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German Pages 200 Year 2021
Reinhard Bachleitner Die Vernissage
Image | Band 192
Reinhard Bachleitner, Dr. Mag. Professor (Emeritus) am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie (Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaft) an der Universität Salzburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind empirische Kultursoziologie sowie empirische Methoden und Methodologie in den Sozialwissenschaften.
Reinhard Bachleitner
Die Vernissage Ritual und Inszenierung. Eine dispositiv-analytische Annäherung unter Mitarbeit von Wolfgang Aschauer und Thomas Steinmaurer
Gefördert durch die Stiftungs- und Fördergesellschaft der Universität Salzburg
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Inhalt
Vorwort ......................................................................9 1.
Einleitung.............................................................. 11
2.
Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung ............................ 13 2.1. Streiflichter in die Sozialgeschichte der Vernissage zwischen Konstanz und Wandel ......................................... 13 2.2. Zur theoretischen Anbindung der Vernissage an gesellschaftlich-ästhetische Entwicklungen .......................... 18 2.3. Der methodische Rahmen: Konzept der Dispositivanalyse ............... 25 3.
Zur Methodik und zum methodologischen Vorgehen................... 33
4.
Zur gesellschaftsbezogenen Kontextualisierung der Vernissage als gesellschaftliches Ritual .......................................... 4.1. Strukturen von Vernissagen und das atmosphärische Potential ......... 4.2. Die Funktionen von Vernissagen........................................ 4.3. Formen von Vernissagen ...............................................
37 40 42 44
5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.
45 45 46 47 48
Kulturinstitution und Vernissage...................................... Die Vernissage im Galeriebetrieb ....................................... Die Vernissage im Museumsbetrieb..................................... Die Vernissage im Kunstmessebetrieb .................................. Anlässe für Vernissagen ...............................................
6. Die Vernissagenorte und ihre Ausstrahlung ............................ 51 6.1. Atmosphären und Atmosphärisches .................................... 53 6.2. Die Ausstellungsräumlichkeiten: Weiße Räume mit Wirkung ............. 54 7. 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6. 7.7. 7.8. 7.9.
7.10. 7.11.
Die Vernissage als Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen ......................................... 57 Der Künstler im Eröffnungsritual zwischen Zwang und Eitelkeit ......... 59 Auftritt des Vernissagen-Publikums: Sozialstruktur,Besucherverhalten, Besucherurteile ..................... 62 Besucherempfinden und Besucherurteile............................... 67 Die Vernissage als Ort der »Glücksfindung«: Affekte und Atmosphären.. 67 Die Kunstobjekte und Atmosphären als Affektauslöser.................. 69 Atmosphären und Affektproduktion im Eröffnungsritual ................ 70 Der Käufer zwischen Profilierungssucht und Reservierungsabsichten .... 71 Die Sammler .......................................................... 72 Die Auftritte der Kunst- und Kulturfunktionäre: Galeristen, Museumsdirektoren, Kulturpolitiker und ihre Rollen im Eröffnungsritual ......................................... 74 Die Kuratoren: Ausstellungsmacher und Inszenierungsexperten ......... 75 Die Vernissagenredner und ihre Rede im Eröffnungsritual: Vom wahrgenommenen Bild zum gesprochenen Bild und wieder zurück ......................................................... 78
8. 8.1. 8.2. 8.3. 8.4. 8.5. 8.6.
Zur Typologie von Eröffnungsreden ................................... Die kunsthistorische orientierte Rede .................................. Die kunsttheoretisch, analytisch orientierte Rede....................... Die biographisch ausgerichtete Eröffnungsrede ........................ Die kooperative, gemeinsame Eröffnungsrede .......................... Die dilettierende Rede zur Eröffnung ................................... Die bestellte und gekaufte Eröffnungsrede .............................
85 85 86 87 87 88 88
9. 9.1. 9.2. 9.3.
Die Vernissage als Inszenierung und Event ........................... Die Vernissage als sozial-ästhetischer Inszenierungsakt ................ Die Vernissage als Inszenierungsort für Ankäufe ....................... Die Vernissage als Performance........................................
95 95 97 98
9.4. Das Ausstellungsplakat und die Einladungskarte als Ästhetisierungsobjekt und Erinnerungspunkt ....................... 98 10.
Die mediale Berichterstattung über die Vernissage ................... 105
11. 11.1. 11.2. 11.3. 11.4. 11.5.
Zur Erneuerung und Transformation eines Rituals: ein Ideenpool für Neugestaltungen .................................................. 109 Die partizipative Vernissage ........................................... 110 Die informative Vernissage ............................................. 111 Die provokative Vernissage ............................................ 112 Die inszenierte und eventisierte Vernissage ............................ 113 Die Vernissage am »dritten Ort« – die Zukunft?......................... 114
12.
Der Vernissagentourismus ............................................ 117
13. Medien und Vernissage ............................................... 119 13.1. Die Zeitschriften zum Ausstellungs- und Eröffnungsgeschehen: »Vernissage«................................... 119 13.2. Das Vernissagen-TV ................................................... 120 14. Die Vernissage als globales Ritual Anmerkung zum Vergleich im interkulturellen Kontext ..................123 15.
Resümee.............................................................. 129
Methodenexkurs Zum Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen und Dispositivanalyse .......................................................... 137 Vorbemerkung .............................................................. 137 1. Ausgangslage ........................................................ 138 2. Die Bedingungen für den Vergleich und die Auswahl der Verfahren ...... 142 3. Die Inhalte des Vergleichs .............................................143 4. Einige Folgeüberlegungen aus dem Vergleich ........................... 161
5. 6.
Grenzen und Fallstricke der beiden Methoden .......................... 172 Wissenssoziologische Einordnung des Methodenvergleichs und die Methodenwahl für die Vernissageanalyse ....................... 175
Literatur .................................................................. 183
Vorwort
Mit der vorliegenden Studie wird eine empirisch ausgerichtete, kultursoziologische Analyse zum Phänomen der Vernissage als (alltags-) kulturelles Ereignis vorgelegt. Der Zugang strebt eine Integration von kunsttheoretischen und kunstsoziologischen Inhalten an. Dies stellte nicht nur an die Konzeption einer solchen Studie entsprechende Anforderungen, sondern erwies sich auch als eine Herausforderung, die Bereitschaft und Mitarbeit von Experten aus diesen Fachgebieten zu erreichen. Eine breite Annäherung an das Thema mit ihren verschiedenen inhaltlichen, theoretischen und methodischen Zugängen ist jedoch gerade für ein so traditionsreiches und differenziertes soziales Ereignis wie die Vernissage geboten. Ein Dank gilt nun all jenen, die einen Beitrag zur Entstehung der Studie geliefert haben: die befragten und beobachteten Vernissagenbesucher, die Galeristen und Kuratoren, die Mitarbeiter bei einzelnen empirischen Teilprojekten, deren Aktivitäten sich insgesamt über mehrere Jahre erstreckt haben, sowie all jenen, die Informationen und ihre Erfahrungen zu und über das Phänomen der Vernissagen lieferten. Sie alle namentlich hier zu nennen, ist aufgrund der nationalen und internationalen Verteilung kaum zielführend, ihnen allen gilt ein besonderer Dank für die Bereitschaft und die oft intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Themenaspekten. Ein besonderer Dank gilt aber vor allem Thomas Steinmaurer, der das Manuskript einer umfassenden stilistischen Überarbeitung unterzogen
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Die Vernissage
hat, sowie Wolfgang Aschauer, der im angeschlossenen Methodenexkurs die Strukturgleichungsmodelle bearbeitet hat. Ebenso ist der Abteilungsreferentin Ulrike Klopf vom FB Politikwissenschaft und Soziologie/Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaften der Universität Salzburg für ihre umsichtige und wertvolle Arbeit zur Vorlage eines druckfertigen Manuskripts zu danken. Salzburg, im Oktober 2020 Reinhard Bachleitner
1. Einleitung
Wer sich auf die Suche nach Informationen über das soziale und traditionsreiche Phänomen und Ereignis »Vernissage« begibt, ist verwundert, wie wenig die Kunstsoziologie – die hierfür als zumindest auch zuständig erachtet werden kann – im deutschsprachigen Raum dazu anbietet. Weder im Einführungswerk von Wick/Wick-Kmoch (1979) noch in Gerhards´ Sammelband (1997) zur Kunstsoziologie bzw. Hausers Soziologie der Kunst (1988) findet sich, abgesehen von einigen Verweisen, etwas Substantielles zu diesem Eröffnungsritual, welches bis heute den aktuellen Galerie- und Museumsbetrieb begleitet. Auch in den jüngsten Buch-Publikationen zur Kunstsoziologie wie etwa bei Danko (2012), Smudits u.a. (2013) ist die Vernissage kein zentrales Thema. D.h. die Vernissage als sozial offene und leicht zugängliche Informationsplattform sowie als kommunikativer Treffpunkt mit zahlreichen Funktionen hat in der Literatur eine wenig beachtete Rolle und kommt als soziales Handlungsfeld letztlich nur marginal vor, auch wenn einige Zeitschriften – wie die »Vernissage. Magazin für aktuelles Ausstellungsgeschehen« oder »Vernissage die Zeitschrift zur Ausstellung« – das Thema in das Zentrum rücken, dazu allerdings einen anderen Zugang wählen. Lediglich von Hans Peter Thurn (1999) liegt eine kulturhistorisch ausgerichtete und zwischenzeitlich längst vergriffene Monographie zu dieser Thematik vor.1 Auch das jüngst erschienene Buch des Kunsttheoretikers Wieland Schmied mit dem Titel »Eröffnungen« (2011), das rund
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Das bereits 1991 erschienene Buch von Ingeborg Hörmann »Die Vernissage« bringt für unsere Fragestellungen kaum einen Erkenntniszuwachs.
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Die Vernissage
40 von ihm gehaltene Vernissagenreden mit stark kunsthistorischen Bezügen zur jüngeren österreichischen Kunstgeschichte nach 1945 wiedergibt, beinhaltet nichts über (kultur-)soziologische Aspekte einer Vernissage. Es dürften wohl die Allgegenwärtigkeit und letztlich auch die Alltäglichkeit des sozialen Ereignisses der Vernissage sein, die dazu führten, dass sie selbst nur allzu selten zum Zentrum der Analyse und inhaltlichen Auseinandersetzung wurde. Sozial Gewöhntes und Gewohnheiten werden eben selten hinterfragt. Ziel des vorliegenden Bandes soll es sein, aus einer empirisch orientierten kultur- und kunstsoziologischen Perspektive das Phänomen der Vernissage in das Zentrum zu rücken, das soziale Ereignis als solches zu erfassen und in seinen vielfältigen Strukturen und Funktionen zu skizzieren und zu analysieren. Einblicke und erste Erklärungsansätze zum (Besucher-)Verhalten, aber auch Prognosen zur Weiterentwicklung werden in diese Beschreibungen und Analyseansätze mit eingebunden. Bevor wir uns diesen Zielsetzungen näher zuwenden, gilt es jedoch zu klären, wie man sich methodisch an diese vielfältigen Fragestellungen heranwagen kann, um sie annähernd beantworten zu können. Eine dispositiv-analytische Perspektive wird dabei als methodologischer Rahmen gewählt und in einem im Anhang angefügten, vergleichenden Methodenexkurs vorgestellt.
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
Wesentlich für das Verständnis und die Entwicklung des »ästhetischen Dispositivs« Vernissage sind sozialhistorische Einblicke sowie einige Anmerkungen zur Einbettung des Phänomens Vernissage in gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Im folgenden Abschnitt sollen daher knappe Einblicke in die Historie der Vernissage sowie in ihre strukturbezogene Einbindung in gesellschaftlich-ästhetische Entwicklungsprozesse gegeben werden, wobei hier auf die heute allgegenwärtig anzutreffenden Ästhetisierungsvorgänge Bezug genommen wird. Insgesamt handelt es sich dabei um Aspekte, die auch für die spätere vergleichende Analyse der Vernissage in verschiedenen kulturellen Räumen eine erste Grundlage darstellen sollen.
2.1.
Streiflichter in die Sozialgeschichte der Vernissage zwischen Konstanz und Wandel
Ursprünglich luden Künstler – zeitlich zu verorten an der Schwelle zur Moderne – vor allem Maler in London und Paris, ihre Künstlerkollegen und Freunde ein, um ihren Bildern eine »Firnis« zu geben, sie also fertigzustellen. Erst später folgten weitere Kreise von Kunstinteressierten, die dazu geladen wurden, sodass aus einem Künstlertreffen ein sozial-kommunikatives Treffen in den Pariser Salons wurde. Bald wurde dieses Zeremoniell auch von Galerien, Museen und sogar Welt-
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Die Vernissage
ausstellungen als Eröffnungsritual übernommen – dies nicht zuletzt auch deshalb, da man auch die kommerziellen Möglichkeiten und Vorteile solcher Eröffnungen erkannte. Um den im Laufe der Zeit beginnenden Massencharakter solcher Veranstaltungen zu vermeiden, ließ man sich bald Eröffnungsvarianten wie Preview, Apero etc. einfallen, um den Sammlern, Förderern, Leihgebern eine entsprechend »exklusive« soziale Atmosphäre anbieten zu können, wenngleich diese auch für unterschiedlichste Selbstinszenierungen benutzt wurde. Sensationen und Skandale wurden und werden auch heute immer wieder auf Vernissagen inszeniert, und die Anwesenheit des Künstlers war und ist dabei zentral. Der verpflichtende Auftritt der Künstler galt dabei gleichsam als Garant für Authentizität und erweist sich bis heute als ein durchgehend zentral integriertes Moment. Zudem hat sich der Stil, sich für diesen sozialen Event zu kleiden, also der Dresscode – ehemals war die Vernissage ein Laufsteg für Modebewusste – deutlich gewandelt und ist heute wesentlich offener, wenngleich stets abhängig von der veranstaltenden Institution und dem Ort einer Ausstellungseröffnung. Auch die Ausstellungsorte, ehemals umsichtig ausgesuchte Nobelorte, finden heute vielfach neue Heimstätten. Abbruchreife Gebäude oder Garagen in Hinterhöfen, aufgelassene Industriehallen oder verwaiste Fabrikanlagen bieten ein Ambiente, welches man sonst nicht aufsucht und geben Kunstwerken eine spezifische Aura, in der sie wirken können. Um der oftmals erkennbaren Gleichförmigkeit und Langweile im Ablauf des Vernissagen- und Ausstellungsgeschehens zu begegnen, trifft man immer wieder auf (Mal-)Aktionen, Happenings, Environments, oder auf noch zu vollendende Installationen, heute auch Videos zum Künstler und seinem Schaffensprozess der Objekte. Inszenierungs- und Gestaltungsmittel werden in den Veranstaltungsprozess eingebaut, um für entsprechende Aufmerksamkeit und Abwechslung auf Vernissagen zu sorgen. Auch nach der Ära des Aktionismus sind viele dieser Elemente Teil der speziellen sozialen Rituale, wenngleich in gedämpfter Form, erhalten geblieben.
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
Zudem gehören Eröffnungsreden und einführende Worte in die »Kunstwerke« zum feststehenden Ablauf derartiger Events. Sie waren von Anfang an Bestandteil von Vernissagen, wenngleich sie zu Beginn bevorzugt von Künstlern selbst gehalten wurden. Zum einen waren die Ateliers die ersten Orte für die Vernissage, sind doch die Künstler die Einzigen, die über ihre eigenen Ideen, Beweggründe, Empfindungen und Techniken, die zu den Bilderinhalten führten, kompetent berichten konnten. Außenstehenden bleiben derartige Zusammenhänge weitgehend verschlossen. So finden wir bei Thurn (1999, 115) dazu einen entsprechenden Hinweis: »Spätestens von der Renaissance an, seit Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer, kulminierend seit William Hogarth oder Joshua Reynolds, vertraten viele von ihnen die Ansicht, allein der Schöpfer könne und dürfe sich angemessen zum Werk äußern. Allen anderen fehlten die Kenntnisse und sie seien daher klug beraten (…) ihre ›Lobestrompete‹ schweigen zulassen«. Auch die Form der Konsumation anlässlich einer Ausstellungseröffnung hat sich wesentlich gewandelt. Waren es ursprünglich umfangreiche Buffets mit ausreichendem Getränkeangebot oder einem opulenten Essen, zu denen (vom Galeristen) meist nach der Eröffnung geladen wurde, so findet sich heute ein meist bescheidenes Getränkeangebot und dies in abgegrenzten Räumen, um die Kunstwerke zu schützen. Zu mitunter angesetzten Essen werden nur einige wenige Auserwählte und meist nur bei spezifischen Anlässen (Festspielausstellung, Jubiläen etc.) geladen. Von dem, was Thurn (1999, 105-112) umfassend und bevorzugt sarkastisch in seinem Kapitel »Das Ragout des Firnistages« schildert, wo sich das Sehvergnügen mit Gaumenfreuden paart, ist heute nur noch wenig erkennbar. Wenngleich sich so manches gewandelt hat und auch bewusst verändert wurde, hat sich eine Grundstruktur des Vernissagezeremoniells mit spezifischen Elementen und ihren Funktionen über die letzten zwei Jahrhunderte erhalten, die in ihrer Konstanz und ihrem Wandel kurz skizziert wurden. Zur ausführlichen Kulturgeschichte sei auf Thurn verwiesen. Wie nun aktuell das Geschehen einer Vernissage phänomenologisch beschreibbar ist, sollen die folgenden Abschnitte zeigen, wobei hier ins-
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gesamt zwei unterschiedliche Entwicklungslinien erkennbar werden: Während gesamtgesellschaftlich ein Schwinden der Rituale diagnostiziert wird (vgl. Han 2019), kann man im Prozess der Ritualisierung bei Vernissagen eher nur von einem Wandel sprechen. In den kulturellen, meist staatlich finanzierten Hochburgen der Kunstszene (Museen etc.) ist ein Festhalten und eine differenzierte Verfestigung erkennbar; in dem ökonomisch meist schwächer gestellten privaten oder nur geförderten Galeriesektor ist hingegen ein Wandel der Inszenierung von Vernissagen sichtbar. Von den Galeristen wird – bevorzugt unter Beteiligung und Einbindung der präsentierten Künstler, also wie ehemals – die Ausstellungseröffnung abgewickelt (siehe Vernissagentypologie in diesem Band). Hier ist die Vernissage mitunter das eigentliche Ziel der Ausstellung, gleichsam der ökonomische Kulminationspunkt, da die Öffnungszeiten aus betriebsökonomischen Gründen stark reduziert werden müssen. Die Präsentation der Kunst verlagert und zentriert sich auf das Eröffnungsritual und ist zudem kostensparend: Ausgaben für Eröffnungsredner und für das Begrüßungszeremoniell fallen weitgehend weg. So zeigt sich, im Gegensatz zur These von Byung-Chul Han (2019, 13ff)1 , der vom Verschwinden der Rituale und der Erosion 1
Auffällig in der aktuellen Diagnose vom »Verschwinden der Rituale« ist, dass das Ritual angeblich zu einem »anstößigen Wort« geworden ist, und es sei »…ein Ausdruck für leeren Konformismus; wir sind Zeugen einer allgemeinen Revolte gegen jede Art von Formalismus, ja gegen Form überhaupt. Das Verschwinden der Symbole verweist auf die zunehmende Atomisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig wird die Gesellschaft narzisstisch. Der narzisstische Verinnerlichungsprozess entwickelt eine Formfeindlichkeit. Objektive Formen werden verworfen zugunsten subjektiver Zustände. Die Ich-Libido kann an sie nicht andocken. Rituale erzeugen eine Selbst-Distanz, eine Selbst-Transzendenz, sie entpsychologisieren, entinnerlichen ihre Akteure.« (Han 2019, 15). Begründet wird diese Diagnose mit dem Verweis auf den Verlust bzw. die Ablösung von symbolischen Handlungen, die ja essentiell für das Ritual sind: »Das Symbolische als Medium der Gemeinschaft verschwindet«, so Han (2019, 14). Im Ritual der Vernissage findet sich nun diese hingegen verstärkt wieder. Das Verbundensein durch das gemeinsame Kunsterlebnis und Kommunikationserlebnis wird u.a. zum Symbol des Vernissagenbesuchs. Eine Folgeerscheinung des Verschwindens soll es auch sein, dass die symbo-
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
der Gemeinschaft spricht, dass die Vernissage gerade jene Elemente aufgreift, die auf gesellschaftlicher Ebene eher zum Verschwinden der Rituale beitragen. Das Symbolische als Medium der Gemeinschaft erlebt bei Vernissagen ebenso wie die symbolische Wahrnehmung – beides Gründe die zum Verschwinden der Rituale führen sollen – in der Vernissage eine deutliche Belebung und festigt ihren Weiterbestand. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass die Vernissage heute wie auch ehemals ein zentrales Ziel der Ausstellung darstellt, in welchem ökonomische, soziale, imagebildende und informationsstrategische Aspekte gebündelt präsentiert werden, da sowohl Galerien wie auch privat geführte Museen mit ihren heute oftmals eingeschränkten Öffnungszeiten beim Eröffnungsritual das anbieten, was sie aus betriebswirtschaftlicher Sicht sonst nicht leisten können. Gezeigt werden soll u.a., dass das, was sich gewandelt hat, vor allem die strukturellen Rahmenbedingungen (Ökonomisierung und Mediatisierung) betrifft sowie das soziale »Korsett« beim Besuch von Vernissagen sind, lische Wahrnehmung immer mehr zugunsten der seriellen Wahrnehmung abgelöst wird; ein Aspekt, der letztlich der Vernissage entgegen kommt. »Die serielle Wahrnehmung als fortgesetzte Kenntnisnahme des Neuen verweilt nicht. Vielmehr eilt sie von einer Information zur nächsten, von einem Erlebnis zum nächsten von einer Sensation zur nächsten, ohne je zum Abschluss zu kommen« (Han 2019, 15). Dies findet der Vernissagenbesucher in den heute so beliebten Vernissagenabenden mit ihren abgestimmten und jeweils zeitversetzten Eröffnungsritualen. Es ist gerade die Gleichzeitigkeit, eine Vielzahl von Ausstellungen zu erleben, sie bietet die Möglichkeit derartiger Wiederholung des Rituals. Insgesamt widerspricht zwar diese Diagnose von Han den empirischen Beobachtungen und Wahrnehmungen, wenngleich sich die von ihm angeführten Argumente (Diagnose, Ursachen und Folgen) letztlich in die Festigung des Vernissagerituals einfügen und den Bedeutungsgewinn der Vernissage unterstützen. Das von Han angegebene Ursachenpanorama für das Verschwinden trifft letztlich gerade das, was die Vernissage bieten kann. Zudem ist der Bedeutungsgewinn auch über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Galerieund Museumsbetrieb argumentierbar: Sowohl Öffnungszeiten als auch Personalressourcen, beides Faktoren, die mit hohen Kosten verbunden sind, werden reduziert und verhelfen so indirekt der Vernissage als Eröffnungsritual zum fixen Ereignis für Inszenierungen und Auftritte für eine Ausstellung. Die Rituale suchen nach neuen (neoliberalen) Wegen.
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Die Vernissage
welches zunehmend offener und freier wurde. Zudem gehen Ökonomie und Ästhetik mit Hilfe der Mediatisierung neue Verbindungen ein. Die Ästhetisierung wird zur Basis für die Ökonomisierung bei Vernissagen.
2.2.
Zur theoretischen Anbindung der Vernissage an gesellschaftlich-ästhetische Entwicklungen
Die Allgegenwärtigkeit der Vernissage in den verschiedenen Segmenten des heutigen Kunstbetriebs sowie die deutlich erkennbaren Differenzierungsvorgänge des Phänomens Vernissage lassen sich sowohl auf gesellschaftliche als auch auf ökonomische Rahmenbedingungen zurückführen. Beide Aspekte führen zur Weiterentwicklung und zu Anpassungsvorgängen des Vernissagengeschehens an die jeweils veranstaltenden Institutionen. Dieser Wandel erfolgt sowohl intern, initiiert durch die Institutionen und ihre Experten, als auch extern durch jene strukturellen Rahmenbedingungen, die gesellschaftliche Trends aufgreifen und so auf Funktion und Gestaltung des Vernissagenablaufs einwirken. Als theoretischer Rahmen für die angestrebte beschreibende Darstellung dienen uns die Analysen von Andreas Reckwitz (2012), der das ästhetische Dispositiv und den Prozess der Ästhetisierung der Gesellschaft kultursoziologisch differenziert und kulturhistorisch nachzeichnet und so ein strukturelles System auf Makroebene anbietet. Ebenso entwirft Jens Badura (2011) eine deutlich kunsttheoretisch ausgerichtete Konzeption für Ästhetisierung, wobei beide aufeinander auch Bezug nehmen. Beide Konzepte ergänzen sich insofern, als Reckwitz die Erklärung für die gesellschaftliche Makroebene geltend macht, während Badura eher die Mikroebene analysiert. Beide Ansätze wenden sich methodologisch der Dispositivanalyse zu. Bührmann/Schneider (2007, 2012) bieten hier einen Rahmen für die methodische Analyse an, die es ermöglicht, das heterogene Netz von jenen Faktoren, die im Vernissagengeschehen auftreten, zu koordinieren und dann das »Vernissagendispositiv« mit seinen wesentlichen Dimensionen zu entwickeln.
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
2.2.1.
Zum theoretischen Rahmen
Bei Reckwitz (2012), Badura (2011) sowie Bippus (2012) finden sich – jeweils im Anschluss an Foucault – theoretische Ansätze, die zur Deskription und Klärung der Bedeutung der Vernissage in ihrer aktuellen Verfasstheit herangezogen werden können. Insbesondere Reckwitz, der einen differenzierten Ansatz entwickelte, beschreibt die Entstehung einer Ästhetisierungsgesellschaft, in der das »Kreativitätsdispositiv« über drei Dimensionen dominant wird. Diese drei Dimensionen erweisen sich für die Analyse und Beschreibung des Phänomens Vernissage als ein passfähiger theoretischer Hintergrund: Die ästhetische Sozialität, die ästhetische Mobilität sowie die auffallende Aufmerksamkeitskultur gegenüber Neuem sind dabei die entscheidenden Grundstrukturen für die verstärkt stattfindenden Ästhetisierungsprozesse in spätmodernen Gesellschaften. Er leitet daraus das »Kreativitätspositiv« ab, welches für ihn der Motor für die anzutreffende »Ästhetisierungsmaschinerie« in der Spätmoderne ist und in der Vernissage als eines jener Phänomene gelten kann, das hier anschlussfähig ist. Begründet wird die Ästhetisierung der Gesellschaft mit einem deutlichen Affektmangel, der zu Sinnleere führen kann. Da weder Religion noch Politik diese Mangelsituation kompensieren können, kommt es verstärkt zu einer Ästhetisierung des Alltäglichen. Diese auch als Affektmangel beschreibbare Dynamik in der Moderne wird dabei folgendermaßen begründet: »Das Problem der organisierten Moderne – wie auch der bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts weiterhin wirksamen Kultur der bürgerlichen Moderne – besteht in ihrem systematisch produzierten Affektmangel, den die Ästhetisierungsprozesse und schlussendlich das Kreativitätsdispositiv zu beheben versprechen. Dieser Affektmangel ergibt sich insbesondere aus einer tiefgreifenden Entästhetisierung der sozialen Praktiken, und er ist ein Ergebnis der Rationalisierungsschübe beider Versionen der Moderne.« (Reckwitz 2012, 316)2 2
Diese These des Affektmangels, die u.a. auch zum Aufstieg des modernen Sports beigetragen haben soll, findet sich bereits bei Elias und Dunning (o.J.),
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Die Vernissage
Bei Badura, dessen »Ästhetisches Dispositiv« für uns als deutlich kunstphilosophisch einzustufen ist, geht es um die Verarbeitung des Wahrnehmbaren mit eben ästhetisierenden Komponenten. Wesentlich für seine Konzeption des ästhetischen Dispositivs – das er selbst als Diskussionspapier einstuft – sind vor allem die Begriffe der Ästhetik und des Dispositivs sowie das Kompositum daraus. Unter Ästhetik, wie der Begriff hier verwendet wird, versteht Badura (2011, 4) – in Anknüpfung an den Begriffsbegründer Baumgarten – »eine zwischen Erfahrung und Erfassung oszillierende Erkenntnispraxis, die es ermöglicht, sich durch Erfahrungsoffenheit auf dasjenige hin zu sensibilisieren, was im Begrifflichen ungesagt bleibt und bleiben muss, unsere Welterzeugung und -erkennung wesentlich prägt, seinerseits aber des Begrifflichen bedarf, um erfasst werden zu können. Es handelt sich bei der ästhetischen Praxis also um eine reflektierende Gestimmtheit, eine dynamische Spannung zwischen sinnlichem Widerfahren und einer konzeptuellen Befassung damit (…)«. Entscheidend für Badura ist in dieser Begriffserläuterung auch der Hinweis, dass »sinnlich« nicht das meint, wie es in empiristischen bzw. sensualistischen Modellen thematisiert wird, sondern er adressiert hier jene Erkenntnisfähigkeit, die unsere Weltwahrnehmung genau so prägt wie begrifflich-rationale Erkenntnisfähigkeit: Sinnlichkeit als Weltoffenheit gilt hier als ein Topos, der aus der Tradition der philosophischen Ästhetik stammt. Es öffnet sich damit eine Welterschließung, die einer rein begrifflich-rationalen Zugriffsweise verschlossen bleibt (vgl. Badura 2011, 5). Damit zeigen sich auch die Vor- und Nachteile für die Analyse ästhetizistischer Praktiken, die ja das Dispositiv mitbestimmen: Ästhetische Wahrnehmungen und Sichtweisen verlassen oftmals funktionale und klassische (sinnliche) Reizwahrnehmung und entziehen sich einer rationalistischen Zuwendung. Sie sind zwar erfahrbar, aber nicht erfassbar und können damit nicht für eine empirisch-operationale welche den Sport im Zivilisationsprozess umfassend beschreiben. Dieser Ästhetisierungsprozess, der auch für das soziale Feld der Freizeit gilt, hat zweifelsfrei auch das System Sport erfasst (vgl. Reckwitz.2012, 313ff).
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
Aufmerksamkeitserfassung dienen. Damit trifft das zu, was bei Nassehi/Saake (2002) als »Sedativum der Empirie« angesprochen wird. Ästhetische Praktiken sind kontingent und vermutlich auch emergent, da sie nicht aus den Eigenschaften der Beteiligten (Elemente) ableitbar und erklärbar werden. Betrachten wir vorerst also diese konstituierenden Grundstrukturen des Kreativitätspositivs, das ja als Ausdruck des Ästhetisierungsprozesses gelten kann, näher und prüfen, inwieweit es sich für die empirische Analyse des Vernissagengeschehens (des sozialen Rituals) als Dispositiv geeignet und als zielführend erweisen kann.
2.2.2.
Die Dimensionen des Kreativitätsdispositivs
Ästhetische Sozialität Die ästhetische Sozialität ist eine neue Form des Sozialen, die sich in »Verknüpfungen zwischen Subjekten, Objekten und anderen Entitäten äußert, wobei sie dann vier Instanzen und Einheiten miteinander verknüpft, nämlich Subjekte als Kreateure, ein ästhetisches Publikum, ästhetische Objekte und eine institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeiten. Dies ist das tragende Gerüst des Kreativitätspositivs« (vgl. Reckwitz 2012, 322f). Diese vier Charakteristika lassen sich zweifelsfrei auf das Phänomen Vernissage anwenden, um dieses Event treffend beschreiben zu können: die gezeigten Praktiken der KünstlerInnen als Kreativproduzenten, ein Publikum, das an der ästhetischen Aneignung von derartigen Objekten und Ereignissen interessiert ist und welches über die Kunstobjekte verknüpft wird, wobei dies alles von einem Mechanismus, bei dem es um das Management der Aufmerksamkeit geht – hier jene von Galerien oder einem Museum als Institution – gerahmt wird.
Die ästhetische Mobilisierung Innerhalb des Konstrukts des Kreativitätsdispositivs kommt der ästhetischen Mobilisierung des Einzelnen eine entscheidende Rolle zu. Es kommt zu einer Aktivierung der kreativen Instanz und zu einer Mobilisierung relevanter Praktiken als produktive Tätigkeit, wobei diese
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Produktivität auf Sinne, Zeichen und Affekte bezogen wird (vgl. Reckwitz 2012, 326). Subjekte und soziale Einheiten werden also im Rahmen von gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozessen motiviert, Kreativität zu erzeugen, und entwickeln eine Steigerungsmentalität im qualitativen wie quantitativen Sinn. Die ästhetische Mobilisierung als eine weitere Dimension des Kreativitätsdispositiv hat nach Reckwitz eine Intensivierung von sozialer Affektivität zur Folge. Dies äußert sich insbesondere über vier Aspekte: in einer kreativen Tätigkeit (Gestaltungsaktivitäten), im »ästhetischen Erleben« (= sinnlich Neues erfahren), »dem Kreativitätsobjekt selbst« sowie schließlich »den kreativen Räumen« (=Anregungsräume) (vgl. im Detail dazu Reckwitz 2012, 328f). Die skizzierten Aspekte treffen in geradezu idealtypischer Weise auf das soziale Setting einer Vernissage zu.
Aufmerksamkeitskultur des Neuen Entscheidend für Ästhetisierungsvorgänge und die ästhetische Kreativität sind schließlich Aufmerksamkeitsprozesse, denn mit einer Ästhetik des Neuen kann Aufmerksamkeit erzielt werden, und das Publikum wird als Beobachtungsinstanz gewonnen. Dabei wird Sinnlichkeit und Affektivität erzielt, um zumindest für einen spezifischen Zeitpunkt in den Wahrnehmungshorizont zu gelangen. Reckwitz differenziert hier zwischen kurzfristiger Aufmerksamkeit und langfristiger Valorisierung für das Neue (vgl. Reckwitz 2012, 331). Ästhetisierende Objekte sollen ein Ereignis erzeugen, welches die Sinne anspricht und Empfindungen hervorruft. Die Vernissage zielt nun auf diese Aufmerksamkeitsfokussierung ab, und der Zeitpunkt für die Präsentation ist ein soziales Ereignis, das (ästhetisch) Neues bemerkenswert macht und Überraschendes anbieten kann. Das erzeugte Aufmerksamkeitspotential von Vernissagen kann daher als hoch eingestuft werden. Insgesamt zeigt sich also, dass das Kreativdispositiv, wie es Reckwitz (2012, 49ff) entwickelt, Elemente aus den ästhetischen Subkulturen – hier eben dem Kunstfeld – mit einschließt und sich dem stil-
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
und erlebnisorientierten Kunstkonsum zuwendet; die dabei entstehenden Affektstrukturen bringen eine Sensibilisierung gegenüber neuen Kunstformen mit sich. Es stellt einen spezifische gesellschaftliche Ästhetisierungsweise dar. »Eine solche affektive Struktur ist auch einem Dispositiv eigen: Damit es sozial angenommen wird und sich durchsetzt, ist neben reinen Herrschaftseffekten entscheidend, dass es ein kulturelles Imaginäres aufspannt und die Teilnahme an ihr Faszination und Befriedigung, das heißt einen dauerhaften affektiven Reiz, verspricht.« (Reckwitz 2012, 51) Trotz aller Heterogenität der Elemente, die in einem Dispositiv wirken, ist dies durch eine Ordnung des Wissens koordiniert. Das Phänomen Vernissage umfasst und vereint nun zahlreiche solcher Elemente in ein Kreativdispositiv und lässt dadurch ihren gesellschaftlichen Stellenwert und ihre subjektiv-ästhetische Bedeutung bzw. Motivationskraft »erklären«: Subjektives Begehren nach Ästhetik bzw. ästhetischem Erleben und damit verbundene soziale Erlebnisse sind die dominanten kreativ-dispositiven Elemente von Vernissagen und sind wohl auch für ihre Allgegenwärtigkeit mitverantwortlich. Wenden wir uns nach diesem grundsätzlichen methodischen Zugang zu diesem Analyseansatz nun konkret dem Begriff des Dispositivs und dem Vernissagendispositiv zu.
2.2.3.
Das ästhetische Dispositiv
Fast gleichzeitig und durchaus eng aufeinander beziehbar sowie inhaltlich überschneidend wurde das »ästhetische Dispositiv« von Badura (2011) entwickelt. Damit können weitere spezifische Akzente für die Analyse des Gesamtphänomens Vernissage gesetzt werden können. Bevor dieses Konzept vorgestellt wird, ist es notwendig, das Verständnis von Ästhetik, wie es hier verstanden wird, zu skizzieren. Ästhetik ist eine Praxis des Erkenntnisgewinns im Sinne einer reflektierenden Erfassung der »Wirklichkeit«, welche sich auf zwei Komponenten stützt: den Prozess der Erfahrung und den Prozess des Erfassens; beide Prozesse sind zueinander komplementär: Was sich mir sinnlich zeigt und eröffnet, ist eine Erfahrung, die sich jedoch nicht immer be-
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grifflich fassen und niederschreiben lässt, sie ist mitunter nicht begrifflich abbildbar, aber dennoch vorhanden, also sinnlich erfassbar. Pointiert beschreibt dieses Phänomen Badura: »Ästhetische Welterschließung eröffnet sich damit dem, was einer exklusiv operierenden begrifflich rationalen Zugriffsweise verschlossen bleibt.« (Badura 2016, 3) Oder von Badura nochmals treffend formuliert: »Es ist die Spannung zwischen dem was sinnlich erkannt, aber nicht begreifbar sein muss, und dem was begreifbar ist, aber keine sinnliche Erkenntnis stiftet.«3 Die Inszenierungszusammenhänge, die nun im Rahmen der Vernissage stattfinden, ermöglichen es, solche ästhetischen Erfahrungen zu sammeln bzw. auch selbst und individuell zu erzeugen. Nach diesem Exkurs zum hier vorgeschlagenen Verständnis von Ästhetik kann nun das Konzept des ästhetischen Dispositivs festgelegt werden: Die genannten heterogenen Faktoren beinhalten jeweils eine sinnliche wahrnehmbare Komponente sowie eine begreiflich funktionale Beschreibungskomponente, über die das Element erfasst werden kann. Jedes der in Grafik 1 dargestellten Elemente, die das VernissagenDispositiv ergeben, trägt diese dichotome Perspektive in sich. Ästhetische Dispositive, die auch als Dispositive zweiter Ordnung gesehen werden (vgl. Badura 2016, 111), werden nun in der folgenden empirischen Analyse nach diesen zwei Dimensionen betrachtet. Insgesamt stellen diese drei skizzierten Aspekte – das allgemeine Dispositivkonzept, das Kreativdispositiv sowie das ästhetische Dispositiv, die ineinandergreifen und sich so ergänzen – den theoretischen Bezugsrahmen dar, in dem sich die Analyse der Vernissage in ihren vielfältigen Erscheinungsformen bewegt.
3
Um diese Dichotomie von Erfahren und Erfassen verständlich zu machen, sollen diese beiden Dimensionen mit weiteren Begriffen gefüllt werden: Hinter Erfahren steht hier Gewahr-Werden, Empfinden, Fühlen, Sensibilisieren und Wahrnehmen; hinter dem Begriff Erfassen steht verbales Beschreiben, begriffliches Festlegen, verbales Umschreiben und Kontextualisieren.
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
2.3.
Der methodische Rahmen: Konzept der Dispositivanalyse4
Die Dispositivanalyse erweist sich als methodischer Zugang zu gesellschaftlichen Phänomenen, die verschiedene methodische Verfahren zulassen: hermeneutisch-phänomenologische, funktionalistische, systemtheoretisch orientierte Ansätze sowie die Vielfalt an empirischen Methoden, seien es quantitative oder qualitative, und deren Triangulation.
2.3.1.
Zum Begriff
Drei Definitionen, die wir unter der vorliegenden Vielzahl ausgewählt haben – wobei wir eine Nähe zur Kultur- und Kunstsoziologie suchten – sollen Wesen und Idee des Dispositivbegriffs näher erschließen. Beginnen wir mit dem Schöpfer des Begriffs, Michel Foucault (2003, 119f), der darunter Folgendes verstanden haben wollte: 1) »Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen Elementen sich herstellen kann (…). Drittens 4
Da das Dispositiv aus der Diskursstrategie hervorgegangen ist, soll hier kurz der Begriff Diskurs behandelt werden: Mit Jürgen Link (1986) lässt sich das Diskurskonzept am einfachsten dadurch beschreiben, dass unter Diskurs zunächst Aussagen zu verstehen sind, die die geregelten, institutionalisierten Redeweisen umfassen. Also eine Menge von Aussagen, die zur selben Formation gehören. Die Aussagegehalte können ähnliche, aber auch unterschiedliche Aussagen miteinander verketten.
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verstehe ich unter Dispositiv eine Art von (…) Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegeben historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.« 2) Dispositive an sich gibt es nicht. Sie sind lediglich ein begriffliches, mitunter ein eher methodologisches (heuristisches) Hilfsmittel zur Beschreibung von Zusammenhängen und dem Zusammenwirken sowie von versteckt ablaufenden Interaktionen zwischen heterogenen Elementen mit dem oft unbewussten Ziel, ästhetische Praktiken zu aktivieren bzw. zu initiieren (vgl. Badura 2011, 1). 3) Dispositive sind, im Sinne von Bührmann/Schneider (2012, 68), »… als Ensembles zu verstehen, welche Diskurse, Praktiken, Institutionen, Gegenstände und Subjekte als Akteure, als Individuen und/oder Kollektive als Handelnde oder Erleidende umfassen.« Bezogen auf unseren Kontext sind Dispositive demnach die Verknüpfungen all jener Elemente, die für die Spezifika einer Vernissage konstituierend sind, den Ablauf der Vernissage mitgestalten und mitbestimmen sowie eine klare Funktion im Handlungsgeschehen aufweisen (siehe dazu die Elemente in der Grafik S. ??).
2.3.2.
Zum Konzept des Dispositivs einer Vernissage
Eingangs sollen zumindest einige der zentralen Begriffe innerhalb des allgemeinen Dispositivkonzepts in Form einer Fußnote skizziert werden, da sie möglicherweise nicht allzu geläufig sind; im Konkreten sind dies die »Objektivation«, die »Subjektivation« sowie die »rekonstruktive Interpretation« (vgl. im Detail: Bührmann/Schneider 2012, 100 ff). Sie bilden in ihrer Beziehung zueinander die Spezifik eines bestimmten Dispositivs. Im Konkreten bedeutet dies: Objektivation: Objektivationen in soziologischen Kontexten werden als Erzeugnisse menschlichen Handelns aufgefasst, die »begreiflich« werden; es handelt sich dabei um den Prozess, der subjektives Wissen und subjektive Erfahrung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit werden lässt und der letztlich subjektives Wissen in gesellschaftliche Wirklich-
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
keiten transferiert (vgl. Berger/Luckmann). Im Kontext von Vernissagen sind dazu auch die Kunstwerke selbst inkludiert. Im Rahmen der Dispositivforschung werden Objektivationen als Vergegenständlichungen und die Sichtbarmachung von Praxen/Praktiken aufgefasst. Diese Vergegenständlichungen beziehen sich auf bestehende als auch durch das Dispositiv hervorgebrachte Vergegenständlichungen bzw. Sichtbarkeiten. Das Besondere im Rahmen der Dispositivforschung besteht nun darin, dass aus diesen Vergegenständlichungen das dahinterstehende Wissen herauszulösen ist sowie das verborgene Wissen sichtbar gemacht und schließlich auf seine Machtwirkung analysiert wird. Subjektivation: Subjektivation meint vor allem das Herstellen und Darstellen des Selbst, was sich nun im Vernissagendispositiv sowohl auf die verschiedenen Redner als auch auf die Besucher erstreckt; ihre Auftritte sind Subjektivationen, die zur Selbstdarstellung führen und von den einzelnen Elementen des Vernissagendispositivs in Hinblick auf die ablaufende Emotionalisierung der Auftritte mitgestaltet werden. In der Terminologie von Bührmann/Schneider handelt es sich um sogenannte »Subjektformierungen« und »Subjektpositionierungen«, also Strategien, um die subjektive Macht zu dokumentieren. Im Kontext von Vernissagen wären darunter ablaufende Diskurse zu thematisieren, in denen neben Spezialdiskursen – hier die Eröffnungsreden – auch Alltagsdiskurse im Sinne von Berger/Luckmann (1987) zählen, die Alltagswissen erzeugen bzw. mit einbringen und so die Machtstrukturen zwischen den Disponierenden und den Disponierten verhandelt werden. Von Interesse ist hier, wie das in den Spezialdiskursen bzw. Interdiskursen erzeugte kunstwissenschaftliche Wissen in das Alltagswissen der Subjekte umgesetzt wird (angesprochen sind die Austauschdiskurse im Sinne von Bührmann/Schneider 2012, 65-69). Rekonstruktive Interpretation: Die interpretative Analytik wird in der Dispositivforschung durch die rekonstruktive Interpretation ersetzt. Gemeint ist damit eine doppelte Erweiterung, und zwar nicht nur durch die Reflexivität des Forschers und der Forschung, sondern auch durch das deutende Verstehen von nicht diskursiven Praktiken einschließlich deren Zusammenspiel mit diskursiven Praktiken und der rekonstruktiven Analytik des Verstehenden. Die Intension ist hier sowohl für sich
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selbst als auch für andere darzulegen, was der Forschende zu verstehen und zu wissen glaubt. Zusammenfassend lässt sich im Sinne von Bührmann/Schneider die re-konstruktive Analytik wie folgt beschreiben: »Die(se) meint, dass nicht nur die in Diskursen prozessierten Deutungen der Welt interpretierend zu erschließen sind, also das (Nicht-)Gesagte im Raum des Sagbaren zu rekonstruieren ist, sondern auch eine praxeologische Brücke zum (Nicht-)Gesehenen im Raum des Sichtbaren und zum (Un-)Erfassbaren im Raum des Erfahrbaren als Konstituens von Subjektivität zu schlagen ist.« (Bührmann/Schneider 2012, 88f) Betrachten wir nun die auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Elemente des Kreativitätsdispositivs, das sich nach Reckwitz seit den 1980er Jahren in dieser Form entfaltete und Prozesse und Arrangements in unterschiedlichen sozialen Feldern einging. Es lässt sich erkennen, dass zunächst Teile, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben, sich mit der Zeit vernetzten und so ein Vernissagendispositiv ergeben. Dabei zeigt sich, dass anfänglich eher isolierte Elemente sich immer mehr verbinden bzw. verknüpfen und sich Doppel- und Mehrfachstrukturen formieren, die insgesamt das Ideal einer erfolgreichen und gelungenen Vernissage bilden, wobei ein Ziel darin besteht, Innovationen und Originelles zu bieten. Im Zentrum stehen jedenfalls kreative Subjekte – die Künstler mit ihren Werken und Objekten – die auf ein an Ästhetik orientiertes Publikum treffen und die in das Ritual einer inszenierten Veranstaltung eingebunden sind. Solche Verknüpfungsketten sind jedoch meist kontingent. Galeristen suchen Kontakt zu den Medien, diese wiederum zu ausgestellten Künstlern; die Künstler versuchen ihre Sammler zu aktivieren und die Besucher zu involvieren. Besucher suchen Kontakt zum Künstler; die Kuratoren knüpfen Kontakte zu Besuchern, Medien und Künstlern; die Kunstwerke erhalten Erläuterungen durch die Kuratoren. Texte und Besprechungen in Medien werden erstellt, Berichte, Einladungskarten entstehen und gehen an innovative Designer; die Galeristen und Museumsdirektoren suchen Kontakte zu Sponsoren sowie Verbin-
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
dungen zu Multiplikatoren und wichtigen Stakeholdern (wie z.B. zur Kulturpolitik) wie auch zu innovativen neuen Künstlern für die Galerie; Direktoren suchen Kontakte zu Leihgebern oder förderungswilligen Kunstsammlern für die Bestände eines Museums, Versicherungen und Transporteure suchen Kontakte zum Entscheidungspersonal der Kunst-Institutionen etc. Solche Verflechtungen erweisen sich als höchst sensible, anspruchsvolle und kontingente Steuergrößen für die Organisation und Durchführung von Veranstaltungen im KunstKontext, zu denen zentral Vernissagen und Ausstellungen zu zählen sind. Die folgenden Elemente (siehe Grafik 1) können auf der unmittelbaren Handlungsebene der beteiligten Akteure sowie in Institutionen identifiziert werden, wobei diese in einer wechselseitigen Verbindung zueinander zu verstehen sind. Eine Einheitlichkeit des Vernissagenablaufs und ihrer Gestaltung ist aufgrund der Bedeutungszuschreibungen, die den verschiedenen Akteuren am Geschehen beigemessen wird, nicht anzutreffen. Vielmehr ergeben sich Kontingenzräume, geht es doch auch darum, die Kontingenz sichtbar zu machen, wie dies Nassehi/Saake (2002) in ihrem Methodenbeitrag herausarbeiteten. Diese ausgewählten Begriffsbeschreibungen machen noch einmal deutlich, dass es sich beim Dispositiv um eine Erweiterung des Diskursbegriffs handelt, da darin auch Artefakte und Individuen mit einbezogen werden. Insgesamt lässt sich ein Dispositiv als »heterogene Gesamtheit« auffassen, die sich aus dem Zusammenwirken verschiedenster Elemente ergibt, wobei sich deren Relevanz für das Dispositiv über Plausibilitätsüberlegungen erschließt (vgl. dazu auch Weich 2017, 66f). Das Dispositivkonzept umfasst daher mindestens vier Bereiche, die in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten und in ihren Bedingungen aufeinander Bezug nehmen. Konkret umfasst die Analyseprogrammatik die folgenden Felder: Diskurs, Wissen, Macht und gesellschaftliches Sein. Aus diesen vier Feldern ergeben sich auch die Elemente, die in ein Dispositiv einer Vernissage Eingang finden. Die folgende Grafik soll das dispositive Beziehungsgeflecht schematisch veranschaulichen.
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2.3.3.
Die Dimension und Elemente des Dispositivs einer Vernissage
Nach dieser skizzierenden Darstellung der Dimensionen der beiden Dispositive und den eingeführten Begriffsfestlegungen ist nun nachzufragen, inwieweit sich die verschiedenen Elemente mit ihren angeschlossenen Aktionsfeldern, die ein »Vernissagenerlebnis« ausmachen, zu einem Dispositiv zusammenfügen und so die sozioästhetische Etablierung einer Vernissage gewissermaßen formatieren. Die verschiedenen Elemente, die auch in einer gewissen Heterogenität zueinander stehen, verknüpfen sich im Sinne der Kontingenzräume zu wechselnden Konfigurationen. Das Dispositiv einer Vernissage setzt sich im Wesentlichen aus den oben dargestellten acht Elementen, die selbst jeweils bestimmte Einflussfelder aufweisen, zusammen. Diese Elemente stehen in einem heterogenen Ensemble in unterschiedlicher Intensität und entsprechenden Wechselwirkungen in einer Beziehung zueinander. Daraus ergibt sich wiederum eine gewisse Kontingenz für den Ablauf bzw. für die Inszenierung einer Vernissage: Keine gleicht der anderen, wobei beinahe immer die gezeigten Grundelemente in verschiedenen Nuancen und Verknüpfungen zueinander auftreten und der Ästhetisierungsprozess sich jeweils unterschiedlich darstellt: Das Erkennen und Erfassen wichtiger Kernelemente, sei es von Akteuren wie Objekten, unterliegen dabei auch den verschiedenen Aneignungskompetenzen der Betrachter und Beobachter. Insgesamt zeigt sich, dass ein Dispositiv, das sich aus vier Komponenten des Sozialen zusammensetzt, als ein Gebilde (Ensemble) aufgefasst werden kann, welches zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt die Funktion erfüllt, auf eine gesellschaftliche bzw. hier im Kunstbereich etablierte Vermittlungs- und Inszenierungsnotwendigkeit zu reagieren. Wesentlich dabei ist die soziale Affektivität bei diesen Vorgängen. Bezogen auf das kreative Dispositiv bedeutet dies, dass darin auch Suchräume für ästhetische Erfahrungen und Experimente vorliegen, die eine »Andersmöglichkeit« erschließen können bzw. sollen. Gerade im Kontext von Kunst werden hier innovative Interpretationswege für
2. Zur Sozialgeschichte der Vernissage und ihrer gesellschaftsbezogen Einbettung
Abbildung 1: Die Elemente des Vernissagendispositivs
Das Vernissagendispositiv setzt sich aus zahlreichen Elementen zusammen, die durch das Kreativpositiv mitgestaltet werden und über den gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozess ästhetisierende Atmosphären erzeugen.
das Dargestellte und Gezeigte eröffnet und erleichtern den Verstehensprozess von präsentierten Kunstwerken im Rahmen von Vernissagen. Vor dem Hintergrund der damit vorgenommenen theoretischen und formalen Rahmung lässt sich das Dispositiv einer Vernissage auch als ein Erfahrungsfeld für ein »ästhetisches Dispositiv« einstufen. Dies soll nun im Weiteren auch empirisch untersucht und aufgezeigt
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werden, wobei es vorab die wesentlichen konstituierenden Elemente zu bestimmen gilt, denen dafür eine Relevanz zukommt. Die methodische Umsetzung der Dispositivanalyse fordert grundsätzlich keinen strengen methodischen Rahmen ein, sondern setzt sich aus einer Vielfalt von möglichen methodischen Ansätzen zusammen, die auf einer qualitativen wie quantitativen Forschungsmethodik aufbauen.
3. Zur Methodik und zum methodologischen Vorgehen1
Die Vielfalt an Themen und Fragestellungen, die mit dem Format der Vernissage als einem der historisch durchgehend anzutreffenden sozialen Phänomene im Kunstbetrieb verbunden sind, verlangt für deren Beantwortung methodisch gesehen unterschiedliche Herangehensweisen, wobei die hier mit eingebundene Dispositivforschung wie bereits angesprochen eine weitgehend methodische Offenheit bietet. Bührmann/Schneider (2012, 111) meinten insgesamt zur methodischen Umsetzung von Dispositiv-Analysen, dass konsequenterweise kein starres Methodik-Konzept ausformuliert werden kann, sich aber konkrete strategisch-methodische Hinweise für das Vorgehen bei Dispositivanalysen ergeben, und zwar mit einem breiten methodischen Vorgehen, welches standardisierte und nicht-standardisierte empirische Verfahren sowie einen flexiblen Einsatz solcher Techniken vorsieht. Die vorliegende Analyse ist daher so angelegt, dass eine Mischform zwischen den methodischen Zielvorstellungen von Dispositivanalysen
1
Eine umfassende Begründung zur methodischen Vorgangsweise für diese Studie wird im Anhang geboten; es handelt sich dabei um einen Methodenexkurs, der den Entscheidungsvorgang für die Wahl des Dispositivkonzepts vergleichend beschreibt. Dies ist auch Grund warum in diesem Abschnitt methodische Grundfragen nur marginal behandelt werden. Der interessierte Leser sei auf die Komparatistik von zwei Methoden verwiesen, die für die Analyse vorgesehen waren.
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und den klassisch empirischen Beschreibungen und Erklärungsversuchen zu den Strukturen von Vernissagen angewandt wird. Die Dispositivforschung setzt ja u.a. auch Diskursanalysen voraus, wobei wir hier als Material für die Diskurse die Form der Eröffnungsreden sowie die Alltagsdiskurse der Besucherinnen und Besucher zugrunde legen. Vereinzelt werden auch die Ausstellungstexte zur Unterstützung herangezogen. Insgesamt kommen auch sowohl quantitative wie qualitative Verfahren mit ihren je spezifischen, statistischen Auswertungsstrategien zum Einsatz. Zudem ermöglicht ein solcher Methodenmix eine stärkere Annäherung an die kontingenten Wirklichkeiten, da jedes Verfahren nur einen spezifischen Ausschnitt der »Vernissagen-Wirklichkeit« erfassen kann. Eine besondere Rolle innerhalb der hier eingesetzten qualitativen Verfahren spielen die selbstreflexiven Verfahren, das heißt, es handelt sich um die Rekonstruktion individueller Erfahrungen, die an die entsprechenden Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse gebunden sind. Es geht vor allem um die Herstellung bzw. Konstruktion des Selbsterlebten, welches über die Gedächtnisleitung zur Selbstpräsentation führt.2,3 Im Konkreten kommen im Rahmen der qualitativen Verfahren die offene und verdeckte teilnehmende Beobachtung sowie die strukturierte wie unstrukturierte Beobachtung zum Einsatz. Für die Besucherbefragungen wurden mündliche wie schriftliche Interviews eingesetzt. Um erste Grundlagendaten für die kulturvergleichende Vernissageanalyse zu erhalten, wurde ein Leitfragebogen mit offenen und geschlos2 3
Vgl. zur Methodologie dieser Ansätze, die in der Biografieforschung verankert sind u.a. Hinrichsen/Rosenthal/Worm 2013 sowie Rosenthal 2014. Diese Ansätze werden hier insofern mitverwendet, als einmal der Erstautor Sozialwissenschaftler und Kunstschaffender in einer Person ist und nicht nur eine Vielzahl von Vernissagen in unterschiedlichen Kulturräumen beobachtet und erlebt hat, sondern auch die Vernissagen der eigenen Ausstellungen »durchlebt« hat und zum anderen die Zweitautorin erfahrene Kuratorin, Eröffnungsrednerin und Kunsthistorikerin mit globaler Ausstellungs- und kunstbiennaler Reisetätigkeit ist.
3. Zur Methodik und zum methodologischen Vorgehen
senen Fragen entwickelt und entsprechende Experten, die in den einzelnen Staaten Erfahrung sammeln konnten, interviewt. Ein wohl unterschwellig mitwirkender Eurozentrismus dürfte daher sowohl bei den Beobachtungen als auch bei den Befragungen bzw. Dateninterpretationen trotz aller angestrebten methodischen Umsicht mitschwingen.4 Grundsätzlich erweist sich – gerade für die hier verwendete, qualitativ ausgerichtete Methodik – eine Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt als nicht denkbar. Die unaufhebbare Subjektivität und Subjekthaftigkeit sowie weitreichende Subjektgebundenheit jeder Erkenntnis lässt sich in Anlehnung an Breuer (2003) über vier Aspekte differenzieren bzw. auf diese reduzieren. Diese Aspekte sind beim Erkenntnisgewinn beteiligt und fließen unausweichlich in diesen mit ein. Dessen sollte man sich bewusst sein, wobei konkret Folgendes angesprochen wird: Die Standpunktgebundenheit, und zwar in einer örtlichen neben einer kulturellen wie auch in einer positionsgebundenen inhaltlichen Perspektive; die Dynamik der Erkenntnis, also die Veränderung in einer räumlichen wie zeitlichen Perspektive; die Sinnesgebundenheit unserer Erkenntnis im Sinne einer Begrenzung der Wahrnehmung und Selektivität (»wir können nur das sehen, wonach wir suchen«) sowie der laufenden Interaktivität zwischen Erkenntnis-Subjekt und Objekt. Ist es doch immer eine gemeinsame Hervorbringung von Subjekt und Objekt, die zu einem Erkenntnisgewinn beiträgt.5 Die Problemfelder, die im Umgang mit Subjektivität auftreten, erweisen sich bekanntlich als vielfältig. So tauchen hier etwa folgende Fragen auf: Wie erinnert man sich in sozial kompetenter Weise? Was hat man vergessen und verdrängt? Welches Ausmaß nimmt der Faktor subjektiver Konstruktionen im Kontext von Erinnerungen ein? Wie steht es insgesamt mit der Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit subjektiven Wissens? Das untersucht insgesamt betrachtet, wie die ver-
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Interessierte seien zu Methodenanforderungen der quantitativen und qualitativen bzw. kulturvergleichenden Sozialforschung u.a. auf das Handbuch von Baur/Blasius 2014 oder auch Bachleitner u.a. (2014) hingewiesen. Vgl. im Detail zu diesen Systematisierungsbestrebungen der SelbstreflexionsMethodik Breuer 2003.
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schiedenen Aspekte von Subjektivität in Relation zur persönlichen Bedeutung von Erlebtem und Wahrgenommenem verarbeitet werden und wie dies in die Beantwortung von Fragen einfließt. Diese Aspekte gelten ebenfalls für den Forschenden und seine Subjektivierungsweisen. Der meist unbewusst eingespielte Mechanismus von Subjekt und Objekt fließt in die Interpretationen des Beobachteten und Wahrgenommenen ein und gestaltet bzw. konstruiert so den Interpretationsvorgang mit (vgl. insgesamt dazu Lueger 1999, 37ff; auch Wolff (1999, 9ff), der hier von disziplinierter Subjektivität spricht).6 Vorgespannt sind nun einige kultursoziologische Aspekte, auf die das Dispositiv einer Vernissage zurückgreift und den gesellschaftstheoretischen Rahmen für die Analyse bildet.
6
Interessierte seien zu Methodenanforderungen der quantitativen und qualitativen bzw. kulturvergleichende Sozialforschung u.a. auf das Handbuch von Bauer/Blasius 2014 oder auch Bachleitner u.a. (2014) hingewiesen.
4. Zur gesellschaftsbezogenen Kontextualisierung der Vernissage als gesellschaftliches Ritual
Rituale und Ritualisierungen mit ihren weitgehend festgelegten Handlungsabfolgen regeln und erleichtern die sozialen Begegnungen von heterogenen Gruppierungen, seien diese sozial- oder interessensbezogen unterschiedlich differenziert bzw. strukturiert. Vernissagen lassen sich wiederum als ritualisierte soziale Handlungen verschiedener Akteure mit feststehenden Rollenmustern auffassen. Die dabei entwickelten einzelnen »Auftritte« stellen soziale Praktiken dar, welche den Ablauf der Vernissage strukturieren und sich – wie zu zeigen sein wird – in zeitbezogene Sequenzen gliedern. Durch diese Struktur wirken sie für den einzelnen Besucher entlastend, da sie situationsbezogene Verhaltensorientierungen anbieten und mitunter auch Verhaltensnormierungen als Orientierungen vorgeben bzw. anbieten. Die definitorische Auffassungs- und Abgrenzungsarbeit – etwa zu Riten, Zeremonie, Ritualisierung, Gewohnheiten, routinehaften Wiederholungen – fällt umfassend aus, und die einschlägige Literatur bietet hier eine Fülle an Material zur Festlegung der Begriffsverwendung, den Funktionszuschreibungen sowie den Anwendungsbereichen, wobei diese mitunter kontrovers ausfallen.1 Die Auseinandersetzung mit Begriff und Funktion kann aber auch, wie wir es hier vorsehen, durchaus
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Man vergleiche dazu die Ritual-Bibliographie von Michaels Axel (o.J), der eine Literaturübersicht erarbeitetet.
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knapp und eingrenzend ausfallen, so wie dies Jungaberle/Verres/DuBois vornehmen. Auf die Frage, »Was sind Rituale?«, argumentieren sie: »Es ist wissenschaftsphilosophisch gesehen auch nicht unbedingt notwendig, Grenzen und Reichweite eines Begriffs genau zu kennen, um kohärente Forschungsergebnisse vorzulegen. Bedeutsam ist freilich schon die Transparenz der Begriffsverwendung.« (Jungaberle/Verres/DuBois 2006, 14) Entscheidend für die Frage, was nun als Ritual bzw. Ritualisierungen im Kontext von Vernissagen gelten kann, ist daher, inwieweit die geltenden Struktur- und Beschreibungsmerkmale2 dann tatsächlich vorliegen und sich die Vernissage als Ritual klassifizieren bzw. als solches einordnen lässt. Im Konkreten sind dies folgende Dimensionen (vgl. auch Vogt 2008): • • • • • • •
Zyklische oder nicht zyklische Wiederholung des Gleichen (oder Ähnlichen) Qualität des symbolischen Handelns Stilisierungen und Formalisierung von Handlungen Rahmung des Ereignisses mit Anfang und Ende des (rituellen) Geschehens (ritualspezifische) Intentionen Erzeugung von sozialen Bedeutungen soziale Aufführungen (Auftritte und Performatives)
Betrachten wir diese konstitutiven Eigenschaften für Rituale und deren Vorliegen im Kontext der Vernissage, so fällt die Antwort eindeutig aus: Es zeigt sich eine weitgehende Evidenz für eine Zuordnung, wenngleich nicht immer alle genannten Dimensionen im Ereignis und Ablaufprozess einer Vernissage auftreten müssen. Die dahinter stehenden und erkennbaren visuellen, körperlichen und dramaturgischen Elemente,
2
Wir lehnen uns bei dieser Auflistung an eine Liste verschiedener Eigenschaften bei Jungaberle/Verres/Du Bois (2006, 1) an, die insgesamt sieben Eigenschaften aufzählen.
4. Vernissage als gesellschaftliches Ritual
die in Vernissagen integriert sind, forcieren das Performative, das mit Ritualen verbunden ist. Die breiten und kontroversen Abhandlungen um das definitorische Dilemma forcieren die Überzeugung, eine möglichst breite Auffassung der Handlungsspezifik eines Rituals zuzulassen. Nicht alle genannten Merkmale müssen daher immer gleichzeitig auftreten. Bei Ritualen kann es zu graduellen Differenzierungen kommen, Kerndimensionen sollten jedoch immer vorhanden sein. Rituale sollten auch entwicklungsdynamisch gesehen werden, und zwar als »biopsychosoziale« Mechanismen und nicht nur als soziokulturell vorfindbare Einheiten, d.h. Ritualisierungen sind nicht nur Routinisierungen, sondern besitzen kommunikative Bedeutungen und symbolische Verdichtungen. Rituale sind jedenfalls definitorisch schwer trennbar von Zeremoniell und Etikette, sie werden oft austauschbar verwendet, da sie letztlich alle zu einer Verhaltensnormierung beitragen, auch wenn sich feine Unterschiede erkennen lassen. So enthalten Rituale symbolische Handlungen, die einen gesamthaften und kollektiven Aspekt beinhalten (vgl. Stagl 1990, 13). Diese tragen letztlich zur Gruppenintegration und kurzzeitigen Homogenisierung der Anwesenden bei. Das Interesse am Künstler und seinem Werk rückt im Idealfall kurzzeitig in ein gemeinsames Bewusstsein und verbindet so eine zwar nicht äußerlich wahrnehmbare, jedoch kognitive Bezugsebene. Konkret stellt sich idealtypisch differenziert eine anonyme Verhaltensorientierung mit einem im anfänglichen Zuhören, einem anschließenden Betrachten bzw. Auseinandersetzen und in weiterer Folge ein vertiefender kommunikativer Austausch ein. Übertragen wir diese hier skizzierten Aspekte auf die Vernissage, so lässt sich Folgendes festhalten: Die Vernissage kann als ritualisierte Eröffnung im Rahmen von Kunstveranstaltungen aufgefasst werden, und zwar mit einem relativ fixierten Ablauf von meist mehreren Begrüßungs- und Einführungsreden. Die damit verbundenen Auftritte von Sprecherinnen und Sprechern zeigen dabei keine festgelegten Zusammensetzungen und können jeweils in ihrer hierarchischen Bedeutung variieren. Die Rollenverteilungen der Anwesenden sind für die einzelnen Phasen klar festgelegt: Die Redner, ausgestattet
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mit Zuschreibungen einschlägiger Fachautorität und Kompetenz und die Zuhörerinnen und Zuhörer, die jeweils durch ihre Anwesenheit Kunstinteresse signalisieren, setzen einen Handlungsrahmen in der ersten Phase; in der Folge geht dieser mit dann wechselnden Rollen und unterschiedlichen Anwesenheitsmotiven in eine zweite Phase über: sei es als kommunizierende Besucher sowie als die Betrachtenden, Beobachtenden und Wahrnehmenden. Diese beiden Phasen des Eröffnungsrituals sind jeweils an den Ausstellungsort bzw. die Ausstellungsräumlichkeiten gebunden. Meist verbunden mit vorwiegend örtlichen und zeitlich extensiven Vorarbeiten einschließlich notwendiger internationaler Vernetzungen für Leihgesuche, Versicherungsabschlüsse, Transportvereinbarungen etc., die sich gelegentlich auch weit über ein Jahr erstrecken können, wird die Vernissage zum Kulminationspunkt all dieser Bemühungen. Die dafür relevanten Strukturen und festgelegten Funktionen der Akteurinnen und Akteure geben dabei den Rahmen für ein soziales Handlungs-Setting vor, wobei in der Regel keine Instanz diese Normierungen überwacht.
4.1.
Strukturen von Vernissagen und das atmosphärische Potential
Innerhalb der erkennbaren und regelmäßig auftretenden Strukturen bei Vernissageabläufen kann grundsätzlich zwischen drei Dimensionen unterschieden werden. Einmal bilden die in das Eröffnungsritual eingebetteten emotionsorientierten Aspekte gleichsam ein Emotionspotential, welches sowohl durch die Vernissage selbst entsteht, aber ebenso von außen miteingebracht werden kann. Aus einer kultursoziologischen Perspektive interessant sind die entstehenden Atmosphären und sozial-emotionalen Stimmungslagen, die auf bzw. durch die Vernissage entstehen können.
4. Vernissage als gesellschaftliches Ritual
Die vergleichenden Beobachtungen von Eröffnungsritualen zeigen, dass es bei Vernissagen zur Herausbildung und zur Wahrnehmung unterschiedlicher Atmosphären kommt. Eine systematische Erfassung und Begründung für diese Wahrnehmung unterschiedlicher Atmosphären steht zwar aus, es sind jedoch durchaus bekannte Faktoren (vgl. Böhme 1997), die hier zu wahrnehmbaren Stimmungen bei Vernissagen führen dürften: Die Eröffnungszeremonie, die Künstler/innen und ihre Werke, die Zusammensetzung des Publikums, der Inszenierungsstil der Vernissage, die Aura der Räumlichkeiten, die Konsumationsangebote als interne Einflussgrößen und die Erwartungshaltungen sowie die mitgebrachten Stimmungen als externe Einflussgrößen. Zum zweiten sind jene strukturellen Dimensionen zu nennen, welche durch ihre Ordnungs- und Gestaltungsaspekte den Ablauf bestimmen (= Ablaufpotential). Die dabei auftrennenden und stark variierenden Eventisierungs- und Inszenierungsstile wirken in ihrer je spezifischen Anordnung und Abfolge und bestimmen so die Atmosphäre bei Vernissagen mit. Konkret handelt es sich dabei um • • •
den Formalisierungsgrad die soziale Distanziertheit und Nähe die sozialen Überschreitungen
Die Destabilisierung im Rahmen von Vernissagen waren vor allem in den späten 70er-Jahren erkennbar, als neue Kunstrichtungen den etablierten Kanon mit meist inszenatorischen Elementen konterkarierten; die damals entstandene Fluxusbewegung und die damit verbundenen Happenings sind heute allerdings wieder zunehmend im Verschwinden begriffen. Betrachten wir schließlich das Ritual der Ausstellungseröffnung noch über den Faktor Zeit, so erkennen wir drei regelmäßig wiederkehrende Phasen in ihrem Ablauf mit einem meist offenen Ende, wobei dieser Phasentrennung ein idealtypischer Ordnungsaspekt zukommt:
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• •
•
Phase der Eröffnung mit Begrüßungs- und wissensvermittelnden Einführungsreden Phase der Werk-Betrachtung mit je individuellen Sehpraktiken und Wahrnehmungsgewohnheiten, die zur Verarbeitung und Prüfung des Gehörten bzw. Gesagten beitragen Phase der allgemeinen Kommunikation mit oder ohne Bezug zum Ausstellungsgeschehen
4.2.
Die Funktionen von Vernissagen
Die Funktion einer Vernissage ist zweifelsfrei vielfältig und gestaltet sich auch vielschichtig. Sie hat zahlreiche Aufgaben zu erfüllen, und die Erwartungshaltungen an die Eröffnung sind von allen beteiligten Gruppen meist stark emotional besetzt. Nun hat der Begriff der Funktion in den Sozialwissenschaften eine umfassende Anwendungsgeschichte sowie ein weitreichendes Einsatzfeld. Hier wird auf seine einfache Form – und zwar der zugeteilten und möglichen Aufgabe – Bezug genommen: Funktion gilt als jener Beitrag, den eine Handlung für ein System (Ereignis) leistet. Die Funktion der Vernissage spielt u.a. auch eine Rolle für die Darstellung der betreffenden Institution (Museum, Galerie, Kunst-Messe etc.) mit Blick auf ihre öffentliche Wirkung und der Festigung als Institution. •
Sozialfunktion: Die Vernissage kreiert einen sozialen Rahmen aus kommunikativen Interaktionselementen, von dem soziale Stabilität ausgehen kann. Dies ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass vorhersehbare Handlungsspielräume mit meist bekannten Handlungsabläufen eröffnet und angeboten werden. Zudem findet der Besucher nur im Rahmen der Eröffnung jenes Setting vor, – das Thun (1998, 98-104) in seinem Kapitel »und Reden, Reden, Reden« – also umfassende Kommunikationsmöglichkeiten – beschreibt (siehe auch unten). Die Besucherkonstellation ermöglicht Kontakte mit Personen und Persönlichkeiten, die an einem anderen Besuchstag so nicht anzutreffen sind.
4. Vernissage als gesellschaftliches Ritual
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Wissensvermittlungsfunktion: Informationen zum Künstler/zur Künstlerin und seinem/ihrem Werk – also die Wissenszuwächse für die Besucherinnen und Besucher von Vernissagen – stehen dabei im Vordergrund der Eröffnungsreden. Die Wissensvermittlung in ihren jeweiligen Bezügen und Verflechtungen zum Ausstellungsinhalt wie Genese sowie biografische und gesellschaftspolitische Einordnung der Werke oder Werkgruppen, die ausschlaggebenden Einflüsse auf die Werkphase etc., bilden meist den Focus einer Eröffnungsrede. Zu keinem anderen Zeitpunkt kann der Besucher so problemlos Zugang zu Wissen über die Kunst und die Person des Künstlers bzw. einer Künstlerin erhalten. Wirkfunktion: Die Wirkfunktion der Ritualisierung im Rahmen von Vernissagen besteht u.a. darin, dass sie durch das Hinzufügen von neuen Elementen ständig neue Wirklichkeiten erzeugt, in welche die Besucher meist unbewusst eingebunden sind und so eine dynamische Stabilität durch das zur Anwendung gelangte soziale Regelsystem (zuhören, betrachten, kommunizieren) entsteht. Daneben sind Vernissagen imagebildend für die Künstler wie auch für Galerien oder Museen und generieren durch eine mediale Berichterstattung auch die für sie wichtige öffentlichkeitswirksame Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Die Wirkung von Kunstwerken – von Bildern, Videos, Installationen oder Objekten – kann als eine weitere psychisch orientierte Wirkfunktion genannt werden (vgl. insgesamt Schuster 1992). Ökonomische Funktion: Die Vernissage gilt als jener Zeitpunkt einer Ausstellung, an welchem die höchste Wahrscheinlichkeit für Reservierungen sowie für Objekt- und Bildkäufe festgestellt werden kann. Die gekonnte In-Szene-Setzung und abgestimmte Präsentationslogik der Kunstwerke sowie die mit Emotionen aufgeladene Sozial-Atmosphäre verleiten und forcieren die Besucher, Sammler wie auch Kunsthändler zu Ankäufen auf dieser Bühne, ist dies doch auch mit öffentlichkeitswirksamem Prestigegewinn verbunden (siehe unten).
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Die Vernissage
4.3.
Formen von Vernissagen
Wenngleich Ritual und Zeremoniell der Vernissage insgesamt ähnlich ablaufen, gibt es dennoch erkennbare Unterschiede, und zwar in Abhängigkeit von Ort, Anlass sowie der veranstaltenden Institution; dies insofern, als den Museen und öffentlich subventionierten Galerien eine andere Funktion im Kunstbetrieb zukommt als etwa den privat geführten Galerien oder auch den sogenannten »grauen« Galerien. Während die Museen (Kunsthallen, staatlich/kommunal geförderten Galerien) Kunstwerke präsentieren und damit auch Kunst inszenieren, diese aber nicht verkaufen müssen, stehen bei den privat geführten Galerien, und hier insbesondere im Rahmen von Vernissagen, der Verkauf von Kunstwerken und die Imagebildung im Rahmen des Kunstmarkts im Mittelpunkt des Interesses. Oder anders: Einmal sind es – sicher neben anderen Faktoren – die Besucherzahlen, an denen der Erfolg einer Ausstellung gemessen wird, während es das andere Mal der erzielte Umsatz einer Galerie ist. Dies alles hat seine oft versteckten Auswirkungen auf die unterschiedlichen Ritualisierungs- und Inszenierungsstile einer Vernissage.
5. Kulturinstitution und Vernissage
5.1.
Die Vernissage im Galeriebetrieb
Galerien dienen zur und ermöglichen die Sichtbarmachung von meist aktueller Kunst: »Man kann die Funktion moderner Kunstgalerien daher ganz knapp dadurch charakterisieren, daß sie einen Beitrag dazu leisten (sollen), die Sichtbarkeit der durch sie vertretenen Künstler und in der Folge davon natürlich auch den Marktwert des Künstlers zu erhöhen.« (Alemann 1997, 217) Die publizistische Tätigkeit und das Engagement des Galeristen unterstützen diesen Tätigkeitsbereich. Galerien sind daher jene Orte, wo Vernissagen auch am häufigsten stattfinden, da hier meist in einem sechswöchigen Rhythmus die Präsentationen neuer Künstler erfolgt, um eine Sichtbarmachung der von einer Galerie vertretenen Kunst zu ermöglichen bzw. zu inszenieren. Je nach Tradition des Hauses bzw. ob es sich um eine ortsgebundene Dauergalerie oder nur periodische Galerie zu bestimmten regionalen Anlässen (z.B. Festivals oder Festspiele) handelt, werden entsprechend gestaltete Eröffnungsveranstaltungen geboten. Daneben finden sich bei kleinen Galerien aufgrund deren meist geringeren finanziellen Möglichkeiten eher intime und kleine Eröffnungsveranstaltungen. So bildet die Ausstellungstätigkeit – einschließlich der Vernissage – wohl den wichtigsten und unverzichtbaren Aspekt der Galerietätigkeit (vgl. auch Alemann 1997, 221) Bezüglich der Besucherstruktur lässt sich bei Galerien ein soziales Homogenitätsprinzip beobachten: Die Besucherstruktur wird ne-
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Die Vernissage
ben ihrer ohnedies deutlichen Ausrichtung auf eine gebildete Publikumsschicht zudem auch durch Alter und Geschlecht des ausstellenden Künstlers und dessen soziales Netzwerk mitbestimmt. Die Vielzahl städtischer Kleingalerien dürfte diesen Trend forcieren, während dies im ruralen Raum weniger zum Tragen kommt (vgl. Bachleitner/Aschauer 2008).
5.2.
Die Vernissage im Museumsbetrieb
Das Eröffnungsritual von Ausstellungen in Museen zeigt meist zwei Phasen: Die Preview, die am Vorabend der Vernissage stattfindet, sowie die eigentliche Vernissage. Diese Differenzierung erfolgt weniger, um Besucherzahlen zu erhöhen, sondern um eine soziale Distinktion zu ermöglichen. Fast jedes Museum hat seinen eigenen Förderverein, dessen Mitglieder entsprechend gepflegt werden wollen. Mit einer Preview bieten Museen die Möglichkeit für ihre Mitglieder unter sich bleiben zu können, also eine Art »geschlossene Gesellschaft« zu bilden. Die Vernissage hingegen weist eine breitere soziale Publikumsstruktur auf. Zudem bietet die Vernissage meist eine erhebliche Zahl an prominenten (kulturpolitischen) Begrüßungs- und Eröffnungsrednern. Und angereichert um ein entsprechendes Konsumationsangebot formt es ein ritualisiertes Kulturangebot für eine breitere kunstinteressierte Öffentlichkeit. Die Besucherstruktur von Vernissagen in Museen dürfte sich -im Vergleich zu Galerievernissagen wesentlich heterogener darstellen, und zwar sowohl, was das Alter als auch die Sozialstruktur betrifft. Dies insofern als sich eine sozialräumliche Segregation aufgrund des wesentlich größeren Einzugsgebiets eines Museums erweitert und lediglich eine übliche soziale Selektion von Besucherinnen und Besuchern für den Bereich Kunst zum Tragen kommt.
5. Kulturinstitution und Vernissage
5.3.
Die Vernissage im Kunstmessebetrieb
Mit dem seit den 80er Jahren aufkommenden Boom auf dem Kunstmarkt konnten sich meist in Verbindung mit anderen kulturellen Ereignissen (z.B. Festspielen, Konzertwochen etc.) regionale, nationale, aber auch internationale Kunstmessen etablieren, die ihrerseits mit anderen Kunstsparten (bevorzugt Antiquitäten) eine Kooperation eingehen. Der Vernissage von Kunstmessen wird auch hier gerne der Event einer Preview vorgeschaltet, um einerseits weitere Aspekte der Verkaufsförderung zu integrieren und zum anderen die soziale Distinktion eines ausgewählten und exklusiv eingeladenen Interessentenkreises zu ermöglichen. Neben der Begrüßung und einer knappen Eröffnungsrede, deren Redner meist aus Wirtschaft und Politik kommen und nicht selten auch wirtschaftliche Standortprobleme thematisieren, erfolgen in diesem Rahmen meist keine der sonst üblichen themenspezifischen Einführungsreden. Die Vielfalt und Vielfältigkeit des Angebotsspektrums ist dafür oftmals zu weit gestreut. Im Mittelpunkt des im Anschluss an ein entsprechendes Eröffnungsritual folgenden Rundgangs steht die Verkaufsorientierung mit entsprechenden Informationen und mit verschiedenen Dienstleistungsangeboten (Beratung und Serviceleistungen etc.). Anlässlich der Vernissage erwartet den Besucher in meist aufwändig gestalteten Messekojen mitunter auch der/die eine oder andere dort vertretene Künstler/in, der/die so zur Imagebildung und Verkaufsförderung einer Galerie einen Beitrag leisten soll. Insgesamt zeigt sich also, dass die einzelnen Vernissagenveranstalter durchaus unterschiedlich ausgeprägte Elemente für ein Eröffnungsritual auswählen. Dazu gehören jeweils auf bestimmte Publikumssegmente hin ausgerichtete und maßgeschneiderte Events, angepasst auf damit jeweils relevante soziale Distinktionsmöglichkeiten, eine unterschiedliche Zahl von Eröffnungsrednern und deren kunstaffines Profil, sowie differenzierte Publikumsschichten sowie unterschiedliche Zielsetzungen und Erwartungshaltungen an das jeweilige Vernissageritual, die hier mitbestimmend sind.
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Die Vernissage
5.4.
Anlässe für Vernissagen
Auch bestimmte Anlässe bestimmen oft Ablauf, Formalisierungsgrad sowie insgesamt die Ritualisierungen der Vernissage. So sind Ausstellungseröffnungen im Kontext von Kunst- und Kulturpreisverleihungen anders ausgerichtet als zu Anlässen wie etwa Jubiläen oder zu KünstlerGeburtstagen, Ehrungen oder Retrospektiven des Künstlers/der Künstlerin. Diese Differenzierungen bilden sich dann meist auch über die Liste und die Anzahl einschließlich der Kompetenzen und Inhalte der Redner und Reden ab. Da bei solchen Anlässen meist heterogene Publikumsschichten mit einer unterschiedlich ausgeprägten Kunstnähe oder Kunstferne und der daraus entstehenden Kunstkompetenz anwesend sind, erzeugt dies meist auch spannungsreiche Atmosphären, die mitunter zu amüsanten (Geschmacks-)Diskussionen und Kunstdiskursen führen.
Die Ausstellungseröffnung im privaten Raum: Die Ateliervernissage Bei den sogenannten Ateliervernissagen, die eigentlich an die ursprüngliche Form der Kunstvermittlung erinnern, lassen sich zwei unterschiedliche Facetten des privaten Rahmens erkennen. Dazu gehören jene, die im eigenen Atelier stattfinden und für den Künstler sowohl die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und als auch eine zwar vordergründige ökonomische Chance für Verkäufe inkludieren. Zudem sind das jene Vernissagen, die meist in Akademien als Abschlussinszenierung von Kursen veranstaltet werden, also gleichsam eine gemeinsame Werkschau und ein Resümee der Teilnehmer darstellen und meist auch für die örtliche und regionale Bevölkerung zugänglich sind und so auch zur Profilierung der Kunstinstitution dienen. Sowohl die Vernissagen in den Akademieateliers und als auch in den Privatateliers bieten einen engen und zugleich vertrauten sozialen Rahmen für Kommunikation und Kontaktmöglichkeiten mit den Künstlerinnen und Künstlern an. Ihre Abläufe sind völlig offen, und die Ver-
5. Kulturinstitution und Vernissage
nissage als Eröffnungsritual stellt meist den geselligen Abschluss einer Schaffensperiode von Künstlern dar. Mitunter findet sich darunter auch die sogenannte »Einbildvernissage«, in deren Rahmen in der Tat auch nur ein einziges Bild präsentiert wird.
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6. Die Vernissagenorte und ihre Ausstrahlung
Jene Plätze und Räume, auf bzw. in denen Vernissagen stattfinden, sind selten neutrale Orte. Sie strahlen meist eine besondere Aura durch ihre Geschichte, ihre Tradition und ihre je spezifische Ästhetik aus. So können Galerieräume, Museumsgebäude sowie Ausstellungsorte nicht nur Erinnerungsorte sein oder extravagante Museumsbauten darstellen, oder auch nur unscheinbare und bescheidene Galerieräume in den Hinterhöfen einer Großstadt sein. Ebenso trifft man auf revitalisierte und renovierte Bauernhöfe, adaptierte ehemalige Mühlen, neu adaptierte Kirchen (z.B. Würth in Schwäbisch-Hall, BRD), umgebaute Fabrikhallen oder Industriegebäude (z.B. das Ankerbrotareal in Wien) bis hin zu reinen Naturräumen bzw. weitgehend naturbelassenen Räumen (z.B. Wimbachtal im Nationalpark Berchtesgaden) als Landart-Ausstellungsorte. Ihre jeweilige Spezifik, die Enge und Weite, ihre Helligkeit oder Dunkelheit, ihre Großzügigkeit oder Verwinkeltheit, auch die erlebte (soziale) Dichte oder Leere rufen im Kontext von Vernissagen jeweils bestimmte Befindlichkeiten beim Besucher hervor. Räumliche Konstellationen tragen damit auch in der einen oder anderen Form zum Gelingen einer Vernissage bei, ohne dass dies jedoch eines empirischen Nachweises bedarf.1
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Die sozialpsychologische Literatur liefert viele Beispiele und Untersuchungen zum emotionalen Einfluss von Raumsituation auf die verschiedenen Wahrnehmungsebenen (z.B. Crowding, Raumästhetik etc.)
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Die Vernissage
Nun werden aus einer soziologischen Perspektive Räume und Orte aufgrund der unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen nicht mehr als feststehende umgrenzte Einheiten gesehen, sondern Räume sind handlungsrelevant, sie strukturieren die Situation, sie bestimmen unsere Erwartungen und gestalten unsere Handlungsabläufe (vgl. insgesamt Schroer 2006,176). Raumbedeutung, Raumwahrnehmung und der Einfluss des Raums sind gerade bei Vernissagen andere als beim üblichen Galerie- oder Museumsbesuch. Man betritt zwar den Raum, gerät jedoch sofort in ein vordefiniertes soziales Geschehen. Trotz dieser Einflussgröße lässt sich davon ausgehen, dass die Vernissage als soziales Ereignis im Vordergrund steht und Strukturen von Räumen als solche in den Hintergrund treten. Und wenn Räume akzentuiert werden, dann sind sie nur in ihrer sozialen Funktion relevant: Sie ermöglichen »das sich Treffen und Kommunizieren« für einen begrenzten Zeitabschnitt mit klaren zeitlichen normativen und ritualisierten Vorgaben und Grenzen. Vernissagen erzeugen meist eine »leichte und unverbindliche« Sozialatmosphäre. Vernissagenräume sind meist gebaute Räume – nur die »Landart« ereignet sich meist in naturräumlichen Umgebungen – und sie erweisen sich insbesondere zum Eröffnungszeitpunkt als soziale Räume, innerhalb deren Konfiguration gesellschaftliche und kommunikative Einund Ausschlüsse erfolgen. Hauser et al. (2011, 16) fassen den sozialen Raum als jenen Raum auf, der die Gesamtheit der Relationen und Vernetzungen von Körpern, Dingen und Zeichen, die durch materielle und symbolische Praktiken entstehen, einschließt. Dies trifft konkret auf die Raumbezogenheit von Vernissagen zu, wo auch die sinnliche Wahrnehmung sozialer Prozesse als Facette der Ästhetik des sozialen Raums thematisiert wird (vgl. ebenda, 17).
6. Die Vernissagenorte und ihre Ausstrahlung
6.1.
Atmosphären und Atmosphärisches
Bereits thematisiert wurde die »Atmosphäre« als wesentliches Strukturelement von Vernissagen. Ihr Stellenwert soll in ihrer sozialen und emotionalen sowie ästhetischen Wirkkraft skizziert werden. Wenn wir nun hier versuchen wollen, diese Bedeutung im Kontext der Vernissage einzufangen, dann differenzieren wir in Sinne von Böhme (2001, 59f) zwischen den Atmosphären und dem Atmosphärischen. »Mit Phänomenen des Atmosphärischen werden also solche Wahrnehmungsphänomene angesprochen, die gegenüber Atmosphären deutlicher vom wahrnehmenden Ich unterschieden sind und bereits eine Tendenz zeigen, Dingcharakter anzunehmen«, während Atmosphären »quasi objektiven Status haben, gleichwohl sie aber subjektive Wirklichkeiten sind«. Wer immer schon Vernissagen besucht hat, wird bei sensibler Wahrnehmung diese Differenzierungen im Eröffnungsgeschehen wahrnehmen können. Diese grundsätzliche und oftmals auch wenig steuerbare Atmosphäre wird hergestellt durch die wechselseitige Wirkung aus Einflüssen des Raums, der Kunstwerke, der Eröffnungsredner, der jeweils empfundenen sozialen Dichte und Enge sowie anderer Einflussfaktoren. Sie alle wirken in ihrer Gesamtheit auf die Besucherinnen und Besucher und ihre Emotionalität sowie situationale Befindlichkeiten ein. Die Vernetztheit im sozialen Beziehungs- und Begegnungsgeflecht der Anwesenden gestaltet die Atmosphäre mit, macht sie streng oder freundlich. Neben dieser grundsätzlichen Ausprägung dessen, was wir als eine Atmosphäre beschreiben können, entsteht durch ästhetische, gestalterische und soziale Arbeit das Atmosphärische durch subjektive Zuschreibungen und empfundene Stimmungen, die wahrnehmbare Kunst, das beobachtbare soziale Geschehen. Diese Zuschreibungen können daher etwa zu atmosphärischen Formulierungen wie »eine überwältigende Vernissage« oder eine »höchst distanzierte Vernissage« führen. Auch das Atmosphärische, das in Bildern und Objekten enthalten ist und das subjektiv interpretiert und verarbeitet wird, fließt in das
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Die Vernissage
Gesamtatmosphärische der Besucher mit ein. Damit spielt das Atmosphärische eine entscheidende Rolle für die dispositive Ausformung einer Vernissage, da sich darin auch jene »ungesagten« Elemente finden, die in Summe und in ihrer Interdependenz eine jeweils spezifische Wirkung erzeugen können.
6.2.
Die Ausstellungsräumlichkeiten: Weiße Räume mit Wirkung
Mitunter kommt es vor, dass sich im Rahmen der Präsentation von Kunstwerken Konflikte im Hinblick auf die räumlichen Gestaltungsmöglichkeiten ergeben, sich vorgegebene Raumarchitekturen als sperrig für die Vermittlung erweisen. Ebenso kann es aber auch zu einer optimalen Ergänzung dieser beiden Elemente kommen. Der Kurator ist in diesem Zusammenhang immer ein gefragter Experte, um einen spannungsgeladenen und produktiven Ausgleich zwischen Architektur und Werkspräsentation bzw. der Anordnung für die Kunst zu schaffen. Bei Vernissagen werden diese ausgleichenden und gestalterischen Bemühungen und Überlegungen oft durch die Dichte der Besucher verdeckt. Generell bevorzugen Galerien mit ihren rasch wechselnden Programmen aus rein praktischen Überlegungen heraus vorwiegend weiß gehaltene Ausstellungsräume sowie weiß getönte Stell- und Trennwände. Bei traditionsreichen Museen haben wir es wiederum oftmals mit einer »schwereren« Architektur zu tun, die mit kräftigen Rot-, Grünoder Blautönen aufwartet, die durch ihre prunkvollen Dekostoffe selbst bereits ein Kunstwerk darstellen (wie das z.B. beim Winterpalais in Wien der Fall ist). Diese Rahmenbedingungen erlauben nur die Präsentation spezifischer Objektkunst. Die Gestaltung und Ausfüllung dieser Farbräume mit Kunstwerken und Kunstobjekten stellen eine besondere Herausforderung dar, um auch eine entsprechende Aura für Vernissagenbesucher zu erzeugen. Generell lösen Aspekte wie die Helligkeit oder Dunkelheit, die nuancenreichen Farbgebungen von Räumen – heute gestützt durch Licht-
6. Die Vernissagenorte und ihre Ausstrahlung
effekte –, sowie die soziale Dichte oder Leere unterschiedliche Gefühle beim Besucher aus. Demgemäß stellt sich auch ein gewisses Wohlbefinden oder auch Missfallen ein, das wiederum entsprechende Wahrnehmungsvorgänge und emotionsgeleitete Zugänge bei den BesucherInnen einer Vernissage auslösen kann, also eine spezifische Befindlichkeitslage evoziert, die so zum Gelingen einer Vernissage einen entscheidenden Einfluss ausübt bzw. als solche auch eine entsprechend positive oder negative Erinnerung an diese verfestigt. Diese beschriebenen atmosphärischen Ausstrahlungen und die jeweilige Präsentationsspezifik für Kunstobjekte in den meist weißen Ausstellungsräumlichkeiten senden u.a. ästhetische Reize aus, die Tyradellis (2014, 136ff) hoffnungsvoll als Anlass für ein (neues) »Denken im Raum« folgendermaßen beschreibt: »Entscheidend für die Beurteilung einer Ausstellung sollte letztlich ihr Vermögen sein, den Besucher zu berühren und dabei etwas zu bewirken, was das Denken in Bewegung versetzt, was ihn darin unterstützt, die eigenen Seh- und Denkgewohnheiten in Frage zu stellen ohne dabei auf eine richtige Form hin zu normieren. Ebenso wichtig wie die Wissensvermittlung ist die Vermittlung eines Bewusstseins davon, dass jedes Wissen auch ein Entzug eines anderen Denkens über die Zusammenhänge ist.« Nun ist dieses Denken im Raum – »die konzentrierte Auseinandersetzung im white cube2 des musealen Raums« (so Tyradellis) – gerade bei Vernissagen in zwei weitere Vorgänge eingebettet, die dieses Denken und Wahrnehmen im Raum mitgestalten dürften. Es sind dies die Einführungsworte der Eröffnungsredner, also die verbale Kontextualisierung und Transformation des Visuellen sowie die (idealerweise kunsttheoretische) Kommunikationssituation mit den anderen Vernissagenbesuchern. Es sind dies zwei Faktoren, die beim Besuch einer herkömmlichen Kunstausstellung so nicht vorzufinden sind.
2
Vgl. zum Begriff »white cube« Vennemann 2018, S. 134ff.
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7. Die Vernissage als Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
Bereits erwähnt wurden die verschiedenen »Auftritte« bei Vernissagen als soziale Praktiken der beteiligten Personengruppen. Dispositiv analytisch können Auftritte als Subjektivierungsmöglichkeiten der Anwesenden interpretiert werden, da sich in jeweils spezifischen Rollen auch Machthierarchien abbilden bzw. derartige Zuschreibungen erfolgen können. Insbesondere bieten Vernissagen die Möglichkeit zu sozialen Kontaktaufnahmen, die sich in anderen Konstellationen nur selten ergeben. Künstler/in, Museumsdirektor/in, Galerist/innen, Kurator/innen, Leihgeber/innen, Kulturpolitiker/innen, (kunstinteressierte) Besucher, Sammler, Journalisten treffen aufeinander und wenden bewusst oder unbewusst Subjektivierungstechniken an. Aber auch die Kunst-Objekte selbst haben ihren »Auftritt«. Die Kontaktaufnahme und das Kommunikationsverhalten der beteiligten Akteure können nun flüchtig und oberflächlich ausfallen, aber auch intensive Beziehungen können angebahnt werden, wie etwa die zwischen Künstler/innen und Sammler/innen oder Vertreter/innen einzelner Kunsthäuser und Sammler/innen bzw. Leihgeber/innen. Generell und auf das Gesamtpublikum bezogen ist ein Abbruch der Konversation und kommunikativen Handlungen jederzeit möglich, und die Hinwendung zu den Ausstellungsexponaten ermöglicht es, sich in eleganter Weise »Höherem« – eben dem Auftritt der Objekte – zuzuwen-
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Die Vernissage
den und sich allfälligen Kommunikationsinteraktionen zu entziehen. Keine lange Verabschiedungsszene ist in so einem Fall angebracht oder notwendig, dem Kunstinteresse kann ein Vorrang eingeräumt werden. Vernissagen können als idealtypische Ereignisorte für derart strukturierte Auftritte gelten. Eine (»kleine«) Sozial-Theorie von Auftritten findet sich jüngst bei Matzke/Otto/Roselt (2015, 8ff). Sie differenzieren dabei zwischen drei Dimensionen, die sich auch im Kontext der Vernissage identifizieren lassen: Ostentation, Figuration, Zirkulation. Eine Übertragung dieser Dimensionen auf das Ritual der Vernissagen lässt sich folgendermaßen vornehmen: Die Ostentation trennt klar zwischen dem auftretenden Eröffnungsredner und dem anwesenden Publikum. Das In-Erscheinung-Treten des Redners ermöglicht es ihm zu sprechen, während das Publikum auf das Zuhören und Betrachten reduziert wird. Die kollektive Aufmerksamkeit, die durch den Auftritt entsteht, definiert nun die Rollenbilder der Anwesenden: den Eröffnungsredner und das Publikum. Die Dimension der Figuration thematisiert das Auftreten einer Person (Figur), die aufgrund ihrer Kompetenzen autorisiert und legitimiert ist, hervorzutreten und auf einem kollektiven Schauplatz die Einführung in ein Thema bzw. die Werke der Ausstellung zu übernehmen. Die Figur zieht dabei die Gemeinschaft – das Vernissagenpublikum – in ihren Bann. Die Zirkulation schließlich spricht die mediale Verbreitung und die Diskurse über den Auftritt an. Erst in der Erinnerung, im Gespräch, in der Erzählung, in der Kritik, in der Kommentierung, aber ebenso in seiner Verschriftlichung, wird der Auftritt zu dem, was er sein soll: eine Strategie des Überzeugen-Wollens der Auftritte der Kunstwerke und der Mehrdimensionalität, des Wahrnehmens, die es bei Kunstbetrachtung zu forcieren gilt. Kommunikation ist schon rein quantitativ gesehen die hervorstechendste Handlungsform im Rahmen einer Vernissage. Wer auf eine Vernissage geht, aus welchen Anlässen und Motiven auch immer, wird in der Regel noch etwas anderes als beim üblichen Besuch einer Ausstellung, die er an einem späteren Tag besichtigt, erwarten und dort nicht vorfindet. Denn nur bei der Eröffnung trifft er jene Besucher,
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
die Gleiches oder zumindest Ähnliches suchen, wie er selbst: Information und Kommunikation, Abwechslung und Anspannung zugleich, Sichtbar-Gemachtes, was sonst unsichtbar bliebe, Gehörtes, was sonst nicht gehört würde, Gesprochenes, was sonst unausgesprochen bliebe. Betrachten wir nun diese durchaus komplexen sozialen Auftritte nach den einzelnen Positionen und Absichten der beteiligten Akteure, die im Sinne des Dispositivs als Subjektivierungen aufgefasst werden können, als ein Herstellen des Selbst in einer Öffentlichkeit, der ein spezifischer Charakter durch ihr Setting zukommt.
7.1.
Der Künstler im Eröffnungsritual zwischen Zwang und Eitelkeit
Es erweist sich als unentbehrlicher Mechanismus, auf den Einladungskarten zu Vernissagen folgende Ankündigung zu machen: »Der Künstler ist anwesend.« So oder so ähnliche Worte finden sich auf (fast) jeder Einladung. Worin liegen nun das Interesse und die Faszinationskraft der Anwesenheit des Künstlers, wenn dies angekündigt wird? Automatismus, Tradition, Verpflichtung oder was steht letztlich hinter diesem Ritual? Eine mögliche soziologische Antwort findet sich bei Reckwitz (2012, 60-65) im Abschnitt »Künstler-Kreateure«: »Es (das Künstlersubjekt, d.V.) ist ein Exklusivtypus und damit eine merkwürdige Doppelfigur. Der Künstler ist einerseits ein sozial identifizierbarer Typus, der spezialisierte Leistungen erbringt, die Produktion von Kunstwerken. Aber er ist zugleich eine sozial exklusive Figur, denn nicht jeder kann Künstler sein oder werden. Das Künstlertum soll vielmehr »außeralltägliche« Eigenschaften einfordern, die sich gegen soziale Inklusion sperren und die im Rahmen der Genialkultur als genisus und ingenium umschrieben werden.« Und weiter: »Das Künstlersubjekt kann offenbar nur dadurch als jene Instanz etabliert werden, die das ästhetisch Neue hervorbringt, das diese sogleich genialistisch einschränkt.«
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Die Vernissage
Diese beiden Argumente, wenngleich nicht immer in dieser Wortwahl und Diktion beim Einzelnen als Idee existent, dürften die Erwartungshaltungen des Publikums mitbestimmen. Die Überhöhung der Anwesenheit des Künstlers zeigt sich in unterschiedlicher Weise. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren: Die aus Serbien stammende Künstlern Maria Abramovic inszenierte mit ihrem Projekt »The Artist is Present«, welches parallel zu einer Retrospektive ihrer Werke im MOMA 2010 stattfand, eine dreimonatige DauerPerformance. Sie blickte insgesamt 1565 Besuchern in einer face to faceSituation in die Augen. Diese persönliche Begegnung mit dem Besucher über diese intensiven Augenkontakte mit dem an einem Tisch ihr gegenübersitzenden Besucher erzeugten bei den Beteiligten hohe Emotionalität. Das Museum mit seiner Aura als ästhetisch aufgeladener Ort für diese Inszenierung diente dabei »nur« als Begegnungsraum. Der österreichische Künstler Hans Schabus begrüßte jeweils eine kleine Zahl von Vernissagenbesuchern in dem von ihm gestalteten Raum, dem »Cafe Hansi«, eine fantastisch-verrückte Bar des Künstlers, das in er Galerien oder im mumok aufstellte. In letzterem, zumindest im Jahr 2019, war das »Cafe Hansi« jeweils an einem Donnerstag pro Monat von 18-21 Uhr geöffnet. Schabus ist dabei anwesend, bedient und kommuniziert mit den Besuchern. Die Künstlerpräsenz erhält somit eine weitere Intensivierung und einen anderen Grad unmittelbarer Kommunikationsmöglichkeit (siehe auch S. 98 – Performative Vernissage). In beiden Fällen dient der gewählte Raum als ein definiertes, symbolisches Framing, hebt somit den Stellenwert des Künstlers und setzt die Person des Künstlers vor die Kontextualisierung der Kunst. Auf einer anderen Beobachtungs- und Argumentationsebene verfestigt sich auch das Bild des Künstlers, der oft, aber nicht immer, zurückgezogen seine Kreativität über sensible Kreationen und den dahinter stehenden vielfältigen Schaffensprozessen mit seinen teilweise mühevollen Phasen und persönlichen Krisen vollzogen hat. Er präsentiert nun sein Werk einer kritischen, wenngleich interessierten Öffentlichkeit und steht nun im Fokus eines mehrfachen strukturierten Publikums: den Kunstkritikern, den ungeschulten Betrachtern ebenso wie
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
einem kunstsinnigen Premierenpublikum und mitunter auch den eher spärlich erscheinenden Künstlerkollegen, die oft als nörgelnde Neider auftreten. Die bislang still gelebte Sensibilität und Emotionalität im Kontext der künstlerischen Schaffensperiode wird freigesetzt und das Geschaffene der Öffentlichkeit präsentiert. Die Preisgabe des Werks zur Wahrnehmung durch andere ist spannungsgeladen und mit konträren Gefühlen wie Hoffnung und Angst gleichermaßen besetzt, und dies sowohl für Betrachter als auch für den Schöpfer. Ein meist bohèmeartiger Lebensstil der Kunstschaffenden verbunden mit Zurückgezogenheit und kreativer Einsamkeit erfährt bei der Vernissage eine Umkehrung in Richtung höchste, öffentliche Aufmerksamkeit. Mit dieser Transformation des Selbst hat so mancher Künstler seine Probleme, und die Furcht des Künstlers vor der Vernissage ist ein durchaus gängiges Phänomen. Der markante Satz auf der Vernissageneinladung, »der Künstler ist anwesend«, erzeugt beim Publikum also mehrfache Erwartungen an seine Person. Man erhofft, von den Kreativen selbst zu erfahren, was sie denken, empfinden, was ihr Opus ausstrahlt und was es bewirken soll. Das Werk bedarf einer erzählbaren Geschichte sowie einer verbalen Rahmung des Visuellen, das sonst nur subjektiv und kommentarlos vom Besucher wahrgenommen wird. Beim Künstler selbst sind solche Erwartungshaltungen nicht immer willkommen, hat er doch nun öffentlich über sein Tun und Schaffen zu reflektieren und dies einem heterogenen Vernissagen-Publikum näherzubringen, wenngleich er in der Vernissage nicht öffentlich zu Wort kommt. Dafür sind die sogenannten »Künstlergespräche« im Laufe der Ausstellungsdauer vorgesehen. In Absprache mit dem Eröffnungsredner werden diese bereits in den Vernissagen angekündigt. Es findet sich natürlich auch der wortgewaltige und gestenreiche Künstler, der sein Werk dem Publikum näher bringt und es dabei insgeheim als potentiellen Konsumenten betrachtet. Zwischen diesen beiden Typisierungen gibt es dann facetten- und nuancenreiche Variationen von Kunstschaffenden, die situationsabhängig agieren. Die einen präsentieren und produzieren sich dabei, die
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anderen ziehen sich nach dem Ritual, das ihre Anwesenheit einfordert, wieder rasch zurück, die anderen wiederum umgeben sich nur mit ihren Bewunderern, und eine weitere Gruppe versucht die Besucher bei der Wahrnehmung und der selektiven Betrachtung der eigenen Werke zu beobachten und zu analysieren: Was gefällt? Was kommt an? Was wird be- und gesprochen? Worüber wird gelächelt? Und vieles mehr. Jeder, der Vernissagen besucht, findet hier Antworten auf diese Fragen und fragt sich möglicherweise, ob er sich in der Tat auf einer Vernissage befindet.
7.2.
Auftritt des Vernissagen-Publikums: Sozialstruktur,Besucherverhalten, Besucherurteile
Während die Kultur- und Kunstpublikumsforschung im deutschsprachigen Raum nach langen Phasen der Marginalisierung und Perioden mit starker Zeitverzögerung – nicht von ungefähr erschien vor kurzem die Monographie zur Nicht-Besucher-Forschung (Renz 2015) – im Vergleich zur angloamerikanisch geprägten Publikumsforschung nun langsam Fahrt aufnimmt und an Profil gewinnt (vgl. etwa Klein 1990 und 1997, Glogner-Pilz 2012 und 2010, Bachleitner/Schreuer/Weichbold 2005), ist über das Vernissagenpublikum noch wenig zu erfahren. Bei Reckwitz (2012, 66), einer der wenigen, der sich aus einer soziologischen Perspektive dem Kunstpublikum zuwendet, findet sich folgende Typisierung: »Das Publikum der Kunst umfasst dabei drei unterschiedliche, miteinander kombinierte Subjektpositionen: Konsumenten und Nutzer; private Rezipienten und ihre verinnerlichte ästhetische Aneignung; schließlich ein kollektives Publikum im engeren Sinne, das heißt eine soziale Form der Beobachtung, der Bewertung und Affizierung.« So treffend derartige Typisierungen sein mögen, Bedeutung erhalten sie erst in ihrer empirischen Evidenz und in ihrer Relation zum besuchten Kunst- bzw. Ausstellungsort. Nun könnte man in Analogie zu den bereits vorliegenden Sozialstrukturdaten von Museums- und Galeriebesuchen den Schluss wagen,
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
dass das Vernissagenpublikum mit dem üblicherweise anzutreffenden Publikum in Galerien und Museen strukturell durchaus gleichzusetzen ist. Da der Besuch einer Vernissage jedoch für manche wohl einen selektiven (Sozial-)filter darstellen dürfte und meist auch in verschiedenen Sozialkonstellationen erfolgt, in welche Richtung dieser dann auch immer ausschlagen mag, wurden ansatzweise eigene Erhebungen zur Struktur der Vernissagenbesucher durchgeführt. Dies geschah insofern, als für die einen die Vernissage einen willkommenen sozialen Treffpunkt darstellt; für die anderen bedeutet es dagegen sozialen Abstand zu halten, besucht man doch ein Museum oder eine Galerie wegen der Kunstwerke und nicht wegen der sozialen Kommunikation und meidet gerade die Vernissage wegen des meist deutlich höheren Publikumsaufkommens mit damit auch verbundener sozialer Enge. Zudem zeigt sich, dass Besuche von Vernissagen verstärkt paarweise oder in Begleitung erfolgen, ein Aspekt, der die Sozialstruktur von Vernissagen im Vergleich zum Alltagsbesuch von Museen und Galerien mitprägen dürfte. Insgesamt gesehen zeigen die zahlreichen Analysen, dass sowohl das Interesse als auch die Teilnahme am Kunst- und Kulturbetrieb oberschichtorientiert ist. Die Kunstsozialisation erfolgt vor allem über den Faktor abgeschlossene Ausbildung (vgl. Bachleitner/Schreuer 2008, 78), und Kunstkonsum ist Ausdruck eines spezifischen Lebensstils (Kirchberg 2005, 287ff). Betrachten wir dazu die Befragungsdaten des Vernissagenpublikums (vgl. Bachleitner/Aschauer 2008, 120-135).1 Es zeigt sich auch hier, dass bei der Partizipation im Bereich des Vernissagenbesuchs die höheren Bildungsschichten überwiegen (39 % Universitätsabschluss, 25 % Abitur/Matura und nur 1 % Pflichtschulabschluss), wenngleich dies vom jeweiligen Galeriestandort abhängt.
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Insgesamt wurden 266 Personen in 19 Galerien in Salzburg und Umgebung mit einem standardisierten Fragebogen erfasst. Das Ausstellungsprogramm umfasste monographische sowie Gruppenausstellungen lebender Künstler. Gefragt wurde nach der höchsten abgeschlossenen Ausbildung.
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Die Vernissage
Die These lautet daher, sowohl externe und personenbezogene Faktoren gestalten die Publikumsstruktur. Eine mehrfache Selektion und Segregation im Hinblick auf die Sozialstruktur findet statt, welches image- und anlassbezogen sowie standortbezogen begründet ist; dominant sind dabei bildungs- und interessensbezogene Faktoren, die entscheidenden Einfluss auf die soziale Zusammensetzung ausüben dürften. Die mitunter beobachtbaren, verschiedenen Grade sozialer Homogenität und Heterogenität werden so verstehbar, wie dies auch über die zahlreichen persönlich geführten, narrativ angelegten Interviews erkennbar wurde. Umfassende Analysen von Kirchberg (2005, 286; auch Keuchel 2005) zeigen zudem, dass Kunstmuseumsbesucher eine deutliche Nähe zum Niveaumilieu und Selbstverwirklichungsmilieu haben. Eine Typologie der Vernissagenbesucher – gerechnet über Clusteranalysen – erbrachte folgende 3 Gruppen2 : Gelegenheitsbesucher (41 %): Gelegenheitsbesucher sind kaum an der Vernissage interessiert, sie geben den vorgegebenen Besuchsmotiven einen untergeordneten Stellenwert. Einziger Grund ist, eine angenehme Freizeitbeschäftigung zu verbringen. Manche Besucher nehmen auch nur zufällig, also ungeplant, an einer Vernissage teil. Kunstinteressierte (31 %): Bei den kunstinteressierten Besuchern zeigt sich ein klares Interesse an allem, was Kunst betrifft: vom Wissen über Begeisterung für Kunst bis hin zu bereits bestehenden KunstKontakten. Die Besucher kommen meist auch auf Einladung des Künstlers oder Galeristen. Prestigebesucher (28 %): Prestigebesucher nennen als vorrangiges Besuchsmotiv den Künstler kennen lernen zu wollen und Leute zu treffen. 2
Insgesamt wurden 266 Vernissagenbesucher in 19 Galerien und Museen in Stadt-Salzburg und dem Umland im Jahr 2007 mit einem standardisierten Fragebogen erfasst (vgl. Bachleitner/Aschauer 2008, 123f).
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
Sie geben zwar durchaus an, kunstinteressiert zu seien, aber es ist nicht das vorrangige Motiv. Dies zeigt sich auch an einem größeren Interesse am »Gesehen zu werden« und der Betonung eingeladen zu sein. Eine ergänzende Sichtweise zu dieser empirisch gewonnenen Besuchertypologie findet sich bei Gruber (o.J, o.S), welcher ein amüsantes und zugleich süffisantes Bild der Besucher vorstellt: Galeriemuffel, Augengeile, Berufsschauer, Rumschnüffler, Brötchengeier, Bildspazierer, Kettenraucher, Schenkelkratzer, Nasenbohrer und Eckensteher (die ebenso amüsanten Beschreibungen der Charaktere-Typologie findet sich ebendort).
Der soziale Auftritt der Besucher Das Verhalten und die Handlungen der Vernissagenbesucher hängen trivialerweise von deren Besuchsmotiven ab. Das Spektrum reicht, wie Analysen gezeigt haben, von jenen, die ein deutliches Kunstinteresse signalisieren, über jene, die an Sozialkontakten interessiert sind, sowie zu einer kleinen Gruppe der Prestigeorientierten bis hin zu den Gelegenheitsbesuchern (Bachleitner/Aschauer 2008, 128). Eine vermutbare Dominanz des »Sozial-Kommunikativen«, also Gespräche und Kontaktaufnahmen zwischen den Besuchern anzustreben – das viel zitierte Kommunikationsverhalten der Besucher –, wird empirisch nicht evident. Dies kann sich u.a. aus zwei Gründen ergeben: Einerseits wird, wegen der leichten Beobachtbarkeit und Auffälligkeit bzw. Alltäglichkeit dieser Handlungen dies bei den Beschreibungen des Vernissagengeschehens kaum systematisch erfasst, andererseits wird bei Befragungen die »Geschwätzigkeit« und der soziale Austausch im Kontext von Vernissagen nicht vordergründig genannt, da solche Angaben nicht gerne in den Vordergrund gerückt werden. Letztlich würde aber eine stille oder gar stumme Vernissage die absolute und pure Faszination einer zu beobachtenden Kunst bedeuten. So ist auch der stille und nur beobachtende bzw. betrachtende Besucher empirisch selten auszumachen. Die zwar strukturiert durchge-
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Die Vernissage
führten Beobachtungen würden hier eine weitere Spezifizierung benötigen, um zeitbezogene Angaben über Verweildauer vor Objekten, Gesprächsdauer mit Vernissagenbesuchern etc. zu erhalten. Diese Verhaltensaktivitäten wurden bislang nur bei Museumsbesuchern außerhalb der Vernissage erfasst (vgl. Bachleitner/Weichbold 2008). Wesentlich und von Interesse wären hier die Inhalte der Gespräche. Die ansatzweise durchgeführte, verdeckt teilnehmende Beobachtung (eigentlich die verborgene »Zuhörung«) zeigt folgende Muster im Kommunikationsverhalten: Bei den eher flüchtig Bekannten oder auch neuen Kontaktaufnahmen der Besucher dominieren Kommentare zu Künstler, Kunstwerk und Eröffnungsrede, sie liefern den unmittelbaren Gesprächsstoff. Bei jenen, die aufgrund des erkennbaren Begrüßungsrituals durchaus intensivere Beziehungen (Bekanntschaften) erkennen lassen, zeigt sich, dass der rein private Informationsaustausch überwiegt. Die Kunst ist zwar Anlass, aber im Gespräch letztlich sekundär. Die zwar identifizierbare aber eher kleine Gruppierung, bei der das Werk des Künstlers im Gesprächsvordergrund steht, verweilt meist auch nur kurz: Man hat gesehen und sich einen Eindruck von der Inszenierung gemacht und kann seine Vergleiche ziehen. Die Vernissage, die die Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit ansatzweise und temporär einebnet, kommt bei urbanen Geselligkeitsbedürfnissen generell den Egozentrismen entgegen. Auch eher versteckt und gleichsam hinter dem vordergründigen Kunstinteresse im Rahmen des Eröffnungsrituals steht auch das hinlänglich bekannte Betrachten und Beobachten sowie umgekehrt das Wahrgenommen-Werden durch die anderen Vernissagenbesucher. Man dokumentiert mit der Anwesenheit sein Kunstinteresse, seinen (selektiven) Geschmack sowie sein Interesse am Künstler und seinem Werk, aber die Relevanz eines individuellen Auftritts ist ebenso erkennbar (vgl. Bachleitner/Aschauer 2008, 127f). Verbindet man und zwar lediglich auf Plausibilitätsebene, die ästhetische Sozialität mit der klassischen Sozialstruktur von kunstorientiertem Publikum, so erweist sich der Aneignungsprozess von sinnlicher Wahrnehmung und Affektproduktion auf bestimmte Sozialstrukturen zentriert. D.h. aber auch, die Ästhetisierung des Sozialen
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
ist an bestimmte ökonomische und bildungsbezogene Bedingungen geknüpft.
7.3.
Besucherempfinden und Besucherurteile
Welche Urteile geben Vernissagenbesucher über das Erlebte, Empfundene und Wahrgenommene ab? Die Befragungsdaten zeigen, dass es zu weitgehend positiven Urteilen bezüglich der Zufriedenheit bei den »Interessenwerten« und den »Informationswerten« kommt. Bezüglich der vorgegebenen sozialatmosphärischen Komponenten (eintönig vs. anregend, ungesellig vs. Gesellig, langweilig vs. spannend) nehmen die positiven Urteile deutlich ab (vgl. Bachleitner/Aschauer 2008, 129). D.h. die so oft angeführten sozial-kommunikativen Komponenten bei Vernissagen, die zwar auch einen der zentralen Besuchsgründe darstellen, werden jedoch nicht in diesem Ausmaß erfüllt, wie dies erwartet bzw. erhofft wurde.
7.4.
Die Vernissage als Ort der »Glücksfindung«: Affekte und Atmosphären
Das Affektpotential von Dispositiven wurde bereits mehrfach thematisiert. Der Affektmangel der Moderne soll wie bereits besprochen dazu beigetragen haben, dass sich u.a. vermehrt ästhetische Praktiken herausbildeten. Vor allem im 20. Jahrhundert erkennt man Impulse dafür, dass sich immer umfangreichere kreativ-ästhetische Komplexe zeigten. Das Kreativdispositiv reagiert auf diese Affektdefizite: »Die Ästhetisierungsprozesse des Kreativitätspositivs versuchen diese Verknappung zu überwinden.« (Reckwitz 2012, 315)3
3
Wir differenzieren hier nach affektiv und emotional insofern, als der Begriff affektiv eher an Subsystemen, Institutionen, Organisationen etc. festgemacht ist, während emotional direkt am Subjekt festgemacht ist. Es erfolgt also eine
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Die Vernissage
Auch empirisch betrachtet wird der positive emotional-affektive Beitrag des Kunst- und Kulturkonsums zur Lebenszufriedenheit immer wieder analysiert. Eine Übersicht empirischer Befunde zu dieser These findet sich bei Reuband (2013). Demnach soll die Teilnahme am aktuellen Kunst- und Kulturbetrieb angeblich glücklich oder zumindest zufriedener stimmen (vgl. auch Frey 2008, Frey/Meier 2008 oder umfassend Prochnov 2011a, 2011b). Die aktive Partizipation am Kunstbetrieb ermöglicht und vermittelt subjektiv erlebbare ästhetische Erlebniswerte, die zur emotionalen Ausgeglichenheit beitragen sollen und dies auch einlösen können. Diese grundsätzlichen und sehr allgemeinen Annahmen wurden zwar aufgrund verschiedener empirischer Studien in ihrer Aussagekraft eingeschränkt, da sich Lebenszufriedenheit und Glück – wie immer dieses dann aufgefasst und erfragbar wird – hinsichtlich der Vergleichbarkeit als ein schwieriges Unterfangen erweist. Denn Glücksempfindungen hängen bekanntermaßen auch mit zahlreichen anderen Faktoren wie Alter, Bildung und situativen Variablen, die sozioökonomischen Hintergrund aufweisen, zusammen. Entscheidend für die Frage eines nachweislichen Effekts der Vernissage als Glücksquelle für den einzelnen Besucher ist jedoch die Erkenntnis, die Reuband (2013, 88f) in einem zweiten Auswertungsschritt seiner empirischen Studien erhält: »In einem weiteren Schritt der Analysen führen wir daher zusätzlich die Häufigkeit des Treffens mit Freunden und Bekannten als Variable ein (…). Es zeigt sich, dass der Einfluss der kulturellen Partizipation auf die Lebenszufriedenheit in der Tat unter diesen Bedingungen derart stark sinkt, dass nirgends eine statistische Signifikanz mehr erreicht wurde. Dieser Befund weist darauf hin, dass es nicht das ästhetische Erlebnis per se ist, das den Einfluss auf die Lebenszufriedenheit ausübt, sondern die Tatsache, dass kulturelle Partizipation in einen Lebensstil eingebunden ist, der mit sozialen Kontakten – sei es in der kulturellen Einrichtung selbst oder davon getrennt – eingeht.« Dereferenzierung auf Makro- und Mikrokonstellation der Gefühlswelten und Gefühlskulturen.
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
Legen wir dieses Ergebnis auf unsere Thematik um, so dürfte sich die Vernissage – die ja u.a. als sozialer Treffpunkt und Kommunikationsort gelten kann – als eine der Quellen erweisen, die einen Beitrag zum aktiven kulturpartizipativen Lebensstil und somit zur Lebenszufriedenheit leisten kann. So stehen gerade bei einem Vernissagenbesuch die sozialen Komponenten bei der Mehrheit der Besucher im Vordergrund, auch wenn dann wie gezeigt die Erfüllung dieser Aspekte hinter den Erwartungen bleibt. Die Vernissage als Ort zur »Glücksfindung« kann ihren je spezifischen Beitrag auch auf einer anderen noch wenig untersuchten Ebene leisten. Die Wahrnehmung von »Ästhetik« kann, ähnlich wie die Musik im Gehirn, durchaus Aktivitäten auslösen, die zu Glücksempfindungen führen können (vgl. im Detail Kandel 2007).
7.5.
Die Kunstobjekte und Atmosphären als Affektauslöser
Das Betrachten und Wahrnehmen von Kunstwerken, Bildern, Objekten, Installationen oder Kunst-Videos sowie das Beobachten von Kunstaktionen (Malaktionen, Happenings etc.) kann einen Anstoß zur Evozierung von Affekten beim Einzeilen leisten. Die Unbestimmtheit solcher Effekte beim Betrachter während des Betrachtungsvorgangs aber auch im Nachhinein stellt eine weitgehend subjektive Erlebnisqualität dar: Von Faszination über Irritation bis zu Ablehnung und spontaner Abscheu können die hervorgerufenen Gefühle reichen. Dieser Erregungshaushalt (Affekt-Ästhetik) der bei Kunstbetrachtung ausgelöst wird, hängt u.a. von der bisherigen Kunstsozialisation ab. Stellen wir jedoch vorweg die Frage: »Was bedeutet Affekt in der Kunsttheorie?« »Entsprechend der etymologischen Bedeutung von Ästhetik als »durch die Sinne bindend«, verknüpft der Affekt die ästhetische Qualität einzelner Kunstwerke in Ausstellungen bzw. die Kunst dieser Ausstellungen mit dem, was ich gern als neue, absolut zeitgenössische Politik des Betrachtens (politics of looking) verstehe…«. Noch klarer wird dieser Begriff des Affekts, der sich von Anthropomorphisierung von Kunst distanziert, bei Bergson und Deleuze deutlich: Wahr-
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Die Vernissage
nehmung im Sinne der beiden genannten Autoren ist eine Auswahl dessen, was aus dem Universum der Sichtbarkeit für unser Leben brauchbar wird (vgl. insgesamt dazu Bal 2006, 8). Die dazu vorliegenden vereinzelten Forschungsergebnisse der »Affective-Sciences« (vgl. kunstbezogen den Sammelband von KrauseWahl/Oehlschlägel/Wiemer 2006) verfolgen heute das Ziel, Kunstwerke nicht mehr nur als Ort affektiver Intensitäten zu betrachten, sondern die transformative Kraft der Affekte in ihren Möglichkeiten für Veränderung von sozialen Formationen auszuloten und zu beschreiben. Kunstwerke fungieren also nicht mehr nur als Instrumente für inhaltlich formale Repräsentation, sondern auch als (emotionalisierte) Instrumente für die eigene Orientierung in der Welt (vgl. Hoff 2006, 32). Dies bedeutet für unsere Fragestellung insgesamt: Die bei den Vernissagenbesuchern durch die Kunst-Betrachtung ausgelösten Empfindungen, Gefühlte sowie das Imaginierte und Gedachte – also das letztlich nicht Ausgesprochene – wird sich auf die Atmosphäre in der Vernissage übertragen. Selektive Publika mit hoher Kunstkompetenz tragen so auch zur Überhöhung von Atmosphären und Kunstevents bei. Die kreative Macht der Vernissagen-Atmosphäre verknüpft auf einer emotionale Ebene Kunstwerk und Betrachter. Ein solcher atmosphärischer Machteinfluss kann bereits bestehende Kaufabsichten für Kunst (mit-)steuern.
7.6.
Atmosphären und Affektproduktion im Eröffnungsritual
Nicht nur ästhetisierende Kunstobjekte evozieren Affekte, es sind auch spezifische Atmosphären auf Vernissagen festzustellen, die im Sinne ihrer »ästhetischen Sozialität« Wirkungen erzeugen und eine eigene Form des Sozialen hervorbringen: Die Besonderheit des ästhetisch Sozialen (im Kontext des Kreativ-Dispositivs, d.V.) besteht darin, dass vier spezifische Instanzen und Einheiten miteinander verknüpft werden, nämlich Subjekte als Kreateure, ein ästhetisches Publikum, ästhetische Objekte und eine institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeit
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
(vgl. Reckwitz 2012, 322f). Die Passfähigkeit dieses Gerüsts, das ja das Kreativitätsdispositiv verkörpert, ist im Vernissagengeschehen mit seinen spezifischen Atmosphären idealtypisch vorhanden.
7.7.
Der Käufer zwischen Profilierungssucht und Reservierungsabsichten
Es zählt für den Besucher einer Vernissage nicht nur zu den Privilegien, die größte Objekt-Wahl zum Zeitpunkt der Eröffnung zu haben, sondern es ist damit auch der Reiz verbunden, sich eine soziale Profilierung vor dem versammelten Publikum zu verschaffen. Die soziale Distinktion durch den Reservierungs- oder den Kaufakt unter Verwendung der hinlänglich bekannten Farbpunktcodes wird zu einer Inszenierung vor dem Künstler, dem Galeristen und dem meist verstohlen beobachtenden Publikum. Auch hier lassen sich zwei Gruppen von Käufern erkennen: die einen, die die Vernissage als Auftrittsbühne für sich selbst sehen und nützen, die anderen, die den Erwerb eines Kunstwerks eher still und verdeckt erledigen wollen. Es wird nicht nur ein Objekt erworben, sondern man kauft über die Kunstwerke auch Emotionen: Erinnerungen, Sehnsüchte, verschüttete Gefühlswelten oder was immer der Einzelne damit verbindet. All jene, die gerne den grünen Punkt zur Kennzeichnung wählen, dürften jener Käuferschicht zugehören, die sich zwar öffentlich präsentieren wollen, aber selbst sich noch in einer Kaufunsicherheit befinden und soziale Rückversicherung einholen müssen; bei so manchem dürfte es jedoch die reine soziale Profilierungssucht sein, die dazu verleitet, vor einer im Alltag selten erreichbaren Öffentlichkeit sozial zu »punkten« und sein »kulturelles Kapital« im Sinn Bourdieus in die Waagschale zu werfen.
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Die Vernissage
7.8.
Die Sammler
Die Vernissage gilt auch als Kontaktbörse und Initialort für Beziehungen zwischen Galeristen, Museumsdirektoren, Künstlern und Sammlern. Die soziale Atmosphäre des Eröffnungsrituals verhilft den beteiligten Akteuren zu verstärkter öffentlicher Aufmerksamkeit: Der Sammler tritt aus dem Publikum hervor, indem er seine Kaufabsicht publik macht. Der Galerist zeigt dem Publikum die Aktualität und Anziehungskraft der ausgestellten Künstler sowie die Faszinationskraft der ausgewählten Kunst. Der Künstler zeigt sich öffentlich geehrt und insgeheim verehrt, hat er doch meist auch einen Verkaufserfolg zu verzeichnen. Die Museumsdirektion zeigt wiederum die von ihr präsentierte soziale und kulturelle Vernetzung mit potenten Sammlern, ein Prestigegewinn für beide Seiten. Kunstsammler machen im Gegensatz zu früher ihre Kauf- und Sammelleidenschaft zunehmend öffentlich (vgl. etwa Hollein 1999, 117), aber auch die Ausstellung »Entdecken und Besitzen« im mumok 2004, die österreichischen Sammlern eine gemeinsame Bühne verschaffte und vielfältige Kontakte initiierte. Gerade die Vernissage bietet eine weitere Facette in diesem Prozess einer öffentlichen Darstellung der Sammlertätigkeit. Die soziale Distinktion und Profilierung steht dabei ebenso im Vordergrund wie die Begeisterung auf der Suche nach neuer Kunst (vgl. dazu die umfassende Literatur etwa bei Wojda 2015). Sammler sind von Kunst affiziert, sie besitzen neben ihrer Leidenschaft zur Ästhetisierung des Alltags auch die Gabe, eine Beziehung zwischen Sichtbarem und seinen Wirkungen auf sie selbst über das wahrgenommene Kunstwerk aufzubauen, und zwar im Sinne eines Self-Impression-Managements. Nicht selten ist diese Affizierung auch verbunden mit der Errichtung eigener Orte für die Kunst (Privatmuseen) oder auch nur die Adaptierung von Privaträumen für die Prestigeobjekte oder Stiftungen zur Präsentation ihrer Sammlung. Begleitet und geleitet wird dies auch von der Überzeugung, dass Kunst auch eine vielversprechende finanzielle Wertanlage ist. Der Erwerb und die Veräußerung mit entsprechendem Gewinn sind ebenso anzutreffen wie Sammler mit massiven Ankäufen. Wenngleich im Hintergrund
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
wohl immer »besitzästhetisches« Bedürfnis ausschlaggebend sein mag, »das Ganze bei sich zu Hause« zu haben. Die Vernissage bietet hier eine Bühne und Möglichkeit für eine angestrebte soziale und ökonomisch-kulturelle Profilierung an. Die möglichen Gründe, warum gerade Sammler hier vermehrt den Kontakt zum Künstler suchen, mögen wohl darin liegen, dass, wie es etwa Reckwitz (2010, 252) – wenngleich in einem etwas anders gelagerten sozialhistorischen Kontext – meint: »Innerhalb der bürgerlichen Kultur ist der Künstler eine randständige, nischenhafte, aber zugleich äußerst interessante in einem widersprüchlichen Sinne affektiv besetzte Subjektfigur: als Objekt der Heroisierung und der Pathologisierung. Heroisiert werden kann die Künstlerfigur, da sie Eigenschaften enthält, die eine Steigerung der Werte bürgerlicher Kultur bedeuten, die innerhalb der bürgerlichen, klassisch-modernen Gesellschaft jedoch zugleich nicht verallgemeinerbar erscheinen.« Die Privatsammler kann als eine Persönlichkeit mit ausgeprägten spezifischen Eigenschaften gelten. Dazu zählen eine deutliche Leidenschaft gegenüber der Kunst, der Drang, diese auch besitzen zu wollen und ebenso das Verlangen, eine private Sammlung auch öffentlich zu präsentieren. Diese Sammler initiieren nun nicht selten auch Vernissagen, um eben ihre gesammelte Kunst öffentlich zu machen, wenngleich nur wenige die Möglichkeit haben, ein eigenes Museum mit ihrer Kunstsammlung zu bespielen. Andere wiederum geben ihre Sammlung als Dauerleihgaben oder zeitgebundene sowie personengebundene Leihgaben an ein Museum ab bzw. initiieren in Museen ihr Privatsammlung (z.B. Heidi Horten im Leopold Museum 2018). Nur selten übergeben sie ihre Privatsammlung als Schenkung (vgl. u.a. die Schenkung von Gertraud und Dieter Bogner 2008 an das mumok in Wien). Auch hier stellt die Vernissage für den Sammler jenen sozialen und symbolischen Höhepunkt dar, in dessen Rahmen der Kunstbesitz der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird. Insgesamt zeigt sich also, dass sich durchaus Parallelen zur Vergangenheit ziehen lassen bzw. diese bis heute noch nachwirken: »Kunst signalisierte einst den Status des Fürsten und heute als Wandschmuck den Status des Kunstbesitzers, der über die nötigen Ressourcen und
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Die Vernissage
über den richtigen Geschmack verfügt. So hat Kunst also auch mit sozialem Rang zu tun.« (Schuster 1992, 22) Dies zeigt sich u.a. auch darin, dass Sammler auf Vernissagen nicht nur geschätzt, sondern auch hofiert werden, und zwar von Galeristen ebenso wie von Museumsfachleuten. Galeristen hoffen auf den Ankauf von Werken, die die Sammlung und den Status des Sammlers weiter erhöhen, und die Museumsleute hoffen insgeheim auf Schenkungen, Dauerleihgaben oder auch auf Ausstellungen aus den Sammlerbeständen für ihr Museum, die ihrerseits das Sozialprestige des Leihgebers erhöhen, der dafür zudem mit medialen Auftritten rechnen kann (vgl. dazu z.B. die »Heidi Horten-Collection« im Leopoldmuseum Wien, kuratiert von Husslein-Arco/Natter 2018). Stellen wir wiederum die Verbindung zum Prozess der Ästhetisierung her, so zeigt sich, dass wir in Anlehnung an die Einschätzung von Reckwitz (2012, 337) eine empirische Grundlage finden: Denn erst mit der Kopplung an Ästhetisierungsprozesse – hier dem Erwerb eines Kunstobjekts – auf der Arbeits- und Konsumseite wird für Subjekte der Ökonomisierungsprozess attraktiv. Die Ästhetisierung liefert der Ökonomisierung über den Objektkauf einen motivationalen »Treibstoff«. Auf der Suche nach kreativer Tätigkeit und nach ästhetischem Erleben erfahren die kreativen Orte – im vorliegenden Fall Galerien und Museen – eine verstärkte Nachfrage.
7.9.
Die Auftritte der Kunst- und Kulturfunktionäre: Galeristen, Museumsdirektoren, Kulturpolitiker und ihre Rollen im Eröffnungsritual
Eine der Funktionen von Galeristen – die ja meist als ökonomisch motivierte Ästheten gelten – besteht in der Entdeckung von junger und innovativer Kunst. Die mächtige Position der Galeristen besteht somit in der Möglichkeit der Zuschreibung einer bestimmten Definitionsmacht, was »Kunst« sein kann bzw. diese »ausmacht«. Die Entdeckung und Präsentation solcher Kunst zählt zu den bevorzugten Aufgabengebieten der Galeristen, die vor allem eine Vernissage als Vermarktungsplatt-
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form nutzen können. Das bisher Unbekannte wird nun zum Bekannten, in einen bestimmten Kanon eingereiht und damit kontextualisiert und muss sich nun eine genuine Position erarbeiten. D.h. der Galerist hat die Macht und gleichzeitig das Risiko, einen Künstler auch zu »machen« und zu positionieren, wobei über das Instrument der Vernissage besondere Akzente gesetzt werden können. D.h. es tritt hier auch die versteckte Macht der Galeristen zu Tage, jenen Geschmack zu gestalten und zu bedienen, der auch eine ökonomische Zukunft – sowohl für den Galeristen wie den Kunstschaffenden – verspricht. Aber auch Museumsdirektoren finden mit ihren umfassenden Aufgabenbereichen im Rahmen von Vernissagen jene Kommunikationsmöglichkeiten vor, die ein Segment aus dieser Aufgabenvielfalt in einer sozial-ästhetischen Atmosphäre adressiert: etwa Sammler langfristig für das Haus zu gewinnen bzw. an dieses zu binden, Schenkungen und Dauerleihgaben vorbereitend einzuleiten, aber auch in der Publikumspflege und Besucherbindung persönliche Akzente zu setzen und diese so zu intensivieren, um ihren Einfluss geltend machen zu können. Auch für Kulturpolitiker und Politiker insgesamt bieten Ausstellungseröffnungen jene Gelegenheiten, sich entsprechenden Öffentlichkeiten zu präsentieren, um die Leistungen und Vorhaben aus der kunstund kulturpolitischen Szene – sei es aus Vergangenheit und wie Zukunft – zu präsentieren bzw. an sie zu erinnern. Eine eigens dafür definierte sowie interessierte, meist regional rekrutierte Öffentlichkeit wird für solche Auftritte zudem auch medienwirksam genutzt. Die Politiker platzieren aber auch meist mehr oder weniger versteckt ihre Botschaften über lokale politische Themen und verstehen es meist, die Vernissage auch ihrerseits als Bühne für Imagegewinn und Machtansprüche zu nützen.
7.10.
Die Kuratoren: Ausstellungsmacher und Inszenierungsexperten
Ohne Kuratoren gäbe es heute wohl keine gelungenen und umfassend konzeptionierten Ausstellungen. Die Vernissage ist auch für sie die
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Die Vernissage
Chance und Möglichkeit an die Öffentlichkeit zu treten, ihre Konzepte und Ideen und Überlegungen umfassend zu präsentieren. Meist sind es auch die Kuratoren, die als Redner auf Vernissagen auftreten, da sie sich intensiv mit dem Werk und den Künstlern auseinandergesetzt und die Ausstellungstexte und Kataloge mitgestaltet oder verfasst haben. Sie besitzen hier die höchste Wissenskompetenz, haben sie doch mit dem Künstler intensiv kommuniziert, die Bildauswahl getroffen, die Hängung und Positionierung der Werke abgestimmt, Hintergründiges in den Vordergrund gerückt und die Raumarchitektur entsprechend genutzt. Bei Sammelausstellungen erfolgen die chronologischen Abfolgen und die selektive Nähe der Werkgruppen oder auch Gegenüberstellungen etc. durch den Kurator (vgl. Zuckriegl 2004). Kuratoren müssen sich neben den eingeforderten fachspezifischen Kompetenzen weiteren umfassenden Herausforderungen stellen, befinden sie sich doch an der Schnittstelle zwischen ausstellender Institution und den Vorlieben bzw. Erwartungshaltungen der Künstler mit ihren oft auch sehr spezifischen Vorstellungen. Es braucht oft diplomatisches Geschick, um all diese Facetten in eleganter Manier für ein anspruchsvolles Vernissagenpublikum zu verbinden. Die Rolle und Funktion der Kuratoren wird von Tyradellis (2014, 212ff) umfassend beschrieben: »Das Wort Kurator konnotiert bereits eine expressive Geste. Hier schiebt sich jemand vor die Exponate, funktionalisiert sie womöglich und selektiert die Wahrnehmungsoptionen des Besuchers. Zum einen ist dies unvermeidlich und auch gewollt; zum anderen bleibt es behaftet mit dem Geruch von Willkür und autoritärer Geste.« Der Kurator exponiert sich also und artikuliert sich in einer Öffentlichkeit, die (sozial) heterogen zusammengesetzt ist: Kenner, Kollegen, Unwissende, sie alle sollten gerade bei einer Vernissage, wo diese unterschiedlichen Gruppierungen anwesend sind, mit Wissen bedient werden. Konzept und Sinn der getroffenen Anordnungen der Werke und Werkgruppen im Raum, die Konfrontationen mit der Raumarchitektur sollen erkannt werden; die Kenntnis darüber verleiht dem Kurator eine Schlüsselposition im Rahmen der Eröffnung. Der Kurator steht also
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
immer dazwischen: »Als Figur des Dazwischen ist er besonders damit beschäftigt, was im arbeitsteiligen Alltagsbetrieb am wenigsten Beachtung findet, dem Sinn. Die Frage: Was soll das Ganze hier? kann von jedem Menschen zu jeder Zeit formuliert werden.« (Tyradellis 2014, 217) Aus einer dispositiven Analyseperspektive hat der Kurator somit die Macht der Selektion und Neuinterpretation der Werke der ausstellenden Künstler. Er verfügt über die Mittel, das Wissen und die beabsichtigten Wirkungen des Kunstwerks zu transferieren, also das vom Künstler Empfundene und Beabsichtigte in das ästhetisch Erfahrbare im Rahmen einer Ausstellung überzuleiten. Kuratoren haben damit auch die Macht, Affektbilder durch Ausstellungen zu erzeugen, die in Erinnerung bleiben; sie sind somit auch Affektjongleure.4 Insgesamt gesehen bietet also die Vernissage jene Bühne und jenen sozialen Rahmen für den Kurator, wo er umfassende Rückmeldung zu seiner Tätigkeit in Form einer Akzeptanz oder Kritik über das Ausstellungskonzept erhalten kann. In keiner anderen Phase ist dieser Kurator öffentlich so präsent und in seiner Kompetenz nachgefragter als bei diesem Eröffnungsritual; setzt er doch als Experte eine konzeptionelle Rahmung und bietet eine inhaltliche Kontextualisierung von Kunstwerken und Objekten an.
Interne und externe Kuratoren und ihre Rolle in der Vernissage Blicke von außen, die jedoch spezifische Kompetenzen mit sich bringen und anfänglich oft verstören, können zu neuen Interpretationen von 4
Bal (2006, 9f) führt ein treffendes Beispiel für solche Affektbilder an: »Im Winter 2003/2004 wurde im Haus der Kunst in München die außergewöhnlich wirkungsvolle Ausstellung Partners gezeigt. Kuratiert wurde sie von der kanadischen Sammlerin Ydessa Hendeles, die auch den Essay für den Katalog verfasste. (…). Partner dokumentiert, was ich affektive Syntax nennen. »Affektive Syntax« ist ein Terminus, der zu verstehen gibt, dass die affektive Durchschlagskraft einer Ausstellung statt in jedem einzelnen Objekt in der räumlichen Zusammenstellung und zeitlichen Abfolge (Sequenzierung) von Objekten liegt. Diese Ausstellung war ein hervorragendes Beispiel für dieses Prinzip und ihre besondere Verwendung von Objekten, die wir »Kunst« nennen, sie demonstriert den Wert einer Perspektive, die den Affekt ins Zentrum rückt.«
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bisher bekannten Sichtweisen führen. Vor allem Museen mit den ihnen auch zur Verfügung stehenden finanziellen Möglichkeiten laden daher oftmals externe Kuratoren zu Ausstellungsgestaltungen ein, wenngleich dies nicht immer zur Freude der ansässigen Kuratoren erfolgt, die üblicherweise mit den Sammlungsbeständen eines Museums vertrauter sind und die sich in so einem Fall in eine reine Zulieferrolle gedrängt sehen. Langfristig gesehen ergeben sich aus solchen Einladungen jedoch zahlreiche Chancen für weitere Kooperationen der beteiligten Institutionen.
7.11.
Die Vernissagenredner und ihre Rede im Eröffnungsritual: Vom wahrgenommenen Bild zum gesprochenen Bild und wieder zurück
Die Eröffnungsrede, meist gehalten von ausgewiesenen ExpertenInnen aus den Bereichen Kunsttheorie und Kunstgeschichte, soll dem Publikum einer Vernissage die ausgestellten Bilder, Werke, Objekte oder Installationen näherbringen. Die angestrebten Intensionen des Künstlers, also seine Ideen-, Gedanken- und Empfindungswelten, gilt es verbal zu vermitteln und transparent zu machen. Gerade die postmoderne Kunst mit ihren zahlreichen Visualisierungs-, Performance- und Installationsvarianten und einer zumeist stark in diskursiven Theoriekontexten verorteten Werkrahmung bedarf umfassenderer Einordnungen und Erläuterungen, hat doch der Kunstbegriff damit insgesamt eine strukturelle Veränderung und Erweiterung erfahren, die erst verzögert beim Publikum ankommen und auf unterschiedliche Akzeptanz stoßen. Die verbale Einbettung des künstlerischen Werks in die biographischen, gesellschaftlichen, politischen sowie auch in die kultur- und kunsthistorischen Zusammenhänge sollen einen Verständnissinn und ein Sinnverständnis für das Werk entwickeln, denn nur durch solches Wissen kann das Werk des Künstlers erfasst, verinnerlicht und dann entsprechend individuell erschlossen und interpretiert werden.
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So notwendig und hilfreich derartige Eröffnungsreden sein mögen, sollte man ihnen auch kritisch gegenüberstehen. Die Wortmacht und Interpretationskraft der Vernissagenredner und Kuratoren erzeugen Bildvorstellungen von den Werken, Objekten etc., welche nicht immer vom Künstler intendiert gewesen sein mögen oder dessen sich der Künstler selbst in dieser verbalisierten Diktion nicht bewusst war. Allgemein nachvollziehbare Kriterien für die Interpretationsvorgänge der Werke durch die Betrachter sind dabei nicht immer auszumachen und werden von den Künstlern (meist) auch nicht vorgegeben. Der Interpretationsrhetorik und dem kunsttheoretischen »Jargon« der Redner sind daher keine Grenzen gesetzt, und die Interpretationen sowie Anmerkungen seitens der Künstler selbst dazu sind nicht selten auch verblüffend, wenn man typischerweise etwa hört »… so habe ich das noch gar nicht gesehen« oder »so könnte man es auch betrachten«. Die Interpretationen und Ableitungen sowie die angestellten Einordnungen und Bezugnahmen in den Kontext von Kunst und Ästhetik sind vom Detail- oder Einschätzungswissen des Redners geprägt und müssen nicht mit den Absichten und Erkenntnissen des Künstlers übereinstimmen. Überwiegen bei den einen – den Künstlern – die kreative Emotionalität und die Macht der ästhetischen Intuition, ist es bei den anderen – den Interpreten – das erworbene Fachwissen und der vermeintliche Zwang zur Sinnfindung und Sinnvermittlung im Werk des Künstlers.5 Aber es sind nicht nur die unterschiedlichen Wissensvorräte und Wissenszugänge oder Ordnungsschemata der beteiligten Personen, die zu verschiedenen Bildauffassungen und Werkinterpretationen führen können, es ist auch die unterschiedliche Praxis des Sehens, Betrachtens und Wahrnehmens. So sehen zwar letztlich alle das Gleiche, aber es kommt durch die Wahrnehmungsweise, die kognitiv und neuronal gesteuert ist, zu verschiedenen Bild- bzw. Werkinterpretationen, die sich dadurch zu neuen ästhetischen Semantiken »Bild« zusammenführen.
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Einen neuen Zugang zu Bildentstehung und Bildverstehen erarbeitet Schürkmann (2017) in ihrem Buch »Kunst ist Arbeit«.
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Auf Grundlage der Sehgewohnheiten, Sehpraktiken und unterschiedlichen Erfahrungen (Wissensbestände), also Aspekte der visuellen Soziologie, entstehen unterschiedliche Bildwirklichkeiten (vgl. dazu Bachleitner/Weichbold 2015, Schürmann 2008 sowie das Sonderheft »Visuelle Soziologie« der ÖZS 2012). Verweise auf diese subjektiven Wahrnehmungsweisen sollten in Vernissagen Berücksichtigung finden, zeigen sie doch in aller Deutlichkeit, dass das Sehen als visuelle Praxis vielen individuellen Konstruktionspraxen und damit vielleicht auch »Verzerrungen« unterliegen kann. Die meist stillschweigende Transformation bzw. Analogie des Sehens, des Wahrnehmens und der daraus entstehenden Verbalisierungen und sprachlichen Interpretationen, also das Gesagte, sollte verstärkt hinterfragt werden. Arnheim meint dazu pointiert und überspitzt: »Die Kunst wird tot geredet.« So können z.B. aufgrund unterschiedlicher Wissens- und Wahrnehmungspraktiken verschiedene Bildauffassungen und Bildgeschichten entstehen. Um diese möglichen auftretenden Diskrepanzen zu minimieren, findet auch zwischen Künstlern und Eröffnungsrednern meist ein entsprechender Informationsaustausch statt. Die Eröffnungsrede kann dann als gelungen gelten, wenn sich mit dem erschlossenen Wissen durch den Redner neue Sichtweisen und Zugänge auch für das Publikum eröffnen. Wahrnehmen, Urteilen und Denken gehen damit neue Verbindungen ein, Sicht und Einsicht sind in so einem Fall in Einklang zu bringen. Sehen und deutendes Denken, Empfinden sowie ein Urteilen über das Kunstwerk verschmelzen zu einer Einheit, bestenfalls initiiert und ermöglicht durch den Redner/die Rednerin. Eine geglückte Eröffnungsrede setzt immer voraus, dass der Redner eine qualifizierte Vorahnung darüber hat, welches (wissende) Publikum auf ihn wartet; er/sie sollte dieses nicht über- oder unterfordern. Das Erkenntnisideal »alle sehen das Gleiche« sollte er mit der (Ein-)Sicht verbinden, dass es eine neutrale Bild-Wahrnehmung eben nicht gibt, und eine verbalisierte Bildauffassung unterstellt dem (mit-)denkenden Betrachter wiederum eine ihm unzustellbare Neutralität im Rezeptionszugang. Beides kann in die Irre führen und Irritationen auslösen.
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
Der Erfolg einer Eröffnungsrede hängt neben einer überlegten Rhetorik des Sprechers und der Einhaltung eines knapp bemessenen Zeitrahmens von einer gelungenen Kombination einiger weniger und geschickt verbundener Bausteine ab: Einführende Worte zur Biographie des Künstlers/der Künstlerin, Ideen und Entstehungsbedingungen zum kreativen Prozess, gepaart mit Informationen zu konkreten Bildinhalten und ästhetischen Motiven bzw. Mitteln; diese wenn möglich untermauert mit technischen Raffinessen zu Schaffens- bzw. Arbeitsabläufen, ergänzt um die eine oder andere eingeflochtene persönliche Episode über die Person des Künstlers, sie alle vermögen es, eine gekonnte und überzeugende Einführung sowie Interpretation zu einem ausgestellten Werk herzustellen. Die beobachtbaren Reaktionen bei den Besuchern einer Vernissage fallen dabei oftmals aber unterschiedlich aus: Kopfschütteln, »entfremdendes« Schauen, zweifelnde Gesichtszüge, auch Begeisterung und verinnerlichende Gesichtsausdrücke, die vom Eindruck einer Bereicherung zeugen. Eine qualifizierte Evaluation von Eröffnungsreden oder auch von Einführungstexten zu Ausstellungskatalogen bzw. auch von Ausstellungstexten generell, ist im Kunstbetrieb unseres Wissens nicht auszumachen bzw. dürfte wohl nur ohne öffentliche Partizipation diskutiert werden. Gerade diese Textsorten zeichnen sich durch eine spezifische Sprachästhetik und einen Duktus aus, der vielfach der Hervorhebung einer eigenen Expertenschaft dient und dazu angetan ist, eine gewisse Zugehörigkeit zu Wissenswelten über die Kunst damit zu demonstrieren. Jedenfalls kann diesen Textsorten eine eigene Ästhetik und auch dispositive Setzung von Inklusionen oder eben auch Exklusionen zugeschrieben werden. Ziel und Anspruch einer Eröffnungsrede sollte es sein, für die Zuhörer Unbekanntes in Bekanntes zu transformieren und das »Nochnicht-Wissen« und das »Nicht-wissen-Können« durch neu hergestelltes Wissen zu ersetzen. Ausgestattet damit wird die Sicht auf Bilder und Kunstwerke neu möglich und bisher nicht erschlossene Interpretationen eröffnet.
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Die Vernissage
Die Eröffnungsrede – wenn auch mitunter kritisiert – ist vor allem deswegen ein fester Bestandteil von Vernissagen geworden, da eben der Mythos vom »reinen Auge« nach Bourdieu nicht existiert und die Wahrnehmung immer einen unbewussten Code mit einschließt. Es ist dies eine Wahrnehmung, die auf der Ebene des spontanen Sehens stehen bleibt und sich so als eine Illusion erweist, denn die Dekodierung des Gesehenen setzt Wissen über Bedeutungen des Werks voraus: nur so ergibt sich ein Kunstgenuss; oder wie es Bourdieu (1997, 313) formuliert: »Man kann daher durch Abstraktion zwei entgegengesetzte und extreme Formen des ästhetischen Vergnügens unterscheiden, zwischen denen es alle möglichen Zwischenstufen gibt, einmal das Vergnügen, das der ästhetischen auf die einfache aisthesis beschränkte Wahrnehmung entspricht, und dem Genuss; den der gelehrte Geschmack bereitet, der einmal die notwendige, wenn auch nicht zureichende Bedingung einer angemessenen Entschlüsselung bildet.« Daraus ergibt sich ein Anforderungsprofil für die Eröffnungsrede, welches für deren Gelingen als entscheidende Voraussetzung – zweifelsfrei neben der kunsthistorischen Kompetenz des Redners – gelten kann. Die inhaltliche Ausrichtung einer Eröffnungsrede kann von zahlreichen Überlegungen getragen sein und sollte bereits auf diese ausgerichtet sein. Die Rede erfordert nicht nur Sensibilität und Kenntnisse, sondern sollte auch auf die nachstehenden Einflussfelder Bezug nehmen. Die mögliche Hierarchie dieser Faktoren bildet wichtige Aspekte, die letztlich ein erfülltes und zufriedenes Publikum garantieren. Im Einzelnen sind dies: •
Die Galerie. Die Lage der Galerie – wobei zwischen städtischem Zentralraum und Peripherie sowie Kleinstadt und Landregion (Ort, Dorfgemeinde etc.) differenziert werden kann – bestimmt Besuchshäufigkeit und Sozialstrukturen da meist unterschiedliche Erfahrungswerte und Kenntnisse zur (präsentierten) »Kunst« vorliegen. Auch die Tradition der Galerie stellt einen wesentlichen Besuchereffekt dar und zwar insofern, als Image und Name der Galerie Si-
7. Ort für soziale Auftritte und Inszenierung von Kommunikationsritualen
•
•
•
gnalwirkung auf die erwartete Qualität und somit auf die Selektion des Vernissagen-Publikums aufweisen dürften. Die Kunstwerke. Jede der heute gezeigten Kunstrichtungen fordert eine spezifische Erklärungsleistung und Vermittlungskompetenz ein, um für ein Publikum anschlussfähig zu sein. Gerade postmoderne Strömungen sind hier oftmals Grenzgänger, da sie ein breiteres Wissensspektrum und Vorwissen voraussetzen, als dies für Werke der klassischen Moderne nötig ist. Die Künstler. Der Bekanntheitsgrad des Künstlers/der Künstlerin ist ebenfalls mitentscheidend für die Textierung und Gestaltung einer Eröffnungsrede. Die Regionalität oder Internationalität sowie die biografische Einordnung sind dabei grundsätzliche Kriterien, die in die Rede Eingang finden sollten. Die mediale Präsenz sowie die bisherige Ausstellungstätigkeit sind weitere wichtige Richtwerte für die Präsentation des Künstlers im Rahmen einer Eröffnungsrede. Das Vernissagen-Publikum. Ein kunstaffines Publikum oder kunstfernes Publikum erwartet Unterschiedliches von einer Eröffnungsrede. Während die einen sich spezifische Details und neue Interpretationszugänge zur gezeigten Kunst erhoffen, sind die anderen vielleicht nur an einer groben Orientierung und Informationen zur zentralen Botschaft, welche die Kunstwerke vermitteln möchte, interessiert.
Diese hier nur knapp skizzierten Aspekte sollten im Rahmen einer Rede zur Eröffnung einer Ausstellung mitbedacht werden, um den Erwartungshaltungen des Publikums zu entsprechen. Eine Differenzierung solcher Eröffnungsreden, die wir in unserem Kontext als »Spezialdiskurse« zu und über die präsentierte Kunst einstufen wollen, verdeutlichen dies.
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8. Zur Typologie von Eröffnungsreden
Wenngleich die Reden höchst unterschiedlich ausfallen und gestaltet sind, lässt sich eine idealtypische Kategorisierung vornehmen, die klare inhaltliche Schwerpunktsetzungen erkennen lässt, wenngleich es im Vernissagenalltag zu einer Vermischung der einzelnen Elemente kommen kann.
8.1.
Die kunsthistorische orientierte Rede
In kunsthistorisch ausgerichteten Eröffnungsreden dominiert die Einordnung des Werkes bzw. der Werkgruppen in die kunsthistorischen Entwicklungslinien. KünstlerInnen werden den großen Kunstströmungen zugeordnet und mit ihrem Werk entsprechend verortet. Besonderheiten der Bildgestaltungen und bevorzugten Themeninhalte haben ihren Platz und Stellenwert in den kunstgeschichtlichen Linien. Detailreich wird auf spezifische Elemente verwiesen, die in typischen Phasen der Kunstentwicklung auftreten. Parallelen zu Vergangenem werden dabei ebenso thematisiert wie aktuelle Umbrüche. Eine Ansammlung solcher Reden findet sich bei Wieland Schmied, der vor allem österreichische Künstler und Künstlerinnen nach 1945 in die Geschichte der bildenden Kunst einordnet (vgl. Schmied 2011).
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Die Vernissage
8.2.
Die kunsttheoretisch, analytisch orientierte Rede
Die Themen und Ansätze der Kunsttheorie sind so vielfältig, dass jeder theorieinteressierte Redner sich jene Themen aussucht, die zum Werk als auch mit seinen Wissensbeständen im Einklang stehen. Ästhetische Theorien werden ebenso herangezogen wie grundsätzliche Möglichkeiten der Sinnstiftungen von Kunst oder die aktuelle, immer wieder erkennbare Thematisierung von gesellschaftlichen Einflüssen auf künstlerische Identität und das Werk. Vor allem Konzept-, Objekt- und Performance-Kunst, gelegentlich auch die informelle Kunst, bedürfen einer analytisch-erklärenden Einführung, um sie so in die subjektiven Wissenssysteme der Betrachter und Zuhörer einordnen zu können. Die abstrakte Rhetorik, mit der diese Analysen erfolgen, sind zwar mitunter sperrig – wie die Objekte selbst –, aber sie leiten einen Prozess des Verstehens ein. Kunsttheoretisch ausgerichtete Eröffnungsreden erleichtern den Prozess des Verstehens insofern, als die Bedeutungszuschreibungen und Verstehensstützen der Zugang zu den Kunstwerken sind; Barrieren und mitunter auch Ratlosigkeiten gegenüber dem Werk werden verringert bzw. abgebaut. Die vorgebrachten Interpretationen in den Eröffnungsreden ermöglichen den Zuhörern, sich mit den Werken einzulassen und sie aus einer anderen bisher unbekannten Perspektive zu betrachten. Kurz: Die heute erkennbare Erklärungsbedürftigkeit von Kunstwerken steht im Zentrum dieser Reden. Aber auch die Vielzahl von abstraktionstheoretischen Ansätzen und deren vielfältige Konstruktionsprinzipien fließen in solche Reden mit ein und sollen so zum Verständnis von Kunst und deren Wahrnehmung beitragen. Eine idealtypische Rede findet sich beispielsweise bei Max Imdahl (1996c, 502-504), der die Eröffnungsrede zum 30. Jahresausstellung des Deutschen Künstlerbundes hielt.
8. Zur Typologie von Eröffnungsreden
8.3.
Die biographisch ausgerichtete Eröffnungsrede
Insbesondere bei monographischen Jubiläumsstellungen dominiert in der Eröffnungsrede der Werdegang des Künstlers/der Künstlerin, mit seinen/ihren Ausbildungswegen sowie wichtigsten Stationen in seiner/ihrer künstlerischen Karriere. Meist angereichert durch die eine oder andere Anekdote aus dem künstlerischen aber auch privaten Leben, zu Verbindungen und Freundschaften mit anderen Kunstschaffenden, werden Werdegang und Wandel des künstlerischen Schaffens facettenreich beschrieben. Das Werk in seiner Entwicklung entlang von Reisen und längeren Auslandsstationen wird breit dargestellt. Ateliergemeinschaften dokumentieren die Verbindungen und Einflüsse auf das künstlerische Schaffen. In diesen Eröffnungsreden dominiert das künstlerische Werk mit den gewählten Themen, seinen Techniken sowie mit seinen Intensionen. Das Werk oder auch Werkgruppen werden in ihrem Wandel beschrieben sowie Unterschiede und mögliche Veränderungen in Bildsprache, Stilmittel und Technik herausgearbeitet. Der Wandel des Werks oder auch die Konstanz wird thematisiert und Gründe meist aus der alleinigen Sicht des Redners hierfür genannt. Die regionalen und zeitbezogenen Einflüsse werden herausgearbeitet.
8.4.
Die kooperative, gemeinsame Eröffnungsrede
War es früher üblich, dass Künstler bei Vernissagen sprachen, folgte eine Periode, wo dies verpönt war, und heute findet sich wiederum öfter ein kooperativer Auftritt von GaleristIn, KuratorIn und KünstlerIn. Dies hat sowohl finanzielle Einsparungsgründe, aber auch Kompetenzgründe, ist gerade postmoderne Kunst für Außenstehende schwer verstehbar oder auch vielfältig interpretierbar. Die Künstler werden neben Kuratoren bei Eröffnungsreden zum originären Experten integriert, die ihre Intensionen nun preisgegeben können. Zudem werden technische Details des Mal- oder Schaffensprozesses kompetent erläutert. Die In-
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Die Vernissage
tegration mehrerer Redner im Eröffnungsritual bietet ein breites Informationsspektrum an.
8.5.
Die dilettierende Rede zur Eröffnung
Diese Reden sind eher mit dem Etikett »Worte zur Eröffnung« zu versehen, denn sie erweisen sich als eine Ansammlung von verschiedensten Informationen und Versatzstücken (Zitaten) zur präsentierten Kunst sowie zum Künstler/der Künstlerin. Sie vermitteln wenig bis kaum etwas zum Sinngehalt oder Verständnis der präsentierten Kunst, sondern sind eher ein Höflichkeitsritual gegenüber den Besuchern, die rhetorisch an der Oberfläche verweilen, mit wenig Treffsicherheit zu den Objekten. Die Bezüge zur Beschreibung der Kunstobjekte sind mitunter weit hergeholt, meist überzogen und Verlegenheitsaussagen zu Etwas oder über Etwas, was weit von Dargestelltem und Ausgestelltem oder auch vom Künstler Intendierten entfernt ist. Sie sind ein Programmpunkt im Eröffnungsritual, den es zu erfüllen gilt.
8.6.
Die bestellte und gekaufte Eröffnungsrede
Mit der Ausdifferenzierung möglicher Präsentationsformen für Kunst, von den kleinen Museen bis hin zur »grauen« Galerieszene einerseits sowie einer deutlichen Zunahme an Kunstproduzierenden und Kunstschaffenden andererseits – man denke hier nur an die Vielzahl von Absolventen »freier« Mal- und Kunstseminare oder (Sommer-)Akademien – stieg auch die Notwendigkeit der »erklärenden« Vermittlung von Kunst. Dies wirkt sich auch auf die Nachfrage nach geeigneten Expertinnen und Experten für die Eröffnung von Ausstellungen aus. Ein Blick in das Internet zeigt, dass sich hier ein breites Angebot von Vernissagenrednern findet und eine Vielzahl an Mustern für Reden oder auch Empfehlungen für den gelungenen Ablauf von Vernissagen zu finden sind. Es gilt allerdings zu bedenken, dass dieses Material oftmals auch nur aus Lobreden über den/die Künstler/in und sein/ihr Werk besteht.
8. Zur Typologie von Eröffnungsreden
Inwieweit diese Form von Vorlagen auch für konkrete Anlässe verwendbar ist, ist zu bezweifeln, denn in solchen Reden ist die Wortmacht der Eröffnungsrede auf Einfachheit und Emotionalität zentriert. Der ästhetische Produktionsvorgang (Malprozess) des Künstlers/der Künstlerin während des Schaffensprozesses wird bevorzugt thematisiert. Ergänzt werden solche Exkurse schließlich durch die Biografie sowie Einblicke in aktuelle Vorhaben und künftige Projekte des Künstlers. Gleich welche Typologie von Rede bei der Eröffnung zelebriert wird, es geht letztlich in all den Reden um ein Herantasten und Hinführen zur spezifischen Ästhetik der Kunstwerke und Objekte. Diese verbale Annäherung hat, wie einleitend gezeigt wurde, ihre Grenzen. Dies nicht nur wegen der spezifischen Kontingenz des Ästhetischen sowie des ästhetischen Empfindens insgesamt, sondern auch insofern, als vieles ungesagt bleibt und bleiben muss, da ästhetische Praxis aus dem Zusammenspiel von begrifflich-rational und einer wachgerufenen und erfahrbaren ästhetischen Wahrnehmung funktioniert. Die widersetzt sich jedoch der sprachlichen Umsetzung in den Reden oder entzieht sich der Verbalisierung. Ästhetische Aufmerksamkeit ist meist dann erlebbar, wenn breit angelegte und vielfältige Erfahrungen vorliegen (vgl. etwa Imdahl 1996b, 274ff). Die in diesen Reden eingesetzte Sprachdiktion zeigt einige Besonderheiten. So bedienen sich manche der Redner und Rednerinnen einer spezifischen Wortwahl, um das Verborgene und Verdeckte in den Kunstwerken aufzuspüren Die hierfür verwendeten Worte und Satzkonstruktionen dürften mitunter an die Grenzen des Sprachverständnisses des Publikums stoßen. So ist die Sprache über die Kunst nicht nur eine Fachsprache, sondern in der Tat eine »Kunstsprache« oder besser noch eine kunstvolle Sprache. Diese Eröffnungsreden verbindet zweifelsfrei eine gemeinsame Fachsprache, die im kunsttheoretischen Kontext ihre Spezifika ausweist und das verbalisiert, was im alltagssprachlichen Kontext oftmals nur schwer erfahrbar oder auch verstehbar ist. Man gewinnt den Eindruck, dass in diesen Reden über Sprachhülsen und sprachliche Wendungen etwas mitgeteilt werden soll, was letztlich zwar visuell erfühlbar, aber verbal unfassbar ist, da nur kognitiv Erfahrbares verbal
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Die Vernissage
verständlich gemacht werden kann. Bislang Unerfahrbares verweigert und verschließt sich nicht nur der Verbalisierung, sondern auch (meist) dem Verständnis. Ein Beispiel aus der Textsammlung von Imdahl mit dem Titel »Erläuterungen zur Modernen Kunst« (Kunisch 1990), die auch gerne von Eröffnungsrednern als Quelle für ihre Reden zur Anwendung kommt, soll dies illustrieren. Es handelt sich um eine Bildbeschreibung eines abstrakten Werks von Bram van Velde1 (Gouache auf Papier, »ohne Titel« aus dem Jahre 1962), die Michael Brötje verfasst hat: »Dieser Schwebezustand wird entsprechend seiner strukturellen Unabschließbarkeit auch sogleich wieder relativiert: der untere Gabelarm sinkt wieder ermüdend herunter in Richtung auf eine gestisch auffangende Strangbildung, die sich ihrerseits an eine schemenhaft aufscheinende Sockelformation schließt. Die Befreiung wird so zurück gegeben in eine erneute Bindung an die Materie, die nun aus dem Weiß als dessen Modifikation auftaucht. Die Schmierung wird zurückverfolgt zur tiefen Muldung fast in der Bildmitte, wo die vom Standpunkt des Betrachters aus einsetzende Materialverdichtung rechts und Materialversockelung links im Gleichgewicht zueinander stehen. In versöhnter Abstimmung zur IchBefindung wird so die Rückkehr zur Eingangssetzung vollzogen, der Zirkel geschlossen. Das Werk stellt sich als erfüllte Singganzheit von höchster Konsequenz dar.« (Brötje 1990, 293) Diese sprachlichen Besonderheiten und linguistischen Auffälligkeiten in Kunsttexten führten wohl auch dazu, dass der sogenannte »Kunstphrasomat« als eine ironisch sarkastische Form für die Texterstellung von Eröffnungsreden entstand. Diese darin enthaltenen Phrasen weisen eine Vielzahl von immer wieder auftauchenden und häufig verwendeten Wendungen, Floskeln, Worthülsen auf, deren Kombinationen sprachliche Kuriositäten ergeben, die für die Textsorte
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Einleitend schreibt Brötje (1990, 289) zu dieser Bildbesprechung, dass die Bilder von Bram van Velde eine paradoxe Erfahrungssituation darstellen, die uns mit einer Wirklichkeit und deren Sinnbestimmheit konfrontieren, deren Selbstbestimmtheit wir im Sehen ad hoc wissen, ohne jedoch den Sinn selbst gedanklich erfassen zu können.
8. Zur Typologie von Eröffnungsreden
Eröffnungsansprachen typisch sind. Thomas Klitzke-Mandryka, der Autor des »Kunstphrasomat«, illustriert in sarkastisch-ironischer Form diese sprachlichen Eindrücke und linguistischen Spuren, die das »Reden über Kunst« hinterlassen können. Dieser »Phrasomat« stellt eine Sammlung von häufig verwendeten, kunstbezogenen Wörtern und Worthülsen aus Eröffnungsreden zusammen, welche in ihrer Kombination insgesamt 1600 Möglichkeiten ergeben, um sich »kompetent« über Kunst auszudrücken. Einige Beispiele daraus sollen dies verdeutlichen: »Die differenzierte Bildsprache evoziert Räume spiritueller Präsenz«; »Der suchende Duktus generiert irritierende Phänomene im Metaphysischen; »Die subtile Farbbehandlung verortet Oszillationen des Ungestümen«; »Das Werk in toto konnotiert die ästhetischen Parameter mit Verve«; »Der Künstler als zweifelndes Subjekt erspürt Skalierungen des Jenseitigen«; »Das assoziative Lineament konjugiert das Schwebende ohne festes Bezugssystem« etc. Versuchen wir nun nach diesem ironischen Exkurs, die Eröffnungsreden unter einer dispositiv-analytischen Perspektive zu betrachten, so sind es vor allem drei Punkte, die für derartige Reden als typisch gelten können: 1) Das in der Rede Gesagte und zum Ausdruck Gebrachte versucht in weiten Teilen das Werk, den künstlerisch-ästhetischen Ausdruck der Arbeit sowie die Absicht und das Anliegen des Künstlers zu beschreiben, zu »besprechen« bzw. abzuklären, zu informieren, welche künstlerischen Motive mit dem Werk verbunden sind und was ihn/sie dazu bewogen hat, sich in einer bestimmtem Weise ästhetisch festzulegen. Die emotionale und rationale Position des Künstlers wird also in mehrere Ebenen transformiert: (0) Von der (Künstler-)Idee zum Werk, d.h. das konkret wahrnehmbare künstlerische Objekt, (1) vom Werk zum Redner, d.h. der Schritt zum Erfahrbaren durch die Verbalisierung auf der Basis des kognitiv Erfassbaren und (2) vom Redner zum Betrachter, d.h. die Transformation zur Neuinterpretation durch den Betrachter. Das Bild oder Werk etc. wird damit noch einmal neu konstruiert und in eine neue Wissensordnung eingebracht. Dieser Transformationsprozess ist
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Die Vernissage
aus Sicht des Künstlers dann gelungen, wenn die Schritte 0 und 2 ident ausfallen. 2) Das Nicht-Gesagte, wenngleich durchaus auch sublim versteckt Benennbare, aber eben oft nur Angedeutete, ist gerade vor dem Hintergrund des Wahrnehmbaren ein Hinweis auf mögliche verborgene Schwächen des Werks und verweist auf die Grenzen des Sagbaren über ästhetische Werke: Es besteht hier nach Bührmann/Schneider das »Aussageverbot«. 3) Die Grenzen der Reden bestehen jedoch auch darin, dass dem Redner selbst mögliche Zugänge und die Intentionen des Werks verborgen bleiben und er daher mit dem Ungesagten, aber notwendigerweise zu Sagenden, eine Rede gestalten muss. Das zwar Sehbare und auch Empfindbare (sinnlich Erkannte) muss nicht zwingend sagbar sein, zudem schiebt sich doch auch das »Nicht-wissenKönnen« zwischen Künstler und Redner, d.h. es bleibt so manches im Verborgenen und entzieht sich der Verbalisierung, also das, was der Künstler mit seinem Werk letztlich mitteilen möchte. Oder noch schärfer formuliert: Auch dem Künstler selbst bleibt die eigene Intention bildbezogener Entscheidungen oftmals verborgen, ein Momentum im künstlerischen Prozess, das als »der gekonnte Zufall« gesehen werden kann. Inwieweit hier unbewusste Handlungsformen eine Rolle spielen, soll und kann hier nicht weiter vertieft werden. Der Eröffnungsredner/die Eröffnungsrednerin hat also die (dispositive) Macht, Passendes zu sagen und Denkbares zum Werk zu thematisieren, Nicht-Angebrachtes zu verschweigen und so auch die Rolle des Laudators zu übernehmen. Die von Bührmann/Schneider (2012, 97) vorgesehene Differenz von »Aussageforderung« und »Aussageverbot« in den Diskursen lässt sich hier klar erkennen. Klinkt sich der Redner aus dieser funktional kommunikativen Machtverteilung aus, würde dies letztlich bedeuten, dass er diese Rolle nicht im Stande ist, auszufüllen bzw. diese Vermittlungsfunktion nicht erfüllen zu können. Eröffnungsreden lassen sich aus einer dispositiven Perspektive durch die strategische Balance zwischen Gesagtem und Nicht-
8. Zur Typologie von Eröffnungsreden
Gesagtem sowie die bewusste Adressierbarkeit von Sagbarem und Nicht-Sagbarem spezifisch strukturieren. Jeweils abhängig von bestimmten Rahmenbedingungen wie z.B. der Kompetenz und Einschätzungsgabe der aktuellen Situation durch den Redner sowie der sozialen Rahmung der Vernissage insgesamt werden die entsprechenden Akzente gesetzt, was wie bewusst gesagt oder eben auch strategisch verschwiegen wird. Die Verstehensgrenzen zu den Inhalten von Reden werden u.a. dort erkennbar, wo der Redner/die Rednerin – wie bereits angedeutet – selbst keinen Zugang mehr zum Werk findet und Interpretationen offen halten muss. Das Vernissagenpublikum ist damit also in doppelter Hinsicht der Redemacht ausgesetzt: einmal, weil vieles (bewusst oder unbewusst) nicht angesprochen wird und zum anderen, weil vieles nicht verbalisiert werden kann und sich einem sprachbezogenen Wahrnehmungsvorgang verschließt und auf dieser Ebene somit auch verschlossen bleibt. Eröffnungsreden als kommunikative Spezialdiskurse versuchen mit den verfügbaren Mitteln die starken Ausdifferenzierungen innerhalb des Kunstentwicklung verständlicher zu machen und gleichsam eine Brücke für den Betrachter zu bauen, um so ein oft anzutreffendes Unverständnis aktuellen Kunstformen gegenüber abzuschwächen. Insgesamt stellen Eröffnungsreden zu Vernissagen ein Kompositum aus unterschiedlichen Wissenszugängen zu einem Kunstwerk dar, sie erweisen sich als eine Selektion des Sagbaren aber auch Unsagbaren zu jeweils präsentierten Kunstwerken. Der Möglichkeitsraum der Diskurse zur Kunst wird durch die (Wort-)Macht und Themenwahl des Redners geformt und transformiert, so ausgestellte Kunstwerke zu »verstehbaren« Objekten gemacht, und stilisiert den Künstler oft auch zu einem Welterklärer. Gezeigte bildhafte Objektivation – heute meist »abstrakte Allegorien« – vermitteln mit ihrer jeweils eigenen Bildsprache weitere Wissens- und Verstehensvorgänge, die durch die Deutungskompetenz und Interpretationsautorität des Eröffnungsredners einem Publikum vermittelt wird: Das »bildliche Reden« des Künstlers wird über »sprachliches Reden« des Eröffnungsredners interpretiert und rekonstruiert.
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9. Die Vernissage als Inszenierung und Event
Vernissagen lassen sich als Instrumente der Generierung von Aufmerksamkeit für kunstinteressierte Öffentlichkeiten verstehen. Um sich heute aus der Vielzahl von Angeboten durch Galerien und Museen hervorzuheben und sich in der Vielfalt der Kunstangebote zu positionieren, gilt es nicht nur, über die Präsentation konkreter künstlerischer Positionen Aufmerksamkeit zu erzielen, sondern auch mit spezifischen Ritualisierungen und Inszenierungen von Eröffnungen imagebildende Akzente zu setzen. Dies kann über mediale Auftritte oder die Inszenierung bestimmter Events erreicht werden, die etwa auch mit Performances angereichert sein können.
9.1.
Die Vernissage als sozial-ästhetischer Inszenierungsakt
Man besucht Vernissagen – wie bereits angedeutet – nicht nur um Kunst zu sehen und zu betrachten, um ästhetisch wieder »aufgeladen zu werden«, sondern auch, um gesehen zu werden und um Soziales zu beobachten bzw. zu erleben. Die Erwartungshaltungen an die Eröffnung fallen daher vielfältig aus und lassen sich unter dem analytischen Blick einer Inszenierung verstehen: »Inszenierungen sind absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden und zwar so, dass es eine auffällige spezielle und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können.« (Seel 2001, 352)
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Die Vernissage
Inszenierungen im Kontext der Vernissage sind als ein räumlich fixiertes sichtbares Ereignis zu sehen, das auf das Herstellen und Herausstellen von Kunstwerken zentriert ist und dabei beteiligten Öffentlichkeiten ermöglicht, entsprechend in Erscheinung zu treten. Letztlich dienen sie der Positionierung und Vermittlung von Kunstwerken, die auf diese Art in einem spezifischen Rahmen auch wirken können: Es ist ein Auftritt, der unwiederholbar ist und daher auch eine gewisse Exklusivität genießt. Diese Rahmung wirkt sich auf manche Kunstwerke und Objekte aus, sie werden auratisch aufgeladen, andere wiederum profitieren von einer derartigen Situation nur bedingt, da gerade Events wie Vernissagen die Konzentration auf künstlerische Werke erschweren oder gar verunmöglichen. Je nach Anlass und Ort einer Vernissage kann es sich auch um ein rein auf ästhetische Oberflächen-Inszenierung ausgerichtete Inszenierung handeln, die in Szene gesetzt wird. Derartige Inszenierungen lassen sich als ästhetisierte Events lesen, in deren Rahmen bestimmte Kleidungscodes definierte Rollenzuteilungen festlegen und spezifische Attribute der Zugehörigkeiten – etwa in die Rolle möglicher Käufer oder auch Ausschlüsse – z.B. von einer Gruppe von Insidern – festlegen. Dahingehend spielen nicht selten auch textile und sonstige alltagsästhetische Codes eine wesentliche Rolle. Die heute meist bewusst sparsame Hängung und Platzierung von Kunstwerken schafft – wenngleich meist hervorgegangen aus kuratorischen Überlegungen und Überzeugungen – Räume, die im oben angesprochenen Sinn auch oftmals anderweitig genützt werden. Sie bieten Raum für sozial-ästhetische Selbstdarstellungen und werden so auch zur Bühne für Auftritte einer nur bei Vernissagen anzutreffenden »Personenkonstellation«. Mitunter könnte man geneigt sein zu meinen, dass diese Figuren die Inszenierungen dominieren und den »eigentlichen« Anlass, die Kunstbetrachtung, vereiteln. Für einen ostentativ inszenatorischen Auftritt ist gerade die Vernissage ein geeigneter Ort für einen »Auftritt«, geht es doch dort insgesamt um Präsentationsund Inszenierungsvorgänge, d.h. Formen der Selbstinszenierung laufen parallel zur Inszenierung von Kunst. Der Vernissagenraum wird gleichsam zur öffentlichen Bühne, die man betritt, um einerseits selbst
9. Die Vernissage als Inszenierung und Event
einen Beitrag zu einer Inszenierung zu leisten oder aber teilnehmender Zuschauer einer derartigen ästhetischen Praxis und damit auch erzeugten Atmosphäre zu werden.
9.2.
Die Vernissage als Inszenierungsort für Ankäufe
Die Eröffnungszeremonie einer Vernissage mit ihrer spezifischen ästhetischen sowie sozial-emotionalen Atmosphäre soll u.a. auch dazu führen, den Erwerb von Kunst für den privaten Bereich zu forcieren. Die Vernissage wird damit zu einer öffentlichen Verkaufsbühne und damit zuweilen zu einer Inszenierungsbühne für Käufer und Verkäufer. Die Vernissage bietet dem kunstinteressierten Käufer und Sammler (s)einen Auftritt in einem Moment, an dem sich die Auswahl an Kunstwerken als besonders reichhaltig darstellt. Es ist daher für Käufer ein besonderer Moment, jeweils die Chance nutzen zu können, als Erster eine optimale Wahlfreiheit vorzufinden, eine Situation, die auch entsprechend in Szene gesetzt werden will. Wir reden von einer emotional und sozial besonders aufgeladenen Situation für den Kunstkauf, die verbunden ist mit einer (zuweilen unwiderstehlichen) Lust, Kunst zu kaufen und besitzen zu wollen. Dieses spezifische Setting will daher durch Galeristen und Kunstfachleute situationsspezifisch gestaltet und ausgelotet werden. Um einen Verkaufserfolg zu erzielen ist es für eine/n GaleristenIn oder AusstellerIn, wichtig, die Faszinationskraft eines Kunstwerks und die Bedeutung für eine jeweilige Sammlung einschätzen zu können und den Wunsch auf Seite eines möglichen Käufers, ein Werk tatsächlich besitzen zu wollen, durch sensible Beobachtung einzuschätzen. In diesen Situationen erlangen auch motivierende Gesten durch den Künstler oder Galeristen oft eine entscheidendere Bedeutung in diesem Prozess als so manch eingestreute verkaufsfördernde Worte. Beobachtet man solche »Überzeugungsgespräche«, erkennt man diese versteckten Bemühungen unschwer. Geht es doch auch darum, dass man über das Bild oder den Objektankauf Emotionen konsumiert, die ständig konsumierbar und abrufbar bleiben. Befragungen
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Die Vernissage
haben etwa gezeigt, dass der Kunstankauf – sei es tatsächlicher Kauf oder auch Reservierungen – im Rahmen von Eröffnungen immer die höchsten Quoten erreicht.
9.3.
Die Vernissage als Performance
Vernissagen haben, wie ausführlich beschrieben, ein feststehendes Inhalts- und Ablaufprofil, welches zwar in einzelnen Facetten variiert, aber letztlich einen konstanten Rahmen darstellt. Der klassische Ablauf der Vernissage erzeugt mitunter eine ungewollte Langeweile, die es zu durchbrechen gilt. Die »Langweilsbewirtschaftung« – ein Ausdruck des Soziologen Nassehi – soll neue Formen des Amüsements und der Eventisierung hervorbringen und neue Formen der Zerstreuung und der Information schaffen. Die performative Vernissage, wie etwa Schabus mit seinem »Cafe«, ist ein Beispiel hierfür. Zur Vernissage werden in das von ihm kreierte gestaltete »Cafe-Hansi« jeweils nur wenige Personen eingelassen und von ihm persönlich bedient und informiert. Diese unmittelbare Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem Künstler erzeugt spannende und ungewöhnliche Akzente im Rahmen einer Vernissage. Nun ist der Kunstbetrieb ständig auf der Suche nach neuen Positionen oder Konstellationen, um auch Bewährtes in einen neuen Rahmen zu setzen. Malaktionen oder Bodypainting-Aktionen sind weitere Ansätze, um Ausstellungseröffnungen abwechslungsreich zu inszenieren.
9.4.
Das Ausstellungsplakat und die Einladungskarte als Ästhetisierungsobjekt und Erinnerungspunkt
Eine erhöhte dauerhafte Präsenz für Künstler und einer ausstellenden Institution ist auch über das Medium des Ausstellungsplakats zu erzielen. Es speichert Erinnerungen und dient als solches wiederum als Trägermedium der Ästhetisierung von privaten oder öffentlichen Räu-
9. Die Vernissage als Inszenierung und Event
men. Der erlebte Kunstkonsum wird so zum ständigen Begleiter oder Motivator. Gleiches gilt auch für das zweite Informationsmedium, die kunstvoll gedruckten Einladungskarten. Beide werden auch zu Verkaufsobjekten in Museumsshops mit entsprechenden Umsatzzahlen zum Zeitpunkt der Eröffnung einer Ausstellung. Im privaten Bereich stellen die meist hochwertig gedruckten Einladungskarten individuelle Erinnerungsobjekte dar, wo sie auch der Ästhetisierung der eigenen vier Wände bzw. als Dokumentationen dienen. Mitunter überdauern sie aufgrund ihrer Ästhetik oftmals den Zeitpunkt der Vernissage und den Zeitraum der Ausstellung. Sie werden zu ästhetischen Versatzstücken erlebter künstlerischer Erfahrungen und Events, »schmücken« die Orte des Alltags im Küchenboard, im Buchregal, bis zum Arbeitstisch. Auch sie werden damit zu verlängerten Inszenierungs- und Erinnerungsträgern künstlerischer Events wie der Vernissage. Die Einladungskarte, oftmals auch als limitierter Zutritts- und Eintrittscode zur Eröffnung verwendet, kann als eine weitere Möglichkeit für einen Künstler oder eine Galerie gesehen werden, sich imagebildend zu positionieren. Sie ist damit auch Instrument der umfassenden Ästhetisierungsmaschinerie eines Dispositivs künstlerischer Produktion und Vermittlung. So vielfältig wie die Kunst, so vielfältig und ideenreich sind heute die Einladungskarten: sie reichen von einfachen und schlichten Sujets über amüsant und originell gestaltete Einladungstexte (siehe etwa Galerie Salis zur Ottersbach-Ausstellung in Salzburg oder die Einladung von Messensee und Messensee zur Präsentation in Wien) bis hin zum eleganten und weitgehend kontinuierlichen Format, wie es große Kunstinstitutionen wie Albertina oder Leopoldmuseum in Wien verwenden. Die Einladungskarte informiert nicht nur über Ort, Räumlichkeiten, Zeitpunkt und Zeitdauer der Ausstellung, die EröffnungsrednerInnen etc., sondern dient auch der Imagebildung der veranstaltenden Kunstinstitution. Gerade namhafte Galerien suchen hier profilbildende Einladungskarten zu entwerfen und mit teuren Printmaterialien zu punkten. Aktuell werden beispielsweise Fotos der gezeigten Expona-
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te und die Biografie des Künstlers der Einladungskarte beigelegt (vgl. etwa die Vernissagen-Einladung der Galerie Salis anlässlich der Ausstellung von Per Kirkeby im April 2017 in Salzburg), um so auch zum Ausstellungsbesuch zu motivieren. Zudem spiegeln sich auch die Anlässe und der Bekanntheitsgrad der Künstler in den Einladungskarten der Vernissageneinladung wider. Was heißt dies im Kontext des ästhetischen Dispositivs? Das Design und die Ideen für Vernissageneinladungen bieten umfassende und zuweilen extravagante gestalterische Entfaltungsmöglichkeiten, um die Aufmerksamkeit eines kunstsinnigen Publikums zu wecken, es für ein Ereignis wie eine Vernissage zu gewinnen und zu interessieren. Die klassische Einladungskarte mit einem sorgfältig ausgewählten Sujet oder auch reduziert-abstrakten Entwürfen (wie z.B. als reiner Text auf Karton) sollen neugierig machen und werden damit Teil eines Kreativitätsdispositivs. Die folgenden Beispiele mögen diese Überlegungen veranschaulichen und dokumentieren. Abbildung 2: Einladung zur Vernissage von Maria Brunner, General Rouge und sein blauer Pudel
9. Die Vernissage als Inszenierung und Event
Abbildung 3: Einladung zur Ausstellung von Heribert C. Ottersbach, Das erste Mal
Abbildung 4: Einladung zur Vernissage von Messensee & Messensee
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Die Vernissage
Abbildung 5: Einladung zur Vernissage von Arik Brauer, Gesamt.Kunst.Werk
Abbildung 6: Einladung zur Vernissage von Erwin Bohatsch
9. Die Vernissage als Inszenierung und Event
Anhand dieser Einladungskarten lässt sich die Tendenz erkennen, dass etablierte Kunstinstitutionen am Ritual der Vernissage festhalten, während Galerien signalisieren, dass die Information zur Ausstellungseröffnung durchaus genügt. Aktuell werden bei Einladungskarten sowohl die Künstlerbiographie als auch eine Auswahl ausgestellter Objekte beigefügt, eine Facette, die insbesondere bei einer digitalen Verbreitung noch vielfältiger ausfallen kann. Insgesamt wird hier das bereits mehrfach thematisierte »Kreativdispositiv« erkennbar, in dessen Rahmen Einladungskarten die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ein Event wie die Vernissage lenken.
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10. Die mediale Berichterstattung über die Vernissage
Vorrangiges Ziel medialer Berichterstattung zur oder über die Vernissage ist nicht nur die Information über Ausstellungsinhalte, Künstler, Eröffnungsredner und das anwesende Publikum inklusive der dort vertretenen VIPs. Sie dient einer Kulturinstitution oder Galerie zur Profilschärfung und zum Imagegewinn sowie zur Erhöhung des Bekanntheitsgrads. Über die erzielte Medienpräsenz lässt sich eine erhöhte Besucherfrequenz erwarten. Eine geschickt lancierte Berichterstattung, angereichert mit entsprechend attraktivem Bildmaterial sollte beim interessierten Publikum den Wunsch auslösen, eine Ausstellungseröffnung zu besuchen. So wird damit auch das Privileg einer sozialen Selbstaufwertung adressiert, die mit dem Konsum und der Rezeption von Kunst in Verbindung zu bringen ist. Der Erfolg von kulturellen Einrichtungen hängt trivialerweise von einer gelungenen strategischen Öffentlichkeitsarbeit ab. Unbekannte Galerien und regionale, wenig frequentierte Museen erreichen durch konsequente Presse- und Öffentlichkeitsarbeit oftmals ein hohes Image und einen beachtenswerten Bekanntheitsgrad. Gerade regionale Befunde bestätigen dies. Vernissagen bieten dabei die Möglichkeit, sich regelmäßig als Kunst-Institution zu profilieren bzw. als Galerie in Erinnerung zu rufen. Die Medienbeauftragten der Kultureinrichtungen mit ihren meist persönlichen Kontakten zur Medienszene stellen dabei einen wichtigen Erfolgsfaktor für eine erfolgreiche öffentliche Präsenz dar. Einschaltungen, Ankündigungen und bildgestützte Kurzinformation zu Vernissage und zum Werk des jeweiligen Künstlers/der Künst-
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Die Vernissage
lerin sowie anschließende Berichte erzeugen ein Informationsumfeld, das langfristig seine Wirkungen hat. Die Pressekonferenz, die diesen Prozess stützt und zu der eine gesonderte Einladung an die Medien ergeht, wird meist mit zusätzlichem Textmaterial angereichert, das seinerseits wiederum zu vertiefenden Recherchen Hilfestellungen anbietet. Auch individuelle Kontakte zu Fachmedien als strategische Instrumente der Informationsvermittlung spielen im Vorfeld einer Ausstellungseröffnung vielfach eine wichtige Rolle. Neben den oben genannten Aspekten einer umfassenden Information zur Ausstellung kommen in den Kommentaren meist einige kritische Anmerkungen, selten auch umfassende Kritik, zum gezeigten Oeuvre der Künstler. So notwendig konstruktive Kritik zur Orientierung auch sein mag, so unreflektiert fällt sie mitunter auch aus. Imdahl (1996a, 510) formuliert dies treffend: »Und zwar wird die Kritikermeinung zu einer Art öffentlicher Vormeinung, welche denjenigen Leser (oder Betrachter), der bisher eigentlich noch gar keine Meinung hatte, präokkupiert. Das ist Macht!« Die Macht medialer Kunstkritik, die sie vor allem über veröffentlichte Texte ausübt, ist für Betroffene – Galeristen wie Kunstschaffende – inhaltlich mitunter schwer nachvollziehbar, sind doch die abgegebenen Urteile, die in Kurzform bilanzieren und resümieren müssen, nicht immer treffsicher und helfen im Sinne einer konstruktiven Kritik am ausgestellten Werk nicht weiter. Kunstkritik setzt Wissen um aktuelle Positionen voraus und sollte nicht geschmäcklerisch ausfallen; hier die Grenzen zu ziehen, ist eine hohe Herausforderung für die Kritiker. Die getroffene Information für »Nichtkenner und Halbkenner« und somit deren Beeinflussung beruht somit auf der »ungeheuren Verantwortung des Kritikers« (so Imdahl 1996a, 511). Wenngleich dieses Zitat gut 50 Jahre zurückliegt, hat es nicht an Relevanz verloren, zumal rein quantitativ sowohl Künstlerschaft wie auch Kunstinstitutionen deutlich zugenommen haben und die Konkurrenz am Kunstmarkt ständig steigt. Sowohl kurzfristig – vermutlich auch langfristig – wird durch die Vernissagenberichterstattung das Image von Künstlern, Galerien und Museen mitbestimmt, und der Modus der Kritik zeigt Effekte auf die
10. Die mediale Berichterstattung über die Vernissage
öffentliche Meinung, da die Selbsturteile mit dem Urteil der Kunstkritiker konfrontiert werden und zur Herausbildung alternativer Meinungen und Sichtweisen über die gezeigte Kunst beitragen können.
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11. Zur Erneuerung und Transformation eines Rituals: ein Ideenpool für Neugestaltungen
Die Vernissage besitzt als Ritual einen weitgehend festgelegten Ablauf, wenngleich die »Choreografie« dieses Events in schmalen Bandbreiten unterschiedlich konzipiert sein kann oder zufallsbedingt auch anders ausfällt als geplant. In seiner Gesamtheit und Phänomenologie ist er jedoch ein eingespielter Ritus mit auch eher geringen interkulturellen Variationen. Für die Zukunft sind vor diesem Hintergrund für diese eingeführte Veranstaltungsform auch keine großen Veränderungen zu erwarten. Es gibt keine Gegenbewegungen, keine erkennbaren Ansätze für bevorstehende Veränderungen oder gar Rufe zu ihrer Abschaffung. Allenfalls werden sich im Kontext zunehmend nur noch in den digitalen Netzwerken präsenter künstlerischer Werke neue Formen auch eines »Openings« derartiger Kunstwerke entwickeln. Für die »analoge Welt« sind neue Formen durchaus auch denkbar, die es zu entwickeln gelte, gab es doch schon immer wieder Ansätze, durch Skandale oder extravagante Performances neue, auch ästhetisch entwickelte Zugänge zu finden. Für die derzeit geübte Praxis haben sich Rituale und Ritualisierungen von Handlungsabläufen in und aus konkreten Situationen heraus entwickelt. Das heißt aber auch, sie hätten durchaus auch andere Formen annehmen können, sie sind nicht festgelegt und unumstößliche Verhaltensorientierungen oder gar Normierungen. Der Wandel der Institutionen der Galerien und Museen, die mitunter ja auch von angeblich diagnostizierten Ermüdungserscheinungen und Trägheiten ge-
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Die Vernissage
plagt sind, sollte vielleicht auch durch neue Ideen und Formen (eben auch für Eröffnungsrituale) angestoßen werden. Veränderung und Innovationen sind reichlich auf Ebene der einzelnen konstitutiven Elemente denkbar. Sie sollen im Sinne von »Szenarien« an dieser Stelle kurz thematisiert werden.
11.1.
Die partizipative Vernissage
Die traditionelle Vernissage sieht eine klare Rollentrennung und Rollenzuweisung vor: die Rolle der Begrüßung, die Rolle des/r Eröffnungsredners/in sowie die Zuhörer- und Betrachterrolle. Das heißt, es gibt insgesamt aktive und passive funktionale Rollenverteilung oder anders gesagt: Rollen mit öffentlichen Auftritten und Rollen mit öffentlichen Zuhörern und Betrachtergewohnheiten und Praktiken, wobei Letztere im privaten Raum eben anders ausfallen können als in einem öffentlichen Setting. Ein sich nun meist »passiv« kommunikatives und »passiv« rezipierendes Publikum könnte durchaus in eine aktiv-partizipative Rolle transferiert werden: Es wäre in diesem Zusammenhang denkbar, dass ein partizipativeres Publikum in den Prozess der Auseinandersetzung mit dem Werk des eines Künstlers und seinen künstlerischen Entwürfen eingebunden wird. Dies kann über mehrere Modi geschehen: über die Rolle und den Auftritt des Künstlers: Er ist nicht mehr nur der anwesende Teilnehmer, sondern Geforderter, aktiv Informierender in einem nicht festgelegten Ritual zu sein. •
•
Die Kuratoren selbst nehmen Stellung zur Konzeption einer Ausstellung und legen ihre Konzepte transparent offen. Sie lassen damit oft nicht sichtbare Einblicke in ihre Überlegungen zur Ausstellungskonzeption zu. Eröffnungsredner geben Antworten zu der Frage, warum sie das Werk des Künstlers auf eine bestimmte Art und Weise interpretieren und kontextualisieren. Zudem ist es denkbar, interaktive digitale Medienangebote, wie dies bereits vereinzelt erkennbar ist, forciert einzubauen.
11. Zur Erneuerung und Transformation eines Rituals
Mit derartigen Mitteln würde eine diskursive und dialogische Struktur innerhalb der Eröffnung erreicht werden können und diese, meist nach einer Eröffnungsrede in kleinen, kleinsten oder individuellen Prozessen der Auseinandersetzung nach außen treten und für eine breitere Öffentlichkeit geöffnet. Das Publikum erhält die Möglichkeit einer partizipativen Integration, wobei hier auch Moderatoren gestaltend mitwirken könnten.
11.2.
Die informative Vernissage
So manche künstlerischen Positionen und Zugänge bedürfen einer intensiven Auseinandersetzung und eines reflektierten Wissens, um die ästhetische Konzeption eines Künstlers zu verstehen. Das Bedürfnis nach Orientierung und Einordnung in der Vielfalt künstlerischen Schaffens und die Interpretationsoffenheit von Werken nimmt gerade in der Postmoderne verstärkt zu. Werden das Publikum und der Betrachter damit allein gelassen, hat dies zur Folge, dass die inhaltliche Zugänglichkeit zu Kunst komplexer wird, die Konzepte ihrer Produktion diskursiver durchsetzt sind, und es gestaltet sich schwieriger, neue künstlerische Praxen vermittelbar zu halten. Nicht selten wird der Moderne mir Unverständnis oder Verständnislosigkeit begegnet, und wir beobachten Reaktionen, die zu Formen der Abwendung von der Kunst und somit auch von Galerien und Museen führen. Solcherart – auch subjektiv jeweils unterschiedlich empfundene – Defizite gilt es mit proaktiven Informations- und Vermittlungsangeboten zu begegnen. Dies könnte u.a. im Rahmen von Vernissagen erfolgen und nicht nur im Rahmen einer Eröffnungsrede, sondern gestützt durch neue digitale Vermittlungsformen. Mit dem Einsatz digitaler Medien eröffnen sich Möglichkeiten einer gezielten Besucherorientierung (vgl. dazu das Konzept zum »Denkansatz-Museum vernetzt denken« vom (Autoren-)Team Hacking Traditions). Einen anderen innovativen Informationszugang wählt der Künstler Edgar Honetschläger für sein eigenwilliges Projekt »Go Bugs Go«. Die Frage, die ihn zu diesem Projekt leitete, war: »Wie kann ich in
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ästhetischer Produktion schwelgen, während rund um uns die Welt untergeht?« (Interview im Standard-Bericht, S. 17 von Mia Eidlhuber 24./25. Nov. 2018). Aktionen mit kurzen Trailern zum sogenannten NPO-Projekt, das eine Mischung aus Naturschutz-, Kunst- und Designerprojekt darstellt, informierten über einer Art Vernissagen-Show in der Wiener Galerie Charim sowie zeitversetzt in der Kunsthalle Wien über die Ziele: Das ästhetisch-aktionistische Ziel bestand in der Idee eines kollektiven Landkaufs (ab 100,– Euro Beteiligung), um die Welt zu retten; ein Land, das der Natur zurückgegeben wird, um auf diese Weise Insekten (Bugs) wieder Lebensraum zurückzugeben. Der gesamte künstlerische Prozess ist für dieses Projekt auch im Internet abrufbar (gobugsgo.org). Darüber hinaus reichen weitere Praxen künstlerischer Vermittlung, wie sie in Projekten der »Netart« und digitalen Kunst generell vollzogen werden. In diesen innovativen Feldern künstlerischer Produktion lösen sich bislang eingeführte Praktiken der Präsentation, Vermittlung und Rezeption zunehmend auf, und es entwickeln sich neue Formen interaktiv-künstlerischer Produktion, Partizipation und Rezeption.
11.3.
Die provokative Vernissage
Zurückkommend auf das Format einer klassischen Vernissage, finden wir auch dort Dynamiken der Brechung bzw. produktiven Störung eingeübter Ritualisierungen. Da jede Ritualisierung auch Potentiale einer Antiritualisierung hervorrufen kann und ein solcher Antiritualismus auch als anthropologische Grundkategorie gilt sowie letztlich eine gesellschaftliche Ordnung auch nicht als solche infrage stellt, sondern nur kurzzeitig eine Verhaltensnormierung suspendiert, parodiert oder auch umgekehrt, kommt es dabei in bestimmten Fällen zu Überhöhungen und sozialen Entgrenzungen (vgl. insgesamt Stagl 1990, 17). Es entsteht sodann eine unmittelbare Gemeinschaft in einem solch unstrukturierten Sozialraum, und ein sogenanntes »communitasErlebnis« stellt sich ein (vgl. Thurn 1999). Ein Gefühl sozialer Provo-
11. Zur Erneuerung und Transformation eines Rituals
kation des Alltäglichen mit Akzentuierungen des Auflehnens gegen Gewohntes und Gewöhnliches steht dabei im Vordergrund. Wie nun Akzentuierungen dieser Art im Rahmen einer Vernissage gestaltet werden könnten, hängt von der Bereitschaft und Innovationslust der Galeristen, Museumsdirektoren und der Zustimmung der Künstler ab, die schließlich ihr Werk in das Zentrum einer solchen Spezifik und wie immer damit zusammenhängenden Entgrenzungen stellen bzw. dafür freigeben. Die emotionalen Effekte derartiger Rituale und Prozesse werden häufig gerade auf Grund ihrer Singularität in den Alltag mitgenommen und meist lange erinnert. Es handelt sich um ein Emotionserlebnis auch im Sinne einer »kathartischen Funktion«, das sich damit einstellen kann. Und dies zählt auch zu den ursächlichen Aspekten für Dispositive. Der Ort der Erinnerung bleibt dabei präsent, und die Institution gewinnt oder verliert an Image. Eine Vernissage mit provokativen Elementen birgt aber auch das Risiko, damit auch scheitern zu können. Beispiele hierfür finden sich vor allem in den 70er-Jahren, wo Provokation durch Kunstprojekte auch gesellschaftspolitisch relevante Fragen aufgegriffen hat und dies z.T. auch heute noch tut (siehe etwa die Künstlergruppe Gelatin).
11.4.
Die inszenierte und eventisierte Vernissage
Inszenierte Events bedürfen in postmodernen Gesellschaften – wie immer diese dann auch etikettiert werden1 – der besonderen Rahmung. Gerade Vernissagen als punktuelles, kulturelles Ereignis mit Öffentlichkeitswirksamkeit verlangen eine spezifische Inszenierung und Aufladung als Event, um jene Aufmerksamkeit bzw. Attraktivität zu erzielen, die notwendig ist, um in der Vielfalt an künstlerischen Angeboten Aufmerksamkeit zu erlangen und auch medial präsent zu sein
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Erlebnisgesellschaft, Inszenierungsgesellschaft, Spaßgesellschaft, Konsumgesellschaft etc., wobei heute weit über 50 Begriffe existieren.
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Die Vernissage
Inszenierungen von Vernissagen zielen bekanntermaßen darauf ab, eine einmalige und emotional aufgeladene Situation, angereichert mit ästhetischen Momenten, zu schaffen. Es gilt unvergessene Momente zu kreieren und Begehren und eine Sehnsucht nach Ästhetik sowie Kunst zu wecken. Die Grundprinzipien dafür lehnen sich dabei an das sogenannte DESIRE-Modell an, welches eine Profilierung durch Elemente der Inszenierung anstrebt: Die Schaffung und Erzeugung einer Situation mit emotionaler Atmosphäre, Sicherheit und Convenience, einer Individualität des Begehrens nach Kunst, Anlagen/Angebot, Exklusivität des Angebots und das Privileg des Erwerbs von Kunst stehen dabei im Mittelpunkt. Entsprechende Angebote, etwa kostengünstige Editionen, Sonderdrucke oder Miniaturbilder mit persönlicher Beratung und Erläuterungen durch den/die KünstlerIn, wären eine denkenswerte Alternative zu den oft kostenintensiven gesetzten Essen durch Galeristen oder Kunstinstitutionen.
11.5.
Die Vernissage am »dritten Ort« – die Zukunft?
Eine »als dritter Ort verstandene Ausstellung« wird von Tyradellis (2014, 237ff) als jene Möglichkeit verstanden, um Ereignisse, Wissen und Fragen über mehrdimensionale Präsentation zu schaffen. Es werden verschiedene Informationskanäle zur Auseinandersetzung mit den Ausstellungsinhalten und dem Werk angeboten. Diese Konzeption sollte sich auch bereits bei der Eröffnung entsprechend zeigen. Das hieße aber auch, dass Galerien, Ausstellungshäuser etc. ihre gesellschaftliche Funktion anders denken müssten: »Zentral ist dafür die Infragestellung der als selbstverständlich wahrgenommenen Normen und Grenzen, die das Spektrum des Sag- und Zeigbaren je nach Museumstyp massiv eingrenzen.« Ausstellungsräume, so Tyrandellis (2014), sollten Orte maximaler Freiheit sein, in dem alles mit allem in Beziehung treten kann. Ein solches Denken und Informieren im Raum mit zahlreichen Ansprechpersonen bietet die Chance, sich den Kunstwerken auf besondere Weise zu nähern: nicht nur nach vorgegebener Informationen, sondern auch selbst empfundenen und artikulierten Auseinander-
11. Zur Erneuerung und Transformation eines Rituals
setzungen mit einem Kunstwerk und seiner subjektiven Interpretation kann nachgegangen werden und sollte auch öffentlich diskutiert werden. Der Künstler wird dabei in die Vermittlungsarbeit mit eingebunden und kann so im direkten Dialog seine Ideen, seine Perspektiven und Standpunkte erläutern. »Der dritte Ort ist keine Präsentationsstätte um ihrer selbst willen. Er ist ein Ort der Begegnung verschiedener Evidenzen und der Entfremdung gegenüber dem eigenen Wissen und den eigenen Sehgewohnheiten« (Tyrandellis 2014, 240). So muss auch die Vernissage ein Eröffnungsritual und eine Vermittlungsvision entwickeln, die innovativ und anziehend ausfällt: Künstler, Galerist, Kurator und Besucher sind gefordert, hier gestaltend mitzuwirken und ihre Funktionen und Kompetenzen neu zu inszenieren bzw. ihre jeweilige Rolle neu zu überdenken. Die Kreativität jedes Einzelnen wird hier eingefordert, um auch entsprechende Kontingenzerfahrungen zu ermöglichen. Insgesamt ist also die Zukunft des Eröffnungsrituals der Vernissage neu zu denken, zumal auch die eingefahrenen Verhaltensmuster und Sehgewohnheiten stark an gesellschaftliche Ritualisierungen und an spezifische Sozialgruppierungen gebunden sind. Neue Objektgattungen in den Museen und Galerien bedürfen auch der Etablierung neuer Seh- und Wahrnehmungspraktiken, und traditionell eingeübte, sozialisierte Muster, wie man sich Kunstwerken nähert und sich mit ihnen auseinandersetzt, sind neu zu gestalten (man vgl. etwa das neu eröffnete Museum M 9 in Mestre/Venedig).
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12. Der Vernissagentourismus
Innerhalb eines heute breit etablierten Kulturtourismus (vgl. zur Übersicht etwa Steinecke 2004) kommt dem unmittelbaren Museums- und Galerietourismus1 eine eher bescheidene quantitative Rolle zu. Noch geringer dürfte damit im Zusammenhang der Anteil des Vernissagentourismus ausfallen, da hier vermutlich nur ein kleiner Personenkreis allein wegen einer spezifischen Veranstaltung wie dieser beabsichtigt, eine Reise anzutreten. Aber immerhin erweist sich die Spezies des Kulturtouristen als eine Gruppe, die eine Reise mit hohen Ansprüchen und Erwartungshaltungen verbindet (vgl. Glogner-Pilz 2012 sowie Bachleitner/Kagelmann 2003) und als Sozialfigur spezifische Etikettierungen erhält (vgl. Bachleitner 2010). Die Zielgruppe eines speziell auf Ausstellungseröffnungen fokussierten Personenkreises setzt sich zunächst aus jenen hoch interessierten und motivierten Kunstkennern sowie Sammlern zusammen, die speziell zu Vernissagen anreisen, um einen Künstler persönlich zu treffen. Zum anderen ist es jene Gruppe aus dem Künstlerkreis selbst – zusammengesetzt aus dem engeren Freundes- und Bekanntenkreis –, die zu Kunstereignissen dieser Art ebenso anreisen. Auch wenn sich diese Gruppe wie bereits erwähnt als zahlenmäßig klein erweisen dürfte, prägt sie dennoch auch die Vernissage mit,
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Unter »unmittelbar« ist hier gemeint, dass das Reisemotiv ausschließlich dem Museumsbesuch oder Galeriebesuch galt und der Besuch nicht im Rahmen einer Erholungsreise oder auch einer sonstigen Kulturreise erfolgte.
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Die Vernissage
indem sie als eine Art Entourage des Künstlers diesem einen gewissen Rückhalt gibt und als solche zugleich Einblicke in das soziale und künstlerische Umfeld des Künstlers ermöglicht. Es entstehen daraus spezifische Gruppenbildungen und soziale Differenzierungen rund um die Person des Künstlers, mit deutlichen Unterschieden in der sozialen Nähe und Ferne zu jeweils anderen Besuchern. Dieser Prozess kann durchaus zu Spannungen innerhalb der anwesenden Kunstinteressierten führen und Rivalitäten um das Buhlen und die Gunst oder auch Gesprächsmöglichkeit mit dem Künstler entstehen lassen. Wie wichtig für den einzelnen Besucher die Person des Künstlers ist, zeigen verschiedene Ergebnisse der Umfragen. Der Wunsch nach Kommunikation mit dem Künstler wird deutlich nachvollziehbar und erklärbar, wenn man sich die Motivlagen für den Besuch einer Vernissage näher betrachtet: Mit 34 % steht das Motiv der »Einladung zur Vernissage durch den Künstler« auf Platz eins von 8 Gründen Und das Motiv, sich mit dem Künstler treffen zu wollen, trifft auf mindestens 43 % der Befragten zu (vgl. dazu Bachleitner/Aschauer 2008, 120f). Dieser Sozialaspekt wird noch erhöht, wenn anschließend an eine Vernissage oder einem Rundgang durch die Ausstellungsräume, meist geführt durch den Galeristen, zu einem gesetzten Essen (Apero) oder einem Cocktail, meist im VIP- Raum des Museums, geladen wird. Fragen wie Wer wird (wurde) geladen?, Wer wird neben wem platziert?, Dominieren die Sammler, Leihgeber oder der finanzielle Adel?, Ergibt sich die Chance, mit dem Künstler ins Gespräch zu kommen?, Wie fällt der Dresscode aus? werden insgeheim gestellt. Je nachdem, wie die Antworten auf diese und ähnliche Fragen ausfallen, sie mögen entscheidend sein dafür, ob sich eine Reise zu einer Vernissage für den Einzelnen gelohnt hat oder eben nicht. Insgesamt lässt sich erkennen, dass der damit beschriebene Vernissagentourismus als Evidenz für die ästhetische Mobilität innerhalb des Kreativdispositiv gewertet werden kann. Die Reise zu einer Vernissage überhöht letztlich die Vernissage als solche auch zu einem gewissen Grad, da man für einen Event dieser Art extra eine Reise antritt, um schließlich jene Erfahrungen und Begegnungen zu machen, die nur im Rahmen einer Vernissage zu erleben sind.
13. Medien und Vernissage
Die Vernissage als traditionsreiches Eröffnungsritual findet in den unterschiedlichsten Medien eine umfangreiche Resonanz und meist einen fixen Platz in der Berichterstattung. Neben den einschlägigen Medien konnten sich auch neue Formate wie das das sogenannte »VernissagenTV« im Internet etablieren.
13.1.
Die Zeitschriften zum Ausstellungs- und Eröffnungsgeschehen: »Vernissage«
Das heute umfassende und vielfältige Ausstellungsangebot in Galerien und Museen und der damit verbundenen Vielzahl von Vernissagenterminen – sei es im regionalen Bereich, sei es im überregionalen und ebenso im international ausgerichteten Kunst(messe)betrieb – benötigt eine entsprechende Informationsplattform. Neben den digitalen Möglichkeiten der Information und Kommunikation über das Internet oder auch über die Tagespresse sind es vor allem zwei Zeitschriften im deutschsprachigen Raum, die diese Funktion erfüllen, wobei beide sich des Titels »Vernissage« bedienen. Ein Einblick in dieses Informationsangebot soll das Bild zum Phänomen und Ritual der Vernissage abrunden und abschließen. Daneben bieten auch andere Kunstzeitschriften wie etwa »Parnass« oder »Arte« sowie auch praxisbezogene Kunstzeitschriften wie etwa »Kunst und Material« oder die Zeitschrift »palette und zeichenstift« entsprechend selektive Informationen an.
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Die Vernissage
13.1.1.
»Vernissage«
Diese Zeitschrift, die mehrfach ihr Layout verändert hat und nun bereits im 38. Jahrgang erscheint, gliedert sich aktuell in zwei inhaltliche Teile: einmal in »das magazin für aktuelles ausstellungsgeschehen« und zum andern in »das ausstellungspanorama der vernissagen«. Im ersten Teil finden sich reichlich bebilderte und umfassende Darstellungen sowie Informationen als auch Besprechungen aktueller Ausstellungen mit dem Schwerpunkt Österreich. Im zweiten Teil, der sich als »art guide« bezeichnet, sind, sofern von den Galerien und Museen eingeliefert, alle verfügbaren Angaben zu Ausstellungen in Österreich zusammengestellt, gegliedert nach Bundesländern, sowie entsprechende Informationen aus den benachbarten Staaten, allen voran der BRD, Schweiz, Italien, Liechtenstein, Slowakei.
13.1.2
»Vernissage: Die Zeitschrift zur Ausstellung«
Diese Zeitschrift, die meist mit Schwerpunktheften (z.B. »Das Atelier«, »Afrikanische Kunst« etc.) arbeitete, wurde 2012 eingestellt. Die nach wie vor existierende Mediengruppe »Vernissage« konzentrierte sich auf die Vermarktung anderer kunstnaher Produkte (Präsentation von Künstlern, Ausstellungsorganisation etc.); dies wohl auch daher, als diese Informationen zum Ausstellungsgeschehen aktuell zunehmend sowohl durch das Internet als auch andere Fachzeitschriften wie »Parnass«, »Arte« oder die Zeitschrift zur Ausstellungsübersicht »Kunsttermine« (vier Ausgaben pro Jahr seit 1999) für Deutschland, Schweiz und Österreich erweitert und ergänzt wurden.
13.2.
Das Vernissagen-TV
Wer sich heute über das weltweite Vernissagengeschehen – sei es über die Eröffnung internationaler Kunstmessen (Miami, Paris, London etc.), aber auch über weltweite Ausstellungsprogramme in den Museen von Weltruf informieren möchte, kann sich hier über dieses Medium
13. Medien und Vernissage
entsprechend orientieren und die entsprechenden Großereignisse über Video-Berichte rezipieren. Wenngleich auch selten über die Abläufe und Rituale der Vernissage selbst berichtet wird, erhält man auf diesem Weg dennoch Einblicke in die Ausstellungsinhalte und das Verhalten der Besucher, welches überraschend gleichförmig ausfällt: Es ist ein Schlendern und Betrachten, Kommunizieren und Beobachten, Verweilen, Internalisieren, Informieren, meist in sehr gelöster Atmosphäre und mit wenig sozialen Einbindungen. Dies lässt sich über die selektierenden Ausschnitte der Aufnahmeteams oder durch die Selektion der Cutter ableiten.
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14. Die Vernissage als globales Ritual Anmerkung zum Vergleich im interkulturellen Kontext
Eine umfassende kulturvergleichende Analyse der Vernissage im heute global expandierten und verflochtenen Kunstbetrieb steht unseres Wissens nach noch aus. Auch hier kann eine solche nicht geleistet werden; es sollen aber einige Anmerkungen für ein solches Vorhaben anklingen.1 Die Herausforderung einer derart komparatistisch angelegten Studie hätte im Vorfeld kulturhistorische Fragestellungen zu klären: Handelt es sich bei Eröffnungsritualen von Kunstausstellungen eher um eine eigenständige kulturelle Entwicklung, oder erkennt man die weitgehende Übernahme aus dem europäischen Ursprungsbereich bzw. liegt eine Ergänzung und Weiterentwicklung mit strukturellen Elementen aus dem jeweiligen kulturellen Umfeld vor? Nun zählt die interkulturell vergleichende Sozialforschung – hier die kulturvergleichende Phänomenologie von Vernissagen – mit zu
1
Eine entsprechende vergleichende Studie ist im Antragsstadium. Die hier getätigten Aussagen sind vorwissenschaftlich eigene Beobachtung; lediglich zu Südamerika wurde Herr Hans Herzog, der über Jahrzehnte als Kunstmanager und Kunstkurator für die Darvos-Stiftung in Südamerika (Brasilien) lebte, kontaktiert. Der höchst vielfältige afrikanische Kontinent ist vorerst unberücksichtigt, wenngleich die bereisten Maghrebstaaten eine Nähe zum Ritual wie in Südeuropa anbieten.
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Die Vernissage
den größten methodischen und methodologischen Herausforderungen. Dies insofern, als Ereignisse und Phänomene sowie die damit verbundenen Verhaltensweisen und Handlungen nicht nur situative Abhängigkeiten aufweisen, sondern erst im Kontext der jeweiligen Kultur ihre spezifische Bedeutung erlangen, die bei deskriptiven und interpretativen Vergleichen mitbedacht werden müssen. Hier können nun all die mit diesen Prozessen verbundenen, methodologischen Problemlagen weder aufgelistet oder gar bearbeitet werden (man vgl. dazu u.a. Scrubar/Renn/Wenzl 2005 und für die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Kulturvergleichen bei Umfragen Bachleitner/Weichbold/Aschauer 2014). Die Vergleichbarkeit von Vernissagen in verschiedenen Kulturen kann nun u.a. an der Unbestimmtheit des zu vergleichenden Ereignisses scheitern. Wir legen daher sowohl die Vergleichseinheit – es ist hier die Eröffnung einer Ausstellung – sei sie ritualisiert oder eingebettet in andere Eröffnungsformen –, die Vergleichsintention – hier das Erkennen von Differenz in den Abläufen und Funktion – sowie den Vergleichsmaßstab fest. Vergleiche, die nur über Analogien und Differenzen vollzogen werden, werden so zumindest ansatzweise minimiert.2 Trotz dieser Spezifizierungen können beispielsweise auftretende Kontraste und Differenzen im Rahmen eines kulturellen Vergleichs von Vernissagen auch überinterpretiert werden, da wie schon angedeutet Unterschiede bereits innerhalb einer Gesellschaft auftreten. Anlass und Ort einer Vernissage, die den Ablauf wesentlich mitbestimmen, sind vermutlich kulturspezifisch gestaltet. Derartige Vergleiche setzen meist unbewusst ein einheitliches kulturelles Ganzes voraus, ein Faktum, welches gerade im Kunstbetrieb als obsolet angenommen werden muss. Bei aller erkennbaren Verschiedenheit und Differenz erleichtern Vernissagen in anderen Kulturräumen u.a. auch den sozialen Zugang zur nationalen Kunst und Kultur, da fremde Kunstorte für den Einzelnen meist mit wie auch immer gearteten Barrieren bzw. subjektiv 2
Dieser methodische Anspruch kann nur dort eingelöst werden, wo die entsprechenden Informationen eingegangen sind.
14. Anmerkung zum Vergleich im interkulturellen Kontext
konstruierten und interkulturell jeweils spezifisch wahrgenommenen Hemmschwellen verbunden sein können. Durch die Vernissage erfolgt die Öffnung von etwas zunächst Unbekanntem, und zwar sowohl in sozialer als auch kognitiver Hinsicht, da der kunstferne und kunstfremde Besucher über Ritualisierungen in die Homogenität des Kunstpublikums integriert wird und darin »aufgeht«. Gerade im internationalen Kontext sind Vernissagen das Eintrittstor in eine meist andersartige Kunst- und Kulturpräsentation sowie in eine andersartige regionale Kultur insgesamt. Die Ritualisierungen innerhalb der Vernissage erzeugen dabei soziale Kohärenz, sie vermitteln Sicherheit, Verständnis und Zugehörigkeit sowie eine erste Eingebundenheit in etwas Andersartiges. So findet sich das Ritual der Vernissage letztlich in fast allen Kulturräumen, wenngleich die konkreten Ritualisierungen unterschiedlich ablaufen können. Die Bandbreite reicht von starker Normierung bis hin zu völlig offenen und wenig strukturierten Handlungsvorgaben. Diese reichen u.a. von der Präsenz eines Begrüßungs- und/oder nur Eröffnungsredners bis zu Videopräsentationen, von einem erwünschten strengen Dresscode bis hin zu Formen einer völlig legeren (auch textilen) Etikette, vom exquisiten Buffet bis zu Wein und Wasser im Pappbecher, von verschiedenen visuellen Darbietungen bis hin zu musikalischen Umrahmungen, von der strengen Hierarchie geladener Redner bis zu unkomplizierten und eher spontan wirkenden Einführungsworten durch die Veranstalter. Maßgebend für diese möglichen unterschiedlichen Ritualisierungen in den einzelnen Kulturräumen sind neben den variierenden kulturellen Mentalitäten und regionalen und nationalen kulturellen Traditionen vor allem die Orte und Anlässe der Vernissage, die letztlich den angemessenen Rahmen für die Kunstinszenierung mitgestalten bzw. mitbestimmen. Die interessierenden Fragen zentrieren sich neben den unterschiedlichen Abläufen von Ritualen vor allem auf Differenzen in der Emotionsnähe oder -ferne, der ausladenden Gestaltung oder sonstigen transgressiven Aspekten. Auch die Wirkungen von Vernissagen auf Wahrnehmung und unterschiedliche Vorgänge in Bezug auf die
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Die Vernissage
Auseinandersetzung mit der präsentierten Kunst ist davon betroffen. Zu fragen wäre auch, inwieweit Eröffnungsrituale im Kunstbetrieb im Rahmen einer globalisierten Kultur eher verschmelzen, oder ob sie sich stärker ausdifferenzieren, da es insgesamt zu einem Wiedererstarken von Ritualisierungen im gesellschaftlichen Leben kommt. So interessant nun derartige kulturvergleichende Fragestellungen auch sein mögen, so sehr ist ihrer Beantwortung auch eine methodologische Grenze gesetzt. Kulturvergleiche von Phänomenen und Ereignissen dieser Art sind mit Phänomenen des Ethnozentrismus (hier Eurozentrismus), des Universalismus und Kulturalismus (Kulturrelativismus) konfrontiert. Dazu mischen sich bereits im Vorfeld zahlreiche weitere methodische Probleme (Inkommensurabilität, Inkompatibilität, Inkongruenz – vgl. dazu konkret Cappai 2005) sowie die Frage der funktionalen Äquivalenz von Vernissagen als interkulturell zu vergleichende Ereignisse. Im Detail kann und soll hier nicht auf diese Fallgruben eingegangen werden, sondern wir begnügen uns mit der vergleichenden Beschreibung der Vernissage in einzelnen Kulturräumen. Dort, wo wir meinen, Vergleiche ziehen zu können, werden diese methodisch abgesichert. Die Vernissage lässt sich auch als Ausdruck und Bestandteil der »Mondialisierung« auffassen, wie dies Badura (2006) beschreibt, wo sie sich in diesen Prozess eingliedert. Das Ursprungsland der Vernissage liegt in Europa und geht, wie bereits umfassend ausgeführt, vom damaligen Frankreich des 18. Jahrhunderts aus (vgl. Thurn 1999). Dieser Ursprung hatte durchaus weitreichende Folgen für die Ausgestaltung und den Wandel in einer globalen Kunstwelt. Bedingt durch Kolonialisierungsprozesse in den einzelnen Kontinenten, ausgehend von den europäischen Kolonialmächten sind auch die entsprechenden Kulturelemente in diese fremden Kulturen eingegangen und wurden nur in unterschiedlichen Graden verändert und selten deutlich umgestaltet oder durch andere Rituale ersetzt. Während im europäischen Kulturraum das ursprüngliche Eröffnungsinitial in seiner Grundstruktur zwar beibehalten wurde, wenngleich vereinzelt Differenzierungen und Verwischungen er-
14. Anmerkung zum Vergleich im interkulturellen Kontext
kennbar werden, sind in außereuropäischen Kulturräumen größere Transformationen erkennbar. So zeigt sich etwa in den USA eine deutliche Hierarchisierung mit einer starken institutionellen Distinktion (z.B. Dresscode und gestufte Previews). Auch in Südamerika sind in Abhängigkeit von der Kulturinstitution und dem Anlass solche Tendenzen erkennbar. Begrüßungen und Eröffnungsreden sind hingegen in Galerien eher im Rückzug begriffen. Im europäischen Kulturraum ist ein höchst variables Vernissageritual beobachtbar. Während in einigen südeuropäischen Staaten (Spanien, Portugal) ebenso wie in nordeuropäischen Ländern, jeweils in Abhängigkeit von der veranstaltenden Institution, deutliche Abschwächungen im Prozess der Ritualisierung auftreten mit sozialer Öffnung und der damit verbundenen Variabilität, findet sich daneben – und zwar bei staatlichen Kunsteinrichtungen – ein Weiterleben der Traditionen mit den Elementen der klassischen Ritualisierung. Auch kleinere Galerien zeigen ein sensibles Bewusstsein gegenüber dem Ritual Vernissage und lassen es durchaus aufleben. Internationale kunstbezogene Events, mit breiter medialer Aufmerksamkeit wie etwa Kunst- und Architekturbiennalen (Venedig, Istanbul, Kassel, San Paolo etc.) zeigen nach wie vor ein starkes Festhalten an Eröffnungsritualen vor allem mit personeller kulturpolitischer Präsenz. Diese sporadischen Alltagsbeobachtungen sowie Information von Kuratoren gilt es jedoch im Detail systematisch zu analysieren.
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15. Resümee
Die Vernissage erweist sich als ein traditionsgebundenes, jedoch zugleich innovatives soziales und gesellschaftsbezogenes Ritual im aktuellen Kunstbetrieb. Der heute globalisierte Kunst- und Kulturbetrieb – insbesondere der von Museen, Galerien und Kunstmessen – setzt die Vernissage aufgrund ihrer Multifunktionalität nach wie vor als bevorzugtes Inszenierungsmittel und Instrument einer Eventisierung ein, da es vielfältige (auch ökonomisch motivierte) Möglichkeiten für die Öffentlichkeitsarbeit sowie für Kundenbindungsprogramme ermöglicht bzw. diese unterstützt. Eingebettet ist dieser Prozess in gesellschaftliche Ästhetisierungsvorgänge, dem »Kreativitätspositiv«, welche für postmoderne Gesellschaften charakteristisch sind. Die wesentlichen Grundelemente für das Kreativdispositiv werden in geradezu idealtypischer Weise in Vernissagen abgedeckt: Ritualisierungen, Auftritte und Inszenierungen. Für die weitere Analyse der Vernissage wurde als methodisch-theoretischer Hintergrund daher das Dispositivkonzept herangezogen, da es die Möglichkeit bot, die heterogenen Elemente, die im Rahmen von Vernissagen ihren Ablauf und ihre Gestaltung leiten, zu einer kontingenten Ganzheit zusammenzuführen. Die Vernissage kann als ein sozial-ästhetisches Ritual aufgefasst werden, welches sich durch die konstituierenden Elemente wie Regelmäßigkeit, rhythmische Wiederholung, Stilisierung, symbolische Handlungen, einem fixen Beginn und Ende etc. auszeichnet. Sie erfüllt dabei vier Funktionen: eine sozial-kommunikative, eine wissensvermittelnde sowie eine breit strukturierte ästhetische Wirkungsfunktion
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Die Vernissage
mit einer deutlichen ökonomischen Akzentuierung. Das ergibt für das soziale Gefüge einer Vernissage in Summe eine weitgehend fixe funktionale Dramaturgie mit Introitus und Abschluss. Der Ablauf des Eröffnungsrituals sieht dabei klar voneinander abgrenzbare Phasen und ebensolche Rollenzuweisungen vor: die Begrüßungsphase, die Eröffnungsrede sowie die Kommunikations- und Betrachtungsphase der Kunstobjekte verbunden mit den Rollenverteilungen in Redner, Zuhörer und Betrachter. In diesen Phasen einschließlich der erfolgten Rollenverteilungen kommt es zu sozialen Auftritten verschiedener Akteure, die meist exakt inszeniert sind und auch weitere Personen mit einbinden: die Künstler, die Kuratoren, die Galeristen, Museumsdirektoren und Kulturpolitiker sowie Sammler und Kunstinteressierte, aber ebenso die interessierten, aufmerksamen, gespannten und staunenden Kunstlaien (Zufallsbesucher). Aus dieser Heterogenität von anwesenden Personen und Persönlichkeiten ergeben sich für Verlauf und Gelingen einer Vernissage vielfältige Chancen und Möglichkeiten des »InErscheinung-Tretens«. Kontingenzräume werden dadurch ermöglicht, die vielfältige Erfahrungen zulassen – ein Momentum, das auch für die Herausbildung von Atmosphären bestimmend ist und das für die Existenz und die Imagebildung der veranstaltenden Kunstinstitution wichtige Akzente setzen kann. Das Gelingen einer Vernissage und ihrer öffentlichkeitswirksamen Momente wird von den Kombinationen und dem Zusammenspiel all dieser Elemente beeinflusst. Es sind vor allem die Eröffnungsrede und die dafür ausgewählten Redner, die entscheidend zur Inszenierung und Eventisierung beitragen können. Ihnen kommt in diesem Prozess eine entscheidende, mitgestaltende Rolle zu, da hier die Möglichkeit und zugleich die Macht verortet ist, mit Worten das zwar Wahrnehmbare, aber nicht immer Erkannte und Empfundene und zugleich auch nicht Verbalisierbare in ein Gedächtnis einzuschreiben und so emotionale Erinnerungen zu speichern. Daneben ergeben sich Möglichkeiten für die Erkenntnisfähigkeit, die an das nicht rational Erfahrbare adressiert sind: Die Sinnlichkeit für Weltoffenheit sowie eine ästhetische Welterschließung wird aktiviert, auch wenn dies dem Einzelnen nicht immer in dieser Form bewusst
15. Resümee
sein dürfte. Affekte ausgelöst durch Wahrnehmung von Kunst werden gezielt evoziert. Für dieses vielfältige sozial-emotionale und kommunikative Geschehen sind auch die Präsentationsästhetik, die Räumlichkeiten, in denen die Kunst selbst auftritt, bestimmend: Räume und Kunstwerke erzeugen Stimmungen, verändern Befindlichkeiten und lösen Affekte aus. Sie werden zur sozialen Bühne und zum Begegnungsort für das Publikum einer Vernissage. Ästhetische Wahrnehmungsvorgänge – seien es die Kunstobjekte oder auch die Besucher selbst – sind Bestandteil in diesem Geschehen. Das ästhetische Dispositiv zeigt sich hier in seiner unvermittelbaren Form. Die Sozialstruktur des Publikums einer Vernissage ist, wie die des gesamten Kunst- und Kulturpublikums, vorwiegend an sozioökonomischen Kriterien orientiert und von einer deutlichen Besuchertypologie geprägt: den »Gelegenheitsbesuchern«, den »Kunstinteressierten« sowie den »Prestigebesuchern« mit ihren je spezifischen Erwartungshaltungen. Zudem zeigen sich innerhalb der soziodemographischen Variablen der Besucher zwei entgegengesetzte Tendenzen, einmal hin zur Heterogenität und zum anderen hin in eine Homogenität: Im Galeriebetrieb ergibt sich eher eine Homogenität von Alter und Geschlecht, und zwar in Relation zu den ausstellenden Künstlern, während beim Museumspublikum die sozialstrukturellen Variablen insgesamt wesentlich heterogener, also breiter gestreut sind. Die Vernissage als raumästhetisch inszeniertes und sozial-kommunikatives Erlebnis dürfte sich im Kunstbetrieb als unverzichtbar etabliert haben, ist sie doch eines der wenigen Ereignisse in der Kunstwelt, die den kurzzeitigen Zusammenhalt von Interessensgruppen in einem gehobenen sozialen Rahmen ermöglicht; das Kunstinteresse als eine kollektive Vergewisserung und ästhetische Praxis wird in den Mittelpunkt gerückt. Auch wenn das Geschehen meist im Unverbindlichen bleibt, als gleichsam unverbindliche Austauschbeziehung mit ebenso unverbindlichem Ausgang erscheinen mag, ist sie doch ein zeitloses Phänomen, welches weitgehend den heute postmodernen, urbanen Interaktionsbedürfnissen entspricht. Trotz der Flüchtigkeit des Geschehens,
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Die Vernissage
verbunden mit verborgenen Optionen für weitere Entwicklungsvarianten, garantiert sie den immer wiederkehrenden Zusammenhalt ephemerer Vernissagengemeinschaften mit der Option der Selbstinszenierung und Selbstthematisierung für unterschiedliche Gruppen. Sammlern kommt hier etwa eine Rolle der Anbahnung von Bindungen zur Gastinstitution zu. Die meist öffentlichen Vernissagenorte und -räumlichkeiten werden dabei vielfältig auch für individuelle Inszenierungen genutzt. Die aufgezeigten Varianten der Vernissage kommen dem Wunsch nach innovativen Positionierungsmöglichkeiten für Galerien, Museen und Kunstmessen entgegen, so wie sich insgesamt das Phänomen Vernissage uneingeschränkt in den gesellschaftlichen Prozess der Ästhetisierung einordnen lässt und hierfür auch als empirischer Beleg gelten kann. Das sogenannte »Kreativdispositiv« bietet einen kultursoziologischen Erklärungsansatz für diese sich ständig erneuernden gesellschaftsbezogenen Ästhetisierungsprozesse, die sich innerhalb des Vernissagengeschehens erkennen lassen. Die Macht, die von einer Vernissage ausgeht, besteht wohl darin, dass die gezeigten konstitutiven heterogenen Elemente (siehe Grafik 1) so aufeinander abgestimmt werden und in ihren möglichen Relationen (Objektivation und Subjektivation) so gestaltet sind, dass spezifische ästhetische Atmosphären gebildet werden, die emotional faszinieren. Diese Wirkmächtigkeit, die daraus resultiert und die kontingent ausfällt, kann sonst zu keinem anderen Zeitpunkt einer Ausstellung erreicht werden. Sie wird aber auch ökonomisch umgesetzt und spielt für Ökonomisierungsprozesse in der Kunstwelt eine zentrale Rolle. Während für Galerien das Machtpotential von Vernissagen stark an Kundenbindung und die Forcierung einer Kaufabsicht orientiert ist und entsprechend genutzt wird, liegt das Interesse der Museen darin, über das Instrument einer Vernissage einen Imagegewinn und eine Steigerung der Besucherzahlen (Weiterempfehlungseffekte) zu erzielen. Beiden gemeinsam ist, dass eben Vernissagen jene ästhetischen, sozialen, affekt- und wissensbezogenen Erlebnisse vermitteln und ermöglichen, die üblicherweise im Kunstalltag (eher) selten in dieser Konzentration und Kombination zu finden sind. Es wird in diesem Prozess
15. Resümee
sinnlich vieles erkannt, aber eben nicht konkret benannt. Dies kann bereichernd und entlastend wirken, da es keiner Worte des Betrachters bedarf. Es ist typischerweise das (Nicht-)Gesagte und (Nicht-)Wahrgenommene im Rahmen einer Vernissage, das intuitiv wirkt und affiziert. Die ansatzweise hier nur gestreiften interkulturellen Vergleiche des Eröffnungsrituals zeigen, dass die Grundstruktur der Vernissage – ausgehend von Frankreich im 19. Jhd. – mehr oder weniger erhalten blieb und nur geringe kulturspezifische Variationen auftreten. In den USA erkennt man eine deutliche Hierarchisierung der Eröffnungsrituale in Relation zur ausstellenden Kunstinstitution, mit deutlichen Distinktionsmechanismen. In Italien hingen dominieren wiederum die Begrüßungszeremonien sowie die Ansprachen der örtlichen (Kultur-)Politiker, während dies etwa in Spanien und Portugal eher im Schwinden begriffen ist. Diese unterschiedlichen Akzentuierungen werden zweifelsfrei jeweils auch vom Anlass und der ausstellenden Institution mitbestimmt. Biennalen zeigen hier nach wie vor die Dominanz des Eröffnungsrituals mit starker medialer Beteiligung. Im mitteleuropäischen Raum zeigen die Vernissagen einen relativ klaren, sich wiederholenden Phasenablauf: Begrüßung, Einführungsrede, Kommunikation und Kunstbetrachtung mit der Möglichkeit einer Ausstellungsführung durch Kuratoren. Als dominant bei Vernissagen erweisen sich, wie bereits erwähnt, die in unterschiedlichsten Formen (Typologien) gehaltenen Eröffnungsreden mit ihrer spezifischen Fachsprache. Von diesen geht jene Macht aus, die sowohl das Verständnis als auch die Einstellungen bzw. die Urteilskraft der Zuhörer zur gezeigten Kunst gestalten und bestimmen. Sie stellen das zentrale Element dar, von dem die Vernissage als Event lebt und wohl noch lange weiterleben dürfte, da Bilder und Worte verschmelzen und bleibende Eindrücke hinterlassen. Das insgesamt entwickelte Bild von der Vernissage mit ihren vielfältigen Verflechtungen entstand unter Rückgriff auf das Dispositivkonzept. Hätten wir eine andere Methodologie verwendet, so wären zweifelsfrei andere Akzente und Konturen der Phänomenologie der Vernissage betrachtet worden. Der interessierte Leser sei auf den angefügten Methodenexkurs verwiesen, der diese Thematik aufgreift.
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Methodenexkurs
Zum Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen und Dispositivanalyse Reinhard Bachleitner & Wolfgang Aschauer
Vorbemerkung Am Beginn der vorliegenden Studie stand die Entscheidung, wie man sich dem weit verzweigten Phänomen Vernissage methodisch nähern könnte und welche Methodologie insgesamt zur Vernissageanalyse geeignet erscheint. Zur Wahl standen Methoden, die komplexe Phänomene erfassen können und umfassende Analysen erlauben, ist doch die Vernissage ein weit verzweigtes und mehrfach verwobenes Ereignis mit den unterschiedlichsten Akteuren. Sowohl Beobachtungsmethoden als auch verschiedene Befragungsmethoden sind relevant, um zu einem Gesamtbild zu gelangen. Dahinter stand auch die Frage: Will man »nur« erläuternd beschreiben, verstehend nachvollziehen, oder sollen auch Erklärungen für spezifische Aspekte des Vernissagengeschehens – seien sie dann historisch oder kausal ausgerichtet – angestrebt werden? Ebenso galt es abzuwägen, ob relevante (verursachende) Strukturen sowohl auf Mikroebene wie auch Makroebene erfasst und hierfür Erklärungsleistungen angestrebt werden sollen. Sind es doch gerade die strukturellen Bedingungen, die auf Handlungen und die Handlungswahl von Vernissagenbesuchen wirken, und umgekehrt sind es auch Strukturen, die soziale Handlungen im Vernissagenverlauf hervorbringen können.
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Die Vernissage
In die engere Wahl kam das Programm der »Analytischen Soziologie« mit ihren vier Prinzipien, wie sie Diekmann (2010) herausarbeitet. Dabei sollen das Prinzip der Erklärung, das Prinzip der Analyse und Abstraktion, das Prinzip der Präzision und Klarheit und das Prinzip, menschliche Handlungen als Ausgangspunkt für Erklärungen zu verwenden, als methodisch handlungsleitend gelten. Den Königsweg einer theorieorientierten Sozialforschung stellen hierbei oft Strukturgleichungsmodelle dar, welche sich durch eine streng formalisierte, statistische Vorgangsweise auszeichnen. Eine Alternative ist das Forschungsprogramm des »Dispositivs«, welches gerade im Bereich von kulturellen Fragestellungen, die sich mit Machtbeziehungen und Machtverhältnissen konfrontiert sehen, einen innovativen Problemzugang ermöglicht. Im folgenden Abschnitt soll nun eine Komparatistik dieser beiden Methoden skizziert werden, um jener Forderung von Hitzler & Honer (1997, 23) gerecht zu werden. Beide schlagen vor, sowohl für sich selbst als auch für andere durchsichtig zu machen, wie der Forschende das versteht, was er zu verstehen glaubt, und wie er weiß, was er zu wissen meint. Über einen derartigen Methodenvergleich soll also nicht nur eine Transparenz methodischer Vorgehensweisen erreicht werden, sondern im Resultat sollte begründet werden, warum man sich für oder gegen eine der beiden Methoden entschieden hat.
1.
Ausgangslage
Die heute erkennbare Betonung methodologischer Aspekte in empirischen Forschungsvorhaben verstärkt die methodische Konstruktion des Wissens. War früher die methodische Fokussierung eher marginal im Bewusstsein der jeweilig geltenden gesellschaftlichen Wissensordnungen verankert, so ist eine stringente methodische Vorgangsweise aktuell eine unübersehbare Pflichthandlung1 , was u.a. die Herausbil1
Man vergleiche dazu die zahlreichen Methodenlehrbücher, die teilweise beachtliche Auflagen beziehungsweise Downloadzahlen erreichen. So erreicht beispielsweise das von Nina Baur und Jörg Blasius (2014) herausgegebene
Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen & Dispositivanalyse
dung der methodischen Triangulation fördert.2 Insgesamt dominiert in den Sozialwissenschaften jedoch die Anwendung einer Methode, wenngleich diese immer komplexer werden und sich nuancenreich ausdifferenzieren. Die rasch anwachsenden gesellschaftlichen Wissensbestände werden aktuell durch innovative Methoden bei einem gleichzeitig unübersichtlich gewordenen Methodenpluralismus, im qualitativen wie auch quantitativen Methodenbereich, weiterentwickelt. Verständlicherweise drängt sich daher verstärkt die Frage auf, welche der Methoden für welche Fragestellung zielführende Ergebnisse liefern kann und inwieweit die klassische These der »Gegenstandbezogenheit« der Methode noch Gültigkeit besitzt. Die immer wieder auftauchenden kontroversen Debatten um die »richtige« Methode sind hierfür ein Indiz.3 Irritierend in solchen Debatten und Diskursen wirken lediglich Aussagen und Äußerungen, die andere methodologische Positionen immer noch wortreich und überzogen abwerten.4
2
3
4
Handbuch der empirischen Sozialforschung mittlerweile mehr als 11 Mio. Dowloads. Mitunter wird Triangulation auch indirekt als Vergleich bezeichnet, es handelt sich jedoch weder um eine Komparatistik der Methoden an sich noch um eine methodische Zusammenführung der Methoden, sondern die Resultate aus den verschiedenen Methoden werden integriert und zu einer sich ergänzenden Wirklichkeit verwoben, wobei Aggregierungsprobleme der Daten zu Gunsten eines Gesamtbildes oft ausgeblendet werden. In den 80er Jahren war es vor allem die Kontoverse quantitative vs. qualitative Methoden, die höchst emotional geführt wurde. Sie erlebt aktuell rund um die Abspaltung der Akademie für Soziologie in Deutschland wieder eine Renaissance (siehe Esser 2018 vs. Hirschauer 2018 für die beiden konkurrierenden Positionen). Einen nicht nachvollziehbarer Rundumschlag gegen empirisch statistische Verfahren, aber auch gegen den qualitativen Forschungsstil oder selbst die Triangulation findet sich etwa bei Nassehi/Saake (2002, 66ff), die sich in überzogener Rhetorik u.a. auch gegen notwendige Voraussetzungs- und Anwendungsbedingungen von statistischen Verfahren wenden: »Während die quantifizierte Welt statistischer Sozialforschung in der simulierten Präzision der dritten Nachkommastelle des Korrelationskoeffizienten den Beobachter letztlich sediert bzw. das Ergebnis vom konkreten Beobachter unabhängig macht, fordert
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Die im Folgenden entwickelte These einer »methodologischen Konstruktion der Wirklichkeit«5 geht letztlich davon aus, dass jene Methode eingesetzt werden sollte, die eine äquivalente Konstruktion der »unvoreingenommen« Realität in Aussicht stellt und dieser am ehesten entspricht. Die zunehmende methodische Abhängigkeit des Wissens über die soziale Realität trifft auch für die Erzeugung des »Bildes« der Vernissage in all ihren Facetten zu. Es gibt weder ein rein subjektives Bild, das nur höchst individuelle Konstruktionen der Wirklichkeit ermöglicht, noch die immer wieder erkennbare (naive) Vorstellung eines objektiven empirisch »wahren« Wissens. Beide Extrempositionen sind seit langem obsolet geworden, aber eben schwer eliminierbar (vgl. dazu u.a. Schneider/Hirseland 2005, 255f). Noch wenig Durchsetzungskraft in diesem Kontext hat die hier vertretene These, dass jeder methodische Zugang zu einem sozialen Problem oder Phänomen nur einen spezifischen Ausschnitt einer möglichen Wirklichkeit erfassen kann.
Zielvorstellungen Der angestrebte Methodenvergleich für die Analyse der Vernissage stellt nun zwei auf den ersten Blick weitgehend verschiedene und aus unterschiedlichen Traditionen kommende Verfahren gegenüber, um die jeweiligen methodischen Vor- oder Nachteile der Verfahren für deren Einsatz abschätzen zu können. Dieser Vergleichsprozess wird
5
die qualitative Forschungsmethodik den gehaltvollen, vom Leben gesättigten, von der Persönlichkeit des Forschenden legitimierten Forschungsstil geradezu heraus« (…). »Jenseits der Dichotomie (quantitativ-qualitativ, d. Verf.) scheint dann nur noch die Triangulation denkbar zu sein« (…). »Man tut dann so, als habe man es mit unterschiedlichen Seinsbezirken oder Gegenständen der sozialen Welt zu tun, deren gegenseitige Ergänzung im sozialwissenschaftlichen Forschungsalltag dann ein wenig Interdisziplinarität in einzelne Disziplinen hinein verlagert« (…) und zusammenfassend heißt es zur Triangulation dann »Man addiere nur die unterschiedlichen Perspektiven, schon kommt man der Wahrheit asymptotisch näher« (S. 67). Wir verwenden den Begriff Konstruktion wie ihn Luckmann vorsieht und nicht im Sinne des radikalen Konstruktivismus oder des Konstruktivismus der Systemtheorie (vgl. Schnettler 2006, 85f).
Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen & Dispositivanalyse
auf vier ausgewählten methodischen Ebenen (=A/B/C/D) erfolgen6 . Zudem wird der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen und Perspektiven sich aus diesen Formierungen ableiten lassen, da methodische Grundannahmen, wie sie hinter den einzelnen Methodologien der Verfahren stehen, nicht nur die Struktur der Problemerfassung mitgestalten, sondern insgesamt die Fragestellungen vorstrukturieren. Dabei interessiert u.a. inwieweit es erfolgversprechend ist, aus methodisch unterschiedlich erfassten Wirklichkeiten Lösungswege für Interventionen (Veränderungen/Umgestaltungen) abzuleiten. Eine vergleichende Analyse soll zudem anregen, die Selbstverständlichkeit, mit der Methoden zum Einsatz kommen, zu hinterfragen und dazu beitragen, dass Methoden letztlich auch zur Theoriebildung und -weiterentwicklung führen. Dies alles wird vor dem Hintergrund analysiert, dass beide gewählten Verfahren den Anspruch erheben, zur »Erklärung« oder zur »Klärung« sozialwissenschaftlicher Phänomene mit ihren jeweiligen spezifischen Problemlagen, Sachverhalten, Ereignissen etc. beizutragen. Entscheidend in dieser Komparatistik wird sein, inwieweit die Verfahren aus der interpretativen Mehrdeutigkeit des gesammelten Datenmaterials jene Wirklichkeit herausfiltern können, die die verschiedenen Deutungen auf eine mögliche (gemeinte) Eindeutigkeit hin reduzieren und eingrenzen können. Dabei soll es eine Zielperspektive sein, die Kontingenzen der Interpretationen bei den entstehenden Wirklichkeiten verstärkt methodisch zu hinterfragen. Verglichen wird daher, welches Regelwerks sich die beiden Verfahren auf ihrem Weg zu »Wirklichkeitskonstruktionen« bedienen, um zur »Realitätsfindung« zu gelangen. Dabei sollen weder mathematisch-statistische Details noch ausdifferenzierte methodische Vorgaben referiert werden, sondern die methodologische Idee hinter dem Verfahren. Denn nur, wenn man sich solcher Unterschiede bewusst wird, kann man sich für oder gegen ein
6
Der Vergleich erstreckt sich nicht auf alle möglichen und relevanten methodischen und methodologischen Aspekte, da dies an dieser Stelle wohl auch nicht angebracht ist.
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Verfahren stellen bzw. entscheiden, welches für die Zielsetzungen des Projekts als erfolgversprechender einzustufen ist.
2.
Die Bedingungen für den Vergleich und die Auswahl der Verfahren
Die angestrebte methodische Komparatistik komplexer Verfahren setzt eine Vergleichbarkeit sowohl in den Grunddimensionen als auch in den Grundintentionen der Methoden voraus. Im vorliegenden Fall sind dies vor allem drei Aspekte, die zu nennen sind, wenn der Methodenvergleich und letztlich die Entscheidung für oder gegen eine methodische Analysevariante aussagekräftig ausfallen sollte: 1) ist dies die empirische Ausrichtung der zu vergleichenden Verfahren; 2) eine weitgehend idente Zielvorstellung der Verfahren – hier gilt es komplexe Strukturen und Zusammenhänge, zu analysieren und zu erklären –; und schließlich 3) sollten Angaben und Bedingungen, wie die grundsätzliche Vorgehensweisen und die methodischen Wege zu gestalten sind, vorliegen, um ein Komparatistik zu ermöglichen. Die Wahl fiel, wie angeführt, auf zwei Methoden, die methodisch ein hohes Erklärungspotential besitzen. Es sind dies einerseits die Strukturgleichungsmodelle, die simultan die Wirkkraft mehrerer unabhängiger Einflussgrößen auf eine Outcome-Variable schätzen können. Im Unterschied zu einfachen Regressionsmodellen können Erklärungsfaktoren auf mehreren Ebenen eingefügt werden. Zudem können auch Konstrukte, die beispielsweise über mehrere Indikatoren in einem Fragebogen erhoben wurden, in die Strukturgleichungsmodelle einfließen. Als alternative methodische Strategie soll die Dispositivanalyse behandelt werden. Diese ging letztlich aus den Erweiterungen der Diskursanalyse hervor, welche auch nicht-diskursive Praktiken in ihre Konzeption integrieren, woraus ein erheblicher Mehrwert der Methode entsteht. Zwischenzeitlich spricht man auch
Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen & Dispositivanalyse
von einem »dispositiv turn« (vgl. Caborn/Wengler/Hoffarth/Kumiega 2013).7 Beide Verfahren entsprechen den genannten Vergleichskriterien, wenngleich jedes auf seine spezifische Weise. Sowohl die Strukturgleichungsmodelle als auch die Dispositivanalyse haben als gemeinsame Perspektive das Ziel, komplexe Zusammenhänge zu beschreiben, diese zu verstehen und zu erklären sowie in ihren Abhängigkeiten bzw. Effekten aufzuzeigen. Beide Verfahren sind empirisch ausgerichtet: einmal rein quantitativ (Strukturgleichungsmodelle) zum anderen, wenngleich nicht ausschließlich, qualitativ (Dispositivanalyse). Beide Verfahren verfügen über umfassende Beschreibungen zu ihrem methodischen Ablauf.
3.
Die Inhalte des Vergleichs
Es handelt sich, wie bereits erwähnt, bei dieser Methoden-Komparatistik nicht um eine detaillierte, vergleichende Auflistung einzelner methodischer oder statistischer Details, auch nicht um die Wiedergabe differenzierter, weiterer methodischer Vorgaben (Voraussetzungsbedingungen etc.), sondern um eine Gegenüberstellung jener methodologischen Schritte, die schließlich ausschlaggebend für die Interpretation der Daten und für die jeweils spezifische Konstruktion der sozialen Wirklichkeit sind. Mit und über die Identifizierung solcher Differenzen in der methodischen Vorgehensweise soll es insgesamt möglich werden, die Unterschiede in den Wirklichkeitskonstruktionen besser
7
Mittlerweile sind zahlreiche Dispositiv-Studien publiziert: Geschlechterdispositiv, Todes-Sterbedispositiv, Mediendispositiv, Profilierungsdispositiv, Kinodispositiv, Jugenddispositiv. Als empirische Reflexionsbasis für den Vergleich wurden u.a. folgende Studien herangezogen. Für SGM: Agenda-Setting Österreich (Grimm u.a. 2017), Kulturelle Identität und EU-Wahlen (Bachleitner/Aschauer 2012); und für DSP: Mediennetzwerke (Steinmaurer 2015), Medialität des Profilierungsdispositiv (Weich 2017) sowie das Geschlechterdispositiv (z.B. Bührmann 1998).
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abschätzen und verstehen zu können, um sich letztlich für eine als geeignet erachtete Methode zur Vernissagenanalyse zu entscheiden. Während nun die Strukturgleichungsmodelle ein enges Korsett von Voraussetzungsbedingungen und eine festgelegte Abfolge der methodischen bzw. statistischen Schritte aufweisen (vgl. etwa Reinecke 2005)8 , ist dies bei Dispositivanalysen in dieser engen Form nicht vorgegeben und auch nicht vorgesehen. Vielmehr wird in den konzeptuellen Überlegungen zur Dispositivanalyse immer eine methodische Offenheit signalisiert, die sich gegen Standardisierung, Normierung und strenge Methodisierung ausspricht (vgl. Bührmann/Schneider 2012). Diese Differenzen ergeben sich u.a. daraus, dass die gewählten Verfahren aus unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Schulen stammen. Einmal ist es die »erklärende Soziologie«, die die Strukturgleichungsmodelle (= SEM)9 zur differenzierten Analyse kausaler Wirkungszusammenhänge einsetzt; zum anderen ist es der Poststrukturalismus, der sich auf Foucaults »Archäologie des Wissens«, aus welchem das Dispositivkonzept (= DSP) hervorgegangen ist, zentriert. Dennoch verbindet beide Verfahren die gleiche angestrebte Zielperspektive: komplexe politische, gesellschaftliche oder sozialpsychologische Zusammenhänge aus einer sozialen Realität zu erklären, zu verstehen oder mitunter auch nur deskriptiv in ihren vielfältigen Verbindungslinien und Wirkmechanismen darzustellen. Der Vergleich ist auf folgende vier Ebenen zentriert, wobei innerhalb dieser Ebenen jeweils nur einige ausgewählte Aspekte thematisiert wurden:
8
9
Im Konkreten sind dies bei SEM: Hypothesenbildung, Pfaddiagramm und Modellspezifikation, Identifizierbarkeit der Modellstruktur, Parameterschätzung, Beurteilung der Schätzergebnisse, Modifikation der Modellstruktur. (Siehe für einen aktuellen Überblick zu den Verfahrensschritten Weiber/Mühlhaus 2014 oder Urban/Mayerl 2014.) Diese werden in weiterer Folge mit SEM (Structural Equation Modelling) abgekürzt, weil dies die gängige Kurzbezeichnung ist.
Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen & Dispositivanalyse
A:
Die Relationen von (sozialer) Wirklichkeit und der verwendeten Methode
Hier geht es darum, jene Annahmen und Vorstellungen von sozialer Wirklichkeit zu erkennen und auch zu benennen, die für die Wahl der Methode entscheidend sein können. Es steht im Vordergrund, ob die Vorstellungen von Realität, die mit der Methode erfassbar sein sollen – wobei dies überraschender Weise ein oftmals wenig thematisierter und daher ein unbewusster, verknüpfter Vorgang ist – auch mit jenen Vorstellungen, die für den Problemzugang bzw. die Fragestellung relevant sind, korrespondieren. Die Passung von Realitätsauffassung, Problemerfassung und gewählter Methode sollte eines der zentralen Anliegen am Beginn (jeder) empirischen Forschung sein.
B:
Die Relation von Theorie (Theoriefragmente) und Methode
Innerhalb dieser Relation sind grundsätzlich zwei Denkvarianten möglich: Einmal hat die gewählte Methode Einfluss auf die (vorläufige) Bestätigung der Theorie; zum anderen fordert und gestaltet jede Theorie ihre spezifische Methode, um die verschiedenen Differenzierungen innerhalb einer Theorie prüfen zu können. Ein ungeeigneter methodischer Zugang kann daher die Theorieentwicklung bzw. Ansätze für eine solche schmälern bzw. verhindern.
C:
Die Relation von Erklärungen und Methode
Die Erklärung und Klärung von Ergebnissen im Sinne einer Begründung bzw. Abklärung, warum etwas so ist, wie es ist, kann unterschiedlich vollzogen werden. Die erklärende und analytische Soziologie, die in SEM zur Anwendung kommt, verdeutlicht ein völlig anderes epistemologisches Verständnis von Forschung als dies in der Dispositivanalyse der Fall ist. Bei der ersten Variante sind es kausal-analytische Erklärungsmodelle, bei der anderen Methode stehen Klärungen über Plausibilitätsannahmen und Plausibilitätsketten sowie Analogiebildungen im Vordergrund.
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D:
Die Relation von Forschenden und Methode
Die heute entwickelten, wissenschaftstheoretischen Konzepte nehmen nur selten Bezug auf die Forschenden und auf deren Rolle im Forschungsprozess. Es findet vielmehr eine Ausblendung der forschenden Akteure statt. Nun kommt gerade in den Ausdifferenzierungen des qualitativen Methodenrepertoires und der Betonung des SubjektObjektverhältnisses den Forschenden verstärkt eine Rolle im Sinne einer Umsetzungskompetenz und Selbstreflexion zu, und die Forderung nach der Transparenz und. Kompetenz sowie generell nach Umsicht im Forschungsablauf wird eingefordert. Trivial ist, dass es zur Bevorzugung oder Ablehnung eines Methodenrepertoires kommen kann, wenn die Methode nicht den eigenen Kompetenzen entspricht. Dies liefert Hinweise, dass nicht ausschließlich das Thema die Methode bestimmt, sondern die Methodenkompetenz des Forschenden die Analyse (mit-)bestimmt.
Ad A:
Wirklichkeitskonstruktionen und Methode: Forschungsfrage, Hypothesengenerierung und Ursachenfindung
Die unterschiedlichen Vorgehensweisen, die zu einer Fragestellung und der daraus folgenden Hypothesenerstellung einschließlich der möglichen Ursachenidentifikation führen, fallen in den beiden Verfahren unterschiedlich aus. Generell ist davon auszugehen, dass die aus der Problemstellung entwickelten Hypothesen oder formulierten Annahmen die soziale Realität bereits strukturieren. Somit wird indirekt sichtbar, wie Forschende die Realität konstituieren bzw. es sind Rückschlüsse möglich, wie die Beschaffenheit der Wirklichkeit angenommen wird (trotz der klassischen Null-Hypothese). Konkrete Angaben, welche impliziten oder expliziten Vorstellungen von (sozialer) Wirklichkeit hinter den methodischen Verfahren stehen, finden sich (meist) nicht. Die sogenannten »Übersetzungsverhältnisse« von Begrifflichkeiten aus der Wirklichkeit in die gewählten terminologischen Feinheiten der empirischen Methode sind meist schwer nachvollziehbar.
Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen & Dispositivanalyse
SEM: Die Fragestellung von SEM konzipierten Projekten orientiert sich eng an einem bestehenden Theoriekern und den damit verbundenen Kausalitätsketten. Sie ist an diese gebunden und versucht theoretische Zugänge so vollständig wie möglich empirisch abzubilden. Die Formulierungen der Hypothesen sind theoriebasiert und meist als »Wenndann-Beziehung« formuliert. Das bringt eine (notwendige) selektive Fixierung mit sich, welche Aspekte von Wirklichkeit analysiert werden. Die Konzepte müssen messbar und quantitativ abbildbar sein. Dadurch erfolgt auch eine frühe Festlegung über welche Variablen (manifest und somit eher einfach gehalten vs. latent und somit nur komplex über mehrere Indikatoren messbar) diese Wirklichkeiten erfasst werden. Diese Festlegungen bestimmen vorab bereits die gewählten Wirklichkeitsausschnitte und ihre möglichen Variablenrelationen mit. Von Vorteil ist hierbei, dass sowohl indirekte als auch direkte Effekte postuliert werden können, womit die intervenierenden Variablen in komplexen Kausalketten entsprechend bestimmt werden können. Die Suchkriterien dieser Relationen und Ursachenidentifikationen orientieren sich also eng am »Kausalitätsdenken«: Da alle zu interessierenden Merkmale messbar gemacht werden müssen, treten weiter gefasste Zeit- und Raum-Horizonte schon aufgrund von reduzierten Möglichkeiten der Datenerfassung eher in den Hintergrund. Die Analyse bleibt trotz der Möglichkeit von Modellanpassungen an die vorab getroffene Auswahl der Variablen gebunden. Die »Kausalitätsannahme« als dominante Erklärungsstrategie ist in den Strukturgleichungsmodellen fest verankert, wenngleich nicht unumstritten. Kausale Erklärungen bauen auf Gesetzmäßigkeiten auf, die im »Sozialen« letztlich nicht existieren. Maurer/Schmid gehen jedoch von »Gesetzen individuellen Handelns« auf der Mikroebene aus und unterstützen die Analyse kausaler Mechanismen, während sie auf Makroebene nur von einer »Wirkmächtigkeit« der Strukturen ausgehen (vgl. dazu umfassend Mauer/Schmid 2010, z.B. S. 52f, auch Schimank/Gresshoff 2005). Demnach gilt: »…gültige Erklärungen liegen nur dann vor, wenn wir auf Handlungsgesetze zurückgreifen und zudem zeigen können, wie man dem Zusammenhang zwischen der in-
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dividuellen Handlung und der Wirkmächtigkeit struktureller Faktoren gerecht werden kann« (Maurer/Schmid 2010, 53). Für die noch komplexere Methode der Mehrebenen-Strukturgleichungsmodellierung (siehe Meulemann 2019 für einen Überblick) gibt es zudem ein Modell der mehrstufigen Erklärung, das auf Coleman zurückgeht und meist als die »Colemansche Badewanne« beschrieben wird. Seiner Überzeugung nach ist eine Erklärung struktureller Entwicklungen unter Einbezug der tieferen Ebene der individuellen Einstellungen und Handlungen stets stabiler und allgemeiner als Erklärungen, die sich auf die Makroebene beschränken (vgl. Coleman 2001, 4). Der Ansatz überwindet quasi die Grundunterscheidung eines methodologischen Holismus (der eigenständigen Entität kollektiver Phänomene) von einem methodologischen Individualismus, der sämtliche soziale Phänomene über individuelles Handeln erklärt. Kollektive Phänomene werden zum zentralen Erklärungsgegenstand erhoben und über Brücken- und Transformationshypothesen mit individuellen Phänomenen verknüpft (vgl. Greve/Schnabel/Schützeichel 2008, 7f). DSP: Im Dispositiv erfolgt die Festlegung, was konkret in eine Frageperspektive eingeht, oftmals aus beobachteten sozialen Defizitlagen oder gesellschaftlichen Notwendigkeiten (»Notsituationen«), aus denen dann die Dringlichkeit für Analysen abgeleitet werden. Die Suche nach den Einflussgrößen (»Sichtbarkeiten«), die damit in Zusammenhang gebracht werden könnten, erfolgt vor dem historischen Hintergrund möglicher »Machtstrategien« und geltender Wissensordnungen. Dabei wird eine heterogene Ansammlung von Einflussfaktoren entworfen, deren Verknüpfung über Plausibilität erfolgt. Eine Festlegung im Sinne von Ursache- und Wirkungsrelationen erfolgt nur »verdeckt«, da soziale Phänomene als nicht intendierte Folgen gesellschaftlicher Vorgänge eingestuft werden. Damit verbunden ist eine breite Suche nach Einflussgründen in verschiedenen Sphären, die ständig erweitert werden können. Macht als »Ursache« für Folgen ist dabei ein dominantes Anliegen für die Analysen. Komplexe Formatierungen von Machtprozessen wie Machtmaterialität, Machtproduktion, Machtstrategie sowie verschiedene Machtdimensionen stehen im Vordergrund der Analysen
Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen & Dispositivanalyse
(vgl. dazu umfassend Gnosa 2018, 87-156). Hinter der Macht stehen spezifische Annahmen (Unterdrückung, Sanktionierung, Gewalt etc.), die eine vermutete Relevanz für die gestellte, dispositive Frageperspektive besitzen (z.B. das Tun als Solches oder auch Hervorgebrachtes, Gegenständliches/Sichtbares und das dabei innewohnende Wissen). Im Analyseraum von Machtstrategien (Kräfteverhältnisse) können zahlreiche Akteure oder Institutionen beteiligt sein. Diese generelle strategische Offenheit in der Vorgangsweise erfordert nun theoretische wie empirische Fantasie und Kreativität der Dispositivforschenden ein. Diese gilt als eine wesentliche Voraussetzung zur Bearbeitung entsprechender Fragestellungen (vgl. Keller u.a. 2005, 261). Eine strikt methodische Vorgehensweise im Analyseprozess hat – im Gengensatz zu SEM – keine Priorität. Das bedeutet aber nicht nur, dass eine kreative Selektion und Kombination verschiedenster Methoden eingefordert wird, sondern auch das Eingeständnis, dass Dispositive niemals als abgeschlossen gelten können, also keine kompletten oder vollständigen »Wirklichkeiten« liefern (vgl. dazu Schneider/Hirseland 2005, 270). Zudem stehen auch die Folgen und Folgeprobleme von Phänomenen im Forschungsinteresse, und diese können ständig ausufern, sodass die Vollständigkeit einer Dispositivanalyse immer relativ ausfällt. Zur Analyse der vermuteten Zusammenhänge bzw. Verbindungen werden einmal Diskursanalysen (Spezialdiskurse, Interdiskurse, Alltagsdiskurse, Wissenschaftsdiskurse) eingesetzt; zum anderen erfolgt die Auslotung der Verknüpfungen mit Verfahren aus dem empirischen Methodenspektrum, um Auffälligkeiten aus den nichtdiskursiven Praktiken, also den vollzogenen Tätigkeiten zu identifizieren. Argumentative Plausibilität ist hier die einzig notwendige, methodische Grundlage für Erklärungen. Die Verbalisierung der Wirklichkeit benötigt Sensibilität in der Wortwahl und Umsicht in der Bedeutungszuschreibung. Das bedeutet zusammenfassend für unsere Frage nach der methodischen Relation und Konstruktion von Wirklichkeiten in den beiden Verfahren, dass die Annäherung an diese sozialen Ereignisse und Phänomene in einem ersten Schritt zwar grundsätzlich auf
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»Ursache-Wirkungsmechanismen« zurückgreift, die Inhalte dieser Mechanismen und ihre Ausprägungen jedoch höchst selektiv festgelegt und unterschiedlich geprüft werden: Es ist dies vorrangig »Kausalität« in Bezug auf die gewählten Variablenrelationen in SEM. In der Dispositivanalyse sind die (ursächlichen) Machteinwirkungen und Machtstrategien verbunden mit jeweiligen Folgen und Folgewirkungen zentral.10 Aus beiden Vorgehensweisen resultieren Unterschiede im jeweiligen Forschungsdesign, die somit Einfluss auf soziale Wirklichkeitskonstruktionen haben. In verkürzter und generalisierender Form lässt sich festhalten: Einer quantitativ erfassten und theoriebasierten, kausal strukturierten Realität steht eine eher qualitativ erfasste, auf Macht und Ungleichheit basierende Deutung eines Phänomens gegenüber.
Ad B:
Theorie und Methodenbezüge: Datenqualität und Auswertungsverfahren
Basis und zentrales Fundament sowohl für die Theorieentwicklung als auch die Theorieprüfung ist die Qualität der verwendeten Daten einschließlich der passenden Auswertungsstrategien. Die gewählte Methodologie, und insbesondere die eingesetzte Methode, welche die Daten liefert, gilt als ein Garant für die Korrektheit einer Theorietestung (im Bereich SEM) bzw. einer Theoriebildung (im Bereich Dispositivanalyse). Die Theorienvielfalt, die in der Soziologie vorherrscht, zeigt, dass jede Theorie ihre spezifische bevorzugte Methode aufweisen kann bzw. ihr auch eine Methode zugeordnet wird (vgl. Fischer/Moebius 2019). Wenn nun empirische Methoden unübersehbare Effekte auf Wirklichkeitskonstruktionen ausüben können, also die Wirklichkeiten mitgestalten, ist von einem Einfluss auf das Ergebnis bei empirischen Theorieprüfungen auszugehen. Eine »Theorie der Vernissage« – sofern sie
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Die Dominanz für die Selektivität von Machtursachen, Machtwirkungen, Machtstrategien sind bereits in der Definition von Agamben (2008, 24) erkennbar, der auf die Frage, was denn ein Dispositiv ist, argumentiert: »Die Gemeinsamkeiten all dieser Termini (Dispositivbegriffe, d. Verfasser) besteht darin, auf ein oikonomia zu verweisen.
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überhaupt als Thema aufgegriffen wird – existiert u.W.n. nicht; vielmehr setzt sie sich aus zahlreichen Theoriefragmenten zusammen oder bezieht verschiedene kultursoziologische Theorieansätze in ihre Erklärungen mit ein. Nun existieren zahlreiche Möglichkeiten, Theorien zu evaluieren, wie sie etwa Opp (1995) anbietet: Konfrontierung mit alternativen Theorien, Suche nach inneren Widersprüchen (logische Kritik), Konfrontation mit Fakten (faktische Kritik), Prüfung in unterschiedlichen empirischen Konstellationen. Und Schurz, der u.a. die Bewährung und Schwächung von Theoriekernen herausarbeitet, konstatiert, dass zumindest aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive eine umfassende Theorieprüfung höchst selten erfolgt (Schurz 2006, 199-208). Überraschend in diesen Auflistungen ist u.a. das Fehlen eines Hinweises auf die mögliche Methodenabhängigkeit solcher Prüfvorgänge. Insgesamt meinen wir im Kontext unserer Fragestellung: Eine Theorie sollte über verschiedene methodische Vorgehensweisen getestet werden. Dennoch erweisen sich Methoden nicht zwingend als Garant, um Theorien vorläufig zu bestätigen (= »hinlänglich bewährt«) oder widerlegen zu können, wie das folgende in der Fußnote angeführte Beispiel zeigt.11 11
Ruck et al. (2018) bauen in einer höchst aufwendigen und umfassenden, empirischen Studie einleitend einen Gegensatz zwischen Durkheim und Webers »Wirtschafts-Theorie« auf, um dann Max Webers »Protestantismus-These« mit den heute möglichen statistisch Verfahren (multilevel time-lagged linear regression) und globalen Datensätzen zu prüfen. D.h. sie setzen deutliche methodische Akzente in der Theoriebewertung und führen auch weitere Kontrollvariable in das Analysedesign wie Bildung und Kultur ein. Die Ergebnisse zeigen – und zwar erwartungsgemäß –, dass Säkularisierungsprozesse dem ökonomischen Wandel in fast allen Kulturkreisen vorausgehen, da Säkularisierungsprozesse dominant geworden sind, wenngleich sie eine kausale Interpretation dieser Korrelation ablehnen (wie die Schlussfolgerung: verschwindet der Glaube, so folgt der ökonomischer Aufstieg). Nun verwundert dieses Resultat nicht, denn Max Weber hat die »Protestantismus-These«, die besser als »Puritanismus-These und der Geist des modernen Kapitalismus« hätte bezeichnet werden sollen, so nicht behauptet. Dieser Theorieansatz stellt lediglich einen Teilaspekt in der Aufsatzsammlung zur
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SEM: Strukturgleichungsmodelle verwenden für ihre Analysen bevorzugt Daten, die aus standardisierten Umfragen stammen. Diese können auf lokaler, regionaler, nationaler wie internationaler Ebene vorliegen, teils werden auch globale Erhebungsprogramme (wie das International Social Survey Program, ISSP oder der World Value Survey, WVS) verwendet. Die Datenqualität fällt in den einzelnen Erhebungs-Programmen unterschiedlich aus und unterliegt zahlreichen Einflussfaktoren, die u.a. zu Verzerrungsaspekten oder sogar zu Unvergleichbarkeit führen können (vgl. u.a. Pfau-Effinger u.a.
»Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus« dar und muss in seinem Gesamtwerk beurteilt werden, um dem sogenannten Systemcharakter von Theorien zu entsprechen. D.h. gut 100 Jahre später wird aufgrund der heute verfügbaren Datensätze global getestet. Die Säkularisierung hat zwischenzeitlich fast alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst, und erweist sich als stabiler Mechanismus des Wandels. Und zweitens weisen feinfühlige Interpreten (vgl. insgesamt und detailreich Lichtblau 2012, 34f) darauf hin und betonen immer wieder zu Recht, dass die Bedeutung des »asketischen Rationalismus« nur als ein kausaler Faktor unter vielen gelten sollte. Eine in einem historischen Zeitabschnitt entstandene spezifische regionale Strömung im Protestantismus wirkt nicht global. So reizvoll also derartige Prüfungen auf Grund von globalen Datensätzen und der Entwicklung neuer statistischer Methoden geworden sind, so problematisch sind sie auch. Dies insofern als etwas geprüft wird, was in der theoretischen Ursprungsfassung nicht formuliert war, und zum anderen eine zeit- und raumbezogene Bedeutungsspezifikation vernachlässigt wird. Wenn also Raum- und Zeitparameter in der Prüfung von Theorien unscharf behandelt oder gar vernachlässigt werden – was zwar der Universalität von Theorien dienlich wäre – ergeben sich Probleme. Auch aus rein methodischer Perspektive ergeben sich bei der Erfassung des Begriffs »Religiosität« in den unterschiedlichen Kulturen und Kontinenten Schwierigkeiten einer Vergleichbarkeit. Die in den Berechnungen einbezogenen ökonomischen Parameter wurden bearbeitet und entsprechend vergleichbar gemacht. D.h. Ruck et al. prüfen einen Teilansatz einer »Theorie«, der so nicht formuliert wurde und nur unter spezifischen Bedingungen und Vorzeichen (Zeit und Regionen) als Entwurf von Weber entwickelt wurde. Der Mechanismus der Säkularisierung hat universalistische Wirkungen, und historisierende Annahmen werden verdrängt.
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2009; Höllinger u.a. 2015; Kettner/Stops 2009, Bachleitner/Weichbold/Aschauer/Pausch 2014). Dieser unterschiedlichen Datenqualität dürfte man sich in der Datenverwendung nicht immer bewusst sein. Datensätze, die eine vergleichende Analyse oder auch interkulturelle Studien zu Vernissagen ermöglichen würden, sind uns nicht bekannt. DSP: Die hier verwendeten Daten können aus diskursiven und nicht diskursiven Quellen stammen sowie durch Daten aus dem klassischen, empirischen Methodenrepertoire ergänzt werden. Festgelegte Kriterien für die Prüfung der eingesetzten Daten aus den verschiedenen Diskursen, Befragungen, Beobachtungen Textanalysen werden bei Bührmann/Schneider weder angeführt noch thematisiert. Bevorzugt wird jedoch mit qualitativ erhobenen Daten gearbeitet. Diese knappen Hinweise zur Datenqualität verdeutlichen die verschiedenen Qualitätsstandards und deren mögliche unterschiedliche Inhaltsnähe, die sich für die Datenanalyse und ihre Zugänge zu Wirklichkeitskonstruktionen ergeben können: Nicht immer werden Umfragedaten direkt in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand gewonnen, denn oftmals werden auch Sekundäranalysen auf Basis der nicht spezifisch für die Fragestellung erhobenen Umfrageprogramme (oftmals Mehrthemenumfragen) durchgeführt. Dem gegenüber stehen in der Dispositivanalyse zumeist Daten aus verschiedenen Quellen zur Verfügung, die zumindest eine Nähe zur jeweiligen Problemstellung aufweisen. Aus dieser Daten-Pluralität wird dann das Bild einer Realität erzeugt, wobei durchaus unterschiedliche Realitätsausschnitte in den Focus geraten können. Schließlich ist noch hervorzuheben, dass in den beiden Verfahren verschiedene Transformationsprozesse der Daten vorliegen, wobei zwischen Erfassungs- und Auswertungstransformation differenziert werden kann.12 12
Die Daten innerhalb von SGM erfahren eine mehrfache Transformation: Auf einen verbalen Stimulus (Item) erfolgt meist eine numerische Reaktion (Antwortvergabe über Ziffernwerte), welche dann in Mittelwerte transformiert werden, die ihrerseits dann in Reggressionsmodellen oder Faktorenanalysen Eingang finden und schließlich als Koeffizienten verbal interpretiert werden. Im DSP erfolgt die Transformation meist innerhalb der gleichen medialen Ebe-
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Wie angesprochen repräsentieren die im Rahmen der beiden Verfahren gewonnenen bzw. eingesetzten Datenmaterialien oftmals verschiedene Wirklichkeitsausschnitte und besitzen daher einen unterschiedlichen Informationsgehalt für die interpretativen Wirklichkeitskonstruktionen. Diese Differenz wird durch die ebenfalls unterschiedlichen Auswertungsstrategien noch verstärkt, da verschiedene Transformationen der Daten erfolgen. Aufgrund der Vielfalt eingesetzter Methoden – vor allem im DSP – ist hier ein Vergleich schwer möglich. Doch es zeigt sich auch bei standardisierten Umfragen, wie unterschiedlich die Ansprüche und Anforderungen an die Qualität von (Umfrage-)Daten ausfallen können (vgl. dazu u.a. Weichbold 2009). SEM: Die Datenauswertung erfolgt in der Regel exakt theorieorientiert, die Daten werden nach den theoretischen Gesichtspunkten empirisch nachgebildet. Mit dieser Nachbildung über die Strukturgleichungsmodellierung sind jedoch erhöhte Anforderungen an die Daten gegeben. Diese müssen beispielsweise metrisches Skalenniveau aufweisen, und es sollte eine multivariate Normalverteilung der Daten vorliegen, um robuste Modellkoeffizienten schätzen zu können. Dabei kann man sich unterschiedlicher Strategien bedienen. Die Modellerstellung kann aufgrund theoriebasierter Annahmen erfolgen. In der Regel werden die Hypothesen über Pfaddiagramme nachgebildet und auf ihre Passfähigkeit mit der empirischen Realität geprüft. Im Anschluss führt das Ergebnis zur Stärkung bzw. Schwächung des theoretischen Ansatzes. Zusätzlich lassen sich auch mehrere Modelle mit den Daten berechnen, wobei nach etablierten Gütekriterien (siehe unten) möglichst valide Modelle ausgewählt werden. Im Falle eines schlechten Fit kann das Modell auch weiter angepasst und verfeinert werden.
ne: von der gesprochenen oder geschriebenen Aussage und Äußerungen zur Verschriftlichung einer Wirklichkeitsdarstellung. Mit jedem Transformationsakt erhöht sich die Gefahr einer möglichen methodischen Artefaktbildung, wie dies auch bei häufiger Anwendung von statistischen Tests auf Effekte bei kleinen Stichproben vorkommt (z.B. »polygenic score«).
Methodenvergleich von Strukturgleichungsmodellen & Dispositivanalyse
In der Auswertung befindet sich der Forscher folglich immer im Widerstreit zwischen einer möglichst exakten Theorieprüfung und den empirisch vorliegenden Daten. Im Laufe der Entwicklung der Methode wurden eine Reihe von Fit-Maßen entwickelt, die in weiterer Folge kurz erläutert werden sollen. Ursprünglich waren chi²basierte Maße, (ursprünglich Cochran, 1952) am weitesten verbreitet, wobei hier geprüft wird, ob die im Modell geschätzten Kovarianzen signifikant von den empirisch beobachteten Werten abweichen. Eine hohe Modellgüte drückt sich also durch eine fehlende Signifikanz aus, jedoch ist der chi²-Test abhängig von der Komplexität des Modells und von der Größe der Stichprobe. Urban & Mayerl (2014) empfehlen, parallel zur chi²-Statistik mindestens zwei verschiedene, breit genutzte Fit-Maße zu berechnen, die sich in der Berechnungsmethode unterscheiden (vgl. Urban/Mayerl 2014, 93). Um die vielfältigen Probleme der chi²-Statistik zu umgehen, wird häufig auf das breit genutzte Maß des Root-Mean-Square-Error of Approximation (RMSEA) (Steiger 1990) zurückgegriffen. Der RMSEAIndex berücksichtigt in der Berechnung sowohl die Modellkomplexität (mittels der Freiheitsgrade) als auch die Stichprobengröße (vgl. Urban/Mayerl 2014, 96). Zudem sind die einzelnen Schwellenwerte relativ klar festgelegt, wobei Werte