nachts jedoch geschlossen und von Laien bewacht wurden. Da das Kathedralviertel im Zentrum der Stadt lag, führte eine der Hauptverkehrsstraßen durch den Bezirk. Der Zugang zu den Verkehrswegen führte häufig zu Konflikten mit der städtischen Regierung. Dabei ging es zum einen um die Verteidigung der Stadtmauer an der Nordseite und die Schlüsselhoheit über das dazugehörige Tor, zum anderen wurde darauf geachtet, dass die Kanoniker keine unerlaubten baulichen Veränderungen in ihrem Viertel vornahmen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts gelang es den städtischen Vertreten durch die Erlaubnis und die Anwesenheit des königlichen Vogtes, eine Mauer in einer Nebenstraße von Arbeitern einreißen zu lassen.45 Wie viele andere Kanonikergemeinschaften auch entschied sich das Kapitel von Sens, die gemeinsame Lebensweise in einem Kloster aufzugeben und die gemeinsame Verfügung über die Pfründen im Hochmittelalter aufzuteilen. Seitdem erhielt jeder Kanoniker einen festen Teil der Einnahmen und lebte allein in einem Haus im Kathedralviertel, traf jedoch zu den täglichen Gottesdiensten und den Beratungen im Kapitelsaal mit den übrigen Kanonikern zusammen. Der Kapitelsaal grenzte direkt an die Kathedrale, von wo aus die 43 Siehe: ebd., S. 53. 44 Vgl. ebd., S. 28. 45 Vgl. ebd., S. 33 f.

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Kanoniker über einen Zugang in den Chor der Kathedrale gelangen konnten. Der seit 1402 in den Quellen erwähnte Saal erfuhr Mitte des 15. Jahrhunderts einen kompletten Neubau.46 Wo genau sich der Kreuzgang befunden hatte, ist nicht eindeutig zu klären, da es in Sens keinerlei architektonische Überreste des Gebäudes gibt. Ausgehend von der Struktur anderer Kathedralviertel, erscheint der Platz zwischen Kapitelsaal, Gefängnis und dem Haus des Erzdiakons von Sens als sehr wahrscheinlich.47 Im Viertel befanden sich zudem der Speicher für die Vorräte des Kapitels, eine eigene Bäckerei, die Bibliothek und ein Gefängnis. Letzteres zeugt von der Gerichtsbarkeit der Kanoniker über ihr Viertel. Seit dem 12.  Jahrhundert wurde diese durch königliche Urkunden bestätigt und auch der Erzbischof erkannte seit 1228 die weltliche Gerichtsbarkeit der Kanoniker über ihren Klosterbezirk an. Versuche, diese Gerichtsbarkeit einzuschränken, konnte das Kapitel erfolgreich abwehren, so dass ihm 1515 seine Rechte von Franz I. erneut bestätigt wurden. Das Kapitel ließ die Fälle je nach Zuständigkeit von dem bailliage du chapitre in der Nähe des Brunnens oder der officialité du chapitre verhandeln. Auch der Erzdiakon von Sens, dessen Anwesen östlich vom Kapitelsaal lag, ließ die Fälle, die in seinen Zuständigkeitsbereich fielen, im Viertel verhandeln. Das Kathedralviertel glich vom Ende des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts einer großen Baustelle, da innerhalb der Kathedrale an der Errichtung des Querschiffes gearbeitet wurde.48 Die spätmittelalterlichen Texte sprechen vom l’oeuvre, der Bauhütte der Kathedrale, die aus mehreren Gebäuden bestand.49 Nachdem der Bau 1517 vollendet war, wurde auf dem Platz, wo die Baugeräte und Materialien gelagert worden waren, die neue Bibliothek des Kapitels errichtet. Die Bauarbeiten gingen auf der Südseite der Kirche weiter, wo der Bischofspalast erweitert wurde. Durch den Bau wurde die dreischiffige Pfeilerbasilika um ein Querhaus erweitert. Der ursprüngliche Bau der Kathedrale war unter Bischof Henri Sanglier um etwa 1125 begonnen worden, womit die Kathedrale Saint-Etienne neben der Abtei von Saint-Denis eines der ersten großen Bauprojekte der französischen Gotik war.50

46 Vgl. Cailleaux 1981, S. 8. 47 Allerdings erwähnen spätmittelalterliche Quellen auch einen weiter westlich gelegenen Platz, vgl. dazu Cailleaux 2009, S. 36 f. 48 Dazu: Cailleaux 1999, passim. 49 Vgl. Cailleaux 2009, S. 40 f. 50 Zur Schwierigkeit, den Baubeginn zu datieren vgl. Plein 2005, S. 45–51, Henriet 2005, S. 173–188.

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Die Stellung der Kanoniker in den Bischofsstädten Sens und Auxerre

Auxerre Wenn man sich heute vom Bahnhof aus der Stadt Auxerre nähert, die sich auf einem kleinen Hügel hinter dem Fluss Yonne erstreckt, wird einem schnell die Präsenz der kirchlichen Gebäude bewusst, deren Türme sich hoch hinaus über die anderen Häuser erheben. Es ist allerdings nicht allein die Kathedrale, die das Stadtbild dominiert, auch das Kloster Saint-Germain zeugt allein mit seiner Größe von seinem Einfluss im spätmittelalterlichen Auxerre. Auxerre war in der Spätantike ein römischer Verwaltungssitz, aus dem sich gegen Ende des vierten Jahrhunderts ein Bischofssitz entwickelte. Die gallo-römische Stadtmauer, welche die civitas umgab, blieb bis in das 12. Jahrhundert als Stadtbegrenzung bestehen. Durch die Reliquien des Bischofs Germain († 448) entwickelte sich Auxerre zu einem bedeutenden Wallfahrtsort. Mit zahlreichen Stiftungen ausgestattet, wuchs die über den Gräbern errichtete Abtei Saint-Germain zu einem großen Komplex. Im 9. Jahrhundert war die Schule der Benediktinerabtei als Ecole d’Auxerre bekannt, ein Zentrum der karolingischen Gelehrsamkeit, an dem bereits Neuplatoniker wie Boëthius eifrig rezipiert wurden.51 Die Klosterschule blieb deshalb bis in das 11. Jahrhundert bedeutender als die örtliche Kathedralschule. Das Kloster Saint-Germain diente bis ins Hochmittelalter als Begräbnisstätte der Bischöfe von Auxerre, die damit dem Beispiel des ersten Bischofs folgten. Die Abtei lag, wie eine schematische Darstellung (Abb.  3, siehe Tafelteil, Seite 243) von Lebeuf zeigt, bis zum 11. Jahrhundert außerhalb der Stadt. Als die Bevölkerung der Stadt im 12. Jahrhundert stark anwuchs, errichtete man, um die Vorstädte zu schützen, eine größere Stadtmauer. Sie blieb bis in das 19. Jahrhundert bestehen und umschloss nun das Kloster Saint-Germain mit der Pfarrkirche St. Loup im Norden, die Pfarrkirchen St. Pierre, St. Amâtre und St. Pèlerin im Süden und die Pfarrkirchen Notre-Dame en dehors und St. Eusèbe im Westen.52 Zusammen mit den beiden Bauten innerhalb der alten Stadtmauer verfügte Auxerre über acht Pfarrbezirke. Die umfangreichen Erweiterungen des Klosters vom 12. bis zum 14. Jahrhundert zeugen von dessen Wohlstand und Bedeutung im Hoch- und Spätmittelalter wie auch vom Selbstverständnis der Mönchsgemeinschaft. Im 13. Jahrhundert hatte sich das Kloster nämlich, wie eine Vielzahl von Dokumenten belegt, immer mehr aus der Herrschaft des Bischofs gelöst und 1285 vom Papst endgültig die vollständige Autonomie erhalten. Als sichtbares Zeichen war

51 Zur Boëthius-Rezeption siehe Kap. 5.1. 52 Vgl. Lebeuf 1723, S. 17.

Die topographische Einbindung der Kathedralviertel

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es dem Abt von Saint-Germain gestattet, bei Synoden und Prozessionen eine Mitra anzulegen und sein Kreuz vorweg tragen zu lassen.53 Während der Palmsonntagsprozession spielte der Abt eine herausragende Rolle, da er und nicht der Bischof in der Tradition von Bischof Germain das Volk segnete.54 Da die Reliquien des bedeutendsten Lokalheiligen Saint-Germain in der gleichnamigen Abtei ruhten, fanden dort die wichtigsten Etappen des Heiligenfestes statt. Die Kanoniker der Kathedrale zogen in einer Prozession zum Kloster, wo die Mönche bereits im Chor versammelt waren. Allerdings war es nur den Kantoren des Kathedralkapitels gestattet, den Chor neben den Mönchen zu betreten. Die anderen Kanoniker mussten sich im Kirchenschiff zusammen mit den Pilgern aufhalten. Der Bischof durfte zwar ebenfalls im Chor sitzen, allerdings war es ihm nicht gestattet, die Messe zu lesen, was das Privileg des Abtes von Saint-Germain darstellte.55 Das Kloster Saint-Germain war außerdem der Startpunkt, von dem sich jeder neu inthronisierte Bischof von Auxerre auf den Weg zu seiner Kathedrale begab. Trotz der Größe und der Bedeutung von Saint-Germain auf dem nördlichen Hügel der Stadt dominierte die dem heiligen Stephan geweihte Kathedrale den alten Stadtkern. Vor der Kathedrale Saint-Etienne befand sich ein mit Bäumen bewachsener Vorplatz, von dem eine Straße zum westlichen Teil der Altstadt führte. An dieser Straße, der Rue des Parchemins, waren mit den Pergamentmachern Handwerker ansässig, deren Produkte für die Kathedrale von Bedeutung waren. Folgte man der Straße, gelangte man durch ein Tor zum Franziskanerkloster. Gräfin Mathilde II. hatte den Ordensbrüdern 1252 diesen Platz zugesprochen, deren Kloster in unmittelbarer Nähe zur gräflichen Burg lag, die auf dem höchsten Punkt von Auxerre errichtet worden war.56 Der Plan von Belleforest (Abb. 4, siehe Tafelteil, S. 244) aus dem 16. Jahrhundert zeigt das Tor der inneren Stadtmauer im Tour de l’Horloge, der heute noch in der Stadt steht. Innerhalb der gallo-romanischen Befestigungsanlagen war im 13.  Jahrhundert die Pfarrkirche St. Regnobert auf den Trümmern der alten Synagoge entstanden.57 Ihr gegenüber war im 15.  Jahrhundert von den selbstbewussten BürgerInnen das Rathaus errichtet worden. Zu dieser Zeit waren auch die Fran-

53 54 55 56 57

Vgl. Heath 2010, S. 203. Vgl. ebd., S. 210. Vgl. Heath 2005, S. 282, Rauwel 2011, S. 42. Vgl. Rocher 1984, S. 146. Siehe Lebeuf 1723, S. 20.

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Die Stellung der Kanoniker in den Bischofsstädten Sens und Auxerre

ziskanerinnen in die Stadt gekommen. Sie kümmerten sich um das Hospital im Süden der Stadt.58 Um die Altstadt gruppierte sich das Viertel der Winzer im Süden um die Kirche St. Pierre, von dem die Brücke über die Yonne führte. Nördlich am Fluss hatten sich die Schiffer, Fischer und Handwerker und weiter landwärts die Gerber angesiedelt. Auf der anderen Flussseite befand sich schon früh ein weiteres Kloster, das jedoch während der Normanneneinfälle zerstört worden war. Auf den Trümmern wurde im 12. Jahrhundert das Kloster St. Marien errichtet, das sehr bald für seine Heiligkeit berühmt war. Lebeuf überliefert, dass nicht wenige Kanoniker ihren Lebensabend als Mönche in diesem Kloster verbrachten.59 Die politische Verwaltung der Stadt Auxerre bestand wie in Sens aus Vertretern verschiedener geistlicher und weltlicher Statusgruppen. Im 14. Jahrhundert teilten sich vor allem der Graf von Auxerre, für den ein prévôt und ein bailli die Stadt verwalteten, die Abtei St. Germain, der Bischof und das Kathedralkapitel die Regierung der Stadt.60 Die BürgerInnen der Stadt unterstanden je nach Viertel unterschiedlichen Grundherren, welche die Gerichtsbarkeit über sie ausübten und denen sie ihre Abgaben schuldeten. Ohne auf die Rechtspraktiken näher einzugehen, achteten gräfliche Beamte, Bischof und Kapitel darauf, dass nur sie über ihre Untertanen bestimmen durften. Seit dem 13. Jahrhundert wurden Stimmen aus der Bürgerschaft laut, die eine Teilnahme an der Regierung von Auxerre verlangten. 1223 konnten die BürgerInnen der Gräfin Mathilde I. die Unterzeichnung der Grande Charte abtrotzen. Diese gewährte der bürgerlichen Selbstverwaltung mehr Freiheiten, wie etwa die Einsetzung von zwölf jurés (Schöffen), die dem gräflichen bailli beratend zur Seite standen. Für die Untergebenen der kirchlichen Herrschaften bestanden diese Mitspracherechte jedoch zunächst nicht.61 Es ist diese Vielfalt an Rechtsformen, welche es schwer macht, die Regierung spätmittelalterlicher Städte wie Auxerre zu durchblicken. Dass die Grafschaft 1374 an den französischen König fiel und Auxerre zwischen 1435 und 1477 dem Herzog von Burgund übertragen wurde, bevor es wieder in königlichen Besitz kam, erleichtert die Darstellung verständlicherweise ebenfalls nicht. Die Veränderungen der weltlichen Verwaltung beeinträchtigten die Rechte des Bischofs und des Kapitels jedoch kaum. Die Aufgaben des gräflichen Vogtes wurden auf die Ämter eines königlichen capitaine für die militärische Verwal58 59 60 61

Vgl. ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Sapin 2011, S. 19. Vgl. Rocher 1984, S. 106.

Die topographische Einbindung der Kathedralviertel

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tung und eines procureur du roi für die zivile Verwaltung aufgeteilt. Der gräfliche Gerichtshof wurde in einen königlichen bailliage umgewandelt und vom bailli von Sens verwaltet, der nun in regelmäßigen Abständen auch in Auxerre Recht sprach.62 Das Intermezzo der Burgunderherrschaft beließ die Verwaltung im Wesentlichen, als Amtsträger fungierten nun der herzogliche gouverneur und der capitaine. Allerdings wurde mit der Einrichtung eines herzoglichen bailliage die rechtliche Abhängigkeit von dem bailliage in Sens aufgelöst und Auxerre verfügte über einen eigenen Gerichtshof. Als Auxerre 1477 an den französischen König zurückfiel, änderte sich wiederum wenig an der Verwaltung der Stadt. Die Amnestie für alle Bürger ließ die meisten Amtsträger unberührt, lediglich der vom Herzog eingesetzte Gouverneur wurde durch einen Getreuen des Königs ersetzt. Zusätzlich wurde „un bailliage et juridiction ordinaire et royale et en chef, sous le nom et titre de bailli d’Auxerre“63 eingerichtet, der für alle Bewohner der Diözese Auxerre zuständig war. Er knüpfte an den herzoglichen bailliage an, der bereits in den 1430er Jahren eingerichtet worden war. Durch umfangreiche Baumaßnahmen entstand aus dem ehemaligen Stadtschloss des Grafen der bailliage von Auxerre, deren erster bailli allerdings erst zehn Jahre später einzog. Den Zustand der Kathedrale und des Kathedralviertels im Spätmittelalter zu rekonstruieren ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Neben den bekannten baulichen Veränderungen, die fast jede Kirche im Laufe der Zeit erlebte, wurde die Kathedrale während der Religionskriege erheblich zerstört. Lebeufs spätere Schilderung von 1723 beschreibt das Ausmaß der Beschädigungen, denen vor allem Fenster und Skulpturen der Kirche zum Opfer fielen.64 Das Kathedralviertel mit der Kathedrale, dem Bischofspalast, dem Kapitelsaal sowie den Verwaltungsgebäuden und Häusern der Kanoniker machte zweifellos einen Großteil der Fläche innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern aus.65 Es stellte ähnlich wie das in Sens eine Art Stadt in der Stadt dar. Doch wo lagen die Grenzen dieses Viertels? Der örtliche Archivar Maximilien Quantin († 1891) nahm an, dass der Kathedralbezirk vom Bischofspalast im Osten nahe des Ufers der Yonne bis zur Rue de Joigny im Westen reichte. Im Süden begrenzten die Rue des Lombards und die Rue des Parchemins (heute Rue Lebeuf ) und damit die alte Stadtmauer den Bezirk, im Norden reichte er bis zur Rue des Grands-Jardins (heute Rue du Quatre-Septembre)66. 62 63 64 65 66

Dazu: ebd., S. 116. Challe 1878, S. 405. Vgl. Knop de Oppeln 2003, S. 73. Vgl. Guyot 2000, S. 6. Vgl. Quantin 2009, S. 12.

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Die Stellung der Kanoniker in den Bischofsstädten Sens und Auxerre

Auch der Lokalhistoriker des 19.  Jahrhunderts Charles Demay siedelte es nach den Beschreibungen von Abbé Lebeuf ungefähr in diesem Bereich an.67 Der 2011 erschienene, von Christian Sapin herausgegebene Sammelband zur Kathedrale bestätigt diese Einordnung nach den neuesten Forschungserkenntnissen und liefert eine Skizze des Kathedralviertels im Mittelalter (Abb. 5, siehe Tafelteil, S. 245). 1347 ließen sich die Kanoniker vom Grafen eine Erlaubnis ausstellen, das gesamte Viertel mit einer Mauer zu umschließen und somit für den Verkehr zu sperren. Wegen der enormen Proteste der Bürgerschaft wurde diese Umfriedung nicht vollständig verwirklicht, dennoch konnte das Viertel fortan nur durch vier Tore passiert werden. Ihren Bezirk für den Durchgang zu öffnen, ließen sich die Kanoniker von den Bürgern zudem durch eine Zahlung von 2000 Livres vergelten.68 Im Westen lag ein Tor an der Rue des Parchemins in der Nähe der Pfarrkirche St. Regnobert, im Norden bestand ein Durchgang durch die Rue Cochois, im Süden bestand ein Anschluss zur Rue des Lombards und im Osten konnte man das Viertel durch ein Tor zwischen dem Turm St. Pancre und dem Bischofspalast erreichen. Der Bischofspalast, der seit dem 8. Jahrhundert bestand, war nach mehreren Bränden im Hochmittelalter stets wieder aufgebaut worden. Unter dem Episkopat von Guy de Mello (1247–1270) erfolgte eine beträchtliche Vergrößerung des Palastes durch den Neubau eines großen Saals, in dem die Diözesansynoden abgehalten wurden. Eine separate Pforte erlaubte den Bischöfen den direkten Zugang aus dem Palast in den Chorraum der Kathedrale. François Dinteville II. (1530–1554) erweiterte das Anwesen in der Mitte des 16. Jahrhunderts um einen Pavillon im Stil der italienischen Renaissance.69 Im Viertel gab es nur eine kleine Pfarrkirche, St. Pierre-en-Chateau, der nach einer Zählung von 1424 aber nur 24 Bürger den Zehnt schuldeten, und mehrere kleine Kapellen und Heiligtümer, die direkt den Kanonikern unterstanden.70 In der Rue Saint Pancre stand ein derartiges Heiligtum, an dem die Kanoniker an einem Tag im Jahr einen Gottesdienst begingen.71 In der Straße befanden sich ebenfalls, wie auch im ganzen Bezirk, die Häuser der Kanoniker, die das klösterliche Gemeinschaftsleben bereits am Ende des 12. Jahrhunderts aufgegeben hatten. Die Häuser waren teilweise von Mauern umgeben, hinter denen sich Gärten befanden. Die fast 50  Häuser der Kanoniker machten einen Großteil 67 Demays Aufsatz enthält einige von Emile Bouché gezeichnete Pläne, die das Kathedralviertel im 18. Jahrhundert darstellen. 68 Vgl. Lebeuf 1723, S. 50, Tabbagh 2011, S. 34 f. 69 Didierjean 1999, S. 25–41. 70 Vgl. Demay 1898, S. 128 f. 71 Vgl. Quantin 2009, S. 38.

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des Viertels aus. Während jeder Kanoniker für sich in seinem Haus lebte, fanden die gemeinsamen Versammlungen im Kapitelsaal statt, der im Süden an die Kathedrale grenzte. Über eine kleine Passage konnten die Kanoniker den Chor erreichen. Daneben befanden sich der Speicher, in dem das Getreide und der Wein verwahrt wurden, und ein Friedhof, auf dem die Mitglieder des bas-choeur beigesetzt wurden. Der Kapitelsaal war neben dem Bischofspalast und der Kathedrale einer der drei großen Versammlungssäle der Stadt. Lebeuf mutmaßt, dass hier 1412 möglicherweise der Friedensvertrag von Auxerre unterzeichnet wurde. Eine Nutzung der Gebäude außerhalb der Kapitelversammlungen belegt auch ein Eintrag vom April 1414, als Jean Regnier, Leutnant des bailli von Auxerre, zusammen mit Vertretern des Königs und der Stadt den Kanonikern die Änderungen durch den Frieden von Auxerre erläuterte.72 Die Belege zeigen, dass der Kapitelsaal nicht ausschließlich von den Kanonikern allein benutzt wurde. Die Begrenztheit großer Versammlungsorte, zumal ein Rathaus erst in der Mitte des 15.  Jahrhunderts errichtet wurde, war typisch für viele mittelalterliche Städte. Der Aufenthalt von Laien im Kapitelsaal war mit Einwilligung der Kanoniker bei Versammlungen gestattet. Bei noch größeren Versammlungen bot nur ein Gebäude in der Stadt genügend Platz, die Kathedrale. Die dem heiligen Stephan geweihte Kathedrale stellt eine der zahlreichen gotischen Sakralbauten in Frankreich dar, deren Bau Anfang des 13. Jahrhunderts begonnen wurde. Die Kirche ist eine dreischiffige Basilika mit Querhaus. Ihr Bau war im 16.  Jahrhundert weitgehend abgeschlossen, gleichwohl ist ihr heutiger Zustand, wie in vielen anderen Kirchen auch, vor allem durch die baulichen Veränderungen im 19. Jahrhundert geprägt worden. Durch die gewonnenen Erkenntnisse der Restaurierungen in den letzten Jahren gelingt es jedoch, sich ansatzweise ein Bild vom Kirchenraum und seiner Nutzung im Mittelalter machen zu können.73 Ohne auf die komplette Baugeschichte, Architektur und Ausstattung der Kathedrale einzugehen,74 sei auf zwei Besonderheiten verwiesen, die wichtig für die spätere Analyse der Pelotte von Auxerre scheinen: das Labyrinth im Kirchenschiff und der Ausschluss von Laien aus dem Kirchenraum.75 Damit ist nicht allein die Trennung von Chorraum und Kirchenschiff gemeint, die unter dem 72 Dazu: Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 276. Rund 10  Jahre später nutzten die Heerführer der englischen und burgundischen Truppen die Kathedrale als Versammlungsraum, vgl. ebd. S. 281. 73 Siehe dazu: Sapin 2011. 74 Dazu siehe: Quednau 1979, Weigert 2000, de Oppeln 2003, Sapin 2011. 75 Vgl. Tabbagh 2011, S. 37.

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Episkopat von François Dinteville I. 1523/24 durch den Bau eines großen Lettners erreicht wurde, sondern auch die Nichtpräsenz von Laien im Kirchenschiff selbst. Denn ebenso, wie das Kapitel Wert darauf legte, den Zugang zum Kathedralviertel zu beschränken, versuchte es auch, den Zugang der Laien zur Kathedrale zu kontrollieren und einzuschränken. Zum einen gab es in Saint-Etienne keine Kapelle, keinen Ort, der für Gottesdienste der Pfarrgemeinde des Viertels oder die Bediensteten der Kanoniker vorgesehen war. Für sie schien die Pfarrkirche St. Regnobert bestimmt gewesen zu sein. Zum anderen war eine Bestattung von Laien in der Kathedrale nicht vorgesehen, zumindest wurde kein einziger Graf von Auxerre dort beigesetzt. Dieser Ausschluss der lebenden und – für das Mittelalter noch viel wichtiger – der toten Laien unterschied sich von der Gottesdienst- und Bestattungspraxis anderer Kathedralen. Auch das im Spätmittelalter wachsende Wallfahrtswesen beschränkte sich auf die Verehrung einer Marienstatue in einer kleinen Kapelle außerhalb der Kathedrale.76 Der für die Pelotte zentrale Ort, das Labyrinth, erstreckte sich mit einem Durchmesser von über 10 m im Kirchenschiff der Kathedrale.77 Es nahm damit die gesamte Breite des Mittelschiffs ein, so dass ein Eintritt in die Kathedrale über die Hauptpforte im Westportal stets mit der Überquerung des Labyrinthes verbunden war.78 Die Kathedralkapitel von Sens und Auxerre bildeten eine zentrale Instanz im politischen und religiösen Leben beider Städte. Als umfangreiche Grundbesitzer waren sie auch wirtschaftlich eine bedeutende Größe. Die besondere rechtliche Stellung und Autonomie der Kathedralviertel wurde im 12. und 13. Jahrhundert architektonisch durch den Bau einer Stadtmauer um den Kathedralbezirk zum Ausdruck gebracht. Dadurch wurden die Viertel als eigene Räume im Gefüge der Städte hervorgehoben. Sowohl in Sens als auch in Auxerre gab es Versuche, zumindest Teile des Viertels für den Durchgangsverkehr zu sperren, was jedoch stets am Widerstand der städtischen Verwaltung scheiterte. Während die Kathedrale von Sens das unangefochtene religiöse Zentrum von Sens darstellte, bildete das reiche und mit bedeutenderen Reliquien ausgestattete Kloster Saint-Germain einen Gegenpol zur Kathedrale in Auxerre. Bemerkenswert für Auxerre waren die geringe Anzahl von Altären und Kapellen in der Kathedrale und der Ausschluss von Laien, die Saint-Etienne weder als Begräbnisstätte noch als Pfarrkirche nutzen konnten. In beiden Städten lebten Kanoniker und Bi76 Vgl. ebd., S. 34 f. 77 Das Labyrinth wird ausführlicher in Kap. 5.1.3 behandelt. 78 In der Nähe der Eingangspforte, und damit auch nahe am Labyrinth, wurden in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts die Kantoren Olivier Michel (†  1512) und Jean Leroi († 1534) beigesetzt, vgl. Demay 1898, S. 207.

Geregelte Verhältnisse

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schöfe separiert und betraten die Kathedrale über unterschiedliche Eingänge. Diese komplexe und ambivalente Beziehung zwischen Kanonikern und Bischöfen soll im nächsten Punkt näher ergründet werden.

4.3 Geregelte Verhältnisse – Die Beziehungen von Kapitel und Bischof Lange Zeit hat sich die Kirchengeschichte bei der Erforschung des Klerus entweder auf Bischöfe und Päpste konzentriert oder sich für Entstehung und Veränderungen der Orden interessiert. Zwar wurde mit der Blüte der Sozial- und Alltagsgeschichte auch das Leben einfacher Priester beleuchtet und mit der Geschlechterforschung rückten auch Beginen und Reklusen in das Zentrum der Aufmerksamkeit, allerdings blieben die Arbeiten zu den Kanonikergemeinschaften weiterhin spärlich. Obwohl die Kanonikerforschung in den letzten Jahrzehnten einen Aufschwung erlebte und es nicht an Studien zu einzelnen Kanonikerstiften und Kapiteln mangelt, fehlen weiterhin grundlegende Arbeiten und Überblicksdarstellungen in der deutschen Geschichtswissenschaft.79 Lediglich Früh- und Hochmittelalter als Zeit der Kanonikerreformen waren in den letzten Jahren einer intensiveren Betrachtung wert. In welcher Weise sich dagegen Kanonikergemeinschaften vom 15. bis zum 18. Jahrhundert organisierten, stellt nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar. Für Frankreich dokumentiert der von Michel Parisse herausgegebene Tagungsband „Les chanoines réguliers“80 ein seit einigen Jahren verstärktes Interesse an den Kanonikern, aber auch er beschränkt sich weitgehend auf Früh- und Hochmittelalter. So ist es vor allem der Reihe „Fasti Ecclesiae Gallicanae“ und einer Serie von Einzelstudien zu verdanken, das Wissen über die materielle Ausstattung der Stifte und die Prosopographie der französischen Kathedralkapitel im Spätmittelalter erhellt zu haben.81 Durch sie konnte die in der Forschung immer noch verbreitete Vorstellung von den Kanonikern als Bedienstete des Bischofs und Vertreter während seiner Abwesenheit revidiert werden. Deutlicher werden nun die Unabhängigkeit der Kapitel als autonome Körperschaften und die komplexen Beziehungsgefüge zwischen Kapitel und den örtlichen Bischöfen herausgearbeitet.82 Dabei stellt 79 80 81 82

Eine aktuelle Ausnahme: Führer 2008. Parisse 2009. Millet 1982, Dutrieux 1995, Flammarion 2004, Desachy 2005. Vgl. Cailleaux 1999, S. 85 f.

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sich heraus, dass sich selbst so grundlegende Fragen wie, wer etwa zum Kapitel gehörte, sich nicht eindeutig beantworten lassen. Bevor wir uns deshalb den Kanonikergemeinschaften von Sens und Auxerre widmen, sollte erst einmal genauer geschaut werden, was Kanoniker sind und welche Stellung sie im spätmittelalterlichen Frankreich hatten. Der Begriff canonicus findet sich zum ersten Mal in französischen Konzilsakten des 6. Jahrhunderts, wo Kanoniker als Kleriker definiert werden, die jeden Tag in einer Kirche gemeinsam die Liturgie feiern.83 Innerhalb der karolingischen Kirchenreform entstand um 800 eine eigenständige Kanonikerregel, die 816 in den „Institutiones Aquisgranenses“ für das gesamte Frankenreich verbindlich wurde. Im Vergleich zur Benediktsregel enthielt die Kanonikerregel wesentlich lockerere Bestimmungen, die weder eigene Einnahmen verwehrten noch strikte Klausur verlangten und den Kanonikern eigene Häuser gestatteten. Nur der Gottesdienst und die Mahlzeiten mussten gemeinsam abgehalten werden.84 Während der Gregorianischen Reform des 11.  Jahrhunderts geriet die großzügige Auslegung dieser Regel in Kritik, in deren Folge einige Kanonikergemeinschaften sich der strengeren Augustinusregel unterwarfen. Diese Regularkanoniker verschrieben sich der persönlichen Armut und dem Gemeinschaftsideal, während sich bei den Säkularkanonikern, zu denen fast alle Kathedralkapitel gehörten, mit einer weiteren Abkehr von der gemeinsamen Lebensweise eine gegenteilige Tendenz durchsetzte.85 Sie führte zu einer Aufteilung der Einkünfte in individuelle Pfründen und zur Aufgabe gemeinsamer Mahlzeiten. Während dieser Zeit wurde bei Schenkungen an die Kirche erstmalig präzisiert, dass die Nutznießer die Kapitel sein sollten und erste Siegel von Kanonikergemeinschaften tauchten auf.86 Die gemeinsame Lebensweise reduzierte sich im 12. und 13. Jahrhundert somit auf die gemeinsamen Messen und Chorgebete. Allerdings waren nicht alle, die daran teilnahmen, Kanoniker, denn das Recht, im Chor zu sitzen und ein bestimmtes Kleidungsstück (Almutia) zu tragen, beschränkte sich nicht allein auf die Kanoniker. So richtete sich ein Brief von Papst Martin V. aus dem Jahr 1422 an nicht weniger als 120 Kleriker, die in der Kirche von Rodez gemeinsam die Messe feierten.87 Kanoniker waren aber nur etwa die Hälfte davon, den Rest stellten Mitglieder des bas-choeur. Nach Cailleaux lassen sich Kanoniker deshalb anhand von drei Kriterien erkennen: Sie verwenden selbst den Titel Kanoniker 83 84 85 86 87

Vgl. Parisse 2009, S. 7. Vgl. dazu: Führer 2008, S. 18. Vgl. Picard 1994, S. 24. Vgl. Desachy 2005, S. 105 ff. Vgl. ebd., S. 109.

Geregelte Verhältnisse

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und werden als solche bezeichnet, sie haben einen Platz im Chorgestühl und nehmen an den Versammlungen im Kapitelsaal teil, wobei sie über ein Stimmrecht verfügen, und sie erhalten einen Teil der Pfründen des Kapitels88 und Tagesgelder bei Anwesenheit vor Ort.89 Die Aufnahme der Kanoniker war in den jeweiligen Kapiteln über lokale coutumes geregelt, die ganz unterschiedliche Voraussetzungen verlangten.90 Trotz dieser Varianz finden sich viele Anforderungen in ähnlicher Form in den einzelnen Kapiteln, so dass ein ungefährer Katalog aufgestellt werden kann. Die Aufgabe der Kanoniker bestand in erster Linie darin, die Messen und liturgischen Stundengesänge in der Kathedrale zu verrichten. Seit dem Konzil von Vienne 1312 reichte für dieses geistliche Amt nicht mehr die einfache Tonsur aus, sondern die Bewerber mussten mindestens die Weihe zum Subdiakon empfangen haben.91 Voraussetzung für die Aufnahme als Kanoniker war zudem die legitime Geburt, also der Nachweis, dass das Kind die Frucht einer rechtmäßig geschlossenen Ehe war. Die zahlreichen Bastarde dieser Zeit konnten aber über einen päpstlichen Dispens Zugang erhalten, auch wenn einige Gemeinschaften dagegen strikter vorgingen. Außerdem musste bezeugt werden, dass der Kandidat über eine „naissance libre“ verfügte, was Kinder von Unfreien ausschloss.92 Die Voraussetzung einer adeligen Abstammung galt dagegen nur für das Kapitel von Lyon, für Nordfrankreich fand sich diese Beschränkung nirgendwo. Als weiteres Kriterium galt, dass weder der Kandidat noch jemand aus der Familie ein Feind der Kirche des Ortes sein durfte. In Langres wurde beispielsweise bis zur Generation der Urgroßeltern überprüft, ob ein Mitglied der Familie jemals einen Kanoniker der Kathedrale verletzt oder gar getötet hatte.93 Einige Kapitel legten Wert auf körperliche Unversehrtheit, wie die Kirche allgemein Beachtung auf die körperliche Gestalt ihrer Amtsträger legte. In Chartres wurde gemäß den lokalen Gewohnheiten allen hinkenden, einäugigen und missgestalteten Bewer88 „La prébende, dirent les canonistes, est pour un clerc le droit de percevoir, en vue d’un office, une partie des revenus de l’Eglise à laquelle il est attaché. La canonie, ou canonicat, est le droit spirituel d’occuper une stalle au chœur, de percevoir les distributions quotidiennes, le droit de suffrage dans les assemblées capitulaires, le droit aussi de détenir une prébende et d’en percevoir les revenus. Mais prébende et canonicat sont deux réalités bien distinctes; … Il peut y avoir dans une Église plus de prébendes que de canonicats, et, inversement, le nombre de canonicats peut être plus élevé que celui des prébendes“, Torquebiau 1942, Bd. 3, Sp. 556. 89 Vgl. Cailleaux 2009, S. 11. 90 Vgl. Mollat 1937, Sp. 415. 91 Vgl. Millet 1982, S. 49 f. 92 Vgl. Amiet 1922, S. 4 ff. 93 Vgl. le Grand 1931, S. 16.

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bern die Aufnahme verweigert.94 Das Eintrittsalter schwankte zwischen 14 und 22 Jahren, obwohl die Weihe als Subdiakon kirchenrechtlich seit dem 14. Jahrhundert erst ab dem 18. Lebensjahr vorgesehen war. Waren diese Voraussetzungen erfüllt, begann für die Anwärter der stage, eine Art unbezahltes Praktikum, allerdings mit deutlich sichereren Übernahmewahrscheinlichkeiten als heute. Der stage dauerte in der Regel ein halbes Jahr und war an bestimmte Daten geknüpft. In Chartres erstreckte er sich von St. Johannes dem Täufer (24.06.) bis St. Johannes dem Evangelisten (26.12.). Die anschließende Inthronisation erfolgte in einem komplexen Ritual und verlangte in vielen Kapiteln sowohl die Stiftung einer Mahlzeit als auch eines Gegenstandes – im Fall von Auxerre die Stiftung des Spielgerätes, der Pelotte.95 In rechtlicher Hinsicht gelang es den Kathedralkapiteln seit dem 13. Jahrhundert, sich immer mehr von der bischöflichen Autorität zu lösen. Ende des 14. Jahrhunderts wurden diese Privilegien erweitert und Kanoniker in Fragen der Rechtsprechung direkt der römischen Kurie unterstellt, so dass die Mehrheit der französischen Bischöfe sich genötigt sah, den Kapiteln diese Rechte zu bestätigen.96 Die Kapitel traten seitdem als rechtlich autonome Körperschaften auf, die sich ihre eigenen Statuten erlassen konnten.97 Sie hatten zudem ein Anrecht darauf, an den bischöflichen Synoden teilzunehmen. Die Bischöfe konnten diese Rechte nicht einfach übergehen, wie eine Beschwerde von Innozenz III. beim Erzbischof von Sens belegt, der den Repräsentanten der Kapitel die Teilnahme an den Debatten verweigert hatte.98 Eines der wichtigsten Privilegien der Kathedralkapitel bestand darin, dass sie den neuen Bischof ihrer Diözese wählen konnten. Die Wahl der Bischöfe war während des gesamten Mittelalters immer wieder Ausgangspunkt für Konflikte, weil eine Reihe von Personen auf die Besetzung dieses einflussreichen Amtes einzuwirken versuchte.99 Die Auseinandersetzungen zwischen Königen und Päpsten, die sich an Bischofswahlen entzündeten, lassen vergessen, dass nominell häufig die Kathedralkapitel über diese Entscheidung abstimmten.100 Auch wenn Päpste, Könige oder lokale Adlige im Hochmittelalter ihre Kandidaten durchsetzten und diese Einflussnahmen im Spätmittelalter immer häufiger wurden, 94 „… estant boiteux, borgne et contrefait, il estoit exclu du dit bénéfice de droit divin et canonique et par la coutume de l’Église de Chartres …“, Amiet 1922, S. 7. 95 Dazu ausführlicher: Kap. 5.2.1, S. 315–324. 96 Vgl. Cailleaux 1999, S. 86 f. 97 Vgl. Zellmann 2007, S. 65. 98 Vgl. Boisset 1973, S. 132. 99 Vgl. Hours 1999, S. 8. 100 Zur Bischofswahl vgl. Schreiner 2001, S. 73–117.

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bedeutet dies nicht, die Macht der Kapitel in dieser Frage völlig zu negieren. Zum einen ließen sich die Kapitel ihre Wahl mit Bestätigungen ihrer Rechte oder weiteren politischen Zugeständnissen vergelten, zum anderen gab es Fälle, in denen sich Kapitel erfolgreich durchsetzten. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts versuchten die französischen Könige allerdings diese umfangreichen Rechte der Kathedralkapitel zu beschneiden. Sie nutzten dazu vor allem die Zerstrittenheit der Kirche während des Großen Schismas aus und erzielten mit der Pragmatischen Sanktion von Bourges 1438 erste Erfolge. Dies war kein gezielter Angriff allein auf die Kanoniker, sondern muss im Zusammenhang mit der königlichen Zentralisierungspolitik verstanden werden. Sie wollte einerseits den Einfluss der römischen Kurie zurückdrängen und strebte andererseits an, die Sonderrechte einzelner Statusgruppen in Frankreich zu beschneiden. Dies beinhaltete sowohl eine Entmachtung der adeligen Patronatspolitik, als auch einen Einfluss auf die Pfründeverteilung der Kapitel. Die Verteilung der kirchlichen Benefizien war in Frankreich von Kapitel zu Kapitel unterschiedlich und die oben zitierten coutumes zeigen die Mannigfaltigkeit der Einsetzungsverfahren. Über Streitigkeiten bei der Verteilung entschied die Kurie in Rom, was viel Zeit in Anspruch nahm. Zudem waren die kostspieligen Prozesse eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle. Auf die lokalen Bräuche konnte zwar kein direkter Einfluss genommen werden, dennoch gelang es Ludwig XI. (1461–1483), die königlichen Gerichtshöfe als Appellationsinstanz durchzusetzen. Am 24. Mai 1463 und am 19. Juni 1464 übertrug er den Parlamenten die Zuständigkeit für das kirchliche Benefizialwesen. Zuständig waren zunächst die Provinzparlamente bzw. die örtlichen bailliages, dann war in nächster Instanz das Parlament von Paris zuständig. Erst wenn dieser kostspielige Rechtsweg ausgeschöpft war, konnte sich an die päpstliche Gerichtsbarkeit gewandt werden.101 Auch bei den Bischofswahlen gelang es der Krone, den Einfluss der Kurie und des Kathedralklerus zu minimieren. Papst Sixtus IV. (1471–1484) verpflichtete sich bei diesen Wahlen, nur Vorschläge zu akzeptieren, die vom König, der Königin, dem Dauphin oder dem Parlament von Paris abgesegnet waren. Somit konnten die Kapitel nicht mehr auf eine päpstliche Intervention drängen. Die Praxis dieser neuen Rechtslage zeigte sich bereits im Sommer 1472, als den Kanonikern von Notre-Dame in Paris der Entzug ihrer weltlichen Güter angedroht wurde, sollten sie sich dem königlichen Vorschlag widersetzen. Eine Drohung, 101 Vgl. Ehlers 2009, S. 384, Desachy macht darauf aufmerksam, dass einige päpstliche Bullen aus den 1430er Jahren bereits das Pariser Parlament als Entscheidungsinstanz anerkannt hatten, vgl. Desachy 2005, S. 135.

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die Wirkung zeigte, da bereits im Frühjahr des nächsten Jahres der königliche Kandidat gewählt wurde.102 Diese Politik war eine Fortführung der Pragmatischen Sanktion von Bourges, die mit dem Konkordat von Bologna 1516 ihren Abschluss fand. Darin entzog der französische König dem Kathedralklerus das Recht, den Bischof ihrer Kirche zu wählen, was einen großen Teil ihrer Autorität und ihres Ansehens ausmachte.103 Sens Über die Zusammensetzung des Kapitels in Sens sind wir durch eine präzise Zusammenstellung aus dem Jahr 1539 informiert. Vergleicht man die dortigen Angaben mit ähnlichen Auflistungen vom Ende des 13. Jahrhunderts und Beginn des 16. Jahrhunderts, lassen sich kaum Veränderungen in diesem Zeitraum feststellen.104 Das Kapitel in Sens bestand aus 32 Grands Chanoines mit ganzer Pfründe und 14 Kanonikern, den semi-prébendés, die sich zu zweit oder mehr eine Pfründe teilten. Letztere feierten die Messe nicht zusammen mit den anderen Kanonikern am Hauptaltar, sondern waren für einige ausgewählte Altäre der Kathedrale zuständig.105 Der bas-choeur der Kathedrale war ähnlich wie der aus Auxerre im Vergleich zu anderen Kathedralen Nordfrankreichs relativ klein. Nach einem Register aus dem Jahr 1350 bestand er aus 23 Kaplänen, 14 Vikaren und sechs Chorknaben.106 Die Auszahlung der Pfründe garantierte der umfangreiche Grundbesitz des Kapitels. Nach den Berechnungen von Maximilien Quantin standen den Kanonikern die Einnahmen aus etwa 150 Pfarrgemeinden und 21 seigneuries zu. Der Großteil des Besitzes lag im Norden der Stadt im Hügelland entlang der Yonne. Daneben standen dem Kapitel auch der Ertrag umfangreicher Waldflächen und die Einnahmen aus den Mühlabgaben in der Nähe von Sens zu. Zudem hatte sich das Kapitel das Pfarrrecht für Dutzende Kirchen und Kapellen gesichert. Nicht zuletzt garantierte den Kanonikern auch die Rechtsprechung im Kathedralviertel stetige Einkünfte.107 Allerdings brachen die Einnahmen des Kapitels durch die zahlreichen Kampfhandlungen und Plünderungen im Verlauf des Hundertjährigen Krieges stark ein und stabilisierten sich erst am Ende des 15. Jahrhunderts wieder.108 102 103 104 105 106 107 108

Vgl. Ehlers 2009, S. 384 f. Vgl. le Grand 1931, S. 225. Vgl. Cailleaux 1999, S. 88. Vgl. ebd., S. 88 f., Cailleaux 2009, S. 13. Vgl. Cailleaux 2009, S. 25 f. Vgl. ebd., S. 17 f. Vgl. ebd., S. 24.

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Nach mehreren Reformen zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert zählte das Kathedralkapitel von Sens fünf Ämter (dignités), von denen drei durch das Kapitel gewählt und zwei vom Erzbischof ernannt wurden. Das wichtigste Amt bekleidete der Dekan, der die Kapitelversammlungen leitete und die Pfründevergabe vornahm. Er wurde direkt vom Kapitel gewählt und seine Wahl musste nicht vom Erzbischof, sondern direkt von der päpstlichen Kurie bestätigt werden. Diese Praxis galt auch für die Wahl des Kellermeisters und Kantors.109 Der Kantor der Kathedrale von Sens war für die musikalische und disziplinarische Leitung des Chors verantwortlich. Als Insignium dafür verfügte er über einen Amtsstab. Außerdem war vor seinem Platz im Chorgestühl ein Buch angekettet, das Noten und Texte der wichtigsten liturgischen Gesänge enthielt.110 Dem Kantor oblag auch die Verwaltung der städtischen Gesangs- und Grammatikschulen. Per Eid direkt dem Erzbischof verpflichtet und seiner Gerichtsbarkeit unterstellt, waren der Schatzmeister des Kapitels und der Erzdiakon von Sens. Letzterer war durch einige Privilegien, wie etwa seine Beteiligung bei der Amtseinsetzung der Suffraganbischöfe, unter den anderen Erzdiakonen herausgehoben.111 Die Erzdiakone von Gâtinais, Provins, Melun, Étampes zählten nicht zu den dignités des Kapitels, sondern wurden mit dem Ehrentitel personnas bezeichnet und ebenfalls vom Erzbischof bestimmt.112 Die Herkunft der Kanoniker in Sens um 1500 spiegelt die allgemeine Entwicklung in Frankreich wider und lässt sich grob in drei Gruppen einteilen. Etwa ein Drittel der Kanonikate wurde durch Mitglieder lokaler wohlhabender Familien besetzt, die ebenfalls Einfluss im Stadtrat hatten. Diese Kanoniker hatten häufig eine klerikale Laufbahn in Sens absolviert und zunächst in kleineren Kirchen Pfründen oder halbe Pfründen in der Kathedralkirche erhalten. Eine zweite Gruppe machten die Verwandten und Günstlinge der Erzbischöfe aus, wobei insbesondere Tristan de  Salazar durch seine lange Amtszeit zahlreiche Kandidaten durchsetzen konnte. Mehrere seiner Neffen, wie Jean de  Salazar, Louis du Lac oder Charles de Bennes, waren nicht nur Kanoniker der Kathedrale, sondern bekleideten als Erzdiakone auch besonders einflussreiche Ämter. War bei diesen Kanonikern Ämterkumulation bereits verbreitet, stellte sie bei 109 Vgl. Cailleaux 2009, S. 18–21. 110 Der „Precantoris norma ou livre du préchantre de Sens“ enthält die Texte und musikalischen Notationen der Gradualen und Antiphonare, die über das liturgische Jahr in der Kathedrale von Sens gesungen wurden. Das Buch stammt aus dem 13.  Jahrhundert, hinzugefügte Ergänzungen zeugen von seinem Gebrauch bis in das 18. Jahrhundert. Es befindet sich in der BMSE, Ms 6. 111 Vgl. Cailleaux 2009, S. 19 ff. 112 Vgl. Cailleaux 1999, S. 100.

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der letzten Gruppe, den Mitgliedern der hochadeligen und besonders einflussreichen Familien, die Regel dar. Da sie häufig am Parlament oder der Universität von Paris wirkten, war das Kanonikat in Sens nur eine weitere Einnahmequelle und sie waren deshalb häufig vom Kapitel abwesend.113 Wie in den anderen Kathedralen begann die Aufnahme neuer Kanoniker durch einen stage, eine festgelegten Zeitspanne, während derer die Anwärter an den Gottesdiensten und Kapitelversammlungen teilnehmen mussten. Um die Kumulation von Benefizien zu vermeiden, versuchte das Kapitel diese Residenzpflicht ohne Ausnahmen durchzusetzen und auch nur Anwärter zuzulassen, welche bereits die vorgeschriebenen Weihen erhalten hatten. In der Praxis konnte diese Forderung jedoch nicht konsequent aufrechterhalten werden.114 Ähnlich wie bei anderen großen Kathedralkapiteln hatte sich auch in Sens die Loslösung des Kathedralkapitels als eigenständige rechtliche Statusgruppe zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert vollzogen. Seit dem 12. Jahrhundert lässt sich eine Trennung der Wohnbereiche und eine Aufteilung der Einnahmen in zwei separate Kassen beobachten. Das Kapitel setzte sich im Spätmittelalter immer mehr als Verwalter der Kathedrale durch. 1355 ließen sich die Kanoniker vom Erzbischof Guillaume de Melun ihre Rechte bestätigen. Die Kanoniker waren seitdem nicht nur juristisch direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt, sondern sie selbst übten auch die weltliche Rechtsprechung über die Geistlichen in den ihnen zugehörigen 35 Pfarrkirchen aus. Außerdem übernahmen sie die Rechtsprechung über die Leiter und Bediensteten des Hôtel-Dieu in Sens und über das Kapitel der Kollegiatkirche von Bray-sur-Seine.115 Zwei vor allem auch symbolkräftige Privilegien mögen die Macht des Kapitels unterstreichen: zum einen die Schlüsselgewalt über die Hauptpforte, zum anderen die Verfügungskraft über die vier Küster, welche den Zugang überwachten und die Glocken läuteten.116 Dem Kapitel oblag damit die Kontrolle über die Kathedrale. Der Erzbischof musste, wenn die Glocken an den Festtagen zur episkopalen Messe läuten und die Tore geöffnet werden sollten, zunächst die Kanoniker um Erlaubnis bitten. Außerhalb der festgelegten liturgischen Handlungen während der Hochfeste war ihm das Zelebrieren des Gottesdienstes nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Kapitels gestattet.117 Auch die Suffraganbischöfe hatten kein Recht, ohne Zustimmung des Kapitels den Chor zu betreten. Als Louis de  Bourbon 1536 als neuer Erzbischof inthronisiert wurde, 113 114 115 116 117

Vgl. ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 91–94. Vgl. Chartraire 1904, S. VI, 1–4. Vgl. Cailleaux 1999, S. 86 f. Vgl. BMSE, Ms 6, fol. 261 ff., Chartraire 1904, S. 168–174.

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verweigerten die Kanoniker dem Bischof von Auxerre, François Dinteville II., den Zugang zum Hochaltar, da sie seine lange Barttracht für unvereinbar mit den coutumes der Kathedrale erklärten.118 Das Kapitel achtete streng darauf, die eigenen Rechte weiter auszubauen und vor allem, sich kein angestammtes Recht durch den Erzbischof beschneiden zu lassen. So präsentierten die Kanoniker etwa 1422, als der Sitz nach dem Tod des alten Erzbischofs vakant geworden war, einen neuen Schwur, den jeder neu gewählte Erzbischof leisten sollte. Darin verpflichtete er sich, in Eintracht mit dem Kapitel zu leben, dessen juristische Exemtion anzuerkennen und nicht in die Wahlen der Kanoniker einzugreifen. Im Streitfall zwischen Bischof und Kapitel sollte ein Schiedsrichter benannt werden. Außerdem sah der Schwur eine umfangreiche Beteiligung an dem Ausbau und der Instandhaltung der Kathedrale vor. Vorgesehen war, dass der Eid vom Bischof selbst während des feierlichen Einzugs in die Stadt öffentlich geleistet werden sollte. Einige Kanoniker reisten Anfang Juni in die Nähe von Auxerre, wo dem künftigen Bischof Jean de Nanton dieser Schwur bereits vor seiner Wahl abverlangt wurde.119 Auch Louis de Melun bestätigte dem Kapitel seine Rechte und erklärte sich schriftlich mit dem vom Kapitel auferlegten Schwur einverstanden. Sein Verhältnis zum Kapitel blieb relativ konfliktfrei, da er den Kanonikern weitere Privilegien gestattete. Dem Kapitel stand nach einem Beschluss von 1463 ein Teil der Einnahmen aus den acht Kapellen der Kathedrale zu. Einige Jahre später übertrug er ihnen auch die Ernennung von dreizehn der vierzehn semi-prébendés der Kathedrale.120 Sein Nachfolger Tristan de Salazar dagegen war weniger geneigt, auf Privilegien des Erzbischofs zu verzichten. Er ging nicht nur gerichtlich gegen seine Suffraganbischöfe vor, die einer Provinzsynode ferngeblieben waren, sondern scheute auch nicht vor Prozessen gegen das Kapitel von Sens zurück. So wurde er etwa 1504 vom Kapitel vor dem Pariser Parlament verklagt, damit er sich finanziell an der Restaurierung der Kathedrale beteiligte.121 Besonders gravierend war die Auseinandersetzung mit dem Dekan Gabriel Gouffier in den Jahren 1505 bis 1507. Gabriel Gouffier hatte erst im Dezember 1504 das Amt des Dekans übernommen, da der bisherige Dekan, Jean de Bray, Gouffier seine Stellung überlassen und dafür im Gegenzug dessen Ämter als Erzdiakon von Étampes 118 „Ordinantes quod episcopi suffraganei qui assitere debent predicto servitio et magnas barbas deferentes, non excipientur nec admittentur in choro nisi fuerint rasi et in habitu decenti“, Chartraire 1904, S. 267, vgl. auch Fourrey 1953, S. 69. 119 Vgl. Tabbagh 2009, S. 179 f., zur Schwurpraxis vgl. auch Chartraire 1904, S. 262– 269. 120 Vgl. Tabbagh 2009, S. 185. 121 Vgl. Cailleaux 1999, S. 88.

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und Curé de Triguères übernommen hatte. Der neue Dekan stammte als Bastard von Guillaume Gouffier aus der überaus einflussreichen Familie Bonnivet, deren Mitglieder den Admiral von Frankreich, einen Kardinal und den Grand Maître von Frankreich stellten. Zudem war Gabriel Gouffier auch ein Günstling des Kardinallegaten Georges d’Amboise, der ihm durch einen Dispens die Stellung als Kanoniker ermöglichte, ohne dass er die dafür vorausgesetzten Weihen erhalten hatte.122 In einem Verzeichnis der Kanoniker, das der Kanoniker Fenel zu Beginn des 18.  Jahrhunderts aus den Kapitelbeschlüssen zusammenstellte, wird über diese Auseinandersetzung berichtet: „Comme M. Groussier avoit pris fortement les interets du chapitre contre l’Official de M.  de  Salazar qui avoit fait mettre en prison quelques personnes dependantes du chapitre, cet eveque prononca contre luy interdict [...]“123. Die Exkommunikation seines Dekans hinderte das Kapitel nicht daran, ihn weiter zu unterstützen, da er in ihren Augen lediglich versuchte, die Rechte des Kapitels zu bewahren. Ein Jahr später musste der Erzbischof einer gütlichen Einigung mit dem Dekan zustimmen und konnte damit einen weiteren Prozess vor dem Pariser Parlament verhindern.124 Am dortigen Gerichtshof lief seit 1505 nämlich bereits ein Prozess zwischen dem Erzbischof und den Pariser Kanonikern von Notre-Dame. Er befasste sich mit der Frage, ob der Erzbischof mit erhobenem Bischofskreuz in die Kathedrale einziehen durfte und inwiefern er dazu der Zustimmung des Kapitels bedurfte.125 In seinem Testament zeigte sich der Erzbischof dann zumindest den Kanonikern in Sens gegenüber versöhnlicher und stiftete dem Kapitel eine beträchtliche Summe zur Verschönerung der Kathedrale. Das selbstbewusste Kapitel versuchte zunächst, nach dem Tod von Tristan de  Salazar 1519 eigenmächtig einen Erzbischof zu wählen, obgleich die Entscheidung dazu nach dem Konkordat von Bologna von 1516 allein beim König lag. Gegen dessen Willen bestimmten sie den Erzdiakon Jean de  Salazar zum Nachfolger seines Onkels. Erst nachdem der französische König mit Konsequenzen gedroht hatte, falls das Kapitel seinen Kandidaten Etienne Poncher nicht akzeptieren sollte, beugte es sich dieser Entscheidung. Nichtsdestotrotz versuchten die Kanoniker nach dem Tod von Etienne Poncher sechs Jahre später erneut Jean de Salazar zu wählen, so dass in Sens ein königlicher Beschluss

122 123 124 125

Siehe dazu: ebd., S. 102. ADY, G 700, fol. 19v. Vgl. Tabbagh 2009, S. 192. Vgl. BNF, NAF 2259, fol.  138r–140v. Der 35.  Band von Le  Nain, der „contient les Chanoines et Chapitres dont il est parlé dans nos Registres“, enthält Hinweise auf zahlreiche andere Prozesse zwischen Bischöfen und Kapiteln.

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verlesen werden musste, dass nicht er, sondern Antoine du Prat der rechtmäßige Bischof sei.126 Auxerre Die Zusammensetzung des Kapitels von Auxerre lässt sich aus den Kathedralregistern und -statuten rekonstruieren, die in mehreren Sammlungen aus dem 18. Jahrhundert vorliegen.127 Im Spätmittelalter bestand das Kapitel von Auxerre aus etwa 52 Kanonikern und acht semi-prébendés, Geistlichen ohne Stimmrecht im Kapitel, die sich zu jeweils zu zweit eine Pfründe teilten.128 Auxerre gehörte damit zu den größten Kathedralkapiteln in Frankreich. Es reichte zwar nicht an die Kapitel von Laon und Reims mit 82 bzw. 72 Kanonikaten heran, war aber etwa so groß wie die Kapitel so bedeutender Städte wie Châlons-sur-Marne, Orléans, Bayeux, Langres und Paris und deutlich größer als die Kapitel von Amiens, Senlis oder Sens. In der gleichnamigen Kirchenprovinz wurde es nur von Chartres übertroffen.129 Das Kathedralkapitel von Auxerre umfasste nach den Statuten von 1553 63 Pfründen, von denen 51 für die Kanoniker, sechs für die zwölf semi-prébendés (davon acht für semi-prébendés des Kapitels und vier für Auswärtige) und jeweils eine für die Ämter des Dekans, des Kantors und des Schatzmeisters vorgesehen waren. Neben diesen drei Ämtern gab es drei weitere Ämter, den Pönitentiar und die beiden Erzdiakone, die ihre Zuwendungen jedoch vom Bischof erhielten. Ein Kanonikat in Auxerre zu bekleiden, war keine notwendige Voraussetzung, um eines der Ämter auszuüben, wenn auch in der Praxis fast immer Kanoniker diese Aufgaben übernahmen. Andernfalls verfügte keiner der Amtsinhaber, selbst der Dekan nicht, über Stimmrecht bei den Kapitelversammlungen.130 126 Vgl. Cailleaux 1999, S. 96 f. 127 ADY, G 1819 Statutensammlungen ab dem 15. Jahrhundert, G 1854 Statutensammlungen aus dem 16.–18.  Jahrhundert, G  1855 Auswahl von Kapitelbeschlüssen und Statutensammlungen, 2.  Hälfte des 18.  Jahrhunderts, BMAUX, Ms  275, Sammlung vom 15.–18. Jahrhundert, Manuskript aus der Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Kanoniker Louis Jacques Blonde; Lebeuf zitiert in seinen „pièces justificatives“ Auszüge der Statuten vom Ende des 14. Jahrhunderts, von 1499/1500 und 1553, vgl. Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 224–231, 300–303, 329–334. 128 Vgl. BMAUX, Ms 275, S. 39–44. 129 Vgl. Millet 1982, S. 34, Amiet 1922, S. 2. 130 Vgl. ADY, G 1819, fol. 15v: „De quibusdam non habentibus vocem in Capitulo. Et est intelligendum quod Decanus, Archidiaconus major, Cantor, Thesaurarius, Archidianus minor sive Puisayae, Poenitentarius, qui sunt dignitates in Ecclesia, ut praedictum est, nullas habent vocem, nec loca in Capitulo nisi fuerint actu Canonici praebendati. quamvis sint Caonici creati ad effectum. similiter, dicendum est de duobus Canonicis ad eandem Praebendam infra mensem receptis, qui sicut nullos fructus percipiunt, ita nec in Capitulo vocem habere possunt.“

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Das Kapitel war ein einflussreicher Grundherr in der Diözese von Auxerre. Als 1506 mit dem König über Abgaben gestritten wurde, trat das Kapitel als „seigneur de Cravant, Accolay, Monéteau, Chemilly, Charmoy, Chichery, Eglény, Merry, Lindry, Beauvoir, Pourrain, Parly et la Racine, Oisy et Chivres“131 bei den Verhandlungen auf. In diesen Domänen und darüber hinaus verfügte das Kapitel über umfangreichen Grundbesitz in den Diözesen Sens und Troyes. Es waren vor allem große Waldflächen, die dem Kapitel gute Einnahmen aus dem Holzeinschlag bescherten. Zudem konnten die Kanoniker die Jagdrechte an Verwandte abgeben. Außerdem verfügten sie in manchen Seigneurien über Marktrechte oder konnten eine Sondersteuer auf Viehhaltung oder Wolle erheben. Direkt bei Auxerre besaßen die Kanoniker vier Weinberge und auch die Fischrechte für den Teil der Yonne, der an ihren Klosterbezirk grenzte, ließen sie sich gut bezahlen. Innerhalb der Stadtmauern standen ihnen die Steuern der Bewohner, die in ihren Häusern lebten, zu.132 Die Einnahmen aus Feldern, Weinstöcken und Holzeinschlag waren in den beschriebenen Jahren des Krieges ständig gefährdet und ihr Ausfall bedrohte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts immer wieder die Prosperität des Kapitels. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren diese Einnahmen wieder garantiert. Lediglich die Bevölkerungsrückgänge durch Pestepidemien und Kriege ließen die Arbeitskosten für abhängig beschäftigte Erntearbeiter steigen. Der Dekan wird in den Kapitelregistern als erstes Amt nach dem Bischof bezeichnet.133 Er wurde direkt vom Kapitel gewählt, wofür selbst die abwesenden Kanoniker befragt werden mussten. Diese Entscheidung musste daraufhin vom Bischof bestätigt werden. Ebenfalls durch das Kapitel gewählt wurde der Kantor (chantre), dem die Leitung des Chores (regimen chori) oblag. Dies beinhaltete nicht nur das musikalische Regiment, sondern er war außerdem dafür zuständig, die Disziplin im Chorraum zu überwachen und Verstöße dagegen zu ahnden.134 Da alle wichtigen Rituale eine musikalische Komponente enthielten, war die Rolle des Kantors daher ungemein wichtig. Inwiefern der Kantor auch für die musikalische Bildung der Bischöfe verantwortlich war, ist unklar. Ein Beschluss aus der Zusammenstellung der Kapitelstatuten aus dem 18. Jahrhundert forderte zumindest, „que les Prelats fussent instruits a fond des ceremonies et du 131 Challe 1878, S. 423. 132 Vgl. Demay 1898, S. 97–105. 133 Vgl. ebd., S. 31. 134 „… quod cantor et succentor, qui debent habere superintendentiam in choro ad causam eorum dignitatum, si amodo videant defectus tam in servitio quam ceremoniis et aliis indecentibus actibus, in ecclesia, injungant distributori et eidem inhibeant ne errantibus et deficientibus hujusmodi suas det distributiones: qui quidem deficientes cum rigore marrentie punientur“, Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 303.

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chant de l’Eglise; ce qu’ils ne pouvoient guere apprendre que par l’exercisse“135. Eine gute Gesangsstimme oder die Fähigkeit gut zu singen waren Eigenschaften, die auch in den Bischofsgesten des 13. Jahrhunderts hervorgehoben werden. Bischof Henry de Villeneuve (1220–1234) bekleidete vor seiner Wahl selbst das Amt des Kantors, Guy de Mello (1247–1270) wurde als vortrefflicher Sänger gelobt und sein Nachfolger Erard de Lésignes (1270–1278) wegen seiner klaren Stimme sogar mit Philomela136 verglichen.137 Bei der Leitung des Chores wurde der Kantor durch den Subkantor (souschantre) unterstützt. Bei Prozessionen war es seine Aufgabe, darauf zu achten, dass die Reihenfolge respektiert wurde, wie auch allgemein zu verhindern, dass sich bei Gesängen oder Ritualen Neuerungen einschlichen. Bei der Einsetzung neuer Amtsträger, wie dem Dekan, oder neuer Mitglieder des bas-choeur erfüllte er eine wichtige Aufgabe.138 Im Gegensatz zu der großen Anzahl der Kanoniker bestand der bas-choeur lediglich aus etwa 30 Personen. Darunter fielen unter anderem die sechs Chorknaben,139 die vor allem durch ihre noch ungebrochene engelsgleiche Stimme wesentliche Rollen bei der Liturgie übernahmen.140 Der bas-choeur war damit deutlich kleiner als der anderer Kathedralkapitel Nordfrankreichs, wo er teilweise über 100 Mitglieder zählte.141 Für die Aufbewahrung der liturgischen Bücher und Objekte wie auch für die Reliquien war der Schatzmeister zuständig. Ihm oblag es, nach seiner Einsetzung alle Gerätschaften der Kirche zu verzeichnen, für die er fortan verantwortlich war. Er verfügte auch über die Schlüssel zur Sakristei, zum Raum der Chorkleider und zur Kirche.142 Die beiden Erzdiakone, der Erzdiakon von Auxerre, auch Grand Archidiacre genannt, und der Erzdiakon von Puisaye, wurden vom Bischof aus den Reihen der Kanoniker bestimmt. Beide übernahmen die Verwaltung der Diözese in Vertretung für den Bischof oder in dessen Abwesenheit.143 Der ebenfalls vom Erzbischof eingesetzte Pönitentiar war im Hochmittelalter in erster Linie mit der Leitung der Kathedralschule und der Schulen der Diözese betraut worden und 135 ADY, G 1855, Memoire Historique Sur les Chantres De l’Eglise d’Auxerre, S. 2. 136 Eine griechische Mythengestalt, die auf ihrer Flucht vor Theseus in eine Nachtigall verwandelt wurde. 137 Vgl. Sot 2006, S. 296, S. 334 ff. 138 Vgl. Demay 1898, S. 53 f. 139 „Les Enfants de choeur etoient autre fois au nombre de six, mais aprés l’Exploitation des Calvinistes en 1569 on les a reduits a quatre“, ADY, G 1855, S. 36. 140 Vgl. Skambraks 2013, S. 145. 141 Vgl. Tabbagh 2011, S. 35. 142 Vgl. Demay 1898, S. 44 f. 143 Vgl. Lebeuf 1848, Bd. 2, S. 424.

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führte damals noch den Titel scolastique. Bischof Guy de Mello erweiterte dessen Befugnis 1249 um die Position des bischöflichen Kaplans. Seitdem wurde sein Privileg, bestimmte Bußleistungen zu verhängen und bestimmte Sünden zu absolvieren, bedeutender, so dass sich die Bezeichnung Pönitentiar durchsetzte. Neue Kanoniker mussten erst ein halbjähriges primum stagium durchlaufen, ehe sie Anrecht auf ihre Einnahmen hatten. Es dauerte, nachdem der Anwärter eine Aufnahmegebühr entrichtet hatte, ein halbes Jahr vom Fest des heiligen Remigius bis zum ersten April. Während dieser Zeit musste sich der Neuanwärter in Auxerre aufhalten und täglich wenigstens an den drei wichtigsten kanonischen Stunden, dem Morgengebet, der Messe und der Vesper, teilnehmen. Am ersten April musste er sich dann im Kapitelsaal den Kanonikern präsentieren und feierlich auf die Statuten des Kapitels schwören.144 Wie auch in anderen Kathedralen war das Verhältnis zwischen Bischof und Kapitel in Auxerre durch wechselseitige Verpflichtungen geprägt.145 Sowohl der Bischof hatte Pflichten und Rechte gegenüber dem Kapitel als auch das Kapitel gegenüber dem Bischof. Beide Seiten sahen keinen Grund, von ihren einst teuer erkämpften Privilegien abzuweichen. Die Verfügung über die Kathedrale, d.h. der Besitz der Schlüssel, die Übernahme der Reparaturkosten, die Bezahlung der Beleuchtung etc. war in den coutumes von Auxerre genauestens festgelegt und Verstöße dagegen ein ständiger Grund für Gerichtsprozesse. So verpflichtete sich der Bischof etwa, jährlich eine feste Summe zum Unterhalt der Kirche zu bezahlen und bei außerplanmäßigen Instandsetzungen die Hälfte der Kosten zu begleichen. Dazu kamen an bestimmten Tagen Geld- oder Sachzuwendungen an das Kapitel und ein Geschenk zur Verschönerung der Kirche, das jeder Bischof nach seinem Einzug leisten musste.146 Dass die Bischöfe in der Kathedrale den Gottesdienst selbst leiteten, war eine äußerst seltene Angelegenheit. Dies lag nicht nur an ihren häufigen Reisen, sondern vor allem an dem Umstand, dass sie lediglich an den Hochfesten, also 144 „Item primum dictum stagium debet et consuevit semper inchoari in festi sancti Remigii, et finiri prima die aprilis promixe sequentis inclusive, in qua die prima aprilis praefatus Canonicus faciens sive finiens dictum suum primum stagium tenetur se repraesentare in Capitulo coram Dominis ubi discutietur an legaliter dictum suum primum stagium perfecerit vel non quod ideo ab antiquis statutum est, ut discant novi Canonici ceremonias dicta Ecclesiae ad honorem Dei …“, G 1819, S. 11 f., ebenso Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 330. 145 Sehr erhellend für diesen Abschnitt war der „Aufsatz“ (über 200 Seiten) von Charles Demay, L’évêque d’Auxerre et le chapitre cathédral au XVIIIe siècle, in: BSSY 52 (1898), S. 7–226. 146 Bischof Jean Baillet (1478–1514) stiftete so z.B. einen Wandteppich, der heute im Musé du Moyen Age in Paris zu sehen ist, siehe dazu: Weigert 2000.

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an sechs bis acht Festen im Jahr,147 das Recht hatten, die Liturgie zu zelebrieren. Dieses Recht erstreckte sich von der Vesper des Vorabends bis zur Vesper des Hochfestes, bei denen der Bischof dann auf seinem steinernen Thron in der bischöflichen Kapelle in der Kathedrale Platz nahm. Eine Auflistung der Statuten der Kanoniker von 1542 vermerkte dementsprechend: „Fuit semper compertum post discussum et vota dominorum canonicorum hujus ecclesiae, quod in diebus annualibus officium divinum debet praesentari domino episcopo autissiodorensi.“148 Im Falle seiner Abwesenheit konnte die Messe vom Dekan oder jedem anderen Kanoniker gelesen werden. Das Recht, die Messe zu feiern, ging gleichzeitig mit der Verpflichtung einher, für diese Messen nicht nur die Kerzen und die Bediensteten zu bezahlen, sondern auch alle ihm assistierenden Personen zum Essen einzuladen. Außerdem erhielten die Kanoniker an allen Hochfesten eine Zuwendung an Wein, die im 17. Jahrhundert in einen festen Geldbetrag umgewandelt wurde.149 Außerhalb der Hochämter konnte dem Bischof nur mit Einverständnis des Kapitels die Leitung einer Messe übertragen werden. Zwar konnte er auch außerhalb der besagten Feste jederzeit an der Stundenliturgie teilnehmen. Dann saß er jedoch ohne sein bischöfliches Ornat wie die Kanoniker mit der Almutia bekleidet im Chorgestühl auf dem zweiten Stuhl auf der rechten Seite. Nur der Umstand, dass die beiden Plätze neben ihm frei blieben, hob ihn vom Rest des Kapitels ab.150 Auch der alltägliche Zugang des Bischofs zur Kathedrale war in den Statuten reglementiert. Während sich die Schlüssel für die Hauptpforte im Besitz des Kapitels befanden, hatten die Bischöfe seit Ende des 14. Jahrhunderts eine eigene Tür, durch die sie direkt vom Bischofspalast die Kathedrale betreten konnten. Nach langen Verhandlungen einigten sich beide Parteien darauf, dass die Tür während der Anwesenheit des Bischofs in seinem Palast ständig offenblieb, bei Abwesenheit jedoch nur während der Morgen- und der Abendandacht. Die Statuten belegen eine Fülle von Beratungen und Gerichtsprozessen, die sich um Fragen der Platzierung im Raum bei bestimmten Festen, der Kleidung oder Gestik drehen. Das Bestehen auf diese Regelungen war kein sinnloser Formalismus, wie es die ältere Forschung häufig kritisierte, sondern integraler Bestandteil politischer Praxis in der Vormoderne.151 147 Neben Ostern, Pfingsten, Allerheiligen und Weihnachten die lokalen Heiligen St. Amatre und St. Stephan. Unklar ist, ob beide Stephanstage (3.8. und 26.12.) als Hochamt begangen wurden. 148 ADY, G 1856 zitiert nach: Demay 1898, S. 16. 149 Vgl. Demay 1898, S. 15 f. 150 Vgl. ebd., S. 29. 151 Vgl. Stollberg-Rilinger 2008, S. 9–12.

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Inwieweit Konflikte über die Praktiken entstanden und ob sie vor Gericht ausgetragen wurden, hing von der Konstellation zwischen Kapitel und Bischof ab. Die Bischofsviten aus Auxerre zeigen trotz aller der Quellengattung geschuldeten Verherrlichungen der Bischöfe gewisse Tendenzen über die Bewertung der Bischöfe. Die Beziehung zwischen dem Kapitel und den Bischöfen des 13. und frühen 14.  Jahrhunderts werden darin als sehr harmonisch beschrieben. Die Jahre zwischen 1325 und 1360 bleiben ebenfalls relativ konfliktfrei, was vor allem dem Umstand geschuldet war, dass die Bischöfe von Auxerre als Kardinäle am Papsthof in Avignon residierten.152 Unter dem Episkopat von Pierre Aymon (1362–1372) berichten die Bischofsgesten über ein großes Zerwürfnis zwischen ihm und dem Kapitel, das erst durch Schlichter bereinigt werden konnte.153 Auch Michael de  Creney (1391–1409) und Philipp des  Essarts (1411–1426) waren häufig uneins mit dem Kathedralklerus, konnten aber meist Vereinbarungen mit dem Kapitel aushandeln, wie etwa bei Streitigkeiten um die Rechtsprechung im Kathedralbezirk. Aber es war vor allem unter dem Episkopat von Pierre de Longueil (1449–1473), bei dem die oben angedeuteten Spannungen zwischen Kapitel und Bischof zum Tragen kamen. Das Kapitel, vor allem der Dekan Thomas de  la Plotte, und der Bischof stritten über die Missachtung des Kapitels beim Einzug des Bischofs und versäumte Weinzuwendungen an den Hochfesten. Der Bischof dagegen beklagte den versäumten Treueeid des Dekans. Ein Kompromiss scheiterte, so dass Dekan, Pönitentiar, Subkantor und achtzehn weitere Kanoniker, also fast das halbe Kapitel, zeitweilig exkommuniziert wurden.154 In der Amtszeit von Bischof Jean Baillet (1478–1514) gab es dagegen kaum Spannungen mit dem Kapitel. Da seine Wahl als Bischof von einem Konkurrenten angefochten und vor dem Pariser Parlament verhandelt wurde, vermied er es, das Kapitel gegen sich aufzubringen. Er gestattete den Kanonikern, die Residenzpflicht zu lockern, und stattete die Kathedrale mit aufwendigen Stiftungen aus.155 Anstatt gegeneinander zu klagen, versuchten Kapitel und Bischof ihre Rechte häufig gemeinsam durchzusetzen, zumal mit Odard und Jean Henniquin zwei Neffen des Bischofs Kanoniker im Kapitel waren und zugleich die Posten der beiden Erzdiakone bekleideten. Da zur selben Zeit der Bruder des Bischofs, Thibauld Baillet († 1525), als Präsident dem Pariser Parlament vorsaß und ein weiterer Neffe des Bischofs am Parlament für die Prozesse zuständig war, 152 Vgl. Sot 2006, Bd. 2, S. 296–338, ders. 2009, Bd. 3, S. XIII–XIV. 153 Nach 1372 bleiben die Bischofsviten aus, bis François Dinteville II. im 16. Jahrhundert einem Kanoniker den Auftrag erteilt, die Vita seines verstorbenen Onkels und Amtsvorgängers François Dinteville I. (1514–1530) zu verfassen, vgl. Sot 2009, Bd. 3, S. XVII. 154 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 536–541. 155 Vgl. ebd., S. 558 ff.

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verwundern die Erfolge kaum.156 Auch zwischen François Dinteville I. (1514– 1530) und dem Kapitel scheint es kaum zu Konflikten gekommen zu sein. Zumindest Lebeuf schildert diese Beziehung als völlig unproblematisch: „durant les quinze à seize années de son Episcopat, il n’eut aucune contestation, ni même la moindre ombre de difficulté avec le Chapitre, ni avec aucun des Chanoines en particulier.“157 Allerdings waren alltägliche Konflikte nur begrenzt möglich, da er in seiner Funktion als Almosenier des Königs auch mindestens drei bis vier Monate des Jahres am Hof verbrachte, wo er äußerst beliebt war.158 François Dinteville I. war 1514 der letzte Bischof, der noch vom Kapitel in Auxerre gewählt wurde.159 Sein Nachfolger, sein gleichnamiger Neffe, wurde nach den Beschlüssen des Konkordats von Bologna 1516 erstmalig direkt vom König eingesetzt. Damit war ein Privileg, das einen Großteil der Legitimität und Macht der Kathedralkapitel ausgemacht hatte, für die Kanoniker verloren gegangen. Die Kathedralkapitel von Auxerre und Sens waren rechtlich autonome Körperschaften, die sich ihre eigenen Statuten gaben. Das Kapitel von Auxerre war mit gut 50 Kanonikern eines der größten Kathedralkapitel des Königreiches, während das Kapitel in Sens lediglich 32 Kanoniker zählte. Die Aufnahme neuer Kanoniker erfolgte über den stage, eine halbjährige Probezeit, die vor Ort absolviert werden sollte. Allerdings gelang es immer mehr Bewerbern, sich einen Dispens für ihre Abwesenheit ausstellen zu lassen, wie auch die Kanoniker allgemein seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr ihren Residenzpflichten nachkamen. Die Kumulation von Kanonikaten durch adelige Günstlinge war auch in Sens und Auxerre ein bekanntes Phänomen. Der Zerfall in Partikularinteressen bedrohte die Souveränität der Kapitel, die gerade in ihrer Einheit eine machtvolle Verhandlungsposition gegenüber ihren Bischöfen einnehmen konnten. Bischof und Kapitel bildeten nämlich keine Einheit, sondern hatten klar umrissene Verpflichtungen und Privilegien, deren 156 Vgl. Chardon 1834, S. 295. 157 Lebeuf 1848, Bd. 1, S. 574. 158 Ambroise Challe dagegen deutete die am Hof verbrachte Zeit in seiner Geschichte der Religionskriege weniger positiv: „Les abus de l’épiscopat étaient arrivés à Auxerre à un degré presque incroyable. Depuis nombre d’années l’évêché de cette ville était occupé par des prélats de cour, …, c’était pour y étaler une pompe fasteuse et y donner souvent le fâcheux exemple des passions les plus opposées à l’esprit de la religion. C’est ainsi que, de 1514 à 1538 [sic], le diocèse fut soumis à François de Dinteville, premier de nom, aumônier des rois Louis  XII et François  Ier, dont il ne quittait pas la cour où, selon Rabelais, il était connu tant pour sa sensualité que pour la simplicité de son esprit“, Challe 1863, S. 12. 159 Vgl. Demay 1898, S. 7.

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Übertretung in Sens und Auxerre zu zahlreichen Konflikten führte. Dass den Kapiteln das Recht zur Bischofswahl durch das Konkordat von Bologna 1516 vom französischen König genommen wurde, erschütterte das Selbstverständnis vieler Kapitel.

4.4 Fazit Auxerre und Sens waren im Mittelalter prosperierende Bischofsstädte. Insbesondere Sens war durch die Präsenz der Erzbischöfe, denen so bedeutende Diözesen wie Chartres oder Paris unterstanden, ein religiöses und damit auch politisches Zentrum Frankreichs. Während die Pest die beiden Diözesen in ähnlicher Weise traf wie das gesamte Königreich, waren die Auswirkungen durch den Hundertjährigen Krieg deutlich gravierender. Wegen der geographischen Lage zwischen der französischen Krondomäne und den Besitzungen der Herzöge von Burgund stellte vor allem Auxerre eine strategisch wichtige Stadt dar, so dass Kampfhandlungen und Plünderungen die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts prägten. Die Kathedralkapitel stellten innerhalb der Städte eine bedeutende religiöse, politische und wirtschaftliche Macht dar. Sie waren durch ihre Umfriedung und die eigenständige Jurisdiktion aus der übrigen Stadt herausgehoben. Wie gezeigt worden ist, teilten sich Kapitel und Bischof die weltliche und geistliche Verwaltung sowie die Gerichtsbarkeit über das Kathedralviertel. Die Regierung basierte auf schriftlich festgelegten coutumes, welche die Aufgaben und Privilegien beider Parteien detailliert beschrieben, über deren Auslegung jedoch häufig gestritten wurde. Insbesondere der Zugang zur Kirche, die Anwesenheit bei den Messen, die körperliche Präsenz im Raum, die Kleidung oder die Gesten waren allesamt Bereiche, die streng geregelt waren und bei denen auf die Einhaltung der Regeln genauestens geachtet wurde. Deshalb entstanden über die Verteilung dieser Rechte und Pflichten Uneinigkeiten, die im Konsens oder durch langwierige Appellationsprozesse geklärt wurden. Wie nicht zuletzt die Forschungen zur symbolischen Kommunikation deutlich gemacht haben,160 sind diese Fragen zur performativen Herstellung des eigenen Status von zentraler Bedeutung für die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen in der Vormoderne. Der körperliche Vollzug des Tanzes im Kirchenschiff der Kathedrale von Auxerre oder auf dem Klosterplatz vor der Kathedrale von Sens konnte, zumal er mit Ostern am höchsten christlichen Festtag erfolgte, nicht indifferent bleiben, sondern musste zwangsläufig das Machtgefüge von Kapitel und Bischof tangieren. 160 Vgl. etwa Althoff 2003, S. 9–19, Stollberg-Rilinger 2008, S. 9–12.



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Abb. 1:  Buchmalerei auf Pergament von Rudolf Stahel, Konstanz 1496, aus der Handschrift „Christus und die minnende Seele“

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Abb. 2:  Schematische Darstellung des Kathedralbezirks mit Bischofspalast von Sens im15. Jahrhundert

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Abb. 3:  Schematischer Plan von Auxerre im Frühmittelalter aus dem 18. Jahrhundert.

244 Tafelteil

Abb. 4:  Plan von Auxerre von Belleforest aus dem Jahr 1575 (Ausschnitt)

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Abb. 5:  Schematische Darstellung des Kathedralbezirks von Auxerre im Mittelalter

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Abb. 6:  Buchmalerei aus Otfrid von Weißenburg, Evangelienharmonie, 9. Jahrhundert

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Abb. 7:  Zeichnung des Labyrinths in der Kathedrale von Sens, 18. Jahrhundert

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Abb. 8:  Skizze des Labyrinths von Sens

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Abb. 9:  Magnus Liber Organi von Notre Dame, Paris, 13. Jahrhundert

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Abb. 10:  Bible moralisée, Frankreich 13. Jahrhundert

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Abb. 11:  Relief, Kathedrale Saint-Etienne von Auxerre, Westportal, 13. Jahrhundert

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252 Tafelteil

Abb. 12:  Auszug aus den Akten zum Prozess über die Pelotte am Pariser Parlament vom 7. Juni 1538

5. Die Tänze der Kathedralkapitel von Sens und Auxerre Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, bilden die Arbeiten des Kanonikers Jean Lebeuf (1687–1760) aus dem 18. Jahrhundert die wesentliche Quellengrundlage für die Pelotte von Auxerre. Auf Lebeufs Passagen wurde in zahlreichen Arbeiten Bezug genommen,1 allerdings wurden meist nur die von ihm zitierten Quellen oder Bruchstücke davon angeführt. Wesentliche Impulse haben erst die Arbeiten von Kathryn Woodward und Craig Wright geben können. Wright konnte bei seinen Archivrecherchen in Auxerre einige von Lebeuf zitierte Quellen ausfindig machen und entdeckte eine Zeichnung mit Größenangaben des Labyrinths von Sens aus dem 18. Jahrhundert. Da Lebeuf in seinem Aufsatz von 1726 angemerkt hat, dass das Labyrinth in Auxerre „de la même manière“2 war wie das in Sens, lassen sich auch Form und Größe des Labyrinths der Kathedrale von Auxerre daraus rekonstruieren.3 Außerdem konnte Wright die Übertragung des antiken Theseusmythos in den christlichen Kontext überzeugend darlegen und damit zeigen, wie der Tanz auf dem Labyrinth an Christus’ Sieg über den Teufel erinnerte. An Wrights Arbeit knüpfen auch die Überlegungen von Eisenberg an, der die Pelotte als liturgisches Spiel ansieht, dessen performativen Funktionen eine temporäre Auflösung von Hierarchien und damit den Statuswechsel des Anwärters in den Kreis der Kanoniker ermöglichte.4 Da die Pelotte sowohl tänzerische als auch mit der Ballübergabe ludische Elemente enthält, wird sie von der Forschung einerseits als Labyrinthtanz, andererseits als Ballspiel untersucht. Bereits Lebeufs Aufsatz enthält beide Komponenten, da er einerseits von

1 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Malte-Brun 1811, Bd. 15, S. 273, Bedollière 1847–49, Bd. 3, S. 379 f., Barthélemy 1854, Bd. 4, S. 447–459, Mead 1912, S. 91– 110, Gougaud 1914/1915, S. 235 f., Chambers 1925, Bd. 1, S. 128 f., Sahlin 1940, S. 146 f., Foatelli 1947, S. 45 f., Backman 1952, S. 66–73, Rahner 1960, S. 73–76, Schnapper 1963, S. 358 f., Haubrichs 1980, S. 104, Hausamann 1980, S. 399 ff., Woodward 1981, S. 64–99, Heers 1983, S. 94 f., Davies 1984, S. 58, Doob 1985, S. 132–142, Hayes 1999, S. 30 f., Kern 1999, S. 213 ff., Greene 2001, S. 1429–1432, Wright 2001, S. 139–145, Hayes 2003, S. 64 f., Connolly 2005, S. 291 ff., Ruel 2006, S. 127 ff., Zellmann 2007, S. 36–74, Brandstatter 2008, S. 24–28, Mews 2009, S. 519 f., Eisenberg 2009, o.S., Haitzinger 2009, S. 18 f., Harris 2011, S. 53– 63, Rohmann 2013, S. 243–252, Sonntag 2013, S. 241 ff. 2 Lebeuf 1726, S. 923. 3 Vgl. Wright 2001, S. 45 f. 4 Vgl. Eisenberg 2009, o.S.

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einer „danse Ecclesiastique“ spricht, andererseits die Pelotte als eine Form des jeu de paume vorstellt.5 Letzterer Interpretation folgend deutet Ulrike Zellmann die Pelotte als getanztes Ballspiel und sieht es in erster Linie als Wettkampf an, in dem „das Risiko von Verlust und Gewinn“6 von zwei Parteien dominiere. Die Kanoniker spielten folglich gegeneinander, so dass der Siegeswille der Spieler, ihre Lust am Spiel bei gleichzeitiger Gefahr von Regelüberschreitungen oder Fehlern die Pelotte kennzeichnete.7 Gegen eine Verbindung der Pelotte mit dem jeu de paume hatte sich dagegen bereits Mead ausgesprochen, der zu Lebeuf anmerkt: „He starts with a false notation of a jeu de paume, a secular merry game and dance at best, and then falls into quite unnecessary difficulties and contradictions.“8 Die Labyrinthmetaphorik, der Tanz im Kirchenraum, der Ball als Spielgerät, das begleitende Lied, die zuschauenden Laien, der Ostertermin – es sind eine ganze Reihe komplexer und symbolisch aufgeladener Elemente, aus denen die Pelotte in Auxerre bestand. Die zahlreichen, zum Teil sich ergänzenden, zum Teil sich widersprechenden Deutungen, machen eine intensive Untersuchung dieses Rituals erforderlich. Da viele der Ergebnisse von Auxerre wiederum unkritisch auf den Fall von Sens übertragen wurden, ist es notwendig, noch einmal zu systematisieren, welche Quellen für die Tänze in Auxerre und Sens vorliegen. Quellenübersicht Für die Tänze in Auxerre und Sens stehen uns leider kaum zeitgenössische Quellen zur Verfügung. Die meisten Informationen erhalten wir von den Kanonikern Leriche († 1714) sowie Charles-Henri Fenel (1665–1727) und seinem Neffen Jean-Basile-Pascal Fenel (1694–1753) in Sens und Jean Lebeuf in Auxerre zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die zu diesem Zeitpunkt in den Archiven der Kathedralen forschten. Auch wenn bereits im ersten Kapitel eine erste Einordnung dieser Arbeiten erfolgte und die aufgeklärische Sichtweise, welche die Tänze vor allem als bizarre Bräuche einer kuriosen Epoche abtat, problematisiert wurde,9 soll an dieser Stelle noch einmal deutlich auf die Quellenlage hingewiesen werden. Gerade für Auxerre bezieht sich die Forschung zwangsläufig immer wieder auf das Werk von Lebeuf, da alle wesentlichen Quellen fast ausschließlich über 5 Lebeuf 1726, S. 911, 915. 6 Zellmann 2007, S. 36. Zur Deutung der Pelotte als Ballspiel vgl. auch Sonntag 2013, S. 241 ff. 7 Vgl. ebd., S. 68 f. 8 Mead 1912, S. 100. 9 Vgl. Kap. 2.2.2, S. 115–119.

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seine Arbeiten10 überliefert sind. Deshalb soll sich nun intensiver damit auseinandergesetzt werden, auf welche Quellen die Autoren des frühen 18. Jahrhunderts zurückgriffen, mit welcher Ausbildung und welchen Kenntnissen sie ihre Recherchen durchführten und warum sie diese Forschungen betrieben. Zudem sollen neben den Schriften der Kanoniker auch ergänzende Quellen vorgestellt werden. Quellen Auxerre „Le XVIIe siècle a vu naître une génération de savants qui, se prenant d’une vive passion pour l’histoire nationale et le moyen âge“11, so leiten die Herausgeber der Neuauflage von Lebeufs „Mémoires concernant l’histoire civile et ecclésiastique d’Auxerre“12 dessen biographische Notiz ein. Bereits mit 7 Jahren – so erfahren wir darin – begann er seine Studien am Jesuitenkolleg in Auxerre und lernte zur selben Zeit in der Kirche St. Regnobert das Lesen mittelalterlicher Manuskripte, da der Gottesdienst wegen der Armut der Kirche aus den Antiphonaren des 13. und 14. Jahrhunderts gesungen wurde. Lebeuf, der Sohn eines einfachen Beamten, entschied sich wie seine Brüder für eine geistliche Karriere und erhielt mit 14 Jahren die Tonsur und wenig später ein unbedeutendes Benefizium in der örtlichen Kapelle „Saint-Louis ad Altare S. Alexandri“. Mit 16 Jahren bekam er die Gelegenheit, in Paris im Umfeld der Sorbonne zu studieren. In den fünf Jahren zwischen 1701 und 1706 lernte er durch sein Theologiestudium Hebräisch und Griechisch, vertiefte seine Kenntnisse in Paläographie und durchforstete in den zahlreichen Bibliotheken der Stadt sämtliche Werke der französischen Geschichte. In Paris machte er auch die Bekanntschaft mit dem Kanoniker Claude Chastelain aus Notre-Dame in Paris und wurde durch ihn mit der Liturgie und sakraler Musik vertraut gemacht, so dass er bereits mit 18 Jahren als Komponist 10 Neben seinem Artikel im „Mercure de France“ äußert sich Lebeuf zur Pelotte in seinen Mémoires concernant l’histoire ecclésiastique et civile d’Auxerre. Avec addition de nouvelles preuves et annotations, hg. v. Ambroise Challe und Maximilien Quantin, 4 Bde., Auxerre 1848–1855, Bd. 1, S. 596. Quellenbelege dazu finden sich in Bd. 4, S. 322  f. Diese Quellen sind laut Wright nicht mehr im Archiv von Auxerre auffindbar, lediglich einige Versuche von Kanonikern, die finanziellen Lasten für die Pelotte zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu verringern, sind im Original in Auxerre erhalten: ADY, G. 1798, no folio (15 March 1410), G. 1798 (16 March 1411), G. 1798, fol. 285 (19 April 1412), G. 1798, fol. 285 (23 April 1412), dazu Wright 2001, S. 321. 11 Lebeuf 1848, Bd. 1, S. xiii. 12 Interessant ist die neue Gewichtung von Kirche und Politik durch die Titeländerung seines Werkes. Im Original von 1743 lautet er „Mémoires concernant l’histoire ecclésiastique et civile d’Auxerre“, nun: „Mémoires concernant l’histoire civile et ecclésiastique d’Auxerre“.

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von sich Reden machte. Chastelain sollte zur prägenden Gestalt in Lebeufs jungen Jahren werden. 1711 wurde Lebeuf Kanoniker in der Kathedrale Saint-Etienne in seiner Geburtsstadt Auxerre.13 Ein Jahr später übernahm er das Amt als Subkantor, was ihm 1713 die Aufgabe übertrug, das Brevier der Kathedrale im Auftrag des Bischofs zu überarbeiten.14 Dazu durchsuchte er die alten liturgischen Bücher und Kapitelbeschlüsse und stieß dabei auf die Einträge zur Pelotte. Welche Quellen standen Lebeuf nun zur Verfügung? Im Vorwort seiner 1743 erschienenen Stadtgeschichte verweist Lebeuf auf die Archive der Stadt Auxerre, der Kathedrale, der Kollegienstifte, der Klöster und der Priorate, aus denen er seine Erkenntnisse zusammengetragen hat. Für die Geschichte der Bischöfe konnte er außerdem auf die „Gesta Pontificum Autissiodorensium“15 des Jesuitenpaters Labbé von 1657 zurückgreifen. Zusätzlich standen ihm nach eigenen Angaben Quellen aus dem Trésor des chartes du roi in Paris, aus Konzilienbeschlüssen, Chroniken und Registern des Pariser Parlaments zur Verfügung. Häufig berichtet er in seinem Werk von Entdeckungen, die er vornehmlich in Paris gemacht hat.16 Die kürzlich anlässlich Lebeufs 250-jährigen Todestags erschienene Studie von Xavier Bisaro bestätigt Lebeufs Aussage und macht deutlich, dass der Kanoniker aus Auxerre auch in Paris über den Zugang zu allen wichtigen Bibliotheken und über zahlreiche Kontakte verfügte.17 Lebeuf war weitläufig gebildet und interessiert, so dass er anlässlich einer Konferenz zu seinem 200. Todestag als „folkloriste“, „historien“, „musicologue“ oder „plainchantist“ betitelt wurde.18 In der Tat zeugen seine 150 Aufsätze und Abhandlungen über archäologische, historische, literarische und religiöse Themen, die er zum größten Teil im „Mercure de France“ und im „Journal de Verdun“ veröffentlichte, von diesem breiten Interessenspektrum. Er schrieb zudem mehrere Monographien, neben der bereits erwähnten Geschichte Auxerres auch ein mehrbändiges Werk zur Geschichte der Diözese Paris. Außerdem veröffentlichte Lebeuf 1741 ein viel beachtetes musiktheoretisches Werk unter dem Titel „Traité historique et pratique sur le chant ecclésiastique“. Ausgehend von seiner umfangreichen Ausbildung und seinen vielfältigen Publikationen, dem musikalischen Wissen und seiner sehr detaillierten und gut recherchierten Geschichte 13 Vgl. Lebeuf 1848, Bd. 1, S. xiii–xvi. 14 Vgl. Lallier 1851, S. 113. Lebeuf hatte bereits 1708 in Lisieux ein Antiphonar überarbeitet. 15 Ediert von Sot 2006–2009. 16 Vgl. Lebeuf 1848, Bd. 1, S. vii–viii. 17 Vgl. Bisaro 2011, S. 37–78. 18 Ebd., S. 13.

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Auxerres ist davon auszugehen, dass Lebeuf die Ausbildung und Kenntnisse hatte, die Quellen zur Pelotte lesen und kontextualisieren zu können. Lebeuf berichtet im „Mercure de France“ von Mai 1726 zum ersten Mal über die Pelotte von Auxerre. In seiner „Histoire de la prise d’Auxerre par les Huguenots“ von 1723 war sie noch kein Thema, der Fokus des Buches liegt allerdings auf dem Zeitraum der 1560er Jahre, als die Pelotte bereits nicht mehr praktiziert wurde. Knapp 20 Jahre später erwähnt Lebeuf in seiner Stadtgeschichte noch einmal kurz den „jeu de la Pelotte“19 und verweist dabei auf seinen Artikel im „Mercure de France“. Zudem liefert er in den pièces justificatives einige von ihm zusammengestellte Auszüge aus den Quellen, die Verhandlungen vor dem bailliage von Auxerre und dem Parlament von Paris sowie ein Schreiben des procureur général an den Bischof von Auxerre.20 Lebeuf sah also keinen Anlass, die Pelotte noch einmal zu behandeln. Ebenso möchte er die Feierlichkeiten anlässlich der Fête des Fous, an der er in den 1720er Jahren viel Interesse gezeigt hatte, nun lieber unter dem Deckmantel des Schweigens belassen.21 Die Faszination für das Thema um 1726 wurde im ersten Kapitel durch die zahlreichen Publikationen zu den bizarren Bräuchen der Gotik hinreichend erläutert. Der Aufsatz zeichnet unter diesem Blickwinkel die Pelotte als seltsames, lächerliches Ritual nach, dessen Abschaffung als Gewinn für die Kirche Auxerres betrachtet wurde. Gleichzeitig lässt sich der Aufsatz aber auch als Kampf eines fortschrittlichen Kanonikers gegen ein rückständiges Kathedralkapitel betrachten. Eine Lesart, die einiges für sich hat, wenn man sich Lebeufs eigene Position im Kapitel während der Entstehung des Aufsatzes vor Augen hält. Als Subkantor arbeitete Lebeuf seit 1714 im bischöflichen Auftrag an einer Reform der Liturgie, wie sie in Paris bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts begonnen worden war.22 Mit noch mehr Engagement als sein Lehrer Chastelein und dem Bestreben, „tous les passages ridicules“23 in den liturgischen Büchern zu streichen, um die Reinheit des Kultes wiederherzustellen, machte sich der junge Kanoniker an sein Unterfangen. Für den Auftrag, das Brevier der Kirche von Auxerre zu revidieren, wandte er sich an den erfahrenen Dekan CharlesHenri Fenel aus Sens und bat ihn, bei einigen Fragen der Reform behilflich zu sein. Der Dekan arbeitete ebenfalls im Auftrag des Erzbischofs an einer Über19 Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 596. 20 Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323 f. 21 „Je passerai sous silence ce qui restoit encore alors de vestige de la Fête des Fous, aussi-bien que l’usage des Tragédies de piété qu’on représentoit encore l’an 1551, avec des ornemens de l’Eglise dans la place devant l’Eglise Cathédrale“, Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 596. 22 Vgl. Bisaro 2011, S. 24–27. 23 Cherest/Quantin 1866, Bd. 1, S. xxxii–xxxiii.

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arbeitung der Liturgie der Kirche von Sens. 1715 wurde das neue Messbuch24 unter dem Namen des Erzbischofs veröffentlicht, allerdings war die wesentliche Arbeit von Fenel geleistet worden. Lebeuf erkundigte sich bei ihm um Details der Liturgie aus Sens, etwa wie viele Diakone bei einer bestimmten Messe zugegen sein sollen, oder wo sich die Kanoniker zu befinden haben, wenn der Erzbischof einzieht.25 Aus diesen Anfragen entstand eine enge Freundschaft und – für Historikerinnen und Historiker weitaus wichtiger – ein intensiver Briefwechsel zwischen beiden über liturgische, historische und literarische Themen, der auch nach Fenels Tod 1727 von seinem Neffen Jean-Basile-Pascal Fenel fortgeführt wurde.26 Während Lebeufs Engagement in Sens und Paris von anderen Liturgiereformern begrüßt wurde, stellte sich ihm aus dem eigenen Kapitel bald der erste Widerstand entgegen, wie er in seinen Briefen eingestehen musste. Auch wenn er vom Bischof tatkräftig unterstützt wurde und die Liturgiereform in den Kirchen, die dem Bischof unterstanden, in den Folgejahren durchgesetzt wurde, geriet Lebeuf selbst im Kapitel immer weiter in Isolation. Im Januar 1722 berichtet er davon in einem Brief an seinen Freund Fenel in Sens: „Le doyen disoit à tout le monde que bientôt apparamment on ôteroit le canon, et, par ses fades raisons, il engagea la compagnie à me faire sortir, de crainte que la force des miennes ne persuadassent l’assemblé. Ce fut alors qu’un chanoine pétulant, natif de Beaune et qui a tourné le dos à Mgr. l’évêque, du moment qu’il n’en a plus eu affaire, dit, en opinant, que j’étois une chenille dans le Chapitre. J’avois souffert patiemment que, dès le mois de mai, il m’êut traité de peste dans la compagnie [...]“27. Dieser Auszug illustriert, welchen Anfeindungen sich Lebeuf seiner Meinung nach von Dekan und Kapitel ausgesetzt sah. Auch die nächsten Jahre zeugen von weiteren Auseinandersetzungen mit dem Dekan, bis der Reformer Lebeuf im Jahr 1726 den Erfolg der Liturgiereform verbuchen konnte. Im Mai erschienen gleichzeitig ein Artikel über diesen Erfolg sowie ein Artikel über die Pelotte von Auxerre im „Mercure de France“.28 Es ist somit durchaus möglich, die Geschichte der Pelotte als Erfolgsgeschichte des Kanonikers Laurent Bretel, der jahrelang allein gegen Dekan und Kapitel prozessierte und schließlich gewann, zu lesen. Der Sieg eines aufgeklärten einzelnen Kanonikers über die Ignoranz des ganzen Kapitels wäre damit analog zu Lebeufs Vorgehen bei der Liturgiereform konzipiert. 24 Missale metropolitanae ac primatialis ecclesiae Senonensis, Sens 1715. Das Werk war bereits 1702 abgeschlossen worden. 25 Vgl. Cherest/Quantin 1866, Bd. 1, S. 22. 26 Die Briefe sind abgedruckt in: Cherest/Quantin 1866–67. 27 Cherest/Quantin 1866, Bd. 1, S. 278 f. 28 Vgl. ebd. S. xlix.

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Lebeufs Charakterisierung von Bretel würde dann auch auf sein Selbstverständnis passen: „Le vigoreux Chanoine se roidit contre le sophisme grossier, & suivit l’affaire.“29 Denn auch Lebeuf war zunächst im Kapitel isoliert, bis der Erfolg seiner Reform ihm schließlich Recht gab. Diese Sichtweise sollte man zumindest bei der Interpretation von Lebeufs Artikel nicht außen vor lassen. Neben den Quellen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, die Lebeuf vorlagen, aber nicht mehr existieren, haben sich einige Schriftstücke erhalten, die Lebeufs Angaben stützen.30 Im Kapitelregister, das sich in den „Archives départementales de l’Yonne“ in Auxerre befindet, taucht der Name Pilota bei Uneinigkeiten über die Kosten und Größe des Spielgerätes zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf.31 Außerdem wird in einer Sammlung der Kapitelstatuten ab dem 16. Jahrhundert für das Jahr 1553 die Aufnahme neuer Kanoniker unter der Überschrift „de Pilota“ gehandhabt, allerdings gehörten Tanz und Ballspiel bereits nicht mehr zum Initiationsritual.32 Dies waren nach dem aktuellen Stand der Forschung die bekannten Quellen, da die Prozessakten der Verhandlungen als verschollen angesehen wurden.33 Vermutlich sind Abschriften oder Berichte über den Verlauf in Auxerre selbst tatsächlich nicht mehr erhalten, die Bestände des Pariser Parlaments hingegen wurden nicht berücksichtigt. Durch Lebeufs genaue Datierung des Prozesses zwischen 1532 und 1538 gelang es mir, in den Beständen des Pariser Parlaments in den Archives Nationales die Originalquellen zum Prozess ausfindig zu machen. Dabei handelt es sich um die Registres du Conseil34, die das endgültige Urteil vom 7.6.153835, aus dem Lebeuf Auszüge in seinem Aufsatz zitiert hat, und ein arrêt vom 27.6.1533 enthalten36. Beide Urteile verweisen auf vorherige Plädoyers vom 29. Juli und 5. August 1532, die sich in den Registres des Plaidoiries Matinées ausfindig machen ließen. Allerdings bricht die Reinschrift beider 29 Lebeuf 1726, S. 919. 30 Eine Sammlung der Kapitelstatuten wurde Mitte des 15. Jahrhunderts vom Kanoniker Grillot übernommen, die unter dem Namen „Grillotine“ tradiert und im 17. und 18. Jahrhundert abgeschrieben und kommentiert wurde, vgl. ADY, G 1854, siehe auch: Bisaro 2011, S. 116. 31 ADY, G  1798, die Beschlüsse sind auch abgedruckt im Artikel „Pelota, Pilota“ bei du Cange, den die Benediktiner von St. Maur bei ihrer Neubearbeitung des Glossariums 1733–1736 aufgenommen hatten. Vgl. dazu Wright 2001, S. 321, Zellmann 2007, S. 66. 32 ADY, G 1854, S. 3. 33 Vgl. etwa Zellmann 2007, S. 71. 34 AN x1a1478–4779. 35 AN x1a1541, fol. 434v–435r. 36 AN x1a1536, fol. 297r–297v.

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Plädoyers bereits im ersten Satz nach den Worten „En la cause dentre chapit[re] dauxerre“37 ab, bevor nach einigen freien Seiten ein neuer Prozess beginnt. Trotz dieser Lücken helfen die erhaltenen Parlamentsakten, das Ende der Pelotte von Auxerre besser rekonstruieren zu können. Quellen Sens Für den Tanz in Sens sind die Quellen ebenfalls größtenteils erst ab dem 18. Jahrhundert überliefert. Dies liegt vor allem daran, dass in Sens die Register des Kathedralkapitels vor 1662 nicht mehr erhalten sind.38 Über den „Calendrier sénonais“39 des Préchantre Leriche, der von 1694 bis zu seinem Tod 1714 Kanoniker in der dortigen Kathedrale war, erhalten wir zu Beginn des 18.  Jahrhunderts einige Informationen über Tänze von Kanonikern in Sens. Etwa zur selben Zeit hatte der Dekan Charles-Henri Fenel eine „Table alphabétiques des conclusions capitulaires“40 zusammengestellt, wofür ihm wie auch Leriche noch die mittlerweile verschollenen Register zur Verfügung standen.41 Fenel selbst hat in diesem Katalog unter dem Eintrag zu seinem Namen verzeichnet: „Fenel on luy communique les regis. capitul. depuis l’an 1500“42. Allerdings darf angenommen werden, dass Fenel nur eine Auswahl aus den Registern überlieferte. Wie sein Titel verrät, ordnete er die Auszüge dann in alphabetischer Reihenfolge.43 Außerdem stellte Fenel etwa 1717 einen Katalog der Kanoniker44 von 1480 bis etwa 1700 zusammen. Der Dekan macht darin jedoch immer wieder deutlich, dass der Katalog an einigen Stellen unvollständig sei. Insbesondere für die für diese Arbeit so wichtigen Jahre 1500–1520 muss er anmerken, dass die „regis. capit. sont perdus depuis ce temps jusque a la année 1520“45. Über die tables 37 AN x1a4892, fol. 406r. 38 Vgl. Villetard 1911, S. 105. 39 BMAUX, Ms 207. Der Großteil der Quellen zu Sens findet sich in der Bibliothèque municipale Auxerre oder den Archives départementales de l’Yonne, worauf bereits Wright 2001, S. 309, hinweist. 40 ADY, G 678: Table alphabétique des conclusions capitulaires du chapitre dressée par le Doyen Charles-Henri Fenel en 1705. 41 Vgl. Quesvers 1895, S. 105. 42 ADY, G 678, fol. 63r. 43 Vgl. Cailleaux 1999, S. 105. 44 Registre constitué des notices des dignitaires, pour toutes les périodes, et des chanoines, à partir de 1377, classées par dignités et canonicats, rédigées par Charles-Henri Fenel, ADY, G 701. Das Dokument G 700 enthält den Katalog in einer erweiterten Fassung seines Nachfolgers. Fenel sammelte auch Einträge zu den Erzbischöfen (BMSE, Ms 76– 78). Siehe dazu und zu den Quellen für Sens allgemein: Tabbagh 2009, S. 81–84. 45 ADY, G 700, fol. 131r.

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de choeur gelang es ihm aber zumindest, die Aufnahme- und Sterbedaten der Kanoniker zu erfassen. Anlässlich von Fenels Tod nahm Lebeuf, wie oben erwähnt, Kontakt zu dessen Neffen Jean-Basile-Pascal Fenel auf, der ebenfalls seit 1718 Kanoniker in Sens war. Der junge Fenel führte den Briefwechsel mit Lebeuf fort und freute sich, da er gerade an einer Geschichte von Sens schrieb, in Kontakt mit dem erfolgreichen Autor Lebeuf treten zu können. Einige Jahre später fragte er in einem seiner Briefe an Lebeuf, dessen Veröffentlichung zur Pelotte in Auxerre zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre zurücklag, ob ihm auch eine „danse ecclésiastique qui se pratiquoit autrefois, ici [Sens, Anm. des Verf.], le jour de Pâques, au soir, et qu’on nommoit la Cazzole“46, bekannt sei. Eine Antwort Lebeufs darauf ist leider nicht überliefert. Diese Angaben aus dem 18.  Jahrhundert blieben die frühesten Überlieferungen bis Abbé Henri Villetard (1869–1955) 1911 in seinem Aufsatz „La danse ecclésiastique à la Métropole de Sens“ ein Zeremoniale aus dem frühen 16. Jahrhundert präsentierte, das er in der „Bibliothèque de Poitiers“ entdeckt hatte.47 Das Zeremoniale ist Bestandteil eines Manuskripts mit dem Titel „Recueil concernant l’église de  Sens“48, das eine Liste der Erzbischöfe von Sens, Aufzeichnungen zu den Provinzsynoden und zum Einzug des Erzbischofs, eine kurze Geschichte der Kirche von Sens und einige Bräuche der Kirche enthält.49 Der lateinische Text liefert eine detaillierte Beschreibung des Tanzes und führt außerdem die Umstände des Verbotes näher aus. Das Manuskript aus Poitiers ist damit die früheste und umfangreichste Quelle für die Cazzole von Sens. Zwar zitiert der Kunsthistoriker Wolfgang Krönig (1906–1995) in der Zeitschrift „Quatember. Vierteljahreshefte für Erneuerung und Einheit der Kirche“ von 1979 ein Schriftstück aus dem Jahre 1443, in dem ein Tanzspiel auf dem Labyrinth erwähnt wird, jedoch bringt er außer dem Verweis auf die Archives départementales de l’Yonne, keinen vollständigen Beleg.50 Krönig scheint das 46 Cherest/Quantin 1867, Bd. 2, S. 289. 47 BMPO, Ms. 336, fol. 90r–91r. 48 Das Manuskript beginnt mit den Worten: „Hec sunt que pro antiquis consuetudinibus et ceremoniis ecclesie metropolitane Senonensis consueverunt observari“, BMPO, Ms. 336, fol. 3. 49 Vgl. Catalogue général 1894, S. 97. 50 Krönig 1979, S. 115: „In einer Urkunde der Kathedrale von Sens (Archiv. Depart. de l’Yonne), die durch Jahrhunderte Sitz des Erzbischofs war, dem das Bistum Paris unterstand, ist der Beschluss des Kapitels vom Mittwoch den 14. April 1443 vor Ostern niedergelegt, daß während des Ostergottesdienstes in der Kathedrale nach der Tradition das Spiel auf dem Labyrinth gespielt werden soll (… qu’on y jouerait a volonte pendant le ceremonie  …).“ Dazu: Wright 2001, S. 308. Allerdings machen zwei Angaben stutzig:

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Zitat bereits vorher veröffentlicht zu haben, da sich Heinz Ladendorf im Wallraf-Richartz-Jahrbuch von 1963 auf Krönig beruft und die Passage leicht verändert zitiert, diesmal aber auf das Jahr 1413 datiert.51 Die Datierung auf 1413 bestätigt die ein Jahr später 1964 erschienene Publikation von Hélène Tremaud „Les Français jouent aux quilles“, die über die Pelotte berichtet: „On sait, en effet, que les ecclésiastiques, à cette époque, n’étaient pas ennemis des jeux exercices: ne jouaient-ils pas à la paume dans les monastères?; ne jouaient-ils pas à la pelote dans les cloîtres et, même dans les labyrinthes de certaines cathédrales, notamment à Auxerre, ainsi que le relate le Registre du Chapitre d’Auxerre qui indique: ‚Le mercredi avant Pâques, 19 avril 1413, il fut décidé que la pelote serait presentée selon la coutume, durant l’office de Pâques, dans la cathédrale, à l’endroit où est inscrit un labyrinthe circulaire, et qu’on y jouerait à volonté durant la cérémonie.‘“52

Tremauds Passage macht deutlich, dass es sich bei dem Beleg um die Pelotte von Auxerre handelt, Sens wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Ihr Auszug ist eine Zusammenfassung eines lateinischen Kapitelbeschlusses vom 19. April 1412, den bereits Lebeuf in seiner Stadtgeschichte Auxerres zitiert hatte.53 Die Verschiebung des Datums von 1412 auf 1413 erklärt sich damit, dass der 19. April, wie in der Quelle präzisiert, vor Ostern lag und nach der damaligen Zeitrechnung noch zum Jahr 1412 gehörte. Nach der Kalenderreform im 16. Jahrhundert, die den Jahresanfang von Ostern auf den 1. Januar verschob, wurde der 19. April 1412 dann zum 19. April 1413. Krönigs Fehler lag folglich darin, eine Beschreibung der Pelotte von Auxerre irrtümlicherweise auf Sens zu übertragen, was von Wright dann unbedacht übernommen wurde. Somit gibt es keinen Beleg dafür, dass es ein getanztes Ballspiel auf dem Labyrinth auch in Sens gegeben hat.

Krönig benutzt mit „le“ den falschen Artikel für das Wort „ceremonie“. Außerdem gibt er für den 14. April 1443 Mittwoch als Wochentag an, obwohl dieser Tag, da Ostersonntag auf den 21. April fiel, ebenfalls ein Sonntag sein musste. Auch die wegen der Schwierigkeit der Datierung durch die Kalenderreform in Betracht kommenden Jahre 1442 und 1444 scheiden aus, da der Ostertermin in beiden Jahren vor den 14.4. fiel, vgl. Bach 1907, S. 70–73. 51 Ladendorf 1963, S. 250, diesmal mit korrektem Artikel: „qu’on y jouerait à volonté pendant la cérémonie“, zitiert nach Zellmann 2007, S. 68. Zellmann weist bereits auf die Datierungsunterschiede hin und kritisiert Wrights sorglosen Umgang damit. 52 Tremaud 1964, S. 31, sie verweist auf die Archives départementales de l’Yonne, G 1798, avant dernier feuillet R. 53 Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 324.

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Mit diesen Erkenntnissen über die Quellenlage und den vorher herausgearbeiteten Ergebnissen über Zusammensetzung und Stellung der Kathedralkapitel sollen die Cazzole von Sens und die Pelotte von Auxerre genauer beleuchtet werden. Betrachtet werden dazu zunächst die Vorbilder und Motive für die Entstehung der Tänze im 13. und 14. Jahrhundert. Anschließend sollen beide Tänze als Initiationsrituale und dann die Umstände ihrer Abschaffung diskutiert werden.

5.1 Platon, der Tanz und das Labyrinth – Überlegungen zur Entstehung der Tänze in Sens und Auxerre In den Tanztraktaten des 16.  Jahrhunderts und der Tanzgeschichtsschreibung ab dem 17. Jahrhundert wurde immer wieder darauf verwiesen, dass die Befürworter den Tanz als Sinnbild des Sternenreigens und damit als Verehrung der göttlichen Allmacht und Harmonie ansahen. Häufig wurden diese Ansichten mit den Namen Pythagoras und Platon verknüpft. Ein Einfluss neuplatonischer Ideen bei den Autoren der Traktate erscheint wenig überraschend, gilt doch die Renaissance als die Epoche, in der die Platon-Rezeption wieder einsetzte, zumal die Forschung die Verbindung von neuplatonischer Philosophie mit Vorstellungen und Praktiken von Tanz vom 15. bis zum 17. Jahrhundert vielfach herausgearbeitet hat.54 Der daraus resultierende Einfluss mathematischer und geometrischer Muster auf die Tanztheorie und -praxis blieb für das 16.  und 17. Jahrhundert sehr bedeutsam. Die platonische Harmonielehre verlor ihre Bedeutung erst in der Zeit, als Tanz nicht mehr in erster Linie von Adeligen selbst ausgeführt wurde, sondern die Darbietungen von professionellen TänzerInnen in den Vordergrund rückten.55 In diesem Abschnitt sollen aber nun nicht diese Einflüsse nachgezeichnet werden, sondern es soll vielmehr gezeigt werden, dass eine Verbindung von Neuplatonismus und Tanz nicht nur in Antike und Renaissance, sondern auch im Hoch- und Spätmittelalter existierte.56 Die These lautet, dass die Transformation neuplatonischer Konzepte in einen christlichen Kontext in der Spätantike den mittelalterlichen Klerikern als Vorbild dazu diente, Tanz als Bestandteil von kosmischer und damit göttlicher Harmonie zu deuten und somit ein positives 54 Siehe dazu: Carter 1987, 1992, Berghaus 1992, Pont 2008, Schulze 2012, S. 43– 51. 55 Vgl. Carter 1992, S. 35 f. 56 Vgl. Rohmann 2013, S. 121, grundlegend zur mittelalterlichen Platonrezeption siehe: Klibansky 1950.

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Tanzverständnis zu entwickeln. Dabei soll gezeigt werden, dass die Rezeption pythagoräischer und platonischer Philosophie seit dem 12. Jahrhundert vor allem in den Kathedralschulen Frankreichs stattfand. Besonders die Schule von Chartres entwickelte sich dabei zu einem Zentrum, in dem die Verbindung von Musik und Mathematik den Zugang zum Verständnis der kosmischen Harmonie ermöglichen sollte. Dieses neuplatonische Gedankengut offenbarte sich nicht nur in vielfältiger literarischer Form, wie Kommentaren und Abhandlungen, sondern spiegelt sich auch in der Architektur der Kathedrale von Chartres wider. Der für das Christentum adaptierte Neuplatonimus brachte ab dem 12.  Jahrhundert Tanzpraktiken in den französischen Kathedralen hervor. Bei einigen Liturgikern dieser Zeit finden wir bereits Beschreibungen von Tänzen, die, teilweise mit einem Ballspiel kombiniert, von Bischöfen und Kanonikern an Ostern praktiziert wurden. Sie dienten – so die These – den Tänzen in Sens und Auxerre als Vorbild. Ergänzend dazu liefern die im selben Zeitraum dort wiederum nach dem Vorbild von Chartres entstandenen Labyrinthe weitere Erklärungsansätze, zumindest den Tanz in Auxerre in Zusammenhang mit dem christianisierten Theseusmythos zu bringen. Der spätmittelalterliche Tanz in den französischen Kathedralen basierte so auf der Rezeption antiker Vorstellungen der Sphärenharmonie, deren Grundlagen und christlichen Adaptionen deshalb zunächst thematisiert werden sollen.

5.1.1 Der „Kosmische Reigen“ und das Christentum Der Tanz spielt in der platonischen Philosophie, auch wenn dies in den meisten wissenschaftlichen Arbeiten dazu selten erwähnt wird, eine herausragende Rolle.57 Man könnte vielleicht dem Vorschlag von Graham Pont folgen, der bei Platon von einer „philosophy of dance“58 spricht und die vielfachen Bezüge von Musik und Tanz in dessen Gedanken nachweist. Innerhalb der griechischen Erziehung bildete die Einübung von Tänzen einen so essentiellen Bestandteil, dass Plato nicht zögerte, ungebildete Menschen als „achoreutos“ zu bezeichnen, eben als jene, denen es an Tanzfertigkeiten mangele.59 Platons Gedanken zum Tanz, 57 Für die Bedeutung von Tanz bei Platon und dessen Rezeption bis zur Spätantike und vereinzelt darüber hinaus liefern die Arbeiten von James L. Miller von 1979 und 1986 den besten Überblick, eine Zusammenfassung bietet Rohmann 2013, S. 109–133. 58 Pont 2008, S. 268. 59 Vgl. ebd., S. 267. Über die Vorzüge musischer Erziehung äußert er in seiner Politeia: „So ist also, mein Glaukon, fuhr ich fort, die Erziehung durch Musik darum die vorzüglichste, weil der Rhythmus und die Harmonie am meisten in das Innerste der Seele dringt und am stärksten sie erfaßt und Anstand bringt und anständig macht, wenn jemand darin richtig erzogen wird, – wo nicht, – das Gegenteil?“ (Platon, Der Staat, S. 162).

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wie er sie etwa im „Timaios“ und dem letzten Kapitel der „Politeia“ ausführt, stehen im Zusammenhang mit einer Vorstellung von der Harmonie des Kosmos.60 Platon beschreibt das Zusammenspiel der sich bewegenden Planeten als einen in perfekter Harmonie choreographierten kosmischen Tanz.61 Die Vorstellung vom Tanz der Gestirne und tanzenden Göttern ist keine Neuschöpfung des Philosophen, sondern bereits zu Platons Zeiten verbreitet gewesen. Dionysos etwa wurde vom Chor der Ältesten in Sophokles’ Antigone (442 v. Chr.) angerufen als: „Heil Dir, Chorführer Glut versprüh’nder Sterne, du Herr freudigen Gesangs bei Nacht“62. Die Bedeutung von Tanz innerhalb der platonischen Philosophie kann nur ermessen werden, wenn man den deutlichen Einfluss der pythagoräischen Schule anerkennt. Die Pythagoräer suchten die Harmonie des Kosmos in mathematischen Proportionen wiederzufinden, die aus der Kombination der Ziffern 1, 2, 3 und 4 bestanden.63 Diese Kombinationen bilden die Grundlage der pythagoräischen Musiktheorie, bei der die harmonische Musik der bewegten Himmelskörper ihre Entsprechung im geordneten Musizieren und Tanzen findet: „Also the harmonious and orderly motions in dance are related to the concord of the heavenly spheres and obey in their rhythmic structure the same numerical principles.“64 Dieses Verständnis ist in Platons Schriften deutlich wiederzufinden: „Wollte man aber die Reigentänze dieser Gestirne beschreiben und ihre gegenseitigen Bewegungen und wie ihre Kreise voreinander zurückweichen und wieder vorrücken und welche dieser Götter bei diesen Vereinigungen in nähere Berührung kommen und welche sich bloß gegenübertreten und hinter welchen anderen und zu welchen Zeiten sich einzelne jeweils voneinander und vor uns verbergen und dann wieder zum Vorschein kommen und dadurch bei denjenigen, die das nicht berechnen können Furcht erregen und ihnen künftige Ereignisse anzeigen – wenn man das erklären wollte, ohne davon wieder Nachbildungen zur Anschauung zu bringen, so wäre dies eine vergebliche Mühe.“65

Die im „Timaios“ vorgebrachte Idee des harmonischen Sternenreigens blieb über die ganze Antike bestehen. In der Tanzgeschichte wird dafür als prominentes Beispiel immer wieder auf Lukian von Samosatas „Peri Orcheos“ verwiesen, in dem sich folgende Passage im Dialog zwischen Lycinus und Kraton findet: 60 61 62 63 64 65

Vgl. Berghaus 1992, S. 47. Vgl. Carter 1987, S. 4. Antigone, V. 1146–48, Sophokles 1999, S. 77, vgl. Zimmermann 2007, S. 97. Vgl. Berghaus 1992, S. 44 f. Berghaus 1992, S. 45. Platon, Timaios, S. 40.

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„Denn was ist jener Reigen der Gestirne und jene regelmäßige Verflechtung der Planeten mit den Fixsternen und die gemeinsame Mensur und schöne Harmonie ihrer Bewegungen anders als Proben jenes uranfänglichen Tanzes.“66 Es ist der theaterbegeisterte Lycinus, der zur Verteidigung dieser Kunst ihren Ursprung aus dem Sternenreigen herleitet. Sein Dialogpartner Kraton dagegen sieht den körperlichen Nachvollzug vom Sphärenreigen in erster Linie als Ausdruck der mania an, eine Haltung, die auch Lukian von Samosata in einem anderen Werk durchblicken lässt.67 Wenn auch Lukian selbst vielleicht weniger Verfechter dieser Idee war, belegt die Passage aus seinem Werk zumindest, dass es durchaus Anhänger der Idee des Sphärenreigens gab. Eine intensivere Auseinandersetzung mit diesen Konzepten erfolgte dann mit der Ausbreitung des Neuplatonismus im 3.  Jahrhundert. In dieser Zeit wurde die neuplatonische Philosophie einerseits zum integralen Bestandteil des Kaiserkults,68 andererseits prägte sie in dieser Zeit auch das sich ausbreitende Christentum. Allerdings zeigen sich schon zu dieser Zeit verschiedene Strömungen und ambivalente Deutungen, aus denen Rohmann zwei grobe Tendenzen erkennbar macht: „Der Neoplatonismus des 3.  Jahrhunderts zerfällt also in zwei Richtungen: Während Plotinus und Porphyrius eine elitäre, philosophisch sublimierte Zuwendung zu den Göttern propagierten, stellte Jamblichus eine theologisch begründete Theorie der rituellen Kommunikation mit den höheren Mächten bereit. Diese Frontstellung in der neoplatonischen Lehre sollte auch in die christliche Rezeption eingehen: Die Frage, ob Gott und die himmlischen Heerscharen zumindest graduell für alle irdischen Menschen rituell zugänglich seien, ob das similia similibus der theurgischen Symboltheorie auch für den konkreten Nachvollzug der kosmischen Sphärenharmonie gelte, oder ob der diesseitige Gläubige sich vielmehr auf theologische Erkenntnis und meditative Schau beschränken müsse, sollte auch die Kirchenväter und die spätere Theologie beschäftigen.“69 Die Vorstellung der Kreisbewegung der Planeten als Ausdruck von kosmischer und damit göttlicher Harmonie wurde ab dem 2. Jahrhundert von christlichen Autoren rezipiert. Clemens von Alexandria (um 150–um 215) liefert als einer der ersten den Beleg dafür, wie neuplatonische Vorstellungen vom Sphärenreigen in christliche Glaubensvorstellungen und damit auch der Tanz in das Gebet integriert wurde: „[...] sed Dei filiae pulcherrimae agnae, quae veneranda 66 67 68 69

Lukian, Von der Tanzkunst, S. 429. Vgl. Rohmann 2013, S. 110. Vgl. ebd., S. 111. Ebd., S. 118.

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Verbi orgia concelebrant, sobrium instaurantes chorum. Chorum agunt viri justitia praecellentes. Canticum est hymnus regi totius rerum universitatis sacer.“70 Der in diesem Zusammenhang vorwiegend im griechischen Sprachraum verwendete Begriff χορός (lat. chorus) umfasste die enge Verbindung von Musik und Tanz und deren Bezug zur Musik und Bewegung der Gestirne.71 Bei vielen christlichen Autoren dieser Zeit findet sich der Lobpreis auf den Engelsreigen. Basilius von Caeserea (um 330–379) beschreibt den ewigen Reigen mit den Engeln und Heiligen im Himmel als Lohn für das Leiden, das die Christen auf Erden erfahren. Der in Aussicht gestellte paradiesische Tanz enthält aber ebenso eine Entsprechung auf Erden, wie er in seiner „Epistula ad Gregorium“ fragt: „Was könnte daher seeliger sein, als auf Erden den Tanz der Engel zu imitieren?“72 Während in der griechischsprachigen Kirche eine Weiterführung der Idee des kosmischen Reigens relativ schnell gelang,73 verlief diese Übertragung in der Westkirche nicht so unproblematisch. Das hängt zum einen mit einer generellen Kritik am Tanz im 3.  und 4.  Jahrhundert zusammen, die sowohl von heidnischen als auch von christlichen Autoren erfolgte. Eine restaurative Bewegung gegen das Christentum appellierte an die Idealvorstellung der republikanischen Zeit Roms, und konstruierte dabei die Vorstellung altrömischer Sittsamkeit und Strenge, in der Tanz als allein griechische Erscheinung konnotiert war.74 Macrobius, der in diesem Umfeld eine Geschichte der republikanischen Zeit schrieb, berichtet in dieser Argumentationsstruktur vom Verfall „römischer“ Sitten durch Tanzschulen: „Damals fingen Freigeborene, was sage ich: Freigeborene, sogar die Söhne von Senatoren an, die Tanzschulen zu besuchen, und lernten dort, mit Kastagnetten zu tanzen. Schweigen will ich davon, daß auch Matronen das Tanzen nicht für unehrenhaft ansahen. Daß aber die Söhne von Vornehmen, sogar – schrecklich aber wahr – ihre Töchter und Jungfrauen zu den Tanzschülern zählten, bezeugt Scipio Aemilianus Africanus, der es tadelt, daß Mädchen und Knaben aus vornehmen Hause mit Weichlingen in die Tanzschule gehen.“75 Außerdem entstand in der Westkirche gegen das im Osten prominente Bild des Engelsreigens Kritik, da die tanzenden Heerscharen dem Gefolge der al70 Clemens von Alexandria, Cohortatio ad gentes, cap.  12, zitiert nach Zimmermann 2007, S. 100. 71 Vgl. Hammerstein 1962, S. 26. 72 „Quid itaque beatius esse poterit quam in terra tripudium angelorum imitari?“, zitiert nach: Sahlin 1940, S. 138. 73 Vgl. dazu: Meyer-Baer 1970, S. 36. 74 Vgl. Andresen 1974, S. 371 ff. 75 Macrobius, Saturnalia III/14,7, dt. Übersetzung: Andresen 1974, S. 373.

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ten Götter zu ähnlich schienen und deshalb unter dem Verdacht standen, eine heidnische Restauration zu bewirken.76 Im Verlauf des 4. Jahrhunderts ließ die Kritik mit der Ausbreitung der Kirche nach und der kosmische Tanz fand seine Entsprechung im chorus angelicus, dem Gott mit Musik und Tanz preisenden Engelschor.77 Nachdem der kosmische Tanz in scharfer Abgrenzung zum profanen Tanz seinen Einzug in die christliche Lehre gefunden hatte, entstand auch das Bild, „dass die Kirche selbst ein spiritueller Reigen um den Höchsten sei.“78 Es waren vor allem drei Autoren, welche die Vorstellung vom kosmischen Reigen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter aufgriffen und im Hochmittelalter als Referenzen dazu gelesen wurden. Zum einen Augustinus (354–430), der zwar als Bischof von Hippo sehr deutlich gegen Tanzpraktiken an Feiertagen und im Kirchenraum vorging, andererseits in der noch vor seiner Konversion verfassten Schrift „De Musica“ eine ästhetisch-philosophische Betrachtung über die Musik vorgelegt hat. Neben ihm ist Boëthius (480–524/25) die wichtigste Quelle für die mittelalterliche Musiktheorie. Auch in seinen Werken wird die neuplatonische Vorstellung vom Reigen der Gestirne transportiert, obwohl dies viel weniger offensichtlich geschieht. Vor allem aber hat Pseudo-Dionysius (um 500) mit dem Bild der Engelschöre, die um den Schöpfer kreisen, die Platonrezeption für das Mittelalter geprägt.79 Augustinus’ Schrift „De Musica“ war an den Kathedralschulen und Universitäten des Mittelalters ein, wenn nicht sogar das Standardwerk der Musiklehre. Es sollte Bestandteil einer umfassenden Darstellung aller sieben freien Künste werden, von denen außer dem Werk zur Grammatik jedoch kein Buch vollendet wurde. Augustinus hatte die Arbeit an seinem musiktheoretischen Werk noch vor seinem im späteren „De confessione“ ausführlich geschilderten Bekehrungserlebnis begonnen, als er noch Rhetor in Mailand war. Zu dieser Zeit war er noch besonders stark von der platonischen und neuplatonischen Philosophie beeinflusst80 und spricht von der Musik „als jener verehrungswürdigen und fast göttlichen Lehre, die man mit Recht Pythagoras zuschreibt“81. Nur das letzte Buch seines in sechs Bücher unterteilten Werkes ist am Ende seines Lebens noch einmal überarbeitet worden und fasst seine Ausführungen nun in Bezug auf eine christlich-theologische Lehre zusammen. 76 77 78 79 80 81

Vgl. Meyer-Baer 1970, S. 37 f. Siehe dazu: Zimmermann 2007, S. 98. Rohmann 2013, S. 126. Vgl. Berghaus 1992, S. 48, Hammerstein 1962, S. 116–131. Vgl. Hentschel 2002, S. VIII–IX. Hummel 2007, S. 12.

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Augustinus widmet sich der Musik als einer der sieben Künste und grenzt sie von der alltäglichen Musikpraxis der Histrionen ab. Mit der Trennung von ars musica und musica mundana zeichnet sich ein im gesamten Mittelalter immer wieder aufgegriffenes Thema ab.82 Augustinus fokussiert die ars musica dabei vor allem auf den Rhythmus, auf die auf Zahlverhältnisse zurückzuführenden Bewegungen, und formuliert die Idee, dass die menschliche und himmlische Harmonie über die Musik zusammenhingen und eine Verbindung zwischen beiden Sphären hergestellt werden könne.83 Der Tanz ist für Augustinus demnach eine rhythmische Bewegung, die nur dann als Kunst gelten kann, wenn sie nach mathematisch-harmonischen Prinzipien aufgebaut ist: „Wenn jemand die Glieder aber zu keinem anderen Zweck bewegte, als um sie schön und anmutig zu bewegen, dann würden wir doch wohl sagen, er tue nichts anderes als zu tanzen, nicht wahr?“84 Diese harmonische Ordnung hat die Musik mit den Planetenbewegungen gemeinsam, wie Augustinus ausführt: „In der Musik, der Geometrie, in den Bewegungen der Gestirne und in den Zahlenverbindungen herrscht vollends die Ordnung so, dass wer an ihre Quelle kommen, wer ihr Innerstes zu sehen wünscht, in ihnen sie findet oder durch sie irrtumslos geleitet wird.“85 Die Deutung von Tanz als Ausdrucksform einer harmonischen Ordnung wird durch Augustinus auch über die platonische Vorstellung von den Bewegungen der Gestirne in das christliche Mittelalter übertragen. Er löst die Musik zudem aus einer allein spekulativ-wissenschaftlichen Betrachtung heraus und eröffnet Verbindungen zu Frömmigkeitspraktiken. Insbesondere bei seinen Ausführungen zum Jubilus, dem Lobpreis Gottes, liefert er Ansätze für Formen von Musik in Frömmigkeit und liturgischer Praxis. Die Christen sind aufgerufen, Gott mit Musik zu preisen und ihn im liturgischen Gesang zu loben.86 Erst in Augustinus’ späteren Schriften, in denen das Tanzen vor allem als heidnische Praktik oder als Ausdruck der luxuria behandelt wird, zeichnet sich eine deutlich tanzkritischere Haltung ab. Augustinus setzt sich darin vehement dafür ein, Tänze aus den Kirchen zu verbannen. Allerdings lässt er in den späteren Überar-

82 Vgl. Hammerstein 1962, S. 120 ff. 83 Vgl. Meyer-Baer 1970, S. 41, Hentschel 2002, S. XV–XVI. 84 Augustinus 2002, S. 11: „Quid, si membra non ob aliud moveret, nisi ut pulchre ac decore moverentur, eum facere aliud nisi saltare diceremus?“ 85 Hummel 2007, S. 12. 86 Vgl. Hammerstein 1962, S. 120 f. Der lateinische Begriff „tripudium“ beinhaltet die beiden Bedeutungen Jubel und Tanz, deren Grenzen fließend scheinen, vgl. La  Rue 1995, S. 25–29.

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beitungen seiner Frühschriften, den „Retractationes“, seine dortigen Ausführungen zum Tanz bestehen.87 Über Boëthius gelangte im 6.  Jahrhundert das heidnisch-neuplatonische Denken aus dem griechischen Raum in das gotische Königreich in Italien, das eng in den Kommunikationsraum des Mittelmeers eingebunden war. Möglicherweise war Boëthius selbst zu Studien nach Alexandria gereist oder über seinen Schwiegervater Symmachus mit den Schriften von Macrobius und Proklos vertraut gemacht worden, in jedem Fall finden sich deren Einflüsse in seinem Werk „De Consolatione philosophiae“.88 Bis ins 13. Jahrhundert war Boëthius’ im klassischen Latein geschriebenes Werk die einzige Möglichkeit, die Philosophie von Proklos ohne vorherige christliche Interpretation zu bekommen. Darin verweist er wiederholt auf Platon, ohne allerdings seine Hauptquellen, eben jenen Platonkommentar des Proklos und Macrobius’ Adaption von Jamblichius, namentlich zu erwähnen. Dass in Boëthius’ Werk auch die Idee des Sphärenreigens thematisiert wird, erschließt sich häufig erst auf den zweiten Blick, da der Begriff „chorea“ darin nirgendwo vorkommt.89 Allerdings findet sich im dritten Buch von „De consolatione“ der Ausdruck „lustrare“. Wie Miller ausführt, entspricht das Verb „lustrare“ dem Griechischen „perichoreuein“ in den Platonkommentaren von Proklos: „‚lustrare‘ took on the meaning ‚to purify through ritual encirclement‘ and later ‚to encircle for the close examination‘ because the priest as a lustral sacrifice was accustomed to process or dance around the person or object to be purified.“90 Das im Mittelalter als Schulbuch gelesene musiktheoretische Werk „De institutione musica“ enthält ebenfalls Ausführungen zur Sphärenharmonie. Boëthius unterscheidet darin – wie viele Autoren bereits vor ihm – drei Arten von Musik: die Musik des Weltalls (musica mundana), die menschliche Musik (musica humana) und die Instrumentalmusik (musica instrumentalis).91 Die Musik des Weltalls ist nach ihm der Klang der sich bewegenden Planeten, da alles, was sich bewege auch einen Ton erzeuge. Die musica humana, der harmonische Klang des Monochords, fungiert dabei als Bindeglied zwischen der Musik

87 Siehe Mayer, Conrad, Tanz und Tanzen bei Augustinus, Zentrum für Augustinusforschung in Würzburg, http://www.kirchenserver.net/bwo/dcms/sites/bistum/extern/ zfa/texteueber/vortragbeitrag/tanz.html [Eingesehen am 30.09.2015]. 88 Vgl. Miller 1986, S. 475 f. 89 Vgl. ebd., S. 478. 90 Ebd., S. 479. Miller verweist auf eine Stelle in Virgils Äneis, in der es heißt: „adgnoscunt longe regem lustrantque choreis“, ebd. 91 Vgl. Boëthius 1872, S. 7.

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der Planeten und der irdischen Welt.“92 Inwiefern Musik und mit ihr Tanz zur Verbindung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos dienen konnte, beschäftigte zur selben Zeit mit Pseudo-Dionysius noch einen weiteren neuplatonisch beeinflussten Autor. Der unbekannte Autor wählte das Pseudonym Dionysius Areopagita, den Namen eines von Paulus bekehrten Griechen aus der Apostelgeschichte, und datierte damit seine um 500 n. Chr. verfassten Werke rund 450 Jahre zurück. Sein Opus basiert jedoch nicht auf paulinischem Gedankengut, sondern beinhaltet eine Zusammenführung der theologischen Werke Gregors von Nyssa (um 335– nach 394) mit den kosmologischen Schriften des Leiters der Akademie in Athen, Proklos (412–485).93 Trotz Zweifeln an der Echtheit, die bereits im 6. Jahrhundert aufkamen, wurde Dionysius im Mittelalter weitgehend als Zeitgenosse von Paulus anerkannt. Als Paulus’ Weggefährte, der dessen himmlische Visionen detailgetreu wiedergegeben habe, galt Dionysius als namhafte Autorität in der Scholastik, dessen Schriften über die himmlischen Heerscharen nicht in Zweifel gezogen wurden. Ihm gelang es, die kosmischen Bewegungen der Gestirne in eine Kreisbewegung der himmlischen Heerscharen um Gott zu transferieren, so dass die heidnische Herkunft dieses Bildes in Vergessenheit geriet.94 Dionysius unterteilte die himmlischen Heerscharen in neun hierarchisch geordnete Stufen, beginnend bei den Seraphinen bis hin zu den Angeli. Da aber alle Gruppen wie die Glieder einer Kette oder die Sprossen einer Leiter miteinander verbunden sind, erhalten auch die unteren Ränge Einblicke in die Erleuchtung der Oberen,95 da sie im ständigen Reigen Gott als Zentrum der Erkenntnis umtanzen: „Denn jenes Kreisen der Engel ist die ewige Erkenntnis Gottes, die in ihrer ewigen Kreisbewegung in ihm ruht […]“96. Pseudo-Dionysius erläuterte, dass es für die Geistlichen die Möglichkeit gäbe, eine engelsgleiche Einsicht in das Mysterium Gottes zu bekommen, wenn sie in der Kontemplation diese Leiter erklimmen und am Tanz der Engel teilnehmen würden.97 Während Pseudo-Dionysius diesen Reigen vor allem als geistigen Tanz deutete, bei dem der Körper unbewegt bleibt, wagten spätere Rezipienten den Versuch, den gesungenen und getanzten Lobpreis der Engel auch auf Erden zu imitieren. Auch Pseudo-Dionysius’ „De hierarchia ecclesiastica“ enthielt mit der Beschreibung einer Prozession 92 93 94 95 96 97

Vgl. Bragard 1929, S. 208. Vgl. Rohmann 2013, S. 123. Vgl. Miller 1986, S. 489 f. Dazu: Hammerstein 1962, S. 26 ff. Dionysius Areopagita 1857, Sp. 231. Vgl. Miller 1986, S. 495.

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(circuitus), bei welcher der Bischof vom Altar zum Kirchenschiff schritt und die Gemeinde umkreiste, bereits eine liturgische Nachahmung des Engelsreigens.98 Eine Übersetzung der Schriften des Pseudo-Dionysius ins Lateinische wurde bereits in der Karolingerzeit durch Johannes Scotus vorgenommen. Sie fand in den gelehrten Zentren des Frankenreichs rasch Verbreitung.99 Die Schriften von Pseudo-Dionysius wurden dann im Mittelalter ebenso wie die Werke des Boëthius und natürlich des Augustinus zur Grundlage der mittelalterlichen Theologie. Die Musiklehren von Augustinus und Boëthius wurden nicht nur zur Basislektüre an den Artes-Fakultäten der Universitäten, sondern prägten bereits vorher die Lehre an den Kathedralschulen. Dadurch wurde die neuplatonische Idee des kosmischen Reigens auch im Mittelalter weiter rezipiert. Rezeption in den Kathedralschulen Die Wiederentdeckung von Platons Gesamtwerk durch die Übertragungen von Marsilio Ficino (1433–1499) löste eine erneute Platon-Rezeption in Italien aus, die dann auf andere europäische Länder überging. Ficino, der ebenfalls die Werke von Plotin und „Die göttlichen Namen“ von Pseudo-Dionysius in das Lateinische übersetzte, machte darüber hinaus die grundlegenden neuplatonischen Vorstellungen der Antike zugänglich, welche eine wichtige Grundlage für Philosophie, Ästhetik und Politiktheorie der Renaissance darstellten.100 Die damit verbundene Annahme, dass das Mittelalter Platon nicht gekannt habe, wird in der jüngeren Forschung jedoch angezweifelt und stattdessen auf eine frühere Auseinandersetzung mit Platons Schriften innerhalb der süddeutschen und französischen Kathedralschulen hingewiesen.101 Bevor die Universität von Paris, und mit ihr die Verbreitung des Aristotelismus, das geistige Zentrum Frankreichs und Europas wurde, bildeten die großen Klöster und die Kathedralschulen der Bischofssitze die wichtigsten Stätten von Wissensgenerierung und -transfer im christlichen Mittelalter. Es scheint auch beachtenswert, dass bis in das 16. Jahrhundert in den Städten mit bedeutenden Kathedralschulen wie Reims, Rouen, Sens, Laon und Chartres keine Universitäten entstanden. Spätestens ab dem Ende des 11.  Jahrhunderts fand an den süddeutschen und französischen Kloster- und Kathedralschulen eine erneute intensive Aus98 99 100 101

Vgl. ebd., S. 513–519. Vgl. Zimmermann 2007, S. 106. Siehe: Berghaus 1992, S. 48 f. Vgl. Rohmann 2013, S. 124, der dort eine kontinuierliche Rezeption von PseudoDionysius vom 9.  bis zum 15.  Jahrhundert andeutet. Siehe ebenso: Gersh 2002, S. 3–31.

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einandersetzung mit Ideen des Neuplatonismus statt.102 Rezipiert wurde neben den Schriften von Augustinus, Boëthius und Dionysius Areopagita auch Platons „Timaios“ in griechischer Sprache oder den fragmentarischen lateinischen Übersetzungen von Chalcidius und Cicero. Außerdem wurde auf Kommentare von jüdischen und arabischen Gelehrten zurückgegriffen.103 Das 12.  Jahrhundert stellt in vielerlei Hinsicht den Höhepunkt der mittelalterlichen Platonrezeption dar, was sich auch in der Anzahl der Timaios-Abschriften in dieser Zeit widerspiegelt.104 Wie weit das neuplatonische Gedankengut zu dieser Zeit verbreitet war, offenbart eine Schrift von Richard von St. Viktor (um 1110–1173). Er nimmt darin die Idee, den Tanz der Engel nachzuahmen, auf und fordert zum geistlichen Tanz auf: „Spirituales itaque, non corporales saltus in hac prophetica sententia quaeramus, et quales denique decebat vel Spiritum sanctum docere, vel prophetam describere. Corporalis saltus, est totum corpus a terra suspendere. Spiritualis saltus, spiritum et totum quod spiritus est a terrenis alienare. Corporalis saltus, est terrae tactum usquequaque deserere, et totius corporis membra per iane librare. Spiritualis saltus est mente excedere, et infimis in imo relictis in invisibilium contemplationem totum transire.“105 Richard differenziert deutlich zwischen körperlichem und geistlichem Tanz. Beim körperlichen Tanz verlasse der Körper des Tänzers im Sprung den Boden, um letztlich aber wieder darauf aufzusetzen. Der geistliche Tanz hingegen bedeute, alles Irdische zurückzulassen und in einer unsichtbaren und damit unbewegten Kontemplation zu versinken.106 Eine Auseinandersetzung mit dem platonischen Bild des Sphärenreigens durchzieht auch den im 13. Jahrhundert entstandenen „Roman de la rose“. Das Werk ist ein Traumgedicht in mehr als 20.000 Versen, das von Guillaume de Loris um 1220 begonnen und zwischen 1270 und 1280 von Jean de Meun vollendet wurde. Während über den ersten Verfasser außer seiner Herkunft aus der Nähe von Orléans nichts bekannt ist, lässt sich nachweisen, dass Jean de Meun als Magister der Pariser Artesfakultät an der Sorbonne studiert hat. Gerade er lässt in das Werk aktuelle theologische und philosophische Fragen, wie sie an den Kathedralschulen und der Pariser Sorbonne erörtert werden, einfließen. 102 Vgl. McCarthy 2009, S. 148 ff. 103 Vgl. Klibansky 1950, S. 28. Platons Philosophie war für arabische und jüdische Gelehrte jedoch viel weniger wichtig, die sich schon früher stärker auf Aristoteles bezogen, vgl. Ricklin 2002, S. 161 ff. 104 Vgl. Ricklin 2002, S. 139 ff. 105 Richard von St. Victor 1855, Sp. 338. 106 Vgl. Zimmermann 2007, S. 129 f.

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Das von Guillaume begonnene, das ganze Gedicht durchziehende Tanzmotiv erweitert er um neuplatonische Vorstellungen. Insbesondere die Figur des „Genius“ lässt Reflexionen über den heiligen Reigen, der um die Dreifaltigkeit kreist, und den Teufelstanz einfließen.107 Der Rosenroman spiegelt somit wider, dass die Vorstellung des Sphärenreigens und seine christliche Adaption in den Engelsreigen ein bekanntes Bild in den gelehrten Kreisen des Pariser Beckens war. Insbesondere die Kathedralschule von Chartres, aus deren Schriften Jean de Meun die Figur des „Genius“ übernommen hat, entwickelte sich im Hochmittelalter zum Lehrort dieser Gedanken und wurde damit zum Mittelpunkt der christlichen Plato-Rezeption. Die Kathedralschule von Chartres stellte eines der bedeutendsten geistlichen Zentren des Hochmittelalters dar. Die Lehrer der Schule, die so genannten „Meister von Chartres“, prägten den philosophischen und theologischen Diskurs des 12.  Jahrhunderts entscheidend. Auch die von Richard Southern vorgebrachte Kritik an der einseitigen räumlichen Fixierung auf Chartres, da aus den Quellen nicht hervorgehe, ob die genannten Gelehrten ausschließlich bzw. überhaupt in Chartres lehrten, konnte weitestgehend von der Forschung widerlegt werden. Eine intensivere Beschäftigung mit den Lehrmeistern hat zwar eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen neuplatonischen Strömungen in Chartres hervorgebracht, den Aufenthalt der Lehrer in Chartres aber zugleich bestätigt.108 Aus der Zusammenführung von Metaphysik, Naturphilosophie und Theologie schufen die Lehrmeister nicht nur eine neue Anthropologie, die den Menschen in den Mittelpunkt stellte, sondern auch eine platonisch inspirierte Theologie.109 Allen Meistern von Chartres ging es darum, die Harmonie des Kosmos zu ergründen und dem Menschen die verloren gegangene Partizipation an der musica humana wieder zu ermöglichen.110 Der Unterricht in der Kathedralschule von Chartres orientierte sich mit der Hervorhebung des Quadriviums an den idealen Lehrfächern aus Platons Staat: Arithmetik, Geometrie und die pythagoreischen „Schwesterwissenschaften“ Musik und Astronomie, die den Menschen zur Philosophie führen sollen.111 Bereits Boëthius und Isidor von Sevilla (um 560–636) hatten dem Quadrivium einen Ehrenplatz zugewiesen, so dass im 12. Jahrhundert nicht nur in Chartres das Trivium dem Quadrivium häufig 107 108 109 110 111

Dazu ausführlicher: Miller 1979, S. 518–581. Vgl. Bezner 2002, S. 105, Lemoine 2004, S. XI–XIII. Dazu: Bezner 2002, S. 106. Vgl. Wetherbee 1972, S. 6 ff. Vgl. Hummel 2007, S. 32.

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untergeordnet wurde.112 Der Musik und damit auch dem Tanz wurde somit eine größere Bedeutung zugemessen als der Rhetorik. „It is impossible to exaggerate the importance of the Timaean cosmos as a model for Chartrian thought“113, urteilt Winthrop Wetherbee in seiner Einführung zur hochmittelalterlichen Platonrezeption. Und in der Tat zeigen sich in der Auswahl der Themen der Meister von Chartres ständig Bezüge zum Werk Platons, vor allem zum „Timaios“. Thierry von Chartres (um 1085–1155) zeigte sich etwa besonders an Platons Übernahme pythagoreischer Thesen interessiert. Er griff vor allem die Verbindung von Mathematik und Musik, die in ihrer Kombination einen Zugang zur Harmonie erlaubten, oder die Idee der sich im Reigen bewegenden Planeten, die er Platons „Timaios“ entnommen hatte, wieder auf.114 Thierrys Lehrbuch über die sieben freien Künste wurde ein viel gelesenes Standardwerk. In einer Widmung, die ein Übersetzer von Ptolemaios’ astronomischem Werk an Thierry richtete, heißt es: „Dir, Thierry, mein emsiger Meister, in dem ohne Zweifel Platons Seele wiedergeboren wurde.“115 Einen Bezug zur platonischen und pythagoreischen Sphärenharmonie offenbart auch der Poet, Theologe und Naturphilosoph Alanus ab Insulis (um 1120– 1202) in seinem Hauptwerk „Anticlaudian“. Darin wird auf dem Konzil der Tugenden unter der Leitung der „Natura“ beschlossen, dass die sieben freien Künste einen Wagen bauen, um durch die Sphären des Universums zu Gott zu reisen. In diesem Bild beschreibt er, wie die Sphärenmusik Mikro- und Makrokosmos verbinden kann: „Zeiget in mancher Figur, was die Musik alles könne: Mit welchen Bändern und welchen Knoten sie alles verbinde, Welche die Arten der Kunst: die Musik die Stunden vereinigt, Monate unterscheidet, die Jahreszeiten verteilet, Die Elemente verknüpft, der Planeten Kreise verbindet, Sterne bewegt, ihren Lauf verändert; und welche Musik die Glieder des menschlichen Leibes verknüpft und den Mikrokosmos ordnet und ihn mit dem Glanz des Mokrokosmos [sic] beschenket; […].“116

Der Einfluss der platonischen Lehre ist auch bei anderen Lehrern der Schule, wie beim Schüler Thierrys, Bernardus Silvestris, nachzuweisen, der 1156 zu ihrem Kanzler ernannt wurde. Er gibt in einer seiner Schriften an, einen Kommentar 112 113 114 115 116

Vgl. Lévis-Godechot 1988, S. 18. Wetherbee 1972, S. 29. Vgl. Lévis-Godechot 1988, S. 24, Lemoine 2004, S. 131–135. Hummel 2007, S. 43. Insulis, Anticlaudian, zitiert nach: Hummel 2007, S. 36.

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zum „Timaios“ verfasst zu haben, der allerdings nicht überliefert ist. Anspielungen auf diese Schrift Platons durchziehen aber auch sein Epos „Mathematicus“. In seiner um 1148 entstandenen „Cosmographia“ lässt er bei der Diskussion, welchen Einfluss die Sterne auf den Menschen haben, einfließen: „In causas rerum sentit Plato.“ – „Wo immer es um die Ursachen der Dinge geht, entscheidet Platon.“117 Einen „Timaioskommentar“, der die Zeit überdauert hat, verfasste Guillaume de  Conches (1080–1154), der ebenfalls in Chartres lehrte.118 Die Liste der Autoren, die sich mit Platon beschäftigen, ließe sich fortsetzen, wenn man etwa die Schriften des Johannes von Salisbury (um 1115–1180), der in seinem „Policraticus“ ein Porträt der Denkweise Platons entwirft, oder Bernhard von Chartres († nach 1124) genauer betrachten würde.119 Deutlich wird, dass Platons „Timaios“ und die Philosophie des Pythagoras eine wichtige Grundlage für die Philosophie der Schule von Chartres bilden. Vor allem die musikalisch-numerische Ordnung des Kosmos und die Frage, in welcher Weise die Menschen an dieser Harmonie partizipieren konnten, beschäftigten die Meister von Chartres. Die Beziehung zwischen Musik und Kosmos prägte jedoch nicht nur ihre Werke, sondern fand ihren sichtbaren Ausdruck in dieser Zeit auch in der Architektur der Kathedrale ihrer Stadt. Architektur der Kathedrale von Chartres Die Architektur von Chartres und allgemein die der gotischen Kathedralen fasziniert die Forschung seit vielen Jahren.120 Im Fokus steht neben dem Lichteinfall durch die hohen Fenster auch die Architektur der Kathedrale als Klangraum oder die Musiker- und Musikdarstellungen in der Plastik und den Fenstern. Der gotische Bau entstand nach 1192, als ein Stadtbrand die romanische Kathedrale fasst vollständig zerstört hatte. Die Architektur der Kathedrale, ihre Symmetrie und mathematische Proportion spiegeln das Gedankengut der Schule von Chartres und damit die Harmonie des Kosmos wider. Bei den über 10.000 Plastiken, welche die Kathedrale säumen, mag es nicht verwundern, dass auch der griechische Mathematiker Pythagoras darunter abgebildet ist. Dass er allerdings an so prominenter Stelle, am Haupteingang der Kirche im Westportal, in Stein gemeißelt wurde, erlaubt einige Rückschlüsse über seine Bedeutung.121 117 118 119 120

Ricklin 2002, S. 151. Vgl. Lemoine 2004, S. 7–118. Vgl. Hummel 2007, S. 44 f., Bezner 2002, S. 123–131, Lemoine 2004, S. 1–5. Aus der reichhaltigen Literatur zur Kathedrale von Chartres sei nur verwiesen auf: Meulen 1984, Büchsel 1995, Hummel 2007. 121 Die Interpretation der Pythagorasdarstellung folgt dem Buch von Charles Hummel, Pythagoras und die Meister von Chartres, Darmstadt 2007, besonders S. 28–33, zur

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Über dem rechten Eingangstor im dreiteiligen Westportal, das auch als Königsportal bezeichnet wird, da die französischen Könige dadurch in die Kathedrale einzogen, findet man eine Darstellung der sieben freien Künste. Ihnen widmeten, wie wir gesehen haben, die Meister von Chartres Thierry von Chartres und Alanus ab Insulis bedeutende Schriften. Über dem Portal, das zu Lebzeiten der beiden Autoren im 12. Jahrhundert errichtet wurde, sind die Künste als sieben Frauen abgebildet, denen jeweils ein für die Kunst bedeutsamer antiker Philosoph zugeordnet ist. Es handelt sich um Aristoteles für die Dialektik, Cicero für die Rhetorik, Euklid für die Geometrie, Boëthius für Arithmetik, Ptolemäus für die Astronomie, Priscianus (oder Donatus) für die Grammatik und Pythagoras für die Musik. Während die sechs ersten Künste sich in der äußeren Archivolte befinden, ist allein Pythagoras in der inneren Archivolte platziert, wo ansonsten nur Engel und die Tierkreiszeichen Zwilling und Fische122 in Stein gemeißelt sind. Pythagoras und der Musik wird damit zweifelsfrei eine Sonderstellung zugewiesen. Sie befinden sich näher an der in der Mitte dargestellten Madonna mit dem Jesuskind, an einem Platz, der sonst den Engeln vorbehalten ist. Die Frauenfigur der Musik schlägt ein Glockenspiel und trägt eine Zither und ein Monochord bei sich, alles Instrumente, die eine mathematische Modulation der Töne erlauben. Das Monochord ist zudem eben jenes Instrument, das Pythagoras als Mittler der Sphärenmusik für die Menschen bezeichnete.123 Es spricht somit einiges dafür, die Darstellung als heiligen Reigen der Engel, der um die göttliche Mitte kreist, zu deuten. Diese Deutung unterstützen auch die Darstellungen im Mittelportal, bei denen der thronende Jesus der Apokalypse von den 24 Ältesten umgeben ist, die alle mit Musikinstrumenten in den Händen die Sphärenharmonie singend und spielend erklingen lassen. Es handelt sich um ein Motiv, das in mittelalterlichen Musiktraktaten auftaucht, um die Gottgefälligkeit der Musik zu unterstreichen.124 Nachdem gezeigt worden ist, welche herausragende Rolle die Musik sowohl in der bildnerischen Darstellung der Kathedrale als auch in den Schriften der Gelehrten einnimmt, stellt sich die Frage, inwiefern diese Ergebnisse auf andere Kathedralschulen übertragen werden können. Die Existenz derartiger Schulen lässt sich für Auxerre und Sens sicher belegen, allerdings ist die Quellenlage für Darstellung siehe auch: Evers 2011, S. 80–86, 97–101. 122 Die restlichen 10 Tierkreiszeichen sind in den Archivolten des linken Eingangsportals zu finden. 123 Vgl. Batschelet-Massini 1978, S. 61. 124 Vgl. Hammerstein 1962, S. 124–128, Hummel 2007, S. 61.

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beide Orte deutlich schlechter.125 Einzelne Zeugnisse aus dem späten 11. Jahrhundert – in Sens wird von einem „Scholasticus Varenius“ berichtet oder der Kanoniker Hugo als eifriger Lehrmeister gerühmt126 – deuten auf einen Schulbetrieb zu dieser Zeit hin. 1176 bestätigte dann der Erzbischof dem Préchantre des Kapitels die Leitung über das gesamte Schulsystem in der Stadt.127 Eine Darstellung von Platon in der Kathedrale von Sens, die um 1200 entstanden ist,128 könnte dementsprechend als Beleg für eine Rezeption seiner Schriften interpretiert werden, allerdings sind diese Bruchstücke allein wenig aussagekräftig. In Auxerre, wo neben Ferrières die bedeutendste Schule der Kirchenprovinz Sens in der Karolingerzeit bestand, lässt sich eine Rezeption der Werke von Johannes Scotus schon seit dieser Zeit nachweisen.129 Auch Schriften von Boëthius und Martianus Cappellas Werk über die sieben freien Künste wurden von den gelehrten Lehrern, vor allem von Heiric von Auxerre († nach 875), einem Schüler von Johannes Scotus, und dessen Nachfolger Remigius von Auxerre († 908), an der Klosterschule von St. Germain kommentiert.130 Damit war die Klosterschule von Auxerre zweifellos ein wichtiges Zentrum des Neuplatonismus im 9. und 10. Jahrhundert, über spätere Rezeptionsleistungen im Hochmittelalter an der Klosterschule oder der örtlichen Kathedralschule ist jedoch so gut wie nichts bekannt. Lediglich über Gilbert von Auxerre, der um 1100 Erzdiakon und Lehrer an der Kathedralschule von Auxerre war, erfahren wir, dass er dort das Trivium unterrichtete. Zu dieser Zeit war die Kathedralschule der Stadt bereits wesentlich bedeutender als die Klosterschule von St. Germain und stand in enger Verbindung mit der angesehenen Domschule von Laon.131 Sollte auch für Sens und Auxerre eine Auseinandersetzung mit den neuplatonischen Vorstellungen nachgewiesen werden, bleibt dennoch die Frage, ob eine textliche und bildnerische Beschäftigung mit dem Tanz Schlüsse auf eine tänze125 Die wenigen Informationen liefern: Jeauneau 1972, S. 509–522, Marenbon 1981, passim, Riché 1989, S. 107 f., 141 ff., Knipp 2002, S. 377 f., Plein 2005, S. 134 ff., Andrée 2005, passim. 126 Vgl. Plein 2005, S. 134 f. 127 „Guillelmus Dei gratia Senonensis archiepiscopus, sedis apostolicae legatus, dilecto filio Gaufrido Senonensis ecclesiae praecentori in perpetuum … dignitatem scholarum quae ad jus praecentoriae pertinent … ut nulli liceat nisi assensu & licentia praecentoris scholas cujuscumque modi sint regere, sive in arte grammatica edocenda, sive in cantu, sive in psalteriis edocendis in civitate Senonesi, nec in burgo S. Petri vivi, nec in aliquo suburbio praedictae civitatis, nec in aliquo loco usque ad castella determinata, quorum nomina haec sunt …“, Gallia Christiana 1770, Bd. 12, Instrumenta, Sp. 53. 128 Dazu: Knipp 2002, S. 377 f., 401. 129 Vgl. Riché 1989, S. 107 f. 130 Vgl. Marenbon 1981, S. 117, siehe auch: Lebeuf 1741, S. 8. 131 Vgl. Andrée 2005, S. 24.

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rische Praxis zulässt. In welcher Weise kann die Rezeption von neuplatonischen Konzepten an der Kathedralschule von Chartres um 1200 Erklärungsmöglichkeiten für tänzerische Praktiken in der dortigen Kathedrale oder der von Sens und Auxerre seit dem 14. Jahrhundert liefern? Eine mögliche Verbindungslinie zu den sich im 12.  Jahrhundert ereigneten Tanzpraktiken von Geistlichen im Kirchenraum, auf denen die dortigen Tänze aufbauen konnten, verraten uns die liturgischen Handbücher dieser Zeit.

5.1.2 Spiel und Tanz bei den Liturgikern des 12. und 13. Jahrhunderts Zeitgleich mit der Rezeption von Tanz als Sinnbild des Sternenreigens an den Kathedralschulen schildern uns einige Liturgiker Spiel- und Tanzpraktiken an den Bischofssitzen mit Kathedralschulen. Die französischen Geistlichen Johannes Beleth († nach 1165) und Wilhelm Durandus († 1296) berichten sogar von Bischöfen und Erzbischöfen, die Ballspiele mit ihren Klerikern veranstalteten. Der italienische Bischof Sicard von Cremona († 1215) verdeutlicht, dass die Ballspiele in erster Linie als Tänze zu betrachten sind. Eine Abschrift von Wilhelm von Auxerres († 1231) „Summa de officiis ecclesiasticis“ aus Cambrai verzichtet ganz darauf, das Ballspiel zu erwähnen, sondern berichtet nur von Tänzen an Ostern. Allen vier Autoren ist nun gemein, dass für ihre liturgischen Schriften Honorius Augustodunensis († um 1140) als Vorbild dient, der zeitgleich mit der Schule von Chartres die platonische Vorstellung vom Tanz der Gestirne in einem christlichen Kontext gedeutet hatte.132 Honorius Augustodunensis verfasste in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Werk über die Liturgie, die „Gemma animae“, das als wichtige Referenz für die späteren Liturgiker dienen sollte. Da über sein Leben außer durch einzelne Passagen aus seinen Werken nichts bekannt ist, wird es schwierig, eine Verbindung zu den französischen Kathedralschulen herzustellen. Sein Beiname „Augustodunensis“ wird zwar mit der französischen Stadt Autun in Zusammenhang gebracht, allerdings machen Bezüge in seinen Schriften zu zeitgenössischen politischen Fragestellungen im deutschsprachigen Raum, vor allem im heutigen Süddeutschland und Österreich, ein Wirken dort eher plausibel. Zudem lässt sich ein mehrjähriger Aufenthalt in Regensburg nachweisen,133 einem Zentrum 132 Dieses Unterkapitel verdankt viele Anregungen dem Aufsatz von Constant Mews, Liturgists and Dance in the Twelfth Century: The Witness of John Beleth and Sicard of Cremona, in: Church History 78:3 (2009), S. 512–548. 133 Vgl. Flint 1995, S. 95–128. Flint hat die Bezeichnung „Augustodunensis“ deshalb auch nicht auf die französische Stadt zurückgeführt, sondern auf die alte Kapelle in

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der Platonrezeption im süddeutschen Raum des 11. Jahrhunderts.134 Möglicherweise basierte die französische Auseinandersetzung mit Platon sogar in erster Linie auf einer früheren Rezeptionsleistung der süddeutschen Klöster. Honorius hat Werke zu allen damaligen Wissensgebieten, von den Naturwissenschaften über die Philosophie bis hin zur Dogmatik, verfasst. Die größte Wirkung entfalteten jedoch seine liturgischen Schriften, besonders die häufig abgeschriebene und im 16. Jahrhundert mehrfach gedruckte „Gemma animae“. Das in vier Bücher untergliederte Werk setzt sich mit der Symbolhaftigkeit der Liturgie auseinander. Im ersten Buch werden die Messe und die materielle Ausstattung des Kirchenraumes behandelt, das zweite befasst sich anschließend mit den kanonischen Tageszeiten, während das dritte und vierte Buch die kirchlichen Feste und Riten im Jahreslauf und die dazugehörigen Offizien enthalten. Da Honorius dem Bischof innerhalb der Liturgie eine herausragende Rolle zuweist, finden sich viele Abschriften dieses Werkes in den Bibliotheken von Kathedralkirchen.135 Im 139.  Kapitel des ersten Buches widmet sich Honorius im Zuge seiner Ausführungen zur Materialität des Kirchenraumes wie etwa der Beschaffenheit und symbolischen Bedeutung von Fußboden, Pfeilern und Fenstern auch dem Chor („De choro“): „Das Psalmensingen hat seinen Anfang im Reigentanz genommen, den das Altertum den Götzen zugeordnet hat, derartig, dass sie ihre Götter mit der Stimme loben und ihnen mit dem ganzen Körper dienen sollten. Durch Tänze aber wollten sie, dass der Umlauf als die Bahn des Himmelsgewölbes verstanden wird: durch das Zusammentun der Hände die Verbindung der Elemente, durch das Klatschen der Hände oder das Stampfen der Füße das Getöse des Donners, durch den Klang des Singens die Harmonie des Widerhallens der Planeten, durch Bewegungen des Körpers die Bewegung der Sternzeichen. Was die Gläubigen imitiert haben und in den Lobpreis des wahren Gottes verwandelt haben. Denn als das Volk aus dem Roten Meer stieg, soll es getanzt und Miriam soll die Pauke geschlagen haben, und David tanzte vor der Bundeslade mit ganzer Hingabe und sang zur Zither Psalmen. Und Salomo setzte am Altar Sänger ein, die, wie man liest, mit der Stimme, der Trompete, der Zimbel, der Orgel und anderen Musikinstrumenten Lieder Regensburg, auf die die Bezeichnung „Augustodunensis Ecclesia“ („Church of the imperial height“) ebenso zutreffen könnte. Während seiner Ausbildung dürfte Honorius zudem in England gewesen sein. 134 Vgl. McCarthy 2009, S. 148 ff. 135 Vgl. Sauer 1964, S. 16 f., Migne 1895, S. 15–18, Flint 1995, S. 138 f. Dem Werk sind deutliche Bezüge zu Amalarius von Metz’ († um 850) „De Ecclesiasticis Officis“ anzusehen.

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vorgetragen haben. Daher und noch bemühen sie sich für die Tänze Musikinstrumente zu gebrauchen, weil, wie man sagt, die himmlischen Planenten von süßer Melodie getragen werden.“136

Interessant ist zunächst einmal die Herleitung des Begriffs chorus von chorea und die damit verbundene Entstehung des Chorgesanges aus dem Reigen. Honorius verschweigt dabei nicht die heidnische Herkunft der Tänze, die den Heiden zur Verehrung ihrer Götter gedient hätten. Seine Beschreibung zeigt ganz deutlich Anlehnungen an neuplatonische Konzepte der Sphärenharmonie, auf die in dieser Passage mehrfach Bezug genommen wird. Möglicherweise hat er sie aus den Werken von Johannes Scotus, dem lateinischen Übersetzer von Pseudo-Dionysius, übernommen.137 Durch Stimme und Bewegungen der Körperteile, durch Händeklatschen und Fußstampfen – also durch Tanz – wurde die kosmische Harmonie auf Erden imitiert. Durch die Übernahme dieser Tänze bei den Christen erfuhren die Praktiken einen neuen Kontext. Ein heidnisches Ritual konnte somit erfolgreich in den christlichen Kontext transferiert werden. Die Erklärung heidnischer Praktiken zum besseren Verständnis der christlichen Liturgie benutzte Honorius dabei vielfach in seinen Schriften.138 Dass der praktizierte Tanz nun gottgefällig ist, unterstreicht auch seine Anbindung an die alttestamentliche Tanztradition, die Honorius anschließend schildert. Er beschreibt hier in ganz allgemeiner Form Tanzpraktiken, ohne dass deren Einordnung in das Kirchenjahr oder deren Vollzug genauer beschrieben werden. Honorius liefert jedoch einen Bericht über den geglückten Transfer ehemals heidnischer Tänze in einen christlichen Kontext, die er trotz einer mehr als 800 Jahre alten Tradition seit der Spätantike als neuartig entwirft. Damit bringt er erneut ein Thema auf, das die Liturgiker der nächsten 200 Jahre beschäftigen sollte. 136 „Chorus psallentium a chorea canentium exordium sumpsit, quam antiquitas idolis ibi constituit, ut videlicet decepti deos suos et voce laudarent, et toto corpore eis servirent. Per choreas autem circuitionem voluerunt intelligi firmamenti revolutionem: per manuum complexionem, elementorum connexionem: per sonum cantantium, harmoniam planetarum resonantium: per corporis gesticulationem, signorum motionem: per plausum manuum, vel pedum strepitum, tonitruorum crepitum. Quod fideles imitati sunt, et in servitium veri Dei converterunt. Nam populus de mari Rubro egressus choream duxisse, et Maria eis cum tympano praecinuisse, et David ante arcam totis viribus saltasse, et cum cithara psalmos cecinisse legitur. Et Salomon cantores circa altare instituisse dicitur, qui voce, tubis, organis, cymbalis, citharis, cantica personuisse leguntur. Unde et adhuc in choreis musicis instrumentis uti nituntur, quia globi coelestes dulci melodia circumferri dicuntur“, Honorius Augustodunensis 1895, Sp. 587 f. 137 Vgl. Flint 1995, S. 141. 138 Vgl. Mews 2009, S. 527.

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Die im Folgenden vorgestellte Beschreibung eines kirchlichen Ballspiels durch den französischen Liturgiker Johannes Beleth scheint auf den ersten Blick wenig mit Honorius’ Schilderungen zu tun zu haben. Wie Flint herausgearbeitet hat, ist aber belegbar, dass Beleth sich für sein Werk mit der „Gemma Animae“ auseinandersetzte, so dass der Bezug nach der Lektüre der anderen Liturgiker deutlich werden wird.139 Johannes Beleth begann seine Ausbildung in der Benediktinerabtei von Tiron, wo sein Name in einer Urkunde von 1135 auftaucht. Tiron liegt ca. 40 km westlich von Chartres und gehörte zur gleichnamigen Diözese. Später wurde er Schüler von Gilbert von Poitiers (†  um 1155), dessen Lehrmeinungen an zahlreichen Stellen seines einzigen erhaltenen Werkes, der „Summa de ecclesiasticis officiis“, zitiert werden. Da er anschließend Lehrer in Paris wurde, ist anzunehmen, dass seine Schrift zwischen 1160 und 1164 in diesem Umfeld entstanden ist.140 In der „Summa de ecclesiasticis officiis“ möchte Johannes Beleth die Riten der Kirche, ihre Funktion und Geschichte dem einfachen Klerus und auch den Laien verständlich machen. Deswegen verwendet er eine einfache Sprache und wählt seine Beispiele stärker als Honorius aus dem Gottesdienst der Pfarrkirchen aus. Dass er damit erfolgreich war, zeigt die große Verbreitung seines Werkes im 12. und 13. Jahrhundert.141 Im Kapitel 120 „De quadam libertate Decembris“ schreibt er über die Feierlichkeiten am Ostertag: „Es bleibt übrig, dass wir von den letzten Kapiteln heranschaffen. Nämlich von einer gewissen Dezember-Freiheit, die an dieser Zeit an gewissen Orten beobachtet werden kann. Denn es gibt einige Kirchen, wo sogar in den Kreuzgängen selbst die Bischöfe oder Erzbischöfe mit ihren Klerikern spielen oder zum Pila-Spiel herabkommen. Und dies wird deshalb Dezember-Freiheit genannt, weil es von alters her Brauch bei den Heiden war, dass in diesem Monat Hirten, Sklaven und Mägden durch eine gewisse Freiheit nach dem Einbringen der Ernte zusammen Feste zu feiern gestattet wurde. Auch wenn große Kirchen wie Reims diese Gewohnheit des Spielens aufrecht erhalten, erscheint nicht zu spielen jedoch löblicher.“142 139 140 141 142

Vgl. Flint 1995, S. 139. Vgl. Johannes Beleth 1976, S. 29 ff. Vgl. ebd., S. 32 f. „Restat, ut de ultimo capitulo agamus, scilicet de quadam libertate Decembris, que hoc tempore in quibusdam locis observatur. Sunt enim quedam ecclesie, ubi in claustris etiam ipsi episcopi vel archiepiscopi cum suis clericis ludunt, ut etiam descendant usque ad ludum pile. Et dicitur hec libertas ideo decembrica, quia antiquitus consuetudo fuit apud gentiles, ut hoc mense pastores et servi et ancille quadam libertate donarentur festa agentes convivia post collectas messes. Licet autem magne ecclesie ut Remensis hanc ludendi consuetudinem teneant, tamen non ludere laudabilius esse videtur“, Johannes Beleth 1976, S. 223; Lebeuf zitiert Beleth folgendermaßen: „Sunt nonnullae Eccle-

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Beleths Ausführungen zum Pila-Spiel hat bereits Lebeuf in seinem Aufsatz mit der Pelotte in Auxerre verbunden und seitdem fehlen sie in kaum einer Arbeit zu dem Thema.143 Sie stützen vor allem die Interpretation, die Pelotte in erster Linie als Spiel zu deuten, zumal der Begriff Tanz bei Beleth in diesem Zusammenhang nicht auftaucht. An anderer Stelle, in Kapitel 72, berichtet er allerdings von vier Tänzen (quatuor tripudia), die sich zwischen Weihnachten und Dreikönig in den Kirchen ereigneten.144 Nach Mews stellen die vier Tänze auch die Verbindung zur „libertas decembria“ her, während derer im antiken Rom Sklaven und Mägden gewisse Freiheiten gestattet wurden. In der christlichen Kirche wurden parallel dazu die niederen Ränge des Klerus, wie die Subdiakone und Chorknaben, die in der Liturgie häufig dienende Aufgaben übernahmen, mit besonderen Festen geehrt. Theologisch konnten die Feste auch an christliche Vorbilder einer Erhöhung der Demütigen und Kinder, wie es etwa im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums geschildert wird, anknüpfen. Das Ende des Dezembers bot sich insofern dafür an, da am 28. Dezember der unschuldigen Kinder gedacht wurde, die von Herodes ermordet worden waren. Somit wurde der hohe Klerus auch an seine Schutzfunktion gegenüber Schwachen ermahnt.145 Johannes Beleth berichtet nun, dass die „libertas decembria“ auch an Ostern Anwendung finden konnte. Bei Johannes Beleth deutet sich bereits eine ambivalente Deutung des Pila-Spiels an. Der französische Liturgiker liefert zunächst eine Beschreibung der Praxis, die in vielen Kathedralkirchen verbreitet war und die dadurch, dass sie an so bedeutenden Kirchen wie dem Erzbischofssitz Reims stattfand, legitimiert wurde. Johannes Beleth spricht sich dennoch dafür aus, an diesem Spiel nicht mitzuwirken. An späterer Stelle in seinem Werk merkt er zudem an, dass diejenigen, die beim Vollzug des Pila-Spiels sterben, ohne die üblichen Riten siae, in quibus usitatum est, ut vel etiam Episcopi & Archiepiscopi in caenobiis cum suis ludant subditis, ita ut etiam sese ad lusum pilae demittant. Atque hac quidem libertas ideò dicta est Decembrica, quòd olim apud Ethnicos moris fuerit ut hoc mense servi, & ancillae, & pastores velut quadam libertate donarentur, fierentque cum dominis suis pari conditione, communia festa agentes post collectionem messium. Quanquam verò magnae Ecclesiae, ut est Remensis, hanc ludendi consuetudinem observent, videtur tamen laudabilius esse non ludere“, Lebeuf 1726, S. 913 f. 143 Vgl. Lebeuf 1726, S. 913, Zellmann 2007, S. 60 f., Eisenberg 2009, o.S. 144 „Fiunt autem quatuor tripudia post nativitatem Domini in ecclesia, levitarum scilicet, sacerdotum, puerorum, id est minorum etate et ordine, et subdiaconorum, qui ordo incertus est“, Johannes Beleth 1976, S. 134, vgl. auch Kap. 3.2 dieser Arbeit, S. 175. Zu Johannes Beleth und den von ihm geschilderten Festen siehe: Skambraks 2010, S. 358 f. 145 Vgl. Skambraks 2013, S. 154 ff., Skambraks 2010, S. 382 f.

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bestattet werden.146 Ein generelles Verbot dagegen scheint allerdings nicht bestanden zu haben, er verweist zumindest auf keines. Auch die Tänze zwischen Weihnachten und Dreikönig werden von ihm kaum kritisiert, obwohl er auf die deutlich ablehnende Meinung von Isidor von Sevilla diesen Festen gegenüber hätte zurückgreifen können.147 Eine Verbindung zwischen den Schriften der beiden vorgestellten Liturgiker nimmt Sicard, der Erzbischof von Cremona, vor. Es ist durchaus möglich, dass der von Johannes Beleth beschriebene ludus pilae auch in Norditalien bekannt war. Ansonsten könnte der Liturgiker Sicard von Cremona das Spiel auch während seiner Studien in Paris oder in Mainz kennengelernt haben, wo er 1181 Kirchenrecht lehrte. 1185 wurde er dann zum Bischof seiner Geburtsstadt Cremona berufen. Nachdem er viele Jahre in Norditalien zwischen Papst und Kaiser vermittelt hatte, nahm er zwischen 1202 und 1204 am vierten Kreuzzug teil. Nach seiner Rückkehr schloss er dann vermutlich 1205 sein liturgisches Werk „Mitralis de Officio“ ab.148 Darin nimmt Sicard im 6. Buch über die Liturgie in der Zeit zwischen dem Sonntag Septuagesima und Ostern auch Bezug auf die bei Johannes Beleth geschilderte „libertas decembria“: „So kommt es, dass in den Klosterstiften einiger Kirchen auch die Bischöfe mit ihren Klerikern die ‚Dezember-Freiheit‘ nutzen und sich beim Spiel mit Tänzen und Bällen vergnügen, obgleich nicht spielen lobenswerter ist. Und es heißt ‚Dezember-Freiheit‘, weil bei den Heiden im Monat Dezember Hirten, Knechte und Mägde in gewisser Freiheit mit den Herren spielen und nach Einbringung der Ernte Feste feierten. Und beachte: Die Heiden haben Tänze zum Lob ihrer Götzen eingeführt, um ihre Götter mit der Stimme zu loben und ihnen mit dem ganzen Leib zu dienen, auch in dem Willen, darin in ihrer Art das Mysterium darzustellen. Denn unter dem Reigentanz verstanden sie die Bewegungen der Sterne am Himmel, unter dem Zusammentun der Hände die Verbindung der Elemente, unter den Melodien der Sänger die Harmonien der Planeten, unter den rhythmischen Bewegungen der Körper die Bewegungen der Sternzeichen und Planeten, unter dem Klatschen der Hände und dem Stampfen der Füße das Grollen des Donners.“149 146 „Si vero subito moriatur in ludis consuetis ut in ludo pile, potest sepeliri in cimiterio, et sine psalmis et sine obsequis“, Johannes Beleth 1976, S. 308. 147 Vgl. Mews 2009, S. 526 ff. 148 Zu Sicards Leben und der Datierung der „Mitralis de Officio“ vgl. Weinrich 1999, S. 873–876, Weinrich 2011, S. 17–27. 149 Sicard von Cremona 2011, Bd. 2, S. 626 f. „Inde est, quod in claustris quarundam ecclesiarum etiam episcopi  /  cum suis clericis decembrica libertate utuntur descendentes etiam ad ludum choreę vel pilę, quamvis non ludere laudabilius sit, et dicitur hęc decembrica libertas, eo quod mense decembris pastores, servi et ancillę quadam libertate

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Vergleicht man Sicards Beschreibung mit denen von Honorius und Johannes Beleth, wird deutlich, dass er wesentliche Passagen wortgetreu von beiden übernimmt.150 Allerdings liefert er eine wichtige Ergänzung zum ludus pilae, indem er explizit erwähnt, dass es sich dabei um einen Reigen (chorea) handele.151 Sicard übernimmt von Honorius nun die Deutung, dass der Kreistanz zunächst von den Heiden zur Verehrung des Sternenreigens ( firmamenti revolutionem, harmonias planetarum motiones) praktiziert worden sei, nun aber von den Christen übernommen worden sei, um dem einen Gott damit zu huldigen. Auch er wiederholt in diesem Zusammenhang die bereits von Honorius angeführten alttestamentlichen Beispiele von Tanz.152 Sicard führt damit Honorius’ allgemeine Ausführung zu den einst heidnischen, nun in den christlichen Kontext transferierten Tänzen und Johannes Beleths Beschreibung der Spielpraktiken an französischen Bischofssitzen zusammen. Zwar erwähnt auch Sicard, dass es löblicher sei, daran nicht teilzunehmen, aber er verschiebt Beleths eher negative Beschreibung in die Grauzone, indem er dessen kritische Passagen weitgehend kürzt.153 Das, was Johannes Beleth lediglich als Spiel schilderte, wird bei Sicard deutlich als eine christliche chorea bezeichnet. Eine Abschrift von Wilhelm von Auxerres „Summa de officiis ecclesiasticis“ unterstützt Sicards Deutung, indem sie ebenfalls von Tänzen von Klerikern an

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apud gentiles cum dominis dominarentur et collectis messibus cum eis convivarentur. Et attende, quod gentilitas ad plausum idolorum choreas instituit, ut deos suos et voce laudarent et eis toto corpore servirent, volentes etiam in eis aliquid more suo figurare misterii. Nam per circuitionem intelligebant firmamenti revolutionem; per manuum complexionem elementorum connexionem; per melodias cantantium harmonias planetarum, per corporum gesticulationes signorum vel planetarum motiones; per plausum manuum et strepitum pedum crepitationes tonitruorum. Sed quod illi suis idolis exhibuerunt, cultores unius Dei ad ipsius pręconia converterunt“, Sicard von Cremona 2008, S. 546. Auch an vielen anderen Stellen werden die beiden Autoren ausgiebig zitiert. Sie stellen so mit Rupert von Deutz die wichtigsten Referenzautoren für Sicard dar, vgl. Sicard von Cremona 2011, S. 30–34. Vgl. Mews 2009, S. 512, 515. „Nam populus de mari Rubro egresses, choream duxisse, et Maria cum tympano legitur pręcinisse, et David ante archam totis viribus saltavit et cum cythara psalmos cecinit et Salomon circa altare cantores instituit, qui voce, tuba, cymbalis, organis et aliis musicis instrumentis cantica personuisse leguntur“, Sicard von Cremona 2008, S. 546. „Denn als das Volk aus dem Roten Meer stieg, soll es getanzt und Miriam soll die Pauke geschlagen haben (vgl. Ex 15,29), und David tanzte vor der Bundeslade mit ganzer Hingabe und sang zur Zither Psalmen, und Salomo setzte am Altar Sänger ein, die, wie man liest, mit der Stimme, der Trompete, der Zimbel, der Orgel und anderen Musikinstrumenten Lieder vorgetragen haben“, Sicard von Cremona 2011, Bd. 2, S. 626 f. Vgl. Mews 2009, S. 514 f.

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Ostern berichtet. Wilhelm von Auxerre lehrte zu Beginn des 13. Jahrhunderts Theologie an der neu gegründeten Pariser Universität. Bis in das 15. Jahrhundert wurde seiner am Abend vor Allerseelen an der Sorbonne gedacht. Da außer seinem auch das Jahresgedächtnis von Robert de Sorbonne bis in das Spätmittelalter gefeiert wurde, schließt Fischer daraus, dass er eine wichtige Rolle bei der Gründung der Universität gespielt habe.154 Sein liturgisches Kompendium ist wahrscheinlich zwischen 1208 und 1215 im Zusammenhang mit seinen Vorlesungen an der Sorbonne kurz nach Sicards Buch entstanden. Inhaltlich deckt sich Wilhelms „Summa de officiis ecclesiasticis“ weitestgehend mit den Werken der Vorgänger. Zunächst werden Stundengebet und Messe dargestellt. Anschließend präsentiert Wilhelm die kirchlichen Feste im Jahresverlauf, die Heiligenfeste und das Kirchweihfest. Die bei seinen Vorbildern erfolgten Ausführungen zur Architektur des Kirchenraumes hatte Wilhelm, wie sein Vorwort verrät, ebenfalls beabsichtigt, jedoch nicht mehr vollendet.155 Neben Johannes Beleth und Sicard von Cremona diente ihm vor allem Ivo von Chartres als Referenz. Von Wilhelms Werk sind heute noch 15 bekannte Abschriften erhalten. Während der Großteil davon inhaltlich und stilistisch sehr ähnlich ist, unterscheiden sich die beiden Handschriften aus dem Kloster Neuburg und Cambrai deutlich von den anderen. Das Manuskript aus Cambrai wird von Fischer auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert. Als Entstehungsort nimmt er die Île de France an, wo auch fast alle anderen Abschriften entstanden sind. Die Cambrai-Fassung enthält eine Vielzahl von Kürzungen und Erweiterungen, die weitestgehend der Interpretation der Vorlage folgen, aber bestimmte Aspekte betonen oder hinzufügen.156 Im Kodex aus Cambrai, der Wilhelms „Summa de officiis ecclesiasticis“ enthält, finden sich daneben unter anderem auch Abschriften von Richard von Sankt-Viktor, Hugo von Sankt-Viktor, Boëthius, Ivo von Chartres, Alanus von Lille, Honorius Augustodunensis und Johannes Beleth.157 Für das Osterfest enthält die Cambrai-Fassung einen Hinweis auf einen Tanz, der in den anderen Handschriften nicht enthalten ist: „Zu bemerken/zu tadeln ist, dass am Ostertag von Klerikern spät abends Tänze zur Darstellung jener Tänze stattfinden, die Aarons Schwester Maria mit den Frauen aufgeführt hat [...]“158. 154 155 156 157 158

Vgl. Wilhelm von Auxerre 2007, S. 4 f. Vgl. ebd., S. 7–10. Zur Cambrai-Fassung: ebd., S. 11 f. Vgl. ebd., S. 65–77. „Notandum, quod in die pasce fiunt coree in sero a clericis ad representandum choros, quos ducebat maria soror aaron cum mulieribus …“, ebd., S. 81.

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Die Handschrift aus Cambrai bestätigt die von Sicard beschriebenen Tänze von Klerikern am Ostertag. Während sich der Verfasser über den Ort der Tänze in Schweigen hüllt, präzisiert er, dass sie abends stattfanden. Als Erklärung für diese Tänze wird hierbei nicht auf heidnische Vorbilder159 rekurriert, vom Sternenreigen oder der libertas decembria wird kein Wort erwähnt, sondern allein auf das biblische Beispiel aus dem Buch Exodus hingewiesen. Die bei Honorius und Sicard erwähnten anderen biblischen Vorbilder, David und Salomon, werden hingegen nicht aufgeführt. Die Tänze sollten an die Freudentänze nach erfolgreicher Flucht vor den Truppen des Pharaos durch das Rote Meer erinnern, diese vielleicht sogar in einer Art Mysterienspiel darstellen. Einen ähnlichen Tanz schildert uns die Handschrift für den Ostermontag: „Ferner findet an diesen Tagen beim Abendgottesdienst eine Prozession zu den Taufbrunnen statt, in der die Tat von Moses Schwester Maria aufgeführt wird, die mit den übrigen Frauen nach der Durchquerung des Roten Meeres, in der die Taufe angedeutet wird, mit Tamburinen und Reigen sang.“160 Wie zu sehen ist, dient Miriams Tanz mit den Frauen bei beiden Beispielen als Vorbild, nur bei Letzterem wird aber direkt Bezug zur Taufe genommen. Am Ostermontag führte der Tanz, oder vielmehr die getanzte Prozession, deshalb zum Taufbrunnen.161 Anstatt die Aufführung des Tanzes an zwei aufeinander folgenden Tagen zu vermuten, scheint es mir näherliegend, dass der Termin in den verschieden Kirchen unterschiedlich gehandhabt wurde. In einigen wurde am Abend des Ostersonntags, in anderen zur Vesper am Ostermontag getanzt. Festzuhalten bleibt, dass dem Zeugnis der Handschrift zufolge ein auf ein biblisches Beispiel rekurrierender Tanz an Ostern von französischen Klerikern getanzt wurde. Die für die spätere Bewertung vielleicht weitreichendste Bemerkung zur Pila, die ebenso wie Johannes Beleths Ausführungen bereits von Lebeuf162 zitiert wird, wurde gegen Ende des 13. Jahrhunderts von Wilhelm Durandus, Bischof 159 An anderer Stelle erwähnt Wilhelm jedoch eine derartige Transformation: „Et ideo ludos qui sunt contra fidem permutavit (sc. Ecclesia) in ludos qui non sunt contra fidem“, zitiert nach: Sahlin 1940, S. 140. 160 „In illis autem diebus in vespertino officio fit processio ad fontes, in quo representatur factum marie sororis moysi, que cum ceteris mulieribus post transitum maris rubri, in quo significatur baptismus, cum tympanis et choris cantabat dicens“, Wilhelm von Auxerre 2007, S. 81. 161 Von dieser Prozession berichtet auch Sicard: „Wenn wir mit der Prozession feierlich sieben Tage lang zum Taufbrunnen gehen, bringen wir den Durchzug Israels durch das Rote Meer ins Gedächtnis“, Sicard von Cremona 2011, S. 625. Vgl. dazu auch die Passage bei Rupert von Deutz 1999, Bd. 3, S. 1020–1023. 162 Vgl. Lebeuf 1726, S. 913 f.

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von Mende, in seinem „Rationale Divinorum Officiorum“ verfasst. Das Werk ist, genau wie die Arbeiten seiner Vorgänger, eine ausführliche Enzyklopädie der liturgischen Riten der Kirche. Der um 1230 in Südfrankreich geborene Wilhelm Durandus hatte in Frankreich und Italien studiert, bevor er 1265 von Papst Clemens IV. zum Kaplan und Auditor generalis sacri palatii berufen wurde. In den nächsten drei Jahrzehnten wurde er von den Päpsten mit verschiedenen diplomatischen Missionen betraut und begleitete sie ebenso auf Konzilien. Für seine Dienste wurde er mit Kanonikaten an den Kirchen von Beauvais, Narbonne und Chartres belohnt und 1285 zum Bischof von Mende ernannt. Er blieb aber noch bis 1291 in Italien und ließ das Bistum zunächst von seinem Neffen verwalten. In diese Zeit fällt auch die Entstehung des „Rationale Divinorum Officiorum“, das in den folgenden Jahrzehnten in zahlreichen Handschriften Verbreitung fand und es bereits im 15. Jahrhundert auf 43 Druckausgaben brachte.163 Für das 15. Jahrhundert gilt Durandus’ Werk als das meist verbreitete Buch nach der Bibel.164 Im 86.  Kapitel „De sancto die Pasche“ des 6.  Buches berichtet Durandus auch über Tänze am Ostertag in einigen französischen Kirchen: „Ebenso spielen an einigen Orten an diesem Tag, an anderen Orten an Weihnachten, die Bischöfe mit ihren Klerikern in den Kreuzgängen oder in den Bischofspalästen, so wie sie auch zum Pila-Spiel, oder auch zu Reigen und Gesang herabkommen. Das wird Dezember-Freiheit genannt, weil es von alters her Brauch bei den Heiden war, dass in diesem Monat Sklaven, Hirten und Mägde sich einer gewissen Freiheit erfreuten und mit ihren Herren herrschten und mit ihnen Feste und Bankette nach der eingebrachten Ernte veranstalteten. Löblicher ist aber sich davon fernzuhalten.“165 Bei Durandus wird der bisherige Ort des Spiels, der Kreuzgang oder das Kloster, um das Haus des Bischofs erweitert. Der Bischofspalast als Spielort findet sich auch in einem Manuskript aus dem 13. Jahrhundert in den Kathedralarchiven von Vienne, etwa 350 km von Narbonne entfernt, wo Durandus Kanoniker der Kathedrale war. Bei Durandus ist die von Sicard von Cremona in 163 Zu Wilhelm Durandus und seinem Werk vgl. Thibodeau 2007, S. xvii–xxiii, Sauer 1964, S. 28–33 und Gy 1992, passim. 164 Vgl. Wilhelm von Auxerre 2007, S. 15. 165 Wilhelm Durandus 1998, S. 445: „In quibusdam quoque locis hac die, in aliis in Natali, prelati cum suis clericis ludunt, vel in claustris, vel in domibus episcopalibus, ita ut etiam descendant ad ludum pile, vel etiam ad choreas et cantus. Quod vocatur libertas decembria, quia antiquitus consuetudo fuit apud gentiles ut, hoc mense, servi, pastores et ancille quadam libertate fruerentur, et cum dominis suis dominarentur, et cum eis facerent festa et convivia post collectas messes. Laudabilius tamen est a talibus abstinere.“

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Anlehnung an Honorius vorgebrachte Erklärung, dass es sich bei dem Spiel oder Tanz am Ostertag um ein in das Christentum konvertiertes Ritual handelt, nicht mehr zu finden. Im Gegenzug greift er die bei Johannes Beleth erwähnte Passage auf, dass derjenige, der während der Aufführung sterbe, zwar auf dem Friedhof, aber, wie einige sagen, ohne die übliche Trauerfeier begraben werden solle.166 Das Anliegen der Liturgiker war es, die allegorische und symbolische Bedeutung des Gottesdienstes darzustellen und eine Systematisierung der kirchlichen Riten zu erreichen. Ihre Werke richteten sich, abgesehen von Johannes Beleth, in erster Linie an gebildete Kleriker, an Mönche und Kanoniker, die diese Rituale täglich vollzogen und bei denen sie ein tieferes Verständnis ihrer Handlungen wecken wollten.167 Alle vorgestellten Liturgiker des 12. und 13. Jahrhunderts erwähnen Spiel- und Tanzpraktiken während der Osterfeier, die von Klerikern ausgeführt werden. Offen bleibt, ob alle Liturgiker eine einheitliche Praxis beschreiben, die je nach Sichtweise als Ballspiel, Tanz oder Kombination aus beiden gedeutet wurde, oder ob an manchen Bischofssitzen Ballspiele und an anderen Tänze an Ostern stattfanden. Oder gab es ein Bestreben, bereits bestehende Ballspiele durch christliche Tanzpraktiken aufzuwerten? Dann würde sich erklären, warum Johannes Beleth in der Mitte des 12. Jahrhunderts nur von einem Ballspiel spricht, während alle späteren Autoren das Spiel in Verbindung mit einem Tanz sehen. Ein Transfer dieses Spiels in den christlichen Kontext könnte folglich einige Veränderungen gebracht haben. Dies entspräche durchaus der Strategie der Liturgiker, wie eine Überlegung von Wilhelm von Auxerre zum Narrenfest zeigt: „Dieses Fest wollte die Kirche abschaffen, weil es wider den Glauben ist. Doch weil es sich nicht ganz beseitigen ließ, ist es nun wieder erlaubt und wird mit größter Feierlichkeit begangen, damit anderes unterlassen wird. Und deswegen werden zur Matutin Lesungen abgehalten, die vor solchen Dingen warnen, die wider den Glauben sind. Und wenn nun an jenem Tag im Namen der Kirche einiges geschieht, das nichts mit dem Glauben zu tun hat, so geschieht doch nichts wider den Glauben. Und deshalb wurden Narreteien, die wider den Glauben waren, in Narreteien umgewandelt, die nicht wider den Glauben sind, indem man sie zuließ.“168 166 Vgl. „Si vero quis subito moriatur in ludis consuetis, ut in ludo pile, sepeliri potest in cimiterio quia nemini nocere intendebat; sed quia mundialibus occupabatur aiunt quidam quod sepeliri debet sine psalmis et sine ceteris mortuorum obsequiis“, Wilhelm Durandus, Rationale Divinorum Officiorum 1.5.14, zitiert nach Mews 2009, S. 518. 167 Vgl. Gy 1992, S. 145. 168 Wilhelm von Auxerre 2007, S. 10: „Hoc festum uoluit remouere ecclesia, quia contra fidem est. Et quia extirpare omnino non poterat festum illud, permittit et celebrat

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Die Werke der vorgestellten Liturgiker zeugen außerdem von ambivalenten Bewertungen der Tänze, die teilweise als christliche Umformungen der Sphärenharmonie, teilweise als Aufführungen biblischer Vorbilder verstanden werden. Auch Johannes Beleth und Wilhelm Durandus, die dem Tanzspiel deutlich skeptischer als die anderen gegenüberstehen, raten lediglich von einer Teilnahme ab. Auf ein explizites Verbot scheinen sie nicht zurückgreifen zu können. Dies deckt sich mit Rohmanns Interpretation, der „nicht etwa eine eindeutige Ablehnung, sondern eine vielgestaltige und immer umstrittene Adaptation des Tanzes in der mittelalterlichen Kirche“169 herausgearbeitet hat. Dass Lebeuf in seinem Artikel lediglich Beleth und Durandus zitierte, die den Schwerpunkt auf das Ballspiel legten, es negativer beurteilten und keine Verbindungen zu biblischen Tanzbeispielen herstellten, lässt sich wohl auf die größere Verbreitung der beiden Autoren zurückführen. Während Beleth und Durandus in kaum einer mittelalterlichen Bibliothek fehlten, waren die Schriften von Wilhelm von Auxerre deutlich seltener vorhanden. Die Abschriften von Sicards Werk blieben im Mittelalter sogar lediglich auf Norditalien beschränkt.170 Festzuhalten bleibt, dass im 12. und. 13. Jahrhundert die Kleriker der großen Kathedralen, teilweise zusammen mit ihren Bischöfen, am Ostersonntag einen Tanz in Verbindung mit einem Ballspiel aufführten. Diese Praktiken bieten einen Erklärungsansatz für die spätestens seit dem 14. Jahrhundert stattfindende Pelotte in Auxerre und möglicherweise auch für die Tänze in Sens. Mit der expliziten Erwähnung von Reims und Amiens als Spielorte und der Verbreitung der Handschriften von Wilhelm von Auxerre in der Île de France scheint der geographische Schwerpunkt der Tänze im Nordosten Frankreichs zu liegen. Da sich auch nur in diesen Regionen die aus Sens und Auxerre bekannten im Fußboden der Kirchenschiffe eingelassenen Labyrinthe nachweisen lassen, verspricht eine intensivere Untersuchung dieser Kirchenlabyrinthe ein besseres Verständnis für die Tänze der dortigen Kathedralkapitel. Batschelet-Massini sieht in den Labyrinthen sogar direkte Anknüpfungspunkte zum neuplatonischen Sternenreigen, illud festum celeberrimum, ut aliud dimittatur. Et ideo in matutinali officio leguntur lectiones, que deortantur ab huiusmodi, quia sunt contra fidem. Etsi ista die ab ecclesia quedam fiant preter fidem, nulla tamen est contra fidem. Et ideo ludos, qui sunt contra fidem, permutauit in ludos, qui non sunt contra fidem. Et hoc fecit permittendo“, Guillelmus Autissiodorensis, Summa de officiis ecclesiasticis, tract. III, cap. 12, hg. v. Franz Fischer, Köln 2007–2013, guillelmus.uni-koeln.de/tcrit/tcrit_t3c12 [Eingesehen am 30.09.2015]. 169 Rohmann 2013, S. 252. 170 Vgl. Weinrich 1999, S. 876.

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da das Labyrinth in Chartres als Gegenstück zur Darstellung von Pythagoras an der Westfassade der Kathedrale fungiert habe.171

5.1.3 Die französischen Kirchenlabyrinthe Das Labyrinthmotiv hat die Menschen ganz verschiedener Epochen und Kulturen fasziniert. Die im Sommer vielerorts gut besuchten Maislabyrinthe zeugen auch von einer aktuellen Begeisterung – nicht umsonst ziert das mittelalterliche Labyrinth von Reims das Logo der französischen „monuments historiques“. In Wäldern sowie bei religiösen Tagungshäusern und Kirchen sind in den letzten Jahrzehnten zudem eine Vielzahl neuer Labyrinthe entstanden und damit gleichzeitig eine kaum mehr zu überschauende Anzahl von Publikationen.172 So ist nicht verwunderlich, dass auch über das Labyrinth in Chartres im Speziellen und über die Kirchenlabyrinthe im Allgemeinen unzählige Deutungen existieren, zumal es seit der Antike Labyrinthe ganz unterschiedlicher Form vom Mittelmeerraum bis nach Skandinavien gab. Eine kontinuierliche Linie etwa von den in der Antike verbreiteten Labyrinthmosaiken in römischen Villen bis hin zur Kathedrale von Chartres ziehen wird man jedoch kaum können, denn diese unterschieden sich in ihrer Form und symbolischen Bedeutung deutlich voneinander.173 Auffallend ist zumindest, dass die Verbreitung von in Fußböden eingelassenen Kirchenlabyrinthen im Mittelalter auf die französischen Kirchenprovinzen Reims und Sens sowie auf Norditalien und Rom beschränkt war.174 Nach Kern lassen sich drei verschiedene Arten von Kirchenlabyrinthen ausmachen: Mosaiklabyrinthe, Platten-Umgangs-Labyrinthe und Labyrinthdarstellungen auf Fliesen.175 In einigen Kirchen Nord- und Oberitaliens, und nur dort, kommen Mosaiklabyrinthe mit einem Durchmesser von maximal 3,5 Metern vor. Sie sind in den Kirchen von Pavia, Piacenza, Pontremoli, Lucca und Rom in der ersten 171 Dazu Batschelet-Massini 1978, S. 61. 172 Für diesen Abschnitt stütze ich mich vor allem auf Kerény 1950, Santarcangeli 1974, Batschelet-Massini 1978, Haubrichs 1980, Doob 1990, Kern 1999, Wright 2001, Greene 2001, Zellmann 2007, Candolini 2008, Eisenberg 2009. 173 Dazu: Kern 1999, S. 139 f. 174 Vgl. Wright 2001, S. 29–36. Die einzige Ausnahme ist die Kölner Kirche St. Severin, deren Krypta architektonische Ähnlichkeiten mit den Krypten der Kathedrale SaintEtienne und des Klosters Saint-Germain in Auxerre aufweist. Die vielen Labyrinthe in skandinavischen Kirchen sind allesamt Wandmalereien aus dem 15. Jahrhundert. Siehe dazu: Kraft 1991, S. 29–37. 175 Vgl. Kern 1999, S. 207 ff.

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Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden, ein Labyrinth in Ravenna im 16. Jahrhundert.176 Die Labyrinthe, von denen der Großteil im 19. Jahrhundert zerstört wurde, waren häufig in größere Mosaikdarstellungen eingebettet. Drei der Labyrinthe befanden sich im Kirchenschiff. In Pavia war das Mosaik in den Chor eingelassen, in Santa Maria in Trastevere in Rom außerhalb des Chores vor der Sakristei.177 In Nordfrankreich entstanden im Mittelalter die deutlich größeren Platten-Umgangs-Labyrinthe, die mit einem Durchmesser von 10 bis 12 Metern die komplette Breite des Mittelschiffs einnahmen. Die Labyrinthe waren, mit Ausnahme von Chartres, aus weißen und blauschwarzen Platten gelegt. Sie kommen als kreisförmige Labyrinthe in der Kirchenprovinz Sens (Chartres, Sens und Auxerre) und als achteckige Labyrinthe in der Kirchenprovinz Reims (Amiens, Arras, Reims, St. Omer und St. Quentin) vor. Die unter anderem bei Haubrichs angesetzte frühe Datierung ihrer Entstehung auf das 12. Jahrhundert wird in der Forschung der letzten Jahre immer mehr angezweifelt und der Bau der Labyrinthe stattdessen auf das 13. Jahrhundert und später datiert.178 Kerns dritter Typ, die Labyrinthdarstellungen auf Fliesen, entstanden zwischen dem 14.  und dem 16.  Jahrhundert ebenfalls in Frankreich in Bayeux, Caen, Châlons, Toulouse und Mirepoix. Ihre Durchmesser betragen ähnlich wie bei den Mosaiklabyrinthen max. 4 Meter, oft aber unter einem Meter. Im Gegensatz zu den anderen Labyrinthen, die im Kirchenschiff lagen und beim Eintritt überquert werden mussten, lagen diese in Räumen, die gewöhnlichen Gläubigen nicht zugänglich waren.179 Auch wenn die ersten Kirchenlabyrinthe erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden, ist ihre Form deutlich älter. Als Vorbild für die Bauten in Chartres, Sens und Auxerre dienten aller Wahrscheinlichkeit nach Labyrinthabbildungen, wie sie in zahlreichen Handschriften des Frühmittelalters vorkommen.180 In den Skriptorien der Benediktinerklöster in Südwestdeutschland, Nordfrankreich und Norditalien, den karolingerzeitlichen Zentren der Gelehrsamkeit, entstanden im 9. Jahrhundert die ersten Zeichnungen von Labyrinthen seit der Spätantike. Sie illustrieren ganz verschiedene Handschriften, von Chroniken über geographische Abhandlungen bis hin zu astronomischen Schriften, Computus-Abhandlungen und Kalendern. Die Form der Labyrinthe entspricht bis 176 177 178 179 180

Vgl. Wright 2001, S. 29–37. Vgl. Kern 1999, S. 207 f., Wright 2001, S. 30–36. Vgl. Haubrichs 1980, S. 100–109, Kern 1999, S. 208, Wright 2001, S. 37–63. Vgl. Kern 1999, S. 208 f. Dazu: Haubrichs 1980, S. 109.

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auf eine Ausnahme181 einer runden Grundform, deren Linien mit Hilfe konzentrischer Kreise angeordnet sind. Acht immer enger gezogene Kreise begrenzen nun sieben Wegschlaufen, die ein rundes Zentrum umgeben182. Alle Labyrinthe der Antike und des Mittelalters sind univiale Labyrinthe, verfügen also nur über einen Weg, der in zahlreichen Windungen in sein Zentrum führt. Multiviale Konstruktionen, also Abzweigungen des Weges mit Sackgassen und Irrwegen, lassen sich ab dem 14. Jahrhundert nachweisen und erfahren erst in der Renaissance eine größere Verbreitung.183 In einer dieser Handschriften taucht um 900 zum ersten Mal eine neue Form des Labyrinths auf, wie es später auch in Chartres in den Kirchenboden eingelassen wird, weswegen diese Form von der Forschung als Typ „Chartres“ bezeichnet wird. Die neue Labyrinthform stellte eine Erweiterung des kreisrunden Labyrinths dar, bei der die Anzahl der Gänge von sieben auf elf erhöht wurde. Zudem verlaufen die Windungen nun symmetrisch und die Sperrungen sind so verändert, dass ein Kreuz darüber gelegt werden kann184 (Abb. 6, siehe Tafelteil, S. 246). Wrights Schlussfolgerung, dass der Schreiber einer der ersten Handschriften,185 die den neuen Labyrinthtyp enthält, im Umfeld des Benediktinerklosters St.-Germain Auxerre zu vermuten ist, hat einiges für sich, denn hier entstanden eine Reihe von Handschriften mit Labyrinthzeichnungen.186 Bereits um 860 stellte der Mönch Heiric von Auxerre († 876) einen Sammelband mit historischen und geographischen Themen, aber auch Augustinus’ Schrift „De Musica“ zusammen, der auf der Folioseite 78r die Abbildung eines Labyrinths enthält.187 Hermann Kern sieht es als Prototyp für die Chartresform an, die um 900 in

181 Der Kodex Karlsruhe Aug. CCXXIX enthält ein viereckiges Labyrinth, wie es auch auf zahlreichen in Knossos gefundenen Münzen und einem Graffito aus Pompeji zu sehen ist. Dazu: Haubrichs 1980, S. 66 f. 182 Vgl. Wright 2001, S. 21 f. 183 Vgl. Haubrichs 1980, S. 96 ff., Wright 2001, S. 15. 184 Vgl. Batschelet-Massini 1978, S. 44  ff., Kern 1999, S. 210  f. Wright 2001, S. 23 f., Zellmann 2007, S. 48. 185 Paris BNF, Ms. Lat. 13013, fol. 1r, die Handschrift stammt aus dem Pariser Kloster St.Germain-des-Près. 186 Vgl. Wright 2001, S. 20 ff., S. 305. 187 Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. Lat. 4929, dazu: Kern 1983, S. 157. Heirics Schüler Remigius von Auxerre behandelte das Labyrinth zudem in seinem Prudentius-Kommentar: „Idem vocat laberinthum quod et errorem. Laberintus erat domus subterranae centum habens hostia quam Dadalus fecit ad Minotaurum, quam siquis semel ingrederetur, propter multitudinem hostiorum non poterat reverti. Dicitur laberintus quasi labor intus“, Cod.  Valenciennes  BM  413, zitiert nach: Haubrichs 1980, S. 123.

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einem in Auxerre gefertigten Libellus mit lokalen Heiligenviten auftaucht.188 Weitere Handschriften aus dem Tochterkonvent von Saint-Germain Auxerre, dem Kloster Saint-Germain l’Auxerrois in Paris und dem benachbarten Kloster Saint-Germain des-Près aus dem 10. Jahrhundert enthalten ebenfalls diese Labyrinthform. Das Manuskript aus Saint-Germain des-Près ist ein Computus und enthält Kalendarien und Tabellen zur Berechnung des Ostertermins, da mit einem falschen Osterdatum die Liturgie des ganzen Jahres in Zweifel stand. Die Häufung von Labyrinthzeichnungen in komputistischen Werken hat bereits Batschelet-Massini bemerkt, womit eine Verbindung von Labyrinth und Ostertermin offensichtlich wird. In einer Handschrift ist das Labyrinth sogar innerhalb des Osterevangeliums abgebildet.189 Diese bisher auf Handschriften beschränkte Labyrinthform wurde nun in Chartres um 1220 in den Kirchenboden eingelassen. Das Labyrinth ist heute noch zu sehen, sollte es nicht wieder einmal von Stühlen verstellt sein. Es misst fast 13 Meter im Durchmesser und nimmt damit die gesamte Breite des Mittelschiffs ein.190 Das Labyrinth entspricht in seiner Form noch dem Zustand der Bauzeit, den wir durch das Bauhüttenbuch von Villard de  Honnecourt kennen, der davon um 1230 eine Zeichnung anfertigte.191 Im Zentrum befand sich wie auch in einigen italienischen Labyrinthen eine aus Metall eingelassene Darstellung von Theseus’ Kampf gegen den Minotaurus, wie eine Handschrift der „Histoire de Chartres“ des lokalen Geschichtsschreibers Charles Challine (1596–1678) versichert: „Il se voit au milieu de la nef devant et audessous de la chaire ou l’on preche un fort beau labyrinth, ou dédale de marbre noir figuré sur le pavé, au centre duquel on voit dans un cercle la figure de Thésée et du Minotaure. Ce dédale est vulgairement appelé la lieue, parce qu’on estime qu’en suivant tous ses méandres on fait une lieue.“192 Eine Handschrift aus dem 18. Jahrhundert erwähnt ebenfalls die Darstellung von Theseus und dem Minotaurus, die allerdings durch das ständige Betreten bereits kaum mehr zu erkennen sei. Während der Revolutionskriege wurde das Metall dann für den Bau von Kanonen eingeschmolzen. Das Labyrinth in Chartres ist das einzige heute noch erhaltene mittelalterliche Kirchenlabyrinth dieser Form in Frankreich. In der Kirchenprovinz Sens, 188 Cod.  Montpellier  Fac. De  Médicine  360, aus der Zisterzienserabtei Pontigny in der Diözese Auxerre übernommen. Siehe: Haubrichs 1980, S. 83 f. 189 Vgl. Batschelet-Massini 1978, S. 59. 190 Vgl. Kern 1999, S. 225 ff., Wright 2001, S. 38–45. 191 Vgl. Kern 1999, S. 272 f. 192 BM Chartres, Ms 1140, fol. 159, zitiert nach Wright 2001, S. 307.

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zu der auch Chartres gehörte, gab es in den Kathedralen von Sens und Auxerre ebenfalls kreisrunde Labyrinthe im Kirchenboden, die etwa in demselben Zeitraum entstanden sind. Vom 1768 zerstörten Labyrinth von Sens193 liegen zwei Zeichnungen in Publikationen vor, die erst nach Abriss des Labyrinths entstanden sind. Craig Wright entdeckte bei seinen Archivrecherchen in der Bibliothèque Municipale in Auxerre eine Zeichnung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in einem von Theodore Tarbé (1770–1848) zusammengestellten Kompendium zur Geschichte von Sens unter dem Titel „Réceuil des épitaphes et des inscriptions de la ville de Sens, levées et copiées avec soin dans la cathédrale, les églises paroissiales, les monastères, et les édifices publics et particuliers. Avant la Révolution de l’Année 1789“194 (Abb. 7, siehe Tafelteil, S. 247). Tarbé betrieb die vom Vater geerbte Druckerei und führte die Herausgabe des „Journal politique et littéraire du département de l’Yonne“ fort. Er veröffentlichte gut recherchierte Beiträge zur Stadtgeschichte195 und war leidenschaftlicher Sammler von Kuriositäten aller Art. Nach den Angaben seines Enkels, der zu Beginn des 20.  Jahrhunderts eine Familiengeschichte erstellte, enthielt die Sammlung nicht weniger als 12.000 Bücher, 213 Manuskripte vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, mehrere Tausend Briefe, Münzen und Medaillen, sowie hunderte von Gemälden, Zeichnungen und Kupferstichen.196 Die Bildunterschrift lautet: „Ce labyrinth existoit autrefois dans la Nef de l’Eglise Metropolitaine de Sens, sous la tribune des orgues. Cet ouvrage qui n’étoit point sans mérite, etoit de plomb incrusté fort avant dans les tombes de pierre dont l’eglise étoit pavé. Messieurs du chapitre le firent détruire en 1768, 193 Zu dem Labyrinth in Sens vgl. Kern 1999, S. 240, Wright 2001, S. 45–48, Shelton 2009, S. 28–32. 194 BMAUX, Ms 215, fol. 33v. Vgl. Wright 2001, S. 45. Wright verschweigt allerdings, dass sich auf einer der nächsten Seiten (35r) noch eine ganz andere Zeichnung des Labyrinths befindet. Dabei handelt es sich nicht um ein kreisförmiges, sondern um ein rechteckiges Labyrinth. Darunter liest sich die Beschreibung: „Labyrinthe qui etoit incrusté dans le Carreau de l’eglise de Sens. Vulgerairement appellé la lieue fait par moi Louis Charles l’Homme.“ Aus den oben dargelegten festgelegten geometrischen Mustern der Kirchenlabyrinthe spricht zwar alles für die erste Zeichnung, die ihr widersprechende Abbildung sollte hier aber zumindest erwähnt werden. 195 Tarbé, Théodore, Recherches historiques et anecdotiques sur la ville de Sens, sur son antiquité et ses monuments, Sens 1838, ders., Description de l’église métropolitaine de St-Étienne de Sens, Sens 1841. 196 Vgl. Landry 1902, S. 143 f. Für die Austragung konfessioneller Konflikte über Tanzpraktiken wären die von Landry erwähnten 72 Zeichnungen von 1572, die Details einer am Hof von Katharina von Medici aufgeführten Maskerade abbilden, von besonderem Interesse. Nach Landry bestand nämlich der Inhalt dieser Maskerade „pour tourner en ridicule les Huguenots“ (Landry 1902, S. 144).

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lorsqu’ils firent pavez regulièrement leur Eglise.“197 Unterhalb der Zeichnung befindet sich noch ein weiterer Schriftzug: „Ce Labyrinthe avait trente pieds de Diamètre. il fallait, dit-on, une heure entière pour en parcourir les circuits, et l’on faisait 2,000 pas en suivant tous les détours sans repasser par le même endroit. il occupait toute la largeur de la nef. le dessin en est très-ingénieusement combiné. lettre de 1758 dit qu’il en ignore la destination.“198 Auch in Sens nahm das Labyrinth mit seinem Durchmesser von ca. 10 Metern also die ganze Breite des Kirchenschiffs ein. Woher die Angaben zu der Anzahl der Schritte und die Zeit, die für die Durchquerung des Labyrinths benötigt wurde, stammen, ist völlig offen. Wrights Selbststudien, der anscheinend in Chartres bedächtig durch das Labyrinth schritt und dafür fünfzehn Minuten brauchte sowie die maximale Schrittanzahl auf lediglich 700 bezifferte, helfen hier keineswegs weiter. Seine Schlussfolgerung, dass diese Angaben für das Durchqueren auf Knien gedacht waren, hat durchaus Berechtigung, zumal ein Autor des 18. Jahrhunderts diese Frömmigkeitspraxis für das Labyrinth in Arras beschreibt.199 Letztlich wissen wir aber nicht, wie der Autor des 18. Jahrhunderts auf diese Angaben kam. Daraus Rückschlüsse auf die spätmittelalterliche Tanzpraxis zu ziehen, würde zu weit führen – zumal die Liturgiker des Mittelalters erläuterten, dass sich an Ostern in der Kirche grundsätzlich nicht hingekniet wurde.200 Eine zweite Zeichnung (Abb. 8, siehe Tafelteil, S. 248) präsentierte der Grand-Vicaire von Sens, Abbé Chauveau, der 1844 die lokale „Société Archéologique de Sens“ mitbegründet hatte, 1848 im „Congrès Archéologique de France“. In seinem Artikel über die Geschichte der Kathedrale von Sens widmet er einige Zeilen dem im Kirchenboden eingelassenen Labyrinth. Seine Beschreibung lautet wie folgt: „Cet ouvrage très ingénieusement combiné, avait 10 m de diamètre, il fallait une heure entière pour en parcourir tous les circuits, et l’on faisait 2,000 pas en les suivant exactement, sans repasser par le même endroit.“201 Anschließend verweist er darauf, dass er nach der Fertigstellung des Textes noch eine Zeichnung des Labyrinths entdeckt habe.202 Am Ende des Artikels findet sich dann zusammen mit anderen Abbildungen und dem Vermerk: „Voici l’es197 BMAUX, Ms 215, fol. 33v. Siehe auch Wright 2001, S. 308. Wright zitiert „détroire [sic]“, in der Handschrift steht jedoch „détruire“. 198 BMAUX, Ms 215, fol. 33v, vgl. auch Wright 2001, S. 308. 199 Vgl. Wright 2001, S. 47. 200 Vgl. Haubrichs 1983, S. 104, Kern 1999, S. 240. 201 Chauveau 1848, S. 198 f. 202 „Cette notice était terminée lorsque nous avons été assez heureux pour retrouver un dessin de ce labyrinthe“, Chauveau 1848, S. 199.

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quisse du labyrinthe de la cathédrale de Sens, cité page 199“203 eine Skizze des Labyrinths. Woher und von wann diese Zeichnung stammt, bleibt unklar, sollte sie nicht das Werk von einem der im Artikel erwähnten Künstler sein, welche die anderen Illustrationen anfertigten. Bereits Wright wunderte sich, dass Chauveau viele Elemente der Zeichnung wiedergab, nicht aber auf diese selbst einging, sondern eine eigene Abbildung präsentierte. Für Shelton ist dies ein eindeutiger Beleg dafür, dass Chauveau seine andere Quelle für verlässlicher gehalten habe als die Abbildung aus Tarbés Sammlung.204 Allerdings ist fraglich, ob Chauveau Kenntnis von Tarbés Zeichnung hatte. Die Angaben, die der Grand-Vicaire aus Sens macht, sind nämlich wörtlich Tarbés Publikation zur Geschichte Sens’ aus dem Jahr 1838 entnommen, die gänzlich ohne Abbildung des Labyrinths auskommt.205 Zudem kritisiert Chauveau die von Tarbé im genannten Werk aufgelisteten Kosten für den Neubau des Kirchenbodens. Die Frage, ob Tarbé selbst die zwischen 1768 und 1789 entstandene Labyrinthzeichnung aus seiner Sammlung für glaubhaft hielt, wird sich kaum beantworten lassen. Der Hinweis, dass er sie nicht in einem seiner Bücher veröffentlichte, wird dadurch relativiert, dass die Werke gänzlich ohne Illustrationen auskommen. Es bleiben also mindestens zwei Zeichnungen, deren Herkunft und Alter offenbleiben.206 Keine der beiden stimmt völlig mit einem Entwurf aus einer Handschrift oder dem Labyrinth in Chartres überein, in ihrer groben Form und der Anzahl der Windungen folgen sie jedoch dem Typ „Chartres“. Wann das Labyrinth entstanden ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Vermutlich wurde es während oder nach Abschluss des gotischen Kirchenbaus in den Boden eingelassen. Die Konstruktion der Kathedrale begann irgendwann in der Amtszeit von Erzbischof Galterus Cornuti (1122–1142/44) und wurde 1184 durch einen Brand unterbrochen, wobei zu diesem Zeitpunkt bereits einige Altäre geweiht waren.207 Anfang des 13. Jahrhunderts erfolgten dann weitere Altarweihen, so dass die Entstehung des Labyrinths zwischen der Mitte des 12. Jahrhunderts und der Mitte des 13. Jahrhunderts anzusetzen ist.208 203 Ebd., S. 217. 204 Vgl. Shelton 2009, S. 29. 205 Siehe: Tarbé 1838, S. 439 f. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Chauveau die angegebenen 30 Fuß in 10 m umwandelt. Tarbé verwendet denselben Wortlaut bei seiner um 50 Seiten erweiterten Geschichte der Kathedrale St.-Étienne von 1841, vgl. dort S. 28. 206 Vgl. Shelton 2009, S. 30. 207 Vgl. Plein 2005, S. 45–49. 208 Vgl. Haubrichs 1980, S. 104, Kern 1999, S. 240.

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Die engen baulichen Verbindungen zwischen den beiden dem Hl. Stephanus geweihten Kathedralen von Sens und Auxerre waren bereits im dritten Kapitel deutlich geworden. Das Kirchenlabyrinth von Auxerre war nach den Angaben des örtlichen Kanonikers Jean Lebeuf aus unbekannten Gründen 1690 entfernt worden. Eine Zeichnung davon existiert meines Wissens nicht, allerdings liefert Lebeuf in seinem Artikel von 1726 einen wichtigen Hinweis. Im Verlauf der Schilderung der Pelotte berichtet er: „Cet instrument [die Orgel] étoit à la portée des Acteurs, puisqui’ils exerçoient leur personnage presque au-dessous du buffet, dans l’endroit de la Nef, où avant l’an 1690. on voyoit sur le pavé une espece de labyrinthe en forme de plusieurs cercles entrelacez, de la même manière qu’il y en a encore un dans la Nef de l’Eglise de Sens.“209 Das Labyrinth in Auxerre befand sich nach der Beschreibung von Lebeuf somit ebenfalls im Kirchenschiff und war von der gleichen Art wie das Labyrinth in Sens. Ob „de la même manière“ bei Lebeuf als exaktes Gegenstück zu Sens angesehen werden kann oder dem Labyrinth in Sens bloß in seiner kreisrunden Form mit elf Windungen entsprach, ist eine schwierige Frage. In der Grundform dürfte es jedoch nicht von den Labyrinthen in Chartres und Sens abgewichen sein. Da das Labyrinth laut Lebeuf nahe der Orgel lag, grenzte es fast unmittelbar an das Westportal. Ähnlich wie in Sens ist die Entstehung des Labyrinths nur vage zu datieren. Haubrichs, der die Kirchenlabyrinthe allgemein sehr früh datiert, schlägt das Ende des 12. Jahrhunderts vor. Der Bau der Kathedrale wurde allerdings erst 1214 begonnen und die Weihe 1334/35 nach Fertigstellung des Chores vollzogen, so dass das 13. Jahrhundert oder der Beginn des 14. Jahrhunderts wahrscheinlicher sind.210 Tanz auf dem Labyrinth Eine Verbindung von Tanz und Labyrinth wird schon in den mythologischen Quellen der Antike bezeugt.211 In der Ilias wird bei der Beschreibung von Achills Schild auf einen Tanzplatz in Knossos für Ariadne verwiesen, ohne dass auf den Theseusmythos oder das Labyrinth näher eingegangen wird. Von der Urgestalt eines „Homerischen Labyrinthtanzes“, wie ihn Karl Kerény in seinen LabyrinthStudien entwarf, kann, wie Martin Vöhler völlig zu Recht anmerkt, keine Rede sein.212 Erst in den Homer-Scholien, den im 5. Jahrhundert vor Christus entstandenen Kommentaren zur Ilias, findet sich diese Verknüpfung: „Nach seinem 209 210 211 212

Lebeuf 1726, S. 923. Haubrichs 1980. S. 103 f., vgl. Kern 1999, S. 221, Zellmann 2007, S. 45. Vgl. Kern 1999, S. 19, 43–68, Greene 2001, S. 1410 f., Isar 2011, S. 6–18. Vgl. Vöhler 2007, S. 27 ff.

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Sieg (sc. über den Minotauros) ist Theseus mit den jungen Männern und Frauen herausgekommen (sc. aus dem Labyrinth) und hat für die Götter einen Tanz im Kreis zusammengebunden in der Art, wie er auch den Weg hinein und den Weg heraus aus dem Labyrinth erlebt hatte. Bei der Umsetzung des Tanzes hat ihnen Daidalos Hinweise gegeben.“213 Von Theseus’ Tanz ist, wiederum mit einem anderen Schwerpunkt, auch bei Kallimachos, einem hellenistischen Schriftsteller aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., die Rede. Die für die Rezeption im Mittelalter entscheidende Prägung liefert jedoch Plutarch (45–125). Der griechische Schriftsteller, der in seinen Biographien große Griechen und Römer gegenüberstellt, schildert in der Lebensgeschichte des Theseus den Tanz wie folgt: „Von Kreta absegelnd nahm Theseus Kurs auf Delos, opferte dem Gotte und weihte ihm das Aphroditebild, das er von Ariadne bekommen hatte. Dann tanzte er mit den Jünglingen den Reigentanz, den die Delier, wie es heißt, jetzt noch begehen und der in Nachahmung der Windungen und Irrgänge des Labyrinths mit allerlei Verschlingungen in einem gewissen Rhythmus sich vollzieht. Diese Art des Tanzes wird, wie Dikaiarchos berichtet, von den Deliern Geranos (= Kranich) genannt. Theseus tanzte ihn um den Altar Keraton, der aus lauter linken Hörnern (= kereta) zusammengefügt ist. Schließlich soll er in Delos ein Kampfspiel veranstaltet haben, und zum ersten Male soll damals von ihm den Siegern ein Palmzweig überreicht worden sein.“214

Bei Plutarch bekommt der Tanz eine genauere Beschreibung und wird gemäß der antiken Kunsttheorie als mimetischer Prozess gedeutet, bei dem Theseus und die von ihm befreiten Jugendlichen ihre Flucht aus dem Labyrinth tänzerisch darstellen. Kern sieht in der Beschreibung von Plutarch mehrfach Bezüge zu Initiationsriten. Zum einen werden die Gefangenen zunächst als Kinder, nach ihrer Rückkehr aus dem Labyrinth aber als Bürger Athens bezeichnet. Zum anderen musste Theseus erst in das Labyrinth herabsteigen und den Minotaurus besiegen, bevor er König und später Gründer einer Stadt werden konnte.215 Knapp 300  Jahre später behandelte der römische Rhetor Marius Victorinus (†  nach 363) im sechsten Kapitel seiner „Ars Grammatica“ ebenfalls den von Theseus und seinen Gefährten vollführten Tanz, den er als Nachahmung des Sternenreigens ansieht. Die erste Bewegung von links nach rechts entsprach der Bewegung des Himmels von Westen nach Osten, die Windung von rechts 213 Ebd., S. 31. 214 Plutarch, Theseus, 21, Edition: Ziegler 2010, S. 84. 215 Vgl. Kern 1999, S. 56.

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nach links dann den Planeten, die sich entgegengesetzt von Osten nach Westen bewegten. Das Verharren im Zentrum des Labyrinths stellte schließlich den Bezug zur unbewegten Erde dar.216 Labyrinth, Tanz und Sphärenharmonie werden also bei Marius Victorinus so verknüpft, dass ein Einfluss auf die mittelalterlichen Tanzpraktiken auf den Kirchenlabyrinthen naheliegt. So sah auch bereits Batschelet-Massini in der Rezeption von Marius Victorinus die Entstehung des Tanzes auf dem Labyrinth in der Kathedrale von Chartres: „Wer auch immer in Chartres den Labyrinthtanz der Ostervesper eingeführt hatte, konnte kaum anders als von Marius Victorinus angeregt worden sein und vollzog damit einen echten Akt der Renaissance, der Wiederbelebung.“217 Seit Beginn des Christentums nahmen die Kirchenväter in ihren Schriften Bezug zum Labyrinth und dem damit verbundenen Theseusmythos, wie er bei Ovid, Virgil und Plutarch überliefert wurde. Bereits bei Sedulius, einem christlichen Dichter des 5. Jahrhunderts, wird Christus als neuer Theseus charakterisiert, der in das Labyrinth als Symbol für die Hölle hinabsteigt, um die Erlösung zu bringen. Sedulius verbindet den Abstieg in die Hölle auch schon mit dem Osterdatum.218 Der antike heidnische Mythos von Theseus’ Kampf gegen den Minotaurus wurde während des Mittelalters dann immer deutlicher in einen christlichen Kontext gerückt. Als beispielhaft dafür kann die Interpretation des französischen Benediktinermönches Petrus Berchorius (†  1362) gelten. Berchorius, der jahrelang am Papsthof in Avignon weilte und dort Kontakte zu Petrarca und dem italienischen Frühhumanismus knüpfte, begann um 1320 sein Werk über die allegorische Exegese.219 Der um das Jahr 1340 fertiggestellte erste Teil, das „Reductorium morale“, enthält im fünfzehnten Buch eine Zusammenfassung der gängigen Ovidallegoresen des Spätmittelalters. Zum Theseusmythos schreibt Berchorius: „Dic allegorice. quod minotaurus potest signare diabolum. infernum. et mortem. […] sed quia procerto teseus egei regis filius. id est. christus filius dei patris sorte mittebatur per mortalitatem quem assumpsit et virtutem habuit ad istos minotauros descendere. sed procerto ibi non potuit remanere quia mediante filia deitatis et pice humanitatis. ista monstra. scicilet mortem. diabolum et infernum superavit. et inde per resurrectionem liber et victor exiit et revenit.“220 Berchorius verbindet in seiner Allegorese ganz unterschiedliche Ebenen mit dem Theseusmythos, die Fragen der Ekklesiologie, der Theologie und Erlösungsgeschichte umreißen. So wie Theseus, der Sohn des Königs Aegeus, 216 217 218 219 220

Vgl. Wright 2001, S. 142, Greene 2001, S. 1438. Batschelet-Massini 1978, S. 61. Dazu: Haubrichs 1980, S. 120 f. Zu diesem Werk vgl. Haubrichs 1980, S. 134 ff., Wright 2001, S. 76 ff. Cod. Mailand Bibl. Ambros. D. 66, fol. 73r–73v, zitiert nach Haubrichs 1980, S. 135.

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ausgesandt wurde, um sich dem Minotaurus zu stellen, und siegreich zurückkehrte, so besiegte Jesus, der von Gott gesandte Sohn, den Teufel. Die in das Labyrinth verschleppten Kinder können mit dieser Deutung gleichermaßen in die rechtgläubigen Kinder Gottes transformiert werden, die durch Christi Triumph über den Teufel erlöst werden.221 Das platonische Konzept der harmonischen Kreisbewegung der Gestirne, das die gesamte Antike über prominent blieb, erfuhr im Neuplatonismus des 3. Jahrhunderts noch einmal eine verstärkte Bedeutung. Christliche Autoren begannen Platons Idee nun in eine christliche Kosmologie einzubetten, so dass der Reigen der Himmelskörper sich bald zu einem Reigen der Engel entwickelte. Vor allem über Augustinus, Boëthius und Pseudo-Dionysius gelangten heidnische und christliche Adaptionen Platons an die Kathedralschulen des Hoch- und Spätmittelalters. Betrachtet man die Lehrer an der Schule von Chartres, zeigt sich, dass platonisches Gedankengut und insbesondere der „Timaios“ bei ihnen im 12. Jahrhundert stark verbreitet waren. Ebenso gibt es Hinweise auf eine Platonrezeption in Sens und Auxerre, allerdings erlaubt hier die Forschungslage nur Spekulationen. Einige Liturgiker dieser Zeit berichteten von Spiel- und Tanzpraktiken, oder Kombinationen von beiden, die von Kanonikern und Bischöfen in den großen Kathedralen Frankreichs ausgeübt wurden. Honorius Augustodunensis und Sicard von Cremona präzisierten, dass sich diese Tänze aus einst heidnischen Tänzen, welche die Bewegung der Gestirne nachgeahmt hätten, entwickelt hatten, dass sie nun aber als christliche Praktiken anzusehen seien. Die im Kirchenraum praktizierten Tänze verstanden sich in der Tradition biblischer Beispiele, etwa von Davids Tanz vor der Bundeslade oder Miriams Reigen nach der Flucht durch das Rote Meer. Aus diesen Vorbildern sollte sich der Tanz in Sens entwickeln. Ebenso wie die mittelalterlichen Liturgiker von einem Transfer einst heidnischer Tänze in das Christentum berichteten und den Tanzpraktiken mit Verweis auf biblische Vorbilder eine Dignität zusprachen, erfolgte im 12. und 13. Jahrhundert auch die christliche Adaption des Theseusmythos. Theseus, der Bezwinger des Minotaurus und Retter der athenischen Kinder, wurde zu Christus als Bezwinger des Teufels und Retter der Menschheit umgedeutet. Mit dieser christlichen Transformation gelangte wohl auch das Labyrinth als Symbol des christlichen Sieges in den Kirchenraum. Labyrinth und Theseusmythos waren eng mit dem Ostertermin verknüpft. In der Kathedrale von Auxerre verbanden sich dann im 13. oder 14. Jahrhundert, so die These von Wright, die bereits prak221 Vgl. Haubrichs 1980, S. 135 ff.

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tizierten Tänze an Ostern mit Theseus’ Tanz nach dem Sieg über den Minotaurus: „The Auxerre account supports what Sicard has to say about the game of the pila (or pilota in the sixteenth-century record) as a sacred dance that symbolized the restoration of cosmic harmony at the most solemn moment of the liturgical year.“222 Der an Ostern gefeierte Sieg von Christus über den Satan und die damit wiederhergestellte Harmonie der Schöpfung vollzogen die Kanoniker in einem Tanz auf dem Labyrinth im Kirchenraum, der zugleich die Initiation der Neuanwärter in der Körperschaft des Kapitels ermöglichen sollte.

5.2 Machtvolle Initiationsrituale – Die performative Kraft von Tänzen Die christliche Transformation ehemals heidnischer Vorstellungen wie die Idee des Sternenreigens oder der Theseusmythos sowie biblische Bezüge auf die Tänze Miriams oder Davids bildeten den Rahmen für eine Reihe von Tanzpraktiken, die sich seit dem 12. Jahrhundert an Ostern in vielen Kathedralen Frankreichs beobachten lassen. Die Tänze – teilweise in Verbindung mit einem Ballspiel – waren das ganze 13. Jahrhundert über verbreitet, wie sich aus den Werken der Liturgiker entnehmen lässt. Im Kontext dieser Tanzpraktiken lässt sich auch die Entstehung der Tänze in Auxerre und Sens verorten. In diesem Kapitel geht es nun darum die Vielzahl der Elemente, aus denen die Tänze im paraliturgischen Rahmen des Ostertags bestehen, genauer zu untersuchen. Im Fokus stehen dabei vor allem zwei Fragen: zum einen die Frage nach der performativen Herstellung der Machtbeziehungen von Kapitel und Bischof, zum anderen, inwiefern sich die Tänze in Anlehnung an Victor Turner (1920–1983) als Initiationsrituale lesen lassen. Der Ethnologe Victor Turner entwickelte das von Arnold van Gennep (1873–1957) in seinem Werk „Rites de passage“ beschriebene 3-Phasen-Schema der Übergangsriten (Trennungsphase, Schwellenphase, Angliederungsphase) weiter, indem er sich insbesondere mit der Schwellenphase auseinandersetzte. Diese, von ihm als „liminale Phase“ bezeichnet, sieht Turner durch Unbestimmtheit und Ambiguität gekennzeichnet. Das Modell, das Turner zunächst aus seiner Feldforschung in den 1950er Jahren bei den westafrikanischen Ndembu im heutigen Sambia entwickelte, wurde von ihm auch auf das europäische Mittelalter übertragen, indem er den Bettelorden der Franziskaner und seinen Gründer

222 Mews 2009, S. 520.

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Franz von Assisi anhand der Frage nach den Möglichkeiten langfristiger Liminalität diskutierte.223 Turners aus der Feldforschung entwickelte Theorie der Übergangsriten wurde auch in der Mediävistik rezipiert. Franz-Josef Arlinghaus etwa hat den Ansatz in Verbindung mit der Systemtheorie untersucht und zeigen können, wie durch Rituale „zeitliche befristete Kommunikationsräume“224 gestaltet werden, in denen nicht nur ein permanenter Statuswechsel erfolgen kann, sondern auch temporäre Veränderungen von Erwartungshaltungen geschaffen werden. In beiden Fällen müssen bestehende Grenzen räumlich und zeitlich begrenzt aufgebrochen werden, um den Statusübergang zu ermöglichen. Die Brauchbarkeit von Turners Konzept der „Liminalität“ für den Tanz hat jüngst Gregor Rohmann in seiner Arbeit zur Tanzwut diskutiert. Er stellt dabei heraus, dass Turner im Gegensatz zu vielen ihn zitierenden AutorInnen Tanz keineswegs nur auf einen Zustand von Unordnung oder auf ein Entgrenzungsphänomen reduziert: „Tanz ist insofern Teil des liminalen Prozesses nicht als Ausdruck der Anti-Structure, sondern als rituelles Medium der Integration in eine (neue) Ordnung, er steht also am Übergang zur dritten Phase des van Gennep’schen Modells.“225 Für das Christentum, welche das gesamte irdische Leben als Schwellenzustand von der Geburt bis zum Tod begreift, ist Tanz eine Kommunikationsform, die auf die zurück- und vorliegende Phase der Transzendenz verweist.226 Ebenso von Turner inspiriert hat Michel Eisenberg den Tanz in Auxerre als Initiationsritual untersucht. Eisenberg übernimmt dazu den von Lewis entlehnten Begriff der „embodied experience“, der im Gegensatz zu Turners Begriff der „Communitas“ komplexeren Konfigurationen gerecht werden kann. Gerade die Verbindung der Körperpraxen Tanz und Spiel würde das Aufbrechen von Statusunterschieden und somit die Aufnahme eines neuen Kanonikers erleichtern.227 Mögliche Anschlüsse dieser methodischen Überlegungen für die Pelotte von Auxerre und die Cazzole von Sens sollen in diesem Abschnitt diskutiert werden.

5.2.1 Die Pelotte von Auxerre Die Anfänge der Pelotte von Auxerre liegen weitestgehend im Dunkeln. Ihre erste Erwähnung in den Quellen findet sich einem Statut des Kapitels von 1396, 223 Vgl. Turner 2005, S. 128–158, zu Initiationsritualen siehe auch: Bourdieu 2005, S. 111–121. 224 Arlinghaus 2004, S. 121 f. 225 Rohmann 2013, S. 75. 226 Vgl. ebd., S. 76–79. 227 Vgl. Eisenberg 2009, o.S.

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das allerdings erst bei Lebeuf und du Cange überliefert wird und laut Wright nicht mehr in Auxerre erhalten ist. Darin wird jedoch bereits Bezug auf eine bestehende Praxis genommen, so dass die Pelotte älter sein muss.228 Ob sie allerdings bereits im 13. Jahrhundert bestand, muss Spekulation bleiben. Eine detaillierte Beschreibung der Pelotte von Auxerre liefert bekanntermaßen erst Lebeuf in seinem Aufsatz von 1726. Er verweist allerdings auf ein älteres Manuskript, das kurz nach dem Verbot der Pelotte erschienen sein soll: „Mais ce que je vous reserve, en finissant l’Histoire de la bonne ou mauvaise fortune de ce Pilota, est une description abregée de la ceremonie, telle que je l’ai trouvée dans un Manuscrit un peu posterieur au temps de l’Histoire, mais dont les termes énergiques du Latin suppléront au défaut du recit de plusieurs circonstances.“229 Lebeufs Formulierung zur Datierung des Manuskripts „un peu posterieur au temps de l’Histoire“ ist schwierig zu deuten. Während „l’histoire“ häufig mit der von Lebeuf erzählten Geschichte vom Ende der Pelotte gleichgesetzt wird,230 so dass das Manuskript etwa aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammen dürfte, schließt Mead diese Übertragung aus. Er schlägt vor, die Formulierung mit „shortly after the records begin“231 zu übersetzen, wodurch das Manuskript noch zu der Zeit, als die Pelotte praktiziert wurde, entstanden wäre. Es macht verständlicherweise einen klaren Unterschied, ob die Beschreibung der Pelotte erst im Rückblick danach entstanden ist,232 möglicherweise sogar von einem Kanoniker aufgeschrieben, der nie daran partizipiert hatte, oder als Augenzeugenbericht in unmittelbarem Anschluss an den Tanz entstand oder gar als normative Anweisung für den Verlauf gedacht war. Das von Lebeuf zitierte, in dieser Hinsicht kaum einzuordnende Dokument gibt das Ritual am Ostertag folgendermaßen wieder: „Nachdem er die Pilota (eine Art Ball) vom dazugekommenen oder neuen Kanoniker erhalten hatte, stimmte der Dekan, oder jemand für ihn, der einst auf dem Kopf eine Almutia gleich den anderen trug, den für das Osterfest bestimmten Wechselgesang an, der beginnt ‚Victimae paschali laudes.‘ Mit der linken Hand den Ball ergreifend, tanzte er zu 228 „Statutum Capituli Autissiod. 18 April. Ann. 1396: Ordinatio de pila facienda. Ordinatum fuit quod domini Stephanus de Hamello et magister Johannes Clementeti qui fuerunt novi stagiatores facient Pilotam proxima die Lunæ post Pascha … et consensit primum mensem pro dicta pila solvi“, du Cange 1883–1887, Bd. 6, Sp. 253, vgl. Lebeuf 1726, S. 915 f., Wright 2001, S. 321. 229 Lebeuf 1726, S. 921. 230 Vgl. Zellmann 2007, S. 51. 231 Mead 1912, S. 96. 232 Zur Problematik der Erinnerung vgl. Fried 2004.

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den rhythmischen Klängen des gesungenen Gebets ein tripudium, während die anderen an der Hand gefasst eine chorea um das Labyrinth tanzten. Unterdessen wurde der Ball vom Dekan abwechselnd an jeden einzelnen der Tänzer, die eine Reihe bildeten, übergeben oder geworfen. Das war das Spiel und die Orgel bestimmte den Takt des Tanzes. Nachdem Lied und Tanz beendet waren, ging der Chor nach dem Tanz zum Essen. Dort saßen alle vom Kapitel, und auch die Kapläne und Bediensteten, mit einigen Vornehmen der Stadt im Kreis auf Bänken oder kreisförmig angeordneten Sitzen.“233

Die Beschreibung liefert eine Vielzahl von musischen, architektonischen, tänzerischen und ludischen Elementen, die erst in ihrem komplexen Zusammenspiel das Ritual ermöglichen. An der Pelotte nehmen mehrere Akteure teil. Dekan und Kanoniker tanzen, jedoch mit unterschiedlichen Bewegungsabläufen, auf dem im Kirchenboden eingelassenen Labyrinth und übergeben dabei eine Art Ball. Ein Orgelspieler begleitet die Tanzenden. Eingeladene Vertreter der Stadt und königliche bzw. herzogliche Bevollmächtigte partizipieren als Zuschauer an einem Ritual, das am Abend des Ostertages im Kirchenschiff der Kathedrale von St. Etienne stattfindet. Die Pelotte von Auxerre wirft somit eine Reihe von Fragen auf und lässt Raum für Spekulationen von Verbindungen zu ägyptischen Labyrinthen, den gnostischen Johannesakten oder den von Ethnologie und Volkskunde berichteten Osterbräuchen aus dem 19. Jahrhundert. Anstatt aber vorschnell derartig weite Verbindungen zu ziehen, möchte ich sie zunächst im Zusammenhang mit der Liturgie und der Feier des Osterfestes im spätmittelalterlichen Frankreich betrachten. Bevor aber auf die Osterliturgie eingegangen werden kann, muss vorher noch eine Sache geklärt werden. Zugeben, die Frage klingt zunächst banal, aber welcher Tag ist eigentlich mit dem Ostertag gemeint? Diese Frage drängt sich insofern auf, da auch die jüngere Forschung die Pelotte an unterschiedlichen Tagen positioniert. Während Zellmann die Pelotte auf jeden „Ostersonntag, nach der

233 „Acceptâ pilotâ à proselyto seu tirone Canonico, Decanus, aut alter pro eo olim gestans in capite almutiam ceterique pariter, aptam diei Festo Paschae Prosam antiphonabat quae incipit Victimae Paschali laudes: tum laevâ pilotam apprehendens, ad Prosae decantatae numerosos sonos tripudium agebat, ceteris manu prehensis choream circa daedalum ducentibus, dum interim per alternas vices pilota singulis aut pluribus ex choribaudis à Decano serti in speciem tradebatur aut jaciebatur. Lusus erat & organi ad choreae numeros. Prosâ ac saltatione finitis chorus post choream ad merendam proberabat. Ibi omnes de Capitulo, sed & Capellani atque Officiarii, cum quibusque nobilioribus oppidanis in corona sedebant in subselliis seu orchestra …“, Lebeuf 1726, S. 921 f. Für weitere Übersetzungen ins Englische und Deutsche vgl. Mead 1912, S. 96  ff., Wright 2001, S. 139 f., Zellmann 2007, S. 51.

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Ostermesse“234, datiert und Wright ebenso von „in the early afternoon of Easter Sunday“235 spricht, legt Eisenberg mit aller Selbstverständlichkeit das Ritual auf „Easter Monday“236. Die Cambrai-Handschrift von Wilhelm von Auxerre hatte ja von Tänzen an beiden Tagen gesprochen. Insofern bleibt die Frage offen, Sonntag oder Montag? Die früheste Erwähnung der Pelotte vom 18. April 1396, die sich in einem Kapitelregister aus den Archives Départementales Auxerre findet, enthält den Vermerk, dass die neuen Anwärter „facient Pilotam proxima die Lune post Pascha“237. Die Pelotte fand nach diesem Eintrag also am Ostermontag statt. Da Ostern 1396 am 2. April, 1397 am 22. April gefeiert wurde, gab es den 18. April 1396 gemäß dem Julianischen Kalender zweimal.238 Da die Neuanwärter meistens im Herbst ihre Initiation begannen, spricht einiges dafür, dass der zweite Termin (nach heutiger Zeitrechnung also der 18. April 1397) gemeint ist und am letzten Mittwoch vor Ostern dieser Beschluss gefasst wurde. Der Grund für den Eintrag dürfte schwerlich zu rekonstruieren sein. Sollte das Kapitel also nicht getagt haben, weil in diesem einen Jahr die Pelotte ausnahmsweise auf den Ostermontag verlegt wurde, spricht alles dafür, dass sie gegen Ende des 14. Jahrhunderts am Ostermontag stattfand. Gegen den Ostermontag spricht allerdings, dass Lebeuf die Pelotte im Jahr 1471 auf den 14. April datiert. Auch der Besuch des conseillers Disque findet laut Lebeuf am 28. März 1535 statt. Beide Tage waren nach dem Julianischen Kalender, der in weiten Teilen Frankreichs bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Geltung hatte,239 ein Sonntag. Dass Lebeuf die Pelotte fälschlicherweise auf den Ostersonntag legte und die Daten dazu ebenso passend wie falsch wählte, wäre denkbar, jedoch sprechen auch die von Lebeuf zitierten Quellen des 16. Jahrhunderts vom Ostersonntag. Der Gerichtsbeschluss aus Auxerre schlägt als Ersatz für die Pelotte einen „Salut le jour de Pâques“240 vor und auch der Procureur Général spricht in seinem Brief an Bischof Dinteville II. vom „jour de Paques“241. Spätestens ab den 1470er Jahren muss demnach eine Vorverlegung der Pelotte auf den 234 235 236 237 238

Zellmann 2007, S. 45. Wright 2001, S. 140. Eisenberg 2009, o.S. Du Cange 1883–1887, Bd. 6, Sp. 253. Der julianische Kalender lässt das Jahr am Ostersonntag beginnen, dessen Datum bekanntlich jedes Jahr variiert. Das Jahr 1396 dauerte damit vom 2. April bis zum 21. April (1397 nach heutiger Zeitrechnung) und zählte damit nicht 365 sondern über 380 Tage. Den 3. bis 21. April gab es somit zweimal in diesem Jahr. 239 Vgl. Bach 1907, S. 19. 240 Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323. 241 Ebd. S. 323.

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Ostersonntag stattgefunden haben. Der Grund dafür ist unbekannt, ließe sich möglicherweise mit einer Veränderung der Festgestaltung aus den liturgischen Büchern erklären. Auf diesen Tag passt auch allein die aus der Beschreibung des Rituals ersichtliche Osterliturgie. Bevor das Missale Romanum 1570 bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil den Ritus der Osterliturgie prägte, gab es im spätmittelalterlichen Frankreich ganz unterschiedliche Ausprägungen der Osterfeier, die sich aus dem spätantiken Papstgottesdienst sowie aus fränkischen Entwicklungen ab dem 8. Jahrhundert und deren Rezeption in Rom um 900 bedienten.242 Zwar blieb das Grundprinzip vom Pascha-Triduum (Karfreitag, Karsamstag, Ostersonntag) bestehen, doch wie diese Liturgie ausgestaltet und durch paraliturgische Elemente angereichert wurde, gestaltete sich in den Kirchen unterschiedlich.243 Der allgemeinen Tendenz folgend, fand auch in Auxerre während des Mittelalters eine Vorverlegung der Ostervigil von den Nachtstunden auf die frühen Nachmittagsstunden des Karsamstages statt. Die Lesungen zum Gottesdienst entstammten unter anderem den Büchern Genesis und Exodus und thematisierten damit die Erschaffung der Welt und den Tanz nach der erfolgreichen Durchquerung des Roten Meeres. Anschließend fand eine Prozession in Richtung Taufbrunnen zum Gesang „Kyrie Eleison“ statt. Dort wurde das Wasser gesegnet, geteilt und in alle vier Himmelsrichtungen gesprenkelt. Begleitet von der Kyrie-Litanei zog das Kapitel dann zurück in die Kathedrale,244 wo durch Gesänge des Kantors zur Eucharistiefeier übergeleitet wurde.245 Der Ostersonntag begann in Auxerre mit dem Morgengottesdienst. Nachdem die Chorknaben den Gottesdienst mit Hymnengesang am Hauptaltar eröffnet hatten, begannen zwei Kanoniker niederen Ranges (tortrari) an den Seiten des Altars die Anthiphon „Quem queritis in sepulchro“ zu singen, in die anschließend drei Chorknaben einstimmten. Daraufhin wandten sich die drei Knaben zum Chor und begannen abwechselnd die Sequenz „Victimae paschali laudes“ zu singen, deren Antistrophe von drei Chorherren übernommen wurde. Erst im letzten Vers stimmte dann der gesamte Chor (totus chorus) ein.246 Nach der Messe fand dann in den Nachmittagsstunden247 die Pelotte statt, woran sich das gemeinsame Mahl anschloss. Wenn die Glocken zur Vesper läuteten, zogen 242 Vgl. Arx 2008, S. 96 f. Grundlegend zur Entwicklung der Liturgie: Angenendt 2001. 243 Vgl. Maur 1983, S. 113–119. 244 „Tunc revertitur processio in ecclesiam nostram“, BMAUX, SZ 39 bis, fol. 83r. Leider gibt es keine weitere Angabe, wo genau die Prozession in der Kirche endet. 245 Vgl. BMAUX, S 39Z bis, fol. 74v–84v, Maur 1983, S. 91–97. 246 Vgl. BMAUX, SY3, fol. 68r–69v. 247 „… à une heure ou deux après midi …“, Lebeuf 1726, S. 922.

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die Kanoniker erneut in die Kathedrale ein. Nach der Vesper gab es eine weitere Prozession zum Brunnen. Für die Woche nach Ostern waren dann eine Reihe von Prozessionen in die Kirchen der Stadt Auxerre vorgesehen, am Montag nach Ostern führte eine Prozession zur Kirche Saint-Pierre, am Dienstag zur Kirche Saint-Amâtre und am Mittwoch zu Saint-Julien.248 Die Ostersequenz „Victimae paschali laudes“ begleitete den Tanz der Kanoniker auf dem Labyrinth. Das Lied wurde am Ostersonntag auch außerhalb der Pelotte zum Morgengottesdienst und zur Vesper gesungen. Neben dem Processionale von 1537 enthält bereits ein aus dem 14.  Jahrhundert stammendes Messbuch aus Auxerre die Musik und den dazugehörigen Text,249 der sich auch in zahlreichen anderen liturgischen Büchern dieser Zeit findet: Victime paschali laudes Immolent Christiani. Agnus redemit oves: Christus innocens Patri Reconciliavit peccatores. Mors et vita duello Conflixere mirando: Dux vite mortuus, Regnat vivus. Dic nobis Maria, Quid vidisti in via. Sepulcrum Christi viventis, Et gloriam vidi resurgentis. Angelicos testes, Sudarium et vestes. Surrexit Christus spes mea Precedet suos in Galileam. Credendum est magis soli Marie veraci Quam Judeorum turbe fallaci. Scimus Christum surrexisse A mortuis vere Tu nobis victor Rex Miserere. Alleluya.250 248 Vgl. Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 227. 249 BNF, Ms fonds latin 17321, fol. 199, siehe dazu: Wright 2001, S. 142 ff. 250 Zitiert nach: Wright 2001, S. 143, vgl. Eisenberg 2009, o.S.

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Die im 11. Jahrhundert entstandene Osterhymne berichtet von der Begegnung der Apostel mit Maria Magdalena, die ihnen vom leeren Grab und der Auferstehung erzählt. Schon Wright hat gezeigt, dass die darin enthaltenen Motive, die Unsicherheit im Glauben, der Kampf von Leben und Tod, Christi Sieg über den Tod und schließlich seine Auferstehung, dieselben sind, die auch im christlich adaptierten Theseusmythos eine Rolle spielen. Er vermutet ebenso, dass die Kanoniker die kurze Sequenz mehrfach wiederholten, um den Tanz damit zu begleiten.251 Da die Sequenz als Antiphon gesungen wurde, wechselten sich dabei entweder Dekan und ganzer Chor oder die beiden Teile des Chors ab. Eine Verbindung von Gesang von Antiphonen und Tanz hatte bereits Sicard von Cremona deutlich gemacht: „Deshalb hat er die Antiphonen mit den Psalmen im Chor eingerichtet, sie sollen wie ‚choreae‘ (Reigen) gesungen werden.“252 Das von Lebeuf zitierte Manuskript berichtet ebenfalls von einer Orgel, welche den Gesang begleitete. Allerdings ist fraglich, ob die Kathedrale vor 1529 überhaupt eine Orgel besaß. Die Bischofsviten berichten jedenfalls für Bischof François Dinteville  I. (1514–1530), dass er in diesem Jahr mit Zustimmung der Kanoniker eine Orgel in unmittelbarer Nähe zur Hauptpforte einbauen ließ. Auch ein Organist als Mitglied des bas-choeur ist namentlich erst seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar.253 Möglicherweise gab es vorher bereits eine kleinere Orgel oder der Tanz wurde durch ein Portativ begleitet, denkbar ist aber auch, dass erst in den letzten Jahren der Pelotte die Orgel als Begleitinstrument dazugetreten ist. Das Besingen von Tod und Auferstehung Christi in der Ostersequenz „Victimae paschali laudes“ begleitete und rhythmisierte den Tanz der Kanoniker auf dem Labyrinth. Nach Deschevrens legt der Rhythmus des Liedes „un mouvement tant soit peu rapide“254 nahe. Für die Choreographie des Tanzes von über 50 Menschen auf dem mehr als 10 m durchmessenden Labyrinth gibt es eine Reihe von Ideen,255 zum Teil wurden dazu auch praktische Selbstversuche unternommen, die Choreographie zu rekonstruieren.256 Sie stehen jedoch vor dem Problem, dass die Quellen den Tanz nur äußerst vage beschreiben.257 Wie schon 251 252 253 254 255

Vgl. Wright 2001, S. 144. Weinrich 2011, S. 363. Vgl. Sot 2009, Bd. 3, S. 74, Demay 1898, S. 71 f. Dechevrens 1895, S. XII. Vgl. dazu: Mead 1912, S. 96–99, Fourrey 1934, S. 560 f., Wright 2001, S. 139 ff., Zellmann 2007, S. 51–55. 256 Davon berichtete Walter Waidosch am Rande der Tagung „Ambivalente ludische Musikpraktiken, 1200–1800“, 18.–19.10.2012 in Bielefeld. 257 Schon Lebeuf merkte zur Rekonstruktion der Tanzbewegungen an: „Il faudroit avoir un détail plus specifié de la ceremonie, & même une copie du procès verbal en entier,

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mehrfach angesprochen wurde, unterscheiden sich Kanoniker und Dekan in ihren Tanzschritten. Während der Dekan ein tripudium tanzte, fassten sich die Kanoniker an den Händen und tanzten eine chorea.258 Der gesamte Tanz wurde dann als saltatio259 bezeichnet. Alle drei Begriffe werden nach den Wörterbüchern des 16. Jahrhunderts mit „danse“ übersetzt.260 Versuche, das tripudium als einen gehüpften Tanz oder als eine Tanzfolge aus drei Schritten (trespedis) zu deuten, bleiben sehr spekulativ, zumal die Referenzbeispiele häufig der römischen Antike entnommen werden. Die mittelalterlichen Quellen zumindest geben keinerlei Hinweise, die Deutungen in dieser Hinsicht unterstreichen.261 Den Begriff chorea als Kreistanz oder geschlossene Kette zu deuten, ist dagegen weitaus sicherer, zumal die Beschreibung erwähnt, dass sich die Kanoniker bei den Händen fassten. Eine Initiale aus dem Magnus liber Organi des Pariser Kathedralkapitels von Notre-Dame zeigt eine an den Händen (genauer an den kleinen Fingern) gefasste Kette von fünf Geistlichen, die Jacques Chailley als Tanzfassung gedeutet hat.262 Die unterschiedliche Kleidung der Dargestellten weist auf unterschiedliche Weihegrade der Beteiligten hin. Die Miniatur leitet in dem Manuskript eine Serie von Rondeaux ein, die dementsprechend als Tanzlieder für Reigen gedeutet werden können. Die Initiale aus dem 13. Jahrhundert stellt eine der wenigen bildnerischen Darstellungen von tanzenden Geistlichen aus dem Mittelalter dar. Da die Hälfte der im Manuskript enthaltenen 60 Lieder für den Ostertag komponiert wurde, stellt die Abbildung möglicherweise einen Tanz von Geistlichen an Ostern dar und könnte als Vorbild für die Pelotte von Auxerre gedient haben263 (Abb. 9, siehe Tafelteil, S. 249). Die Initiale zeigt jedoch die klerikale Tanzpraxis aus der Mitte des 13.  Jahrhunderts, die sich im Verlauf des Spätmittelalters geändert haben könnte. Allerdings waren verschiedene Formen von Kreis- oder Kettentänzen im 16. Jahrhundert unter dem Namen „branle“ in der adeligen und bürgerlichen Tanzkultur weit verbreitet. Alle weltlichen Tanzveranstaltungen begannen mit einem langsamen Branle, so dass alle unabhängig von Alter und Gewandtheit am

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pour sçavoir selon quelles regles on y dansoit, & si ce n’énoit pas tous ensemble en maniere de branle“, Lebeuf 1726, S. 923. „Tum laevâ pilotam apprehendens, ad Prosae decantatae numerosos sonos tripudium agebat, ceteris manu prehensis choream circa daedalum ducentibus …“, Lebeuf 1726, S. 921. „Prosâ ac saltatione finitis …“, Lebeuf 1726, S. 922. Vgl. Estienne 1544a, S. 113, 695, Estienne 1544b, Stichwort „danse“. Vgl. La Rue 1995, S. 26 f., Wright 2001, S. 140, Zellmann 2007, S. 51 ff. Vgl. Chailley 1969, S. 377 ff. Vgl. Wright 2001, S. 151–155.

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Tanz teilnehmen konnten.264 Die Beschreibung legt ferner mehrere Bewegungsmuster nahe. Entweder tanzte der Dekan im Zentrum des Labyrinths, während sich die Kanoniker durch das Labyrinth tanzend ihm näherten oder der Dekan tanzte durch die Wege des Labyrinths, während die Kanoniker einen Kreistanz um das Labyrinth vollführten. Wright merkt dazu richtig an, dass „circa daedalum“ sowohl um das Labyrinth herum als auch durch das Labyrinth bedeuten könnte.265 Möglich wäre auch, dass die Kanoniker zunächst um das Labyrinth tanzten und sich dann tanzend auf dessen Wege begaben. Für ein Durchqueren des Labyrinths, sei es vom Dekan allein oder allen Kanonikern, könnte eine Passage aus dem „Püchlein vom Guldin Spil“ des Dominikanermönches Ingold von Basel eine weitere theologische Legitimation liefern. In dem Kapitel über das Tanzspiel berichtet er nämlich von zwölf Tänzen, dem ersten im Mutterleib, dem letzten vor dem Kreuz, die Jesus in seinem Leben getanzt habe.266 Da das Labyrinth in Auxerre bekanntlich elf Gänge aufwies, könnte mit jeder Windung ein Tanz seines Lebensweges nachvollzogen werden, um schließlich im Zentrum des Labyrinths mit dem zwölften Tanz zu enden und darin Tod und Auferstehung zu begehen. Diese Verbindung ist rein spekulativ, da völlig unklar ist, ob die Schrift von Meister Ingold oder eine mögliche Grundlage in Auxerre rezipiert wurden. Parallel zu den Tanzschritten erfolgte die Übergabe oder das Werfen des Balles. Der Dekan, der den Ball vor Beginn des Tanzes vom neuen Kanoniker übergeben bekommen hatte, spielte ihn jedem der Tänzer abwechselnd („per alternas vices“267) mit der linken Hand zu. Dazu musste die Handfassung aufgelöst werden, sollte der Ball nicht mit Kopf oder Fuß angenommen worden sein.268 Denkbar wäre auch, dass zwei Kanoniker den Ball mit gefassten Händen gemeinsam retournierten oder, sofern die Kanoniker eine Kette bildeten, der erste Tänzer den Ball mit der freien linken Hand269 fing und zurückwarf und sich dann von der Kette löste, um durch das Labyrinth zu tanzen. Diese Bewegung wurde dann mit jedem Einzelnen wiederholt. Es lassen sich sicherlich viele andere interessante Choreographien ausmalen, welche davon aber der spät264 Vgl. Arbeau 1588, fol. 68v–93r, Saftien 1994, S. 179–187. 265 Wright 2001, S. 140. 266 „Also sol ain ieglicher andächtiger mensch seim gemachel Jhesu Cristo in den zwelf gengen nach tantzen und springen mit aller andacht seins hertzen …“, Meister Ingold 1882, S. 72 f., vgl. Sonntag 2013, S. 255. 267 Lebeuf 1726, S. 922. 268 Vgl. Wright 2001, S. 140. 269 Da die zeitgenössischen Branles in der Haupttanzrichtung nach links gingen, hatte der erste Tänzer die linke Hand frei, vgl. Saftien 1994, S. 179.

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mittelalterlichen Tanzpraxis in Auxerre am nächsten kommt, lässt sich nach der Quellenlage wohl kaum entscheiden. Die einheitliche Kleidung der Kanoniker, die in ihrer hochgekrempelten violetten Soutane samt Almutia, deren Enden mit Leichtigkeit flatterten, um das Labyrinth tanzten – so stellte es sich zumindest Lebeuf vor270 –, legt nach den Kriterien von Turner eine gemeinschaftsstiftende Funktion des Tanzes nahe. Das Tragen der Almutia war jedoch kein Spezifikum der Pelotte oder der Osterfeierlichkeiten, sondern war seit dem Spätmittelalter für alle Stundengebete und Gottesdienste verbindlich. Eine Statutensammlung, die gegen Ende des 14. Jahrhunderts zusammengestellt wurde, regelte die Bekleidung im Chorraum: „Anno Domini MCCCLXV, in generali capit. S. Lucie, extitit ordinatum ut canonici et alii de choro, tam in caligis quam in almutiis uniformiter se habeant, quod nullus de ipsis utatur albis, vel rubeis seu viridibus aut aliis inhonestis caligis et almutiis, quodque subtus caputium sue cappe nullus ponat seu deferat caputium, sed uratur nigra almutia rotunda, vel saltem folrato [foderato] capucio nigra penna, maxime in ecclesia.“271 Da die Unterscheidung von sozialen Positionen über Kleidung ein wichtiger Faktor ständischer Gesellschaften war, man denke etwa an die zahlreichen Kleiderordnungen und Prozesse über Verstöße gegen diese Ordnungen,272 kann die uniforme Kleidung des Kapitels als Versuch gedeutet werden, soziale Unterschiede aufzuheben.273 Unabhängig von Herkunft oder Amt im Kapitel sollte die Gemeinschaft aller Kanoniker betont werden. Folgt man der Geschichtsschreibung Michelets, der von einer Kirche des Volkes spricht, oder Duby, der in seinem Werk „Le temps de cathédrales“, die Kathedrale als gemeinsames Haus der Stadtbevölkerung bezeichnet, erscheint die Kathedrale als ein öffentlicher Ort, an dem sich die ganze Stadt versammelte. In der Tat gab es die Anwesenheit großer Teile der Bevölkerung einer Stadt in der Kathedrale, allerdings handelt es sich dabei um zeitlich sehr begrenzte und außergewöhnliche Ereignisse, die einen großen Raum verlangten. Alain Rauwel hat nun jüngst die Ansicht, die Kathedrale als Versammlungsort der Stadtbevölkerung zu sehen, für Auxerre scharf als literarischen Topos kritisiert.274 Denn im Gegensatz zu anderen Kathedralen gab es in Saint-Etienne keine Kapelle, die für die Bediensteten der Kanoniker oder für andere Bewohner des Kathedralkapitels vorgesehen war, sondern sie mussten auf die Kirche St. Regnobert im Viertel ausweichen, so dass Vincent Tabbagh von einer „large exclu270 271 272 273 274

Vgl. Lebeuf 1726, S. 924. BMAUX., Ms 275, S. 29, abgedruckt auch bei Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 227. Vgl. dazu: Bulst 1993. Vgl. Eisenberg 2009, o.S. Vgl. Rauwel 2011, S. 40 ff.

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sion des laïcs de l’espace cathédral“275 spricht. Während der Messen an Ostern und Weihnachten, an denen sich jeder in seiner Pfarrkirche einzufinden hatte, befand sich also niemand außer Bischof, Kanonikern und niederem Chor im Kirchenraum. Das Kirchenschiff war damit so gut wie leer und das Labyrinth wäre zugänglich gewesen. Auch ist zweifelhaft, ob es Grablegen von Laien innerhalb von Saint-Etienne gegeben hat, von den Grafen von Auxerre wurde zumindest niemand dort beerdigt. Während der Pelotte waren allerdings Laien im Kirchenraum anwesend. Die erste überlieferte Kritik aus dem Jahr 1471 nennt zumindest die Namen von einzelnen Amtsinhabern, die dem Ritual beiwohnten. Tristan de Toulongeon, der die Ämter des gouverneur und lieutenant der Stadt in seiner Person vereinte, und Jean Regnier († nach 1502), der Seigneur de Montmercy und grand-bailli, nahmen als lokale Stellvertreter des Herzogs an der Zeremonie teil.276 Jean Regnier gehörte zu einer alteingesessenen Familie Auxerres, deren Mitglieder wichtige Ämter in der königlichen und herzoglichen Verwaltung bekleideten. Ein gleichnamiger Vorfahr, der Dichter Jean Regnier (1393–1469), war mit kurzen Unterbrechungen zwischen 1426 und 1461 ebenfalls bailli in Auxerre gewesen. Weitere Inhaber dieses Amtes aus der Familie Regnier lassen sich aber schon Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts nachweisen. Der aktuelle bailli Jean Regnier „le jeune“ übte dieses Amt seit 1469 aus. Vorher war er lieutenant an dem bailliage gewesen und war 1456 als einer der Gouverneure der Stadt in Erscheinung getreten.277 Die Anwesenheit des Seigneur du  Mont-Saint-Sulpice, Jean de  Thyard, wird ebenfalls erwähnt. Ob er zu diesem Zeitpunkt ein bestimmtes Amt innehatte, ließ sich nicht herausfinden. Unklar ist, ob die Kanoniker diesen Personen das Privileg gewährt hatten, dem Tanz im Kirchenraum beizuwohnen, oder ob sie vielmehr das Recht hatten, daran teilzunehmen, und ihnen deshalb der Zugang nicht verwehrt werden durfte. Da Auxerre im Jahr 1471 dem Herzog von Burgund unterstand, müssen die genannten Ämter oder ihre Entsprechungen in der königlichen Verwaltung nach 1477 nicht zwangsläufig identisch sein. Allerdings berichtet auch die Quelle aus dem 16. Jahrhundert von einigen Würdenträgern, die als Zuschauer der Pelotte beiwohnten und nachher am gemeinsamen Mahl teilnahmen. Auch wenn der Tanz der Kanoniker auf dem Labyrinth die Forschung viel stärker fasziniert hat, sollte das gemeinsame Mahl als integraler Bestandteil der Pelotte nicht vernachlässigt werden. Das gemeinsame Essen nach dem aus275 Tabbagh 2011, S. 37, vgl. auch Rauwel 2011, S. 40. 276 Vgl. Lebeuf 1726, S. 918. 277 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 470, Bulst 1992, S. 187.

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schließlich von den Kanonikern aufgeführten Tanz ermöglicht die Einbeziehung weiterer, nun auch weltlicher Personen in das Ritual, die bereits als Zuschauende dem Tanz auf dem Labyrinth Legitimität verliehen. Mead, der das Mahl als das verbindende Element verschiedener Tanz- und Spielpraktiken in den Kirchen am Ostertag ansieht, widmete den symbolisch wichtigen Banketten einen eigenen Artikel.278 Wie die Quelle aus dem 16. Jahrhundert berichtet, fand das Mahl im direkten Anschluss an den Tanz statt: „Nachdem Lied und Tanz beendet waren, ging der Chor nach dem Tanz zum Essen. Dort saßen alle vom Kapitel, und auch die Kapläne und Bediensteten, mit einigen Vornehmen der Stadt im Kreis auf Bänken oder kreisförmig angeordneten Sitzen.“279 Mit allein gut 50 Kanonikern, dazu Kaplänen, officiari und adeligen Gästen zählte die Anzahl der Teilnehmenden wohl kaum unter Hundert, möglicherweise deutlich mehr. Sie alle zogen, wie und in welcher Reihenfolge bleibt offen, nach dem Tanz in den Kapitelsaal.280 Dort aßen sie dünne Kekse, Oblaten, Konfekt, Kuchen sowie mit Wildschwein, Hirsch oder Hase gefüllte Pasteten und tranken dazu Weißwein und Rotwein. Um dem möglichen Verdacht eines Trinkgelages entgegenzuwirken, präzisiert die Beschreibung, dass der Wein nur in moderater Weise zu sich genommen wurde. Zudem wurde dazu durch den Lektor vom Pult aus eine Festtagshomilie verlesen, wie es zu den Mahlzeiten von religiösen Gemeinschaften üblich war.281 Dieses Mahl war, so belegt es zumindest eine Statutensammlung des Kapitels von 1553, unter dem Namen „grolia“ oder „grolée“ bekannt.282 278 Mead 1913, S. 249–274. 279 „Prosâ ac saltatione finitis chorus post choream ad merendam proberabat. Ibi omnes de Capitulo, sed & Capellani atque Officiarii, cum quibusque nobilioribus oppidanis in corona sedebant in subselliis seu orchestra“, Lebeuf 1726, S. 921 f. 280 Vgl. Lebeuf 1726, S. 924. 281 Vgl. Lebeuf 1726, S. 922: „… nebulae oblatae, bellariola, fructeta, & cetera hujusmodi cum apri, cervi aut leporis conditorum frustulo offerebantur, vinumque candidum ac rubrum modestè ac moderatè unâ scilicet aut alterâ vice propinabatur, lectore interim è cathedra aut pulpito Homiliam festivam concinente. Mox signis majoribus ex turri ad Vesperas, etc.“ Ausführlicher zu den Speisen bei Mead 1913, S. 259 f. 282 „Quia consuetum est in festis annualibus et solemnibus … ministrari refectio, quæ dicitur la Grolée: et quia consuetudo hujusmodi fuit per nonnullos intermissa, ordinatum quod Canonicus noviter receptus qui nondum paraverit dictam refectionem panis et vini, la Grolée nuncupatam, tenebitur providere super ea & providere dictam refectionem quæ erit panis & vini ad minus & plurium cibariorum si voluerit “, Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 221, abgedruckt auch bei du Cange, Bd. 4, 1883–1887, Sp. 114b. Auch Lebeuf erwähnt die Bezeichnung „grollée“ im Zusammenhang mit der Pelotte, die zu seiner Zeit den Brauch bezeichnete, Kindern an Ostern Geschenke zu machen, vgl. Lebeuf 1726, S. 925.

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Demnach hatte der neu aufgenommene Kanoniker nicht nur an Ostern, sondern auch an anderen Hochfesten die Pflicht, Nahrung und Wein für das Kapitel zu stiften. Das gemeinsame Mahl der Kathedralkapitel an Ostern war an vielen Orten in Frankreich verbreitet, wie Mead zeigen konnte. Vielerorts war es der Bischof, der das Mahl auszurichten hatte und auch daran teilnahm. In Auxerre oder auch in Nevers dagegen hatte der neu aufgenommene Kanoniker die Bewirtung zu bezahlen.283 Das gemeinsame Mahl, bei dem stets das letzte Abendmahl von Christus und seinen Jüngern mit in das Gedächtnis gerufen wird, stellt einen wesentlichen Bestandteil mittelalterliche Rituale dar. Die Anordnung der Sitzplätze oder die Reihenfolge der Bewirtung erlaubten es zum einen, soziale Hierarchien stets aufs Neue zu inszenieren. Zum anderen waren im Mahl ebenso ein Öffnen eines Teilnehmerkreises und ein Aufbrechen von sozialen Unterschieden möglich.284 In Auxerre zumindest deutet die kreisförmige Anordnung der Bänke eine möglichst Unterschiede nivellierende Ausrichtung des Mahls an. Kathedralkapitel und ausgewählte städtische Amtsträger garantierten die gute Verwaltung der Stadt Auxerre und ernteten nun die Früchte ihrer Regierung. Das durch die Aufnahme neuer Kanoniker nun wieder vollständige und niemals erloschene Kapitel positionierte sich so jedes Jahr buchstäblich im Kreis der Regenten der Stadt. Ein Ballspiel als Initiationsritual? Der Ball, der während des Tanzes auf dem Labyrinth vom Dekan an die Kanoniker übergeben wurde, hatte neben der Frage nach seiner symbolischen Bedeutung immer wieder eine Assoziation mit einem Ballspiel hervorgerufen. Bereits Lebeuf hatte die Ballübergabe zum Vergleich mit dem jeu de paume inspiriert. Diese Verbindung erscheint insofern berechtigt, da der jeu de paume vom 13. bis 16. Jahrhundert eine verbreitete Beschäftigung war.285 Beim Spiel, aus dem sich später das Tennis entwickelte, wurde ein lederner Ball, der mit Federn oder Wolle gefüllt war, mit den Händen zwischen zwei Personen oder Mannschaften gespielt. In einer königlichen Ordonanz von 1369 wurde der jeu de paume neben anderen Spielen verboten. Seine große Beliebtheit schien ihm dabei zum Verhängnis geworden zu sein, denn der König wollte nach dem Exempel der Schlachten von Crecy und Poitiers, dass sich seine Untertanen lieber dem Bo283 Vgl. Mead 1913, S. 261–265. 284 Vgl. Linnemann 2008, S. 72 f. 285 Vgl. dazu: Gillmeister 1990, S. 15–34, Behringer 2009, S. 333, Behringer 2012, S. 176–179.

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gen- und Arbalettenschießen widmeten.286 Nichtsdestotrotz blieb das Spiel in der Bevölkerung verbreitet. Bei den Pariser Bürgern war es derart beliebt, dass sich der Präfekt von Paris 1397 genötigt sah, dagegen vorzugehen, da vielerorts während der Arbeitszeit gespielt wurde. Wegen dieser Zeitverschwendung wurde festgelegt: „Il leur est enjoint de ne s’y plus livrer que le dimanche; défense de jouer pendant les jours ouvrables, à peine de prison de d’amende arbitraire, dont les dénonciateurs auront le quart.“287 Auch Frauen praktizierten dieses Spiel, denn das „Journal d’un bourgeois de Paris“ erwähnt 1424 eine Dame namens Magot, die alle Männer im jeu de paume besiegen konnte.288 Nicht nur bei der Pariser Stadtbevölkerung war das Ballspielen beliebt, auch der Adel frönte dem Spiel mindestens ebenso häufig. Bereits König Ludwig X. (1289–1316) betrieb den jeu de paume 1312 im Schloss von Vincennes. Karl VIII. (1483–1498) starb 1498 in Amboise, als er gerade auf dem Weg war, sich ein Spiel mit seiner Frau anzuschauen und sich dabei so beeilte, dass er mit dem Kopf vor einen Türbogen stieß. Die späteren Könige Franz I. und Heinrich II. waren ebenfalls begeisterte Spieler.289 Um 1500 änderte sich die Spielweise des jeu de paume. Der Ball wurde zunehmend mit Schlägern (raquets) über eine Schnur oder ein Netz gespielt. Auch das Spielfeld erhielt nun vorgegebene Maße, indem dafür eigens Ballhäuser errichtet wurden.290 Ab dieser Zeit tauchen auch vermehrt Abbildungen auf, die spielende Paare oder die fürstlichen Ballhäuser zeigen. Rechnungsbücher und Reiseberichte geben Aufschluss über die Ball- und Schlägerproduktion, die für manche Städte einen nicht unerheblichen Wirtschaftszweig ausmachen. Allein in Paris werden in den Steuerlisten gegen Ende des 13. Jahrhunderts dreizehn Ballhersteller (paumiers) geführt. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurden in Rouen durch königlichen Erlass die Materialien für den Ball genau festgelegt, nachdem sich die dortigen Fabrikanten über Pfuscher beschwert hatten, die ihnen das Geschäft verdarben.291 Zu beachten ist dabei, dass der jeu de paume nur eines von zahlreichen Ballspielen darstellt, an denen sich die Menschen des Spätmittelalters und der Renaissance erfreuten.292 286 Vgl. Mehl 1986a, S. 15. 287 Jusserand 1986, S. 241. Hier offenbaren sich Konfliktpotentiale zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Während die einen das Spielen auf den Sonntag beschränken wollten, versuchten die kirchlichen Interventionen ja gerade Spiele an diesem Tag zu verbieten. 288 Vgl. Strutt 1834, S. 94. 289 Vgl. Jusserand 1986, S. 242–258. 290 Siehe dazu: Behringer 2010, Sp. 287–290. 291 Vgl. Jusserand 1986, S. 240, 244. 292 Vgl. Behringer 2009, S. 333.

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Entgegen Meads Einwand, der den jeu de paume als ein allein weltliches Hochzeitsspiel ansah,293 zeigen Belege, dass das Spiel auch von Geistlichen praktiziert, vielleicht sogar entwickelt wurde.294 Der Erzbischof der Kirchenprovinz Rouen, Eudes Rigaud († 1276), tadelte in seinem Visitationsregister einen Priester, der dem Ballspiel frönte.295 Ein königlicher Gnadenerlass aus dem 14. Jahrhundert bewahrte einen Mann vor Strafe, der einen Geistlichen beim gemeinsamen Spiel aus Versehen verletzt hatte. Kathryn Woodward hat anhand einiger Belege für französische Kleriker vom 13. bis zum 16. Jahrhundert nachgewiesen, dass Ballspiele von Geistlichen auch an hohen kirchlichen Feiertagen praktiziert wurden.296 Ostern scheint dabei das bevorzugte Fest für Ballspiele im kirchlichen Kontext gewesen zu sein. Für die Bretagne finden sich für das 15. und 16. Jahrhundert mehrere Belege, die auf Ballspiele von Geistlichen hindeuten. Die Kanoniker und der Bischof von Saint-Brieuc erhielten vom Vikar der Kirche St.  Michel Bälle und Schläger, um mit ihnen nach traditioneller Weise zu spielen. Dem Bischof standen dafür fünf Bälle und den Kanonikern jeweils drei Bälle zu.297 Auch der Rektor der Kathedrale in Rennes stellte am Sonntag nach Ostern einen Sack mit Bällen unterschiedlicher Farben bereit. Das gesamte Kathedralkapitel zog in einer Prozession zu diesem Ort (der nicht genannt wird). Alle Kanoniker entnahmen drei Bälle, während den Mitgliedern des bas-choeur jeweils nur einer zustand. Damit zogen sie zum Friedhof, um jeu de paume zu spielen, wofür der Subkantor eine Art Schläger stellte.298 Über einen Rechtsstreit bezüglich der Stiftung von Schlägern und mehreren Bällen sind wir über eine Spielpraxis aus Orléans informiert.299 Demnach be293 Vgl. Mead 1912, S. 100. 294 Zu den Spielaktivitäten von Geistlichen vgl. Gillmeister 2013, S. 151–162, Sonntag 2013, S. 257 ff. 295 „…  qui publice ludebat ad pilam, in ludo suo quidam fuit vulneratus“, zitiert nach: Mehl 1986b, S. 66. 296 Vgl. Woodward 1984, S. 70–90, dazu auch: Zellmann 2007, S. 62 f. 297 „De ancienne coutume, e vicaire perpétuel de Saint-Michel est tenu au jour de Pâques bailler ses esteufs, savoir au prélat de ladite église cinq, et aux dignités chanoines d’icelle église, à chacun trois, avec les cabarets à les frapper à la manière accoustumée“, zitiert nach Barthélemy 1859, S. 352. 298 Vgl. dazu: Barthélemy 1859, S. 353, der allerdings keine Quellenangaben liefert, sondern lediglich auf das 15. Jahrhundert verweist. 299 Zellmann und Woodward verweisen beide auf die Aufsätze in den „Mémoires de la Société archéologique et historique de l’Orléanais“ von Cochard (1889) und Bimbenet (1863). Cochards Beschreibung beruht im Wesentlichen auf Bimbenet, der ein Schriftstück des Rechtsstreites von 1525 ohne weitere Quellenangabe in seiner Übersetzung zitiert: „Ce jour, à l’issue du sermon, environ deux heures après midi, l’évêque

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gab sich der Bischof von Orléans am Nachmittag des Ostersonntags zu einem Platz hinter der Kirche, wo ihm vom chevecier300 der Kathedrale ein Schläger und mehrere neue Bälle überreicht wurden. Bei dem Ort handelte es sich um den Gerichtsplatz, wo der Bischof oder seine Bevollmächtigten Recht sprachen. Dort schlug der Bischof nach angestammtem Recht und zu seiner „récréation“301 mehrere Bälle mit dem Schläger. Als 1525 das Kapitel dem Bischof statt dem Schläger zwei Schaufeln überreichte, weigerte er sich, diese anzunehmen.302 Der Eintrag aus den Registern des Kathedralkapitels von Nevers, einem etwa 100 km von Auxerre entfernten Bischofssitz, der ebenfalls zur Kirchenprovinz Sens gehörte, aus dem Jahr 1287 belegt, dass dort die Kanoniker zur Pelotte in den Bischofspalast kamen.303 Im südfranzösischen Vienne wurden die Kanoniker der Kathedrale, wie aus einem auf das 13. Jahrhundert datierten Manuskript hervorgeht, nach der Vesper ebenfalls in den Bischofspalast zum Essen eingeladen.304 Anschließend warf der Erzbischof die Pelota.305 Auch in Vienne bestand diese Praxis das gesamte Spätmittelalter über. Ein handschriftlicher Kommentar im besagten Manuskript, den Lebeuf auf den Beginn des 18. Jahrhunderts datiert,306 ergänzt: „Und es ist zu wissen, dass der Vertreter die Pelota bereitstellen muss und sie in Abwesenheit des Bischofs werfen muss.“307

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accompagné du bailli de la justice de la châtellenie de la Fauconnerie, de Jehan Dupuy, clair, notaire juré, et de plusieurs autres notables personnes, s’est transporté derrière l’église cathédrale d’Orléans, au lieu du prétoire de l’officialité, où se tenait le siège ordinaire de sa justice, afin, et en la manière accoutumée et par récréation, de frapper avec une raquette un ou plusierus esteufs neufs, que les chanoines de ladite église étaient tenus de lui fournir. A cet endroit se trouva maître François Lhuillier, chevecier de la cathédrale, qui lui a présenté deux palettes en façon de bâtonnées et des esteufs neufs. Monseigneur et son bailli font observer au chevecier que celui-ci était tenu de lui fournir des raquettes et des esteufs neufs, et qu’ils n’acceptaient ni ne voulaient recevoir lesdites bâtonnées pour raquettes“, Bimbenet 1863, S. 145 f. „Chevecier: s. m. Celuy qui est le Chef, qui a la premiere dignité dans plusieurs Eglises Collegiales“, Furetière, Bd. 1, 1690, Artikel „Chevecier“. Vermutlich der Dekan oder eine andere Dignität des Kapitels. Der lateinische Quellenterminus wäre hier überaus hilfreich. Spiel als Erholung verteidigt bereits Thomas von Aquin, vgl. dazu: Sonntag 2013, S. 250 ff. Zum Kontext des Rechtsstreites vgl. Bimbenet 1863, 136–146, Woodward 1981, S. 86 ff. Vgl. Bouteiller 1880, S. 511. Vgl. Woodward 1981, S. 71. „Posteà Archiepiscopus jactet Pelotam“, Lebeuf 1727, S. 494. Vgl. Lebeuf 1727, S. 495. „Et est sciendum quod Mistralis debet providere de Pelota, & debet eam jactare Domino Archiepiscopo absente“, Lebeuf 1727, S. 495. „Mistralis“ steht dabei, wie Lebeuf erläutert, für eine Abkürzung von Ministerialis.

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Insofern überzeugt Ulrike Zellmann mit ihrer Darstellung, dass Ballspiele im klerikalen Kontext verbreitet waren, auch wenn lediglich in den Beispielen von Nevers und Vienne die lateinischen Quellen zitiert werden können. In allen anderen Beispielen überliefern uns die Autoren des 19.  Jahrhunderts nur Zusammenfassungen oder Übersetzungen von Quellen, welche Termini sie aber zum Vergleich mit dem jeu de paume inspirierten, bleibt offen. Zellmanns grundlegende These jedoch, dass es sich bei diesen Spielen um einen Wettkampf zwischen zwei Parteien handele,308 ist bereits für die anderen Beispiele diskussionswürdig, für Auxerre jedenfalls gibt es dafür keinen Beleg. Dabei wäre auch zu fragen, in welcher Weise eine Einteilung der Mannschaften erfolgte (linke gegen rechte Chorseite?), in welcher Weise der Dekan am Spiel beteiligt war oder ob er wegen seiner besonderen Tanzschritte (tripudium) als jemand, der den Ball wieder ins Spiel brachte oder gar als eine Art Schiedsrichter fungierte. Inwiefern war es wichtig für die Kanoniker, das Kapitel – zumindest temporär – in eine Gewinner- und Verliererseite zu gliedern? Der Schlüssel zu dieser Deutung dürfte bei Lebeuf liegen, der das spätmittelalterliche Ritual im Zuge seiner aufgeklärten Idee der Liturgiereform nicht mehr verstand, sondern mit dem jeu de paume gleichsetzte. Dass dieses Ballspiel auch von französischen Geistlichen praktiziert wurde, steht außer Frage, in Auxerre scheint die Ballübergabe jedoch anderen Regeln zu folgen. Im Gegensatz zu Lebeuf, dem es darum ging die Pelotte von Auxerre als eine Form des jeu de paume einzuordnen und der sich damit jeder symbolischen Deutung des Balles entzog,309 wurde die symbolische Bedeutung des Balles in der Forschung kontrovers diskutiert.310 Bereits in der älteren Literatur findet sich der Hinweis auf den Ball als Symbol für die aufgehende Sonne.311 Backman hat aufgezeigt, dass dies keineswegs ein heidnisches Residuum war, wie es noch vor allem die deutschsprachige Volkskunde betonte, sondern Christus bereits bei den Kirchenvätern mit der Sonne gleichgesetzt wurde. Sie beschrieben Christus als sol justitiae und sol resurrectionis, so dass der Ball Christus als die Sonne der Gerechtigkeit symbolisierte.312 Da die Ballübergabe auf dem Labyrinth stattfand, das eng mit dem Theseusmythos verknüpft ist, liegt ebenso eine Verbindung zu den beiden Bällen, die Theseus von Ariadne vor dem Betreten des Labyrinths gereicht werden, nahe. Mehrere Glossen zu Ovids Metamorphosen berichten ab dem 11. Jahrhundert, 308 309 310 311 312

Vgl. Zellmann 2007, S. 62. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. Doob 1990, S. 125 ff., Zellmann 2007, S. 60. Vgl. den Literaturüberblick bei Chambers 1925, S. 128 f. Vgl. Backman 1952, S. 71 ff., Wright 2001, S. 142, Eisenberg 2009, o.S.

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dass Theseus zwei Bälle erhält: einen Ball aus Garn, den berühmten Ariadnefaden, um den Weg aus dem Labyrinth heraus zu finden, und einen aus Lehm, mit dem er den Minotaurus besiegen sollte, indem er ihn in dessen Mund warf.313 Auf den christlichen Kontext übertragen, bei dem nun Christi Tod und Auferstehung Theseus’ Kampf gegen den Minotaurus ersetzen, wird der Lehmball als menschliche, der Garnball als göttliche Natur Christi gedeutet.314 Erst beide zusammen ermöglichen den Sieg über das Untier. Wright und daran anknüpfend Eisenberg haben deshalb nicht eine Deutung ausgewählt, sondern auf die Mehrdeutigkeit des Balls verwiesen, die den Kanonikern des Spätmittelalters bewusst war: „Thus the flying pilota symbolized several things: the instrument of salvation derived from the Greek myth, the rising sun from the folkloric legend, and the harmony of the spheres from classical philosophy.“315 Alle diese Erklärungsmuster konnten jedoch bisher nicht deuten, warum der Ball so groß war und warum er mit der linken Hand gespielt wurde. Aus einem Eintrag des Kapitelregisters vom 19. April 1412 wird nämlich über die Größe des Balls berichtet: „Fuit ordinatum quod Pilota fiat minor solito, tamen quod non possit comprehendi seu apprehendi una sola manu hominis.“316 Der Ball sollte zwar kleiner gemacht werden, aber immer so groß sein, dass beide Hände zum Fangen benötigt wurden. Ob die Größe des Balls weiter reduziert wurde oder die Übergabetechnik verändert wurde, ist unklar, zumindest wird in der von Lebeuf auf die Mitte des 16. Jahrhunderts datierten Beschreibung des Rituals darauf verwiesen, dass der Dekan ihn mit einer Hand wirft.317 Die beträchtliche Größe des Balls und der Umstand, dass er mit der linken Hand gespielt wurde, hat in der Forschung immer wieder Fragen aufgeworfen. Wright etwa vermutete in der Linkshändigkeit eine bewusst gewählte Symbolik, da links (sinister) in der christlichen Kunst, man denke an die zahlreichen Kreuzigungsdarstellungen, als die böse, gefährliche Seite galt.318 Ich möchte der

313 314 315 316

Vgl. Woodward 1981, S. 82–85, Eisenberg 2009, o.S. Vgl. Doob 1990, S. 125 f., Rohmann 2013, S. 244. Wright 2001, S. 142. ADY, G 1798, fol. 285, wiedergegeben bei du Cange 1886, S. 253c. Lebeuf fasst die Passage, die er selbst nicht im Original zitiert, so zusammen: „Il falloit que cette balle fut considerablement grosse, puisque le Mercredi 19. Avril 1412. il fut statué que la pelotte seroit reduite à une grosseur un peu moindre & cependant qu’elle ne feroit point si petite qu’on pût la tenir d’une seule main, mais de telle grosseur, qu’il fut necessaire d’y mettre les deux mains pour l’arrêter“, Lebeuf 1726, S. 916. 317 Vgl. Lebeuf 1726, S. 921. 318 Vgl. Wright 2001, S. 140, Zellmann 2007, S. 59 f.

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Vielfalt der Spekulationen eine weitere Deutungsmöglichkeit hinzufügen, die schon bei Fourrey angeklungen ist.319 Weiter oben wurde bereits dargelegt, dass die ersten Labyrinthzeichnungen in christlichen Handschriften ab dem 9. Jahrhundert in den monastischen Zentren Nordostfrankreichs und Südwestdeutschlands auftauchten. Das Labyrinth wurde vielfach im Kontext von astrologischen Karten, Kalendern und Computus-Handschriften verwendet, die für die Berechnung des Ostertermins genutzt wurden.320 Der Typus des kreisrunden Labyrinths, wie er später in Auxerre, Sens und Chartres bestand, wurde in den Büchern mit Hilfe eines Zirkels geschlagen. Wright merkt dazu an, dass der Zirkel und der damit gezogene Kreis als Zeichen der Einheit und Perfektion galten, da es weder Anfang noch Ende gab.321 Er hat als Illustration dazu eine Abbildung aus einer französischen Bible moralisée aus dem 13. Jahrhundert eingefügt, die Gott als schöpferischen Architekten des Universums zeigt (Abb. 10, siehe Tafelteil, S. 250): Zu sehen ist, wie Gott mit einem Zirkel in der rechten Hand in der Mitte des Universums, sprich Jerusalem als geographische Mitte der Erde, ansetzt und mit dem Kreisbogen seine Grenzen zieht. Die Weltkugel selbst hat er mit der linken Hand gefasst. Betrachtet man die Größe der Kugel, zeigt sich, dass sie von den Füßen bis zu den Knien reicht, was eine Wurfbewegung mit einer Hand vielleicht unmöglich, zumindest aber sehr schwierig macht.322 Die Darstellung der Schöpfung, bei der Gott mit der linken Hand den Weltball rollt, findet sich nicht nur in französischen Handschriften, sondern auch am Westportal der Kathedrale von Auxerre (Abb. 11, siehe Tafelteil, S. 251). Das Relief wird auf das 13. Jahrhundert datiert und bildet den Bestandteil einer Bildfolge zur Schöpfungsgeschichte. Gott betrachtet aus dem Sitzen sein vollendetes Werk, die Weltkugel, die er ausgestreckt in der linken Hand hält. Wiederum ist die Kugel von beträchtlicher Größe, so dass eine Ballübergabe mit zwei Händen angebracht scheint. Ein Bezug auf die Schöpfung des Universums, das in seiner Kreisform die perfekte Harmonie darstellt, wurde bereits im Tanz als Bewegung der Gestirne deutlich. Er erscheint gerade für den Ostertermin naheliegend, da an diesem Tag nicht nur Christi Tod und Auferstehung gefeiert 319 Vgl. Fourrey 1934, S. 155. 320 Vgl. Rohmann 2013, S. 244. 321 Vgl. Wright 2001, S. 22  ff., zu dieser Darstellung und weiteren Darstellungen von Gott als Architekt des Universums vgl. Boespflug 2011, S. 113–130. 322 Ein Fresko der Abtei Saint-Savin aus dem 11. Jahrhundert zeigt eine Schöpfungsszene, bei der Gott zwei Bälle in der Hand hält. In rechten Hand wirft (oder fängt) er die Sonne, in der linken befindet sich die etwas größere Mondkugel, vgl. Merdrignac 2002, S. 197.

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wurden, sondern diese gleichzeitig in das Ende und die Schöpfung der Welt eingebunden waren, zumal Ostern bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts in Frankreich ebenfalls den Beginn des Neuen Jahres darstellte.323 Da der Neuanwärter auf ein Kanonikat das Spielgerät stiftete, wurde versucht, die Pelotte von Auxerre in Anlehnung an van Gennep und Turner als Initiationsritual zu deuten.324 Dabei wurde aber häufig unterschlagen, dass die Pelotte ein Bestandteil eines längeren Initiationsprozesses war, bzw. zu fragen wäre, inwiefern die Entscheidung über die Aufnahme des Kanonikers, das halbjährige „primum stagium“325 und der Schwur zusammen mit dem Tanz als Einsetzungsritual zu betrachten sind. Die für vormoderne Einsetzungsrituale typischen Bausteine des Eides, der Einsetzung auf seinen Platz im Chorgestühl oder der Einkleidung fanden nämlich nicht am Ostersonntag, sondern am 1. April statt.326 Ein wesentliches Element der Pelotte stellte die Stiftung des Spielgerätes durch den neuen Kanoniker dar. Das Stiften eines Gegenstandes, der in seinem Wert einem Teil des ersten Jahreseinkommens entsprach, gehörte in vielen französischen Kathedralkapiteln zum festen Bestandteil bei der Einsetzung neuer Kanoniker.327 In Chartres verlangten die Statuten etwa, dass jeder Neuling dem Kapitel eine seidene Kappe stiften musste,328 während in Langres die Schenkung einer silbernen Kappe erwartet wurde.329 In Laon gehörte es zum Brauch, dass der neue Kanoniker dem Kapitel einen silbernen Trinkbecher darbrachte.330 Dass ein neuer Kanoniker einen Ball spendete, war, wie oben dargestellt wurde, nicht nur in Auxerre ein etablierter Brauch. Das Kapitel von St. Cyr in Nevers verlangte nach dem Livre Noir aus dem 14. Jahrhundert von seinen Anwärtern an Ostern sogar die Stiftung von so vielen Bällen, wie es Kanoniker gab.331 Sie mussten den Kanonikern zusammen mit Wein und Speisen am Morgen im Kapitelsaal überreicht werden, bevor die Prozession begann. Waren es mehrere Anwärter in einem Jahr, wiederholte sich dieser Vorgang an den nächsten Tagen

323 Nicht wenige Register und Kalender versehen ihre Einträge für März und April mit dem Zusatz „ante“ oder „post Pascha“, da der Jahresbeginn mit dem Ostertermin jedes Jahr wechselte und etwa der 27. März somit zweimal in einem Jahr vorkommen konnte. 324 Vgl. Woodward 1981, S. 89 f., Eisenberg 2009, o.S., Rohmann 2013, S. 245 f. 325 ADY, G 1855, S. 16. 326 Vgl. Linnemann 2008, S. 69 ff. 327 Vgl. Kap. 4.3, S. 226. 328 Vgl. Amiet 1922, S. 35. 329 Vgl. le Grand 1935, S. 18. 330 Vgl. Millet 1982, S. 168. 331 Vgl. Zellmann 2007, S. 63.

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jeweils vor den Prozessionen.332 In Orléans stiftete nicht ein neuer Kanoniker einen oder mehrere Bälle, sondern das gesamte Kapitel war dafür verantwortlich. Die Ballübergabe hat Woodward als vasallische Unterwerfungsgeste gedeutet. Ein Rangniedrigerer, der Anwärter, übergibt einem Ranghöheren den Ball, der das Recht hat, das Spiel zu beginnen.333 Der Neuling unterwirft sich damit der Autorität des Kapitels, das durch den Dekan repräsentiert wird. Durch die Übergabe des Balles, das den Spielbeginn ermöglicht, wird die liminale Phase eingeleitet. Um den Statusübergang zu ermöglichen, hat jede Gesellschaft einen Vorrat an Schwellensymbolen, die jedoch, was bei Turner in den Hintergrund gerät,334 kulturell konstruiert sind. Die Schaffung von Liminalität erfolgt bei der Pelotte nicht allein durch den Tanz, sondern auch durch die Anbindung an das Osterfest, bei dem mit dem Tod Christi, seiner dreitägigen Höllenfahrt und der Auferstehung alle Phasen des Statuswechsels präsent waren. Im Tanz und Ballspiel vollzogen nicht nur der Neuling, sondern alle Kanoniker den Zustand der Unbestimmtheit und Heilsferne, den Christus bei seiner Höllenfahrt erfuhr.335 Schließlich gelang mit dem Ende des Tanzes die Reintegration in die Ordnung, indem Christi Auferstehung in der Performance der Kanoniker gegenwärtig wurde. Durch die wiederholte Ballübergabe waren gleichzeitig der neue Kanoniker aufgenommen, der Minotaurus besiegt und die Schöpfung vollzogen. Die Pelotte stellte so die Rechtmäßigkeit der Initiation sicher, da sie die Verbindung zur Heilsgeschichte und göttlichen Harmonie schuf. Über das gemeinsame 332 „De pilotis. – Statutum est de antiqua consuetudine usitatum, quod canonici novi stagiarii debent vinum bonum esculentum, echenetellos et pilotas in capitulo omnibus de choro, in crastinum Paschae et tunc ibi vadit processio et sic fit diebus sequentibus, si sint plures stagiarii successive. Hodie vero sunt dictae pilotae continuatae et remissae in crastino Pentecostes et diebus sequentibus“, zitiert nach: Boutiller 1880, S. 511. 333 Vgl. Woodward 1981, S. 73–76. 334 Vgl. Turner 2005, S. 105  f. Turners Liste der Eigenschaften im Schwellenzustand speist sich einerseits aus seinen ethnologischen Feldforschungen, andererseits operiert er aber wahrscheinlich auch mit Nietzsches Unterscheidungen des „apollinischen“ und des „dionysischen“ Prinzips, die Nietzsche aus der Rezeption der platonischen Kosmologie gewann. Insofern würden seine Eigenschaften hervorragend zum Tanz in den Kathedralen Frankreichs passen, bei denen die platonische Philosophie ebenfalls Pate stand. Vgl. dazu: Rohmann 2013, S. 74–79. 335 Somit stellt sich die Frage, ob die bei Johannes Beleth und Wilhelm Durandus formulierten Bestattungsverbote (vgl. Kap. 5.1, S. 282–289), falls man während der Pelotte sterben sollte, sich auf die Pelotte als Spiel oder die Pelotte als Ritual bezogen. Im ersten Fall wäre die Nichtbestattung mit Verweis auf die unrechtmäßige Ausübung eines verbotenen Spiels wie etwa beim Tod im Turnier zu rechtfertigen. Im zweiten Fall wäre der Tod beim Tanzen in einem Zustand der Heillosigkeit erfolgt, der ebenfalls eine Bestattung auf einem kirchlichen Friedhof untersagte. Die Gefahr des Scheiterns wäre in der Pelotte damit deutlich präsent.

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Mahl wurde dann die Anerkennung des neu Eingesetzten innerhalb der Gruppe demonstriert. Gleichzeitig positionierte sich das Kapitel zusammen mit der herzoglichen bzw. königlichen Verwaltung als legitime Regierungsinstanz der Stadt Auxerre, ohne auf eine Beteiligung des Bischofs angewiesen zu sein. Zwar war auch das Kapitel als Gemeinschaft aller Kanoniker und als autonome Rechtskörperschaft durch Tod und Neuaufnahme seiner Mitglieder einem ständigen Wandel unterworfen. Im Gegensatz zum Bischofssitz aber, der nach dem Tod eines Bischofs lange Zeit vakant bleiben konnte, sah sich das Kathedralkapitel als ungebrochene und niemals vakante Institution. Im Tanz wurden nicht nur die Schöpfung der Welt sowie Tod und Auferstehung Christi, sondern gleichzeitig auch die Schöpfung und Wiedergeburt des Kapitels gefeiert und somit drei Zeitebenen zusammengefügt. Indem der Kreis jedes Jahr wieder geschlossen wurde, blieb die Gemeinschaft der Kanoniker bis ans Ende der Zeiten bestehen.

5.2.2 Die Cazzole von Sens Da die Kathedralen von Sens und Auxerre nur 60 km auseinander liegen, beide dem Heiligen Stephan geweiht sind, ein baugleiches Labyrinth besaßen und in beiden am Ostertag getanzt wurde, sind die Erkenntnisse aus Auxerre in der Forschung häufig direkt auf Sens übertragen worden. Der Hauptgrund ist ein von Wolfgang Krönig zitierter Kapitelbeschluss von 1443, „daß während des Ostergottesdienstes in der Kathedrale nach der Tradition das Spiel auf dem Labyrinth gespielt werden soll (… qu’on y jouerait a volonte pendant le [sic] ceremonie …)“336, der trotz sehr zweifelhafter Glaubwürdigkeit von der Forschung weitgehend übernommen wurde.337 Er allein stellt eine Verbindung von Tanz 336 Krönig 1979, S. 115, vgl. S. 261 f. dieser Arbeit. 337 Vgl. Wright 2001, S. 145. Jacques Heers gelingt es nicht nur, die Befunde zu Auxerre und Sens zu vermischen, sondern er stattet dazu jeden Kanoniker mit einer eigenen Pelotte aus: „Les Pâques de Sens, à la cathédrale, citées et décrites par tous les auteurs, s’illustraient par la danse ou jeu de la pelote, dans la nef elle-même, dans le labyrinthe dessiné sur le pavement; chaque chanoine se présentait avec une pelote si grande qu’il n’aurait pu la tenir d’une seule main. Par une sorte de procession-danse fort compliquée et sans doute très difficile à conduire dans ce dédale savant, tous les chanoines, la grande cape fourrée sur leurs epaulés, se lançaient leurs pelotes les uns aux autres tout en entonnant la prose de Pâques, Victimae paschali laudes; tout cela, on l’imagine assez bien, dans une grande confusion. Le lancer de pelotes, dont on parle aussi pour plusieurs autres cathédrales, à Vienne en Dauphiné par exemple, fut, à Sens, interdit en 1538, et seule la danse liturgique fut alors maintenue, prenant ici, dans cette église métropolitaine, un bien plus grand lustre qu’ailleurs“, Heers 1983, S. 94. In der französischen Forschung wird Heers’ Deutung häufig unkritisch übernommen, wie etwa bei Charles-Dominique 2006, S. 70.

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und Labyrinth her. Anstatt also voreilig Analogien zwischen den Tänzen in Auxerre und Sens festzumachen, gilt es zunächst, auch den Fall Sens in aller Ausführlichkeit zu betrachten. Das an Lebeuf gerichtete Schreiben des jungen Kanonikers Fenel von 1740 enthält im Gegensatz zu dem von Krönig vorgeschlagenen Labyrinth eine andere Ortsangabe für den Tanz: „Connoissez-vous la danse ecclésiastique qui se pratiquoit autrefois, ici, le jour de Pâques, au soir, et qu’on nommoit la Cazzole? elle se faisoit autour du puits du Cloître, et les premiers du Chapitre (l’archevêque à la tête) avoient chacun à conduire par la main un des enfants de choeur.“338 Auch der Kanoniker Leriche erwähnt in seinem gut 30 Jahre vorher verfassten „Calendrier sénonais“ weder Ballspiel noch Labyrinth, sondern spricht ebenfalls von einem Tanz im Kloster: „…la danse ou Carrole339 qui se faisoit le meme jour dans le Cloistre a la quelle Monseigneur l’Archeveque assistoit avec tout le corps de la meme Eglise marchants deux à deux, en chantant des Cantiques de la Resurrection et tournaient ainsy au tour de la place, etans suyvis des plus honnestes habitants deux a deux, et la Carolle faitte ils alloient prendre la Collation chez le dernier Chanoine recu […]“340. Als cloître wurde im 18. Jahrhundert aber nicht ausschließlich der Kreuzgang, sondern auch das gesamte umfriedete Kathedralviertel von Sens bezeichnet. Ein Brunnen, von dem Fenel spricht, befand sich auf dem mit Bäumen bewachsenen Platz Saint-Etienne am östlichen Rand, wo der Platz in die Rue de la Parcheminerie überging. Nach der Beschreibung von Tarbé zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ganz in der Nähe des Brunnens ein großer viereckiger Stein errichtet, der als „la pierre du bailli“ bezeichnet wurde.341 Tarbé und ein anderer Autor des 19. Jahrhunderts berichten von einem erhöhten gepflasterten Rondell, das eine ehemalige Quelle/einen Brunnen (fontaine) umschloss, der bereits seit der Spätantike belegt ist.342 Dieses erhöhte Rondell könnte damit als Ort für den 338 Cherest/Quantin 1867, Bd. 2, S. 289. 339 Der Tanz an Ostern wird als Cazzole bzw. als Carrole bezeichnet. Während der Begriff Carrole (carole) seit dem Hochmittelalter eine verbreitete Tanz- bzw. Liedform beschreibt, ist eine Verwendung des Wortes Cazzole (wenn es sich nicht um eine fehlerhafte Transkription von Carrole handeln sollte) völlig unklar. Zum Begriff Carole vgl. Sahlin 1940. 340 BMAUX, Ms 207, fol. 24. 341 Vgl. Tarbé 1838, S. 184. 342 „… il y avait aussi un rond de pavés exhaussés, qu’on appelait la pierre au lait, on ne sait par pour quelle raison. Elle indiquait l’emplacement d’une ancienne fontaine …“, Tarbé 1838, S. 184, vgl. auch: Dulaure 1838, S. 280 f.: „Du temps des premiers archevêques de Sens, il est plusieurs fois fait mention de cette fontaine, dont l’emplacement circulaire était encore indiqué vis-à-vis la cathédrale dans le dernier siècle par un cercle des pavés exhaussés …“.

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Tanz gedient haben; hier siedelt ihn zumindest auch Cailleaux an: „C’est sur cette place et autour de puits que se déroulaient diverses réjouissances civiles ou liturgiques. Les jeunes mariés y avaient accès pour faire danser la noce et le clergé y pratiquait, jusqu’en 1517, la danse liturgique de la Carrole le soir de Pâques.“343 Auch das Manuskript aus Poitiers legt mit der Erwähnung der „platea claustri“344 den Klosterplatz als Tanzort nahe, zumal nicht sicher ist, wo und ob sich im 16. Jahrhundert überhaupt noch ein Kreuzgang im Kathedralviertel befand.345 Von einem Tanz um einen Brunnen oder eine Quelle an Ostern berichtete immerhin auch die Cambrai-Fassung von Wilhelm von Auxerres „Summa de officiis ecclesiasticis“ aus dem 13. Jahrhundert.346 Das Wasser sollte den Bezug zum Tanz Miriams nach der erfolgreichen Durchquerung des Roten Meeres herstellen und zugleich an die Taufe erinnern. Der Tanz fand demnach nicht nur außerhalb des Labyrinthes, sondern auch außerhalb der Kathedrale von Sens statt. Leriche spricht vom Erzbischof und „tout le corps de la meme Eglise“347, die am Tanz partizipierten. Wie im dritten Kapitel gezeigt worden ist, musste sich diese Formulierung nicht allein auf die Kanoniker beschränken, sondern konnte sich auch auf den gesamten Klerus der Kathedrale und damit auch auf die Kapläne, Vikare und Chorknaben beziehen. Fenel bemerkt dazu, dass die „premiers du chapitre“ jeweils zusammen mit einem Chorknaben tanzten.348 Da man unter den ersten des Kapitels sicher die Inhaber der fünf Ämter (dignités), den Dekan, den Kantor, den Kellermeister, den Schatzmeister und den Erzdiakon von Sens fassen kann, stimmt Fenels Zuordnung zumindest numerisch, denn auf die fünf Würdenträger und den Erzbischof kamen sechs Chorknaben.349 Vielleicht orientierte sich Fenel in Ermangelung von Quellenzeugnissen für Sens aber auch an Ménestriers Beschreibung vom Ende des 17. Jahrhunderts, der explizit von Tänzen von Kanonikern und Chorknaben an Ostern berichtet hatte: „J’ay vû encore en quelques Eglises le jour de Pâques les Chanoines prendre par la main

343 344 345 346

Cailleaux 2009, S. 34, vgl. auch Wright 2001, S. 145. BMPO, Ms 336, fol. 90r. Vgl. Cailleaux 2009, S. 36 f., vgl. auch Kap 4, S. 213, 215. „In illis autem diebus in vespertino officio fit processio ad fontes, in quo representatur factum marie sororis moysi, que cum ceteris mulieribus post transitum maris rubri, in quo significatur baptismus, cum tympanis et choris cantabat dicens: Cantemus domino et cetera, exodi xu circa finem, et cantatur iste psalmus: Laudate pueri dominum, psalmus cxii“, Wilhelm von Auxerre 2007, S. 81, vgl. auch S. 285 ff. dieser Arbeit. 347 BMAUX, Ms 207, fol. 24r. 348 Vgl. Cherest/Quantin 1867, Bd. 2, S. 289. 349 Vgl. Cailleaux 1999, S. 88, im 17. Jahrhundert beläuft sich die Zahl der Chorknaben dann auf acht.

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les Enfans de Choeur, & en chantant des Hymnes de rejouissance danser dans l’Eglise.“350 Leriche behauptet zudem, dass hinter dem Kathedralklerus eine Reihe von weltlichen städtischen Würdenträgern getanzt habe,351 wie auch bei vielen Prozessionen dieser Zeit städtische Amtsträger hinter dem Klerus herzogen. Die zeitlich am nächsten liegende und ausführlichste Beschreibung vom Beginn des 16. Jahrhunderts erwähnt keine Partizipation von Laien, bestätigt aber die Teilnahme des Kathedralklerus: „Da seit jeher in der Kirche von Sens beachtet worden war, dass aus löblicher Gewohnheit die Kleriker, Kanoniker (beneficiati) und niederer Klerus (habituati) der erzbischöflichen Kirche von Sens, sogar der Erzbischof, falls er anwesend war, nach dem Abendessen auf den Klosterplatz am Ostertag zusammen kamen um zu tanzen […]“352. Während sich die beneficiati leicht als Kanoniker identifizieren lassen, lässt die Bezeichnung habituati mehr Spielraum. Nach dem Glossarium von du Cange waren damit die Kleriker mit niederen Weihen gemeint, die nach den Statuten der jeweiligen Kathedralund Kollegiatkirchen am Gottesdienst teilnahmen.353 Ob im Fall von Sens etwa die Chorknaben zu den Habituati zählten, lässt sich nicht eindeutig sagen. Beide Autoren des 18.  Jahrhunderts schildern die Cazzole nicht als einen kreisförmigen Reigen, sondern als einen Paartanz in Prozessionsaufstellung. Fenel erwähnt, dass sich die Paare dabei an den Händen fassten. Tänze derartiger Formation waren in Frankreich laut Arbeaus Tanzlehrbuch im 16. Jahrhundert sehr verbreitet, wovon etwa seine Beschreibungen der basse danse und der pavane zeugen.354 Diese Tänze waren zwar in der Regel für geschlechtergemischte Paare konzipiert, allerdings finden sich bei Arbeau auch Tänze, die nur von Männern oder Frauen aufgeführt wurden.355

350 Ménestrier 1682, S. ii, siehe dazu auch Kap. 2.2.1, S. 104. 351 „… etans suyvis des plus honnestes habitans deux a deux …“, BMAUX, Ms 207, fol. 24r. 352 „Quia ab antiquo in Ecclesia Senonensi observatum fuerat, pro consuetudine laudabili, quod viri ecclesiastici, beneficiati et habituati Ecclesie Metropolitane Senonensis, etiam archipresul, si presens esset, post cenam, die Pasche, conveniebant in platea claustri ibique in modum choree …“, BMPO, Ms. 336, fol. 90r. 353 Vgl. du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 4, Graz 1954, Sp. 150c. Dort auch der Verweis auf eine Quelle aus dem 15. Jahrhundert: „Idem R. Abbas Decanus et prior sæcularis S. Reneberti Lugdunensis Diœcesis ejusque in dicta Ecclesia et prioratu successores, respective super Canonicis, presbyteris et Habituatis dictorum Ecclesiæ collegiatæ.“ 354 Vgl. Arbeau 1588, fol. 24v–38v. 355 Vgl. ebd., fol. 98v.

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Das Manuskript aus Poitiers erwähnt zudem, dass die Tänze „… in modum choree, non tamen saliendo, ut fit in aliis choreis peculiaribus …“356 getanzt wurden. Schreitartige Bewegungen, bei denen die Füße sich kaum vom Boden hoben und bei denen auf unangemessene Bewegungen und Sprünge verzichtet wurde, kennzeichneten auch die am Hof und in den bürgerlichen Tanzhäusern beliebten basses danses und pavanes. Sie waren, wie Arbeau verrät, auch für schwere Kleidung geeignet und dienten so für die Zurschaustellung von Erhabenheit und Würde: „Le Gentil-homme la peult dancer ayant la cappe & lespee: Et vous aultres vestuz de voz longues robes, marchants honnestement avec une gravité posee. [...] Et quant à la pavane, elle sert aux Roys, Princes & Seigneurs graves, pour se monstrer en quelque jour de festin solemnel, avec leurs grands manteaux & robes de parade.“357 Andererseits folgte auf die basse danse in der Regel ein tourdion als Nachtanz, der vor allem aus Sprüngen bestand. Letztlich muss aber offengelassen werden, welche Tanzbewegungen sich unter dem „modum choree“ in Sens verbargen. Ähnlich wie bei der Pelotte von Auxerre bleiben die Beschreibungen der Tanzbewegungen dazu viel zu vage. Das Ende des Rituals bildete das Mahl aller Teilnehmer, dessen Ausrichtung laut Leriche dem zuletzt aufgenommenen Kanoniker oblag: „Et la Carolle faitte, ils alloient prendre la Collation chez le dernier Chanoine receu […]“358. Die Essen mussten auch deshalb im Haus eines Kanonikers stattfinden, weil das Kapitel im Spätmittelalter nicht mehr über ein gemeinsames Refektorium verfügte. Allerdings versuchten viele Kanoniker die Ausrichtung zu vermeiden, indem sie große Geldbeträge an die Kapitelkasse und Hilfsbedürftige spendeten. Anscheinend oblag es dann dem Kapitel, von dem Geld das Mahl auszurichten.359 Zumindest belegen die Rechnungsbücher der Kathedrale vereinzelt die Kosten für das gemeinsame Mahl am Ostertag. Für das Jahr 1368 etwa ist das Mahl im Haus des Dekans nachweisbar, allerdings weilte zu dieser Zeit der Herzog von Burgund in der Stadt, der mit seinem Gefolge als Ehrengast eingeladen war.360 Der Dekan Franciscus de Vergeyo konnte, da er bereits 1337 Kanoniker und 1359 Dekan geworden war,361 wohl kaum als „dernier Chanoine receu“362 gelten. Die Anwesenheit einer so bedeutenden Person wie der des Herzogs könnte jedoch 356 357 358 359

BMPO, Ms 336, fol. 90r. Arbeau 1588, fol. 29v. BMAUX, Ms 207, fol. 24r. „… qui souvent offroit de grandes sommes pour estre déchargée de lad. Collation et l’employer a la Fabrique et aux pauvres …“, BMAUX, Ms 207, fol. 24r. 360 Vgl. ADY, G 1144, fol. 105v, zitiert nach Cailleaux 1999, S. 99. 361 Vgl. Tabbagh 2009, S. 241. 362 BMAUX, Ms 207, fol. 24 f.

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ein Essen im Haus des Dekans verlangt haben, oder es bot sich wegen der Größe seines Gefolges aus logistischen Gründen an. Besondere Ereignisse konnten den Ablauf des Mahles verändern, so wie der plötzliche Tod von König Karl VIII. am 7. April 1498 sogar für den Ausfall der Feier sorgte, wie in den Rechnungsbüchern vermerkt wurde: „Item [de] monsr. le vicaire ay receu la somme de cent solz tournoys pour le boire de Pasques. Lequel na esté fait ceste présente année a loccasion de la mort du feu Roy que Dieu absoille. Pource: C s.t.“363 Auch zu Beginn des 16. Jahrhunderts, wenige Jahre vor dem Ende der Cazzole, sorgten die Spannungen zwischen König und Papst für ein Ausbleiben des Mahls: „De monsrg. messire Milles Gibier chanoine de Sens. Lequel devoit faire le boire le jour de Pasques après la récréation du soupper comme par cydevant messrs. avoient acoustumé faire. Et pource que de présents meds. srs. ont considéré que nostre St. père le pape et nostre Sire le Roy sont en différant et discord, nont voleu faire la disner acoustumé excepté en léglise pour faire [preuves] envers mesd. srs. […] [de la nécessité] de abolir les disscution entre eulx lesd. personnes menées (nommées). Et pource ont consenti pour ceste présente année que led. Gibier baillea a cest présent office la somme de sept livres tourn. Pource icy: VII l.t.“364

Der Kanoniker Milles Gibier, der im Jahr 1511 das Mahl ausrichten sollte, war wiederum kein neu aufgenommener Kanoniker. In der Kanonikerliste von Fenel zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist verzeichnet, dass er seit 1499 ein Kanonikat in der Kathedrale besaß.365 Ob die Cazzole von Sens damit als Initiationsritual anzusehen ist, bleibt sehr fraglich. Das Datum des Ostertages, an dem vielfach Taufen stattfanden, wäre dafür zwar prädestiniert gewesen. Als einziger Anhaltspunkt für eine mögliche Initiation kommt jedoch nur ein Halbsatz aus den Aufzeichnungen des Kanonikers Leriche in Betracht: „[...] et la Carolle faitte ils alloient prendre la Collation chez le dernier Chanoine receu [...]“366. Wenn das gemeinsame Essen im Haus des neuen Kanonikers stattfinden sollte, liegt es nahe, dass der Neuling das Mahl auszurichten und anlässlich seiner Aufnahme zu stiften hatte. Allerdings zeigten Belege aus den Kapitelregistern, dass sich nicht in allen Fällen an eine derartige Vorschrift gehalten wurde. Da auch kein konkretes Lied in den Quellen genannt wird, zu dem

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ADY, G 1142, fol. 87v, zitiert nach Cailleaux 1999, S. 99. ADY, G 1144, fol. 105v, zitiert nach Cailleaux 1999, S. 99. Vgl. ADY, G 700. BMAUX, Ms 207, fol. 24.

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getanzt wurde, sondern allgemeiner auf Hymnen des Ostertages verwiesen wird,367 lassen Text und Musik keine Schlussfolgerungen bezüglich einer Initiation zu.

5.2.3 Andere Tänze in Auxerre und Sens Die Cazzole und die Pelotte waren nicht die einzigen Tänze, die während des Kirchenjahres von Mitgliedern der Kapitel aufgeführt wurden. Vor allem der Kathedrale von Sens wird von Lebeuf eine herausragende musikalische Tradition bescheinigt, was er unter anderem daran festmachte, dass der Erzbischof zu Beginn der Adventszeit die Einzelstimme des Responsoriums „Ascipiens“ sang.368 An zwei Heiligenfesten im Spätsommer fand hier außerdem der Tanz des Kantors statt. Auch in Auxerre wurde ein weiteres Fest, die Fête des Fous, zwischen Weihnachten und Dreikönig für eine tänzerische Ausgestaltung genutzt. Préchantre balle In der Edition von Lebeufs Korrespondenzen wird auf einen Brief von Fenel verwiesen, der eine „description et explication de la cérémonie du préchantre de la cathédrale de Sens, qui se promène en ballant dans l’église“369 enthalten soll. Lebeuf reagierte darauf in einem im „Mercure de France“ abgedruckten Brief, nahm den Hinweis aber in erster Linie zum Anlass, allgemeine Bemerkungen zu der reichhaltigen musikalischen Tradition in der Kathedrale von Sens zu verlieren.370 In der Mitte des 19. Jahrhunderts führt der Herausgeber des „Dictionnaire liturgique, historique et théorique de plain-chant et de musique d’église“ Joseph d’Ortigue im Artikel „Baller“ an, dass in Sens immer noch das Sprichwort „Tel jour le préchantre balle“371 verbreitet sei, um damit auf die Tänze von Geistlichen hinzuweisen. Er zitiert anschließend einen bei du Cange abgedruckten Kapitelbeschluss: „Wisse, dass am Tag der Auffindung der Gebeine des Heiligen Stephanus (3. August) bei der Prozession im Kirchenschiff und bei der Kirche St. Colombam an St. Lupus (1. September) während im Chor ‚O venerandum 367 „… decantabant hymnos de resurrectione Christi et alios verbis latinis ad laudem Dei …“, BMPO, Ms. 336, fol. 90r. 368 Vgl. MdF, février 1734, S. 212. 369 Cherest/Quantin 1867, Bd. 2, S. 169, siehe dazu auch: Sahlin 1940, S. 144. In der Edition wurden nur die Briefe von Fenel abgedruckt, die Auxerre zum Thema hatten. Die vollständige Sammlung von Fenels Korrespondenz wurde 1862 in drei Bänden in die Archives Départementales von Auxerre aufgenommen, vgl. Chartraire 1927, S. 115 ff. 370 Vgl. MdF, février 1734, S. 210–218. 371 Ortigue 1853, Sp. 155.

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antistem‘ gesungen wird, der Préchantre an beiden Orten in Handschuhen mit Ringen und Kantorsstab tanzen muss und nicht öfter im Jahr.“372 Mitte des 20.  Jahrhunderts entdeckte dann der französische Musikwissenschaftler Jacques Chailley in der Bibliothèque Municipale von Sens einen weiteren Beleg für den Tanz des Kantors. Das Manuskript wird im Katalog als Precantoris Norma, als Zeremoniale des Kantors, aus dem 13.  Jahrhundert geführt. Chailley datierte es etwas später auf den Beginn des 14. Jahrhunderts.373 Für den Stephanstag wurde darin festgehalten: „In inventione beati Stephani, ad processionem in navi ecclesie Senonum precentor debet ballare. R(esponsorium).“374 Anschließend finden sich Musiknotationen zum Lied „Lapides omnes anime iuste.“ In der Rubrik rechts davon steht als Anweisung für den Kantor: „In processione ad sanctam Columbam, precentor in festo sancti Lupi debet ballare. R(esponsorium).“375 Dahinter wird wiederum eine Notation für das Lied „O venerandum eius descendit“ angefügt. Beide Antwortgesänge sind vollständig in einem Antiphonar aus Sens vom Ende des 12. Jahrhunderts abgedruckt. Im Gegensatz zu den Antiphonaren des 12. Jahrhunderts aus anderen Kirchen ist in Sens das Ende des Musikstückes verändert worden. Am Ende beider Lieder wurde ein Pneuma, ein In-die-Länge-Ziehen der Vokale des letzten Wortes hinzugefügt. Der Text „Lapides“ bezieht sich auf das Martyrium des Hl. Stephanus und beschreibt, wie süß sich die Wunden reißenden Steine für den Märtyrer anfühlten.376 Anlässlich der Feier des Heiligen Lupus veranstaltete das Kathedralkapitel eine Prozession zur Klosterkirche St. Kolumba, wo sich das Grab des Heiligen Lupus befand. Die Benediktinerabtei lag außerhalb der Stadtmauern etwa 3 km nördlich der Kathedrale am Ufer der Yonne. Für das Ziel der Prozession bot sich der steinerne Sarkophag des Heiligen an, der sich in der Mitte des Kirchenschiffs befand.377 Bei dem Lied „O venerandum eius descendit“ handelt es sich um ein Loblieb auf den seligen Bischof Lupus. Bei der Notenschrift des Liedes hat eine Hand aus dem 15. Jahrhundert das Wort „arière“ eingefügt. Chailley deutet es 372 „Sciendum quod die inventionis B. Stephani ad processionem in navi ecclesiae, apud S. Colombam in die S. Lupi dum cantatur in choro, O venerandum antistem, Præcentor in his duobus locis, in chirotecis et annulis cum baculo debet Ballare, et non plus per annum“, du Cange 1883–1887, Bd. 1, Sp. 531c, Ortigue 1853, Sp. 155 f. 373 „BMSE, Ms. 6, Precantoris norma ou livre du préchantre de Sens, contenant le graduel et l’antiphonaire pour toute l’année avec musique notée à l’usage de l’église de Sens“, vgl. Chailley 1949, S. 20. 374 BMSE, Ms 6, fol. 234v. 375 Ebd. 376 Vgl. Chailley 1949, S. 22 f. 377 Vgl. Brullée 1852, S. 183.

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als mögliche „véritable séméiographie des pas de danse du préchantre“378, die ein Kantor im 15. Jahrhundert zur Erinnerung an die Tanzschritte handschriftlich hinzugefügt habe. Wie die Bewegungen des Tanzes ausgestaltet wurden und in welcher Form der Tanz in die Prozession zum Grab des Heiligen Lupus eingebettet war, entzieht sich unserer Kenntnis. Zumindest wird aber deutlich, dass der Tanz eines Klerikers aus dem Kathedralkapitel in ein in Sens hochangesehenes Heiligenfest integriert wurde. Das gleiche gilt für den Tanz am Stephanstag, zumal der Heilige Stephan immerhin der Patron der Kathedrale war. Während die Cazzole an Ostern außerhalb vom Labyrinth stattfand, stellt sich für den Tanz des Kantors anlässlich der Prozession im Kirchenschiff die Frage, ob auf das Labyrinth Bezug genommen wurde. Zumindest mussten die Bodenplatten bei der Prozession überschritten werden, da sie fast das gesamte Kirchenschiff einnahmen. Die Fête des Fous Die Pelotte war im Spätmittelalter nicht der einzige Anlass, in der Kathedrale von Auxerre zu tanzen. Eine Auseinandersetzung zwischen Kapitel und Bischof über die Feier der Fête des Fous um 1400 offenbart, dass auch im Winter zwischen Weihnachten und Dreikönig Tänze von den Kanonikern veranstaltet wurden.379 Wie im zweiten Kapitel gezeigt worden ist, wurden unter der Bezeichnung Fête des Fous eine Reihe von Festen wie das Fest der Subdiakone, der Diakone oder das des Kinderbischofs versammelt, die Ende Dezember und Anfang Januar stattfanden. Diese Feiern wurden in den einzelnen Kirchen und Klöstern den eigenen consuetudines entsprechend ganz unterschiedlich gestaltet. Dass dabei Tänze integriert waren, ist keine Besonderheit des Kathedralkapitels von Auxerre, sondern auch von anderen religiösen Gemeinschaften überliefert.380 Bischof Michel de Creney (1391–1409) hatte seit Beginn seiner Amtszeit den Versuch unternommen, die geistliche Regierung des Kapitels zu reformieren, d.h., bestimmte Privilegien zu reduzieren und in seinen Augen unchristliche Feste abzuschaffen.381 Der Bischof hatte seine Ausbildung am Collège de Navarre in Paris erhalten und gehörte zum Reformklerus aus dem Umfeld der Sorbonne. Obwohl er bereits 1391 zum Bischof ernannt worden war, vollzog er 378 Chailley 1949, S. 23. 379 Die Ausführungen folgen Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 232 f., Fourrey 1934, S. 156 ff., Harris 2011, S. 187–199. 380 Etwa dem Priorat von Villarceaux in der Normandie, wo sich Erzbischof Eudes Rigaud über die Tänze der Nonnen beschwerte, dazu: Rigaud 1852, S. 44, vgl. Kap.  3.2, S. 171 f. 381 Lebeuf 1848, Bd. 1, S. 497.

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seine Inthronisation in Auxerre erst 10 Jahre später am 4. Juni 1401. Mit seiner Anwesenheit verschärfte sich dann das Vorgehen gegen die Feierlichkeiten. Seit wann das „festum fatuorum“382 in Auxerre gefeiert wurde, lässt sich nicht bestimmen. Zum Zeitpunkt der Streitigkeiten war es zumindest bereits schon länger etabliert. Die Kapitelbeschlüsse deuten einige Elemente der Feier an: etwa die Wahl eines Narren- oder Kinderbischofs, satirische Reden oder Predigten, das Tragen anderer Kleidung, der Ausruf der Feierlichkeiten mit dem Satz „la fête aux foux“, einen Weinumtrunk und Tanz. Einige Teile der Feier scheinen innerhalb der Kathedrale, andere außerhalb davon stattgefunden zu haben.383 Der erste Eintrag zum Fest aus dem Kapitelregister von 1395 enthält eine Korrektur der Feierlichkeiten, die künftig außerhalb der Messe und ohne Schmähworte stattfinden sollten. Ein Jahr später entschloss sich das Kapitel sogar dazu, die Feier ganz zu unterlassen, da viele französische Adelige in der Schlacht von Nikopolis im September gefallen oder gefangen genommen worden waren und der König dadurch betrübt sei.384 In den nächsten Jahren fand die Fête des Fous dann wieder statt. Ein Vorschlag des Dekans Pierre de Chissy auf einer Kapitelversammlung, anlässlich der Feier 1398 auf die jährliche Ausgabe für den Weinumtrunk zu verzichten, wurde vom Kapitel abgelehnt. Bereits hier deutet sich an, dass das Kapitel sich alles andere als einig darüber war, ob das Fest gefeiert werden und wie es ausgestaltet werden sollte.385 Zwei Jahre später, am 18. Dezember 1400, wurden wenige Wochen vor dem Fest striktere Maßnahmen ergriffen. Vor allem sollte der Kontakt mit Laien beiderlei Geschlechts während der Feier vermieden werden und sich nicht an Belustigungen oder anderen Handlungen beteiligt werden, welche die Kirche in Misskredit bringen konnten. Zum ersten Mal wurden nun auch Geldstrafen bei Zuwiderhandlungen angekündigt.386 Trotz dieser Sanktionsandrohungen scheint sich ein Teil der Kanoniker nicht an die Auflagen gehalten zu haben. Denn bereits im Januar war die Fête des Fous wiederum Thema einer Kapitelversammlung und Bischof Michel de Creney begann einen Prozess gegen mehrere Kanoniker vor dem bailliage. Gegen das Urteil legten die Kanoniker daraufhin Widerspruch vor dem geistlichen Gerichtshof in Sens ein. Der Prozess war wohl noch im Gang, als der Bischof seine Inthronisation vollzog. Fünf Tage nach seiner Ankunft verkündete er eine Reihe von Beschlüssen, die für Frieden zwischen 382 Lebeuf 1848, Bd. 4, S. 233. 383 Vgl. Lebeuf 1848, Bd. 4, S. 232 f., Harris 2011, S. 191–197. 384 „… cum domini nostri rex et alii regales Francie sint valde dolorosi …“, Lebeuf 1848, Bd. 4, S. 232. 385 Vgl. Harris 2011, S. 191 f. 386 Vgl. Lebeuf 1848, Bd. 4, S. 232.

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ihm und dem Kapitel sorgen sollten, in denen auch zum Prozess Stellung genommen wurde: „Et sur ce que plusieurs Chanoines assemblés au Chapitre le jour de la Fête des Fous, y avoient créé et & nommé des Offciers qui avoient expédiés certaines lettres; ce qui avoit obligé l’Evêque d’intenter procès contre ces Chanoines en Cour séculière, d’où ils auroient interjetté Appel à la Cour Ecclésiastique de Sens, a été accordé que le tout seroit reputé comme non avenu sans préjudice des parties.“387 Damit schien zunächst ein Kompromiss gefunden worden zu sein. Wie wenig der Bischof aber geneigt war, die Feier zu tolerieren, zeigte sich ein halbes Jahr später, als im Dezember 1401 der Abt von Pontigny, der „Protecteur de la jurisdiction spirituelle du Chapitre“388 war, eingeladen wurde, eine Predigt vor dem Kapitel von Auxerre zu halten. Die Predigt kritisierte das Fest scharf, indem es ihm den Status eines Kirchenfestes absprach, und machte deutlich, dass die Feier nicht gottgefällig sei und nicht von der Kirche toleriert werde.389 Am nächsten Tag trat der Dekan vor das Kapitel und erklärte, dass der Abt von Pontigny mit seiner Meinung nicht allein sei, sondern diese Position auch von der Sorbonne geteilt werde. Vielmehr noch sei die Universität von Paris bestrebt, die Feierlichkeiten anlässlich der Fête des Fous in allen Kirchen zu verbieten, und würde notfalls dazu auch den weltlichen Arm hinzuziehen.390 An der Universität Paris hatte sich eine Reformbewegung gebildet, die eine Abschaffung von in ihren Augen heidnischen Festbräuchen in der Kirche anstrebte. Vor allem der Kanzler der Universität Jean Gerson (1363–1429) hatte wenige Monate zuvor einen Brief an seinen Vorgänger, der zum Bischof von Cambrai ernannt worden war, gesandt, in dem er die Fête des Fous als heidnisches Relikt, perverse Entgleisung und Verwirrung der Sinne bezeichnete.391 Der Dekan schlug deshalb vor, eigenständig eine Abschaffung zu beschließen, um eine Bestrafung zu verhindern, was letztendlich angenommen wurde: „Und schließlich nachdem zahlreiche Positionen über dies geäußert worden sind, folgen alle besagten Kanoniker in ihrem Beschluss  …, dass das besagte Narrenfest abgeschafft werde, … und dass keine Rede an dem Fest in der Kirche geschehe, und dass niemand die Kirche selbst betrete, insbesondere während der 387 Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 501. 388 So die Übersetzung von Lebeuf des unbekannten Quellenterminus, Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 502. 389 „… quod dictum festum non erat, nec unquam fuerat a Deo nec ecclesia approbandum seu approbatum, neque erat solemnizandum, et quod dictum festum non erat nec est tolerandum …“, Lebeuf 1848, Bd. 4, S. 232. 390 Vgl. Harris 2011, S. 193. 391 Ebd., S. 188 f.

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Gottesdienst gefeiert wird, außer angezogen mit den kirchlichen Gewändern.“392 Oberstes Ziel war es, die Feiern aus dem geweihten Kirchenraum fernzuhalten. Außerhalb der Kirche dagegen gestattete das Kapitel zunächst noch, Elemente der Feier beizubehalten, wie die Kanoniker weiter unten im Beschluss erklärten: „… außerhalb der Kirche können sie, falls sie wollen, auf dem St. Stephansplatz tanzen  … und ebenso umherwandern.“393 Da im Kapitelbeschluss bisher nur vom Kathedralkapitel die Rede war, wurde der Tanz von den Kanonikern praktiziert. Ob sie allein oder gemeinsam mit Laien tanzten, bleibt offen. Bei dem Ort handelte es sich um den Vorplatz der Kathedrale. Fraglich ist, ob der Tanz bereits vorher auf dem Vorplatz der Kirche praktiziert wurde, oder aus dem Kirchenraum nach draußen verlegt worden war. Der Tanz gehörte zumindest nicht zu den Bestandteilen der Fête des Fous, die abgeschafft wurden. Entweder weil er nicht als besonders schädlich wahrgenommen wurde oder die Festgegner sich bewusst waren, dass sie dieses zentrale Element der Feier nicht verbieten konnten. Der Tanz fand am Tag des Hl. Stephan, des Namenspatrons der Kathedrale statt. An diesem Tag wurde in vielen Kirchen in Frankreich das Fest der Diakone (Stephan war einer der ersten sieben Diakone) gefeiert. Wie der Liturgiker Johannes Beleth bereits im 12. Jahrhundert berichtete, wurde das Fest der Diakone (26.12.) wie auch das Fest der Priester (27.12.), der Chorknaben (28.12.) und der Subdiakone (01.01. oder 06.01.) mit Tänzen gestaltet.394 Eine Antiphon zu Ehren des Hl. Stephanus, die Johannes Beleth erwähnt, stellte auch in Sens anlässlich des Tanzes des Präkantors die musikalische Rahmung dar. Der Pariser Kanzler Jean Gerson nahm in einer Schrift von 1402 mit dem Titel „Contre la Fete des Fous“, in der er über die Missbräuche während der Fête de Fous berichtete und ein Verbot dieses Festes forderte, auf die Auseinandersetzung in Auxerre Bezug. Über den Streit in Auxerre hatte er vermutlich vom dortigen Bischof, Michel de Creney, erfahren, der mit ihm gemeinsam einige Jahre am Collège de Navarre verbracht hatte.395 Die erste Schlussfolgerung aus seiner 392 „Et finaliter post plures prolocutiones super hoc habitas, omnes dicti domini capitulantes ut sequitur, in sua deliberatione … quod dictum festum Fatuorum annullaretur … et quod nullus sermo in dicto festo intra ecclesiam fieret, quodque nullus ecclesiam ipsam intraret, maxime dum celebrabuntur divina, nisi indutus suis vestibus ecclesiast“, Lebeuf 1848, Bd. 4, S. 233. 393 „…  extra ecclesiam: et poterunt, si volunt, chorizare in platea S.  Stephanie cum  … et simul spatiare“, Lebeuf 1848, Bd. 4, S. 233. 394 „…  ac postea conveniunt diaconi quasi in tripudio, cantantque Magnificat cum antiphona de S. Stephano …“, Johannes Beleth 1976, S. 133, siehe auch: Skambraks 2010, S. 358. 395 Vgl. Harris 2011, S. 194 f.

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Schrift lautete: „Affermer ou soustenir que par long usage ou soubz umbre de gieux ou autrement, ce soit chose loysable ou approprié faire telz festes des folz par telles desordonances comme on les voit faire dedens saincte esglise, c’est erreur en nostre foy et blasfeme contre la religion crestienne. Et encore plus de dire que ce soit feste aussi approuvee comme la feste de la conception Nostre Dame, comme l’afferma na gaires ung a Aussoire, selon ce que on dit et raporte.“396 Jean Gerson bekräftigt hier noch einmal seine Haltung gegen die Fête des Fous und macht mit dem Beispiel von Auxerre auf die vielfachen Widerstände aufmerksam. Während er die Feier als einen Abfall vom Glauben ansah, wurde ihm zugetragen, dass man in Auxerre gänzlich anderer Meinung war. In dem Brief an den Bischof von Cambrai hatte er bereits moniert, dass die Anzahl der Narren unendlich sei und häufig Bischöfe, die gegen die Feier vorgingen, dadurch Gegenstand in den dort vorgetragenen Spottliedern wurden. Gersons Schrift dokumentiert den Widerstand der lokalen Kapitel gegen eine Veränderung der Feiern, die sie im Gegensatz zu ihm als gottgefällig und ebenso wichtig wie andere hohe Kirchenfeste ansahen. In Auxerre versuchten in den Folgejahren einige Mitglieder des Kapitels weiterhin die Fête des Fous zu feiern. Nachdem 1410 einige Kanoniker das Fest zelebriert hatten, wurde eine Kommission eingerichtet, welche die Missstände aufzählte und ahndete. Als ein Jahr später noch einmal sechs Kanoniker für das Abhalten der Feier im Kapitel warben, wurde ihr Vorschlag abgelehnt und die endgültige Abschaffung der Feier bestätigt. Ob sie sich durchsetzte und ob der Tanz vor der Kathedrale davon betroffen war, entzieht sich unserer Kenntnis. Aus der Mitte des 16. Jahrhunderts liegen zumindest Berichte vor, dass eine Fête des Fous in Auxerre gefeiert wurde, wobei der Ort mit dem Vorplatz der Kathedrale gleich blieb, die Feier zeitlich aber auf den 18. Juli verlegt wurde.397 Möglicherweise erschien der Heilige Arnold, dessen Fest an diesem Tag begangen wurde, als Schutzpatron der Musiker und Harfenspieler als ein dafür passenderer Heiliger.398 Bei der Pelotte von Auxerre und der Cazzole von Sens handelte es sich anders als in der Forschungsliteratur häufig dargestellt nicht um zwei identische Rituale, sondern um zwei unterschiedliche Ausprägungen der Tanzkultur von französischen Domkapiteln am Osterfest. Bei der Pelotte von Auxerre bildete der Tanz den Abschluss eines komplexen Initiationsrituals für neue Kanoniker. In den Nachmittagsstunden des Ostertages tanzten die Kanoniker einen Reigen 396 Jean Gerson, Bd. 7,1, 1966, S. 410. 397 Vgl. Fourrey 1934, S. 157 f. 398 Vgl. MdF, juillet 1725, S. 1595 ff.

Ausgetanzt

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auf dem oder um das Kirchenlabyrinth, während der Dekan des Kapitels im Zentrum des Labyrinths einen anderen Tanzschritt vollzog. In den Tanz war ein Ballspiel eingebunden, bei dem aber nicht ein Wettkampf zwischen zwei Parteien des Kapitels im Zentrum stand, sondern auf den christlich adaptierten Theseusmythos und, wie ein Relief des Westportals der Kathedrale nahelegt, die Schöpfung Bezug genommen wurde. Tanz und Ballübergabe schafften es, mehrere Zeitebenen zusammenzufügen und somit die Aufnahme des Neulings zu ermöglichen wie auch die Einheit und die Langlebigkeit des Kapitels jedes Jahr neu zu vollziehen. Beim anschließenden gemeinsamen Mahl wurden die weltlichen Gäste einbezogen, die auf kreisförmig angeordneten Bänken gemeinsam mit den Kanonikern ihre Position als Regenten der Stadt Auxerre vergegenwärtigten. Das gesamte Ritual kam dabei ohne die Mitwirkung des Bischofs von Auxerre aus. Bei der Cazzole in Sens dagegen hatte der Tanz weder einen Bezug zum Labyrinth in der dortigen Kathedrale noch gibt es Hinweise auf ein Ballspiel. Kanoniker und Erzbischof zogen dort am Abend des Ostertages in einer Tanzprozession zum Taufbrunnen auf den Kirchvorplatz. Möglicherweise – die Quellenlage ist in diesem Punkt sehr vage – wurden sie dabei von den Chorknaben der Kathedrale und/oder weltlichen Würdenträgern beiderlei Geschlechts begleitet. In der Cazzole wurde auf die Durchquerung des Roten Meeres und den anschließenden Freudentanz Bezug genommen, wodurch der Tanz an die Liturgie des Ostertages angebunden war und legitimiert wurde. In Sens und Auxerre wurde aber nicht nur an Ostern von den Kathedralkapiteln getanzt. In Auxerre war bis zum 15. Jahrhundert, vielleicht sogar noch deutlich länger, ein Tanz von Kanonikern Bestandteil der Feierlichkeiten zur Fête des Fous. Für Sens lässt sich zwar kein weiterer Tanz aller Kanoniker belegen, zumindest aber der Kantor des Kapitels führte an zwei bedeutenden Heiligenfesten einen Tanz in der Kathedrale auf.

5.3 Ausgetanzt – Das Verschwinden der Tänze im 16. Jahrhundert Die seit über 100 Jahren in den Osterfeierlichkeiten der Kathedralen von Sens und Auxerre fest verankerten Tänze verschwanden im Verlauf des 16. Jahrhunderts. Die häufige Erklärung für ihre Abschaffung, die Tänze seien stets kirchenrechtswidrig und ein Verbot deshalb nur eine Frage der Zeit gewesen, wird der Komplexität ihres Endes nicht gerecht. In diesem Unterkapitel wird demgegenüber versucht, zunächst auf regionaler Ebene zu betrachten, ob es Verände-

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rungen in der kirchlichen Gesetzgebung gab, die ein Ende der Tänze erklären könnten. Zweitens werden die in Kapitelregistern und Prozessakten beschriebenen Neuregelungen der Tänze zu der im dritten Kapitel herausgearbeiteten Machtkonstellation in den Bischofsstädten in Beziehung gesetzt. Dabei wird untersucht, inwiefern veränderte Selbstverständnisse eine Variation der Rituale zu bewirken vermochten. Während sich für Sens die Faktoren aufgrund des dünnen Quellenmaterials nur schwer bestimmen lassen, erlauben die Gerichtsakten aus der Prozessserie des Kapitels von Auxerre eine differenziertere Betrachtung. Hierzu werden Normvorstellungen und Interessen der beteiligten Akteure, des Domkapitels, des Bischofs und des Pariser Parlaments, untersucht.

5.3.1 Die Tanzregulierungen der Provinz- und Diözesansynoden Die Bewertung der kirchlichen Tanzpraktiken war, wie die Diskussion in den Tanztraktaten und bei den Liturgikern gezeigt hat, zweifellos ambivalent. Ein totales Tanzverbot in den Kirchen hatte bis zum 16.  Jahrhundert jedoch noch kein allgemeingültiges Konzil beschlossen.399 Nicht auszuschließen ist allerdings, dass sich auf der Ebene der Kirchenprovinz Sens oder innerhalb der Diözesen Sens und Auxerre die rechtlichen Rahmenbedingungen verändert hatten. Bischöfe und Erzbischöfe hatten das Recht, bei Diözesan- bzw. Provinzsynoden eigene Gesetze und Normen zu erlassen oder allgemeine Regelungen lokalen Traditionen anzupassen. Um die Frage zu beantworten, unter welchen Umständen die Tänze in Sens und Auxerre verschwanden, lohnt es sich deshalb zunächst, die Beschlüsse der regionalen kirchlichen Gesetzgebung genauer zu betrachten. In diesem Abschnitt sollen deshalb die für Sens und Auxerre relevanten Tanzregulierungen seit Beginn des 13. Jahrhunderts bis zum Konzil von Trient vorgestellt werden.400 Für die Synoden auf Provinz- und Bistumsebene gestaltet sich die Erforschung jedoch schwierig, da trotz des Interesses für die Konziliengeschichte nach dem II. Vatikanum die Fragen nach der Häufigkeit und Form dieser Versammlungen weiterhin ein Desiderat der Forschung darstellen.401 Obwohl schon das vierte Laterankonzil 1215 Versammlungen auf Provinz- und Bistumsebene institutionalisierte, fanden lediglich die Provinzsynoden in regel399 Vgl. Kap. 3.2, S. 179 f. 400 Die in der Sekundärliteratur häufig zitierten Konzilien von Auxerre von 573 und 603 bleiben bei der folgenden Betrachtung bewusst außen vor. Ich versuche nicht, die dort verhängten Tanzverbote in Bezug zur 800 Jahre später praktizierten Pelotte zu setzen. Vgl. dazu: Gougaud 1914, S. 11. 401 Vgl. Bihrer 2008, S. 236 f.

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mäßigen Abständen statt. Die Erzbischöfe von Sens hielten nämlich bis in das 16. Jahrhundert neben den Provinzkonzilien keine eigenständigen Synoden für ihre Diözese ab. Dieses Vorgehen war allerdings kein Einzelfall, sondern lässt sich auch für andere Erzbistümer nachweisen. In Bourges etwa fanden ebenfalls vor dem 16. Jahrhundert keine Diözesansynoden statt, in Bordeaux beschränkten sich die Erzbischöfe zwischen 1267 und 1343 ebenfalls auf diese Praxis. In Lyon dagegen wurde im 15.  Jahrhundert lediglich eine eigene Synode einberufen. Odette Pontal hält es für wahrscheinlich, dass die Erzbischöfe es als überflüssig empfanden, die zuvor auf den Provinzkonzilien verabschiedeten Beschlüsse auf Bistumsebene noch einmal zu wiederholen. Insbesondere wenn die Versammlungen an den eigenen Bischofssitzen tagten.402 Dies hinderte die Erzbischöfe von Sens aber nicht darin, außerhalb der Synoden einzelne Mandate zu erlassen. Der Versuch des Bischofs von Troyes, die Fête des Fous in seiner Diözese zu bekämpfen beispielsweise, hatte nicht nur den Brief der Fakultät von Paris im März 1445 zur Folge. Ermutigt durch die Pariser Theologen verabschiedete auch der Erzbischof von Sens, Louis de Melun, der ebenfalls vom Bischof von Troyes vorher angeschrieben worden war, im November 1445 ein Mandat. Darin versuchte er eine Änderung des Ablaufs durchzusetzen, die das Ende der Fête des Fous bewirken sollte.403 Für Auxerre hingegen lassen sich einige wenige Synoden auf Bistumsebene nachweisen.404 Der Umstand an sich bedeutet noch nicht, dass auf den Versammlungen zusätzliche Beschlüsse gefasst wurden. Im benachbarten Troyes beschränkten sich die Bischöfe im 14. und 15. Jahrhundert darauf, die Ergebnisse der Provinzsynoden unter ihrem Namen zu wiederholen. Eine Praxis, die dort noch im 17.  Jahrhundert Anwendung fand.405 Lebeuf berichtet in seiner Geschichte Auxerres von zwei Synoden, die Bischof Pierre de Longueil in den Jahren 1451 und 1456 abgehalten hat und deren Inhalt er kurz zusammenfasst. Nach dem Resümee von Lebeuf waren Tanz oder Spiel, abgesehen von einer verhängten Geldstrafe für Glücksspiele, darin kein Thema gewesen.406 Nach diesen beiden Statuten aus der Mitte des 15.  Jahrhunderts hatte erst wieder Bischof François Dinteville  II. 1552 eine Diözesansynode abgehalten.407 Da die drei Bistumssynoden in Auxerre keine Einträge zu Tanz verzeichnen und in Sens 402 403 404 405 406 407

Vgl. Pontal 1962, S. 80 ff. Vgl. Tabbagh 2009, S. 185. Vgl. Pontal 1975, S. 25. Vgl. Pontal 1962, S. 81 f. Vgl. Lebeuf 1848, Bd. 1, S. 533, Lebeuf 1851, Bd. 2, S. 65 f. Vgl. Pontal 1969, S. 90  f., einzelne Dekrete daraus paraphrasiert Lhoste 2010, S. 191 f.

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keine Diözesansynoden stattfanden, beschränkt sich die Untersuchung auf die Beschlüsse der Provinzsynoden von Sens. In der Kirchenprovinz Sens,408 der unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Sens die Bistümer Chartres, Auxerre, Meaux, Paris, Orléans, Nevers und Troyes angehörten, fanden insbesondere im 13. und im 14. Jahrhundert bis zum Beginn des Hundertjährigen Krieges in regelmäßigen Abständen Synoden statt. Es lässt sich ein gutes Dutzend Versammlungen für diesen Zeitraum nachweisen, allerdings sind nicht alle Beschlüsse dieser Treffen überliefert.409 Bis zur Mitte des 14.  Jahrhunderts erließen die Provinzkonzilien jeweils nur eine Handvoll von Beschlüssen, bei denen Tanz oder Spiele kein Thema waren.410 Da zwischen 1346 und 1428 keine einzige Provinzsynode stattfand, konzentriert sich die Auswertung auf das 15. und beginnende 16. Jahrhundert. In dieser Zeit fanden Konzilien 1428/29 in Paris, 1460 und 1485 in Sens, sowie 1521 und 1528 erneut in Paris statt.411 Erzbischof Jean de Nanton hatte für das Frühjahr 1429 die Geistlichkeit seiner Kirchenprovinz in das Collège des Bernardins nach Paris eingeladen.412 Es handelte sich, wie der Bischof vor dem Parlament versicherte, um die erste Provinzsynode seit 80 Jahren. Jean de Nanton, der seinen Doktor an der dortigen Sorbonne gemacht hatte und für die Universität auf dem Konzil von Konstanz verhandelt hatte, war bis dahin noch nicht feierlich in seine Bischofsstadt eingezogen.413 Bei der Synode waren auch zahlreiche Mitglieder der Universität vertreten, die zusammen mit dem Bischof einen umfangreichen Katalog zur Reform der Sitten sowohl bei Klerikern als auch Laien vorlegten.414 Auf Tanz- und Spielpraktiken wurde dabei mehrfach Bezug genommen und unter anderem beschlossen: „Wir verbieten darüber hinaus unter der Strafe des Entzugs ihrer Pfründen für einen Monat, dass besagte Kleriker künftig lächerliche und unehrenhafte Spiele machen, die an den Heiligenfesten manche von diesen zu tun pflegen. Sie sollen sich vor allem aber von oben genannten Spielen und allen anderen Späßen, Tänzen und Liedern fernhalten, wenn der Gottesdienst gefei408 Zur Struktur der Kirchenprovinz vgl. Kap. 4. 409 Vgl. Tabbagh 2009, S. 8, 1223, 1225, 1239 Galterus Cornuti, 1248, 1252 Aegidius Cornuti, 1256 Henricus Cornuti, 1269 Pierre de  Charny, 1280 Gilon Cornu, 1310, 1314 Philippe de Marigny 1320, 1323, Henri de Villeneuve, 1346 Guillaume de Melun. 410 Vgl. Mansi XXV, S. 647–650, S. 727–730, XXVI, S. 15–24. 411 Vgl. Villetard 1956, S. 92 f., Pontal 1961, S. 80 f. Tabbagh erwähnt ein weiteres Konzil 1505, von dem aber nichts Weiteres bekannt ist, so dass unklar bleibt, ob es überhaupt stattgefunden hat, dazu: Tabbagh 2009, S. 193. 412 Zum Konzil siehe: ADY, G 29. 413 Vgl. Tabbagh 2009, S. 181. 414 Vgl. Mansi XXVIII, S. 1097 f.

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ert wird.“415 In einem anderen Dekret findet sich ein weiteres Verbot von Tänzen und Spielen im kirchlichen Kontext: „Außerdem veranlassen wir, die Geistlichen durch ihre Vorgesetzten zu ermahnen und zu erinnern, dass sie die Gegenstände und Gewänder der Kirchen insoweit sauber und anständig behandeln sollen, besonders diejenigen, die eine Funktion bei der Messe haben. Sie sollen ferner nicht erlauben, dass Tänze, Lieder, Spiele oder Handel in geweihten oder religiösen Räumen geschehen.“416 Weiter unten wird ein Verbot gegen unerlaubten Handel und Spiele noch einmal aufgegriffen: „[...] gegen jene Kleriker, die durch eigene verwerfliche Dienste bei Geschäften oder weltlichem Warenhandel mitmischen, nämlich beim Verkaufen von Getreide, Wein und anderen derartigen und sogar unehrenhaften Waren, [...] sie sollen auch gegen jene vorsorgen, die ihrer Kleidung entledigt spielen oder mit Hemden auf öffentlichen Plätzen jeu de paume (palma) spielen: Dies alles kommt dem Ansehen nicht zugute.“417 Alle drei Dekrete verbieten es den Klerikern, an Spielen oder Tänzen teilzunehmen. Das letzte Dekret spricht dabei genauer von einem Spiel mit dem Namen Palma, ohne dass allerdings präzisiert wird, worum es sich dabei handelt. Während die ersten beiden das Spiel mit Tanzpraktiken verbinden, die im Kirchenraum und/oder an Heiligenfesten stattfinden, scheint der dritte Beleg sich auf vom kirchlichen Kalender losgelöste Spiele zu beziehen. Waren innerhalb dieser unterschiedlichen Kritiken also bereits die Verbote formuliert, die 100 Jahre später Anwendung finden sollten? Die Konzile von 1460 und 1485 bringen diesbezüglich Klarheit, da sie die Kontexte der Tänze und Spiele genauer ausführen. Das nächste Konzil wurde Anfang März 1460 vom Erzbischof Louis de Melun einberufen. Aus Auxerre, so erfahren wir, waren neben dem Bischof der Dekan Thomas la Plotte und drei weitere Kanoniker anwesend.418 Die Kathe415 „Prohibemus insuper sub poena privationis fructuum beneficiorum suorum per unum mensem, ne de cetero supradicti clerici facere praesumant derisorios et inhonestos ludos, quos in festis Sanctorum quidam ex ipsis facere consueverunt: praecipue autem a supradictis ludis, & aliis quibuscumque irrisibus, choreis, & cantilenis abstineant, cum divinum celebratur officium“, Mansi XXVIII, S. 1098. 416 „Insuper hortari & admoneri jubemus Ecclesiasticos viros per suos Superiores, quatenus Ecclesiarum vasa & ornamenta munde & honeste teneant, & praecipue ea quibus ad sacrificium altaris opus habent: & quod etiam in locis sacris vel religiosis choreas, cantilenas, ludos sive mercata fieri non permittant“, Mansi XXVIII, S. 1099. 417 „… contra illos clericos, qui proprio contempto ministerio, negotiis & mercimoniis secularibus se immiscent; emendo scilicet blada, vina, & alia huiusmodi, & etiam inhonesta mercimonia, eo animo, ut ea carius vendant. Provideant etiam insuper contra illos qui depositis suis vestibus in ludis, vel camisiis in publicis locis ad palmam ludunt: quae omnia non bene conveniunt honestati“, Mansi XXVIII, S. 1106. 418 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 549.

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dralkapitel aus Paris, Chartres und Meaux waren hingegen nicht erschienen, da sie über das Benachrichtigungsschreiben, das nach Lebeuf eher einer Vorladung (lettre de jussion) als einer Einladung glich,419 erbost waren. An dieser Ablehnung wird deutlich, dass auch ein Provinzkonzil keineswegs nur als streng hierarchische Versammlung angesehen werden kann, bei der päpstliche Erlasse auf der Ebene der Kirchenprovinz wiederholt oder neue Beschlüsse des Erzbischofs diktiert wurden. Der Erzbischof konnte schlecht – ohne weitere Konflikte zu riskieren – Entscheidungen durchsetzen, wenn der Großteil des Klerus sich weigerte, an der Synode teilzunehmen. Gleichzeitig bot sich den Teilnehmenden auch die Möglichkeit, an der kirchlichen Gesetzgebung zu partizipieren. Die Beschlüsse des Konzils von 1460 sind in den bekannten Editionen nicht direkt überliefert. Da bei der folgenden Provinzsynode von 1485 unter Erzbischof Tristan de  Salazar (1474–1519) in den Akten jedoch die vorherigen Ergebnisse wiederholt und bestätigt werden, können daraus die Beschlüsse von 1460 rekonstruiert werden.420 Ähnlich wie das vorherige Konzil gingen die Versammlungen von 1460 und 1485 gegen verschiedene Formen von Spielen bei Geistlichen vor. Generell verboten wurden Würfelspiele. Schach- und Damespiele sollten zwar ebenfalls unterlassen werden, jedoch wurde die Strafe der Exkommunikation nur dann fällig, wenn die Spiele in der Öffentlichkeit und häufig gespielt wurden. Bei mäßigem Spiel außerhalb der Öffentlichkeit reichte hingegen eine leichte Geldstrafe. Das Palma- oder Pila-Spiel stand wiederum in der Kritik. Getadelt wurden jene, „die sich nicht genieren oder scheuen, im Hemd oder anderen unehrenhaften und schamlosen Kleidungsstücken öffentlich und in üblicher Weise Palma oder Pila zu spielen“421. Betrachtet man den Kontext der Kritik, wird deutlich, dass das Pila-Spiel in eine Reihe säkularer Spielpraktiken eingeordnet wird. Zwei Punkte werden besonders angeprangert: zum einen die öffentliche Zurschaustellung des Spiels, die durch die Anwesenheit von Laien in Auxerre durchaus gemeint sein könnte. Zum anderen ist die falsche Kleidung oder wie bei den Beschlüssen von 1429 das Fehlen von vorgeschriebener Kleidung Gegenstand der Kritik. Während des Osterrituals in Auxerre trugen die Kanoniker jedoch nach der von Lebeuf zitierten Beschreibung ihre standesgemäße Almutia. Bei den im 16.  Jahrhundert formulierten Kritiken wurde, wie später deutlich werden wird, kein Bezug auf die Kleidung genommen. Der Verweis auf Hemden als Kleidungsstücke 419 Vgl. ebd. 420 Vgl. Mansi XXXII, S. 407 f. 421 „… qui ad palmam seu ad pilam in camisia & alias inhonestè & inverecundè, publicè & consuetudinariè ludere non verecundantur, aut formidant“, Thomassin 1725, Sp. 1355. Dazu auch: Jusserand 1986, S. 241.

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scheint eher eine Ausübung des Pila-Spiels außerhalb des liturgischen Umfelds nahezulegen, so dass das Verbot auf die vielfältige Verwendung des Begriffs pila aufmerksam macht. Denn zu Tänzen oder Spielen im Zusammenhang mit der Liturgie äußerte sich das Konzil noch einmal dezidiert im dritten Kapitel des ersten Artikels „De choris & ludis in ecclesia non fiendis“: „Außerdem wenn sie durch Tänze, Theaterspiele, Spiele und Überheblichkeiten die Tempel des Herrn zu verweltlichen pflegen und das Heilige in Geringschätzung verwandeln. Und da Kleriker bei derartigem mitmischten, entstehen Skandale und Schandtaten. So verbieten wir in Zukunft Spiele und Tänze und derartige Keckheiten in heiligen Kirchen und Orten abzuhalten. Falls sie jedoch den Anschein erwecken, zur Erinnerung der Feiern und zur Erinnerung Gottes und der Heiligen, gemäß den Gewohnheiten der Kirche, an Weihnachten oder Ostern, stattzufinden, geschehe dies mit Ehrenhaftigkeit und Frieden, ohne dass eine Verlängerung, Verhinderung oder Schmähung des Gottesdienstes, teuflische Sache oder Beschmutzung stattfinde, durch die besondere Erlaubnis des zuständigen Bischofs und das Wohlwollen der Diener dieser Kirche. Aber für diese Unverschämtheiten der Spiele, vor allem beim Fest der Unschuldigen Kinder, die in unseren anderen Statuten der Provinzsynoden verboten sind, erneuern wir noch einmal das Verbot, sie abzuhalten.“422

Im Vergleich zu den Beschlüssen von 1429 nahm das Konzil in seinem Beschluss eine deutliche Differenzierung zwischen generell verbotenen und erlaubten Tänzen und Spielen vor. Eine solche Trennung war möglicherweise durch die Entscheidungen des Konzils von Basel, das vehement gegen die unter dem Begriff Fête des Fous vereinten Feierlichkeiten vorging, notwendig geworden. Die Trennlinie für die Verbotsentscheidungen war die Frage, ob die Praktiken Gefahr liefen, den Kirchenraum zu verweltlichen. Tänze und Spiele jedoch, die seit längerer Zeit und den Gewohnheiten der Kirchen gemäß stattfanden, waren von dieser Kritik ausgenommen, sofern an ihnen keine Veränderungen vorgenommen wurden. Explizit 422 „Item cum per choreas, & ludos theatrales, ludificationes, & insolentias, soleant templa Domini profanari, & sacra in vilipendium deduci, in virisque ecclesiasticis talibus se immiscentibus scandala & opprobia generari, ludos, & choreas, & tales insolentias, in sacris eccesiis [sic] & locis de caetero fieri prohibemus. Quod si ad memoriam festivitatum, & venerationem Dei ac sanctorum, aliquid juxta consuetudines ecclesiae, in Nativitate Domini, vel Resurrectione, videantur faciendum: hoc fiat cum honestate & pace, absque prolongatione, impedimento, vel diminutione servitii, larvatione & sordidatione facici, ex speciali permissione Ordinarii, & beneplacito ministrorum ipsius ecclesiae. Ut autem hae insolentiae ludorum, circa festum praesertim Innocentium, in aliis nostris provincialibus statuis prohibitae, & quam prohibitonem iterum renovamus, penitus arceantur“, Mansi XXXII, S. 413 f.

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wurde dabei auf Spiel- und Tanzpraktiken an Weihnachten und Ostern verwiesen. Die Provinzsynode enthielt sich bei diesen Feiern einer allgemeinen Bewertung, sondern überließ es den zuständigen Bischöfen oder Bevollmächtigten, darüber zu urteilen und über die specialis permissio zu entscheiden. Unter die erlaubten Feste an Weihnachten fielen jedoch nicht die Feiern anlässlich der Unschuldigen Kinder am 28. Dezember. Diese Feiern wurden grundsätzlich verboten und dazu die betreffenden Passagen aus den Basler Beschlüssen wörtlich übernommen.423 Die Forderung nach einer Bekämpfung der lutherischen Häresie führte im Jahr 1528424 zu einer Reihe von Provinzsynoden im gesamten Königreich, so in Bourges, Bordeaux und Lyon. Auch der Erzbischof von Sens, Antoine du Prat (1525–1535), hielt zwischen dem 3. Februar und dem 9. Oktober 1528 in Paris eine Synode für seine Kirchenprovinz ab. Luthers Lehren waren bereits kurz nach der Veröffentlichung seiner Thesen von den Bischöfen der Kirchenprovinz im Frühjahr 1518 kritisch diskutiert worden. Bei einer Provinzsynode in Paris 1521 waren jedoch noch keine umfangreichen Verbote formuliert worden.425 Luthers Erfolge im Reich und Zwinglis Glaubensverbreitung in der Eidgenossenschaft beunruhigten die französischen Bischöfe und den König, die in den Folgejahren in ihren Synoden die Lehren der Reformatoren verwarfen. Neben der Kritik an den neuen Lehren zielte die Synode auch auf eine Disziplinierung der Geistlichen ab, womit bereits in der Provinzsynode 1521 begonnen worden war.426 Dafür wurden 40 decreta morum erlassen, von denen der 16. Artikel lautete: „Wir verbieten deshalb, dass Spielleute oder Mimen die Kirche betreten, um Handtrommel, Zither oder andere Musikinstrumente zu spielen. Weder in der Kirche, noch bei der Kirche sollen sie ihre Instrumente spielen. Wir verbieten außerdem, dass künftig das Narrenfest oder Kinderbischofsfest gefeiert wird [...]“427. Das Verbot richtete sich gegen professionelle Gaukler, die weder ihre Aufführungen in Kirchen abhalten noch als Musiker im kirchlichen Raum 423 Vgl. Mansi XXXII, S. 414, Du Tilliot 1751, S. 35. 424 Tabbagh erwähnt zwischen 1485 und 1521 ein weiteres Konzil, „très mal connu“ (Tabbagh 2009, S. 193), das Tristan de Salazar 1505 veranstaltet haben soll. Beschlüsse davon sind aber nicht überliefert. 425 Vgl. Veissière 1986, S. 399 ff. 426 Vgl. Mansi XXXV, S. 325–328. 427 Mansi XXXII, S. 1190. „Prohibemus idcirco, ne histriones aut mimi intrent ecclesiam, ad pulsandum tympano, cithara, aut alio instrumento musicali: neque in ecclesia, aut juxta ecclesiam suis pulsent instrumentis. Prohibemus insuper, ne fiat deinceps festum fatuorum aut innocentium …“. Vgl. du Tilliot 1751, S. 36: „In Decret. Mor. Cap. 16; défend aux farceurs, & aux bouffons d’entrer dans les Eglises pour y jouer du tambour, de la harpe, ou de quelqu’un autre instrument de Musique, & d’en jouer effectivement, soit dans les Eglises, soit dans les lieux voisins des Eglises. Il défend ensuite de faire à l’avenir la Fête des Fous, ou des Innocents, & d’ériger un Doyenné du Plat: Prohibemus

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agieren sollten. Zugleich wurde weiterhin ein Ende der Fête des Fous und der Fête des Innocents gefordert, die damit auf eine Stufe mit den Darbietungen der Histrionen gestellt wurden. Speziell zum Tanz oder Spiel äußerten sich die in Paris versammelten Geistlichen an dieser Stelle jedoch nicht. Im 25. Dekret jedoch, „De honesta clericorum observanda in incessu, conversatione cum laicis, in evitatione chorearum, & actionis ludorum scenicorum“, wiederholte das Konzil die 1485 beschlossenen Restriktionen des Pila-Spiels: „Und nicht in der Öffentlichkeit Pila, oder andere Spiele, vor allem mit Laien spielen. Sie sollen sich vom Würfelspiel und anderen, die vom Glück abhängen, fernhalten und bei Spielen nicht als Ausrichter, Zuschauer oder Zeugen hervortreten. Sie sollen nicht bei öffentlichen Reigen, Tänzen oder Sprungtänzen mitmischen, keine Schmach-, Liebes- und Schandlieder hervorholen oder Gesänge unterstützen oder dabei anwesend sein. Nicht bei den Aufführungen auftreten, keine weltlichen Komödien betreiben, selbst keine körperlichen Darbietungen in der Öffentlichkeit noch an privatem Ort machen.“428

Die Einbindung des Begriffs pila in andere weltliche Spiele und Tänze, die mit Laien gespielt werden, legt hier wiederum die Deutung nahe, dass das Dekret auf ein Verbot des jeu de paume abzielt. Betrachtet man die Differenzierung der Konzilienbeschlüsse in der Kirchenprovinz Sens von 1428 bis 1528, zeigt sich, dass das Werfen der pila zwei Kontexte kannte: zum einen das auch als jeu de paume bezeichnete, beliebte Spiel des Spätmittelalters, über das aus mehreren Quellen berichtet wird, zum anderen das Ballspiel (pila) in Verbindung mit einem Tanz, das am Osterabend in der Kathedrale von Auxerre praktiziert wurde. Die kirchliche Kritik richtete sich vor allem gegen das Pila-Spiel als Sport. Bereits Eudes Rigaud hatte in seinem Visitationsregister 1248 einen Geistlichen getadelt, „…  qui publice ludebat ad pilam; in ludo suo quidam fuit vulneratus“429. Diese Präzisierungen sind wichtig, denn das Spiel war dem Geistlichen erstens verboten, weil er in der Öffentlichkeit in Anwesenheit von Laien spielne fiat deinceps Festum Fatuorum aut Innocentium, neque erigatur Decanatus Patella“. Siehe dazu auch Veissière 1986, S. 402–405. 428 „Neque in publico ludant pila, aut aliis ludis, maxime cum laicis. A ludo alearum, aliisque, qui a forte pendent, abstineant: neque ludentium fautores, spectatores, aut testes existant. Non se admisceant choreis publicis, tripudiationibus, aut saltationibus: non turpes, amatorias, aut lascivas depromant cantilenas, seu cantantibus faveant aut adsint. Non in scenam velut histriones prodeant, non comoedias vernaculas agant: non spectaculum corporis sui faciant in publico privatove loco“, Mansi XXXII, S. 1194. 429 Rigaud 1852, S. 10, zitiert nach: Mehl 2010, S. 277.

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te,430 zweitens praktizierte er ein Spiel, bei dem er andere verletzen konnte, was ihm als Kleriker nicht gestattet war. Auch die Verbote in Sens kritisierten die gemeinsame Betätigung mit Laien und das Tragen von unangemessener Kleidung, die für die schnellen Bewegungen im Spiel durchaus förderlich war. Die ebenfalls unter dem Begriff pila versammelten Spiel- und Tanzpraktiken, die zur theatralen Ausgestaltung der Hochfeste beitrugen, verboten die Konzilien keineswegs, sondern grenzten sie im Gegenteil als erlaubt von anderen Spielen im Kirchenraum am Narren- oder Kinderbischofsfest ab. Wenn also die Tänze in Auxerre und Sens auch nach den Beschlüssen der Provinssynoden kirchenrechtlich nicht direkt verboten wurden, bleibt zu untersuchen, welche Vorgänge zu ihrem Verschwinden führten.

5.3.2 Das Ende der Cazzole von Sens Über das Ende der Cazzole in Sens sind wir durch die Arbeiten der beiden Kanoniker Leriche und Fenel informiert, die jedoch zum Teil widersprüchliche Angaben machen.431 Die „Table alphabétique des conclusions capitulaires du chapitre dressée par le Doyen Charles-Henri Fenel en 1705“ enthält unter dem Stichwort „danse“ folgenden Eintrag: „le jour de pasque abolie et on a institué une procession, 4 may 1546“432. Schaut man unter dem Stichwort „pasques“ in dem Register nach, liefert es neben Dutzenden von anderen Beschlüssen zwei Hinweise. Einmal wird auf den oben zitierten Eintrag „danse“ verwiesen, zum anderen wird angemerkt, bei den „processions du matin et du soir“433 nachzuschauen. Unter dem Stichwort „procession“ findet sich dann zum einen der Hinweis auf eine „procession du matin le jour de pasques, fondée par le cardinal de Bourbon 19 avril 1546“434 und zum anderen eine „procession instituée le soir du jour de pasque au lieu d’une danse qui se faisoit dans le cloitre, 1 may435 1546“436. Es handelt sich also um zwei Prozessionen, von denen eine am Morgen, die andere am Abend des Ostertages stattfand. Beide wurden nach Fenels Angaben 1546 zum ersten Mal eingeführt. Für die morgendliche Prozession wird explizit ihr Stifter, 430 Diese Begründung findet sich auch bei zeitgleichen Konzilien in Orléans oder Langres, vgl. dazu Thiers 1686, S. 260, 265 ff. 431 Vgl. dazu Villetard 1911, S. 118–121. 432 ADY, G 678, fol. 47. Das Stichwort „pasques“ gibt den Verweis: „voyés danses apprimée“. 433 ADY, G 678, fol. 101v. 434 ADY, G 678, fol. 111r. Diese Prozession wird unter dem Stichwort „festes“ noch einmal erwähnt: „fondation de la procession du iour de pasques le matin 19 avril 1546.“ 435 Oder „7 may“, die Zahl ist in der Handschrift nicht eindeutig zu erkennen. 436 ADY, G 678, fol. 111r.

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der Kardinal de Bourbon, erwähnt. Allerdings wird nur die abendliche Prozession in Verbindung mit dem Tanz im cloitre gebracht, der durch die Prozession abgelöst wurde. Wurde der Tanz in Sens also 1546 durch eine Prozession ersetzt, nachdem nur wenige Tage vorher durch den Kardinal de Bourbon eine zweite Prozession für den Ostermorgen ins Leben gerufen worden war? Dies scheint in der Tat bemerkenswert. Zudem liefert das Stichwort „fondation“ noch einen weiteren interessanten Eintrag zu Ostern, der wie folgt lautet: „fondation de l’ancienne du jour de pasques apres vespres par maitres Louis la  Hure et Robert de  Fontaine 24. fev. 1520“437. Nach diesen Angaben könnte man vermuten, dass am Osterabend zwischen 1520 und 1546, als der Tanz dann verboten wurde, sich zeitgleich neben dem Tanz eine Prozession ereignete oder der Tanz um diese Prozession erweitert wurde. Fenels Beschreibungen bleiben dazu sehr vage, so dass Leriches Kalender möglicherweise Klärung bringen könnte. Auch der Kanoniker Leriche verzeichnet in seinem Werk zwei Prozessionen an Ostern, von denen eine morgens, die andere abends gefeiert wurde. Über die erste berichtet er: „En 1556 le 22 janvier Louys de Bourbon 98. Archeveque de Sens, Cardinal du titre de S. Silvestre fonda la procession solennelle qui se fait en l’Eglise de Sens le jour de Pasques entre 3. et 4. heures du matin devant Matines …“438. Die Prozession am Abend schildert er wie folgt: „L’an 1517 le 22. Mars Louys De la Hure chanoine de Sens et Archidiacre de Provins et Robert De la Fontaine aussy chanoine fonderant la station ou Procession du soir le iour de Pasques au lieu de la danse ou Carrole qui se faisoit le meme jour dans le Cloistre a la quelle Mr. L’Archeveque assistoit avec tout le corps de la meme Eglise, marchants deux a deux … car ce qui avoit esté introduit a bonne fin, devint ridicule, et on passoit souvent les bornes de la modestie. ce qui obligea lesd. De la Hure et De la Fontaine a fonder cette Procession. Archiv. Capitul. manuscr. p. 45. qui fut ratifée par le chapitre le 24. du meme moys de Mars 1517.“439

Leriche datiert die Prozession am Morgen zehn Jahre später auf 1556, stimmt aber damit überein, dass sie vom Erzbischof Louis de  Bourbon-Vendôme initiiert wurde, und liefert zusätzlich eine kurze Beschreibung des Ablaufs. Beide Daten liegen im Bereich des Möglichen, da Louis de Bourbon zwischen 1536 und 1557 den Bischofssitz innehatte. Sowohl Fenel als auch Leriche bringen 437 ADY, G 678, fol. 66r. 438 BMAUX, Ms 207, fol. 8r. 439 BMAUX, Ms 207, fol. 24r.

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diese Prozession in keiner Weise mit dem Tanz in Verbindung, der sich nach der Beschreibung des Manuskripts aus Poitiers am Abend des Ostertages ereignete. Leriche datiert das Ende dieses Tanzes auf den März 1517, denn er erwähnt, dass die Kanoniker Louys de la Hure und Robert de la Fontaine an Stelle des Tanzes die Prozession stifteten. Dies bestätigt zwar nicht exakt die frühe Datierung von Fenel, der die Prozession beider Kanoniker für 1520 erwähnt, macht jedoch seinen zweiten Datierungsvorschlag von 1546 unwahrscheinlicher. Zumal beide Autoren die Kanoniker Robert de la Fontaine und Louys de la Hure als Initiatoren benennen, die 1546 bereits verstorben waren. Die Etablierung der neuen Prozession durch Robert de la Fontaine und Louys de la Hure bestätigt auch das Zeremoniale aus Poitiers.440 Schon Villetard vermutete, dass Fenel ein Fehler bei der Datierung unterlaufen sei, indem er an einer Stelle beide Prozessionen auf das Jahr 1546 festlegte.441 Die beiden Stifter der neuen Prozession waren seit vielen Jahren geachtete Kanoniker im Kapitel. Louys de la Hure († 1529) hatte einen Baccalaureus in kanonischem Recht absolviert und war zum Zeitpunkt der Stiftung seit 35 Jahren Kanoniker in Sens und seit 30 Jahren Erzdiakon von Provins. Kanoniker mit dem Namen de la Hure lassen sich seit Beginn des 15. Jahrhunderts in Sens nachweisen. Auch Louys folgte im Kanonikat seinem verstorbenen Bruder Olivier de  la  Hure, so dass die aus Sens stammende Familie häufig ein Mitglied im Kapitel platzieren konnte.442 Louys de la Hure hatte sich schon vorher als großzügiger Stifter erwiesen, der der Kathedrale ein silbernes Weihwasserbecken und 1505 ein Glasfenster gespendet hatte, auf dem er selbst als Stifterfigur zu sehen ist. Dass ihm von 1512 bis 1514 das Amt des fabricien, des Bauleiters der Kathedrale, übertragen wurde, zeugt von seiner geachteten Stellung im Kapitel.443 Über Robertus de la Fontaine († 1538) ist lediglich bekannt, dass er 1498 Kanoniker in Sens geworden war und einen Magisterabschluss hatte. Sowohl er als auch Louys de la Hure wurden nach ihrem Tod in der Kathedrale bestattet.444 Die Cazzole in Sens endete folglich zwischen 1517 und 1520. Die ungenaue Datierung bei beiden Autoren liegt wahrscheinlich daran, dass die Kapitelregister zwischen 1509 und 1519/20 im 18. Jahrhundert nicht mehr vorhanden 440 „Et loco huiuscemodi choree, venerabiles et discreti viri domini Ludovicus la Hure, archidiaconus pruviniensis et Robertus de Fonte eisdum ecclesie senonensis canonici …“, BMPO, Ms 336, fol. 90r. 441 Vgl. Villetard 1911, S. 120. 442 Vgl. Tabbagh 2009, S. 344, 376, 401, 441. 443 Dazu: Cailleaux 1999, S. 161–164. 444 Vgl. Tabbagh 2009, S. 456.

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waren.445 Als Grund nennt Leriche, dass der Tanz „ridicule“ geworden und nicht mehr „modeste“ sei. Sein Verweis darauf, dass die Tänze mit guter Absicht eingeführt wurden, dann aber ins Lächerliche abglitten und die Maße der Bescheidenheit überschritten, war in der Tanzgeschichtsschreibung um 1700 ein gängiger Topos.446 Allerdings wurden darin die Verbote der Tänze stets um das Jahr 1200 datiert und mit den Reformen des Pariser Bischofs Odo in Verbindung gebracht. Was könnte nun den Ausschlag in den Jahren zwischen 1517 und 1520 gegeben haben, das Osterritual zu verändern? Zunächst standen in Sens im Jahre 1519 einige personelle Veränderungen an. Tristan de Salazar, der 45 Jahre lang Erzbischof von Sens gewesen war, starb am 15. Februar 1519. Tristan de Salazar hatte während seiner gesamten Amtszeit seine erzbischöflichen Rechte energisch verteidigt, so dass eine Abschaffung der Cazzole ohne seine Zustimmung kaum möglich gewesen sein dürfte. Sein Nachfolger Etienne Poncher (1519– 1524) feierte seinen Einzug als Erzbischof von Sens am 31. Juli desselben Jahres Er war vorher seit 1503 Bischof von Paris gewesen und hatte von 1512 bis 1514 das Amt des königlichen Siegelbewahrers bekleidet.447 Wie häufig er in Sens residierte, ist unklar, sein Nachfolger Antoine du Prat (1525–1535) war während seiner zehnjährigen Amtszeit jedenfalls nie persönlich in Sens anwesend.448 1519 gab auch der préchantre Joachim Belotin sein Amt ab, das er 1505 übernommen hatte. 1522 wurde er dann Generalvikar des Erzbischofs. Möglicherweise war der Ämtertausch schon für 1519 geplant gewesen, weswegen er bereits in dem Jahr als Kantor zurückgetreten war.449 Eine mögliche Erklärung für die Abschaffung im Jahr 1519 wäre demnach die kurze Vakanz des Bischofsitzes, die beide Kanoniker ausnutzten, um den Tanz am Ostertag durch eine Prozession zu ersetzen. Leriche und Fenel unterstützen diese Hypothese insofern, als sie die Abschaffung, auch wenn sie sich bei der Jahreszahl uneinig sind, auf den Zeitraum zwischen Ende Februar und Ende März datieren, was zwischen dem Tod von Tristan de Salazar und der Inthronisation des neuen Erzbischofs lag. Diese Deutung geht davon aus, dass dem Kapitel die zentrale Position des Bischofs als Anführer der Tanzprozession wenig zusagte und sie deshalb eine Änderung der Prozession durchsetzten, welche dem Selbstverständnis des Kapitels eher entgegen kam. 445 „… 1518. Depuis ce temps les registres capitul. sont perdus jusques en 1519 …“, ADY, G 700, fol. 294v. 446 Vgl. Bonnet 1723, S. 43, Cahusac 1754, S. 49, siehe auch Kap. 2.2.1, S. 107–113. 447 Vgl. Anselme 1730, S. 448–451. 448 Vgl. Chartraire 1904, S. VIII–IX. 449 Vgl. ADY, G 700, fol. 59r, Tabbagh 2009, S. 309.

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Das Manuskript aus der Bibliothek von Poitiers nennt dagegen einen anderen Grund, der zur Abschaffung des Tanzes geführt habe: „[...] aber weil beim genannten Tanz eine Menschenmenge beiderlei Geschlechts dazulief, wo vielleicht zahlreiche Übel erreicht werden konnten, wurde von Dekan und Kapitel der Kirche von Sens nach reiflicher Überlegung und sorgfältiger Erörterung, damit der Gefahr der Seelen entgegengetreten wird, dafür gesorgt, jene Gewohnheit ganz abzuschaffen.“450 Demnach war es die Anwesenheit von Laien, deren rege Teilnahme das Ende des Tanzes in Sens besiegelte. Nur wer verbarg sich hinter dieser Menschenmenge? Waren es die „plus honnestes habitans“451, von denen Leriche gesprochen hatte, die hinter den Kanonikern in geschlechtergemischten Paaren folgten? Vielleicht wurde ihre Anwesenheit zu Beginn des 16. Jahrhunderts mittlerweile als störend empfunden, oder Mitglieder aufstrebender Zünfte, wohlhabender Kaufmannsfamilien oder Amtsinhaber am Gericht wollten ihrem neuen Selbstverständnis Ausdruck verleihen, indem sie eine Teilnahme an der Cazzole beanspruchten.452 Möglicherweise waren es auch die Angehörigen niederer Schichten, die am Tanz teilnehmen wollten. Der Umstand, dass auch Frauen an der Cazzole partizipierten, war im Manuskript aus Poitiers ausdrücklich erwähnt worden. Die Gefahr, die von tanzenden Frauen ausging, war in den Tanztraktaten des 16. Jahrhunderts ausgiebig diskutiert worden und konnte auf dem seit der Spätantike geprägten Bild der tanzenden Salome aufbauen.453 Inwiefern diese Ansicht von den Zeitgenossen geteilt wurde, wenn innerhalb der adeligen und bürgerlichen Festkultur Frauen ständig tanzten, sei dahingestellt. Zumindest lieferte ihre Anwesenheit einen theologisch anerkannten Grund, um den Ablauf der Cazzole zu verändern. Insofern wäre Wright zuzustimmen, der die Ersetzung des Tanzes durch eine Prozession als eine Form vorreformatorischer Korrektur von religiösen Handlungen mit dem Ziel, die Rituale von als Extravaganzen betrachteten Elementen zu befreien, ansah.454 Vieles muss offenbleiben, da die knappen Beschreibungen der Cazzole nur wenige Hinweise auf die Umstände und Motive ihrer Abschaffung geben.

450 „… sed quia in dicta chorea utriusque sexus multitudo occurebat ubi forsan multa mala perpetrari poterant, visum fuit dominis decano et capitulo dicte Ecclesie Senonensis, matura deliberatione habita tractatuque diligenti, ut periculo animarum obviaretur consuetudinem illam esse penitus abolendam“, BMPO, Ms 336, fol. 90r. 451 BMAUX, Ms 207, fol. 24r. 452 Zu Rangkonflikten bei Prozessionen in den Städten des 15. und 16. Jahrhunderts vgl. Löther 1999, S. 280–299. 453 Vgl. dazu: Kap. 3.3, S. 185 ff. 454 Vgl. Wright 2001, S. 147.

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Auch im Manuskript aus Poitiers wird nur kurz auf den bisher praktizierten Tanz eingegangen, die Beschreibung der neu gestalteten Prozession erfolgte dagegen deutlich ausführlicher. Ihr Verlauf wird wie folgt wiedergegeben: „[...] unter der Bedingung, dass an Ostern die vier großen Glocken der Kirche von halb sieben bis sieben zu schlagen gehalten sind. Um Punkt sieben wird der Chor gehalten sein, den Chorraum zu verlassen, während der Kantor die Antiphon ‚Salvator Mundi‘ anstimmt. Und der Chor wird zur Seite der Heilig-Kreuz-Kapelle in den Chorumgang und in das Kirchenschiff gehen.“455 Die Prozession begann im Chor und führte am Chorumgang an der Südseite entlang in das Kirchenschiff. Daraufhin begaben sich Priester und Hebdomadarius456 in die Mitte des Kirchenschiffes, um dort Gebete und liturgische Gesänge anzustimmen. Das Kirchenschiff war auch der Ort, wo sich zeitgleich in Auxerre die Pelotte an Ostern ereignete. Da das Labyrinth auch einen großen Teil des Kirchenschiffs bedeckte, fanden auch dort zumindest Teile der Prozession auf dem Labyrinth statt. Allerdings wird in dem Text aus dem 16. Jahrhundert auf das Labyrinth in keiner Weise Bezug genommen, sondern stets von der Mitte des Kirchenschiffs gesprochen. Die liturgischen Gesänge, welche die Prozession umrahmen, beinhalten die Geschehnisse des Ostertags. Während die Antiphon „Salvator Mundi“ etwa den am Kreuz hängenden Christus besingt, thematisiert „Regina Caeli“457 die Freude über die Auferstehung und „Christus resurgens“ den Sieg Christi über den Tod. Somit wäre die im vorherigen Kapitel für Auxerre herausgearbeitete Verbindung von Auferstehung und Labyrinth auch für die Prozession in Sens anwendbar. Als Teilnehmer an der Prozession wird ausschließlich der Chor erwähnt, aus dem einige Personen durch das Sprechen von Gebeten oder durch Gesangsstücke hervorgehoben sind. Neben den Chorknaben, dem Priester und dem Hebdomadarius tritt vor allem der Kantor als zentraler Akteur der Prozession auf. Der Erzbischof wird dagegen lediglich am Ende der Prozession erwähnt, als er

455 „… sub hac tamen conditione quod, dicto die Pasche, tenebuntur pulsare quatuor grossa signa ecclesie a media hora post horam sextam usque ad septimam, qua hora septima precise tenebitur chorus exire chorum, precentore incipiente Salvator mundi. Et ibit chorus a parte cappelle sancte crucis in circuitu chori et navis  …“, BMPO, Ms  336, fol. 90r–90v. 456 Der Kanoniker, der für eine Woche die Lesungen übernahm. 457 „Regina caeli, laetare, alleluia. Quia quem meruisti portare, alleluia, Resurrexit, sicut dixit, alleluia. Ora pro nobis Deum, alleluia.“

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dem Volk (populo) den Segen spendet und mehrere Gebete spricht.458 Unklar ist, ob er vorher als Mitglied des Chores, also ohne Bischofsornat, an der Prozession teilgenommen hat oder nun erst in Bischofstracht hinzukommt.459 Die vom Bischof gesegneten Laien werden sich, da ihnen explizit die Teilnahme an der Prozession verwehrt werden sollte, im Kirchenschiff direkt hinter dem Eingang oder in den Seitenschiffen aufgehalten haben. Einer Gefährdung der Sakralität des Rituals, die durch die Anwesenheit von Laien, insbesondere von Frauen, als bedroht angesehen wurde, konnte durch die Verlegung in die Kathedrale gegengesteuert werden. Mit dem Chorraum als Startpunkt war der Ausschluss von Laien zu Beginn der Prozession gesichert. Dennoch wurde auch der Tanz als körperlicher Ausdruck der Frömmigkeit durch eine Prozession ersetzt, obwohl der Tanz selbst, worauf die Beschreibung großen Wert legt, als anständig beschrieben wurde. Er war ausdrücklich kein sündhafter Tanz, sondern eine lobenswerte Tätigkeit,460 was durch die Begleitung mit liturgischen Liedern der Osterfeierlichkeiten zusätzlich unterstrichen wurde. Als weitere Veränderung fällt auf, dass die Initiation, die zumindest Leriche angedeutet hatte, nicht mehr stattfand. Ein zuletzt aufgenommener Kanoniker wird nicht mehr erwähnt. Von einem Mahl, das dieser vorher auszurichten hatte, ist ebenfalls keine Rede mehr. Stattdessen erhielten alle Teilnehmer der Prozession, der gesamte Kathedralklerus, je nach Würdigkeit ihrer Aufgaben einen Geldbetrag. Diese Entschädigung für den Arbeitsaufwand, wie auch die Materialkosten, hatte der Erzbischof, sollte er anwesend sein, zu tragen.461 Mit ihrer Spende von 200 bzw. 300  Turnosen hätten die beiden Kanoniker dann die Bezahlung für das erste Jahr sichergestellt. Die neue Prozession am Ostertag

458 „Postmodo, si Dominus archipresul fuerit presens, dabit populo benedictionem; deinde dicitur De profundis in eodom loco, cum collectis, videlicet: Concede, quesumus, omnipotens Deus, animabus famulorum tuorum sacerdotum et Fidelium et Requiescant in pace“, BMPO, Ms 336, fol. 90v. 459 Da am Ende des Textes der Erzbischof die Bezahlung aller Teilnehmenden übernimmt, wie es bei episkopalen Messen üblich war, ist davon auszugehen, dass er in seiner Funktion als Bischof an der Prozession teilnahm. Dass der Bischof kaum thematisiert wird, könnte auch der Quellenart geschuldet sein, da die Anweisungen für den Bischof separat im Pontifikale behandelt wurden. 460 „… pro consuetudine laudabili …“, BMPO, Ms 336, fol. 90r, „… dans son Origine institué Sainctement“, ADY, Ms 207, fol. 24v. 461 Diese Auflistung ergibt in etwa die Summe von 500 Turnosen, wenn man die Angaben über die Größe des Kathedralkapitels von 1539 zu Grunde legt: 9 x 12 (Dignités und Erzdiakone) + 6 x 32 (Kanoniker) + 6 x 14 (semi-prébendés) + 2 x 37 (Kapläne und Vikare) + 10 (Küster) = 468, wovon noch nicht die Kerzen bezahlt sind.

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wurde, wie ein Zeremoniale vom Ende des 18. Jahrhunderts belegt, bis zur Französischen Revolution beibehalten.462

5.3.3 Der Prozess um die Pelotte von Auxerre Wie ich im vorherigen Abschnitt gezeigt habe, wurde in der Pelotte von Auxerre durch die Initiation der neuen Kanoniker die Einheit des Kapitels sowohl numerisch wieder hergestellt, als auch die Verbundenheit des Kapitels jedes Jahr erneut performativ bekräftigt. Doch auch dieses Ritual verschwand in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wobei erste Kritik daran bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts geäußert wurde. Trotz der von Lebeuf dargelegten Chronologie der Ereignisse ist das Ende der Pelotte von Auxerre in der Forschung häufig widersprüchlich wiedergegeben worden. Bei Mews vermischen sich etwa die im 15. Jahrhundert vorgetragene Kritik und die 60 Jahre später stattfindende Prozessserie: „Further complaints were apparently raised by a canon in 1471, resulting in a court case in 1531 that condemned the practice. This was upheld by four counselors of the French Parlement, four canons of Notre-Dame, and four doctors of the Sorbonne in 1535.“463 Hier muss jedoch zwischen dem erfolglosen Einwand von 1471 und der Kritik von Laurent Bretel 1531 unterschieden werden. Erst die Weigerung des Kanonikers Laurent Bretel, 1531 am Ritual teilzunehmen, endete noch im selben Jahr vor dem örtlichen bailliage mit einer Entscheidung zu seinen Gunsten. Als Appellationsgericht wurde vom Kapitel daraufhin das Pariser Parlament angerufen. Dieses schickte 1535 einen conseiller nach Auxerre und fällte das endgültige Urteil dann 1538.464 Die Kritik von Gerard Royer 1471 1471 berichten die Quellen zum ersten Mal von einer Kritik, bei der nicht nur die Größe des Balls oder seine Kosten verändert werden sollten, sondern das gesamte Ritual in Frage gestellt wurde. Diese Kritik kam weder vom Bischof von Auxerre, vom Erzbischof von Sens oder von der Pariser Sorbonne noch aus der königlichen oder päpstlichen Verwaltung, sondern wurde aus dem Kapitel 462 Vgl. Villetard 1911, S. 121. 463 Mews 2009, S. 519. 464 Santarcangeli berichtet ebenfalls über ein Urteil des Pariser Parlaments von 1538, allerdings mit einem ganz anderen Inhalt: „Il faut ajouter que les jeux dans ces labyrinthes furent interdits bien avant, en 1538, par un arrêt du Parlement, sous le prétexte que les cris et le bruit des enfants qui y pénétraient offensaient le caractère sacré du lieu; en réalité peut-être parce qu’on sentait les origines païennes de ces jeux“, Santarcangeli 1974, S. 296, allerdings ohne irgendeinen Beleg. Diese Interpretation übernimmt Eisenberg 2009.

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selbst von einem Neuanwärter vorgebracht. Bevor auf den Versuch, die Pelotte abzuschaffen, eingegangen wird, müssen zunächst aber Ereignisse berichtet werden, die der Kritik unmittelbar vorausgegangen waren. Es handelt sich um Ereignisse, nach denen der Wunsch, das Kapitel als Einheit zu präsentieren, umso verständlicher wird. Die Pest, die wie oben beschrieben im 15. und 16. Jahrhundert immer wieder die Stadt verheerte, grassierte zwischen 1467 und 1469 besonders heftig in Auxerre. Lebeuf berichtet in seiner Stadtgeschichte von 3.000 Toten. Den Kanonikern war es deshalb ab August 1467 erlaubt, die Stadt zu verlassen, so dass sich zum Generalkapitel am 1.  Oktober lediglich fünfzehn der 52  Kanoniker einfanden.465 Im Sommer des Pestjahres 1469, bei dem unklar bleiben muss, wie viele Kanoniker wieder in die Stadt zurückgekehrt waren, ereignete sich nach Lebeuf „le plus grand scandale qu’on eut peut-être vu depuis plusieurs siècles“466. Was hatte sich ereignet? Kein schnöder Tanz, wie in der effekthaschenden Einleitung, sondern ein echter Streit unter Brüdern. Eine Bluttat in der Kirche, die den Autor kurz ins Zweifeln brachte, ob er nicht lieber einen historischen Roman verfassen sollte, anstatt an der Vollendung der Dissertation zu arbeiten. An der Vigil des Heiligen Petrus, dem 29. Juni 1469, so berichtet Lebeuf, hatte sich der chanoine tortrier467 Laurent Chambery in die Kathedrale begeben. Dort versuchte er mit einem bracmar, einer Art Schwert, seinen Bruder Jean zu attackieren, der von Thomas de la Plotte, dem Dekan des Kapitels, einem von dessen Bediensteten und dem Kanoniker Pierre Tenon begleitet wurde. Die vier versuchten daraufhin Laurent Chambery zu entwaffnen, um ihn in das Gefängnis des Kapitels zu bringen, der sich jedoch dagegen wehrte. Bei der Auseinandersetzung wurde Pierre Tenon am Knie verletzt. Der Angreifer selbst wurde mit einem Schlag zu Boden gesetzt, wobei er sich eine erhebliche Verletzung an der Hand zuzog.468 Die Auseinandersetzung war besonders brisant, weil zum einen der Dekan daran beteiligt war und zum anderen Blut in der Kirche vergossen wurde. Das Blutvergießen auf dem heiligen Boden der Kathedrale verlangte nach dem Kirchenrecht eine erneute Weihe der Kirche. Nachdem Bischof Pierre de Longueil (1449–1473) durch seinen Offizial von den Ereignissen erfahren hatte und sich mit den städtischen Richtern beraten hatte, erschien er persönlich am 5. Juli im Kapitelsaal, um vom Kapitel Aufklärung über die Tat zu erhalten. Dazu wurde 465 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 319. 466 Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 542. 467 Unter Tortrier (canonicus tortrarius) versteht man allgemein einen Kanoniker niederen Ranges, vgl. Harris 2011, S. 197. In Auxerre wurden die semi-prébendés auch als Tortrarii bezeichnet, vgl. ADY, G 1855, S. 23. 468 Vgl. Lebeuf, 1743, Bd. 1, S. 542 f., ADY, G 1855, S. 8, 39.

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eine Kommission bestehend aus dem promoteur Jean le Roux, dem Subkantor Philippe Cotet und dem Kanoniker Etienne Naudet ins Leben gerufen.469 Bei einer außerplanmäßigen Kapitelversammlung am 21. Juli waren jedoch zwei der Hauptakteure, der Dekan Thomas de la Plotte und der Angegriffene Jean Chambery, nicht anwesend. Jean Chambery befand sich nämlich bereits auf dem Weg nach Rom, um dort die Absolution seiner Tat zu erwirken. Vermutlich hatte also er seinem Bruder die blutige Verletzung zugefügt. So wurde lediglich festgestellt, dass die Kirche durch das Blutvergießen entweiht worden war und deshalb am nächsten Tag vom Bischof neu geweiht werden musste. Einige Tage später ließ sich der Dekan bei einer weiteren Verhandlung erneut vertreten und durch seinen Bevollmächtigten ein Geständnis verlesen, dass er kaum an der Auseinandersetzung beteiligt gewesen sei. Seine Bitte um Absolution wurde deshalb bis zur nächsten Verhandlung gewährt. Laurent Chambery, der Angreifer, versicherte wiederum, dass er niemanden blutig geschlagen habe. Nachdem er eine Strafe bezahlt hatte, erhielt er die Absolution des Kapitels. Somit musste auf die Rückkehr von Jean Chambery aus Rom gewartet werden. Als er am 9. Oktober wieder in Auxerre eintraf, wurde der Fall erneut aufgerollt. Jean Chambery ließ seine Version der Tat verlesen, die vor allem den Dekan belastete, der den Befehl gegeben habe, Laurent Chambery mit allen Mitteln festzunehmen. Wegen der Strapazen und Ausgaben seiner Reise nach Rom bat Jean Chambery das Kapitel um Vergebung. Sein vom päpstlichen Pönitentiar ausgestellter Absolutionsbrief wurde anerkannt und er zu einer Geldstrafe verurteilt. Auch der Dekan, der am nächsten Tag noch einmal den Tathergang schilderte und die Laurent Chambery zugefügten Verletzungen als geringfügig erklärte, erhielt schließlich vom Erzdiakon von Auxerre die Absolution.470 Der gesamte Prozess oblag der Rechtsprechung des Domkapitels. Ein Versuch von Bischof Pierre de Longueil, der während seiner Amtszeit mehrmals Auseinandersetzungen mit Kapitel und Dekan wegen der Ausweitung seiner Befugnisse in Kauf genommen hatte,471 nach seiner Rückkehr nach Auxerre im Juni 1470 vom Dekan eine öffentliche Bußleistung zu verlangen, blieb dagegen erfolglos.472 Die durch die Bluttat öffentlich gemachten Zerwürfnisse innerhalb des Kapitels, die Neuweihe der Kathedrale und die anschließende Untersuchung 469 Vgl. ADY, G 1855, S. 8 f.: „… après deux semiprebands s’etant battus dans leglise avec effusion de sang, L’Eveque vint dans le chapitre Exhorter la compangnie les faire justice; pourquoy le promoteur du chapitre fut chargé d’informer.“ 470 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 543 f. 471 Vgl. ebd., S. 528–541. 472 Vgl. ebd., S. 544.

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sowie die Kritik am Verhalten des Dekans und der Versuch des Bischofs, ihn öffentlich büßen zu lassen, hatten sich unmittelbar in den Jahren vor der ersten öffentlichen Kritik an der Pelotte abgespielt. In diesem Kontext wagte nun der Neuanwärter Gerard Royer (Gerardus Rotarii) Ostern 1471 den Versuch, auf die Stiftung des Spielgerätes zu verzichten und damit die Pelotte abzuschaffen. Am Ostertag 1471 hatten sich, wie jedes Jahr üblich, alle Kanoniker und die geladene Honoration der herzoglichen und städtischen Verwaltung im Kirchenschiff der Kathedrale versammelt, wie uns der durch Lebeuf überlieferte Eintrag aus dem Kapitelregister berichtet: „Am 14. April 1471 war das Osterfest. An diesem Tag gab es einen großen Streit zwischen den Herren Dekan und Kapitel der Kirche Auxerres und Magister Gerard Royer, Kanoniker aus Auxerre und Magister der Theologie. Als er selbst an der Reihe war, die Pilota zu stiften, hat er keine überreicht, so wie es die Statuten der Kirche Auxerres verlangen. Und nachdem viele Streitigkeiten in der Kirche Auxerres in Gegenwart des Herrn Gouverneurs von Auxerre, zwischen den Herren Dekan und Kapitel und besagtem Magister Gerard ausgetragen wurden, versammelten sich die besagten Domherren in ihrem Kapitelsaal, um einen Skandal zu verhindern, und die Versammelten selbst bestellten genannten Royer in den Kapitelsaal zu kommen. Ihm wurde durch den Herrn Dekan gesagt, dass er sich feindlich gegenüber den Statuten und lobenswerten Coutumes der Kirche von Auxerre, von ihm bei seiner Neuaufnahme beschworen, verhalten habe und er folgerichtig meineidig werde. Royer antwortete zu seiner Verteidigung, dass er dies nicht aus Missachtung der Kirche, noch ihrer Statuten, getan habe, sondern weil er bei anderer Gelegenheit im Liber Rationale divinorum in einem bestimmten Kapitel gelesen habe, dass es verboten sei, künftig in Kathedralkirchen die Pelotte zu veranstalten. Ihm wurde geantwortet, dass er dies dem Kapitel vor dem Ostertag hätte mitteilen müssen, und Royer wurden zahlreiche andere Gründe aufgezeigt.“473 473 „Dom. XIV april MCCCCLXXI fuit festum Pasche. Eademdie, fuit magna altercatio inter dominos decanum et capitulum ecclesie Autissiodorensis, et magistrum Gerardum Rotarii, canonicum Autissiod. ac magistrum in sacra pagina, ex eo quod erat ipse in turno suo ad faciendam Pilotam, et nullam presentavit, sicut statuta ecclesie Autissiodor. hoc requirunt. Et post plures et altercationes prehabitas in ecclesia Autissiodorensi, in presentia D. gubernatoris Autissiod., inter dominum decanum et capitulum et prefatum magistrum Gerardum, pro evitando scandalo prefati domini de capitulo congregaverunt se in eorum capitulo, et ipsis sic congregatis mandaverunt dictum Rotarii venire ad dictum capitulum. Cui fuit dictum per dominum decanum quod ipse venerat contra statuta et consuetudines laudabiles ecclesie Autissiodor. per eum jurata in sua nova receptione, et per consequens perjurium incurrerat. Qui Rotarii pro sua excusatione respondit, quod hoc non fecerat in contemptum ecclesie, nec statutorum ipsius, sed quod legerat alias in rationali divinorum officiorum in quodam capitulo, in quo prohibebatur ne in ecclesiis cathedralibus de cetero fieret Pilota; cui fuit replicatum

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Schauen wir uns den Ablauf etwas genauer an. Der Kritiker Gerard Royer wird in der Quelle als Magister der Theologie beschrieben. Bei der Schilderung einer Predigt einige Jahre später wird er in Lebeufs Stadtgeschichte als „docteur trèscélèbre“474 charakterisiert. Da über seine weitere Biographie nichts bekannt ist, kann nur gemutmaßt werden, ob er sich als Teil der „Reformer“ im Umfeld der Sorbonne ansah, die versuchten die Ausgestaltung der Hochfeste mit Tanz- und Spielpraktiken zu unterbinden.475 Royer war zunächst wie erwartet als Neuanwärter im Kirchenschiff erschienen. Als jedoch der Zeitpunkt gekommen war, die von ihm anzuschaffende Pelotte an den Dekan zu übergeben, stand er mit leeren Händen da. Da das gesamte Ritual ohne Spielgerät nicht stattfinden konnte, war die Reaktion der anderen Kanoniker und des Dekans wenig erfreulich. Ein lautstarker Streit entbrannte noch im Kirchenschiff, bis sich alle Kanoniker inklusive Gerard Royer für die weitere Diskussion in den Kapitelsaal begaben. Dort drohte ihm der Dekan die Konsequenzen seiner Handlung an. Eine Weigerung, an der Pelotte teilzunehmen, sei mit den Statuten und dem Gewohnheitsrecht des Kathedralkapitels von Auxerre unvereinbar. Gerard Royer hatte nämlich wie alle Neuanwärter im Oktober 1470 zunächst sein primum stagium in Auxerre begonnen, die einen Eid auf die coutumes des Kapitels der Gemeinschaft beinhaltete. Zwar hatte er am 1. April die Probezeit erfolgreich absolviert und war im Kapitelsaal feierlich in den Kreis der Kanoniker aufgenommen worden, doch dies entband nicht von der Stiftung der Pelotte. Erst die Teilnahme an der Pelotte machte die rechtliche Aufnahme in das Kapitel vollständig, eine Weigerung, so wurde ihm deutlich gemacht, sei dagegen als Meineid zu werten.476 Eine Aufnahme in die Gemeinschaft und sein Anteil an den Pfründen der Kathedrale wären damit hinfällig gewesen. Gegenüber diesen Vorwürfen setzte Gerard Royer zur Verteidigung an und verwies auf die Autorität des Liturgikers Wilhelm Durandus. Das von ihm zitierte Werk, der „Liber Rationale divinorum“ enthielt, wie bereits ausführlich diskutiert wurde,477 eine kritische Bewertung von Tanz- und Spielpraktiken im Kirchenraum. Allerdings befand sich eine Handschrift des besagten Textes bereits seit der Amtszeit von Bischof Jean d’Auxois (1352–1358) im Besitz der

474 475 476 477

quod de hoc debebat advisare capitulum ante diem Pasche, et plures alie rationes fuerunt eidem Rotarii remonstrate“, Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 322. Lebeuf paraphrasiert die Quelle in seinem Aufsatz, vgl. dazu: Lebeuf 1726, S. 916 ff. Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 327. Vgl. dazu Kap. 3.2, S. 176 f. Vgl. Zellmann 2007, S. 67. Vgl. Kap. 5.1.2, S. 287 f.

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Kathedrale.478 Gut 100 Jahre lang erregte die folgende Passage, auf die Royer sich bezog, also keinen Anstoß in Auxerre: „Ebenso spielen an einigen Orten an diesem Tag, an anderen Orten an Weihnachten, die Bischöfe mit ihren Klerikern in den Kreuzgängen oder in den Bischofspalästen, so wie sie auch zum Pila-Spiel, oder auch zu Reigen und Gesang herabkommen. Löblicher ist aber, sich davon fernzuhalten.“479 Der Einwand des Kritikers wurde doppelt zurückgewiesen. Zum einen seien seine Bedenken zu spät eingewandt worden und hätten dem Kapitel vor Ostern mitgeteilt werden müssen. Zum anderen wiesen Dekan und Kapitel mit zahlreichen Argumenten den Einwand Gerard Royers zurück. Die lokalen coutumes und Statuten der Kathedrale wogen in ihren Augen schwerer als die vereinzelte Passage bei Durandus.480 Ob die theologische Argumentation Gerard Royer überzeugte oder die Angst vor dem Ausschluss aus dem Kapitel und den damit verbundenen sozialen und finanziellen Folgen überwog, bleibt offen. In jedem Fall änderte Gerard Royer nach der Diskussion noch im Kapitelsaal seine Meinung und bat das Kapitel um Nachsicht für seine Widerworte: „Dann nach weiteren Streitigkeiten im genannten Kapitelsaal bat Magister Gerard Royer von der anderen Seite darauf die genannten Herren Dekan und Kapitel um Verzeihung für seine genannte Verfehlung und unterwarf sich ihrer Gnade, um eine angemessene Geldleistung anzubieten, sie der Domfabrik oder für einen anderen Zweck darzubringen. Außerdem fragte er, ob Stephan Gerbaud, der seine Pelotte vom letzten Jahr habe, ihm diese verkaufen wolle, um seinen Fehler wieder gut zu machen, dass er ihm den geforderten Preis zahlen wolle, worauf Gerbaud einging.“481

Indem Gerard Royer seinen Fehler anerkannte und sich dem Kapitel unterwarf, war die Legitimität des Rituals innerhalb der Gemeinschaft geklärt. Royer sicherte zu, die Bezahlung des Mahles übernehmen zu wollen. Außerdem kaufte 478 Vgl. Sot 2009, S. 46. 479 Wilhelm Durandus 1998, S. 445: „In quibusdam quoque locis hac die, in aliis in Natali, prelati cum suis clericis ludunt, vel in claustris, vel in dominibus episcopalibus, ita ut etiam descendant ad ludum pile, vel etiam ad choreas et cantus. […] Laudabilius tamen est a talibus abstinere.“ Siehe auch S. 288 f. dieser Arbeit. 480 Vgl. Zellmann 2007, S. 67. 481 „Tandem post plures altercationes hinc inde habitas in dicto capitulo, ex utraque parte, magister Gerardus Rotarii petiit à predictis domino decano, et capitulo veniam de predicto defectu, et se submisit gratie eorum, offerando emandam condignam, applicandam fabrice ecclesie, aut alteri usui, ulterius dicendo quod si Stephanus Gerbault qui habebat Pilotam suam anni preteriti vellet eidem vendere pro reparando suum defectum, quod ipse sibi solveret id quod vellet, quod fecit idem Gerbault …“, Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 322.

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er, da er ja ohne Spielgerät erschienen war, dem zuletzt aufgenommenen Kanoniker, Stephanus Gerbaud482, dessen Pelotte ab. Nicht klar ist dabei, ob Stephanus Gerbaud den Ball bei sich zu Hause verwahrte oder er sich im Tresor des Kapitels befand. Da der Ball als Stiftung fungierte, sollte er in den Besitz des Kapitels übergehen, wie es auch mit den dargebrachten Gegenständen in anderen Kathedralgemeinschaften geschah. Im Inventar des Domschatzes von 1531 findet sich jedoch keine Erwähnung von Bällen oder Ähnlichem.483 Nachdem Gerard Royer im Kapitelsaal unter Ausschluss der weltlichen Gäste484 zugestimmt hatte, das Ritual den Statuten gemäß auszuführen, konnte das Kapitel nun geschlossen in die Kirche zurückkehren: „Und kurz nachdem besagte Herren Dekan und Kapitel den Kapitelsaal verlassen haben und in das große Kirchenschiff von Auxerre gekommen sind, bekannte sich hierauf Royer in Gegenwart des Herrn Gouverneur von Auxerre, des Herrn Bailli von Auxerre und einer zahlreichen Menge Bürger Auxerres, dass er in Kenntnis gesetzt worden sei über die Statuten der Kirche und den genannten Statuten und Coutumes gehorchen wolle und präsentierte die Pelotte dem Herrn Dekan und den übrigen Domherren, die sie anerkannten. Und danach begannen sie gemäß dem Brauch zu tanzen, anschließend kehrten sie in den Kapitelsaal zurück, um das Mahl zu veranstalten.“485

482 Stephanus Gerbaud war demnach 1470 Kanoniker in Auxerre geworden. Ein Verwandter von ihm, der ebenfalls Etienne (= Stephanus) Gerbaud hieß, war 1464 Kanoniker geworden und bekleidete ein Jahr das Amt des Erzdiakons von Puysaie, ehe er es dem Neffen des Bischofs, Pierre Longueil, überließ. 1473 erfahren wir von einer Rüge an den Erzdiakon von Auxerre und Bruder des Bischofs, Guillaume de Longueil, dass er einen Etienne Gerbauld schlecht behandelt habe. Welcher von beiden damit gemeint ist, bleibt unklar. Die Familie Gerbaud (Gerbault) war eine alteingesessene Familie in Auxerre, vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 754, 777. 483 Vgl. Quantin 1887. 484 Zellmann behauptet, dass der „gubernator“ von Auxerre ebenfalls an der Besprechung teilnahm, vgl. Zellmann 2007, S. 6. In der Quelle wird der „gubernator“ jedoch lediglich vor dem Ortswechsel in den Kapitelsaal und nach der Rückkehr der Kanoniker in das Kirchenschiff erwähnt. 485 „… et paulo post prefati domini decanus et capitulum exierunt dictum capitulum et venerunt in magnam navim ecclesie Autissiodorensis et in presentia domini gubernatoris Autiss., D.  baillivi Autissiod. et multitudine copiosa civium et burgensium Autissiodor. idem Rotarii confessus fuit quod ipse fuerat informatus de statutis ecclesie et obedire volendo dictis statutis et consuetudinibus presentavit dictam Pilotam domino decano et ceteris dominis de ecclesia, quam receperunt. Et postea, more solito, inceperunt choream ducere, qua facta ad capitulum redierunt pro faciendo collationem“, Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 322.

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Der Streit wird durch die Unkenntnis des Neuanwärters erklärt, der allein aus Unwissenheit keine Pelotte gestiftet habe. Nun, da ihm die Statuten noch einmal erklärt worden waren, sei er gewillt sie anzuerkennen und überreichte daraufhin den Ball dem Dekan. Das Kapitel versuchte sich somit als intakte Einheit zu präsentieren und seine Stellung innerhalb der Regierung von Auxerre gegenüber den Vertretern von Herzog und Stadt erneut zu bekräftigen. Der Streit von 1471 ist die einzige Quelle, aus der sich einige Ämter der weltlichen Gäste herauslesen lassen. Erwähnt werden der bailli von Auxerre und der Gouverneur der Stadt, deren Ämter in diesem Jahr von Jean Regnier bzw. Tristan de Toulongeon bekleidet wurden. Lebeuf erwähnt dazu in seinem Aufsatz noch Jean de Thyart, der seit 1464 als Leutnant des bailli von Auxerre in den Quellen auftaucht.486 Da Tristan de Toulongeon zugleich das Amt des städtischen capitaine innehatte, waren damit alle Bevollmächtigten des Herzogs von Burgund an der Pelotte beteiligt. Entscheidend ist, dass die vorgebrachte Kritik von Gerard Royer von keiner Seite aufgenommen wurde. Kapitel und Dekan sprachen sich einstimmig dagegen aus, die weltlichen Bevollmächtigten sahen ebenso keinen Grund, das Ritual in Zweifel zu ziehen. Der korrekte Vollzug konnte dadurch gewährleistet werden, dass das zentrale Objekt des Rituals, der Ball, dem zuletzt aufgenommenen Kanoniker abgekauft werden konnte. Danach, so berichtet die Quelle, konnte die Pelotte gewohnheitsgemäß stattfinden und scheint trotz des Wechsels der Stadt in den königlichen Herrschaftsbesitz nach dem Tod Karls des Kühnen von 1477 bis 1531 unbehelligt zelebriert worden zu sein. Der Rechtsstreit vor dem Pariser Parlament Sechzig Jahre nach der Verweigerung von Gerard Royer war es mit Laurent Bretel erneut ein Kanoniker aus dem Kapitel von Auxerre, der Kritik an der Pelotte vorbrachte. Laurent Bretel war jedoch im Jahr 1531 kein Neuanwärter auf ein Kanonikat, der von Reformgedanken aus dem Umfeld der Sorbonne getragen das Ritual in Frage stellte, sondern bereits seit vielen Jahren Kanoniker im Kapitel.487 Er bekleidete zwar kein besonderes Amt, war allerdings schon mehrfach als Bevollmächtigter des Kapitels bei Verhandlungen in Erscheinung getreten. Als das Kapitel sich 1521 im Streit mit einem örtlichen Fleischer befand, der einen neuen Verkaufsstand außerhalb der Stadtmauern errichten wollte und das Kapitel als Besitzer eines bestehenden Verkaufsstandes damit die eigenen Einnahmen bedroht sah, wurde ihm zusammen mit einem anderen Kanoniker die Regelung 486 Vgl. Lebeuf 1726, S. 918, Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 450, 454, 463. 487 Eine denkbare Möglichkeit wäre es, dass Laurent Bretel 1531 das Kanonikat eines gleichnamigen verstorbenen Verwandten übernahm, allerdings finden sich in den Kapitelregistern keine Belege dafür.

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des Rechtsstreites übertragen. Lebeuf notiert in seiner Stadtgeschichte darüber: „Denis Cassin Chanoine de la Cathédrale & Curé de Saint Bry fut envoyé à Paris pour faire finir cette affaire; & il y prit de si bonnes mesures avec Laurent Bretel aussi Chanoine, que l’année suivante mit fin à tous les vains prétextes des Officiers du Siège de Sens.“488 Ein Jahr später wird er in Zusammenhang mit einer Delegation des Kapitels bestehend aus dem Dekan, dem Kantor und sieben weiteren Kanonikern erwähnt, die zum Bischofspalast geschickt werden, um die Rechte des Kapitels zu verteidigen.489 Dass seine Erfahrungen in Verhandlungen und Prozessen gefragt waren, dürfte auch daran gelegen haben, dass er vorher als Sekretär von Bischof Jean Baillet († 1514) tätig gewesen war. Eine Handschrift490 aus der Pariser Bibliothek Mazarine, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vom Kantor Laurent Robert angefertigt wurde, enthält eine Sammlung verschiedener Notizen und Beschlüsse des Kapitels von Auxerre. Unter anderem vermerkte Laurent Robert darin zu einem pouillé der Diözese Auxerre: „Ex regesto magistri Laurentii Brethel, quondam secretarius domini Joannis Ballet, episcopi Autissiodorensis. Actum Autissiodori, anno Domini millesimo quingentesimo  XXXV, mensibus octobris, novembris et decembris et reliquis sequentibus. Robertus.“491 Im pouillé finden sich die zu erwartenden Angaben über die Ämter und dazugehörige Pfründen der Diözese, die allerdings keine weiteren Rückschlüsse über Laurent Bretel erlauben.492 Zumindest wurde ihm im Herbst 1535, ein halbes Jahr nachdem der conseiller die Pelotte begutachtet hatte und der Prozess in Paris voranging, die Aufgabe übertragen, eine Aufstellung der Ämter der Diözese vorzunehmen. Lebeuf verrät uns, dass Laurent Bretel zehn Jahre nach Ende des Prozesses im Jahr 1548 starb. Auf einem Glasfenster der Kathedrale, das er wohl gestiftet hatte, war er zu Lebeufs Zeiten in seiner violetten Kanonikertracht dargestellt.493 Im Gegensatz zu Gerard Royers Einspruch gegen die Pelotte konnte 488 Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 363. 489 Vgl. Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 316. 490 Bibliothèque Mazarine, Ms  3247, „Actes et notes diverses relatives au chapitre d’Auxerre“, fol. 58r–66v „Pouillé du diocèse d’Auxerre“. Lebeuf erwähnt, dass ihm der Pouillé aus dem Nachlass von Laurent Robert für seine Stadtgeschichte vorlag. 1740 hatte Lebeuf den in Paris versammelten Klerus überzeugt, einen neuen „Pouillé Général“ für das gesamte Königreich anzufertigen, dazu: Pouillé du Diocèse d’Angers, Angers 1783, S. ii. 491 Bibliothèque Mazarine, Ms 3247, fol. 58. 492 Ebd., fol. 71. Robert hat an einer anderen Stelle in der Handschrift einen Pierre Bretel als curé von St. Regnobert verzeichnet. Der Vorname Pierre wurde jedoch durchgestrichen und durch Laurent ersetzt, Laurent dann ebenso durchgestrichen. Wann und von wem diese Streichung vorgenommen wurde, bleibt unklar. 493 Vgl. Lebeuf 1726, S. 921.

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Bretels Weigerung, weiter an der Pelotte teilzunehmen, jedoch nicht bereits am selben Tag gebrochen werden. Sein Beharren setzte eine Prozessserie in Gang, die in Auxerre begann und im Jahr 1538 schließlich zur Abschaffung der Pelotte durch das Pariser Parlament führte. Über den Prozess in Auxerre sind wir ausschließlich durch Lebeuf informiert, der einerseits das gekürzte Gerichtsurteil in seiner Stadtgeschichte zitiert, in seinem Aufsatz zudem in wenigen Sätzen die Argumentation des Kapitels skizziert.494 Das Datum des Urteils, der 22. August 1531, liefert auch den einzigen zeitlichen Anhaltspunkt. Lebeufs Überleitung von der ersten Kritik von 1471 zur Beschwerde Bretels mit den Worten „La ceremonie cependant, avec tout son ridicule, subsista encore plus de soixante ans“495 dagegen bedeutet nur, dass die Pelotte noch über 60 Jahre bestand. Aus ihr wird nicht deutlich, wann genau die Kritik erfolgte oder der Prozess begann. Bretels Weigerung wäre somit auch bereits 1530 denkbar. Es lässt sich lediglich erschließen, dass Dekan und Kanoniker als Kläger (Complaignans & Demandeurs) gegen Laurent Bretel (Défendeur) auftraten.496 Der bailliage von Auxerre verkündete beiden Parteien am 22. August 1531 das Urteil, das wie folgt begann: „Die Urkunden der genannten Kläger, die schriftlichen Ausführungen und die zusätzlichen Schriftstücke, die Informationen, die Befragung und das Verfahren vor dem kirchlichen Gericht, angefertigt von benannten Klägern, gesichtet, die ersten und zweiten königlichen Briefe von ihnen erhalten, die anerkannt wurden, die Schlussfolgerungen bestätigt durch den Procureur du Roy, die Antwort darauf von genannten Klägern, und das, was die Parteien vorgebracht haben, ebenso die Akten des Prozesses selbst …“497.

Der Beginn der Akten entspricht mit den gängigen juristischen Termini dem gewöhnlichen Ablauf von Verhandlungen an den bailliages. Bemerkenswert erscheint jedoch die Formulierung, dass der Klage vor dem bailliage ein Verfahren vor einem kirchlichen Gericht (Cour d’Eglise) vorausgegangen war. Lebeuf ver494 Vgl. Lebeuf 1726, S. 918 f., Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323. 495 Lebeuf 1726, S. 918. 496 „Entre les venerables Doyen et Chapitre S.  Etienne d’Auxerre, Complaignans & Demandeurs en cas de saisine & de nouvelleté d’une part, contre Maître Laurent Brethel Défendeur d’autre“, Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323. 497 „Vue les exploits desdits Demandeurs escriptures & additions d’escriptures, les informations, enqueste en brief & procedure faite en Cour d’Eglise produite par lesdits Demandeurs, les premieres & secondes Lettres Royaux par eux obtenues, qui ont été enterinées, conclusions baillées par le Procureur du Roy, réponse faite à icelles par lesdits Demandeurs, & ce que les parties ont produit, les actes du Procez mesmement…“, Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323.

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liert jedoch kein Wort über einen derartigen Prozess. Als kirchliches Gericht kommen auf lokaler Ebene in Auxerre das Gericht des Kapitels und das bischöfliche Gericht in Betracht. Obwohl die Kanonikergemeinschaft streng darauf achtete, keinerlei rechtliche Kompetenzen an die bischöfliche Gerichtsbarkeit abzugeben, dürfte es kaum gelungen sein, die Differenzen über die Rechtsprechung des Kapitels auszutragen, da dann Kläger und Richter identisch wären.498 Die Verhandlung fand vermutlich vor dem bischöflichen Gericht statt, das über Streitigkeiten zwischen Geistlichen, die Einhaltung der Sakramente und des Gottesdiensts und über die kirchliche Disziplin entschied.499 Sei es, dass das Kapitel es vorzog, den Streit über den örtlichen bailliage auszutragen oder der bischöfliche Gerichtshof den Prozess an den bailliage verwies, der bailliage entschied für die Pelotte einige zentrale Veränderungen: „Alles in Betracht gezogen, haben wir durch das Urteil des Conseil verkündet und verkünden die genannten Kläger für unzulässig, und wir haben sie verurteilt und verurteilen sie zu den Kosten dieses Prozesses … Und wir haben angeordnet, dass die genannten Kläger anstatt der besagten Pelotte, falls es ihnen angebracht erscheint, einen Salut am Ostertag nach dem Abendessen machen können. Nachdem der Salut gesungen ist, können sie sich in ihren Kapitelsaal zurückziehen, damit ihnen dort Wein und Brot nach der für das Pelottespiel üblichen Weise durch den Kanoniker, der an der Reihe ist, verteilt wird, durch unseren Richtspruch, unser Urteil und unser Recht.“500

Die Begriffe „Pelotte“ oder „Jeu de la Pelote“ werden hier nicht allein auf das Spielgerät bezogen sein, sondern werden von dem bailliage verwendet, um das gesamte Ritual von der Stiftung des Balles bis zum Tanz auf dem Kirchenlabyrinth zu bezeichnen. Tanz und Ballspiel werden, ohne explizit genannt zu werden, von dem bailliage abgeschafft und durch eine Abendandacht, einen Salut501, ersetzt. Das gemeinsame Mahl dagegen durfte weiterhin stattfinden, allerdings 498 Vgl. dazu Kap. 4.3. 499 Vgl. ebd., S. 30. 500 „Tout veu par l’avis du Conseil, nous avons declaré & declarons lesdits Demandeurs non recevables, & les avons condamné & condamnons ez dépens de ce Procez …; & avons ordonné que au lieu de ladite Pelotte, lesdits Demandeurs pourront, se bon leur semble, faire un Salut le jour de Pâques après souper; le Salut chanté, eux retirer en leur Chapitre pour illec leur estre distribué du vin & pain en la maniere accoutumée pour le jeu de la Pelote par le Chanoine étant à son tour, par notre sentence, jugement & droit“, Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323. 501 „SALUT, est aussi une partie de l’Office Divin qui se dit par devotion le soir après Complies en l’honneur de St. Sacrement, & de la Vierge, ou de quelque Feste fort solemnelle“, Furetière 1690, Bd. 3, Art. „Salut“.

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ist fraglich, ob die Vertreter der Stadt weiterhin daran teilnehmen konnten. Zumindest das Stiften des Mahles durch den zuletzt aufgenommenen Kanoniker blieb unangetastet.502 Das Gericht fällte seine Entscheidung im etwa 15 km entfernten Ort St. Bris, nachdem es wegen der Pest für den Sommer die Stadt verlassen hatte.503 Über die namentlich genannten Protagonisten des Prozesses ist wenig bekannt. Vom Verteidiger Bretels, Ythier Roy, etwa wissen wir bloß den Namen. Der Leutnant am Gerichtshof Nicole Rousselet (Nicolas Rousselet) wird bei Lebeuf unter den lieutenans particuliers geführt. Demnach übte er das Amt seit 1494 aus und wird in diesem Zusammenhang noch 1542 erwähnt, was eine 50-jährige Amtszeit voraussetzt, sollte Nicole Rousselet nicht einem gleichnamigen Verwandten gefolgt sein.504 Der Name Nicole Rousselet wird bereits 1507 erwähnt, wo er bei der Verkündung der neuen coutumes für den bailliage von Auxerre als „licencié en loix, advocat audit bailliage“505 genannt wird. Auch der spätere Anwalt des Kapitels, Pierre Tribolé, taucht in dieser Liste zusammen mit seinem Bruder Jehan als „procureurs und practiciens“506 des bailliage auf. Pierre Tribolé († 1538), der aus einer angesehenen lokalen Familie stammte, war Lizenziat in Rechtswissenschaften, echevin und königlicher Notar. Für die Familie Tribolé lassen sich zahlreiche juristische Ämter in Auxerre nachweisen.507 Sein Bruder Germain Tribolé etwa wird 1504 und 1528 als einer der Bürgermeister (Gouverneurs de l’Hôtel de Ville) angeführt. Die Familie stellte zudem seit mehreren Generationen die Siegelbewahrer des prévoté von Auxerre.508 502 Einen Hinweis, wie dieser Salut ausgesehen haben könnte, gibt das Manuskript des Kanonikers Louis Jacques Blonde aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, sofern sich der Eintrag auf den praktizierten Salut zwischen 1531 und 1538 bezieht, was durchaus fraglich ist. Darin heißt es, allerdings für den Ostermontag: „Vespres à 3 h. Salut à 5 heures et un quart. Le diacre d’honneur pour l’Evangile ne part de la sacristie lorsque l’on chante la prose Victimae. L’oficii se chante en Musique dans la nef “, BMAUX, Ms 275, S. 55. 503 „Prononcé en jugement au lieu de saint Bris par nous Nicole Rousselet Lieutenant au Baillage d’Aucerre, presence de Maistre Pierre Tribolé Procureur desdits Demandeurs, & de Ythier Roi Procureur dudit Défendeur, dont ledit Tribolé a appellé le xxii. Jour d’Août 1531“, Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323. Wenige Tage später, am 26.08.1531, wird ein weiterer Prozess mit Beteiligung des Kapitels verhandelt, vgl. ADY, G 1855. 504 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 457. 505 La seconde partie des coustumes generales, 1551, S. 312. 506 Ebd. 507 Blaise Tribolé wird 1466 als Avocat du Roi, Jean Tribolé 1412 und 1420 als Lieutenant Général in Auxerre genannt, Pierre und Jehan Tribolé haben zu Beginn des 16. Jahrhunderts ebenfalls juristische Ämter inne, vgl. Coustumes 1551, S. 3 Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 458. 508 Siehe dazu: Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 472 f.

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Trotz juristisch versiertem Anwalt unterlag das Kapitel vor dem bailliage in Auxerre, was das Kapitel nach der Schilderung von Lebeuf sehr überraschte: „Mais, contre l’attente des demandeurs, la ceremonie qu’on croyoit y devoir être soutenue, vu le divertissement qu’elle donnoit aux Magistrats du lieu, aussi-bien qu’aux Bourgeois, fut blâmée & condamnée  [...]“509. Lebeufs Wiedergabe der Argumentation des Kapitels, das auf den Unterhaltungswert der geladenen Gäste und das Alter der Zeremonie verwies, ist äußerst kritisch zu betrachten. Möglicherweise interpretierte Lebeuf seine uns unbekannten Quellen so, um den Gegensatz zwischen dem besonnenen und reformfreudigen Laurent Bretel und dem starrsinnigen und vergnügungssüchtigen Kapitel herauszustellen.510 Das Kapitel war zumindest nicht bereit, diese Niederlage hinzunehmen, und führte den Prozess vor dem Pariser Parlament fort. „Le Procès-verbal de la Pelote d’Auxerre qui attira l’attention de tout le Roiaume fut terminé par un Arrêt du Parlement, donné le 7. Juin 1539 [ !]511, qui abolit la cérémonie“512, so betitelt Lebeuf in seiner Stadtgeschichte einen Auszug aus den Prozessakten in seinen pièces justificatives. In seinem Aufsatz von 1726 liefert er uns zudem weitere Angaben zu dem besagten Prozess. Durch ihn kennen wir somit zum einen das exakte Datum für die Urteilsverkündigung, den 7. Juni 1538, wie auch den Hinweis, dass vier conseillers des Parlaments, vier Kanoniker aus Notre-Dame in Paris und vier Doktoren der Sorbonne als Gutachter im Prozess involviert waren.513 Zudem unterrichtet uns Lebeuf, dass ein „Procès verbal“ stattfand, für den ein conseiller namens François Disque an Ostern 1535, das in dem Jahr auf den 28.  März fiel, nach Auxerre geschickt wurde, um die Pelotte zu begutachten. Leider gehen aus Lebeufs Beschreibung die genauen Umstände des Prozessverlaufs nicht eindeutig hervor. Somit bleibt offen, an welcher Kammer und zu welcher Tageszeit verhandelt wurde.514 Zwar sind die Parlamentsregister in den Archives Nationales chronologisch geordnet, dennoch kommen bei den über 30.000  Bänden und Registerkartons mit Parlamentsakten auch für den Zeit509 Lebeuf 1726, S. 918 f. 510 Dazu ausführlicher S. 257 ff. dieser Arbeit. 511 In beiden Ausgaben (1743, Bd. 2, S. 324, 1855, Bd. 4, S. 322) steht fälschlicherweise das Jahr 1539. In seinen Aufsatz von 1726 war dagegen 1538 genannt worden, was auch die Dokumente aus den Archives Nationales belegen. 512 Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 322. 513 „… le procès verbal fut examiné par quatre Conseillers du Parlement, quatre Chanoines de Notre-Dame de Paris, & par quatre Docteurs de Sorbonne, les Procureurs des Parties presens: & enfin en 1538. le 7. Juin, il fut prononcé, en confirmation de la Sentence du Bailliage d’Auxerre …“, Lebeuf 1726, S. 920. 514 Vgl. Hildesheimer 2011, S. 35.

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raum zwischen 1535 und 1538 noch zahlreiche Bände in Betracht.515 Deren Inhalte sind im Gegensatz zu den Prozessen aus dem 13. und 14. Jahrhundert sowie dem 18. Jahrhundert jedoch noch kaum erschlossen.516 Folglich bleibt weiterhin offen, an welcher Kammer der Prozess stattfand. Im Verlauf der über 500-jährigen Geschichte des Parlaments vom 13. bis zum 18. Jahrhundert fand jedoch eine Vielzahl von Veränderungen statt. Im Königreich wurden neue Parlamente in den Provinzen geschaffen, am Pariser Gericht neue Kammern eingerichtet und zum Teil wieder geschlossen und Zuständigkeitsbereiche ausgedehnt. Um verstehen zu können, in welchem Rahmen und vor welchen Richtern über das Ende der Pelotte von Auxerre entschieden wurde, muss darum genauer auf die Organisation des Pariser Parlaments in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eingegangen werden. 1538 bestand das Parlament aus der Grand Chambre, drei Chambres des Enquêtes, einer Chambre des Requêtes und der 1515 geschaffenen Strafkammer, der Chambre criminelle. Letztere wurde nach dem Turm, in dem sie tagte, häufig auch als Chambre de la Tournelle bezeichnet. Die Grand Chambre war die älteste und bedeutendste Kammer des Parlaments, die im 13. Jahrhundert noch allein alle Prozesse geführt hatte. Wegen der steigenden Anzahl der Prozesse wurde ab dem 14. Jahrhundert begonnen, mehrere Chambres des Enquêtes zur Entlastung einzurichten. An sie wurden Untersuchungen durch die Grand Chambre dele515 Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass die Arrêts des Parlaments seit Anfang des 16. Jahrhunderts nicht mehr eigenständig überliefert sind (x1a156 enthält die letzten eigenständigen Arrêts aus dem Jahr 1515, vgl. Braibant 1958, S. 84), so dass das Datum der Urteilsverkündung allein nicht ausreicht. Auch die Minutes, die Mitschriften des Prozessverlaufs, können keine Aufschlüsse über den Prozess geben, weil deren Bestände vor der Mitte des 16. Jahrhunderts durch ein Feuer 1618 zerstört wurden, vgl. Boutaric 1975, S. xviii. Sie standen aber damit Lebeuf ebenso nicht mehr zur Verfügung, der den Arrêt in anderen Beständen entdeckt haben musste. 516 Es existieren lediglich einige Registerbände, die der Maître des Requêtes Jean Le Nain († 1698) in Auftrag gegeben hat. Le Nain wählte in seiner mehr als 50-jährigen Amtszeit aus den Dokumenten des Parlaments von seinen Anfängen bis etwa 1670 die Fälle aus, die ihn interessierten und ließ davon Abschriften anfertigen, vgl. le Grand 1907, S. 95–98. So entstanden über 250 Bände, die zum einen thematisch in Châtelet, Bailliages, Evêques, Clergé Séculier, Universités gegliedert, zum anderen in den Bänden chronologisch geordnet waren. Die Sammlung Le Nain befindet sich in den Archives Nationales unter der Signatur U 493–574, in der BNF sind zwei vollständige Abschriften, Coll. Du Parlement 346–426 und Nouv. Acq. fr. 2229–2323 vorhanden. Zudem ließ Le Nain ein Register erstellen, so dass leicht nach Inhalt oder Ort der Abschriften gesucht werden kann. Allerdings liefern die alphabetisch geordneten Registerbände keinen Eintrag zur Pelotte, auch die Stichwörter „Auxerre“, „Danse“, „Chapitre“ verweisen nur auf andere Prozesse, vgl. NAF  2313. Der Prozess über die Pelotte von Auxerre schien für Le Nain folglich nicht so interessant, als dass er ihn ausgewählt hätte.

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giert und an ihnen Prozesse, die ausschließlich schriftlich ausgetragen wurden, verhandelte.517 Die Chambre des Requêtes verhandelte alle zivilen Prozesse von den Personen und Körperschaften, die vom König das Privileg „committimus“ erhalten hatten und damit Anspruch, direkt vor dem Pariser Parlament zu klagen. Im 16. Jahrhundert hatten eine ganze Reihe kirchlicher Körperschaften dieses Privileg erhalten, so etwa die Pariser Kanonikergemeinschaften von Notre-Dame und St. Germain-l’Auxerrois und die Gemeinschaft aus Sens.518 Dem Kathedralkapitel aus Auxerre stand dieser Weg jedoch nicht offen. Ausgeschlossen werden kann ebenfalls ein Prozess vor der Chambre criminelle, da der Gegenstand der Verhandlung erstens nicht unter den Bereich des Strafrechts fällt und zweitens dann keine Geistlichen das Urteil sprechen durften. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Parlament als Appellationsgericht eines Zivilprozesses fungierte, da Auxerre nach dem Tod Karls des Kühnen nicht mehr dem im 14. Jahrhundert gegründeten herzoglichen Parlament von Dijon unterstand, sondern direkt dem Parlament von Paris zugeschlagen wurde.519 Damit wäre der Prozess innerhalb der Grand Chambre, der ältesten und bedeutendsten Kammer des Parlaments, verhandelt worden, in deren Zuständigkeit die Wiederaufnahme von an bailliages verhandelten Verfahren fiel.520 Mit dem Hinweis von Braibant, dass die arrêts der Grand Chambre nach 1515 mehrheitlich in die conseils eingegliedert wurden,521 bleibt nur noch das Manuskript x1a1541, in dem sich tatsächlich das von Lebeuf in Auszügen zitierte Urteil befindet. Der Verlauf von Zivilprozessen am Parlament ist aufgrund ihrer komplexen Verläufe bisher kaum erforscht worden, so dass sich eine Rekonstruktion des genauen Verhandlungsverlaufs schwierig gestaltet.522 Ein idealtypischer Prozess sah zunächst einen Appell beim Parlament vor, das für den Prozess innerhalb des Verhandlungsjahres, das sich von November bis zum Spätsommer erstreckte, einen Termin ansetzte.523 Anschließend folgte zunächst eine mündliche Anhörung beider Parteien, bei komplizierten Fällen wurde meist aber auch eine Verschriftlichung der Vorträge verlangt. Nach dieser Anhörung sichtete das Parlament die Beweise und gab noch einmal Raum für ein abschließendes Plädoyer beider Parteien. Schließlich fällte die Kammer das Urteil, das in der Regel 517 518 519 520 521 522 523

Vgl. Hildesheimer 2011, S. 15–27, Houllemare 2011, S. 37 f. Vgl. Aubert 1912, S. 109 f. Vgl. Lebeuf 1855, Bd. 3, S. 352. Vgl. Hildesheimer 2011, S. 18. Braibant 1958, S. 84. Vgl. Houllemare 2011, S. 49 f. Vgl. Hildesmeiner 2011, S. 36 ff.

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innerhalb eines Jahres nach dem Schuldspruch umgesetzt werden musste.524 In der Praxis konnte der Verlauf allerdings erheblich abweichen, wie die bisherigen Untersuchungen der Zivilprozesse gezeigt haben. Der Prozess um die Pelotte schien diesem Aufbau im Wesentlichen zu folgen. Wie ein Eintrag zum Prozess in den Akten des conseils vom 27. Juni 1533 verrät, fanden am 29.  Juli und 5.  August  1532 die Plädoyers beider Parteien statt.525 Beide Daten finden sich auch in den Registern des conseils, dort brechen sie jedoch jeweils nach dem Eintrag „En la cause dentre chapitre dauxerre …“526 ab. Nach anderthalb leeren Seiten, die wohl für eine spätere Reinschrift der Mitschrift (minutes) ausgespart wurden, beginnt dann jeweils ein neuer Prozesseintrag. Völlig unklar bleibt, weshalb die Seiten freigelassen wurden. Derartige Lücken sind in den Aufzeichnungen des conseils allerdings kein Einzelfall. Vorschnelle Spekulationen über die Brisanz des Falles lassen unberücksichtigt, dass die Mitschrift verloren gegangen, oder der Nachtrag schlicht vergessen worden sein könnte. Der Eintrag vom 27. Juni 1533 berichtet weiterhin, dass das Gericht sowohl die schon bei dem bailliage von Auxerre vorliegenden Schriftstücke, wie etwa die Lettres Royaux, als auch die Plädoyers der Verteidiger beider Parteien zur Kenntnis genommen hat.527 Der Prozess um die Pelotte wurde nach Lebeuf im gesamten Königreich und auch vom König selbst mit Interesse verfolgt. Einen Beleg dafür präsentiert Lebeuf in seiner Stadtgeschichte, in der er Auszüge eines Schreibens des procureur général an Bischof François Dinteville II. abdruckt.528 Der Brief ist auf den 5. Mai datiert, nennt jedoch keine Jahreszahl. Auch Lebeuf gibt kein Jahr dafür an, präsentiert ihn in seinem Aufsatz aber zwischen dem Ende der Entscheidung in Auxerre im Sommer 1531 und dem Besuch von François Disque an Ostern 1535 in der Kathedrale:529 524 Vgl. Houllemare 2011, S. 48 ff. 525 „Entre les Doyen Chanoines et chappitre de l’eglise Cathedralle d’Auxerre appellant du bailli d’Auxerre ou son Lieutenant et anticipez d’unpart et Maitre Laurent Brethel chanoine de lad. eglise anticipant d’autre. Veu par la court le plaidoyes fait en Icelle le lundi xxix jour de juillet et le lundi 5 jour d’aoust passez“, AN x1a1536, fol. 297r. 526 AN x1a4892, fol. 406r. 527 Vgl. AN x1a1536, fol. 297r. 528 Vgl. Lebeuf 1726, S. 919 f., Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 322. 529 Die Datierung lässt sich nicht eindeutig klären: Da Nicole Thibaud erst am 14./24.  Mai  1533 zum Procureur général ernannt wurde und Disque bereits im März 1535 nach Auxerre reiste, bliebe nur der 5. Mai 1534 für die Datierung. Vgl. Aubert 1912, S. 194, vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 582. Allerdings kommt als Kardinal de Bellay nur Jean de Bellay (1492–1560) in Frage, der erst am 25.5.1535 zum Kardinal ernannt wurde, vgl. Michaud 1966, Bd. 3, S. 552 f.

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„Monseigneur, als ich Euch in Saint-Saphorin traf, hatte ich nicht das Vergnügen, Euch die Worte wiederzugeben, die der König während seines Aufenthalts in Lyon beim Abendessen über die Zeremonie, die in Eurer Kirche an Ostern stattfindet und die man Pelotte von Auxerre nennt, in Gegenwart der Kardinäle von Lorraine und Bellay und von M. de Soissons und anderen äußerte. Nachdem er gehört hatte, worum es sich bei dieser Zeremonie handele, sagte er, dass sie gut und lobenswert sei und dass man sie nicht ohne stichhaltigen Grund wegnehmen oder verbieten dürfe. Falls es jedoch Missbrauch oder Auswüchse gebe, müsste man diese Auswüchse entfernen und das einhalten, was bisher ehrenvoll gemacht worden ist. Dasselbe sagte der König auch über die Festages d’Angers. Das habe ich dem ersten Präsidenten [des Parlaments] und Herrn Disques, dem Berichterstatter des Prozesses, wiedergegeben, dass man ohne triftige Gründe und Betrachtung die besagte Pelotte nicht verbieten solle, sondern vielmehr die Untersuchung abzuwarten, die vorsah, besagten Seigneur Disques und einen Kommissar der genannten Kammer zu entsenden, um zu sehen, was man während der Zeremonie tun wird, um daraus einen Procez-Verbal und einen Bericht für besagte Kammer zu machen. Gezeichnet: Thibaud Procureur Général Paris, den 5. Mai.“530

Der Verfasser des Briefs Nicole Thibaud († 1541) war von Mai 1533 bis zum Ende des Prozesses procureur général am Parlament von Paris. Als procureur général unterstanden ihm alle procureurs royaux der Provinzparlamente. Er hatte bei Gerichtsverhandlungen dieselben Rechte wie die Präsidenten und conseillers des Parlaments und durfte so bei Verhandlungen mit Stimmrecht teilnehmen und im Namen des Königs Akteneinsicht in alle Fälle verlangen. Vor allem bei der Regierung der Stadt Paris spielte er eine führende Rolle, wo ihm die Polizeiverwaltung oblag. Bei Vakanz des Amtes des Präfekten von Paris übernahm

530 „Monseigneur. Quand je vous trouvai à saint Saphorin, je n’eus le loisir de vous tenir le propos que le Roy étant à Lyon pendant son diné avoit tenu de la cérémonie qui se fait en votre Eglise le jour de Paques qu’on appelle la Pelote d’Aucerre, & ce en la presence de Messieurs les Cardinaux de Lorraine & du Bellay, M. de Soissons & autres. C’est qu’apres avoir entendu en quoi consistoit ladite cérémonie, il dit qu’elle étoit bonne et louable, & qu’on ne la devoit ôter, ni abolir sans grande cause. Mais s’il y avoit de l’abus ou difformité, que l’on devoit oster ladite difformité, & observer ce que jusques-là avoir été honnêtement fait. Et autant en dit le Roy des Festages d’Angers. Ce que j’ai récité à M. le premier President & à M. Disques Rapporteur du Procez, qui sera cause … que sans grand cause & consideration en ne abolira ladite Pelote, mais plutot d’interiner Requête qui fut faite d’envoyer ledit seigneur Disques & un Commisaire de ladite Cour voir ce qui en fera lorsqu’on fera ladite cérémonie, pour en faire Procez-verbal & rapport à ladite Cour. Signé Thibaud Procureur Général. De Paris, le 5. May“, Lebeuf 1743, Bd. 2, S. 323.

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er zusätzlich dessen Aufgaben und Privilegien.531 Nicole Thibaud verdankte seine Karriere der Patronage von Anne de Montmorency (1493–1567), Marschall und Grand Maître de France. Er stammte aus Senlis, wo er 1518 zum procureur du roi an dem dortigen bailliage ernannt worden war.532 1530 wurde er conseiller clerc am Parlament von Paris, ein Jahr später conseiller laic und 1533 schließlich „à la recommandation du connétable“533, Anne de Montmorency, zum procureur général ernannt. Der Grund für sein Schreiben, in dem über den Prozessverlauf berichtet wird, an François Dinteville  II. lässt sich aus dem kurzen Brief nicht ablesen. Seine Verbindung zu ihm lässt sich aber möglicherweise über den besagten Herzog von Montmorency erklären, der ein Cousin des Bischofs von Auxerre war.534 Bemerkenswert ist, dass auch Thibaud stets von einer „cérémonie“ an Ostern spricht, die unter dem Namen „Pelote d’Aucerre“ bekannt ist. Von einem Spiel, wie es noch der bailliage in Auxerre titulierte, oder einem Tanz ist bei ihm nicht die Rede. Thibaud erwähnt insbesondere die Ansichten von Franz I. zur Pelotte. Der König stellt den Vergleich zur Festages d’Angers an, da über diese ebenso vor dem Pariser Parlament verhandelt wurde.535 Das Fest, über dessen Ausgestaltung – wie könnte es anders ein – vor allem Lebeuf berichtet, wurde ebenfalls anlässlich der Initiation eines neuen Kanonikers in das Kathedralkapitel von Angers gefeiert. Ähnlich wie in Auxerre hatte der Neuling die Pflicht, für das gesamte Kapitel ein Festmahl auszurichten.536 Der König bekundete während des Mahles, die in seinen Augen als ehrenwert erscheinende Pelotte von Auxerre nicht einfach verbieten lassen zu wollen. Auch die anwesenden Kardinäle schienen keine Einwände zu äußern. Der Kardinal de Lorraine war wie der König selbst ein begeisterter Tänzer, der sich nicht scheute, gemeinsam mit dem König als Bär, Satyr oder Baum maskiert aufzutreten.537 Der procureur Thibaud berichtet in dem Brief vom weiteren Vorgehen des Parlaments. François Disque, der zuständige Kommissar, solle nach Auxerre reisen, um die Aufführung der Pelotte mit eigenen Augen zu sehen und aus seinem Bericht einen procès-verbal einzuleiten.

531 532 533 534 535

Vgl. Aubert 1912, S. 179–189. Vgl. Aubert 1912, S. 194, Rentet 2006, S. 173. Popoff 2003, Bd. 2, S. 963. Vgl. Brown 1999, S. 79. Der Urteilsspruch fiel am 28. Februar 1536, vgl. Lebeuf 1727, S. 923, siehe dazu auch: Bernard 1647, S. 512 f. 536 Vgl. Lebeuf 1727, S. 923. 537 Vgl. McGowan 2008a, S. 76, 82, 122, 135–139.

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Am 28.  März  1535 weilte der conseiller François Disque dann tatsächlich in Auxerre, um die Pelotte zu begutachten.538 Bei ihm handelte es sich um einen erfahrenen, schon seit über 20 Jahren tätigen conseiller des Parlaments.539 In Auxerre herrschte zum Zeitpunkt seines Besuches einige Konfusion im Kapitel. Das lag zum einem am Tod des Kantors Jean le Roi, der im Januar 1534 verstorben war und über dessen Nachfolge heftige Streitigkeiten entbrannten. Auslöser dafür war, dass der alte Kantor le Roi noch vor seinem Tod durch einen päpstlichen Indult540 den Kanoniker Jean Coqueré als Kantor nominiert hatte. Da aber dem Kapitel die Wahl des Kantors nach den Statuten der Kathedrale zustand,541 weigerten sich fast alle Kanoniker, diese Regelung anzuerkennen. Nachdem im Februar immer noch keine Entscheidung getroffen werden konnte, entschloss sich das Kapitel, sich an den Bischof von Auxerre bzw. dessen Bevollmächtigte zu wenden. Da der designierte Kantor nicht nachgeben wollte, wurde im April dann mit nur einer Gegenstimme dem Bischof die Wahl des Kantors übertragen. Wiederum war es Laurent Bretel, der sich bei der Entscheidung gegen das gesamte Kapitel stellte. Während alle anderen François Dinteville II. als Schiedsinstanz vorschlugen, wollte Bretel die Entscheidung dem Erzbischof von Sens übertragen.542 Wie der Streit im Detail gelöst wurde, lässt sich Lebeuf zufolge nicht mehr genau rekonstruieren.543 Jedenfalls konnte erst ein Jahr später, im Januar 1535, ein neuer Kantor eingesetzt werden. Das Amt übernahm allerdings nicht Jean Coqueré, sondern Arnould Gontier.544 Zum anderen war 1534 ebenfalls der bisherige Dekan, François du Bourg, verstorben. Ähnlich wie bei der Besetzung des Kantoramtes verlief auch die Wahl eines neuen Dekans mit erheblichen Problemen. Zwar konnte Florent de la Barre das Amt am 2. Juni 1534 übernehmen, allerdings wurde die Rechtsgültigkeit seiner Wahl von einigen Kanonikern angezweifelt. Noch 1535 sah er

538 „Veu aussi les enquestes et productions desd. parties avec le procès verbal de Maitre Francoys Disque conseiller de lad. Court et commissaire en ceste partie …“, AN x1a1541, fol. 434v. 539 Vgl. Blanchard 1645, S. 43. 540 „Indult, s. m. Grace accordée par Bulles du Pape à quelque Corps ou Communauté, ou à quelque personne par un privilege particulier, pour faire ou obtenir quelque chose contre la disposition du Droit commun“, Furetière 1690, Bd. 2, Art. „Indult“. 541 Vgl. Kap. 4.3, S. 234. 542 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 583 f. 543 „Il n’as pas été possible de découvrir quel train pris cette épineuse affaire …“, Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 583. 544 Gontier war seit 1543 außerdem Abt von St. Marien in Auxerre. Er starb 1553. Sein Bruder Palamantes war Sekretär des Königs, vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 587, 764.

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sich deshalb genötigt, denen mit Konsequenzen zu drohen, die sich weigerten, ihn als rechtmäßigen Dekan anzuerkennen.545 Die beiden wichtigsten Ämter für die Pelotte, der Kantor, dem die musikalische Gestaltung des Chores oblag und der die Einsetzung neuer Kanoniker vornahm, und der Dekan, der die Pelotte entgegennahm und dem eine herausragende Rolle als Solotänzer zukam, lagen damit in den Händen von Neulingen. Vielleicht hatte auch der vorherige Dekan, François du Bourg, nur sporadisch an der Pelotte mitgewirkt, da er sich einen Dispens für sein Studium in Orléans hatte ausstellen lassen. Zudem war sein Nachfolger, Florent de la Barre, erst am selben Tag, an dem er Dekan wurde, auch Kanoniker geworden. Er hatte am Tanz auf dem Labyrinth demnach noch nie mitgewirkt und hätte, falls nicht zeitgleich ein anderer Kanoniker aufgenommen wurde, auch das Spielgerät stiften müssen. Unerfahrenheit der Hauptbeteiligten und die Zerstrittenheit des Kapitels lassen sich also beim Besuch des conseillers ausmachen, der seine Eindrücke von der Pelotte an das Pariser Parlament weiterleitete. Am 7.  Juni  1538 verkündete das Pariser Parlament dann seine endgültige Entscheidung über den Streit um die Pelotte von Auxerre. Das Gericht hatte zur Urteilsfindung die Plädoyers beider Seiten aus dem Sommer 1532 und ihre schriftlichen Stellungnahmen berücksichtigt. Neben den beiden Parteien wurde auch der Bischof von Auxerre bzw. sein Vikar angehört, der sowohl mündlich546 als auch schriftlich547 seine Einschätzungen zur Pelotte kundtat. Nachdem dies alles und die Ergebnisse des conseillers Disque, der das Ritual Ostern 1535 vor Ort inspiziert hatte, geprüft worden waren, verkündete das aus vier Pariser Kanonikern, vier Doktoren der Sorbonne und vier geistlichen Schöffen bestehende Gericht: „[...] Il sera dit que lad. Court a mis et mect l’appellation et ce dont a este appellé au neant sans amande et a declaré et declare la complaincte prinse par lesd. Doyen Chanoines et chappitre d’Aucerre non recevable et a ordonné et ordonne que la procession pretendue se fera doresnavent le jour de quasimodo a deux heures apres midi par les doyen Cha545 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 744. 546 „… orroit sommairement lsd. evesque d’Auxerre ou son vicaire“, AN x1a1541, fol. 435r. Furetière 1690, Bd. 3, Art. „Sommairement“: „En abregé, en peu de mots. Une recapitulation doit contenir sommairement & en abregé ce qui a été dit plus amplement dans un discours. C’est une grande habileté à un Advocat, de plaider sommairement & en abregé. Au Palais on faisoit autrefois les instructions des causes sommaires par une ordonnance de, parlent sommairement: maintenant on les fait par un appointement à mettre.“ 547 „Et aussi les remonstrances dudit evesque d’Auxerre qu’il auroit mis par escript  …“, AN x1a1541, fol. 435r.

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noines [et chappitre (durchgestrichen im Text)] et habituez de lad. eglise revestuz de leurs surpliz et portant leurs aulmusses avec la croix et eaux benoiste en chantans les hymnes et canticques de la resurrection acoustumez estre chantez en lad. procession sans aucune oblation de pelotte en forme sphericque [...]“548 (Abb. 12, siehe Tafelteil, S. 252).

Die Revisionsklage des Kapitels war damit endgültig abgewiesen. Das Parlament war im Vergleich zum bailliage von Auxerre mit den Veränderungen am Ritual deutlich drastischer. Nicht nur das Stiften der Pelotte und damit auch die Kombination aus Tanz und Ballspiel durften nicht mehr stattfinden, sondern auch das Osterdatum war für die Initiationsfeier eines neuen Kanonikers tabu. Als neuer Tag wurde der „jour de Quasimodo“, also Quasimodogeniti, der erste Sonntag nach Ostern, festgesetzt. Das Ritual wurde um eine Woche verschoben und büßte damit seinen herausragenden Termin am Ostersonntag ein. Zwar blieb mit der Verschiebung auf die Osteroktav die Verbindung zum Osterfest bestehen, allerdings lag der im Lied „Victimae Paschali Laudes“ besungene Kampf zwischen Christus und dem Teufel nun eine Woche zurück. Möglicherweise durfte das Lied auch nicht mehr erklingen, denn die Hymnen „acoustumez“ für den Sonntag nach Ostern waren andere, unter anderem die dem Sonntag seinen Namen gebende Antiphon „Quasi modo geniti“. Auffallend bei der Wortwahl des Urteils ist, dass auch das Parlament, wie bereits der bailliage in Auxerre oder der procureur in seinem Brief, kein Wort über einen Tanz oder ein Spiel verliert. Es wird stets von der „ceremonie“ oder noch häufiger von der „procession“ gesprochen. Dafür könnte es meines Erachtens zwei Erklärungsansätze geben. Entweder führte das Pariser Parlament den Prozess in dieser Weise, weil es über mehr Erfahrung im Umgang mit Prozessionen verfügte und dafür etwa auf bereits bestehende Präzedenzfälle verweisen konnte. Oder das Kapitel versuchte nach der Niederlage in Auxerre die Pelotte als Prozession zu deklarieren, um ihre Legitimität zu steigern. Damit wurde versucht, den Kritiken von Durandus und dem bailliage von Auxerre die Grundlage zu entziehen und stärker die Verbindung der Pelotte mit dem Heilsgeschehen am Ostertag herauszustellen. Sollte dies der Fall gewesen sein, war die Argumentationslinie wenig erfolgreich. Denn die Begründung des Pariser Parlaments für die Abschaffung der Pelotte zweifelte genau diese Verbindung zum Heilsgeschehen an: „Et lesd. parties ou leurs procureurs sur le fait de lad. pretendue procession dont entre lesd. parties est question et prendroit l’advis desd. conseillers chanoines et docteurs en theologie surce que l’on pretend ladite procession estre superstitieuse ainsi et en 548 Ebd.

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la maniere quelle a acoustume estre faicte par cydevant et sur la continuation de lad. pretendue possession [lies: prossession] en tout ou en partie ou elle se trouveroit subiecte a continuation par led. advis pour ce fait estre rapporte par devers lad. court.“549 Die Pelotte wurde als abergläubisch (superstitieuse) eingestuft. Die Erklärung aus dem zeitgenössischen Wörterbuch beschreibt eine abergläubische Person zutreffend als jemanden, „qui a une crainte de Dieu mal reiglee“550. Tänze als abergläubisch zu bezeichnen war in vielen tanzkritischen Schriften aus dem 16. Jahrhundert eine gängige Praxis, die damit an spätantike, etwa Augustinus, und mittelalterliche Vorbilder anknüpfen konnten.551 Tanz und Ballspiel waren demnach eine schlecht geregelte, eine falsche Form der Gottesfurcht. Sie seien falsch in der Art und Weise, wie sie praktiziert würden, und ebenso wäre die Coutume552, also das Gewohnheitsrecht oder auch der Ritus, abergläubisch. Die Verteidigung des Kapitels stützte sich gerade auch auf die lange Tradition der Pelotte, die nie erfolgreich in Frage gestellt werden konnte und damit rechtmäßig war. Das Pariser Parlament dagegen erklärte im Urteil, dass das Ritual in seiner Gesamtheit abergläubisch sei. Die Pelotte gehörte damit in den Augen des Parlaments nicht zu den Ritualen, die an sich lobenswert seien, aber in den letzten Jahren korrumpiert worden seien, wie es in den Tanztraktaten häufig beschrieben wurde, sondern sie sei stets falsch gewesen. Gegen diese Argumentation, die schon seit dem 14.  Jahrhundert für die Verbote gegen die Fête des Fous angebracht worden war und die nun langsam Erfolg zeigte, zählte die lokale Rechtstradition der Kanonikergemeinschaft von Auxerre nicht mehr. Die Veränderungen, die das Parlament anordnete, gingen insofern auch weiter als das Urteil des bailliage. Nicht nur Tanz und Ballspiel auf dem Labyrinth wurden untersagt, sondern auch das gemeinsame Mahl von Kapitel und weltlicher Honoration abgesagt. Der neue Kanoniker sollte vielmehr, anstatt das gemeinsame Mahl zu bezahlen, das dafür vorgesehene Geld zugunsten des Hôtel-Dieu spenden.553 Damit fällt ein weiteres wichtiges Element des Rituals weg, denn die Repräsentanten der weltlichen Verwaltung der Stadt waren nun nicht mehr in das Ritual eingebunden. Möglicherweise durften sie weiterhin die Prozession anschauen, aber die Mahlgemeinschaft von Kanonikern und Magis549 550 551 552

Ebd. Estienne 1544b, Stichwort: „superstitieulx“. Vgl. Wagner 1997, S. 5–12, Koal 2007, S. 19–15, 30–33. Estienne 1544b, Stichwort: „coustume: maniere de faire qu’on ha, Institutum, Consuetudo, Ritus.“ 553 Vgl. AN x1a1541, fol. 435r. Spenden an das Hôtel-Dieu erfreuten sich zur Zeit des Verbots großer Beliebtheit. Der Kanoniker Germain de Charmoy etwa hinterließ der Einrichtung in seinem Testament aus dem Jahr 1535 große finanzielle Zuwendungen.

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traten, die gemeinsam auf kreisförmig angeordneten Bänken saßen, fand nicht mehr statt. Akteure des Verbots Das Pariser Parlament war von seiner Gründung im 13. Jahrhundert bis zu seiner Auflösung in Folge der Revolution einer der wichtigsten politischen Akteure des Ancien Regime.554 Mit seinem Sitz im alten Königspalast auf der Ile de la Cité im Zentrum von Paris begriff sich das Parlament in seinem Selbstverständnis als Garant für die Stabilität und das hohe Alter der französischen Monarchie. Es war nicht nur die oberste Instanz in der Rechtsprechung, sondern wachte auch über die Ordnung, die Sicherheit und den Frieden in Paris und im gesamten Königreich. Hohe königliche Beamte, wie die Gouverneure und baillis, aber auch Marschälle und Admirale mussten vor dem Parlament ihren Treueeid leisten.555 Seit Beginn der Reformation ging das Parlament entschieden gegen reformatorische Aktivitäten vor. In enger Zusammenarbeit mit der Sorbonne wurde etwa 1521 ein Beschluss gefasst, alle Publikationen im Königreich, die sich zu religiösen Fragen äußern, zunächst durch ein Kontrollgremium der Universität prüfen zu lassen. Ab 1525 nutzte das Parlament die Gefangenschaft des Königs aus, um die Repression gegen die protestantische Lehre zu erhöhen. Es ging einerseits gegen den Zirkel von Meaux, einer Gruppe humanistischer Gelehrter, die sich Ideen der Reformation gegenüber aufgeschlossen zeigten, vor. In diesem Zusammenhang unterzog es den Bischof von Meaux, Guillaume Briçonnet (1470–1535), einem Häresieprozess. Zum anderen stellte es die Verbreitung lutherischen Gedankenguts im Königreich unter schwere Strafen.556 Die Härte dieser Verbote musste 1529 der Übersetzer von Luthers Schriften ins Französische, Louis Berquin, erfahren, der in der Hauptstadt Paris als Ketzer verbrannt wurde. Nachdem Pierre Lizet im Dezember 1529 das Amt des ersten Präsidenten des Parlaments übernommen hatte, wurden die Repressionen weiter verstärkt.557 Nach der „Affaire des Placards“558 im Oktober 1534 erhielt das Parlament, da sich der König nun auch offiziell zum Katholizismus bekannt hatte, weiteren Spielraum. Im Dezember richtete der König aus Mitgliedern des Parlamentes eine Kommission ein, die künftige Häresieprozesse führen sollte.559 Die Leitung übernahm einer der vier Präsidenten der Grand Chambre, die ab Januar 1535 554 555 556 557 558 559

Vgl. Houllemare 2011, S. 19. Dazu: Aubert 1912, S. 83, Hildesheimer 2011, S. 17. Vgl. Houllemare 2011, S. 101 f. Vgl. Aubert 1912, S. 130. Siehe dazu: Kap. 4.1, S. 206. Vgl. Aubert 1912, S. 78.

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Guyaume Poyet ausübte. Das Erscheinen von Calvins „Institutio Christianae religionis“ 1536, die dem französischen König gewidmet war und die katholische Kirche sowie die Verfolgung der Protestanten in Frankreich heftig kritisierte, beunruhigte Parlament und Sorbonne zusätzlich. In diesen Zeitraum fiel nun der Prozess über die Pelotte von Auxerre vor dem Pariser Parlament, bei dem vier Doktoren der theologischen Fakultät, vier Kanoniker von Notre-Dame in Paris und vier conseillers die Entscheidung zu treffen hatten. Die Angst vor reformatorischen Bewegungen dürften die eng mit dem Parlament zusammenarbeitenden Theologen der Sorbonne geteilt haben. Sie setzten deshalb einerseits auf strenge Verbote und Strafen, anderseits darauf, der protestantischen Kritik keine Angriffspunkte zu bieten. Die Sorbonner Theologen hatten sich schon im 15.  Jahrhundert mit dem Brief an die französischen Bischöfe als Akteur präsentiert, der die Feiern im Umfeld des Jahreswechsels als heidnisches Relikt stigmatisiert hatte. Der Tanz im Kirchenraum war darin als ein wesentliches Element dieser Feiern benannt und scharf kritisiert worden.560 In Paris hatte sich zudem ein Verbot der Fête des Fous weitgehend durchsetzen können, während in vielen anderen Orten Frankreichs derartige Feste noch im 16. Jahrhundert verbreitet waren. In der Logik der Sorbonner Theologen stellte die Pelotte von Auxerre damit das Überbleibsel einer tendenziell gefährlichen Festkultur dar, die es einzugrenzen galt. Zumal der Tanz im Kirchenraum Protestanten als Vorwand für eine Kritik an anderen, von den Theologen als legitim erachteten kirchlichen Ritualen dienen konnte. Es ist deshalb kaum zu erwarten, dass die vier Theologen der Sorbonne Partei für das Bewahren der Pelotte ergriffen haben. Folgt man dem Historiker Chardon in seiner Geschichte Auxerres von 1834, so war es der Bischof selbst, der für das Verbot der Pelotte eintrat: „L’Evêque prononça lui-même, par une ordonnance, l’abrogation définitive de cette cérémonie.“561 Gleichzeitig sei er auch für die Abschaffung zweier anderer Bräuche, der Wahl eines Narrenbischofs und verschiedener Mysterienspiele, verantwortlich gewesen. Sein Anspruch – so sieht es zumindest der Historiker des 19. Jahrhunderts – sei die endgültige Reinigung aller religiösen Zeremonien von Lächerlichkeit, Ignoranz und Barbarei gewesen, die dem aufkommenden Protestantismus als Zielscheibe für seine Kritik gedient hätten.562 Allerdings findet sich ein direkt vom Bischof proklamiertes Verbot der Pelotte nirgends und die Frage wäre auch, inwiefern er überhaupt die rechtlichen Befugnisse dazu gehabt hätte. Dennoch 560 Vgl. Kap. 3.2. 561 Chardon 1834, S. 300. Chardon datiert das Verbot des Parlaments irrtümlicherweise auf das Jahr 1532. 562 Vgl. Chardon 1834, S. 299 f.

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erscheint der Vorschlag, die Abschaffung der Pelotte im Umfeld einer Reform kirchlicher Rituale zu diskutieren und dabei auf die Rolle des Bischofs zu achten, nicht abwegig. Auch Abbé René Fourrey teilte in seiner Geschichte der Kathedrale, die exakt hundert Jahre nach Chardon erschien, diese Ansicht: „François de Dinteville, de son côté, souhaitait l’abolation pure et simple d’un usage qui prêtait à la critique en un temps où la Réforme gagnait du terrain.“563 Und schon Lebeuf vermutete ein Wohlwollen des Bischofs für ein Verbot.564 François Dinteville II. hatte das Episkopat 1530 nach dem Tod seines Onkels übernommen. Wegen einer schweren Straftat565 sollte ihm der Prozess gemacht werden. Seinem Cousin, dem Grand Maître de France, Anne de Montmorency, wurde die Aufgabe übertragen, ihn zu verhaften. Anstatt aber dieser Forderung nachzukommen, nahm er François Dinteville II. stattdessen an seinem Hof in Chantilly auf, wo er für einen Monat unbehelligt bleiben konnte. Im Juni traf sich der Grand Maître de France mit dem König in Paris und handelte aus, dass der Bischof von Auxerre, um straffrei zu bleiben, als Botschafter nach Rom geschickt werden sollte. Dort blieb er bis zum Frühjahr 1533.566 Nachdem er für den König sehr erfolgreich am Papsthof verhandelt hatte, unter anderem arrangierte er die Vermählung des Königssohns Heinrich mit der Nichte des Papstes, konnte er im Mai 1533 in allen Ehren als Bischof in Auxerre einziehen.567 Eine erneute politische Affäre, deren Folgen alle drei Dinteville-Brüder nur durch ihre Flucht nach Italien an den Papsthof entkommen konnten, begann erst im Herbst 1538.568 Vom Frühjahr 1533 bis zur Urteilsverkündung im Sommer 1538 war François Dinteville II. folglich der anerkannte Bischof von Auxerre, der zusammen mit seinen Brüdern erheblichen Einfluss am königlichen Hof hatte. Wie eine Untersuchung der Prozessakten gezeigt hat, war der Bischof zwar nicht direkt am Verbot beteiligt, aber er wurde vom Gericht um eine Stellung563 Fourrey 1934, S. 161. 564 Vgl. Lebeuf 1726, S. 919. 565 Decrue und Rentet geben als Grund an, dass François Dinteville II., der auch Abt von Montiérender war, im Jahr 1531 verurteilt wurde, weil er einen jungen Mönch zu Tode misshandelt hatte. Vgl. Decrue 1885, S. 172 f., Rentet 2006, S. 180. Brown dagegen nennt als Grund die Bestrafung eines Jagdaufsehers, den François Dinteville seine Kompetenzen überschreitend mit der Hand an einen Pfosten nageln ließ, vgl. Brown 1999, S. 79 f. 566 Vgl. Brown 1999, S. 79 f., 93 f., Decrue 1885, S. 172 f., Rentet 2006, S. 180. Lebeuf beschönigt den Vorfall, indem er lediglich von „une affaire où sa réputation avoit été intéressée“ spricht, Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 580. 567 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 582. 568 Vgl. Brown 1999, S. 80 ff.

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nahme ersucht oder bot sie möglicherweise auch von sich aus an. Er oder sein Vertreter, der Bischof von Bethlehem569, Philibert de Beaujeu, legten dem Gericht schriftlich ihre Position zur Pelotte dar.570 Insofern hatte Chardon, der meines Wissens nur die von Lebeuf veröffentlichten Auszüge aus den Prozessakten kannte, also doch Recht, dass der Bischof federführend an der Abschaffung der Pelotte beteiligt war. Ob es aber die Angst vor dem Protestantismus war oder andere Faktoren seine Entscheidungen beeinflussten, ist dabei eine offene Frage. Ende der 1530er und Anfang der 1540er Jahre war François Dinteville II. in der Tat mit der Verfolgung von protestantischen Predigern beschäftigt, wie Briefe an die Erzdiakone und den Dekan belegen.571 Für den Bischof vermutlich aber weit wichtiger war, dass die Pelotte, die an einem so zentralen Datum und einem derartig exponierten Ort stattfand, gänzlich ohne seine Beteiligung auskam. Begreift man das Spätmittelalter in erster Linie als Anwesenheitsgesellschaft,572 ist die körperliche Präsenz von Herrschaftsträgern bei symbolisch wichtigen Anlässen von entscheidender Bedeutung. Seine Nichtanwesenheit zeigte, dass nicht er, sondern das Kapitel Herr der Kathedrale war. Wie wenig er bereit war, sich damit abzufinden, zeigt ein Blick auf den Festkalender von Auxerre, der zahlreiche Änderungen in den Jahren 1535 bis 1538 erhielt, also genau in dem Zeitraum, in dem die Abschaffung der Pelotte vor dem Pariser Parlament verhandelt wurde. Der Kalender des vom Bischof 1535 in Druck gegebenen Missale enthält, wie Lebeuf anmerkt, nämlich Feste, die vorher in Auxerre unbekannt waren.573 Auch das im Jahr 1537 gedruckte Processionale574 für Auxerre enthält einige Neuerungen. Darin findet sich nämlich unter anderem für Anfang Mai, also wenige Wochen nach der Pelotte an Ostern, eine „Procession Générale“ mit allen Geistlichen und dem Bischof als zentralem Akteur an ihrer Spitze.575 Auch bei der Palmsonntagsprozession, welche die Osterwoche einleitete, übernahm der Bischof eine deutlich herausgehobene Rolle.576 Die Prozession begann bei der Kathedrale und führte über die Kirche Saint-Pierre durch das Stadttor nach Saint-Amatre, wo die Palmzweige gesegnet wurden. Dann zogen 569 Der Bischof von Bethlehem residierte nach dem Verlust der Stadt in den Kreuzzügen seit 1223 als Titularbischof in der burgundischen Stadt Clamecy. 570 Vgl. AN x1a1541, fol. 434v–435r. 571 Vgl. Lebeuf 1723, S. I–IV. 572 Dazu grundlegend: Schlögl 2008, S. 155–224. 573 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, S. 584. 574 Zwei Exemplare davon befinden sich in der Bibliothèque Municipale von Auxerre unter der Signatur SY 3 bzw. SY 3bis. 575 Vgl. Lebeuf 1743, Bd. 1, 584. 576 Die Beschreibung folgt Heath 2010, S. 199–230, deren Angaben auf SY 3, fol. 42v– 51v basieren.

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Bischof und Kanoniker wieder durch das Tor in die Stadt und machten Station bei den Kirchen Saint-Eusèbe, Sainte-Marie und in der Klosterkirche St.-Germain, wo sie von der Prozession des Klosters erwartet wurden.577 Von dort führte die Prozession zur Kathedrale zurück, wo vor der Eingangspforte erneut Station gemacht wurde. Dann klopfte der Bischof an die Tür und verlangte, dass die Tore geöffnet würden, damit der König der Ehre einziehen könne. Nachdem der Chor gefragt hatte, wer dieser König sei, antwortete der Bischof: „Ein starker und mächtiger Herr, mächtig im Kampf.“578 Dann wurden die Tore geöffnet und der Bischof führte die Gemeinde in das Kirchenschiff der Kathedrale. Bei dieser Prozession wurde seine Rolle als Haupt der Kirche symbolisch bekräftigt: „Entering the cathedral the bishop fulfilled his role as head of the church: he embodied the role of Christ, leading his people into the celestial city and promising eternal life through the sacrifice of Mass.“579 François Dinteville II. gelang es damit, durch Veränderungen der Rituale die performative Herstellung von Machtbeziehungen zu verändern. An bedeutenden Festen war es nun der Bischof, der zentral agierte und Christus verkörperte. Der in die Auferstehung eingebettete Tanz des Kapitels, bei dem der Dekan dem siegreichen Christus seinen Körper zur Verfügung stellte, war dagegen durch das Verbot des Parlaments beseitigt worden. Auch die Zurschaustellung der kirchlichen und politischen Machtposition, die in der Pelotte unter anderem erfolgte, konnte nun in Prozessionen und anderen Festlichkeiten performativ neu verhandelt werden. Dabei stand nun aber nicht mehr die kreisförmige Bewegung der Kanoniker im Zentrum, sondern die lineare Prozession, die auf das Amt des Bischofs ausgerichtet war. Die Untersuchung der Synoden der Kirchenprovinz Sens hat gezeigt, dass auch auf regionaler Ebene kein generelles Tanzverbot im kirchlichen Kontext beschlossen wurde. Auch die Verbote des Jeu de Pelotte richteten sich lediglich gegen eine Beteiligung von Geistlichen an dem säkularen Sportspiel, nicht aber gegen das rituelle Ballspiel in Auxerre. Einige Synoden aus dem 15. Jahrhundert nahmen Tänze und Spiele an Weihnachten und Ostern und damit die Cazzole in Sens und die Pelotte in Auxerre explizit von beschlossenen Tanzregulierungen aus. Über ihre Rechtmäßigkeit sollten die Kapitel auf lokaler Ebene entscheiden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Initiative für ein Ende beider Tänze aus den Kathedralkapiteln stammte. 577 Zur unterschiedlichen Partizipationen von Mönchen, Kanonikern und Bischof bei dieser Station der Prozession, vgl. Heath 2010, S. 208 ff. 578 Heath 2010, S. 211: „A strong and powerful Lord, powerful in battle.“ 579 Ebd.

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In Sens scheint die Abschaffung der Cazzole, insofern die Quellenlage hier vorsichtige Tendenzen erlaubt, relativ konfliktfrei abgelaufen zu sein. Zwischen 1517 und 1520, wahrscheinlich im Frühjahr 1519, wurde der Tanz auf dem Platz vor der Kathedrale durch den Beschluss einer Kapitelversammlung abgeschafft. Die offizielle Begründung lautete, dass eine Menge von Frauen und Männern, die zum Tanz hinzueilten, die Reinheit des Rituals durch ihre Anwesenheit gefährdeten. An dessen Stelle stifteten zwei angesehene Kanoniker eine Prozession für den Abend des Ostertages, die sich auf den Kathedralklerus beschränkte und ausschließlich in der Kathedrale stattfand. Die Abschaffung der Pelotte von Auxerre dagegen zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Ein erster Einspruch eines Kanonikers an Ostern 1471 scheiterte am Widerstand des Kapitels. Sein Verweis auf eine Passage aus dem Werk von Wilhelm Durandus, in der Tanz- und Ballspiel von Klerikern negativ dargestellt wurden, nutzte dem Kritiker nicht. Dekan und Kanoniker beriefen sich auf die lokalen coutumes des Kapitels und drohten dem Kritiker zugleich mit dem Ausschluss aus dem Kapitel, da seine Weigerung als Meineid eingestuft wurde. Sechzig Jahre gab es keine weitere Kritik am Ritual, bis der Kanoniker Laurent Bretel sich ebenfalls weigerte, an der Pelotte teilzunehmen. Da er nicht nachgeben wollte, begann ein Prozess um die Pelotte, der bis vor das Pariser Parlament ging. Die bisher erfolgreiche Verteidigungstaktik, die Pelotte als altehrwürdige lokale coutume darzustellen, geriet bei den Hauptakteuren des Verbots, dem Pariser Parlament und dem Bischof von Auxerre, nun an ihre Grenzen. Während das Parlament bestrebt war, die unterschiedliche paraliturgische Ausgestaltung der kirchlichen Festtage zu zentralisieren, und dem aufkommenden Protestantismus keine Zielscheibe für Kritik bieten wollte, war der Bischof von Auxerre von seinem Ausschluss bei dem prestigeträchtigen Ritual wenig angetan. Im Urteil stufte das Parlament den Tanz im Kirchenraum letztlich als eine abergläubische Handlung ein, die fortan nicht mehr stattfinden durfte.

5.4 Fazit Bei der Cazzole von Sens und der Pelotte von Auxerre handelt es sich um zwei Beispiele für die Integration von Tanzpraktiken in die paraliturgische Gestaltung des Osterfestes. Ohne die genaue Entstehungszeit der beiden Tänze benennen zu können, deuten die Schriften der Liturgiker darauf hin, dass sie Bestandteil einer kirchlichen Tanzkultur waren, die sich im 12. und 13. Jahrhundert in den Kathedral- und Stiftskirchen mit einem Schwerpunkt auf Frankreich entwickelt hatte. Diese Tanzpraktiken entstanden zwar zeitgleich mit dem Bau der großen

Fazit

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Labyrinthe in den Kathedralen der Kirchenprovinzen Sens und Reims, allerdings ist nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung davon auszugehen, dass die Tänze unabhängig von den Labyrinthen entstanden sind. Tänze als körperliche Ausdrucksform von Religiosität anzuerkennen, wurde durch die Rezeption christlicher Adaptionen neuplatonischen Gedankenguts in den mittelalterlichen Kathedralschulen, insbesondere in Chartres, ermöglicht. Die Vorstellung vom Reigen der Gestirne, bzw. christianisiert als Reigen der Engel oder Heiligen, die bereits bei christlichen Autoren der Spätantike ausformuliert worden war, wurde in dieser Denktradition als legitime Form der Gottesverehrung angesehen. Ebenso wurde, teilweise auch unabhängig von Bezügen zum Neuplatonismus, auf biblische Vorbilder verwiesen. Vor allem die Tänze von David und Miriam dienten dabei als Vorbild. Gerade in den französischen Kathedralkapiteln entstanden an den christlichen Feiertagen vielfältige Tanzpraktiken. Vor allem in das Osterfest wurden Tänze integriert, von denen die Tänze in Auxerre und Sens zwei Varianten darstellten. Die Cazzole von Sens stellte dabei eine Variation der in vielen Kirchen verbreiteten Prozession zum Taufbrunnen am Osterfest dar. In Sens wurde die Prozession als Tanzprozession begangen. Die Kanoniker zogen hier in Paaren unter Führung des Erzbischofs zum Brunnen auf den Platz vor der Kathedrale. Möglicherweise wurden sie dabei von weltlichen TeilnehmerInnen begleitet. Im Gegensatz zur verbreiteten Forschungsposition fand die Cazzole damit nicht auf dem Kirchenlabyrinth statt. Die Pelotte von Auxerre bildete den Abschluss eines Initiationsrituals, durch das neue Kanoniker in die Gemeinschaft der Domherren aufgenommen wurden. Die Kanoniker vollführten hier den Tanz auf dem Kirchenlabyrinth in Verbindung mit einem Ballspiel. Der Tanz verwies zum einen auf den christlich adaptierten Theseusmythos, zum anderen auf die Schöpfungsgeschichte. Es handelte sich um zwei Themen, die zentrale Bestandteile der österlichen Liturgie waren. Da bei dem Ritual auch hohe weltliche Würdenträger Auxerres anwesend waren, während der Bischof und andere geistliche Körperschaften der Stadt ausgeschlossen waren, vergegenwärtigte die Gemeinschaft der Domherren jährlich ihre Position innerhalb der Regierung der Stadt.

6. Ausklang 6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse Eine differenzierte Betrachtung der Tanzlehrbücher, Tanztraktate und Konzilsbeschlüsse hat gezeigt, dass der Tanz im kirchlichen Kontext des Spätmittelalters kein Fremdkörper war, sondern in vielfacher Weise in die Religiosität eingebunden war. Die Bewertung dieser Tänze vollzog sich überaus ambivalent. Neben Stimmen im Tanzdiskurs des 15. und 16. Jahrhunderts, die den Tanz ausnahmslos verdammten, gab es Autoren, die Tänze nach ihren Motiven, Anlässen oder Bewegungen differenzierten, und auch solche, die gerade im Tanz eine gottgefällige Form der Kommunikation mit der Transzendenz sahen. Von einer generellen Tanzkritik oder gar einem generellen Tanzverbot der Kirche kann deshalb weder vor der Reformation noch bei den christlichen Konfessionen Westeuropas im 16. Jahrhundert die Rede sein. Die Idee einer tanzfeindlichen Kirche wird auch deshalb in Frage gestellt, da die Initiatoren der Verbote, Kardinäle, Bischöfe oder Äbtissinnen und Äbte, selbst vielfach tanzten und Tanzveranstaltungen ausrichteten. In der adeligen und zunehmend auch in der bürgerlichen Festkultur des 15. und 16. Jahrhunderts stellten Tänze einen so zentralen Bestandteil politischer Kommunikation dar, dass auch im Umfeld des Konzils von Trient Bischöfe und Kardinäle Tänzen beiwohnten. Neben der Dominanz von Tänzen bei weltlichen Festen war der Tanz auch bei der Ausgestaltung kirchlicher Feste ein beliebtes Medium. Tänze konnten somit auf anerkannte Weise in Mysterienspielen, bei der Initiation von Geistlichen oder bei Prozessionen stattfinden. Insbesondere die französischen Kathedralkapitel zeichnete eine rege Einbindung von Tanzpraktiken in die Gestaltung kirchlicher Hochfeste aus, wobei sich die Tänze in ihrer Form, ihrer Anbindung an die Liturgie und ihrer theologischen Legitimation unterschieden. Die zwei behandelten Fallbeispiele, die Kathedralkapitel von Auxerre und Sens, waren große, wirtschaftlich prosperierende Gemeinschaften, die rechtlich direkt dem Papst unterstanden. Die Kanonikergemeinschaften teilten sich mit den Bischöfen die weltliche und geistliche Verwaltung sowie die Gerichtsbarkeit über das Kathedralviertel. Die Regierung basierte auf schriftlich festgelegten coutumes, welche die Aufgaben und Privilegien beider Parteien detailliert beschrieben, über deren Auslegung jedoch häufig gestritten wurde. Insbesondere der Zugang zur Kirche, die Anwesenheit bei den Messen, die körperliche Präsenz im Raum, die Kleidung oder die Gesten, dies waren allesamt Bereiche, die

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streng geregelt waren und bei denen auf die Einhaltung der Regeln genauestens geachtet wurde. Der körperliche Vollzug des Tanzes im Kirchenschiff der Kathedrale von Auxerre oder auf dem Klosterplatz vor der Kathedrale von Sens musste, zumal er mit Ostern am höchsten christlichen Festtag erfolgte, zwangsläufig das Machtgefüge von Kapitel und Bischof tangieren. Die genaue Entstehungszeit der beiden Tänze lässt sich aus den Quellen nicht bestimmen, allerdings deuten die Schriften der Liturgiker darauf hin, dass sie Bestandteil einer kirchlichen Tanzkultur waren, die sich im 12. und 13. Jahrhundert in den Kathedralkirchen Frankreichs entwickelt hat. Die Rezeption von neuplatonischen Vorstellungen der Sphärenharmonie und ihrer Adaption in die christliche Kosmologie an den Kathedralschulen ermöglichte eine positive Deutung von Tänzen in der Religiosität. Die Vorstellung vom Reigen der Gestirne, bzw. christianisiert vom Reigen der Engel oder der Heiligen, wurde in dieser Denktradition als legitime Form der Gottesverehrung angesehen. Gleichzeitig wurde, zum Teil auch losgelöst von den neuplatonischen Ideen, auf biblische Beispiele, wie den Tanz Davids oder den Reigen Miriams nach der Flucht durch das Rote Meer, rekurriert. In Frankreich brachte diese Rezeption eine Vielzahl von Tanzpraktiken an hohen Festtagen, vor allem am Ostertag, hervor, von denen die Tänze in Sens und Auxerre zwei unterschiedliche Ausprägungen darstellten. In Sens war die in vielen Kirchen am Ostersonntag verbreitete Prozession zum Taufbrunnen als Tanzprozession ausgestaltet worden. Die vom Bischof angeführten Kanoniker zogen dabei paarweise zum Brunnen, wobei ihnen möglicherweise noch weltliche TeilnehmerInnen ebenfalls paarweise folgten. Der Tanz fand, im Gegensatz zu der in der Forschung verbreiteten Meinung, nicht auf dem Labyrinth im Kirchenschiff statt, sondern außerhalb der Kathedrale auf dem davor liegenden Platz. In Auxerre war der Tanz Bestandteil eines komplexen Initiationsrituals, bei dem der neue Anwärter auf ein Kanonikat in das Kathedralkapitel aufgenommen wurde. Der Tanz fand hier in Verbindung mit einem Ballspiel auf dem Labyrinth im Kirchenschiff statt und lehnte sich zum einen an den christlich adaptierten Theseusmythos, zum anderen an die Schöpfungsgeschichte an, beides Themen, die innerhalb der Liturgie des Ostertages thematisiert wurden. Durch die Anwesenheit hoher weltlicher Amtsträger der Stadt bei gleichzeitiger Exklusion anderer geistlicher Körperschaften und des Bischofs von Auxerre, vergegenwärtigte das Kapitel jedes Jahr seine Stellung innerhalb der Regierung der Stadt. Ähnlich wie die geistlichen Spiele des Mittelalters lassen sich die Tänze in Sens und Auxerre mit ihren theatralen und rituellen Elementen als „transfor-

384 Ausklang mative Performanzen“1 beschreiben. Mit den Tänzen stellten die Kanoniker das Selbstverständnis ihrer Gruppe innerhalb der städtischen Herrschaftsträger dar. In Auxerre beendete der Tanz zudem den Initiationsprozess von neuen Kanonikern, die im körperlichen Vollzug des Tanzes die Aufnahme in die Gemeinschaft erreichten. Die Schaffung von Liminalität erfolgte aber nicht allein durch den Tanz, sondern vor allem auch durch die Anbindung an das Osterfest, bei dem mit dem Tod Christi, seiner Höllenfahrt und der Auferstehung alle Phasen des Statuswechsels präsent waren. Begreift man die Gesellschaft des Spätmittelalters in der Logik einer Präsenzkultur als Kommunikation unter Anwesenden, stellten Rituale eine Beziehung zu gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und Herrschaftsentwürfen her. In der körperlichen Kopräsenz von Akteuren und Zuschauenden wurden Entwürfe für Hierarchien und Identitäten performativ hergestellt, bekräftigt und verworfen. Veränderungen in Ritualen wirkten somit zwangsläufig auf bestehende Wertesysteme ein und schafften dadurch Machtverschiebungen und Veränderungen der sozialen Ordnung. Im Fall von Auxerre verloren die Kanoniker mit der Abschaffung des Tanzes am Ostertag nicht nur ein Initiationsritual, sondern es zeigte sich auch ein Machtverlust gegenüber dem örtlichen Bischof. Das Zusammenwirken von kirchlicher, politischer und rechtlicher Macht, das die Pelotte unter anderem ausgezeichnet hatte, wurde nun in einer Prozession und anderen Festlichkeiten performativ neu verhandelt.

6.2 Forschungsperspektiven Mit den Fallbeispielen von Auxerre und Sens wurden lediglich zwei französische Kathedralkapitel behandelt. Wie gezeigt worden ist, praktizierten auch andere Kapitel Tänze an hohen Feiertagen. Insofern könnte sich eine intensivere Betrachtung anderer Kanonikergemeinschaften lohnen, um Gemeinsamkeiten oder Besonderheiten des Tanzes im kirchlichen Kontext herauszuarbeiten. Zunächst bieten sich die Domkapitel von Chartres und Paris sowie das Kollegiatstift Saint-Quiriace in Provins an, die zur gleichen Kirchenprovinz gehörten, aber auch die Tänze von Besançon oder Nîmes könnten wichtige Erkenntnisse zur kirchlichen Tanzkultur beitragen. Ebenfalls noch kaum bearbeitet und in dieser Arbeit nur für das Beispiel von Auxerre angerissen sind die Gerichtsprozesse am Pariser Parlament. Die Verhandlung der Pelotte ist lediglich ein Beispiel für eine Vielzahl von religiösen 1 Zum Begriff vgl. Fischer-Lichte 2004b, S. 151–154.

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Festpraktiken, über die am Pariser Parlament im 16.  Jahrhundert entschieden wurde. Weitere Prozesse zu untersuchen, bei denen die Plädoyers nicht verloren gegangen sind, um daraus Argumentationslinien des Parlaments oder Tendenzen der Rechtsprechung gegen tänzerische und spielerische Formen im Umfeld der Liturgie zu entwickeln, stellt ein Desiderat der Forschung dar.2 Mit der Erkenntnis, dass der Tanz eine anerkannte Frömmigkeitspraxis in der Religiosität des Spätmittelalters darstellen konnte, gilt es, die Vorstellungen über die religiöse Festkultur dieser Epoche kritisch zu hinterfragen. Wie aktuelle Arbeiten zu den Narrenfesten und Kinderbischofsfesten, zur Tanzwut sowie zu Spiel und Sport im klerikalen Kontext gezeigt haben,3 konnte die mittelalterliche Kirche eine Vielzahl von spielerischen Körperpraktiken als Ausdruck des Glaubens zulassen, indem sie theologisch legitimiert wurden. Sie waren zwar nie direkter Bestandteil der Liturgie, verwiesen aber stets darauf und ereigneten sich im unmittelbaren Umfeld davon, was die germanistische Mediävistik als „paraliturgisch“ bezeichnet. Das Verhältnis von Tanz und Spiel zur Liturgie und der religiösen Festkultur eröffnet somit neue Forschungsfelder, welche bisher kaum bekannte Aspekte der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirche umfassen. Als fruchtbar könnten sich hier Vergleiche mit den christlichen Tanzpraktiken auf der iberischen Halbinsel wie auch mit religiösen Tänzen außerhalb des Christentums erweisen. Zum einen bieten sich Studien zu muslimischen Tanzpraktiken ebenso wie zu in den jüdischen Festkalender integrierten Tänzen an, die Formen des Kulturtransfers offenbaren könnten. Gerade in Italien waren es vor allem jüdische Tanzmeister, die das Wissen über Tanz an den Renaissancehöfen verbreiteten. Ein wichtiges Anliegen der Arbeit war es, Tanz als Untersuchungsgegenstand der mittelalterlichen Geschichte zu etablieren, indem Impulse aus benachbarten Disziplinen aufgenommen wurden. Mit den Forschungen der letzten Jahre zur symbolischen Kommunikation, der Bedeutung von Gesten und körperlicher Präsenz, von Performativität und Ritualen steht der Mediävistik ein methodisches Repertoire zur Verfügung, sich dem Tanz zu nähern. Aktuelle Forschungstendenzen zu historischen Klangpraktiken und zur Geschichte der Emotionalität könnten sich hierbei ebenso als anregend erweisen. Der Tanz konnte, da er seit der Antike als potentielle Kommunikationsform mit der Transzendenz galt, auch im Mittelalter in die Frömmigkeit integriert 2 In diesem Zusammenhang wäre auch die ohne Beleg auskommende Aussage von Vollet, das Pariser Parlament habe seit 1547 Bestrebungen unternommen, Tänze von Geistlichen anlässlich ihrer ersten Messe zu verbieten, zu verfolgen. Vgl. Vollet 1885–1902, Bd. 13, S. 885. 3 Vgl. Harris 2011, Rohmann 2013, Skambraks 2013, Skambraks 2014, Sonntag 2013.

386 Ausklang werden. Er stellte dabei nicht die einzige oder die dominante Körperpraxis in der Religiosität des Spätmittelalters dar, sondern war lediglich eine von vielen transformativen Performanzen. Das Besondere am Tanz in der kirchlichen Festkultur war vielleicht gerade, dass der Tanz gar nicht als so besonders und außergewöhnlich wahrgenommen wurde. Diese Ansicht zeugt eher von einer aktuellen überzogenen Erwartungshaltung, die vor allem etwas über das heutige westeuropäische Verhältnis zum Tanz aussagt. Zu untersuchen wäre deshalb, wann und unter welchen Voraussetzungen die Verbindung von Tanz und religiösen Praktiken aus dem kulturellen Gedächtnis Westeuropas verschwand und ausschließlich auf außereuropäische Gesellschaften projiziert wurde.

6.3 Ausblick Die Verabschiedung einer neuen Prozessionsordnung für die Cazzole in Sens oder das Verbot durch das Pariser Parlament für Auxerre sagen noch wenig darüber aus, inwiefern die normativen Setzungen in der Praxis anerkannt wurden. Die schon im 13. Jahrhundert beschlossenen und jahrhundertelang immer wieder zitierten Verbote gegen die Fête des Fous sind ein gutes Beispiel dafür. Allerdings scheint es in Auxerre und Sens keine Versuche gegeben zu haben, sich den Beschlüssen zu widersetzen, zumindest haben sie keinen Niederschlag in den Quellen gefunden. In Auxerre wurde 15 Jahre nach dem Verbot im Kapitel noch einmal ein Beschluss gefasst, der die Pelotte in ihrer abgeänderten Form bestätigte, jedoch scheint hier nicht eine Wiedereinführung des Tanzes durch den neu aufgenommenen Kanoniker, sondern vielmehr die Modalitäten der Geldzuwendung geklärt worden zu sein.4 Als Lebeuf 1726 seinen Artikel zur Pelotte veröffentlichte, war der Begriff Pilota den Kanonikern nur noch als Name aus der Statutensammlung bekannt, von einem Tanz in Verbindung mit einem Ballspiel wusste dagegen niemand mehr etwas.5 In Sens blieb die Prozes-

4 „Sed imprimis notandum est quod quilibet canonicus noviter receptus et volens residere, super suam prebendam, tenetur solvere magno camerario Ecclesie, summam centum solidorum Turonensium, aut permittere dicto camerario praefatam Summam retinere super primis fructibus suarum distributionum quotidianarum in plumbo per eum lucraturum, quae retentio communiter dicitur pro Pillonis sive pro Pillotâ, secundum arrestum contra Joannem Moquot, canonicum nouissimé obtentum“, BMAUX, Ms 275, fol. 11r, vgl. Lebeuf 1855, Bd. 4, S. 330. 5 „Aujourd’hui le mot de pilota n’est plus connu que parmi les Chanoines, à cause du Statut qui fut fait alors sur l’évaluation de la collation. Les peuples n’ont aucun souvenir de cette ceremonie …“, Lebeuf 1726, S. 924.

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sion in ihrer neuen Form bis zum Ende des Ancien Regime bestehen. Versuche, an der Cazzole festzuhalten, gab es auch hier nicht. Die Niederlage des Kapitels gegen den Kanoniker Laurent Bretel vor dem Pariser Parlament dürfte Dekan und Kanoniker aus Auxerre überrascht haben, denn in den vorherigen Jahrzehnten waren derartige Prozesse häufig zu ihren Gunsten verlaufen. Dennoch bewirkte die Niederlage vor Gericht nicht, dass die Kanoniker auf lange Sicht darauf verzichteten, zur Verteidigung ihrer coutumes alle Rechtsmittel auszuschöpfen. Zu Beginn des 17.  Jahrhunderts führten die Kanoniker einen Prozess gegen ihren Bischof François Donadieu (1599–1625), der es gewagt hatte, im Chor eine andere Bischofstracht als seine Vorgänger zu tragen. Während dieser Prozess erfolgreich verlief und der Bischof bald wieder mit althergebrachtem Habit die Kirche betrat, zog sich ein weiterer Prozess zwischen den Kanonikern vor dem Pariser Parlament, in dem um die richtige Kleidung der Kanoniker gestritten wurde, in die Länge und verursachte sehr hohe Kosten für das Kapitel.6 Daran zeigt sich, dass Fragen nach dem Rang, der sich an Kleidung, der Position im Raum und Gesten ablesen ließ, auch im Verlauf der Frühen Neuzeit weiterhin als sehr wichtig erachtet wurden. Für eine Arbeit, die in erster Linie von Tanz handelt, wirken einige Kapitel, so könnte man meinen, doch relativ tanzarm. Über die Wahrnehmung des Körpers, die Bewegungsdynamik im Raum oder die Choreographien der Tänze wurden nur wenige Worte verloren, was jedoch vor allem der Quellenlage geschuldet war. Wie Hendrik Schulze gezeigt hat, stellen selbst für das 17. Jahrhundert Rekonstruktionen von Choreographien noch vielfach ein sehr großes Problem dar.7 In welcher Weise die Tanzschritte erlernt, weitergegeben und verändert wurden, entzieht sich daher unserer Kenntnis. Möglicherweise fiel die Unterweisung in den Aufgabenbereich des Kantors, der allgemein für die musikalische Ausgestaltung und die Ordnung bei Prozessionen zuständig war. Aus Sevilla ist bekannt, dass für den Unterricht der Chorknaben seit Beginn des 17. Jahrhunderts anerkannte externe Tanzmeister eingekauft wurden.8 Völlig offen bleibt auch, was mit den Kanonikern passierte, die nicht mehr tanzen konnten. Da bei der Auswahl der Neuanwärter wie allgemein der Rekrutierung der Geistlichen nur diejenigen zugelassen waren, die über einen gesunden und ästhetisch den Vorstellungen der Zeit entsprechenden Körper verfügten, stellte sich das Problem zunächst nicht. Was passierte jedoch wenn durch Krankheit oder Alter nicht mehr getanzt werden konnte, die Stimme versagte, 6 Vgl. Expilly 1763, S. 411, Fourrey 1934, S. 162. 7 Vgl. Schulze 2012, S. 17. 8 Vgl. Brooks 1988, S. 140–145.

388 Ausklang oder die Hände so zittrig wurden, dass der Kanoniker den Ball nicht mehr halten konnte? Wurde das Ritual abgeändert, wie es etwa das Tagebuch des päpstlichen Zeremonienmeisters Paris de Grassis zeigt, als Papst Julius II. seine Knie nicht mehr beugen konnte,9 oder wurde derjenige davon ausgeschlossen? Eine Vielzahl dieser Fragen, die in den Theater- und Tanzwissenschaften für moderne Beispiele ausführlich diskutiert wurden, lassen sich für die spätmittelalterlichen Tanzpraktiken wegen der Quellenlage nur ansatzweise oder gar nicht beantworten. In den Kathedralkapiteln von Sens und Auxerre verschwanden die Tänze im kirchlichen Kontext in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, aber wie sah es in den anderen französischen Kollegiatstiften und Kathedralen aus? Zumindest in den Gebieten, die nicht zum direkten Einflussbereich des Pariser Parlaments gehörten, etwa in der Bretagne, oder die wie Besançon oder das davon 40 km südlich liegende Salins erst im 17. Jahrhundert an Frankreich fielen, blieben die Tanzpraktiken deutlich länger erhalten. In der Kollegiatkirche Saint-Anatoile von Salins wurde noch bis 1738 an Ostern getanzt, wie ein anonymer Autor – dem umfangreichen Wissen über die Liturgie nach wohl ein örtlicher Kanoniker – im „Mercure de France“ von 1742 berichtete. In Limoges, das zum Parlament von Bordeaux gehörte, wurde der Tanz von Laien im Kirchenraum am Tag des Heiligen Martial bis in das 18. Jahrhundert gepflegt. Aber auch in Provins, nur etwa 40 km von Sens entfernt, der Diözese Sens und dem Einflussbereich des Pariser Parlaments zugehörig, blieben die Tanzpraktiken der Kollegiatkirche Saint-Quiriace weiter bestehen. Der Tanz vom Vikar an Maria Geburt mit einer schönen Jungfrau aus der Stadt, die Maria symbolisierte, der im Chor begann und vor der Kirche endete, wurde erst 1710 als skandalös betrachtet und deshalb von den Kanonikern abgeschafft. Auch der am Nachmittag des Ostertages praktizierte Tanz blieb dort bis 1564 bestehen, wobei in beiden Fällen die Motive nicht weiter beschrieben werden. Es lässt sich also nicht sagen, dass die Abschaffung der Cazzole in Sens und das Verbot der Pelotte von Auxerre vom Pariser Parlament zu einer Initialzündung für das Ende der kirchlichen Tanzpraktiken in Frankreich führte. Die Beschreibungen der Tänze in den lokalhistorischen Arbeiten des 17. und 18. Jahrhunderts deuten an, dass auch dort jeweils Konflikte vor Ort für die Abschaffung der Tänze sorgten. Die Beispiele aus Provins zeigen auch die Bandbreite der Tänze im kirchlichen Kontext: Teilweise dienen die christlichen Feiertage als Anlass und die Kirche bzw. der Kirchenvorplatz als Ort für Tänze, die ausschließlich von Laien aufgeführt wurden. In anderen Fällen tanzten ein Kleriker und eine 9 Vgl. Burke 1986, S. 198 f.

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Laiin zusammen oder wie in Auxerre tanzte der Klerus am Ostertag, um anschließend mit der Stadtbevölkerung einen Umtrunk zu veranstalten. Die Beobachtung der französischen Tanzhistoriker des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, dass sich das Zentrum der kirchlichen Tanzkultur weiter nach Südwesten in Richtung nach Portugal, Spanien und das bis zum Pyrenäenfrieden 1659 zu Spanien gehörende Roussillon10 verschob, ist von der Tendenz richtig. Aber auch in Frankreich blieben Tanzpraktiken gerade in peripheren Regionen oder kleineren Kirchen weiterhin bestehen. Die prestigeträchtigen und symbolisch aufgeladenen Tänze der großen, zentral gelegenen Kathedralkapitel am Ostertag scheinen dagegen im Verlauf des 16. Jahrhunderts weitgehend aufgelöst worden zu sein. Dennoch blieb der Tanz als Ausdrucksmittel von harmonischer Ordnung und der Sphärenharmonie weiterhin in Frankreich bestehen, nun allerdings außerhalb der Kirche in Gestalt des königlichen Hofballetts.11 Die Übertragung der kosmischen Ordnung auf eine irdische Ordnung wurde zunehmend zu einer Aufgabe der tanzenden Könige.

10 Eine kurze Ausnahme bildete die französische Herrschaft von 1462 bis 1493. 11 Vgl. Schulze 2012, S. 43–51.

Anhang Abkürzungsverzeichnis ADY AN BMAUX BMPO BMSE BNF BSAS BSSY MdF PL WA

Auxerre, Archives départementales de l’Yonne Paris, Archives nationales Auxerre, Bibliothèque municipale Poitiers, Bibliothèque municipale Sens, Bibliothèque municipale Paris, Bibliothèque nationale de France Bulletin de la Société archéologique de Sens Bulletin de la Société des Sciences de l’Yonne Mercure de France Patrologiae cursus completus […] series Latina Weimarer Ausgabe

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3:

Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12:

Mainz, Martinus-Bibliothek, Hs 46, p. 5. Cailleaux, Denis, Diocèse de Sens, in: Tabbagh, Vincent (Hg.), Diocèse de Sens, Turnhout 2009, S. 29. Lebeuf, Jean, Mémoires concernant l’histoire civile et ecclésiastique d’Auxerre et de son ancien diocèse. Avec addition de nouvelles preuves et annotations, hg. v. Ambroise Challe und Maximilien Quantin, Bd. 3, Auxerre 1855, S. 15. http://auxerre.historique.free.fr/frame.htm [Eingesehen am 30.09.2015] Sapin, Christian (Hg.), Saint-Etienne d’Auxerre. La seconde vie d’une cathédrale, Paris 2011, S. 523. ÖNB Wien, Cod. 2687, fol. 1r. Collection Bibliothèque Municipale Auxerre, Ms 215, fol. 36. Chauveau, Abbé, Origine de la Métropole de Sens, in: Congrès archéologique de France 14 (1848), S. 217. Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut 29.1, fol. 428r, Detail. ÖNB Wien, Cod. 2554, fol. 1v. Foto des Verfassers. Document conservé aux Archives nationales, Pierrefitte-Sur-Seine, x1a 1541, fol. 434v.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Paris, Archives nationales U 569 Le Nain, Table de Matiere, Bd. 78. Police. Suite de l’ordre alphabétique des matières particulières: lettres C–V. x1a 1536 Registres du Conseil, November 1532–Oktober 1533. x1a 1541 Registres du Conseil, April 1538–Oktober 1538. x1a 4892 Plaidoiries Matinées, November 1531–Oktober 1532.

Paris, Bibliothèque Mazarine Ms 3247 Actes et notes diverses relatives au chapitre d’Auxerre, Mitte 16. Jahrhundert.

392 Anhang Paris, Bibliothèque nationale de France NAF 2259 Le Nain, Table des matières, Bd. 35, qui contient les Chanoines et Chapitres dont il est parlé dans nos Registres, 17. Jahrhundert. NAF 2313 Table alphabétique von der Table des matières von Le Nain, Buchstabe D.

Poitiers, Bibliothèque municipale Ms 336 Recueil concernant l’église de Sens, 16. Jahrhundert.

Sens, Bibliothèque municipale Ms 6 Precantoris norma ou livre du préchantre de Sens, contenant le graduel et l’antiphonaire pour toute l’année avec musique notée à l’usage de l’église de Sens, 13. Jahrhundert. Ms 76–78 Notes du doyen Charles-Henri Fenel, Anfang 18. Jahrhundert.

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422 Anhang

Personenregister Das Personenregister umfasst alle im Text (mit Ausnahme der Literaturangaben) genannten Personen. Bei den historischen Akteuren (ca. 1200 bis 1600) wird zur besseren Orientierung Stand oder Tätigkeit angegeben. Kursiv gesetzte Seitenangaben beziehen sich auf Erwähnungen in den Fußnoten. Aaron 286 Achill 298 Agrippa von Nettesheim (Theologe) 43, 46, 49–51, 55, 61, 64, 66 Alanus ab Insulis (Theologe) 275, 277, 286 Albrecht Dürer (Maler) 165 Alessandro Sforza (Herr von Pesaro) 159 Alexander III. (Papst) 208 Alexander VI. (Papst) 158f. Angelo Massarelli (Sekretär beim Konzil von Trient) 162f. Anna von Köln (Begine) 184 Anne de Montmorency (Grand Maître de France) 370, 377 Andreas Osiander (Reformator) 49 Angenendt, Arnold 9 Antoine Arena ( Jurist) 15, 166f. Antoine du Prat (Erzbischof von Sens) 233, 344, 349 Antoine Maurel (Konsul von Nîmes) 200 Antoine Robert (Kleriker) 44, 92–94, 96 Arcangeli, Alessandro 35, 42, 76, 82 Ariadne 298f., 319f. Aristippos 105 Aristoteles 273, 277 Arlinghaus, Franz-Josef 7, 303 Arlt, Wulf 30 Arnold (Heiliger) 116, 336 Arnould Gontier (Kanoniker in Auxerre) 371 Augustinus 50, 224, 268f., 272f., 293, 301, 374

Backman, Eugène 27f., 137, 148, 152f., 187, 193, 319 Bachtin, Michael 148 Baldassare Castiglione (Höfling) 164–167 Balthazar von Beaujoyeux (Tanzmeister) 166 Barth, Heinz-Lothar 150 Basilius von Caeserea 62, 267 Batschelet-Massini, Werner 290, 294, 300 Beauchamp, Pierre 99 Béjart, Maurice 146 Bérenger De la Tour (Dichter) 43, 83, 84, 86–88 Berger, Teresa 10, 149, 152 Berman, Peggy 15 Bernard Itier (Kleriker) 198 Bernhard von Chartres (Theologe) 276 Bernhard von Clairvaux 181 Bernardus Silvestris (Theologe) 275 Bertholet, Jean 190 Biagi, Vittorio 146 Bisaro, Xavier 256 Blavatsky, Helena 132 Boëthius 16, 216, 268, 270, 272–274, 277f., 286, 301 Bonnet, Jacques 100, 107–111, 161f., 197 Bonnet, Pierre 108 Bourcier, Paul 146 Bourdelot, Pierre 108 Bourdieu, Pierre 178 Böhme, Franz 16, 30, 42 Braibant, Charles 367

Personenregister Brandenburg, Hans 128 Brandstetter, Gabriele 17 Brooks, Lynn 165, 189 Brunner, Wolfgang 31 Cahusac, Louis 98, 100, 111f., 197 Caietanus (Kardinallegat) 94 Cailleaux, Denis 213, 224, 326 Capriol (Figur in der „Orchésographie“) 90, 166 Caritas Pirckheimer (Äbtissin) 193 Caspar Gruner (Theologe) 42, 46, 48f., 54, 66 Chailley, Jacques 16, 31, 152, 310, 331 Chalcidius 273 Challine, Charles 294 Chambers, Edmund 122, 137 Chanabis, Christian 146 Chardon, Olivier-Jacques 206, 376–378 Charles de Bennes (Kanoniker in Sens) 229 Charles Estienne (Verleger) 16 Chastelain, Claude 255f. Chauveau, Abbé 296f. Christoph Browerus 190 Cicero 51, 90, 273, 277 Claude Baduel (Prediger) 75 Claudin (Kanoniker in Langres) 90 Clemens von Alexandria 266 Christoph Madruzzo (Kardinal von Trient) 162f. Christopher Hatton (englischer Lordkanzler) 156 Cox, Harvey 147f., 152 Cyriacus Spangenberg (Theologe) 43, 46, 61–64, 66, 160f. Cyrus de Thyard (Bischof von Chalons-surSâone) 196

423 David 31, 33, 35, 49, 54, 57f., 61f., 66, 71, 77, 81, 86, 89, 94f., 104–106, 181f., 189, 280, 281, 285, 287, 301f., 381, 383 Davies, John Gordon 148, 152 Demay, Charles 220 Denis Cassin (Kanoniker in Auxerre) 361 Denis, Ruth (=Saint-Denis, Ruth) 128f., 134 Dikaiarchos 299 Dronke, Peter 168 Du Bos, Jean Baptiste 108, 111 Du Cange, Charles 22, 117, 197, 259, 304, 327, 330 Du Tilliot, Jean-Baptiste Lucotte 119f., 122 Duncan, Elisabeth 128 Duncan, Isadora 128, 134, 136 Durkheim, Émile 12, 28 Eichberg, Henning 34 Eisenberg, Michael 203, 253, 303, 306, 320 Ehrenreich, Barbara 11 Elia 71 Elias, Norbert 28f. Elisabeth 71 Elisabeth I. von England (Königin) 156, 159 Elisabeth von Spalbeek (Begine) 33 Ellis, Havelock 125, 131–134, 142 Erard de Lésignes (Bischof von Auxerre) 235 Etienne Laune (Kleriker in Nîmes) 200 Etienne Marcel (Pariser Kaufmann) 208 Etienne Naudet (Kanoniker in Auxerre) 355 Etienne Poncher (Erzbischof von Sens) 232, 349

424 Anhang Eudes Rigaud (Erzbischof von Rouen) 171, 317, 345 Eugen IV. (Papst) 173 Euklid 277 Eva 129

François Estienne (Verleger) 78 Franz I. von Frankreich (König) 118, 156, 160, 165, 205, 215, 316, 370 Friedrich II. (Kaiser des HRR) 169 Fröbe-Kapteyn, Olga 130f.

Falke, Sara 31 Fenel, Charles-Henri 232, 254, 257f., 260f., 329, 346–349 Fenel, Jean-Basile-Pascal 38, 254, 258, 261, 325–327, 330 Feuillet, Raoul-Auger 100 Fischer-Lichte, Erika 27 Flint, Valerie 279, 282 Florent de la Barre (Dekan des Domkapitels von Auxerre) 371f. Florian Daul (Pfarrer) 20, 43, 46, 63–67, 125 Foatelli, Josette 125, 141 Foatelli, Renée 125f., 141–143, 149 Foucault, Michel 24 Fourrey, René 321, 377 Francesco Guicciardini (Humanist) 156 Francesco Sforza (Herzog von Mailand) 159 François Donadieu (Bischof von Auxerre) 387 François du Bourg (Dekan des Domkapitels von Auxerre) 371f. François Rabelais (Humanist) 15, 239 Franciscus de Vergeyo (Dekan des Domkapitels von Sens) 328 François Dinteville I. (Bischof von Auxerre) 222, 238, 239, 309 François Dinteville II. (Bischof von Auxerre) 206, 220, 231, 238, 306, 339, 368, 370f., 377–379 François Disque (Conseiller am Pariser Parlament) 306, 365, 368–372

Gabriel Gouffier (Dekan des Domkapitels von Sens) 231f. Galterus Cornuti (Erzbischof von Sens) 297 Geertz, Clifford 24 Geiler von Kaisersberg (Humanist) 14 Geoffroi de Charny (Ritter) 156 Georg von Auw (Statthalter Württembergs) 56 Georges d’Amboise (Kardinallegat) 232 Gerard Royer (=Gerardus Rotarii, Kanoniker in Auxerre) 353, 356–361 Germain de Charmoy (Kanoniker in Auxerre) 374 Germain Tribolé (Bürgermeister von Auxerre) 364 Germain von Auxerre (Bischof von Auxerre) 216f. Gilbert, Robert 132 Gilbert Talbot (Earl of Shrewsbury) 156 Gilbert von Auxerre (Bischof von London) 278 Gilbert von Poitiers (Theologe) 282 Gilles de Barville (Kanoniker in Sens) 207 Gilles Vivien (Generalleutnant von Nîmes) 199f. Ginzburg, Carlo 24 Girkon, Paul 130 Giovanni Maria Ciocchi Del Monte (Kardinal) 163 Golovine, Catherine 146 Gougaud, Louis 137, 140f., 149, 152f., 197

Personenregister Graham, Martha 128f. Gregor von Nyssa 271 Guglielmo Ebreo (Tanzmeister) 159 Guillaume Briçonnet (Bischof von Meaux) 375 Guillaume de Conches (Theologe) 276 Guillaume de Loris (Dichter) 273 Guillaume de Melun (Erzbischof von Sens) 208, 230 Guillaume de Seignelay (Bischof von Paris) 169 Guillaume Farel (Reformator) 68, 73 Guillaume Gouffier (Admiral von Frankreich) 232 Guillaume Paradin (Kanoniker in Beaujeu) 44, 84–86, 89, 93–96 Gundlach Sonnemann, Helga 125, 152 Guy de Mello (Bischof von Auxerre) 220, 235f. Guyaume Poyet (Präsident des Pariser Parlaments) 376 Hammerstein, Reinhold 31 Hans Luther (Sohn von Martin Luther) 47 Hans von Schweinichen (Ritter) 160 Harding, Ann 14 Hartmann Schedel (Humanist) 63 Harris, Max 176f., 199 Haubrichs, Wolfgang 292, 298 Hecker, Justus 34 Hedelin, François 101 Heidegger, Martin 127 Heiler, Friedrich 131 Heine, Heinrich 127 Heinrich Seuse (Dominikaner) 183 Heinrich II. von Frankreich (König) 316, 377 Heinrich IV. von Frankreich (König) 79

425 Heinrich von Navarra (siehe Heinrich IV. von Frankreich) Heiric von Auxerre 278, 293 Henri Sanglier (Erzbischof von Sens) 215 Henry de Villeneuve (Bischof von Auxerre) 235 Herkules von Gonzaga (Kardinal von Mantua) 162 Herodes 48, 53, 70, 79, 175, 186, 283 Herodias 48, 53, 70 Hesse, Hermann 139 Hildegard von Bingen 144, 187, 201 Honorius Augustodunensis 140, 279–282, 285–287, 289, 301 Horowitz, Jeannine 180 Hugo von Sankt-Viktor 286 Hugo von Sens (Kanoniker in Sens) 278 Huizinga, Johan 139 Ignatius von Loyola (Gründer des Jesuitenordens) 188 Ingold von Basel (Theologe) 311 Innozenz III. (Papst) 169, 226 Iogna-Prat, Dominique 172 Isabella d’Este (Markgräfin von Mantua) 159 Isidor von Sevilla 274, 284 Ivo von Chartres (Theologe) 286 Jacob Ratz (Pfarrer) 43, 46, 51–53, 56–63, 66f. Jacques de Savoie (Herzog von Nemours) 166 Jacques de Vitry (Theologe) 9 Jacques Leroux (Conseiller) 207 Jalaluddin Maulana Rumi (Mystiker) 144 Jamblichus 266 Jean Baillet (Bischof von Auxerre) 236, 238, 361

426 Anhang Jean Boiseul (Schriftsteller) 44, 80f., 95 Jean Calvin (Reformator) 67–69, 78f., 206, 376 Jean Chambery (Kanoniker in Auxerre) 254f. Jean Coqueré (Kanoniker in Auxerre) 371 Jean d’Auxois (Bischof von Auxerre) 357 Jean de Bellay (Kardinal) 368 Jean de Bray (Dekan des Domkapitels von Sens) 231 Jean de Lorraine (=Kardinal de Lorraine, Kardinal) 160, 179, 369f. Jean de Meun (Dichter) 273f. Jean de Nanton (Erzbischof von Sens) 209, 231, 340 Jean de Salazar (Kanoniker in Sens) 232 Jean de Thyard (Leutnant des Bailli von Auxerre) 313 Jean Gerson (Theologe) 334–336 Jean Henniquin (Kanoniker in Auxerre) 238 Jean Leguise (Bischof von Troyes) 176 Jean le Roi (Kanoniker in Auxerre) 371 Jean le Roux (Kleriker in Auxerre) 355 Jean Pignard (Dekan des Domkapitels von Langres) 90 Jean Regnier (Dichter, Bailli von Auxerre) 221, 313 Jean Regnier (Bailli von Auxerre) 313, 360 Jeanne d’Arc (Heerführerin) 211 Jehan Tabourot (siehe Thoinot Arbeau) Jehan Tribolé ( Jurist in Auxerre) 364 Jeremia 63 Joachim Belotin (Kanoniker in Sens) 349 Johan von Münster (Reformator) 20, 42, 43, 69–73, 81f., 95, 105, 189, 193 Johan Willing (Hofprediger) 70 Johann II. von Frankreich (König) 201

Johann Böschenstayn (Hebraist) 42, 46, 49–51, 66 Johann Ohnefurcht (Herzog von Burgund) 204, 210 Johann von Miltitz (Bischof von Naumburg) 63, 160f. Johannes Beleth (Liturgiker) 22, 175, 279, 282–287, 289f., 323, 335 Johannes Burckard (Päpstlicher Zeremonienmeister) 158 Johannes Chrysostomus 48, 55, 104 Johannes der Täufer 48, 53, 71, 79, 105, 186, 193, 195, 226 Johannes Scotus (Theologe) 272, 278, 281 Johannes von Salisbury 276 Johannes von Perchhausen (Kanoniker in Moosburg) 189 John Stanhope (Höfling) 156 Juan Luis Vives (Diplomat) 165 Judith 129 Julius II. (Papst) 388 Jung, Carl Gustav 125, 130, 132, 139 Jungmann, Irmgard 11, 29f., 42f., 70, Kallimachos 299 Kardinal de Bourbon (siehe Louis de Bourbon-Vendôme) Kardinal de Lorraine (siehe Jean de Lorraine) Karl V. von Frankreich (König) 208 Karl V. (Kaiser des HRR) 206 Karl VI. von Frankreich (König) 204 Karl VIII. von Frankreich (König) 316, 329 Karl XI. von Frankreich (König) 160 Karl der Große 116 Karl der Kühne (Herzog von Burgund) 205, 360, 367 Katharina Pirckheimer (Nonne) 193

Personenregister Katharina von Medici (Königin) 160, 166, 295 Kasten, Ingrid 33, 184 Kerény, Karl 139, 298 Keuchen, Marion 125 Klein, Gabriele 29, 192 Koal, Valeska 35 Koch, Marion 10, 29 Kraton 265f. Krönig, Wolfgang 261f., 324f. Kuhlmann, Helga 11 Labbé ( Jesuit) 256 Laban, Rudolf von 129, 131 Ladendorf, Heinz 262 Lambert Daneau (Theologe) 44, 78–81 LaMothe, Kimerer 127 Landwehr, Achim 24 Laurent Bretel (Kanoniker in Auxerre) 258f., 353, 360–365, 371, 380, 387 Laurent Chambery (Kanoniker in Auxerre) 254f. Laurent Robert (Kanoniker in Auxerre) 361 Lauwers, Michel 172 Lebeuf, Jean 38, 98, 100, 115–119, 142, 153, 195, 199, 206f., 216, 218–221, 233, 239, 253–259, 261f., 282, 287, 290, 298, 304, 306, 309, 312, 314, 315, 318–320, 325, 330, 334, 339, 342, 353f., 356f., 360–362, 364f., 366, 367f., 370f., 377f., 386 Leeuw, Gerardus van der 125, 131, 134– 136, 142, 152 Lehrner, Johannes 9 Leriche (Kanoniker in Sens) 254, 260, 325–329, 346–350, 352 Lewis, J. Lowell 303 Lightbourne, Ruth 187

427 Louison-Lassablière, Marie-Joëlle 33, 43, 90, 166 Louis Berquin (Reformator) 206, 375 Louis de Beaumont (Bischof von Paris) 208 Louis de Bourbon-Vendôme (Erzbischof von Sens) 347 Louis de Melun (Erzbischof von Sens) 176, 209, 231, 339, 341 Louis du Lac (Kanoniker in Sens) 229 Louys de la Hure (Kanoniker in Sens) 347f. Lucas Cranach, der Ältere (Maler) 46 Lucas van Leyden (Maler) 186 Ludwig X. von Frankreich (König) 316 Ludwig XI. von Frankreich (König) 227 Ludwig XIV. von Frankreich (König) 36, 97, 101, 110f. Ludwig von Magdeburg (Erzbischof von Magdeburg) 63, 85, 161 Ludwig von Valois (Herzog von Orléans) 204 Lukian von Samosata 87, 102, 105f., 109, 140, 265f. Lycinus 265f. Macrobius 267, 270 Mâle, Émile 191 Mallinckrodt, Rebekka von 100 Marana, Giovanni Paolo 110 Marcello Cervini (Legat) 162–164 Marco, Dania 125, 149f. Marguerite d’Autriche (Statthalterin der Niederlande) 157 Maria Magdalena 129, 185–189, 201, 309 Maria, Schwester Aarons (siehe Miriam) Marin Mersenne (Musiktheoretiker) 102 Marius Victorinus 299f.

428 Anhang Marsilio Ficino (Humanist) 272 Martène, Edmond 119, 120 Martin Bucer (Reformator) 52, 60 Martin Luther (Reformator) 46–49, 52f., 60f, 65, 67, 73, 83, 205–207, 211, 344, 376 Martin V. (Papst) 173, 224 Mathilde I. (Gräfin von Auxerre) 218 Mathilde II. (Gräfin von Auxerre) 217 McGowan, Margaret 32, 160 Mead, George R.S. 132, 134, 137, 254, 302, 314f., 317 Mechthild von Magdeburg (Zisterzienserin) 140, 144, 182 Melchior Ambach (Pfarrer) 43, 46, 51–61, 64, 66f., 95, 178 Ménard, Léon 199 Ménestrier, Claude-François 100, 102–108, 109, 110–113, 146, 188, 326 Mertens, Volker 33 Meunier, Etienne 123 Michal 89, 181 Michel de Creney (Bischof von Auxerre) 332f., 335 Mignet, Abbé 191 Miller, James 270 Milles, Gibier (Kanoniker in Sens) 329 Minotaurus 87, 106, 294, 299, 300–302, 320, 323 Miriam (= Maria, Schwester Aarons und Moses) 49, 54, 58, 61f., 66, 71, 81, 95, 109, 280, 285, 287, 301f., 326, 381, 383 Moreau de Mantour, Philibert Bernard 114 Moses 90, 104, 109, 287 Mourey, Marie-Thérèse 33, 44 Müller, Reinhold 152

Nero 105 Neumeier, John 145f. Nevile, Jennifer 33, 155 Nicéphoros Grogoras (Geschichtsschreiber) 93 Nicolas de Clamanges (Rektor der Sorbonne) 194 Nicole Rousselet (Leutnant an dem Bailliage von Auxerre) 364 Nicole Thibaud (Procureur Général am Parlament von Paris) 368, 369f. Nietzsche, Friedrich 125, 127–130, 323 Nikolaus von Lyra (Theologe) 60 Nitschke, August 34 Octavio Accoromboni (Bischof von Fossombrone) 188 Odard Henniquin (Kanoniker in Auxerre) 238 Odo (Eudes) de Sully (Bischof von Paris) 104, 109, 113, 119, 121, 169, 349 Oger (Kanoniker) 181 Olivier de la Hure (Kanoniker in Sens) 348 Opoix, Christophe 198, 199 Ortigue, Joseph de 330 Osborn, Max 42, 56, 62 Ovid 300, 319 Pallavicino, Pietro Sforza 162 Paris de Grassis (Päpstlicher Zeremonienmeister) 388 Paulus 73, 130, 271 Parvillez, Alphonse de 141 Pécour, Louis 99 Perry, Claude (Kanoniker in Chalons-surSâone) 196f. Petermann, Kurt 44, 64, 125 Petrarca (Humanist) 300

429

Personenregister Petrus Berchorius (Theologe) 300 Philibert de Beaujeu (Bischof von Bethlehem) 378 Philipp II. von Spanien (König) 162 Philipp des Essarts (Bischof von Auxerre) 238 Philipp Melanchthon (Reformator) 46, 61 Philipp von Baden (Markgraf ), 52 Philippe Cotet (Kanoniker in Auxerre) 355 Philon 140 Pierre Aymon (Bischof von Auxerre) 238 Pierre de Longueil (Bischof von Auxerre) 238, 339, 354f. Pierre Foucard (Konsul von Nîmes) 200 Pierre Lizet (Präsident des Pariser Parlaments) 375 Pierre Tenon (Kanoniker in Auxerre) 354 Pierre Tribolé ( Jurist in Auxerre) 364 Pierre Viret (Reformator) 68, 82, 95 Pirro, André 30 Pius II. (Papst) 159 Platon 102, 105, 263–265, 270, 272–276, 278, 280, 301, 323 Plotinus 266 Plutarch 299f. Pompilius (Polnischer König / Fürst) 66 Pont, Graham 264 Pontal, Odette 339 Porphyrius 266 Priscianus 277 Proklos 270f. Prynne, William 120 Pseudo-Dionysius 268, 271–273, 281, 301 Ptolemäus 277 Pulver, Max 125, 131 Pure, Michel de 100–102, 113 Pythagoras 109, 263, 268, 276f., 291

Quantin, Maximilien 219, 228 Rahner, Hugo 125, 131, 138–140, 142f., 145, 152f. Rahner, Karl 145 Ratzinger, Joseph 123f. Rauwel, Alain 312 Reginald Pole (Kardinal) 163 Remigius von Auxerre 236, 278, 293 Revel, Jacques 24 Rhotarius (Kleriker) 115 Richard, Abbé 108 Richard von St. Viktor 273, 286 Robert de Courson (Päpstlicher Legat) 169 Robert de Fontaine (Kanoniker in Sens) 347 Rock, Judith 99 Röcke, Werner 9, 33 Rohmann, Gregor 35, 124, 193, 266, 290, 303 Rokseth, Yvonne 30, 152 Roque, Antoine de la 114f. Rossel, Lucile 146 Ruckert, Felix 146 Ruel, Marianne 11, 35, 43, 95 Sachs, Curt 16, 30, 149, 152, 192 Saftien, Volker 34 Sahlin, Margit 141 Salimbene von Parma (Franziskaner) 209 Salmen, Walter 10f., 31, 180, 185, Salome 29, 35, 48, 50, 54, 58, 65, 71, 77, 79, 93, 185–187, 201, 350 Salomo 71, 280, 281, 285, 287 Sapin, Christian 220 Sarasin, Philipp 24 Saul 71

430 Anhang Scipio Aemilianus Africanus 267 Schneider, Helge 17 Scholz, Uwe 146 Schopenhauer, Arthur 129 Schulz, Eduard 131 Schulze, Hendrik 387 Sébald Büheler (Straßburger Stadtschreiber) 157 Sebastian Brandt (Humanist) 46 Sedulius 300 Sequeira-Prabhu, Ronald 145 Shakespeare 165 Shawn, Ted 128 Shelton, Richard 297 Sicard von Cremona (Liturgiker) 22, 279, 284–288, 290, 301f., 309 Sigismund I. (Kaiser des HRR) 147 Silen, Karen 33 Singer, Milton 17 Sixtus IV. (Papst) 227 Sokrates 51, 105 Sophokles 265 Sparti, Barbara 32 Stefano Guazzo ( Jurist) 165 Stephan Gerbaud (=Gerbault, Kanoniker in Auxerre) 358f. Stollberg-Rilinger, Barbara 18 Stumpfl, Robert 140 Suidas 107 Symmachus 270 Tabbagh, Vincent 312, 340, 344 Tarbé, Theodore 295, 297, 325 Theseus 87, 106f., 136, 235, 253, 264, 294, 298–303, 319f. Thibauld Baillet (Präsident des Pariser Parlaments) 238 Thierry von Chartres 275, 277 Thiers, Jean-Baptiste 119–122

Thoinot Arbeau (Anagramm von Jehan Tabourot, Kanoniker) 24, 31, 44, 89–91, 94–96, 100, 166f., 327f. Thomas Becket 207 Thomas Chesnau (Verleger) 44, 88 Thomas la Plotte (Dekan des Domkapitels von Auxerre) 238, 341, 354f. Thomas Naogeorg (Reformator) 59 Thomas von Aquin (Theologe) 88, 318 Tillich, Paul 129f. Tremaud, Hélène 262 Tristan de Salazar (Erzbischof von Sens) 214, 229, 231f., 342, 344, 349 Tristan de Toulongeon (Gouverneur von Auxerre) 313, 360 Turner, Victor 26, 39, 302f., 312, 322f. Ulrich Zwingli (Reformator) 41, 46, 52, 60, 95, 344 Van Baaren, Theodorus 131, 134–138, 142, 149, 152f. Van Gennep, Arnold 26, 302f., 322 Varenius (Kleriker in Sens) 278 Velten, Rudolf 9 Villard de Honnecourt (Baumeister) 294 Villetard, Henri 187, 261, 348 Virgil 270, 300 Visé, Donneau de 114 Vitus 72, 190, 192 Vivault (Kleriker) 160 Vogler, Gereon 125, 139, 146, 152 Vöhler, Martin 298 Walter, Silja 149 Weber, Max 29 Wéry, Anne 35, 43f., 94 Wetherbee, Winthrop 275

431

Ortsregister Wigman, Mary 128–131 Wilhelm Durandus (Liturgiker) 22, 279, 287f., 290, 323, 357f., 378, 380 Wilhelm von Auxerre (Liturgiker) 22, 279, 285f., 289f., 306, 326 Willibald Pirckheimer (Humanist) 193 Willibrord 190 Wolfram, Richard 140 Woodward, Kathryn 253, 317, 323 Wosien, Bernhard 146 Wosien, Maria-Gabriele 146f.

Wright, Craig 203, 253, 255, 262, 293, 295–297, 301, 304, 306, 309, 311, 320f., 350 Ythier Roy ( Jurist) 364 Zakharine, Dmitri 29 Zellmann, Ulrike 254, 262, 305, 317, 319, 359 Zimmermann, Julia 11, 16, 33 Zur Lippe, Rudolf 29, 192 Zyprianus 55

Ortsregister Accolay 234 Agen 121 Ägypten 57, 84, 109, 111, 133, 136 Ainay 74 Aix-en-Provence 121 Alet 121 Alsfeld 185 Altenburg 42 Amboise 206, 232, 316 Amiens 182, 233, 290, 292 Angers 118, 185, 369f. Antwerpen 44, 88 Aragon 159, 165 Arras 211, 292, 296 Ascona 130f. Athen 271, 299 Augsburg 46, 49, 157 Australien 133 Autun 115f., 121, 279 Auxerre (Diözese) 38, 129, 204, 206, 240, 338–341, 361 Auxerre (Saint-Etienne) 10, 13, 16, 19, 21, 23, 26–28, 38f., 118f., 137, 142, 149,

152f., 203, 205, 219–222, 224, 226, 228, 233–240, 253f., 256–264, 278f., 283, 290, 295, 298, 301–315, 319, 321f., 324f., 328, 332–338, 342, 345f., 351, 353–365, 368–372, 374, 376, 378–384, 386–389 Auxerre (Saint-Germain) 216–218, 222, 278, 291, 293f., 379 Auxerre (Stadt) 10, 13, 27, 38f., 98, 116, 136, 140, 145, 153f., 181, 199, 202–204, 206–212, 216–219, 222, 231, 240, 253–257, 259, 262–264, 277f., 290, 292, 294f., 301–306, 308, 312f., 315, 318, 324, 330, 333, 336f., 339, 353–356, 359f., 362–365, 367f., 370–373, 376–378, 380f., 383 Avignon 121, 146, 170, 173, 238, 300 Azincourt 210 Baden-Durlach 70 Basel 163, 173–175, 177, 180, 206, 311, 343 Bayeux 233, 292

432 Anhang Beaujeu 84–86, 378 Beaune 258 Beauvais 108, 288 Beauvoir 234 Benediktbeuren 185 Bentheim-Tecklenburg 69 Berlin 26, 33, 128 Besançon 384, 388 Bildein 9 Bischesheym 52 Blois 90 Böhmen 134, 165 Bologna 205, 228, 232, 239f. Boulogne-sur-Mer 209 Bourges 121, 174, 176, 205, 227f., 339, 344 Bray-sur-Seine 230 Breisach 193 Breslau 161 Brienon 214 Burgund 38, 84, 114, 156, 165, 201, 203–205, 208, 210f., 218, 221, 240, 313, 328, 360, 378 Caen 292 Cambrai 279, 286f., 306, 326, 334, 336 Caudebec 191 Châlons-sur-Marne 121, 233 Chalons-sur-Sâone 196f. Chantilly 377 Charmoy 234, 374 Chartres 39, 120, 225f., 233, 240, 264, 272, 274–277, 279, 282, 288, 291– 298, 300f., 321f., 340, 342 Chemilly 234 Chichery 234 China 133 Chiny 190 Chivres 234

Clermont 111, 121 Cravant 234 Crecy 315 Cremona 284 Cuenda 188 Darmstadt 128, 130 Delos 299 Deutschland 19, 30f., 125, 127, 129, 132, 139, 144, 146f., 175 Dijon 114f., 122, 166, 209, 367 Dresden 129, 192 Düsseldorf 143, 145 Echternach 145, 152, 189f. Eger 157 Eglény 234 Eifel 190 Eisleben 61 England 107, 120, 134, 147, 163, 165, 175, 208, 210, 280 Erfurt 157 Esslingen 42 Étampes 229, 231 Evreux 115, 117f., 121 Ferrara 156, 165, 173 Florenz 165, 191 Fossombrone 188 Frankfurt 51, 53f., 56, 157, 186 Frankreich 14, 20, 30, 35, 43, 67f., 73, 82f., 96f., 99f., 103f., 107, 110–114, 119, 121f., 125–127, 141, 144, 146, 159f., 165, 174f., 182, 186, 194, 199, 202–208, 211, 221, 223f., 227, 229, 232f., 240, 264, 272, 288, 290, 292, 294, 301f., 305–307, 315, 322, 323, 327, 335, 376, 380, 383, 388f.

433

Ortsregister Gâtinais 229 Gemmringheim 46 Genf 68, 69, 78f., 82, 206 Griechenland 77, 106, 111, 133, 136 Groningen 135f. Hall 187 Hamburg 145f. Heidelberg 31, 42, 69 Heiliges Römisches Reich 33, 67, 126, 160 Helmstadt 52 Hennegau 186 Hildesheim 183 Île de France 286, 290 Ingolstadt 42 Innsbruck 139 Italien 188f., 270, 272, 284, 288, 290– 292, 294, 377, 385 Knossos 293, 298 Köln 157, 160, 189, 291 Kölpigk 66 Konstanz 340 Kreta 299 Langres 90, 166, 225, 233, 322, 346 Languedoc 108 Laon 233, 272, 278, 322, La Rochelle 80 Leipzig 125, 132, 146 Le Puy-en-Velay 194f. Liège 173 Limoges 109, 121, 134, 197, 388 Lindry 234 Lippe 70 Loire-Gegend 207 Lucca 291

Luxemburg 190 Luzern 186 Lyon 73–76, 84, 86, 92f., 101f., 121, 163, 169f., 209, 225, 339, 344, 369 Magdeburg 69, 85, 161 Mailand 179, 189, 268 Mainz 284 Mansfeld 61 Mantua 159 Meaux 207, 340, 342, 375 Melun 207, 229 Merry 234 Metz 59, 116 Mirepoix 292 Mittelamerika 133 Monéteau 234 Mons 186 Montpellier 96 Moosburg 189 Münster 56, 72 Nassau 70 Neapel 165 Neckarbischofsheim 52 Neckarsteinach 51, 52 Neuenstadt 53, 59 Neuenstein 56, 57 Neustadt (Oberschlesien) 64 Nevers 315, 318f., 322, 340 Nîmes 199–201, 384 Nordamerika 80 Nordfrankreich 225, 228, 235, 292, 321 Nordspanien 165 Nördlingen 50 Normandie 191, 210, 332 Noslon 214 Nouvelle Calédonie 133 Nürnberg 49, 50, 157, 193,

434 Anhang Oisy 234 Orléans 121, 204, 233 Osnabrück 72, 189 Österreich 9, 139, 140, 279 Paris (Diözese) 121, 255, 261, 340, 344 Paris (Parlament) 21, 39, 108f., 205f., 208, 227, 231f., 238, 257, 259, 338, 353, 360–362, 365–367, 369f., 372–376, 378, 380, 384–388 Paris (Stadt) 16, 31, 73, 76, 82, 88, 90, 99, 101, 104, 108f., 110, 111, 113, 115, 119, 121, 134, 141, 160, 166, 169, 191, 194, 206–211, 214, 227, 232f., 236, 240, 255–258, 274, 282, 284, 293, 294, 310, 316, 340, 342, 344f., 349, 361, 365, 367, 369, 372, 375, 377, 384 Paris (Universität) 21, 175f., 194, 206, 239, 255, 272f., 286, 332, 334f., 399, 353, 376 Passau 161 Pavia 291f. Piacenza 291 Parly 234 Pforzheim 42, 69 Poitiers 90, 166, 261, 282, 315, 326, 328, 348, 350f. Pontremoli 291 Porto (bei Mantua) 159 Portugal 108, 110, 112, 123, 188, 389 Pourrain 234 Provence 108, 110 Provins 198f., 229, 347f., 384, 388 Prüm 190 Racine 234 Regensburg 279, 280 Reichenbach 66 Rhein-Mosel-Gebiet 35, 189

Reims 121, 179, 211, 233, 272, 282f., 290–292, 381 Rennes 317 Rodez 224 Rom 51, 65, 78, 107, 111, 133, 158, 162, 170, 208, 227, 267, 283, 291f., 307, 355, 377 Rouen 115f., 171, 173, 191, 272, 316f. Roussillon 112f., 389 Sachsenhausen 51 Saint-Brieuc 317 Saint-Bris (Saint-Bry) 211, 361, 364 Saint-Julien 214 Saint-Malo 121 Saint-Omer 292 Saint-Quentin 292 Saint-Saphorin 369 Saint-Symphorien 101 Sainte-Oppurtune 108 Salins 388 Saumur 69 Schellenwalde 64 Schweiz 68, 125, 130, 139 Semur 186 Senlis 233, 370 Sens (Diözese) 38, 204, 207, 234, 338, 340, 388 Sens (Kirchenprovinz) 39, 121, 168, 176, 206–209, 211f., 226, 240, 261, 278, 291f., 294, 318, 338–340, 344f., 353, 361, 371, 379, 381 Sens (Saint-Etienne) 13, 19, 23, 26–28, 38f., 116, 154f., 181, 202f., 205, 213– 215, 219, 222, 224, 228–233, 239f., 253f., 258, 260–264, 278f., 290, 292, 295–298, 301–303, 321, 324–332, 335–338, 346–351, 367, 379–384, 386, 388

435

Ortsregister Sens (Stadt) 10, 13, 38, 153, 198, 203f., 207f., 210–215, 218f., 222, 228, 230, 232, 240, 254, 257f., 272, 277f., 325, 330f., 333f., 348, 388 Sens-Auxerre (Diözese) 207, 209 Sevilla 32, 134f., 140, 145, 152, 189f., 201, 274, 284, 387, Sitten 139 Soest 130 Soucy 208 Spanien 104, 108, 110, 112f., 123, 134, 162, 188, 389 Speyer 157 Stockholm 28 Straßburg 14, 52, 60, 69, 157, 193, 206 Süddeutschland 279, 292, 321 Südfrankreich 110, 123, 170, 188, 288 Tirol 187 Tiron 282 Toulouse 111, 121, 292 Treffelhausen 193 Trévoux 101

Trient 38, 83, 86, 127, 155, 159, 161–163, 166–168, 177–180, 338, 382 Trier 157, 173, Troyes 176f., 234, 339f. Ulm 157 Uppsala 141 USA 129 Utrecht 63, 173 Venedig 158, 165 Versailles 99 Verviers 190 Vienne 170f., 173, 225, 288, 318f., 324 Vortlage 69 Wied 42, 69 Wien 102, 140, 187 Wittenberg 47, 49, 61 Worms 157 Yonne (Département) 207, 209, 216 Zürich 41

SYMBOLISCHE KOMMUNIK ATION IN DER VORMODERNE STUDIEN ZUR GESCHICHTE, LITERATUR UND KUNST HERAUSGEGEBEN VON GERD ALTHOFF, BARBARA STOLLBERG-RILINGER UND HORST WENZEL

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