Medienerfahrung und Religion: Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion 9783666623974, 9783525623978


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Medienerfahrung und Religion: Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion
 9783666623974, 9783525623978

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften PASTORALTHEOLOGIE und WEGE ZUM MENSCHEN und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

Band 51

Vandenhoeck & Ruprecht

Jörg Herrmann

Medienerfahrung und Religion Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-62397-8

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

Die hier vorgelegte Arbeit geht auf meine Habilitationsschrift zurück, die im Sommersemester 2005 von der Theologischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin angenommen wurde. Die Untersuchung entstand während meiner Zeit als Mitarbeiter am dortigen Institut für Religionssoziologie des Seminars für Praktische Theologie. Der Text wurde für die Publikation gekürzt und an einigen Stellen leicht überarbeitet. Die Fragestellung der Studie ergab sich aus der Arbeit an meiner Dissertationsschrift, in der ich mich aus werkhermeneutischer Perspektive mit den religiösen Dimensionen des populären Films auseinander gesetzt hatte. Offen geblieben war die Frage nach der Rezipientenperspektive, danach also, welche Bedeutung die religiösen Dimensionen des Films und der Medien für die gelebte Religion der Zeitgenossen haben, wie die Medienreligion der Medienprodukte den Glauben und das Denken des Einzelnen prägt. Diesen Fragen bin ich in der vorliegenden Arbeit in biographischer Perspektive und im Blick auf die Einzelmedien Film, Fernsehen und Literatur mit Hilfe von Methoden der empirisch-qualitativen Religionsforschung nachgegangen. Damit habe ich ein Terrain betreten, das im Überschneidungsfeld von Medienkulturwissenschaft, Religionstheorie und -soziologie, empirischer Sozialforschung und Praktischer Theologie angesiedelt ist und darum einen multiperspektivischen und interdisziplinären Zugang erfordert. Der Forschungsprozess erwies sich als spannend, aber auch als aufwendig und anspruchsvoll. Umso wichtiger waren die Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen Disziplinen. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet, an erster Stelle Prof. Dr. Wilhelm Gräb, der meine Arbeit mit klugem Rat begleitet hat und den Text auch als erster begutachtet hat – für die weiteren Gutachten gilt mein Dank den Professoren Dr. Rolf Schieder und Dr. Michael Meyer-Blanck. Für viele hilfreiche Gespräche danke ich Prof. Dr. Birgit Weyel, Dr. h.c. Andreas Mertin, Prof. Dr. Jens Eder, Dr. Jörg Metelmann, Dr. Martin Kumlehn, Kristin Merle, Dr. Thomas Wabel, Dr. Günter Mey, PD Dr. Gerald Kretschmar, Dr. Astrid Dinter, Prof. Dr. Dieter Mersch, Dr. Elizabeth Prommer und Prof. Dr. Lothar Mikos. Ohne Interviewpartner gibt es keine empirisch-qualitative Forschung. Ein ganz grundlegender Dank richtet sich darum an die Frauen und Männer, die bereit waren, sich von mir im Rahmen dieser Studie befragen zu lassen und dabei auch mit großer Offenheit über existentielle Fragen und Themen zu sprechen. 5

Prof. Dr. Anne Steinmeier danke ich dafür, dass sie sich für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie“ eingesetzt hat. Für freundliche und tatkräftige Unterstützung bei der Publikation danke ich dem Lektor Jörg Persch, der Redakteurin Tina Bruns und Rudolf Stöbener in der Herstellung. Ich wäre im Meer der Zeichen untergegangen und niemals rechtzeitig fertig geworden, wenn mir nicht Jurriaan Anijs bei der Vorbereitung der Datei für den Druck geholfen hätte. Ihm gebührt ebenso großer Dank, wie auch Thomas Barth, der mich bei der Korrektur des Textes unterstützt hat. Für die Zuschüsse zum Druck bin ich der Nordelbischen EvangelischLutherischen Kirche, der Deutschen Bischofskonferenz, dem Arbeitsbereich Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste der EvangelischLutherischen Landeskirche Hannover und der Professor-Bernhard-KlausStiftung zu Dank verpflichtet. Schließlich und nicht zuletzt danke ich meiner Frau Dr. Susanne Weigel für ihre große Geduld und ihre beständige Unterstützung. Ebenso danke ich meiner Mutter, die mich früh zum Selberdenken ermutigt hat. Meine Tochter Rebekka wird später verstehen, warum ich eine Zeit lang immer Bücher mit in den Ferien hatte und weniger mit ihr zusammen Muscheln suchen konnte als sie es sich gewünscht hat. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Hamburg, im März 2007

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Jörg Herrmann

Inhalt

Einleitung ...............................................................................................

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I. Theoretische Voraussetzungen ........................................................

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1. Der kulturtheoretische Rahmen .................................................

17

1.1 Der cultural turn in Kulturtheorie, Praktischer Theologie und Medientheorie ...................

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1.2 Der Aufbau der Studie ..................................................

23

2. Religionskultur ...........................................................................

24

2.1 Religionskultureller Wandel ........................................ 2.1.1 Die Krise der kirchlichen Religionskultur ............... 2.1.2 Die Renaissance des Religiösen ............................... 2.1.3 Die Individualisierung und Privatisierung des Religiösen .......................................................... 2.1.4 Die Transformation und Dispersion des Religiösen .................................................................

24 28 30 32 34

2.2 Religionstheorie ............................................................ 2.2.1 Religionssoziologische Konzepte: Transzendenz, Kontingenz, Diskursivität ................ 2.2.2 Theologische Konzepte: Gelebte Religion als Fokus des religionstheologischen Diskurses ...... 2.2.3 Die religionstheologische Orientierung der Studie .................................................................

36

2.3 Religion und Lebenslauf ..............................................

57

2.4 Religion, Identität, Individualität ................................. 2.4.1 Identität, Individualität, Selbstproduktion ............... 2.4.2 Theologische Deutungen des Identitätsbegriffs ....... 2.4.3 Religiöse Identitätsbildung und individuelle Religiosität ...........................................

61 62 71

38 45 54

73

7

2.5 Religion und Medien .................................................... 2.5.1 Die Medialisierung von Religion ............................. 2.5.2 Medienreligion .........................................................

75 75 79

2.6 Empirische Religionsforschung ...................................

93

3. Medienkultur ..............................................................................

98

3.1 Medienkultureller Wandel ............................................

98

3.2 Der Medienbegriff ........................................................ 103 3.3 Medien und Lebenslauf ................................................ 105 3.4 Medien und Identität .................................................... 109 3.5 Medienrezeptionsforschung ......................................... 111 3.6 Einzelmedien ................................................................ 3.6.1 Das Buch .................................................................. 3.6.2 Der Kinofilm ............................................................ 3.6.3 Das Fernsehen .......................................................... 3.6.4 Resümee ...................................................................

119 119 129 141 154

II. Empirische Analysen ....................................................................... 157 1. Methodik .................................................................................... 157 1.1 Die Konzeption der Interviews .................................... 160 1.2 Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner .................................................................. 164 1.3 Die Durchführung ......................................................... 168 1.4 Die Auswertung ............................................................ 169 2. Analyse und Interpretation des Interviewmaterials ................... 173 2.1 Einzelfallanalysen ........................................................ 2.1.1 Lebensbewältigung .................................................. 2.1.2 Lebenssteigerung ..................................................... 2.1.3 Lebensperspektivierung ........................................... 2.1.4 Lebensdarstellung ....................................................

175 176 198 229 250

2.2 Gesamtauswertung im Horizont der leitenden Theorieperspektiven ..................................... 265 8

2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7

Methodische Vorbemerkung .................................... Erfahrungen mit Büchern, Kinofilmen und dem Fernsehen .................................................. Medienbiographische Muster ................................... Medienpraktiken ...................................................... Das Konzept der Medienreligion in empirischer Perspektive ....................................... Dimensionen individueller Religiosität ................... Resümee ...................................................................

265 266 294 297 302 310 323

III. Praktisch-theologische Konsequenzen ............................................ 325 1. Konsequenzen für die Praktische Theologie ............................. 325 1.1 Für die Theorie der Religionspraxis ............................. 326 1.1.1 Ästhetische und religiöse Erfahrung ........................ 329 1.2 Für die Theorie der Kirche ........................................... 345 1.3 Für die Theorie des religiösen Berufs .......................... 350 1.4 Für die Theorie der Predigt .......................................... 354 1.5 Für die Theorie des Religionsunterrichtes ................... 360 1.6 Für die Theorie der Seelsorge ...................................... 365 2. Ausblick ..................................................................................... 371 2.1 Empirie ......................................................................... 371 2.2 Ästhetik ........................................................................ 372 2.3 Kulturhermeneutik ........................................................ 373 Literatur .................................................................................................. 373 Anhang ................................................................................................... 393 Kurzfragebogen ................................................................................ 393 Interviewleitfaden ............................................................................ 394 Personenregister ..................................................................................... 397

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Einleitung

Wir leben in einer Mediengesellschaft. Diese Feststellung gilt heute mehr denn je. Denn nie zuvor waren insbesondere die westlichen Gesellschaften in einem so starken Maße von Medien durchdrungen. Nie zuvor hatten Erfahrungen mit audiovisuellen und digitalen Medien darum auch eine solche Präsenz in den Lebenswelten der Subjekte wie heute. Die Summe der durchschnittlichen Mediennutzungsdauer der Bundesbürger lag im Jahr 2005 bei 600 Minuten am Tag, also bei zehn Stunden. Gegenüber 1980 (346 Minuten) hat die Mediennutzung noch einmal um etwa 75 Prozent zugenommen.1 Was bedeutet dies für Individuum, Religion, Kultur und Gesellschaft? Die Praktische Theologie hat sich in den letzten Jahren zunehmend mit der wachsenden Bedeutung der Medien und der mit ihnen verschwisterten populären Kultur auseinandergesetzt.2 Ihr Zugang war dabei in erster Linie kulturhermeneutisch orientiert. Medien und Medienprodukte wurden im Blick auf ihre religiösen Sinnstrukturen untersucht. Im Mittelpunkt standen zunächst der Film und das Fernsehen. In der fernsehbezogenen Diskussion hat sich dabei der Begriff der „Medienreligion“ herausgebildet, der heute in einem allgemeineren Sinn für die religiöse Valenz von Medien, Medieninhalten und Mediennutzung steht.3 Insgesamt hat der medienreligiöse Diskurs darauf aufmerksam gemacht, dass die modernen Medien Funktionen der kirchlichen Religionskultur übernommen haben und dass sie dabei sowohl Motive der religiösen Traditionen aufgreifen und verarbeiten als auch neue religiöse Sinnstrukturen entwerfen. Vor diesem Hintergrund hat Manfred Pirner von einer religiösen Mediensozialisation gesprochen und einen ersten Indizienbeweis ihrer Wirk1 Birgit von Eimeren/Christa-Maria Ridder, Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2005. Ergebnisse der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation, in: Media Perspektiven, 10/2005, 490–504, 500. 2 Vgl. Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002; Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh 2001; einen Überblick gibt: Manfred Pirner, Populäre Kultur und Religion. Ein Literaturbericht, in: Praktische Theologie 38, Heft 3, 207–216, 2003; vgl. auch das Heft der Evangelischen Theologie zur Medienthematik: Evangelische Theologie 63, Heft 6, 2003. 3 Vgl. Hans Norbert Janowski/Wolf Rüdiger Schmidt, Artikel „Medien“, in: TRE, Bd. 22, hg.v. Gerhard Müller u.a., Berlin/New York 1992, 324ff; Joachim Kunstmann ist zuzustimmen, wenn er die Vieldeutigkeit des Begriffes betont und ihn darum vor allem als einen „Suchbegriff“ verwenden möchte, vgl. Joachim Kunstmann, Medienreligion. Praktische Theologie vor neuen Aufgaben, in: Evangelische Theologie 63, Heft 6, 2003, 405–420, 409.

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samkeit mit einer quantitativ orientierten empirischen Studie beigebracht.4 Qualitativ wurde die These der medienreligiösen Valenz von Medientexten und Mediengebrauch bisher jedoch noch nicht gründlicher untersucht.5 Der im kulturhermeneutischen Feld entstandene Begriff der Medienreligion verlangt also nach einer religionsempirischen Fortsetzung und Überprüfung mit Methoden der qualitativen Medienrezeptionsforschung. Nur so ist es möglich, der Frage nachzugehen, ob und wie die expliziten und impliziten religiösen Sinnangebote der Medienkultur von ihren Rezipientinnen und Rezipienten aufgegriffen und verwendet werden. Wie schreibt sich ein Film wie Titanic in die Medien- und Religionsbiographie seiner Rezipienten ein? Was bedeutet die rituelle Fernsehnutzung für ihre Praktikanten? Wie tragen Lektüren zur Selbst- und Weltdeutung von Leserinnen und Lesern bei? Welche Bedeutung haben Medienerfahrungen als Ressourcen der Sinnorientierung? Dafür, dass Medien nicht nur in der religionstheologischen Expertenanalyse religiöses Potential entfalten können, sondern auch im Vollzug des gelebten Lebens wichtige Quellen der religiösen Sinn- und Wertorientierung darstellen, lassen sich viele Hinweise zusammentragen. Einige wenige Beobachtungen können die Relevanz der hier verfolgten Fragestellung andeuten.“ Ein Kollege berichtet von einer bemerkenswerten Konfirmandenstunde. Thema war die Offenbarung des Johannes. Es ging um das 21. Kapitel, um den Abschnitt also, der das neue Jerusalem beschreibt und in dem davon die Rede ist, dass Tod, Leid und Schmerz nicht mehr sein werden und dass „Gott abwischen wird alle Tränen von ihren Augen“ (Offb 21, 4). Die Konfirmandinnen und Konfirmanden waren bei der Sache wie schon lange nicht mehr. Der Kollege war zufrieden. Ganz ohne Griff in die pädagogische Trickkiste schien sich die ursprüngliche Faszinationskraft der biblischen Tradition zu erweisen. So sah es jedenfalls zunächst aus. Bis am Ende der Stunde ein Mädchen schüchtern die Frage stellte: „Der Text, den wir gelesen haben, ist das nicht derselbe Text, den der Pfarrer in Titanic liest, als das Schiff sinkt?“ Die Faszination für den biblischen Text, so zeigte sich, war der medialen und erlebnisintensiven Erstvermittlung durch den populären Film Titanic geschuldet. Die Episode weist darauf hin, dass die Vermittlung von Religion sich heute nicht mehr nur im Medium der Schrift und im Kontext von Familie, Schule und Kirchengemeinde vollzieht, sondern oftmals zunächst 4 Manfred Pirner, Religiöse Mediensozialisation? Empirische Studien zu Zusammenhängen zwischen Mediennutzung und Religiosität bei SchülerInnen und deren Wahrnehmung durch LehrerInnen, München 2004. 5 Eine erste auf die Computernutzung bezogene Studie hat Astrid Dinter vorgelegt, dies., Jugendliche am Computer – ein Beitrag zu einer lebensweltorientierten Religionspädagogik in seiner Bedeutung für die Diskussion um „religiöse Bildung“, in: Theo-Web 2/2003, 166–179.

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und vor allem durch audiovisuelle Medien in unterschiedlichen Kontexten stattfindet. Die Erfahrung zeigt weiterhin, dass der populäre Film Motive der jüdisch-christlichen Tradition aufgreift und verarbeitet. Und sie verweist nicht zuletzt auf die enge Wechselbeziehung zwischen der christlichen Religionskultur und der populären Medienkultur. Der Medieneinfluss ist nicht zu unterschätzen. Er reicht bis in die religiöse Praxis hinein. Als der Luxusdampfer Sun Vista im Mai 2000 mit 1104 Menschen an Bord vor der Westküste Malaysias sank, sangen die in die Rettungsboote fliehenden Passagiere die Titelmelodie von Titanic: My heart will go on.6 Sie sangen das Lied, um – wie sie später erklärten –, „ihre Ruhe zu bewahren“. Das ist bemerkenswert: statt eines Gebetes ein Song von Celine Dion. Das religionsbildende Potential der Medien ist dabei nicht vom Vorhandensein traditioneller Motive und Semantiken abhängig. Das zeigt ein Leserbrief, den der Verfasser anlässlich der Publikation einer Interpretation des Films American Beauty erhielt. „Wer war dieser unbekannte Sam Mendes“, heißt es in der Leserzuschrift, „dass er es vermochte, mich mit so starken religiösen Empfindungen zu überwältigen? Ich fühlte mich erleuchtet, als ich nach American Beauty den Kinosaal verließ. Ich stand später mit meiner American Beauty-Erkenntnis übrigens ziemlich alleine da. Die kinobegeisterten Mitschüler waren überzeugt, nichts weiter als eine ganz gut gelungene Satire gesehen zu haben.“ Es ist mit der Religion des Kinos wie mit der Kunst: Sie entsteht im Auge des Betrachters, im je subjektiven Vollzug der Aneignung eines Medienangebotes. Medienerfahrungen und religiöse Erfahrungen liegen ineinander. Das war natürlich in bestimmter Hinsicht immer schon so. Denn auch Stimme und Schrift sind Medien – im weiten Sinne von Medien als Trägern und Überträger von Mitteilungen. Man denke an die Bedeutung von Stimme, Traum und Schrift in den biblischen und kirchlichen Zeugnissen religiöser Selbstdeutung. Die Propheten hören die Stimme des Herrn, auch Paulus. Bei Augustinus ist es eine Kinderstimme, die ihn animiert, in der Bibel zu lesen, bis ihm eine „Gewissheit als ein Licht ins kummervolle Herz (strömt), dass alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand“.7 Auch bei Luther ist es bekanntlich die Lektüre der Schrift, durch die sich ihm der Rechtfertigungsglaube erschließt. Das strukturelle Ineinander von Medien und Religion, die wechselseitige Durchdringung von Medienerfahrungen und religiösen Erfahrungen gehört zur Signatur der Religions- und Christentumsgeschichte. Nicht jede Me6 Das Beispiel habe ich entnommen aus: Andreas Mertin, Geheime Miterzieher. Was prägt unsere Kinder? In: Zum Beispiel. Zeitschrift für christliche Erziehung und Kultur, 1/2001, 16–22, 19. 7 Augustinus, Bekenntnisse, übersetzt von Joseph Bernhart, Nachwort und Anmerkungen von Hans Urs von Balthasar, Frankfurt/Hamburg 1955, 8. Buch, 12. Abschnitt, 148f.

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dienerfahrung hat dabei religiöse Dimensionen. Doch religiöse Erfahrungen waren immer auch Medienerfahrungen. Individuelle Religiosität hat sich immer schon kommunikativ vermittelt konstituiert. Sie ist nicht natürlich gegeben, sondern bildet sich durch medienvermittelte religiöse Kommunikation im Überschneidungsfeld von Religionskultur und Medienkultur. Religionskultur und Medienkultur stehen dabei in einer dynamischen Wechselbeziehung. Medien beeinflussen die Verbreitung, Ausdifferenzierung, Demokratisierung, Formung und Umformung von Religion und Christentum.8 Sie prägen die objektive Religionskultur und den Aufbau subjektiver Religiosität. Doch wie geschieht dies im konkreten Einzelfall? Wie tragen Medienerfahrungen zum Aufbau individueller Sinnhorizonte von letzter und darum religiöser Bedeutung bei? In welchem Verhältnis stehen dabei die impliziten und expliziten religiösen Dimensionen der Medienprodukte? Was bedeutet der Übergang von der Gutenberg-Galaxis in das Zeitalter der digitalisierten Audiovision für den individuellen Medienumgang? Welche Folgerungen sind aus den Ergebnissen für eine praktischtheologische Theorie religiöser Praxis abzuleiten? Nach einer Skizzierung des theoretischen und methodischen Rahmens wurde diesen Fragen anhand der drei Einzelmedien Buch, Film und Fernsehen nachgegangen. Zu diesem Zweck wurden im Jahr 2003 innerhalb eines Zeitraumes von etwa sechs Monaten 20 biographisch orientierte Leitfadeninterviews mit jungen Erwachsenen geführt. Die 16 ergiebigsten Interviews wurden in einer mehrstufigen Prozedur ausgewertet. Klar ist, dass so eine qualitative Studie ihre Grenzen hat. Sie kann Typen beschreiben, ein Feld erschließen, Hypothesen plausibilisieren und theoretische Anregungen geben. Generalisierbare Allgemeinaussagen kann sie nicht hervorbringen. Gleichwohl wird die Bedeutung qualitativer Forschung auch im Kontext der Praktischen Theologie immer deutlicher.9 Denn nur auf ihren Wegen sind Einblicke in die Welten individueller Religiosität möglich. Dass hier ein Defizit zu beklagen ist, betont auch Hubert Knoblauch in seiner 2003 erschienenen ersten deutschsprachigen Einführung in die qualitative Religionsforschung.10 Knoblauch stellt fest: „Denn während wir über historische Religionen (und Texte heutiger Religionen) enorm viel wissen, beschäftigen sich nur wenige mit dem, was man die gelebte Religi8 Vgl. Johannes Ludwig, Vom Buchdruck zum Internet. Gesellschaftliche Emanzipationsprozesse als Folge ökonomischer Entwicklungen, in: Rundfunk und Fernsehen 47, ³1999, 341–367; Elisabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformation in Early Modern Europe, Cambridge 1979. 9 Vgl. dazu auch: Anton A. Bucher, Einführung in die empirische Sozialwissenschaft. Ein Arbeitsbuch für TheologInnen, Stuttgart/Berlin/Köln 1994. 10 Hubert Knoblauch, Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft, Paderborn 2003.

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on nennen kann. Das Verhältnis der Forschenden, die sich mit historischen Texten beschäftigen, zu denjenigen, die die gelebte Religion erkunden, fällt nach wie vor überdeutlich zu Ungunsten der Gegenwartsreligion aus. Entsprechend wissen wir zwar sehr viel über die ‚Tradition‘ und die ‚Schriften‘, wenig aber über die gelebte Religion der heutigen Menschen.“11 Dieses Ungleichgewicht möchte die vorliegende Arbeit ein wenig zugunsten der Gegenwartsreligion verschieben.

11 Knoblauch, Religionsforschung, 24f.

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I. Theoretische Voraussetzungen 1. Der kulturtheoretische Rahmen

Der religionskulturelle Wandel der letzten Jahrzehnte, die rasante Veränderung und Erweiterung des religiösen Feldes, haben dazu geführt, dass sich die Praktische Theologie in zunehmendem Maße als eine Theorie der Religionspraxis in Kirche und Gesellschaft versteht, als eine Disziplin also, die ihr Gegenstandsfeld über die Kirchenmauern hinaus erweitert und die Pluralität und Transformation religiöser Phänomene innerhalb, aber auch außerhalb der kirchlichen Institutionen in der Gegenwartskultur und in der religiösen Lebenswelt der Subjekte wahrnimmt.1 Im Zuge dieser Entwicklung wurde das Projekt einer „kulturhermeneutischen [...] Erweiterung der Praktischen Theologie“ formuliert.2 Es steht im Kontext einer generellen wahrnehmungswissenschaftlichen Akzentuierung der Praktischen Theologie seit den späten 60er Jahren, die an das empirische Paradigma der Praktischen Theologie um 1900 anknüpft und unlängst auch als eine „empirischhermeneutische Wende“ charakterisiert wurde.3 Dabei spielen neben der religionstheologischen Kulturhermeneutik auch Phänomenologie und empirische Religionsforschung eine zunehmend wichtige Rolle. Es geht nicht zuletzt darum, Theorien durch die empirische Beobachtung der religiösen Praxis in Kirche und Gesellschaft zu prüfen und weiterzuentwickeln und die religiöse Praxis dergestalt durch ein beständiges Pendeln zwischen Theorie und Praxis klärend und aufklärend zu begleiten. Zur wissenschaftlichen Wahrnehmung der sich beständig wandelnden Praxis – der gelebten Religion der heute lebenden Menschen – eignen sich insbesondere Methoden der empirischen Sozial- und Religionsforschung, die über den Umweg der Religionssoziologie seit den 70er Jahren auch Eingang in die Praktische Theologie gefunden haben. Neuerdings stehen dabei qualitative Methoden im Vordergrund. Sie ermöglichen es, die Phänomene subjektiver Religiosität differenziert zu erfassen. Die hier vorgelegte Studie liegt also im Trend 1 Vgl. Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, 41f; Dietrich Rössler, Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin/New York ²1994, 19. 2 Wilhelm Gräb/Richard R. Osmer, Editorial, International Journal of Practical Theology, Vol. 1, 1997, 6–10, 7. 3 Gräb/Osmer, Editorial, 7, vgl. auch Bernd Schröder, In welcher Absicht nimmt die Praktische Theologie auf Praxis Bezug? Überlegungen zur Aufgabenbestimmung einer theologischen Disziplin, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 98, 2001, 101–130, 119–130; Kristian Fechtner/ Michael Haspel (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart/Berlin/Köln 1998.

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dieser Entwicklung, wenn sie ausgehend von dem religionstheologischen Konzept einer Medienreligion, also ausgehend von der kulturhermeneutisch erarbeiteten These, dass die modernen Medien in großem Umfang Funktionen der lebensgeschichtlichen Sinndeutung von der kirchlichen Religionskultur übernommen haben, mit Hilfe von qualitativen Methoden nach der konkreten Bedeutung von Medienerfahrungen für die individuelle transzendenzbezogene Sinndeutungspraxis der Subjekte fragt. Der Hinweis auf den religionstheologischen Hintergrund der hier verfolgten Fragestellung macht weiterhin deutlich, dass es auch in der empirischen Forschung immer um eine Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis geht, dass somit auch die Frage in den Blick genommen werden muss, mit welchem theoretischen Hintergrund die Praxis erforscht werden soll, welche Theorieperspektiven die Empirie steuern und den hermeneutischen Zirkel zwischen Theorie und Empirie theorieseitig bestimmen.4 Diese theoretischen Voraussetzungen werden in den folgenden Kapiteln entwickelt und auf den empirischen Teil hin zugespitzt. Das methodologische Vorgehen der Studie ist dabei dem der Cultural Studies verwandt: Er werden diejenigen Theorien und Methoden aus verschiedenen wissenschaftlichen Feldern ausgewählt und kombiniert, die der Fragestellungen der Studie dienen.5 Gleichwohl lässt sich so etwas wie ein theoretischer Gesamtrahmen benennen, in den sich die herangezogenen Perspektiven und Konzepte einzeichnen lassen. Dieser theoretische Gesamtrahmen soll im Folgenden mit einigen Stichworten umschrieben werden. Es kann sich dabei nur um eine grobe Skizzierung handeln. Denn die Entfaltung einer Rahmentheorie, die Medientheorie und Theologie zu integrieren vermag, ist ein umfangreiches und an dieser Stelle kaum zu leistendes Unternehmen.6 Deutlich ist jedoch, das zeigen die aktuellen Diskussionen innerhalb der verschiedenen für die hier verfolgte Fragestellung relevanten Theoriefelder, dass diese Rahmentheorie eine Kulturtheorie sein muss. Kultur ist der Konvergenzbegriff sowohl heutiger Medienkulturtheorie als auch einer an die 4 Begann die qualitative Sozialforschung im Kontext der Chicago School mit einer Polemik gegen Deduktion und Theorielastigkeit, so ist in der weiteren Diskussion immer deutlicher geworden, wie wichtig die theoretischen Voraussetzungen eben auch im Kontext empirischer Forschung sind. Christel Hopf fordert, „dass qualitative Sozialforscher und -forscherinnen sich zu Beginn des Forschungsprozesses nicht künstlich dumm stellen, sondern vielmehr versuchen, bei ihrer Forschungsplanung den jeweils höchsten Stand wissenschaftlicher – theoretischer und empirischer – Vorarbeiten zu ihrem Forschungsthema zu berücksichtigen“. Dies., Hypothesenprüfung und qualitative Sozialforschung, in: Rainer Strobl/Andreas Böttger (Hg.), Wahre Geschichten? Zu Theorie und Praxis qualitativer Interviews, Baden-Baden, 1996, 9–21, 19. 5 Vgl. Rainer Winter, Cultural Studies, in: Uwe Flick/Ernst von Kardoff/Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, 204–213, 205. 6 Konstruktiv aufgenommen und schon weit vorangetrieben hat diese Herausforderung Wilhelm Gräb in: Sinn. Auf diesen Band sei im Blick auf die ausführlichere Entwicklung einer religionstheologischen und kulturwissenschaftlichen Theorierahmens ausdrücklich hingewiesen.

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aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen anschlussfähigen Praktischen Theologie. Näherhin ist es ein semiotisch orientierter Begriff der Kultur, der den verschiedenen in dieser Arbeit herangezogenen Theorieperspektiven noch am ehesten ein gemeinsames Dach zu geben vermag.

1.1 Der cultural turn in Kulturtheorie, Praktischer Theologie und Medientheorie Die Karriere des Kulturbegriffs begann in den späten 60er und frühen 70er Jahren.7 Seitdem sind kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Perspektiven vor allem in der sozialwissenschaftlich orientierten angelsächsischen Wissenschaftskultur auf dem Vormarsch, so dass heute von einem cultural turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften die Rede ist.8 Konzeptioneller Kern dieses Wandels ist die Entdeckung der handlungskonstitutiven Bedeutung kultureller Sinnmuster oder symbolischer Ordnungen.9 Zum realhistorischen Kontext dieser Entwicklung gehört die Transformation der Industriegesellschaft in eine nachindustrielle Gesellschaft, in der die Produktion und Konsumption von symbolischen Gütern – vorzugsweise Medien – erheblich an Bedeutung gewonnen hat, dazu gehört weiterhin die Pluralisierung der kulturellen Kontexte und das damit einhergehende gesteigerte Kontingenzbewusstsein im Blick auf die Gültigkeit von Sinnsystemen. Innertheoretischer und gesellschaftlicher Wandel arbeiten also Hand in Hand. Ernst Cassirers Charakterisierung des Menschen als animal symbolicum hat sich vor dem Hintergrund dieser Theorieentwicklung einmal mehr als treffend erwiesen.10 Auch darüber hinaus bilden Grundorientierungen seiner Kulturphilosophie nach wie vor das Fundament heutiger Kulturtheorien, dazu gehört nicht zuletzt die zentrale Stellung des Sinnbegriffes. Konzeptionalisiert Cassirer das Subjekt als symbolisierende und damit sinnzuschreibende Instanz, so hat sich in der weiteren Entwicklung der Kulturtheorien ein Antagonismus zwischen strukturalistischen und interpretativen Theorien herausgebildet, zwischen solchen Optionen, die die Sinnkonstruktion wie Cassirer als subjektive Interpretationsleistung fassen, und solchen, die sie als das Ergebnis übersubjektiver Strukturen beschreiben. Dieser Antagonismus ist, so die plausible These von Andreas Reckwitz, gegenwärtig im 7 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, 16ff. 8 Vgl. Reckwitz, Transformation, 15ff. 9 So das treffende Resümee von Reckwitz, Transformation, 16ff. 10 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, 51.

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Begriff, sich aufzulösen: Der strukturalistische Diskurs integriert Elemente der interpretativen, subjektzentrierten Strömung und der interpretative Theoriestrang umgekehrt Elemente der strukturalistischen Sichtweise – er lässt sich somit auf eine Dezentrierung des von ihm so hoch geschätzten Subjekts (das ist etwas anderes als der Tod des Subjekts!) ein, die sich schon bei Alfred Schütz als Wendung zur Lebenswelt andeutet.11 Beide Bewegungen übernehmen also Stärken der jeweils anderen Seite und stellen zunehmend das Konzept der Praktiken in den Mittelpunkt.12 Die dabei schrittweise emergierende praxistheoretische Orientierung ist daran interessiert, den Dualismus von Innen und Außen, von Körper und Geist, von Subjekt und Objekt aufzulösen und diejenigen Prozesse zum Gegenstand der Kulturanalyse zu machen, in denen Kultur konkret realisiert wird: die körperlichen Praktiken sinnverstehender Akteure.13 Vor dem Hintergrund dieser Theorieentwicklung geht der Trend in den Kulturwissenschaften, das zeigen auch die Arbeiten des Berliner Sonderforschungsbereiches „Kulturen des Performativen“, heute eindeutig dahin, die konkret gelebte Kultur im Modus ihrer Aufführung zu beobachten und zu analysieren.14 Dabei geht es immer auch um das Verhältnis von Textualität und Performativität. 11 Vgl. Reckwitz, Transformation, 47ff u. 173ff. 12 Um das zu zeigen, greift Reckwitz die gewichtigsten und repräsentativsten Autoren der beiden Stränge heraus und macht seine These anhand von Einzelinterpretationen plausibel. Dabei beginnt die transdiziplinäre Rekonstruktion (Reckwitz bezieht sich auf Soziologen, Philosophen und Anthropologen) im neostrukturalistischen Bereich mit Claude Levi-Strauss und schreitet über den frühen Foucault, Ulrich Oevermann und den späten Foucault voran bis hin zu Pierre Bourdieu. Im interpretativen Lager geht Reckwitz von Alfred Schütz aus, rekonstruiert dessen Spätwerk und verfolgt seine Interpretationslinie weiter über Erving Goffmann hin zu Charles Taylor – eine Seitenlinie bildet Clifford Geertz mit seinem Textualismus (vgl. auch das Schaubild in: Andreas Reckwitz, Transformation, 190). 13 Die Endpunkte der praxistheoretischen Konvergenzbewegung bilden im neostrukturalistischen Diskurs Bourdieu und im interpretativen Taylor. Ihrer beider Praxistheorien stimmten, so Reckwitz, in den Grundzügen überein. Zu diesen Übereinstimmungen gehört, dass „die Theorien sozialer Praktiken die Verarbeitung und Umsetzung von übersubjektiven Sinnmustern in subjektiven Sinnzuschreibungen thematisieren, ohne den Anti-Subjektivismus der Strukturalisten und ohne den Anti-Objektivismus der Sozialphänomenologie zu teilen.“ Ders., Transformation, 558. 14 „In den Kulturwissenschaften (das heißt den Geistes- und Sozialwissenschaften) hat sich in den letzten Jahren ein Wechsel der Forschungsperspektiven angebahnt. Bis in die späten achtziger Jahre dominierte die Erklärungsmetapher ‚Kultur als Text‘, das heißt, Kultur insgesamt wie auch einzelne kulturelle Phänomene wurden als strukturierter Zusammenhang von Einzelelementen aufgefasst, denen bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden können. Eine Leistung dieser Forschungsrichtungen, die mit textwissenschaftlichen Methoden arbeiten, besteht vor allem in der Erweiterung und Öffnung des Gegenstandsbereichs. Dessen Betrachtung bleibt indessen weitgehend statisch. Wird hingegen die Performativität von Kultur in den Blick gerückt, verlagert sich das Interesse auf die Tätigkeiten des Produzierens, Herstellens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, die Akteure und kulturelle Ereignisse ausmachen. Die Fruchtbarkeit dieses Perspektivenwechsels erweist sich seit einigen Jahren in so unterschiedlichen Disziplinen wie der Theaterwissenschaft, der Diskursanalyse, der Ethnologie, der

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Kulturhermeneutik als Werkhermeneutik bleibt also im Blick. Die Gewichte haben sich jedoch verschoben: die kulturelle Praxis hat mehr Beachtung gefunden. Es liegt auf der Hand, dass im Zuge dieser Verschiebung der Forschungsperspektive auch im Bereich der Kulturwissenschaften der Empirie und insbesondere qualitativen Methoden mehr Bedeutung zugewachsen ist. Beide Orientierungen, sowohl die zentrale Stellung des Kulturbegriffes als auch das Interesse an der Analyse konkreter Praxis, finden sich nun auch in der Praktischen Theologie.15 Auf das erneute Interesse an der Empirie hatte ich oben schon hingewiesen.16 Die kulturwissenschaftliche Akzentuierung kommt vielleicht am deutlichsten in den Arbeiten Wilhelm Gräbs zum Ausdruck. Er konzipiert die Praktische Theologie dezidiert als „Hermeneutik der gelebten Religion“ und ihrer „kulturellen Ausdrucksgestalten“.17 In seiner jüngsten Monographie beschreibt Gräb die Praktische Theologie als „kulturhermeneutisch verfahrende Religionstheologie“.18 Kulturtheoretisch referiert Gräb dabei auf einen semiotischen Kulturbegriff, wie ihn Clifford Geertz im Anschluss an Ernst Cassirer, Max Weber und Susanne Langer ausgearbeitet hat.19 So kann Gräb formulieren: „Kultur ist die von Menschen geschaffene, sinnbestimmt gestaltete und in ihren Sinnbestimmungen bzw. Symbolen erschlossene und bezeichnete Welt.“20 Religion bildet eine wesentliche Sinndimension dieser menschlichen Kulturwelt. Religion meint näherhin die symbolisch zum Ausdruck gebrachte „sinnbewusste Deutung der Beziehung der Menschen zu einer letzten Realität, zu jenem Unbedingten, Unendlichen, das allem sinnbewussten Selbst- und Weltumgang ebenso vorausliegt wie es ihn transzendiert, deshalb auch nie vollständig in diesen Eingang finden kann“.21 Soziologie, der (Sprach-)Philosophie, der Linguistik, den Literatur- und Medienwissenschaften, der Psychologie oder der Pädagogik.“ http://www.sfb-performativ.de (17. September 2003). 15 Vgl. u.a. Karl Ernst Nipkow/Dietrich Rössler/Friedrich Schweitzer (Hg.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh 1991. Davon, dass auch die Kirche als Institution das Thema der Kultur wieder neu entdeckt hat, zeugt die Denkschrift „Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ (im Auftrag des Rates der EKD hg.v. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2002). Auch dieser Denkschrift liegt eine semiotische Kulturtheorie zugrunde. Gegenüber den im engeren Sinne wissenschaftlichen Publikationen zum Themenfeld fällt (erwartungsgemäß) auf, dass die Momente der Kritik und Gestaltung von Kultur stärker betont werden. 16 Vgl. dazu auch Rössler, Grundriss, 52ff; Hans-Georg Ziebertz, Empirische Forschung in der Praktischen Theologie als eigenständige Form des Theologie-Treibens, in: Praktische Theologie 39, Heft 1, 2004, 47–55. 17 Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 44. 18 Ders., Sinn, 53. 19 Ders., Sinn, 53ff. 20 Ders., Sinn, 57. 21 Ders., Sinn, 61.

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Diese auf Transzendenz bezogene Sinndimension der Kultur zu erschließen und zu entschlüsseln, bestimmt Gräb als die zentrale Aufgabe einer religionstheologischen Kulturhermeneutik. Kulturhermeneutik ist dabei gleichbedeutend mit Medienhermeneutik. Denn „ihre Aufgabe findet sie in kulturellen Medien, die ihre Materialisierung und somit Wahrnehmbarkeit heute vor allem in den elektronischen Massenmedien haben“.22 Auf der Basis dieser Überlegung entwickelt Gräb eine Theorie der Transformation religiöser Kultur durch die Massenmedien. Von der engen Verflechtung von Religionsgeschichte und Mediengeschichte ausgehend analysiert er die religionskulturelle Bedeutung der Medien von der Schrift bis hin zum Internet.23 Man kann die vorliegende Studie als einen Versuch verstehen, die von Gräb und anderen kulturhermeneutisch – textualitätsorientiert – entwickelte Perspektive mit den Mitteln der empirischen Religions- und Medienforschung – performativitätsorientiert – zu konkretisieren, zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Gräbs Entwurf steht für eine Öffnung der Praktischen Theologie gegenüber den Medien- und Kulturwissenschaften. Generell muss man in diesem Zusammenhang jedoch sagen, dass die praktisch-theologische Auseinandersetzung mit den Theorien und Methoden der Medienforschung erst am Anfang steht und dass diese Auseinandersetzung ihren ganz besonderen Schwierigkeitsgrad hat. Der hat damit zu tun, dass inzwischen in allen kultur- und humanwissenschaftlichen Fächern zur Medienthematik gearbeitet worden ist. Hinzu kommen die einschlägigen Forschungen der Medienwissenschaften, der Kommunikationswissenschaften und der Publizistikwissenschaften. Ulrich Saxer bilanziert die Analysen eines von ihm herausgegebenen Sammelbandes zur Medien-Kulturkommunikation mit der Feststellung eines „Eindruck(s) überwältigender Komplexität des hier wissenschaftlich weiter aufzuarbeitenden prozessualen Geschehens“.24 Zur noch unbewältigten Überkomplexität des Forschungsfeldes gehört auch das Fehlen einer einheitlichen medienwissenschaftlichen Rahmentheorie, die die verschiedenen Felder und Diskurse bündelt und systematisiert (ebenso fehlt ein Fach, das diesen Herausforderungen auf den Ebenen von Forschung und Lehre entspricht). Es zeichnen sich jedoch – ganz im Sinne des eingangs vermerkten cultural turn – auch in diesem Theoriefeld die Konturen einer Rahmentheorie ab, die sich als Medienkulturtheorie versteht und also die Medienthematik in eine soziologisch aufgeklärte und semiotisch orientierte Kulturtheorie einbettet. Die vorhandenen Ansätze gehen in diese 22 Ders., Sinn, 68. 23 Ders., Sinn, 133–242. 24 Ulrich Saxer, Zur Theorie von Medien-Kulturkommunikation, in: Ulrich Saxer (Hg.), Medien-Kulturkommunikation, Publizistik, Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Sonderheft 2, 1998, 9–43, 35.

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Richtung – umfassende Konzepte stehen, wie gesagt, noch aus. Beigetragen zur Kulturorientierung der deutschsprachigen Medienforschung hat dabei nicht zuletzt die Rezeption der Medienforschung aus dem Umkreis der Cultural Studies – einer im Rahmen der britischen Literaturwissenschaft Anfang der 60er Jahre entstandenen Tradition der Kulturanalyse.25 Charakteristisch für diese Tradition der Medienforschung sind die kontextualistische Betrachtung der Medienthematik und das Interesse an der empirischen Erforschung von Praktiken des Medienumgangs.

1.2 Der Aufbau der Studie Es zeigt sich also im Blick auf alle drei für die vorliegende Studie relevanten Theoriefelder der Praktischen Theologie, der Medienwissenschaften und der Sozial- und Kulturtheorien generell, dass eine bedeutungsorientierte Kulturtheorie als gemeinsamer Referenzrahmen gelten kann und dass zugleich in allen drei Feldern ein verstärktes Interesse an der empirischen Erforschung von Praktiken wahrgenommen werden kann. Vor diesem Hintergrund werden nun die im Blick auf den empirischen Teil relevanten Theoriebausteine bzw. Voraussetzungen aus den Feldern der Religionskultur (2.) und der Medienkultur (3.) und ihren Überschneidungsfeldern zusammengetragen. Am Anfang stehen dabei jeweils zeitdiagnostische Skizzen (2.1, 3.1), die den religions- und medienkulturellen Wandel zu beschreiben versuchen. Daran schließen sich religions- bzw. medientheoretische Perspektiven an (2.2, 3.2), die im Blick auf ihr Überschneidungsfeld Religion und Medien (2.5.), auf die subjektivitätsorientierten Aspekte Lebenslauf (2.3, 3.3) und Identität/Individualität (2.4, 3.4), auf die empirischen Forschungsstände (2.6., 3.5) und auf die für die Interviews ausgewählten Einzelmedien Buch, Film und Fernsehen (3.6.1, 3.6.2, 3.6.3) hin ausgezogen werden. Es folgt der empirische Teil (II.), der mit der Auswertung der qualitativen Interviews abschließt (2.2). In einem dritten und letzten Abschnitt (III.) geht es um die Deutung der gewonnenen Ergebnisse unter praktisch-theologischen Gesichtspunkten und um mögliche Schlussfolgerungen. Dass im ersten Teil die religionstheoretischen und religionstheologischen Abschnitte gegenüber den medientheoretischen deutlich mehr Raum einnehmen, hat seinen Grund darin, dass das Spezifische der Forschungsperspektive vor allem aus dem Feld der Religionstheorie und -theologie heraus entwickelt werden muss.

25 Vgl. Andreas Hepp, Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Opladen/ Wiesbaden 1999.

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2. Religionskultur

2.1 Religionskultureller Wandel Für die Rahmenbedingungen, die die Entwicklung der gegenwartskulturellen Kontexte und damit auch der religionskulturellen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland prägen, sind aus meiner Sicht vor allem sechs Faktoren bestimmend: die Traditionsabbrüche, die Pluralisierung der soziokulturellen Welten, die nach wie vor fortschreitenden Individualisierungsprozesse, die zunehmende Durchdringung von Gesellschaft und Kultur durch Medien, die Ökonomisierung und schließlich der anhaltende Ästhetisierungstrend.1 Diese vielfältig beschriebenen Tendenzen der spätmodernen Kulturentwicklung in den westlichen Gesellschaften bestimmen auch den religionskulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik: auch die Religionskultur hat sich pluralisiert, individualisiert, medialisiert, ökonomisiert und ästhetisiert. Die Traditionsabbrüche sind dabei in einem so traditionsbezogenen Kulturbereich wie dem der Religion besonders signifikant wahrnehmbar, jedenfalls so weit man die kirchliche Religionskultur in den Blick nimmt. Grundsätzlich hängt bei der Wahrnehmung und Beschreibung der religionskulturellen Gegenwartslage Wesentliches am Begriff der Religion. Religionstheorie und Phänomenologie lassen sich im letzten nicht trennen. Begrifflichkeiten stellen die Optik der Wahrnehmung ein. Kein Phänomen ist vermittlungslos zugänglich. Was als Religion identifiziert und bezeichnet wird, ist darum immer auch ein Ergebnis der – wie Joachim Matthes treffend bemerkte – „Geburt der Religion aus dem Geist der Forschung über sie“.2 Auf dieses Problem wird zurückzukommen sein. An dieser Stelle sei nur vermerkt, dass sich die nun folgende Skizze der religionskulturellen 1 In diesem und dem folgenden Abschnitt (2.2) nehme ich einige in meiner Dissertation schon ausgeführte Diagnosen und Überlegungen auf, aktualisiere sie und führe sie weiter, vgl. Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh 2001, 30–37, 49–65. Zum Kontext theologischer Kulturhermeneutik und zur gegenwartskulturellen Lage vgl. ebenfalls die genannte Publikation. 2 Joachim Matthes, Was ist anders an anderen Religionen? Anmerkungen zur zentristischen Organisation des religionssoziologischen Denkens, in: Jörg Bergmann/Alois Hahn/Thomas Luckmann (Hg.), Religion und Kultur. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen 1993, 16–30, 26.

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Gegenwartslage einer eher weiten Religionsbegrifflichkeit im Sinne von Thomas Luckmanns Konzept der unsichtbaren Religion verpflichtet weiß.3 Die Wissenschaftsdisziplin, die den religionskulturellen Wandel der letzten Jahre und Jahrzehnte nach meinem Eindruck am unvoreingenommensten und differenziertesten beobachtet hat, ist die Religionssoziologie. Die folgenden Ausführungen orientieren sich darum weitgehend am religionssoziologischen Diskurs der Gegenwart.4 Dieser war in den letzten Jahren von der Beobachtung bestimmt, dass die Religion aus der Kirche auswandert.5 Der Krise der institutionalisierten Religion steht eine Renaissance des Religiösen außerhalb der Institutionen gegenüber.6 Die Säkularisierungsthese der älteren Religionssoziologie erweist sich vor diesem Hintergrund – jedenfalls insoweit Säkularisierung nicht nur Entkirchlichung, sondern in einer weiten Bedeutung des Begriffes den generellen Rückgang von Religion meint – als ein „moderner Mythos“.7 Die Religion lebt, vor allem außerhalb der Kirchen. Deutlich lassen sich heute zwei Religionskulturen unterscheiden: die kirchliche und die außerkirchliche. Beide Bereiche sind durch eine große Pluralität gekennzeichnet. Im außerkirchlichen Bereich ist das Spektrum naturgemäß besonders breit. Hier stellt sich auch die schwierige Frage der Abgrenzung, die mit der schon angeschnittenen Frage nach der Näherbestimmung des Religionsbegriffes verknüpft ist. Zwischen beiden Aspekten, der Frage nach den Grenzen des religiösen Feldes und der Frage nach dem Begriff der Religion, besteht eine enge Wechselbeziehung, die auch darum so komplex ist, weil Religion ein vieldimensionales Phänomen ist, das beständigen Wandlungen unterliegt. Pierre Bourdieu ist sicher zuzustimmen, wenn er im Blick auf die gegenwärtige Situation von einer „Neudefinition der Grenzen des religiösen 3 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. ²1993. 4 Vgl. auch die stärker an der Säkularisierungsthese orientierte Darstellung dieses Diskurses aus praktisch-theologischer Sicht bei: Wolfgang Steck, Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der Lebenswelt, Stuttgart/ Berlin/Köln 2000, 156–173. 5 Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung der Religion, in: Anne Honer/Ronald Kurt/Jo Reichertz (Hg.), Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz 1999, 201–222, 201. 6 Vgl. Volker Drehsen, Renaissance des Religiösen. Sozialisationstheoretische Erkundung christlich-religiöser Lebenswelten, in: ders., Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994, 7–13, 7ff. 7 Karl Gabriel, Einleitung, in: ders. (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität, Gütersloh 1996, 9–13; in der neueren religionssoziologischen Diskussion hat die Individualisierungsthese die Säkularisierungsthese abgelöst, weil sie die Transformationsprozesse der Religionskultur besser zu fassen vermag: Entkirchlichung ist eben nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Religion, sondern nur die eine Seite ihrer Verflüssigung und Transformation ins Individuelle, vgl. Gabriel, Einleitung.

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Feldes“8 spricht und darauf hinweist, dass die Übergänge „zwischen dem religiösen Feld und den anderen Feldern, insbesondere dem medizinischen“ verschwimmen.9 Bourdieu führt aus: Heutzutage besteht also ein unmerklicher Übergang von den Geistlichen alten Schlags [...] zu Mitgliedern von Sekten, Psychoanalytikern, Psychologen, Medizinern, Sexologen [...] Sozialarbeitern. Alle sind Teil eines neuen Feldes von Auseinandersetzungen um die symbolische Manipulation des Verhaltens im Privatleben und die Orientierung der Weltsicht, und alle setzen sie in ihrer Praktik konkurrierende, antagonistische Definitionen der Gesundheit, der Heilung, der Kur von Leib und Seele um.10

Sieht Bourdieu die Abgrenzungsprobleme des religiösen Feldes besonders deutlich an der Grenze des religiösen zum medizinischen Feld hervortreten, so könnte man sie mit guten Argumenten ebenso am Übergang des religiösen zum medialen Feld verorten. Verschiedene Arbeiten konnten plausibel machen, dass Medien in großem Umfang religiöse Funktionen übernommen haben.11 Diese schon in den 70er Jahren virulent gewordene Frage nach der unsichtbaren Religion der Medien wird seit einiger Zeit auch unter dem Stichwort „Medienreligion“ erörtert.12 Diesem Trend zur Auffächerung und Öffnung des religiösen Feldes stehen fundamentalistische Tendenzen gegenüber, die sowohl im Bereich der kirchlichen wie im Feld der außerkirchlichen Religionskultur anzutreffen sind und die darüber hinaus als eine generelle Signatur unserer kulturellen Gegenwartslage angesehen werden können.13 Die Komplexitäten und Unsicherheiten, die die Beschleunigung der Modernisierungsdynamiken im 20. und 21. Jahrhundert erzeugen, generieren zugleich neue Sehnsüchte nach Eindeutigkeit und festen Fundamenten.14 Eine Konjunktur fundamentalistischer Orientierungen ist die Folge. Die strukturelle Gemeinsamkeit dieser 8 Pierre Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, in: ders: Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992, 231–237, 233f. 9 Bourdieu, Auflösung, 232f. 10 Bourdieu, Auflösung, 233f. 11 Vgl. Gräb, Sinn; Herrmann, Sinnmaschine; Günter Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven, Wiesbaden 2000; Arno Schilson, Medienreligion. Zur religiösen Signatur der Gegenwart, Tübingen/Basel 1997; Günter Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt a.M. 1996; Jo Reichertz, Trauung, Trost und Wunder. Formen, Praktiken und Funktion des Religiösen im Fernsehen, in: medien praktisch, 4/1996, 4–10; Horst Albrecht, Die Religion der Massenmedien, Stuttgart 1993; Hans-Jürgen Benedict, Fernsehen als Sinnsystem? In: Wolfram Fischer/ Wolfgang Marhold (Hg.), Religionssoziologie als Wissenssoziologie, Stuttgart 1978, 117–135. 12 Schilson, Medienreligion. 13 Seit dem 11. September 2001 ist vor allem der islamistische Fundamentalismus im Blick. Es handelt sich jedoch um globale Tendenzen, die nicht auf die islamische Welt beschränkt sind. 14 Vgl. Karl-Fritz Daiber, Religion in Kirche und Gesellschaft. Theologische und soziologische Studien zur Präsenz von Religion in der gegenwärtigen Kultur, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 143–154.

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Muster, die heute aufgrund der Selbstbeschreibung amerikanischer Protestanten zu Anfang des Jahrhunderts unter dem Begriff Fundamentalismus diskutiert werden, hat Thomas Meyer prägnant zusammengefasst: An die Stelle des prinzipiell unabschließbaren und für alle Argumente offenen Diskurses, der die Wissensform der Moderne ist, tritt ein zum festen Fundament allen weiteren Fragens, Wissens und Handelns dogmatisiertes absolutes Wissen, das der wissenschaftlichen Prüfung und der relativierenden öffentlichen Debatte entzogen wird.15

Wolfgang Beinert spricht, den gegenwärtigen Forschungsstand zum Fundamentalismus resümierend, von einer „angiogene(n) Universalhermeneutik zur Erzielung existenzieller Sicherheit“.16 Fundamentalismus sei ein regressiver Modus der Angstbewältigung, der sich durch den dogmatischen Rückgriff auf Traditionen und durch eine demokratiefeindliche Propagierung politischer Gegenwelten auszeichne. Man kann Fundamentalismus darum auch als eine Fluchtbewegung interpretieren: eine Flucht aus einer Welt sich ständig steigernder Vieldeutigkeit und Komplexität in die überschaubare Eindeutigkeit einer klar konturierten Gegenwelt. Der Fundamentalismus wirft also ein Licht auf die Schwierigkeiten, mit der dominanten Signatur der Gegenwart, mit radikaler Pluralität und weiterer Pluralisierung umzugehen. Der Fundamentalist versucht, so könnte man sagen, in dieser Lage, eine Notbremse zu ziehen. Er bleibt damit jedoch, diese Einschätzung scheint mir jedenfalls für Westeuropa nach wie vor zutreffend, in einer reaktiven Minderheitenposition. Denn die Trends der soziokulturellen Entwicklung in den westlichen Gesellschaften arbeiten gegen ihn: Traditionsabbruch, Pluralisierung, Individualisierung, Medialisierung. Dabei verstärken sich diese Entwicklungen gegenseitig: Die Medialisierung verstärkt die Individualisierung und die wiederum begünstigt den Traditionsabbruch und die Pluralisierung, der zugleich Ökonomisierung und Globalisierung in die Hand arbeiten. Man könnte also Pluralisierung und Fundamentalismen als Tendenzen interpretieren, die im Modus von Haupttrend und Gegentrend aufeinander bezogen sind und wesentliche Grundzüge der religiösen Gegenwartslage beschreiben.17 Ich will nun noch etwas mehr ins Detail gehen und den religionskulturellen Wandel anhand weiterer Beobachtungen des gegenwärtigen religionssoziologischen Diskurses noch genauer zu charakterisieren versuchen. Dabei werde ich mich bei der Beschreibung schon hinlänglich bekannter Sachver15 Thomas Meyer, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbek 1989, 161. 16 Wolfgang Beinert, Religiös-politische Gegenwelten am Beispiel des christlichen Fundamentalismus, in: Materialdienst der EZW. Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 64, 8/2000, 251–264, 252. 17 Streng genommen wäre als Haupttrend die Modernisierung zu nennen, Pluralisierung wäre in dieser Perspektive nur ein, wenn auch wichtiger, Aspekt dieses Haupttrends.

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halte kurz fassen und nur auf die kontrovers diskutierten Fragestellungen etwas ausführlicher eingehen. Folgende Hauptaspekte scheinen mir das Bild im Spannungsfeld zwischen Modernisierung und Fundamentalismen zu prägen: die Krise der kirchlichen Religionskultur, die Renaissance des Religiösen außerhalb der Kirchen, seine Individualisierung bzw. Privatisierung und schließlich seine Dispersion (bzw. Umformung, Ausdifferenzierung und Substitution).18 2.1.1 Die Krise der kirchlichen Religionskultur Im Zuge von Aufklärung, Moderne und Postmoderne haben die christlichen Kirchen in den westlichen Gesellschaften ihre Monopolstellung auf dem Markt der Sinnanbieter zunehmend eingebüßt.19 Und sie verlieren weiterhin Mitglieder, politisches Gewicht und kulturelle Bedeutung. Der Gottesdienstbesuch geht zurück, die Akzeptanz traditioneller Glaubensvorstellungen schwindet und auch die öffentliche Präsenz der Kirche nimmt ab.20 Dieser generelle Trend zur Entkirchlichung ist in den verschiedenen Ländern und konfessionellen Strukturen Europas unterschiedlich stark ausgeprägt. Das katholische Polen zeigt ein anderes Bild als das protestantische Skandinavien oder die Länder im Osten Deutschlands, in denen nur etwa 25 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehören.21 In der Bundesrepublik sind die Kirchenaustritte nach einer vorübergehenden Renaissance des kirchlichen Lebens in der Nachkriegszeit ab 1968 wieder angestiegen und haben sich auf einem relativ hohen Niveau eingependelt. 1994 waren zwar immer noch rund 70 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung Mitglied in einer der beiden Großkirchen.22 In den westdeutschen Großstädten sank der kirchlich gebundene Anteil der Wohnbevölkerung seit den 60er Jahren jedoch erheblich – im vorwiegend protestantischen Hamburg etwa von rund 76 Prozent im Jahr 1960 auf rund 34 Prozent im Jahr 2000.23 18 Diese Auswahl orientiert sich zum Teil an: Michael N. Ebertz, Forschungsbericht zur Religionssoziologie, in: International Journal of Practical Theology, Vol. 1, 1997, 268–301. 19 Ebertz, Forschungsbericht, 290ff. 20 Zu den Glaubensvorstellungen: Spiegel-Untersuchungen von 1967 und 1992 zeigen einen Rückgang in der Zustimmung zu der Aussage „Jesus ist Gottes Sohn“ von 42 Prozent im Jahr 1967 auf 29 Prozent im Jahr 1992, darauf verweisen Detlev Pollack/Gert Pickel, Individualisierung und religiöser Wandel in der BRD, Zeitschrift für Soziologie 28, Heft 6, 12/1999, 465–483, 475. 21 Vgl. Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin/New York 1999, 87–91; der Katholizismus ist generell stabiler: „Ganz grob kann gesagt werden, dass die jährliche Austrittsziffer bei den Katholiken in den letzten Jahren bei jährlich 0,5 Prozent der Kirchenmitglieder lag, bei den Protestanten bei etwa 1 Prozent“; Karl-Fritz Daiber, Religion, 83; zur Situation der Kirchen darin auch 83–115. 22 Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, 87–91. 23 Laut Auskunft der Pressestelle der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Hamburg im März 2001.

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Der Kirchendistanz in der Großstadt steht eine größere kirchliche Verbundenheit in den ländlichen Gebieten gegenüber. Ähnliche Korrelationen lassen sich auch hinsichtlich der sozialen Milieus feststellen. Die EKDStudie „Christsein gestalten“ konstatierte: „die Wahrscheinlichkeit (des Kirchenaustritts) ist am höchsten bei Kirchenmitgliedern mit folgenden Merkmalen: Alter 25–40 Jahre, höhere formale Bildung, alleinstehend, berufstätig, in der Großstadt lebend.“24 Es sind also gerade die Vorreiter gesellschaftlicher Modernisierung und Individualisierung, jung, gebildet und urban orientiert, die der Kirche den Rücken kehren. Die Aufkündigung der Kirchenbindung ist Konsequenz und Kehrseite ihres ausgeprägten Strebens nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.25 Dieses Streben – und damit eben auch der Entkirchlichungsprozess – steht im Kontext eines tiefgreifenden Wertewandels, der in den letzten drei Jahrzehnten in den westeuropäischen Gesellschaften beobachtet werden konnte. Er führte zur Ausbildung einer postmaterialistischen Wertekonstellation, in der die selbstbestimmte Sinn- und Glückssuche an die Stelle von Leistung, Pflicht, wirtschaftlichem Erfolg und kirchlicher Bindung getreten ist.26 Auf die mangelnde Fähigkeit der Volkskirchen, die religiösen Fragen und Bedürfnisse dieser postmaterialistisch und autonomieorientiert gesonnenen Werteeliten und Milieus aufzugreifen, ist verschiedentlich hingewiesen worden.27 Gegentrends dürfen dabei jedoch nicht übersehen werden. Die Konfessionskirchen haben die Modernisierung nicht auf ganzer Linie nur erlitten, sie haben sich in manchen Bereichen auch produktiv mit ihr auseinandergesetzt und ihre Angebote (etwa im Bereich von Seelsorge und Diakonie) modernisiert, professionalisiert und ausdifferenziert.28 Angesichts der Entkirchlichung schon von einem Bankrott des kirchlichen Christentums zu sprechen, wäre vorschnell. Die Kirchen spielen nach wie vor eine wichtige Rolle auf dem religiösen Feld. Diese hat sich jedoch stark verändert. Dabei ist neben dem Monopolverlust auch die fortschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft ein wesentlicher Faktor.29 Die funktionale Ausdifferenzierung hat zunächst zur Folge, dass die einzelnen 24 Kirchenamt des Rates der EKD (Hg.), Christsein gestalten. Eine Studie zum Weg der Kirche, Gütersloh 1986, 21. 25 Vgl. Andreas Feige, Kirchenmitgliedschaft in der Bundesrepublik Deutschland: Zentrale Perspektiven empirischer Forschungsarbeit im problemgeschichtlichen Kontext der deutschen Religions- und Kirchensoziologie nach 1945, Gütersloh 1990, 229f. 26 Knoblauch, Religionssoziologie, 90f. 27 Vgl. vor allem: Volker Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994. 28 Ebertz, Forschungsbericht, 294f. 29 Vgl. Ebertz, Forschungsbericht, 281–285; Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Quaestiones disputatae 141, Freiburg/Basel/Wien 1992, 130–133; Franz-Xaver Kaufmann, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989.

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gesellschaftlichen Systeme weniger verschränkt sind, ja sich weitgehend indifferent zueinander verhalten. Wie sehr das traditionelle Religionssystem im Zuge dieser Entwicklung zum Sondersystem geworden ist und wie sehr sein Einfluss auf andere Systeme und Lebensbereiche abgenommen hat, zeigt ein Blick auf das Familienleben, das früher noch stark von kirchlichen Sozialisationsimpulsen und Wertvorstellungen mitgeprägt war. Heute hingegen folgt es seiner Eigenlogik und Familienreligiosität baut sich je unterschiedlich auf oder findet eben gar nicht statt.30 2.1.2 Die Renaissance des Religiösen Das von manchen vorausgesagte Ende von Religion ist mit dem Bedeutungsverlust der religiösen Institutionen und Traditionen jedoch keineswegs gekommen. Denn die Krise der Kirchen geht einher mit einer vielfältigen Wiederkehr des Religiösen außerhalb der Kirchenmauern.31 Dieses neuerwachte Interesse an Religion steht im Kontext eines allgemeinen Interesses am „Anderen der Vernunft“ (Böhme/Böhme). Die Dominanz technischer und ökonomischer Rationalität erzeugt ein Bedürfnis nach nichtinstrumentellen Weltsichten. Diese werden jedoch nicht in den Großkirchen gesucht. Kirche und Religion fallen zunehmend auseinander.32 Dies spiegelt sich auch auf der Ebene der religionssoziologischen Theoriebildung wider. Hier ist vor allem Thomas Luckmann zu nennen, der die moderne Unterscheidung von Religion und Kirche in dezidierter Weise weiterentwickelt und akzentuiert hat. Mit seinen bereits 1963 erstmals formulierten Thesen von der „unsichtbaren Religion“ und der Religion als anthropologischer Konstante gab er der religionssoziologischen Wahrnehmung des religiösen Wandels neue Impul30 Vgl. Michael N. Ebertz, Heilige Familie? Die Herausbildung einer anderen Familienreligiosität, in: Deutsches Jugendinstitut (Hg.), Wie geht’s der Familie? München 1988, 403–414. 31 Vgl. Karl Gabriel, Gesellschaft im Umbruch – Wandel des Religiösen, in: Hans-Joachim Höhn (Hg.), Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, 31–49, 38ff; Volker Drehsen, Rehabilitierung der Religion? Zur Neuinterpretation religiöser Bedürftigkeiten in der Gegenwart, in: ders., Volkskirche, 121–146. 32 Wilhelm Gräb weist unter Bezugnahme auf Ernst Troeltsch auf den neuzeitlichen Horizont des Auseinanderfallens von Religion und Kirche hin – es handelt sich mithin um ein Phänomen mit einer längeren Vorgeschichte, das sich in der Postmoderne allenfalls zuspitzt: „Dass Religion und Kirche auseinandergefallen sind, sie aber gleichwohl aufeinander angewiesen bleiben, hat bereits Ernst Troeltsch als prägende Signatur der Religionsgeschichte des Christentums in der Neuzeit kenntlich gemacht. Es gehörte für ihn zur Umformung des Christentums in den Folgen der Aufklärung entscheidend eben dies, dass sich eine individualisierte Form der gelebten Religion zunehmend außerhalb der Kirchen aufgebaut hat, ohne dass damit die Kirchen überflüssig geworden oder auch nur diese individualisierte Religionsform in gänzlicher Unabhängigkeit von ihnen zu existieren in der Lage wäre.“ Ders., Lebensgeschichten, 80. Gräb macht in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam, dass die Ausbildung eines allgemeinen Religionsbegriffes im Zuge der Aufklärung die Beobachtung dieses Phänomens überhaupt erst ermöglichte.

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se.33 Die außerkirchliche Religionskultur und die Fragen der Umformung kirchlich institutionalisierter Religion kamen dadurch stärker in den Blick. Auf der Basis seines weiten funktionalen Religionsbegriffes erscheint Luckmann die Säkularisierungsthese als ein moderner Mythos.34 Religion – von Luckmann verstanden als Vergesellschaftung sinnvermittelnder Transzendenzerfahrungen – löst sich nicht mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des kirchlichen Christentums auf, sie wandelt vielmehr nur ihre Form. Aus der institutionell und öffentlich verankerten Religion, der deutlich sichtbaren Religion, wird deinstitutionalisierte und privatisierte Religion: unsichtbare Religion. Da der Mensch per se religiös ist, kann nur die Gesellschaft, nicht aber das Individuum säkularisiert werden.35 Charakteristikum der Moderne ist die Tendenz des Religiösen, aus den Kirchen auszuwandern und sich in der Privatsphäre anzusiedeln. Nach der Auflösung des kirchlichen Religionsmonopols bildet sich ein Markt der Religionen außerhalb der Kirchen heraus. Das Spektrum der Angebote dieses Markplatzes ist, legt man Luckmanns weiten Religionsbegriff zugrunde, sehr breit: Es reicht von verschiedenen Spielarten des Buddhismus bis zur Scientology-Organisation, von der Esoterik bis zu den Spiritualitätsformen der Öko-, New Age- und Psychoszenen, von den sogenannten Neuen Religiösen Bewegungen über den Okkultismus und die charismatischen Bewegungen bis hin zum Sport, der Musik, den Medien und der Psychoanalyse.36 Vieldimensionale, hochindividualisierte und offene Formen stehen dabei eindimensionalen, geschlossenen Formen mit hohem Konformitätsdruck gegenüber. Im außerkirchlichen Bereich wiederholt sich das generelle Bild eines pluralen Konglomerates, zu dessen Bestandteilen auch der Fundamentalismus der Religionen und Sekten gehört.37 Einen starken Anteil hat der New Age-Komplex. Von 28 Prozent der deutschen Bevölkerung, die 1992 angaben, Erfahrungen mit außerchristlichen Religionspraktiken gemacht zu haben, sprachen sechs Prozent ausdrücklich vom New Age.38 Die unter dem Titel „New Age“ diskutierten Strömungen kamen in den 60er Jahren in den 33 In Deutschland wurden seine Thesen allerdings erst ab 1991 durch die Übersetzung von Hubert Knoblauch intensiver wahrgenommen, vgl. Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch, Frankfurt a.M. 1991. 34 Thomas Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn 1980, 161ff. 35 Ders., Lebenswelt, 172. 36 Vgl. Gabriel, Wandel, 38ff; Reinhard Hempelmann (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 2001; Willi Oelmüller (Hg.), Wiederkehr von Religion? Perspektiven, Argumente, Fragen, Kolloqium Religion und Philosophie Bd. 1, Paderborn/ München/Wien/Zürich, 1984. 37 Vgl. Gottfried Küenzlen, Religiöser Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne? In: Höhn, Krise, 50–71. 38 Detlev Pollack, Individualisierung statt Säkularisierung? in: Karl Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung? Gütersloh 1996, 57–85.

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USA auf und fanden erst in den 80ern – vor allem durch Übersetzungen – Eingang in die deutschsprachige religionskulturelle Szene.39 Die Vorstellung des „New Age“ im engeren Sinne basiert auf astrologischen Lehren, denen zufolge alle 2000 Jahre ein neues Zeitalter beginnt. Heute befinde sich die Menschheit auf der Schwelle zum Wassermann-Zeitalter, welches das konfliktreiche Fische-Zeitalter ablöse. Im Mittelpunkt des New AgeDenkens steht die Entwicklung eines neuen Bewusstseins, das sich im Einklang mit der Natur und dem Kosmos weiß.40 So sehr sich einige gemeinsame Linie ausmachen lassen, die den Titel New Age rechtfertigen, so deutlich muss zugleich gesehen werden, dass auch der New Age-Komplex aus einer pluralen Mischung verwandter und doch in Einzelfragen zum Teil sehr differenter Strömungen besteht. 2.1.3 Die Individualisierung und Privatisierung des Religiösen Beschreibt die plurale Renaissance des Religiösen im außerkirchlichen Bereich einen wesentlichen Aspekt der kulturellen Außenseite des religiösen Wandelns, so spiegelt die Individualisierung und Subjektivierung/ Privatisierung des Religiösen die subjektive Innenseite dieses Prozesses wider – oder jedenfalls einen Teil davon. Die religionssoziologische Diskussion dieser Zusammenhänge knüpft dabei an die soziologische Individualisierungsdebatte41 an und hebt hervor, dass der Einzelne sich seine Religion aus verschiedenen Elementen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Traditionen und Sinnangebote zusammensetzt. Karl Gabriel resümiert: Das einst von einem Monopolanbieter beherrschte religiöse Feld wandelt sich hin zu einer Struktur, in der sich die Einzelnen ihre Religion selbst zusammenbasteln. Je nach Alter, Milieueinbindung und Beeinflussung durch modernisierte Lebensstile variiert das Muster der ‚Bricolage‘. Der religiöse ‚Flickenteppich‘ der Älteren zeigt trotz unübersehbarer Phänomene der Auswahl nach wie vor eine große Nähe zum überkommenen religiösen Modell. Mit einer deutlichen Grenze um das 45. Lebensjahr herum nehmen zu den jüngeren Jahrgängen hin die eigengewirkten Anteile zu. Den Extrempol in dieser Richtung bilden Jugendliche aus der Okkultszene mit einer ausgeprägten ‚Sinn-Bricolage‘ und der Suche nach dem ‚Okkult-Thrill‘ mit hoher Erlebnisintensität.42

39 Knoblauch, Religionssoziologie, 178ff. 40 Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, und: Gottfried Küenzlen, Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, 250–260. 41 Die soziologische Individualisierungsthese wurde erstmals 1986 von Ulrich Beck dargelegt, vgl. ders., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 42 Gabriel, Wandel, 39.

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Ein im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung zum Thema Jugend und Religion befragter Jugendlicher bestätigt diese theoretische Beschreibung: „Ich hab mir meine eigene Religion zusammengezimmert [...]. Denn: wenn du überall ’n bisschen Wahrheit rausnimmst, dann hast du die absolute Wahrheit – nämlich deine Wahrheit.“43 Das Ergebnis kann auch Versatzstücke der christlichen Tradition enthalten. Ein im Zuge der EKD-Studien „Fremde Heimat Kirche“ Befragter gibt zu Protokoll: „Ich habe meine eigene Weltanschauung, in der auch Elemente des christlichen Glaubens enthalten sind.“44 Die persönliche Auswahl und Komposition religiös-weltanschaulicher Orientierungen ist dabei nicht zuletzt von ästhetischen Kriterien und Kategorien mitbestimmt.45 Der „expressive Individualismus“ – so die ausdrucksbezogene Akzentuierung der Individualisierungsdiagnose durch Charles Taylor – hat auch die Religion erfasst: Authentizität ist dabei ebenso wichtig wie individueller Ausdruck und Stil.46 In jüngerer Zeit haben Detlev Pollack und Gert Pickel die religionssoziologische Individualisierungsthese einer genaueren Analyse unterzogen.47 Sie sind der Frage nachgegangen, ob die generelle Individualisierung mit einer Hinwendung zu außerkirchlichen Religionsformen einhergeht, ob also Individualisierung im Blick auf Religion nur eine Umformung individueller Religiosität bedeutet, nicht aber den Abschied vom Religiösen überhaupt. Die Autoren bestimmen zunächst Individualisierung als einen „Prozess der zunehmenden Selbstbestimmung des Individuums und seiner gleichzeitig abnehmenden Fremdbestimmung durch äußere gesellschaftliche Faktoren“.48 Mindestvoraussetzung sei die Vervielfältigung von wählbaren Optionen, im Blick auf die Religion also (die oben beschriebene) religionskulturelle Pluralisierung. Aufgrund empirischen Materials kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass „Individualisierungsprozesse in der modernen Gesellschaft Westdeutschlands zu einer Abkehr von Religion schlechthin (führen), denn diejenigen, die Individualisierungsitems am stärksten bejahen, stehen zugleich in einer charakteristischen Distanz zu Religion und Kirche in allen ihren Formen. Die insofern Individualisierten sind also auch die Areligiösen und kirchlich Distanzierten.“49 Die landläufige These, dass die Abwendung von der kirchlichen Religionskultur im Zuge fortschreitender Individualisierung gleichsam automatisch mit einer Hinwendung zu 43 Zit.n.: Heiner Barz, Meine Religion mach ich mir selbst! in: Psychologie heute 22, Heft 7, 1995, 20–27, 25. 44 EKD (Hg.), Fremde Heimat Kirche. Ansichten ihrer Mitglieder, Hannover 1993, 13. 45 Vgl. Ebertz, Forschungsbericht, 289f. 46 Vgl. Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002. 47 Pollack/Pickel, Individualisierung, 465–483. 48 Pollack/Pickel, Individualisierung, 467. 49 Pollack/Pickel, Individulisierung, 480f.

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außerkirchlichen Religionsformen verbunden sei, wird damit bestritten. Diese These müsse modifiziert werden. Nicht bestritten wird die Pluralisierung des religiösen Feldes außerhalb der Kirchen. Diese werde jedoch nur von einer Minderheit im Sinne eines individuellen Samplings von Religiosität wahrgenommen. Vorherrschend sei eine Abkehr von allen Formen von Religion. Kritisch anzumerken ist bei der ansonsten sehr soliden Studie die Analyse der Dimension der außerkirchlichen Religiosität. Die Autoren räumen hier selbst ein, dass mit der auf der Basis der verfügbaren Datensätze vorgenommenen Operationalisierung außerkirchlicher Religiosität „vor allem Okkultismus und Magie abgebildet werden, nicht aber neuere religiöse Vorstellungen und Praktiken wie New Age, Zen-Meditation, Anthroposophie, Bachblüten-Therapie, Edelsteinmedizin, Farbtherapie usw“.50 Aufgrund des vorhandenen empirischen Materials wurde der Bereich der außerkirchlichen Religiosität nur mit Aussagen zum Glauben an Wunderheiler, Glücksbringer und astrologische Lehren abgedeckt. Dies ist natürlich, gerade wenn man von einem weiten funktionalen Begriff von Religion im Sinne Luckmanns ausgeht, nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem Feld außerkirchlicher Religiosität. Die religiösen Funktionen der Medienkultur werden hier ebenso wenig erfasst wie das ganze Spektrum nichtchristlicher Religionen. Hinsichtlich der Ergebnisse sind somit gewisse Vorbehalte angebracht. Die Rezeption der außerkirchlichen Religion müsste noch genauer untersucht werden. Zu fragen wäre unter anderem, wie die unsichtbare Religion der Medien wahrgenommen wird und in welchem Verhältnis ihre Rezeption zu den Individualisierungsitems steht. Ob Individualisierung tatsächlich zur Abkehr von Religion auf der ganzen Linie führt, ist einmal mehr und nicht zuletzt eine Frage des Religionsbegriffes. Von seiner Bestimmung ist dann auch abhängig, was unter Areligiosität verstanden werden soll. Diese Frage führt auf den letzten Aspekt des religionskulturellen Wandels, der im Rahmen dieser Skizze hervorgehoben werden soll: auf die Dispersion des Religiösen. 2.1.4 Die Transformation und Dispersion des Religiösen51 Franz-Xaver Kaufmann hat darauf hingewiesen, dass Funktionen, die lange Zeit von der traditionellen christlichen Religionskultur erfüllt wurden, „heute zumindest teilweise“ von Instanzen bedient werden, „die im landläufigen Sinne nicht als religiös gelten“.52 Lebensberatung, Kontingenzbewältigung und Sinnvermittlung werden heute in großem Umfang von der Therapie50 Pollack/Pickel, Individulisierung, 471f. 51 Vgl. Ebertz, Forschungsbericht, 297. 52 Kaufmann, Religion und Modernität, 71, 86.

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und Medienkultur geleistet. Wilhelm Gräbs Diagnose unterstreicht diesen Befund: „Die Stiftung von Sinnzuschreibungen, die Kontingenz aushalten helfen, hat in der Moderne westlicher Gesellschaften eine plurale Gestalt angenommen.“53 Nach Gräb könnten kulturelle Deutungsangebote als „gelebte Religion“ angesehen werden, „wenn sie die Lebensansicht der Menschen im Sinne des subjektiv-plausiblen Entwerfens von Sinn im eigenen Dasein generieren“.54 Hier befindet man sich wieder auf der Spur des religionsbegrifflichen Problems, an dieser Stelle in Form der Frage nach der Abgrenzung von Religion und Kultur. Wie lassen sich explizite Religion, unsichtbare Religion und Kultur unterscheiden? Generell wird man sich in diesem Problemzusammenhang wohl mit der Perspektivität von Religionstheorien und den aus ihnen folgenden Beschreibungen anfreunden müssen. In der Konsequenz können Selbstbeschreibungen von Autoren kultureller Produkte und Fremdbeschreibungen von Wissenschaftlern erheblich differieren. Ein Film, der für einen Filmregisseur nichts mit Religion zu tun haben mag, kann aus religionshermeneutischer Sicht von Religion durchdrungen sein und als Medienreligion interpretiert werden. Ebenso hängt es von der religionstheoretischen Optik ab, ob man den religionskulturellen Wandel und insbesondere die von Luckmann beschriebene Verwandlung expliziter in implizite Religion als Dispersion oder Transformation deutet, mit anderen Worten: ob man die Kontinuitäts- oder Differenzmomente in diesem Wandel betont. Im Blick auf die Charakterisierung der Rezipienten der unsichtbaren Religion von Kunst, Kultur und Medienkultur hat Andreas Mertin einen wichtigen Hinweis gegeben: Er hat eine signifikante Konvergenz von Kirchendistanz und Kunstinteresse festgestellt.55 Diese Beobachtung passt zu dem Ergebnis der oben zitierten Studie von Detlev Pollack und Gert Pickel, nach der Individualisierung mit einer Distanz zu allen Formen von Religion einhergeht – so weit sie von der Studie erfasst wurden. Da die Studie die unsichtbare Religion von Kultur und Medienkultur nicht berücksichtigen konnte, bleibt hier ein potentielles religiöses Betätigungsfeld für die Individualisierten bestehen. Zur Klärung der Frage, inwieweit das, was werkhermeneutisch als Medienreligion identifiziert werden kann, sich auch in der Rezeption als religionsproduktiv erweist, können, so ist zu hoffen, die qualitativen Interviews dieser Studie beitragen. Ich breche diese Skizze an dieser Stelle ab, um zunächst auf die schon mehrfach berührte Frage des Religionsbegriffes einzugehen und die Beschreibung der religionskulturellen Lage daraufhin noch einmal unter den auf die Fragestellung der Arbeit hin zugespitzten Aspekten der individuel53 Gräb, Lebensgeschichten, 88. 54 Gräb, Lebensgeschichten, 89. 55 Andreas Mertin, Ars ante portas? Skeptische Erwägungen zur Kunstvermittlung in der Kirche, in: kunst und kirche, Heft 3, 1991, 190–194.

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len Biographie, der medienkulturellen Entwicklung – hier wird auch das Phänomen der Medienreligiosität ausführlicher zur Sprache kommen – und der religiösen Identitätsbildung fortzusetzen.

2.2 Religionstheorie Die wesentlichen Theorieoptionen scheinen mir durchgespielt, der Religionsbegriff ist jedoch nach wie vor umstritten.56 Eine transdisziplinär konsensfähige Definition ist nicht in Sicht. Man muss sich also positionieren, wenn man nicht, wie es manche fordern, ganz auf den Begriff verzichten will. Ich will versuchen, Schwerpunkte der aktuellen Diskussionslage zu beschreiben, um vor diesem Hintergrund dann eine für die vorliegende Untersuchung geeignete Perspektive zu formulieren. Die aktuelle Diskussionslage ist aus der von Emmanuel Hirsch erstmals pointiert beschriebenen Umformungskrise des Christentums in der Neuzeit hervorgegangen.57 Die Dissonanzen zwischen dem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein und der traditionellen Dogmatik hatten zunächst vor allem drei Konsequenzen: 1. die Unterscheidung der Begriffe Theologie, Kirche und Religion. 2. die Herausbildung und Zentralstellung eines allgemeinen Begriffes der Religion. 3. das Verständnis von Religion als Produkt menschlicher Selbst- und Weltdeutung.58 In der Folge der Subjektivierung des Religionsthemas schwand die Bedeutung der traditionellen Dogmatik innerhalb der protestantischen Theologie und Fragen der Ethik und der Lebensführung traten in den Vordergrund. Programmatisch formuliert findet sich diese ethisch-religiöse Neuausrichtung der protestantischen Theologie bei Friedrich Schleiermacher.59 Die Kirche ist in seinem Verständnis 56 Vgl. u.a. Ernst Feil (Hg.), Streitfall „Religion“. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffes, Münster/Hamburg/London 2000; Detlev Pollack, Was ist Religion? Probleme der Definition, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, Nr. 3, 1995, 163–190; die Komplexität des Phänomens in Geschichte und Gegenwart arbeitet heraus: Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986. 57 Vgl. Emmanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 5 Bd., Gütersloh ³1964; zur Rekonstruktion des religionstheoretischen Diskurses seit Kant vgl. u.a. Ulrich Barth, Religion oder Gott? Die religionstheoretische Bedeutung von Kants Destruktion der spekulativen Theologie, in: Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.), Gott im Selbstbewusstsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 11–34; zur Umformungsthematik auch Falk Wagner, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999; Ulrich Barth, Säkularisierung und Moderne. Die soziokulturelle Transformation der Religion, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 127–165. 58 Ich folge hier der Einschätzung von Wilhelm Gräb, Sinn, 44f. Zur Ausdifferenzierung von Religion und Kirche unter Bezugnahme auf Ernst Troeltsch auch Gräb, Lebensgeschichten, 80. 59 Vgl. Friedrich D.E. Schleiermacher, Praktische Theologie. Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermachers

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der Kommunikationsraum, der den Austausch über die handlungsleitenden Sinnhorizonte des Christentums ermöglicht und fördert, Praktische Theologie die Theorie der Gestaltung dieses Kommunikationsraumes, der religiösen Praxis und ihrer Bedingungen. Mit den Prozessen der Umformung, Vervielfältigung und Ausdifferenzierung der christlichen Religionskultur im Zuge der modernen und später postmodernen soziokulturellen Prozesse des Traditionsabbruches, der Pluralisierung und Individualisierung hat sich dieser Kommunikationsraum des Religiösen radikal erweitert. Im Ergebnis werden heute – wie oben ausgeführt – ehemals vor allem in den kirchlichreligiösen Traditionen beheimatete Fragen von Ethik und Religion auch im New Age, in der Esoterik, in der Psychotherapie, in der Kultur und in den Medien verhandelt. Diese Prozesse der Transformation, Ausdifferenzierung und Variation bilden eine beständige religionstheoretische Herausforderung. Was ist Religion? Wie lässt sich das Phänomen ‚Religion‘ theoretisch so beschreiben, dass diese Beschreibung der Wahrnehmung und Orientierung der religiösen Praxis dient? In welchem Verhältnis stehen die Transformationsgestalten der christlichen Religionskultur zu ihren überkommenen Gestalten? Am präsentesten scheinen mir diese Fragestellungen gegenwärtig – mit unterschiedlichen Akzenten – in der Religionssoziologie und in der kulturprotestantisch orientierten Praktischen Theologie. Aber auch in der Systematischen Theologie haben religionstheoretische Fragen schon seit einiger Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit gefunden.60 Im Folgenden will ich zunächst die religionssoziologische und dann die theologische Diskussionslage anhand von jeweils vier aktuellen Positionen skizzieren, die mir das jeweilige Spektrum abzustecken scheinen. Dabei wird sich zeigen, dass die prominentesten Bestimmungen in den genannten Feldern so stark nicht differieren. So gehört etwa zu ihren Gemeinsamkeiten, das lässt sich an dieser Stelle schon vermerken, dass sie den Religionsbegriff sinntheoretisch fassen: Religion wird als kulturelle Sinndimension verstanden.

handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs, in: SW I, 13, Berlin/New York 1983; vgl. dazu auch Wilhelm Gräb, Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung: Friedrich Schleiermacher, in: Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck (Hg.), Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, 67–110. 60 Vgl. v.a. Ulrich Barth, Religion in der Moderne; Falk Wagner, Metamorphosen; Dietrich Korsch, Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende, Tübingen 1997.

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2.2.1 Religionssoziologische Konzepte: Transzendenz, Kontingenz, Diskursivität Im religionssoziologischen Diskurs lassen sich wissenssoziologische (Berger, Luckmann) und systemtheoretische (Luhmann) Zugänge unterscheiden. Der auch praktisch-theologisch einflussreichste wissenssoziologisch orientierte Autor ist Thomas Luckmann. Steht bei ihm die Funktion der Religion für das Individuum im Mittelpunkt, so betont Luhmanns systemtheoretischer Entwurf die gesellschaftliche Funktion der Religion. Gegenüber diesen weiten funktionalen Sichtweisen versucht Detlev Pollack, dem Religionsbegriff durch eine Kombination von funktionalen und substantiellen Aspekten noch deutlichere Konturen zu geben. In die entgegengesetzte Richtung denkt Joachim Matthes: Statt Näherbestimmung plädiert er für eine Verflüssigung ins Diskursive. 2.2.1.1 Thomas Luckmanns Konzept der unsichtbaren Religion Weiter als in Thomas Luckmanns Konzept der unsichtbaren Religion lässt sich der Begriff der Religion kaum fassen.61 In dieser weiten funktionalen Bestimmung liegt auch Luckmanns Kritik an der Säkularisierungsthese begründet.62 Was andere als Säkularisierung interpretieren, deutet Luckmann als Umformung. Der Bedeutungsverlust des kirchlichen Christentums ist nur die eine Seite des Prozesses. Auszugehen ist vielmehr von einer Metamorphose des Religiösen, die darin besteht, dass sich institutionell und öffentlich sichtbar verankerte Religion in deinstitutionalisierte und privatisierte Religion verwandelt: in unsichtbare Religion. Da Religiosität für Luckmann ein Grunddatum menschlicher Existenz darstellt, kann sie sich gar nicht auflösen, sie kann allenfalls ihre Form wandeln. Luckmann schreibt: „Ich gehe davon aus, dass das menschliche Leben im Unterschied zu den Lebensformen anderer Gattungen durch eine grundlegende Religiosität gekennzeichnet ist, nämlich durch Einbindung der Individuen der Gattung in sinnhaft geschichtliche Welten.“63 Luckmann kann darum auch sagen, „dass Religion etwas allgemein Menschliches ist: das, was Menschen in ihrer Gesellschaftlichkeit zu Menschen macht“.64 Religion ist für Luckmann unmittelbar mit dem Sozialen und insbesondere mit der Frage der Identitätsbildung verknüpft. So kann er auch „den Vorgang, der zur Herausbildung eines Selbst führt, religiös nennen“.65 61 Luckmann, Religion. 62 Ders., Lebenswelt, 161ff. 63 Ders., Religion – Gesellschaft – Transzendenz, in: Höhn (Hg.), Krise, 112–127, 113. 64 Ders., Die ‚massenkulturelle‘ Sozialform der Religion, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen 1988, 37–48, 39. 65 Ders., Religion, 86.

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Grundlegend für diesen Vorgang und damit für alle Formen von Religion ist die Fähigkeit des Menschen zur Transzendierung seiner biologischen Natur. Diese Fähigkeit wird in sozialen Interaktionen ausgebildet. In ihnen lernt der Mensch, sich von seiner unmittelbaren Erfahrung abzulösen und sich in einem übergeordneten Sinnzusammenhang zu begreifen.66 Diese der individuellen Erfahrung vorausliegende und gleichwohl soziokulturell konstruierte Sinnstruktur nennt Luckmann eine „Weltansicht“.67 Sie gilt ihm als „grundlegende Sozialform der Religion“.68 In der Sozialisation werden Weltansichten individuell angeeignet. Vermittels dieser Integration des einzelnen in kulturelle Sinnwelten kommt es zur Ausbildung von Identität und im Zusammenhang damit von Gewissen. Das Verhältnis von objektiver Weltansicht und persönlicher Identität kann darum in religionstheoretischer Terminologie auch als das Verhältnis von kultureller Religion und individueller Religiosität beschrieben werden. Religion ist dabei verstanden als kulturelles Sinnsystem, Religiosität als das Verhältnis des Einzelnen zu diesen Sinnvorgaben. Religion ist eine soziokulturelle Kategorie, Religiosität eine individuelle. Religiosität kann Luckmann auch als „individuelles System ‚letzter‘ Relevanzen“ fassen, das die „Grundlage der persönlichen Identität bildet“.69 Gegenüber diesem weiten Religionsbegriff unterscheidet Luckmann einen engeren Begriff: „Man kann die Einbindung des einzelnen in die sinnhafte Tradition einer konkreten Gesellschaftsordnung als einen – wohl im weitesten Sinne des Wortes religiösen Vorgang bezeichnen. In einem engeren Sinne religiös ist die Ausrichtung der Erfahrung und des Handelns – des Lebens insgesamt – am religiösen Kern einer Weltsicht. Der engere und der weitere Sinn sind aufeinander bezogen.“70 Innerhalb einer Weltansicht (oder synonym: Weltsicht) kann sich ein Bereich herausbilden, der im engeren Sinne religiös genannt werden kann und der die Strukturen der jeweiligen Weltansicht noch einmal mit Hilfe spezifisch religiöser Sprachen, Riten und Ikonen verdichtet und repräsentiert. Diesen Sinnbereich nennt Luckmann auch „Heiligen Kosmos“.71 Im Gegensatz zur Weltansicht handelt es sich beim Heiligen Kosmos um die spezifische, historische Sozialform der Religion wie sie zum Beispiel von den christlichen Kirchen repräsentiert wird. Differenziert Luckmann in soziokultureller Hinsicht zwischen Weltansicht und Heiligem Kosmos, so unterscheidet er im Blick auf das Subjekt 66 Ders., Religion, 82–86. 67 Ders., Religion, 89ff. 68 Ders., Religion, 90. 69 Ders., Religion, 118. 70 Ders., Religion – Gesellschaft – Transzendenz, 114. 71 Ders., Religion, 96ff.

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zwischen unterschiedlichen Graden von Transzendenz. Transzendenz ist dabei zunächst eine allgemeinmenschliche Erfahrung: „Die Welt wird als eine Wirklichkeit erfahren, die uns transzendiert.“72 Transzendenz ist in jeder Erfahrung präsent, insofern jede Erfahrung als Welterfahrung über sich hinausweist. Luckmann unterscheidet nun drei Arten von Transzendenzerfahrungen.73 Sie bemessen sich nach dem Grad der Anwesenheit respektive Abwesenheit des Transzendenten, auf das in der Erfahrung verwiesen wird. Ist etwas nur als Verweis anwesend, spricht Luckmann von „großer“ Transzendenz. Die Alltagserfahrung ist hingegen von „kleineren“ und „mittleren“ Transzendenzen geprägt. Vor diesem Hintergrund kann Luckmann Religion auch als die „kommunikative Vergesellschaftung von Transzendenzerfahrungen“ beschreiben.74 In den Heiligen Kosmen geht es vor allem um die Vergesellschaftung von Erfahrungen großer Transzendenzen, um Erfahrungen also, die aus der Alltagserfahrung herausfallen. Diese Form von Religion, die in archaischen und traditionellen Gesellschaften noch fest verankert war, löst sich heute – so Luckmanns schon eingangs referierte Diagnose – zugunsten neuer, unsichtbarer Formen von Religion auf. Diese Formen sind in der Privatsphäre angesiedelt und folgen der Logik des Marktes. In der Konsequenz dieser Prozesse beobachtet Luckmann eine Sakralisierung des Individuums: „Nichts wird in der modernen Kultur so durchgängig zelebriert wie das schein-autonome Subjekt.“75 2.2.1.2 Niklas Luhmann: Religion als Funktion der Gesellschaft Luhmann bestimmt Religion ebenfalls funktional.76 Doch seine Bestimmung setzt etwas andere Akzente als die Luckmanns. Er sieht Religion auf ein spezifisches Problem gesellschaftlicher Kommunikation bezogen: auf das Problem der Kontingenz. Dieses Problem bearbeitet die Religion auf der Ebene des Sozialen: „Religion löst nicht spezifische Probleme des Individuums, sondern erfüllt eine gesellschaftliche Funktion. [...] Für individuelle Menschen ist sie entbehrlich, nicht jedoch für das Kommunikationssystem Gesellschaft.“77 Die unbestimmte Offenheit der Horizonte der sozialen Welt wird von der Religion in Bestimmtheit überführt.78 Das unbestimmbare Vonwoher der Unberechenbarkeit von wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Krisen 72 Ders., Religion, 117. 73 Ders., Religion, 164ff. 74 Ders., Religion – Gesellschaft – Transzendenz, 120ff. 75 Ders., Religion, 181. 76 Niklas Luhmann, Die Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977. 77 Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989, 349f. 78 Ders., Funktion, 26, 46.

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wird durch die Chiffrierung mittels religiöser Termini wie Gott, Jenseits oder Transzendenz in Bestimmtheit transformiert. Dies leistet ein klar von den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft abgegrenztes Religionssystem, dessen Kommunikation durch den Code Transzendenz/Immanenz ausgezeichnet ist. Es hat über diese Spezifikation hinaus noch vielerlei andere Funktionen mitzuerfüllen. Luhmann nennt hier vor allem Diakonie und Seelsorge als Leistungen gegenüber anderen gesellschaftlichen Subsystemen bzw. gegenüber dem personalen System. Diakonie und Seelsorge erbringen Lösungen von Problemen, die in andern Teilsystemen der Gesellschaft erzeugt werden. Die Entwicklung des Religionssystems in der spätmodernen Gesellschaft sieht Luhmann ähnlich wie Luckmann durch einen stetigen Bedeutungsverlust gekennzeichnet. In späteren Arbeiten hat Luhmann eingeräumt, dass es „verschiedene funktional äquivalente Möglichkeiten der Lösung des Bezugsproblems der Religion“ gibt.79 Zur Kennzeichnung des Religionssystems sei darum zusätzlich auf den spezifischen Code seiner Kommunikationen zu verweisen, auf die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Detlev Pollack hat diese Korrektur Luhmanns unterstrichen und erweitert, indem er hervorgehoben hat, dass das Gesellschaftssystem durchaus in der Lage sei, „auch unter offen gelassenen Abschlussproblemen zu operieren“.80 Das Bezugsproblem der Religion bestehe fort, seine Lösung bedürfe aber offensichtlich nicht zwingend explizit religiöser Unterstützung. In der aus dem Nachlass herausgegebenen Monographie „Die Religion der Gesellschaft“ akzentuiert Luhmann seine Sichtweise in sinntheoretischer Hinsicht.81 Luhmann hebt darin noch einmal besonders hervor, dass Religion die blinden Flecken und offenen Enden unserer gesellschaftlichen Sinnproduktionen bearbeitet, dasjenige, was im Prozess des ständigen Unterscheidens und Beobachtens zwangsläufig ausgeblendet bleibt, nicht beobachtet werden kann. Luhmann formuliert: „Sinnformen werden als religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür eine Form findet.“82 Religion findet eine Form für das Ausgeschlossene und für die Einheit der Unterscheidung, indem sie sich auf Transzendenz bezieht. Eine Kommunikation ist nach Luhmann immer dann als religiös anzusehen, „wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet“.83 Deutlich wird 79 Ders., „Die Unterscheidung Gottes“, in: ders., Soziologische Aufklärung 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, 236–253, 237. 80 Detlev Pollack, Möglichkeiten und Grenzen einer funktionalen Religionsanalyse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39, 1991, 957–975, 969f. 81 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000. 82 Ders., Religion, 14f. 83 Ders., Religion, 77.

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in diesem Horizont die Kontingenz immanenten Geschehens. Im Blick auf die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz führt Luhmann aus: „Dabei steht Immanenz für den positiven Wert, für den Wert, der Anschlussfähigkeit für psychische und kommunikative Operationen bereitstellt, und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann.“84 Auf diese Kontingenz antworteten Religionen in der Regel mit der Idee eines personalen Gottes. Sie verknüpfen dabei den Code transzendent/ immanent zugleich mit moralischen Wertungen: „Die transzendente Seite des Codes wird entsprechend personalisiert, so dass man begreifen kann, dass Gott (oder der im Götterbereich dominierende Gott) das Gute will.“85 2.2.1.3 Detlev Pollack: Die Verbindung funktionaler und substantieller Aspekte Detlev Pollack hat seinen Vorschlag zur Bestimmung des Religionsbegriffs 1995 vorgelegt.86 Er ist sich der Probleme einer allgemeingültigen Religionsdefinition bewusst, will aber doch „den Entwurf einer Hypothese“ vorlegen, „mit der sich empirisch und historisch arbeiten lässt und die einen Fortschritt auf dem Weg zur Bildung eines universalen Religionsbegriffes darstellt“.87 So eine Hypothese könne helfen, den Gegenstandsbereich und den Zusammenhang der Religionswissenschaften besser abzugrenzen und zu verdeutlichen. Darüber hinaus könne sie Arbeitshypothesen und Fragestellungen im Blick auf die empirische Religionsforschung anregen. Im Folgenden resümiert Pollack die bisherigen philosophischen, substantiellen, hermeneutischen und erklärenden Ansätze der Begriffsbestimmung, um vier Anforderungen herauszuarbeiten, die an eine heutigen Ansprüchen genügende Religionsdefinition zu stellen seien. Diese müsse erstens so weit gefasst sein, dass nicht nur die historisch gewachsenen Religionen erfasst werden, sondern auch – in Pollacks Terminologie – „pseudoreligiöse Phänomene wie Astrologie, New Age, neue Innerlichkeit, Sinnsuche“.88 Zweitens müsse sie das Selbstverständnis der Religionen überschreiten, nicht ohne diese Eigenperspektive jedoch zu berücksichtigen. Es gehe mithin um eine Kombination von Innen- und Außenperspektive, die nur durch eine Kombination von funktionalen und substantiellen Elementen zu erreichen sei. Drittens müsse dem existenziellen Wahrheitsanspruch der Religionen Rechnung getragen werden. Viertens schließlich müsse der angestrebte 84 Ders., Religion, 77. 85 Ders., Religion, 97. 86 Ders., Religion, 163–190. 87 Ders., Religion, 165. 88 Ders., Religion, 182.

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Begriff von Religion sich als heuristische Hypothese verstehen, die sich empirisch überprüfen oder korrigieren lässt. Pollack will diesen Anforderungen insgesamt durch eine Kombination von funktionalen und substantiellen Aspekten entsprechen. Er führt aus: „Im Anschluss an die funktionale Analyse meine ich, dass sich religiöse Phänomene auf ein bestimmtes Problem beziehen lassen; im Anschluss an substantielle Religionsdefinitionen behaupte ich, dass Religionen gleichzeitig eine spezifische Art der Lösung dieses Problems bieten.“89 Als das religiöse Bezugsproblem identifiziert Pollack in Anknüpfung an einen recht breiten religionstheoretischen Konsens das Problem der Kontingenz.90 Der Sachverhalt, dass etwas so ist, aber auch anders sein könnte, dass ohne zwingende Notwendigkeit eine Auswahl aus Möglichkeiten stattgefunden hat, verlangt nach Sinnverstehen. Dieses Bezugsproblem stellt sich, so Pollack, universal, auf der gesellschaftlichen wie auf der individuellen Ebene. Im Blick auf Religion geht es Pollack jedoch nicht um einen philosophischen Universalbegriff von Kontingenz, sondern um die sozial oder individuell erfahrene Kontingenz, um die sinnverwirrende Durchbrechung des eingespielten Selbst- und Weltverhältnisses etwa. Pollack spricht im Blick auf das religiöse Bezugsproblem auch von der „Kontingenz- oder Sinnproblematik“.91 Auf dieses Problem gibt es nun verschiedene Antworten. Die Religion bietet nur eine unter anderen. Ihre Antwort zeichne sich dabei durch eine spezifische Form aus, die Pollack durch zwei Momente gekennzeichnet sieht: durch den „Akt der Überschreitung der verfügbaren Lebenswelt des Menschen“ auf der einen Seite und durch die „gleichzeitige Bezugnahme auf eben diese Lebenswelt“ auf der anderen Seite.92 Die eigentliche Bewältigung des Kontingenzproblems wird durch den transzendierenden Bezug zum Unerfassbaren geleistet. Dieses Jenseitige, Transzendente, Absolute muss jedoch mit dem Diesseitigen, Immanenten, Relativen verbunden werden. Die wesentlichen Mittel dieser Verknüpfung seien Mythos und Kult, aber auch religiöse Gemeinschaften, Handlungen, Orte, Zeichen und Bilder. „Genau diese Bindung an das empirisch Konkrete unterscheidet die Religion von allen Formen der Philosophie, mit der sie ansonsten viel gemeinsam hat.“93 Pollack unterscheidet also zwischen dem religiösen Bezugsproblem der Kontingenz- und Sinnfrage und den religiösen Lösungen, die durch eine Verbindung von Immanenz und Transzendenz ausgezeichnet sind. Mit der Problemstellung ist der funktionale Aspekt bisheriger Bestimmungen auf89 Ders., Religion, 183. 90 Ders., Religion, 184. 91 Ders., Religion, 185. 92 Ders., Religion, 185. 93 Ders., Religion, 186.

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genommen, mit der Beschreibung der Spezifik religiöser Lösung der substantielle. Die Charakterisierung der Struktur religiöser Antworten ist jedoch so allgemein gehalten, dass die Einengungen geläufiger substantieller Bestimmungen vermieden werden. Der Vorschlag ist in verschiedener Hinsicht flexibel: Er geht von einem universalen Problem aus, das sich je spezifisch stellt, eine religiöse Lösung haben kann, aber nicht haben muss. Religionsverwandte Phänomene lassen sich mit dem Begriff ebenso erfassen wie Areligiosität. 2.2.1.4 Joachim Matthes: Religion als diskursiver Tatbestand Joachim Matthes hat mehr Selbstreflexivität im Prozess religionssoziologischer Forschung angemahnt und vorschlagen, auf der Suche nach dem Religiösen innezuhalten und die Bedingungen und Umstände dieser Suche selbst zu thematisieren.94 Es gelte zu fragen, wer nach Religion sucht, auf welche Weise, mit welchem Interesse, unter welchen Umständen und mit welchem Ergebnis. Dabei werde deutlich, dass Religion kein substanzhafter Gegenstand ist, der wie ein seltener Schmetterling aufgefunden und identifiziert werden kann. Religion und Religiosität seien vielmehr „diskursive Tatbestände [...], die sich im gesellschaftlichen Diskurs (erst) konstituieren“.95 Die Hauptakteure dieses Diskurses sind, so Matthes, Theologen und Soziologen. Matthes stellt weiterhin fest, dass beide Gruppen von Diskursteilnehmern aus je unterschiedlicher Perspektive und Motivation zwei Diskurse konstituieren, die sich im Ergebnis überraschend ähnlich sind. Sowohl Theologie wie auch Soziologie beschreiben das Phänomen Religion, indem sie drei diskursive Teilwelten unterscheiden: „die institutionelle Welt der Kirchlichkeit, die Welt der arbiträren individuellen Glaubensvorstellungen und die Welt der unsichtbaren ‚Religion‘“.96 Problematisch ist dabei aus der Sicht von Matthes nur, dass die die Religion beforschenden Diskursteilnehmer ihren Gegenstand gerade nicht als diskursiv konstituiert auffassen, sondern vielmehr als substanzhaft gegeben und auf der Basis von Merkmalskonstellationen identifizierbar betrachten. Diese Perspektive verstelle gerade den Blick auf die Eigenart des Religiösen, seine Genese und seine Transformation im Wechselspiel seiner Teildiskurse, das Fließende und Diskursive seiner Phänomenalität. Dieser Diskursivität angemessener sei eine Vorstellung von Religion als „kultureller Programmatik“, die einen „Möglichkeitsraum“ absteckt.97

94 Joachim Matthes, Auf der Suche nach dem „Religiösen“. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologia Internationalis 30, 1992, 129–142. 95 Ders., Suche, 129. 96 Ders., Suche, 136. 97 Ders., Suche, 132.

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2.2.2 Theologische Konzepte: Gelebte Religion als Fokus des religionstheologischen Diskurses Begriffsbildungen sind immer kontextuell bezogen. Die bisher vorgestellten Bestimmungen stammten aus dem Bereich der Religionssoziologie, mithin aus dem außertheologischen Feld. Die damit verbundene Perspektive unterscheidet sich von der theologischen vor allem in einer Hinsicht: Blicken die Sozial- und Kulturwissenschaften von weiter außen auf das Phänomen Religion, so handelt es sich bei den theologischen Religionsbegriffen um Konzepte, die aus der Perspektive der theoretischen Selbstbeschreibung einer bestimmten Religion entworfen wurden: aus der Perspektive des Christentums. Innerhalb der Theologie existiert wiederum ein Spektrum an Bestimmungen von Religion, das im 20. Jahrhundert durch die Abgrenzung gegenüber dem Religiösen durch die Dialektische Theologie auf der einen Seite und die zentrale Stellung des Religionsbegriffes in der philosophischen Theologie Tillichs auf der anderen markiert wird. Unmittelbar verknüpft mit der Frage nach Religion ist dabei die Frage nach dem Verhältnis der Theologie zu der Kultur und Religionskultur ihrer Zeit. Wie ist die Stellung des Christentums als Religion unter Religionen zu denken? Gibt es religiöse Phänomene, die sich selbst nicht religiös verstehen, aber aus einer religionstheoretischen Perspektive mit guten Gründen als religiös interpretiert werden können? Wie ist das Verhältnis der Theologie zu ihrem kulturwissenschaftlichen und gegenwartskulturellen Umfeld zu bestimmen? In neuerer Zeit hat sich vor allem die Praktische Theologie mit solchen Fragestellungen auseinander gesetzt. Im Zuge ihrer empirisch-kulturhermeneutischen Neuorientierung hat sie sich sowohl gegenüber der empirischen Religionsforschung als auch gegenüber dem Feld der Gegenwartskultur stärker geöffnet. Diese Entwicklung reagiert auf den oben beschriebenen religionskulturellen Wandel. Die Notwendigkeit, neben der kirchlichen Religionspraxis auch die außerkirchliche stärker zu beachten, ist mit dem Monopolverlust des kirchlichen Christentums und der Ausdifferenzierung des religiösen Feldes außerhalb der kirchlichen Institutionen stärker in den Blick gekommen. Hinzu trat die Wahrnehmung einer mangelhaften Vernetzung mit den gegenwartskulturellen Diskursen, durch die die Theologie immer mehr in das Abseits der gegenwartskulturellen Bedeutungslosigkeit zu geraten schien. Das durch diese Herausforderungen neu erwachte Interesse an empirischer und kulturhermeneutischer Auseinandersetzung mit der gelebten Religion in Kirche und Gesellschaft hat auch die Frage nach dem Begriff der Religion zu neuer Geltung gebracht. Die Debatten der Religions- und Kultursoziologie wurden in diesem Zusammenhang ebenso aufgegriffen 45

wie religionsphilosophische und kulturwissenschaftliche Ansätze zur Bestimmung des Religionsbegriffes. Als ein gemeinsamer Nenner dieser Bemühungen hat sich in den letzten Jahren zunehmend der Begriff der „gelebten Religion“ etabliert. Er signalisiert einen bestimmten Trend des religionstheologischen Diskurses vor allem innerhalb der Praktischen Theologie, aber auch in der Systematischen Theologie.98 Albrecht Grözinger und Georg Pfleiderer sprechen in einer diesem Begriff gewidmeten Publikation vorsichtiger von „einer gemeinsamen Suchhaltung“.99 Ein Gemeinsames an dieser Haltung scheint mir auf jeden Fall das Interesse an einer Religionstheorie zu sein, die auf die Wahrnehmung und Reflexion konkreter Religionspraxis zielt. Diese empirische Orientierung hat zur Folge, dass die eingenommene Haltung mehr deskriptiv und analytisch als normativ ausgerichtet ist. Eine weitere Gemeinsamkeit scheint mir darin zu liegen, dass die textuelle Seite der Religion kulturtheoretisch anschlussfähig als kulturelles Sinncodierungssystem verstanden wird, mit dessen Hilfe Menschen ihr Leben deuten. Im Vollzug solcher Deutung lebt die gelebte Religion. Der Begriff steht also weitgehend, so muss man schlussfolgern, für das, was vormals und in anderen theologischen Diskurswelten nach wie vor Glaube genannt wurde und wird.100 Im Blick auf die Unterscheidung von Religion als kultureller Objektivation und Religiosität als subjektiver Performance wäre die gelebte Religion wohl in erster Linie der subjektiven Seite der Religiosität zuzurechnen. Diese naheliegende Näherbestimmung wird aber nicht von allen Diskutanten geteilt. So betonen Wolf-Eckard Failing und Hans-Günter Heimbrock gerade den ihrer Meinung nach vermittelnden und die Unterscheidung von Innen und Außen, von Subjektivität und Objektivität und von Privatheit und Öffentlichkeit gerade überwindenden Charakter des Konzeptes der gelebten Religion.101 Eine für alle Teilnehmer des Diskurses um die gelebte Religion konsensfähige Definition zeichnet sich nicht ab. Der Begriff schillert zu sehr, ist zu unscharf. Diese Unbestimmtheit vermerkte schon Dietrich Rössler, als er den Begriff 1976 wieder in die Diskussion einführte: Die gelebte Religion 98 Vgl. Albrecht Grözinger/Georg Pfleiderer (Hg.): „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie (Christentum und Kultur 1), Zürich 2002. Der Schwerpunkt der Debatte liegt in der Praktischen Theologie. Mit dieser fundamentaltheologischen Orientierung macht sie der Systematischen Theologie das Terrain streitig. Der religionstheologische Diskurs scheint mir im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die Abgrenzung von Systematischer und Praktischer Theologie zunehmend fragwürdig wird. 99 Grözinger/Pfleiderer, Programmbegriff, 7. 100 Dies sieht auch Georg Pfleiderer so: vgl. ders., „Gelebte Religion“. Notizen zu einem Theoriephänomen, in: Grözinger/Pfleiderer (Hg.), Programmbegriff, 23–41, 26. 101 Wolf-Eckard Failing/Hans-Günter Heimbrock, Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungstheorie und zurück, in: dies., Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 275–294, 293.

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bleibt „unbestimmt, vage, unüberschaubar und schwer einzugrenzen“.102 Sie bedarf, so Rössler, der Deutung: „Was gelebte Religion ist, lässt sich allein im Kontext der Deutungen von Religion ausdrücklich machen.“103 Im Folgenden werde ich das Diskussionsfeld wiederum anhand von vier repräsentativen Positionen darstellen, um im Anschluss dann auf der Basis der religionssoziologischen und theologischen Überlegungen zur Formulierung einer für die vorliegenden Studie geeigneten religionstheologischen Perspektive zu kommen. 2.2.2.1 Ulrich Barth: (Gelebte) Religion re-/konstruieren Bei Ulrich Barth findet sich, so weit ich sehe, die am stärksten fundiert und am differenziertesten ausgearbeitete religionstheoretische Perspektive im Feld der protestantischen Religionsphilosophie und Systematischen Theologie der Gegenwart. Der Begriff der gelebten Religion spielt dabei keine wesentliche Rolle. Warum also die Bezugnahme auf Barths Überlegungen im Zusammenhang des Diskurses über die gelebte Religion? Zwei Gründe haben mich bewogen, Barths Position in diesem Zusammenhang heranzuziehen. Zum einen scheinen mir die kultur- und sinntheoretischen Basisannahmen moderner Religionstheorie, wie sie auch dem Diskurs der gelebten Religion im engeren Sinne zugrunde liegen, bei Barth am prägnantesten formuliert. Zum anderen lassen sich Barths religionstheoretische Ausführungen ohne weiteres als Theorie der gelebten Religion verstehen, geht es ihm doch um eine angemessene Wahrnehmung des lebensweltlichen Vorkommens von Religion und um deren kompetente Vermittlung.104 Barth rekurriert bei seinen Überlegungen nicht nur auf den engeren Bereich der von ihm vertretenen theologischen Fachdisziplin, sondern geht interdisziplinär vor. Alle für die Thematik relevanten Theorietraditionen sollen einbezogen werden.105 Dabei nähert sich Barth dem Thema in methodischer Hinsicht sowohl historisch-rekonstruierend als auch systematisch-konstruierend. Ich will im Folgenden nur die wichtigsten Grundlinien seiner systematischen Analyse des Religionsbegriffes knapp skizzieren. Barth versteht Religion als „eine Grundform menschlicher Deutungskultur“.106 Sie entspringt dem elementaren Bedürfnis nach Selbst- und Weltdeutung. Was nun ist das Spezifische der Religion? Was unterscheidet die religiöse Sinndimension von anderen kulturellen Sinndimensionen? Barths Antwort: „Religion – ihrem allgemeinsten Wesen nach – ist Deutung der 102 Dietrich Rössler, Die Vernunft der Religion, München 1976, 67. 103 Rössler, Vernunft, 68f. 104 Vgl. Ulrich Barth, Dimensionen des Religionsbegriffs, in: Wilhelm Gräb u.a. (Hg.), Pfarrer fragen nach Religion: Religionstheorie für die kirchliche Praxis, Hannover 2002, 31–97. 105 Vgl. Barth, Dimensionen, 94f. 106 Ders., Dimensionen, 39.

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Welt im Horizont der Idee des Unbedingten.“107 Es geht um die Unbedingtheitsdimension von Sinn, nicht um Sinn generell: Religion ist nicht zuständig für die Konstitution von Sinn überhaupt. Diese vollzieht sich bereits in den Handlungs- und Erkenntnisprozessen des alltäglichen Weltumgangs. Religion hat es vielmehr ausschließlich mit der in jenen innerweltlichen Sinnbezügen implizierten Tiefendimension von Sinn zu tun. Diese der Sinnsphäre selber immanente Verweisungsrelation betrifft die Differenz von bedingtem und unbedingtem Sinn. Die Sinnbezüge der Lebenswirklichkeit werden befragt im Hinblick auf die darin involvierte Tiefendimension von Sinn. Diese manifestiert sich [...] in den Unendlichkeits-, Ganzheits-, Transzendenz- und Notwendigkeitsaspekten des Daseins.108

Die Entfaltung des Religionsbegriffs erfolgt dabei in zwei Stufen.109 Auf der ersten Stufe geht es um das Wesen der Religion als Bezug zum Unbedingten, auf der zweiten Ebene um die konkrete religiöse Deutung dieser Unbedingtheitsdimension. Im Vorgang religiöser Deutung werden, so Barth, die Sphären unbedingten und bedingten Sinns in je spezifischer Weise aufeinander bezogen. Auf dieser Ebene kommt dann auch die Gottesvorstellung ins Spiel und mit ihr die gesamte Symbolwelt des Christentums. Auch diese konkrete Deutungsebene ist dabei als ein Produkt menschlicher Selbstdeutung zu verstehen. Sie baut sich symbolisierend auf der Basis von Erfahrungen auf. Die Gottesvorstellung kann vor diesem Hintergrund „als Symbol des absoluten Einheitsgrundes der Subjektivität“ verstanden werden.110 2.2.2.2 Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen Wolf-Eckart Failings und Hans-Günter Heimbrocks religionstheoretische Überlegungen zu einer – wie sie programmatisch formulieren – „Praktische(n) Theologie als Theorie Gelebter Religion“ sind an den Begriffen der Wahrnehmung, des Alltags und der Erfahrung orientiert.111 Damit wenden sie sich kritisch gegen eine einseitig an einer kirchenbezogenen Handlungstheorie ausgerichtete Praktische Theologie und plädieren für „ein Grundverständnis der Praktischen Theologie als Wahrnehmungswissenschaft“.112 Mit dieser Ausrichtung sehen sich Failing und Heimbrock dem Kontext derjenigen Bemühungen moderner Praktischer Theologie zugehörig, die 107 Ders., Dimensionen, 77. 108 Ders., Dimensionen, 83. 109 Ders., Was ist Religion? In: ZThK 93, 1996, 538–560. 110 Ders., Dimensionen, 75. 111 Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock, Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion. Problemhorizonte und Leitbegriffe, in: dies./Thomas A. Lotz (Hg.), Religion als Phänomen. Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen der Lebenswelt, Berlin/New York 2001, 15–45. 112 Failing/Heimbrock, Praktische Theologie, 31.

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sich der Herausforderung des „Wirklichkeitsverlust(es) der gesamten Theologie“ stellen wollen.113 Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei in Anknüpfung an Henning Luther der Wahrnehmung des Alltags. Sie konstatieren: „Ort der Religion sind die alltäglichen Irritationen wie Transzendenzen, kurz: der Alltag.“114 Diesen sehen sie eingebettet in den Kosmos der Kultur, zu dem auch die Kirche als kulturelles Teilsystem gehört. Polemik gegenüber einem alten oder neuen Kulturprotestantismus sei vor dem Hintergrund einer notwendigen neuen Kulturorientierung der Theologie unangebracht. Die bildungsbürgerliche Ausrichtung der Kulturwahrnehmung des deutschen Protestantismus müsse jedoch im Blick auf einen produktiven Zugang zur Alltagskultur aufgebrochen werden.115 Diesen Zugang suchen Failing und Heimbrock aus phänomenologischer Perspektive und unter Zuhilfenahme des Begriffes der Lebenswelt zu gewinnen. Die phänomenologische Orientierung soll dazu beitragen, die gelebte Religion im Alltag zunächst einmal möglichst unvoreingenommen wahrzunehmen und dabei auch vorprädikative Sinnbildungen und außersprachliche Phänomene einzubeziehen.116 Im Mittelpunkt dieser Wahrnehmung steht neben der Entzifferung von Traditionen vor allem die Religiosität der Subjekte – gerade auch im Blick auf diejenigen Formen, die sich weit von der Tradition entfernt haben. Failing und Heimbrock schreiben: „Gegenüber einer einseitig von der Institution vorgedachten Religionspraxis rechnet ein solches Konzept nicht allein oder vorrangig mit Prozessen von Säkularisierung, Pluralisierung und Diffundierung ehemals eindeutiger Vollzüge, sondern auch mit der Möglichkeit der Entfremdung ‚gelehrter‘ Religion von der Religiosität der Subjekte. Ansatzpunkt ist hier die Beobachtung, dass Menschen im Alltag zunehmend religiös qualifizierbare Suchbewegungen vollführen, sich dabei mit Religion außerhalb von sonntäglicher, kirchlich normierter Religion abgeben, eine Bewegung, die sich in der Moderne und Postmoderne vielleicht zuspitzt, aber bei offenerer Betrachtung auch schon für frühere Epochen aufzeigbar wäre.“117 Wichtig ist den Autoren ein wahrnehmendes „Offenhalten der Erfahrung des Religiösen“, eine Sensibilität für Suchbewegungen im Feld des Religiösen.118 Sie nehmen dabei eine gewisse theoretische Vagheit in Kauf und wollen den Begriff der gelebten Religion eher als „Such- oder Reflexionsbegriff“ verstehen.119 113 Dies., Praktische Theologie, 22. 114 Dies., Praktische Theologie, 20. 115 Dies., Praktische Theologie, 34. 116 Vgl. dazu die Beiträge von Wolf-Eckart Failing und Günter Heimbrock über „Klang und religiöse Bedürfnisse“ und über „Ansehen und Sehen“ in: dies., Praktische Theologie, 69–90, 123–144. 117 Dies., Praktische Theologie, 41. 118 Dies., Praktische Theologie, 42. 119 Dies., Praktische Theologie, 43.

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Wenn Failing und Heimbrock von „religiös qualifizierbaren Suchbewegungen“ sprechen, meinen sie damit auch, dass die fraglichen Suchbewegungen von den Subjekten selbst nicht unbedingt schon als religiös beschrieben werden müssen, um theoretisch als religiös bedeutsam rekonstruiert werden zu können.120 Wie aber müssen solche Suchbewegungen beschaffen sein, um sie mit guten Gründen als religiös deuten zu können? Der theoretische Hintergrund in diesem Konzept der impliziten Religion bleibt recht unbestimmt. Heimbrock spricht von „Suchbewegungen von Subjekten nach gesteigertem Leben“121, vom „Gewahrwerden der Transzendenz in der Immanenz“122 und – Jacques Waardenburg zitierend – von Prozessen, in denen „,diese unsere Welt [...] als andere, nicht mehr als fertig bestehende Welt, sondern als Welt im Entstehen‘ erscheint“.123 Es zeigt sich, dass auch Failing und Heimbrock bei aller Offenheit nicht ohne Deutungskategorien auskommen. Doch gerade in dieser offenen und eben möglicherweise zu offenen Annäherung an Suchprozesse – sie beziehen sich dabei nicht zuletzt immer wieder auf Joachim Matthes und sein oben dargestelltes Verständnis von „Religion als diskursivem Tatbestand“ – sehen Failing und Heimbrock die Stärke ihres Konzeptes gelebter Religion. Das Subjekt soll auf diese Weise „vor methodischem Reduktionismus geschützt werden“.124 Aufgrund seiner Offenheit könne ein solches Konzept von gelebter Religion die Erfahrung von Religion als Fremdheitserfahrung und Irritation zulassen. Zur Beschreibung dieser Momente des Fremden und Anderen greifen Failing und Heimbrock unter anderem auf die Kategorie des Heiligen zurück.125 2.2.2.3 Wolfgang Steck: Gelebte Religion mehrdimensional wahrnehmen Auch Wolfgang Steck setzt phänomenologisch an. Seine mehrdimensional und ausdrücklich interdisziplinär angelegte Theorie gelebter Religion ist jedoch im Unterschied zu Failing und Heimbrock stärker historisch und christentumstheoretisch perspektiviert. So kann Steck in einer grundlegenden Definition sagen: „Die Praktische Theologie ist eine Theorie der christlichen Lebenspraxis. Die Praxis der gelebten Religion im Spiegel wissenschaftlicher Theorie abzubilden, die in die Lebenspraxis verflochtenen religiösen Momente mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnismethoden aufzudecken, die religiösen Grundstrukturen der Lebenswelt mit Hilfe 120 Vgl. Hans-Günter Heimbrock, Wahrnehmung als Element der Wahr-Nehmung, in: Grözinger/ Pfleiderer (Hg.), Programmbegriff, 65–90, 83. 121 Ders., Wahrnehmung, 84. 122 Ders., Wahrnehmung, 90. 123 Ders., Wahrnehmung, 83. 124 Failing/Heimbrock, Handlungstheorie, 294. 125 Vgl. dies., Das Heilige, in: dies., Phänomen, 192–207.

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theoretischer Analyse transparent zu machen und damit zur ebenso verantwortungsvollen wie erfolgreichen Fortentwicklung der sozial organisierten und kommunikativ praktizierten Religion beizutragen, ist die Aufgabe, die sich praktisch-theologischer Theoriebildung stellt.“126 Christliche Lebenspraxis ist dabei nicht identisch mit kirchlich bestimmter Lebenspraxis. Der Anspruch der Praktischen Theologie als einer Theorie gelebter Religion geht auch für Steck – wie für Failing und Heimbrock – über den Bereich kirchlich geformter Religionspraxis hinaus. Ausdrücklich sollen auch die „vielfältigen Gestalten religiös grundierter Lebensführung und Weltanschauung“ in der privaten und öffentlichen Lebenssphäre analysiert und rekonstruiert werden, die auf den ersten Blick nicht unbedingt als spezifisch religiös erscheinen.127 Genaue Beschreibung und systematische Durchdringung sollen sich bei der Bewältigung dieser Aufgabe ergänzen. Eine Leitkategorien der multiperspektivischen Phänomenologie der Religionspraxis bildet die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit, von individueller Religionspraxis (auch: Religiosität) mit der Kerndimension der religiösen Erfahrung und gesellschaftlich und institutionell konventionalisierter Religionspraxis.128 Religionstheoretisch optiert Steck für eine „vielperspektivische Religionstheorie“.129 Nur so könne man der Komplexität des religiösen Feldes gerecht werden. Dieses Feld verändert sich unter dem Druck der Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse. Dabei speist sich vor allem die Individualisierungsdynamik nicht zuletzt aus christlichen und in erster Linie protestantischen Motiven (unverwechselbare Einmaligkeit). Die Theologie sieht sich demgemäß einem Phänomenbestand gegenüber, der zu einem Teil das Ergebnis der ihrer eigenen Tradition eingeschriebenen Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprogramme ist: einer Vielfalt individualisierter, von der Tradition distanzierter und ins Private verlagerter Religion. Dieser Befund bildet in Stecks Augen die zentrale Herausforderung für die Praktische Theologie der Gegenwart: „Unter den Bedingungen der Moderne hat die religionstheoretisch fundierte Praktische Theologie ihre besondere Aufmerksamkeit der Individualisierung der Religionspraxis und der Privatisierung der Religionskultur zuzuwenden.“130 Das individualisierte Christentum ist, so Steck, das eigentliche Thema der Praktischen Theologie der Gegenwart: die individuelle Religiosität. Steck findet starke Formulierungen für die Bedeutung der Religion für das Individuum: sie bilde den „innersten Kern einer Persönlichkeit“, die Basis für die Entwicklung der personalen Identität und des individuellen 126 Steck, Praktische Theologie, 100. 127 Ders., Praktische Theologie, 101. 128 Ders., Praktische Theologie, 115. 129 Ders., Praktische Theologie, 116. 130 Ders., Praktische Theologie, 116.

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Wirklichkeitsverständnisses, die Berufungsinstanz der Selbstkonstitution, den „letzte(n) Vergewisserungsgrund“.131 Steht die individuelle religiöse Praxis in der privaten Lebenssphäre im Vordergrund, so ist doch auch die religiöse Praxis in der öffentlichen Lebenssphäre Gegenstand der Praktischen Theologie Stecks. In beiden Sphären verweben sich explizite und implizite Religionskomponenten.132 2.2.2.4 Wilhelm Gräb: Gelebte Religion verstehen Wilhelm Gräb entwickelt seine religionstheoretische Perspektive zunächst in der Auseinandersetzung mit Gerhard Schulzes kultursoziologischer Untersuchung zur Alltagskultur.133 Mit Schulze geht Gräb von einem Begriff von Alltagskultur aus, der die handlungsorientierenden Sinnwelten einschließt. In diesen jeweils milieuspezifischen Sinnwelten, die Schulze auch „Lebensphilosophien“ nennt, sieht Gräb die gelebte Religion von Alltagskultur und Lebenswelt mitenthalten. Gräb formuliert: „Religion in ihrer objektiven, sozial manifesten Gestalt lässt sich definieren als die Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte alltagsweltlicher Lebensorientierung.“134 Das Spezifische religiöser Sinndeutungen liegt nach Gräb in ihrer Letztinstanzlichkeit. Religiöse Sinndeutungen unterscheiden sich von anderen durch die Art der Fragestellungen, die sie bearbeiten. Sie beziehen sich eben nicht auf die kleinen Fragen des Alltags, sondern auf die existenziellen Fragestellungen, die nach einem Horizont letzter Bedeutung verlangen, einem Sinnhintergrund, der die Grundeinstellung zum Leben prägt. Gräb setzt hier den Religionsbegriff früher an als Schulze, der die kulturellen Sinnhintergründe solcher existenzieller Fragen als „Lebensphilosophien“135 oder „persönliche Grundeinstellung“136 bezeichnet und den Religionsbegriff auf das – alltagskulturell marginalisierte – kirchliche Symbol- und Ritualsystem beschränkt. Für die Mehrheit, so interpretiert Gräb Schulzes Diagnose der Marginalität der kirchlichen Religionskultur, haben andere Sinncodierungen die Funktionen des traditionellen Religionssystems übernommen. Die fehlende Allgemeinverbindlichkeit dieser Äquivalente, 131 Ders., Praktische Theologie, 117–119. 132 Ders., Praktische Theologie, 129. 133 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./ New York ²1992. 134 Gräb, Lebensgeschichten, 51. Im Anschluss an Schleiermacher unterscheidet Gräb zwei Stufen im Prozess des Aufbaus religiöser Deutungen und erläutert: „Man könnte sie Religion 1 und Religion 2 nennen. Religion 1, dieses unser Grundvertrauen ins Dasein. Und Religion 2, die Vorstellungen, mit denen wir uns deutend zu uns verhalten, eine Sinnspur in unserer Lebensgeschichte zu entdecken versuchen, das, was Halt gibt und Zusammenhalt gewährt auch auf unwegsamem Gelände. Es dürfte klar sein, dass wir Religion 2 für uns nicht ausbilden können, ohne dass wir uns im Zusammenhang von Überlieferungen religiösen Glaubens bewegen.“ Ders., Lebensgeschichten, 67. 135 Schulze, Erlebnisgesellschaft, 112ff. 136 Ders., Erlebnisgesellschaft, 232.

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wie sie etwa die Literatur und das Theater, das Kino und die populäre Medienkultur darstellen, ist das Ergebnis gesellschaftskultureller Wandlungsprozesse.137 Im Blick auf die Bearbeitung der großen Transzendenzen sieht Gräb jedoch nach wie vor eine besondere Bedeutung des traditionellen Religionssystems.138 Gräb bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Ausführungen von Clifford Geertz, der das Religionssystem dadurch charakterisiert sieht, dass es die symbolisch-rituelle Verarbeitung radikal sinnverwirrender Erfahrungen leistet. Für diese Grenzerfahrungen, für die es laut Geertz „nicht nur keine Interpretation, sondern auch keine Interpretationsmöglichkeit gibt“,139 ist Religion in besonderer Weise zuständig. Sie antwortet auf die Herausforderungen von „Verwirrung“, „Leiden“ und dem „Gefühl eines unauflöslichen ethischen Widerspruchs“.140 Angesichts dieser Fragen habe die „explizite Symbolisierung eines Unbedingtheitshorizontes“ durch das traditionelle Religionssystem in Gräbs Augen weiterhin eine exponierte Bedeutung.141 In Anknüpfung an den religionssoziologischen Common Sense charakterisiert er die Leistung der explizit religiösen Symbolisierungen dadurch, dass sie sinnwidrige Kontingenzerfahrungen einerseits anerkennen und ihnen auf der anderen Seite im Namen eines transzendenten Sinngrundes zugleich widersprechen. Die transzendenzbezogene Bearbeitung existenzieller Sinnfragen ist allerdings kein Privileg der kirchlichen Religionskultur. In der Folge der religionskulturellen Transformationsprozesse der Moderne hat die Medienkultur zunehmend religiöse Funktionen übernommen. „Wesentliche Sinngehalte des Christentums werden nun durch Medien symbolisch repräsentiert und vermittelt.“142 Vor diesem Hintergrund muss sich die Praktische Theologie als „religionstheologische Kulturhermeneutik entwickeln“.143 „Ihre Zielsetzung muss es angesichts der heutigen religiösen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse sein, die vielfältig gelebte Religion, die religiösen Implikationen in heterogenen Phänomenen der säkularen Gegenwartskultur wahrzunehmen und in ihrem Sinnpotential zu deuten.“144 Unter den Bedingungen einer Mediengesellschaft ist religionstheologische Kulturhermeneutik vor allem als Medienhermeneutik zu konzipieren.

137 Gräb, Lebensgeschichten, 55. 138 Ders., Lebensgeschichten, 56f. 139 Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 41995, 44–95, 61. 140 Ders., Religion, 61. 141 Gräb, Lebensgeschichte, 58. 142 Ders., Sinn, 40. 143 Ders., Praktische Theologie als Praxistheorie protestantischer Kultur, in: ders./Birgit Weyel (Hg.), Praktische Theologie und protestantische Kultur, Gütersloh 2003, 35–51, 49. 144 Gräb, Praxistheorie, 49.

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2.2.3 Die religionstheologische Orientierung der Studie Lassen wir die mehr oder weniger ausführlich dargestellten religionstheoretischen Konzepte aus den Felder der Religionssoziologie, der Systematischen Theologie und der Praktischen Theologie noch einmal Revue passieren, so werden vor allem hinsichtlich des Bezugsproblems der Religion Konvergenzen sichtbar: bei Religion, so der weitgehende Konsens, handelt es sich um ein kulturelles Phänomen, das funktional auf die Kontingenzund Sinnfrage bezogen ist. Weitgehende Einigkeit besteht auch darüber, dass dieses Bezugsproblem der Religion heute nicht mehr nur von der kirchlichen Religionskultur aufgegriffen und bearbeitet wird, sondern dass wir es heute mit einem pluralen Angebot an Sinnstiftungen zur Kontingenzbewältigung zu tun haben.145 Gemeinsam ist den meisten Ansätzen vor diesem Hintergrund auch ein Konzept von unsichtbarer bzw. impliziter Religion, das die Erschließung impliziter religiöser Dimensionen im Subjektiven wie im Kulturellen erlaubt und die Verflüssigung der Religion ins Religiöse auf diese Weise wahrnehmbar macht. Es geht dabei um die religiöse Deutung kultureller Phänomene, die sich selbst zunächst nicht als religiös verstehen. Umso mehr stellt sich die Frage, wodurch sich das Religiöse auszeichnet, was seine Spezifik im Unterschied zu anderen Sinndeutungsangeboten ausmacht. Bei der Beantwortung dieser Frage kommen fast alle genannten Theorieperspektiven auf die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz zurück. Näherhin legen die religionstheoretischen Diskurse in den herangezogenen Feldern die These nahe, dass in der Verbindung von Transzendenz und Immanenz ein zentrales Charakteristikum religiöser Sinndeutungen gesehen werden kann. Eine Kommunikation kann also immer dann als religiös gelten, „wenn sie“, mit den Worten Luhmanns, „Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet“.146 Ulrich Barth formuliert den selben Sachverhalt unter Bezugnahme auf den Begriff des Unbedingten: „Religion – ihrem allgemeinsten Wesen nach – ist Deutung der Welt im Horizont der Idee des Unbedingten.“147 Nicht Sinnkonstruktion generell ist darum, so Barth, das Thema der Religion, sondern die Unbedingtheitsdimension von Sinn, die, wie Wilhelm Gräb formuliert, „letztinstanzlichen Sinnhorizonte“. Mit den Begriffen des Unbedingten und der Letztinstanzlichkeit ist der Transzendenzbezug in bestimmter Weise qualifiziert: er ist auf die großen Transzendenzen ausgerichtet. Bei Luckmann ist dieser Bezug hingegen weiter gefasst. 145 Vgl. dazu auch Karl-Fritz Daiber: „Die Religionen sind ihrem Ansatz nach Symbolisierungen von anthropologischen Grunderfahrungen. Sie werden damit immer zu Konkurrenten anderer Symbolisierungen, die ähnliche Geltungsansprüche haben“, ders., Religion, 75. 146 Luhmann, Religion, 77. 147 Barth, Dimensionen, 77.

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Das Spektrum der Bestimmungen ließe sich von Luckmann ausgehend etwa so beschreiben: In einem sehr weiten Sinne kann unter Religion die identitätsbildende Integration in (das Subjekt transzendierende) kulturelle Sinnwelten verstanden werden, in einem etwas engeren Sinne die Beantwortung der Kontingenz- und Sinnfrage durch die Bezugnahme auf große Transzendenzen und in einem noch engeren Sinne die Bearbeitung existenzieller Sinnfragen durch den Symbolkomplex einer bestimmten Religion mit dem Zeichenrepertoire einer bestimmten religiösen Semantik. Problematisch ist sicherlich, dass ein so vieldimensionales Phänomen wie das der Religion in solchen Formulierungen auf sehr abstrakte Formeln zusammenschrumpft. Es scheint mir darum sinnvoll, an dieser Stelle auch noch einmal mit Hilfe der Religionssoziologie an die Mehrdimensionalität von konkreten Religionen zu erinnern. Charles Glock hat vorgeschlagen, fünf Dimensionen von Religion zu unterscheiden: die Dimension der religiösen Überzeugungen und Bekenntnisse, der religiösen Erfahrung, der Lehrinhalte, der Kulte und Riten und der ethischen Konsequenzen.148 Religion ist eben, darauf machen diese Stichworte noch einmal aufmerksam, nicht nur ein kognitives Phänomen, sondern meint einen Erfahrungsraum, der auch emotionale, soziale und ethische Dimensionen hat. Im religionstheoretischen Diskurs der Praktischen Theologie steht, so ist deutlich geworden, der Begriff der gelebten Religion für das Interesse an Erfahrungsorientierung. Alle drei skizzierten Ansätze betonen die Notwendigkeit der Wahrnehmung konkreter Religionspraxis. Failing und Heimbrock richten ihr Augenmerk dabei insbesondere auf den Alltag, die Lebenswelt und den Körper, Steck auf die individuelle Religiosität und Gräb auf die Sinnwelten der Medienkultur. Dabei werden bei Failing und Heimbrock auch die Grenzen einer phänomenologischen Orientierung, die die Erfahrung des Religiösen möglichst offen halten will, deutlich. Gelebte Religion bedarf der Deutung und damit der Theorie, sonst verbleibt sie, darauf hatte schon Dietrich Rössler hingewiesen, im Unbestimmten. Die von Joachim Matthes geforderte Diskursivierung des Religiösen führt nur dann zu Ergebnissen, wenn sie als Pendeln zwischen Empirie und Theorie, zwischen Wahrnehmungen und Deutungen konzipiert ist. Hier zeichnet sich innerhalb der Religionstheorie ein Problem ab, das in der empirischen Religionsforschung umso deutlicher zum Tragen kommt: je unbestimmter die Theorieperspektiven, desto größer ist die Gefahr, sich in der Beschreibung der Vielfalt der Phänomene zu verlieren. Eine zu große Bestimmtheit ist allerdings auch nicht von Vorteil. Sie kann die Wahrneh148 Charles Glock, Toward a Typology of Religious Orientation, New York 1954; Glocks Überlegungen sind aufgenommen und weitergeführt in: William Bainbridge/Rodney Stark, A Theory of Religion, New York 1987.

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mung der Phänomene zu sehr verengen, so dass wichtige Aspekte ausgeschlossen bleiben. Im Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit geht es zunächst einmal um einen eher weit gefassten funktionalen Begriff von gelebter Religion, der Weltsichten im Sinne Luckmanns – auch das, was traditionell unter Weltanschauung verstanden wird – ebenso umfasst wie die Lebensphilosophien und persönlichen Grundeinstellungen im Sinne Schulzes. So ist die empirisch geforderte Offenheit gewährleistet und das gesamte Spektrum der subjektiven Sinn- und Wertorientierung kommt zunächst einmal in den Blick. Inwieweit dabei in medienkultureller Vermittlung dann Sinncodierungen, die eher der kirchlichen Religionskultur zuzurechnen sind, oder Sinndeutungen, die als unsichtbare oder implizite Religion angesprochen werden können, zum Zuge kommen, wird das empirische Material zeigen. In diesem Zusammenhang erweist sich Stecks Gedanke einer vielperspektivischen Religionstheorie als hilfreich. Er regt dazu an, zumindest zwei Perspektiven bzw. Einstellungen (Totale und Halbtotale würde man in der Filmwissenschaft sagen) vorzusehen. Um phänomenologische Offenheit zu gewährleisten, ist es sinnvoll, den Winkel zunächst möglichst weit einzustellen und generell nach subjektiv bedeutsamen Sinnmustern zu fragen. In einem zweiten Schritt der religionshermeneutischen Analyse können diese subjektiven Sinneinstellungen dann noch einmal hinsichtlich der Reichweite ihres Transzendenzbezuges und des Charakters ihrer Semantik unterschieden werden. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht die gelebte Religion der Individuen. Im Blick auf die Verschränkung mit der Frage der Medienerfahrungen könnte man auch formulieren: die gelebte Medienreligion der Individuen. Zur Debatte steht die religiöse Subjektivität, die subjektive Performance dessen, was als religiöse Dimension in Büchern, Kinofilmen und Fernsehsendungen namhaft gemacht werden kann, die Bedeutung der Erfahrung mit solchen medienreligiösen Sinnmustern für die individuelle Religiosität. Diese Erfahrungen sollen über qualitative Interviews erschlossen werden. Im Mittelpunkt der religionshermeneutischen Analyse stehen also Beobachtungen zweiter Ordnung: retrospektive Beschreibungen und Interpretationen von Medienerfahrungen. Die gelebte Religion kann somit nicht im Vollzug selbst erforscht werden, sondern ist nur gleichsam verspätet und durch subjektive Erinnerungen und Selbstdeutungen vermittelt zugänglich. Als Zeitraum dieser Rückschau soll die gesamte Biographie in den Blick genommen werden. So lassen sich Entwicklungen erfassen und nachzeichnen. Zu den theoretischen Voraussetzungen der vorliegenden Studie gehören vor diesem Hintergrund auch die Forschungen zu den Themen Religion und Lebenslauf und Religion und Identität. Der konkrete Prozess individuellen Lebens und der in ihm gelebten Religion kommt mit diesen Themen 56

zum einen noch einmal in seiner biographisch-diachronen Dimension ins Blickfeld und zum anderen in seiner identitätsbezogen-synchronen Dimension – mit anderen Worten: hinsichtlich der Momente der Entwicklung und der Kontinuität individuellen Lebens und der darin verwobenen und gelebten Religion. Vor dem Hintergrund dieser Zuspitzungen auf das individuelle Leben hin wird auch das Verhältnis des Begriffes der individuellen Religiosität zum Konzept der gelebten Religion noch genauer zu bestimmen sein.

2.3 Religion und Lebenslauf Im Zuge der soziokulturellen Entwicklungen in Deutschland in der Folge der Studentenbewegung ist das Thema des Lebenslaufs bzw. der Biographie (ich gebrauche die Begriffe synonym) seit Anfang der 70er Jahre verstärkt von den Sozialwissenschaften aufgegriffen und entwickelt worden.149 Insbesondere die Ablösung der von traditionellen Mustern bestimmten Normalbiographie durch die Wahlbiographie hat Interesse für die Frage geweckt, wie das Individuum die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels bewältigt.150 Das Individuum ist in dieser Lage des Traditionsabbruches und der Pluralisierung in Fragen der Sinn- und Wertorientierung in viel stärkerem Maße als zuvor auf sich selbst zurückgeworfen. Zugleich ist es mit dem Imperativ der Selbstverwirklichung konfrontiert, mit einer Frage also, die über den Pragmatismus des Überlebens weit hinausgeht, die die Entwicklung eines individuellen Stils und eines individuellen Sinn- und Wertehorizontes in Verbindung mit ganz persönlichen Zielen einschließt.151 Ronald Hitzler und Anne Honer haben diese subjektiven Konsequenzen der soziokulturellen Wandlungsprozesse mit dem Begriff der „Bastelexistenz“ charakterisiert.152 Der Einzelne wird zum Sinnbastler, der sich auf dem Marktplatz kultureller Sinnangebote das für ihn Passende herausgreift, um sich daraus ein sich ständig wandelndes Patchwork an Orientierungen zusammenzustellen, das dann insgesamt das (ständig in Überarbeitung befindliche) Drehbuch seines individuellen Lebens ausmacht – jedenfalls insoweit das Subjekt überhaupt Autor dieses Drehbuchs sein und werden kann. Deutlich ist, dass diese Lebensform der Bastelexistenz mit einer erheblich ge149 Vgl. Stephanie Klein, Theologie und empirische Biographieforschung. Methodische Zugänge zur Lebens- und Glaubensgeschichte und ihre Bedeutung für eine erfahrungsbezogene Theologie, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 83. 150 Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, 13. 151 Vgl. Martin Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten, 219–244, 233f. 152 Ronald Hitzler/Anne Honer, Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten, 307–315.

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steigerten Reflexivität einhergeht. Es muss ja ständig überlegt, abgewogen und entschieden werden. Wenig versteht sich noch von selbst. Kein Lebensbereich, keine Institution, kein Funktionssystem der Gesellschaft bietet mehr Orientierung für die Gestaltung des ganzen Lebens an. Diese Umstände erzeugen eine neue Nähe der Themen Biographie und Religion. Denn die Sinnfrage und damit die Frage der Integration und Zuordnung innerer und äußerer Pluralität ist in einer funktional differenzierten und kulturell pluralisierten Gesellschaft vollständig in das Individuum hinein verlagert. In der Terminologie Luhmannscher Soziologie formuliert Armin Nassehi: Der einzige Ort, an dem die disparaten Teile der Gesellschaft verbunden werden, ist das Individuum, das die unterschiedlichen sozialen Ansprüche in Einklang zu bringen hat – das Individuum ist gewissermaßen der Parasit, das ausgeschlossene Dritte gesellschaftlicher Differenzen.153

Aus gesellschaftsstrukturellen Gründen werde die Biographie darum zu einem wesentlichen Bezugsproblem religiöser Kommunikation: Wenn Religion in der Moderne explizit nicht mehr die Sinngebung des Ganzen zum Gegenstand haben kann [...], bietet sich zunehmend das Thema an, die Einheit der Differenz gesellschaftlich verordneter Dividualität und persönlicher Individualität zu kommunizieren. Damit sind letztlich Biographien diejenigen Bezugspunkte, an denen religiöse Kommunikation sich an ihrem Proprium selbst bewähren kann.154

Diese gesellschaftsstrukturell bedingte neue Nähe von Religion und Biographie scheint mir auch ein wesentlicher Faktor für die vor allem im Bereich der Praktischen Theologie zu beobachtende Konjunktur des Biographiethemas seit den 80er Jahren.155 Volker Drehsen hat in diesem Zusammenhang 153 Armin Nassehi, Religion und Biographie. Zum Bezugsproblem religiöser Kommunikation in der Moderne, in: Karl Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, 41–56. 154 Ders., Religion, 52. 155 Vgl. u.a. Albrecht Grözinger/Henning Luther (Hg.), Religion und Biographie, München 1987; Albrecht Grözinger, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, in: Wege zum Menschen 38, 1986, 184–202; Karl-Ernst Nipkow, Lebensgeschichte und religiöse Lebenslinie. Zur Bedeutung der Dimension des Lebenslaufs in Praktischer Theologie und Religionspädagogik, in: Jahrbuch für Religionspädagogik 3, 1987, 3–35; Wilhelm Gräb, Der hermeneutische Imperativ. Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung, in: Walter Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 79–89; Henning Luther, Das unruhige Herz. Über implizite Zusammenhänge zwischen Autobiographie, Subjektivität und Religion, in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 123–149; Klaus Raschzok, Lebensgeschichte und Predigt. Zur biographischen Dimension der Homiletik, in: Pastoraltheologie 81, 1992, 98–116; Friedrich Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh ³1994; Monika Wohlrab-Sahr, Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a.M. 1995; Gräb, Lebensgeschichten;

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darauf hingewiesen, dass die Theologie hier damit befasst ist, sich ein Thema mühsam wieder anzueignen, „zu dessen Herausbildung sie selbst einst den Nährboden mit bereitet hat“.156 Drehsen verweist vor allem auf den Pietismus und seine kirchlich-theologische Wirkungsgeschichte. Heute stünde das biographische Interesse innerhalb der Theologie in erster Linie im Kontext der Bemühung, die Kluft zwischen Theorie und Praxis, theologischer Systematik und religiöser Erfahrung, Lehre und Leben zu überbrücken.157 Mit dem theologischen Interesse an Biographie richtet sich der Blick auf die Praxis individuell gelebter Religion. Diese Praxis ist in der einzelnen Lebensgeschichte mit der Gesamterfahrung individuell gelebten Lebens verwoben, muss also als nur eine – wenn auch wesentliche – Dimension individueller Lebenserfahrung verstanden werden, die nur im Kontext dieser Gesamtheit individueller Erfahrung vorkommt und zur Darstellung gebracht werden kann. Diese Verwobenheit von Religion und Leben gilt es im Blick auf den empirischen Teil der Studie festzuhalten: Gelebte Religion ist als eine Sinndimension konkret gelebten individuellen Lebens immer auf dieses bezogen. Sie ist nicht in einem Sonderbereich angesiedelt, sondern mitten im Leben als die Wahrnehmung seines Transzendenzbezuges zu verorten.158 Hinsichtlich der wissenschaftlichen Zugänge zum Thema Biographie lassen sich empirische Biographieforschungen mit Hilfe von Interviews und werkhermeneutische Untersuchungen von autobiographischen Texten unterscheiden. In der vorliegenden Arbeit wird mit Leitfaden-Interviews, also mit eigens generierten Texten gearbeitet, die immer wieder auch Elemente autobiographischen Erzählens enthalten. Auf die Methodik und ihre Probleme – etwa auf die Rolle des Interviewers und seinen Einfluss auf die zustande kommenden Äußerungen und Erzählungen – wird weiter unten noch ausführlicher einzugehen sein. An dieser Stelle soll zunächst nur auf eine Eigenheit autobiographischen Erzählens hingewiesen werden, auf die die Biographieforschung aufmerksam macht und die für die Frage nach der Religiosität wesentlich ist: auf Friedrich Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion. Eine Herausforderung für Kirche und Theologie, Gütersloh 2003. 156 Volker Drehsen, Lebensgeschichtliche Frömmigkeit. Religiöse Dimensionen des biographischen Interesses in der Neuzeit, in: ders., Volkskirche, 147–173, 152. 157 Ders., Frömmigkeit, 152. 158 Eine Darstellung des Forschungstandes zur religiösen Entwicklung und Sozialisation würde den Rahmen dieses theoretischen Vorlaufs sprengen. Entsprechende Arbeiten werden im Kontext der Interpretation des empirischen Materials gegebenenfalls herangezogen. Vgl. u.a.: Hans-Jürgen Fraas, Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriss der Religionspsychologie, Göttingen 1990; James F. Fowler, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991; Fritz Oser/Paul Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh ³1992; Friedrich Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindesund Jugendalter, Gütersloh 41999.

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ihren interpretativen Charakter. Man könnte auch von einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit in der autobiographischen Erzählung sprechen. Dabei geht es nicht darum, dass Erzähler zu Dichtern werden wollen, die ihre eigene Biographie poetisch umformen oder ausschmücken wollen. Es handelt sich vielmehr um das Phänomen, dass jede autobiographische Erzählung eine retrospektive (Re-)Konstruktion ist, die Erfahrungen aus der Gegenwartsperspektive neu darstellt und die darin unweigerlich Momente der Auswahl, Akzentuierung, Gestaltung und Deutung enthält, die man als retrospektive Fiktionalität interpretieren kann.159 Die Perspektive der Darstellung wird von subjektiven Bedürfnissen und Interessen bestimmt, ja schon die Erinnerung selbst, das Gedächtnis ist von subjektiven Interessen gesteuert. Siegfried J. Schmidt führt aus: Wie J. Korte (1996) plausibel dargelegt hat, arbeitet unser Gedächtnis im Dienst des menschlichen Bedürfnisses, dem Leben einen erzählbaren und erzählenswerten Sinn zu geben. Im Sinne der so genannten Kryptomnesie wird im Erinnern Erlebtes mit Erzähltem verbunden, so dass endgültig verloren geht, was man als ‚wirkliche Quelle‘ oder ‚reales Erlebnis‘ bezeichnen könnte. Erinnern ist eine präsentische Konstruktion, weshalb gewissermaßen ‚falsche‘ Erinnerungen wie ‚echte‘ aussehen und sich ebenso ‚anfühlen‘. Erinnern und Vergessen sind komplementär. Was erinnert und was vergessen wird, das hängt vor allem ab vom subjektiven wie vom sozialen Identitätsmanagment [...].160

Der interpretative Selbstauslegungscharakter autobiographischen Erzählens betrifft nun auch die Dimension individueller Religiosität. Indem die autobiographische Erzählung die Ebene der sinnhaften Selbstdeutung erreicht, berührt sie religiöse Sinnschichten, sei es in der Form der Aufnahme explizit religiöser Symbolisierungen in den Selbstdeutungsvorgang, sei es durch die sich anderer Symbolisierungen und Sprachen bedienende Reflexion auf einen letzten Sinn und eine letzte Rechtfertigung des eigenen Lebens und der eigenen Erfahrung.161 Das Akzeptieren von Brüchen und Fragmentarität in der retrospektiven Selbstauslegung kann dabei als genuin christliches Moment gelten. Auf diese Aspekte wird im Zusammenhang der Weiterführung der Thematik im Kontext des Identitätsdiskurses noch einzugehen sein. Auch die Frage des Verhältnisses von Individualität und Sozialität soll dann noch ausführlicher zur Sprache kommen. Im Kontext der Biographiethematik soll der Hinweis genügen, dass Individualität nicht zuletzt das Ergebnis je individueller Lebensgeschichten ist, ja zu einem wesentlichen Teil mit diesem je individuellen Lebenslauf gleichgesetzt werden kann und 159 Vgl. Grözinger, Seelsorge, 179f; Drehsen, Frömmigkeit, 157ff. 160 Siegfried J. Schmidt, Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist 2000, 109. 161 Vgl. Gräb, Imperativ, 80; Rössler, Grundriss, 77.

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sich darum auch nur in einer individuellen Erzählung bzw. in individuellen Erzählungen auszusprechen vermag. Autobiographische Erzählungen sind Medien, die der Ausarbeitung und Vergewisserung von Individualität und Identität und damit auch von individueller Religiosität und religiöser Identität dienen.162 Für die Strategie der zu führenden Interviews folgt daraus, dass die Interviewführung dem Erzählen Raum und Anreiz geben sollte.

2.4 Religion, Identität, Individualität Ein Blick auf den aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskurs über personale Identität und seine Verschränkung mit dem Thema Individualität vermag die Wahrnehmung der religionskulturellen Situation noch weiter zu differenzieren und zu erhellen. Durch seine Betonung der Notwendigkeit von Selbstdeutung von Subjektivität auf der einen Seite und der Notwendigkeit ihrer soziokulturellen Verortung auf der anderen Seite bringt der Begriff der Identität das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft mit noch anderen Gewichten und Konnotationen zur Sprache als die biographische Perspektive. Der Identitätsdiskurs scheint mir vor allem in noch stärkerem Maße die Folgen der Modernisierungsprozesse für die Subjekte zu reflektieren. Wie das Verhältnis von Religion und Religiosität auf der einen Seite und Identität und Individualität auf der anderen in diesem Gesamtzusammenhang näher bestimmt wird, hängt nicht zuletzt von der religionstheoretischen Optik ab. Im Rahmen des Luckmannschen Konzepts wäre der Identitätsdiskurs als eine sozialwissenschaftliche Beschreibung der subjektiven Innenseite von Religion einzuordnen, bildet Religiosität doch die Grundlage von personaler Identität (s.o.). Diese Perspektive ist in neuerer Zeit unter anderem von Werner Gephart aufgenommen und auf die Fragen einer interkulturellen und interreligiösen Hermeneutik bezogen worden.163 Gephart betrachtet Identitätsstiftung im Sinne Luckmanns als zentrale Funktion der Religionen. Das bedeute, „dass man Religionen auch als kognitive Identitätslehren, als Produktionsstätten sozialer Identität und als Orte normativer Identitätszumutungen lesen“ könne.164 Religionsdiskurs und Identitätsdiskurs wären demnach verschiedene Beschreibungsweisen desselben Wirkungszusammenhangs.

162 Vgl. dazu auch Martin Osterland, Die Mythologisierung des Lebenslaufs. Zur Problematik des Erinnerns, in: Martin Bethge/Wolfgang Essbach (Hg.), Soziologie: Entdeckungen im Alltäglichen, Frankfurt a.M./New York, 1983, 279–290, 284. 163 Werner Gephart, Zur Bedeutung der Religionen für die Identitätsbildung, in: ders./Hans Waldenfels (Hg.), Religion und Identität: Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt a.M. 1999, 233–266. 164 Gephart, Identitätsbildung, 266.

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Auch ein subjektivitätstheoretisch orientierter Religionsbegriff ist einem Zuordnungsmodus großer Schnittmengen zwischen beiden Diskursen zuzurechnen: Wenn Religion das unverfügbare Sichgegebensein von Subjektivität thematisiert, ihren transzendenten Grund, handelt sie zugleich von den Voraussetzungen von personaler Identität als soziokultureller Ausarbeitung von Subjektivität. Je enger man den Religionsbegriff hingegen fasst, um so mehr löst man die strukturelle Koppelung von Identität und Religiosität. Unstrittig ist jedenfalls, dass Religionsdiskurs und Identitätsdebatte sich mehr oder weniger überschneiden und dass der Identitätsdiskurs durch seine umfassende Thematisierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft Begriffe und Beobachtungen bereitzustellen vermag, die auch die Rolle von Medienerfahrungen im Prozess individueller Religiosität und in der Bildung religiöser Identität erhellen können. Denn Individualität und Identität im Bereich des Religiösen bilden und entfalten sich nicht anders als die kulturbestimmten Anteile von Individualität und Identität generell: in der Kommunikation der Subjekte mit ihrer soziokulturellen Umwelt. 2.4.1 Identität, Individualität, Selbstproduktion Der Identitätsbegriff hat sich seit seiner Einführung Ende der 40er Jahre in der Individualpsychologie zu einem transdiziplinären Begriff entwickelt, der trotz seiner Mehrdeutigkeit und Strittigkeit aus dem Repertoire der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht mehr wegzudenken ist und in letzter Zeit eine sogar noch zunehmende Aufmerksamkeit beansprucht.165 Der Begriff verdankt – so lässt sich summierend sagen – seine Karriere den Krisen der Selbstverständlichkeit soziokultureller Selbstverortung der Subjekte, die mit der modernen Umformung, Ausdifferenzierung und Pluralisierung der gesellschaftlichen Strukturen einhergehen. Das Thema Identität wird in dem Maße virulent, in dem die Antworten auf die klassische Identitätsfrage „Wer bin ich?“ (bzw. „Wer bist du?“) nicht mehr so einfach und selbstverständlich gegeben werden können, weil soziokultureller Wandel die Selbstkonstruktionen der Subjekte erschwert. Hinsichtlich dieses Wandels lassen sich drei Phasen unterscheiden: Industriemoderne, organisierte Moderne und Postmoderne (bzw. Spätmoderne). Der Identitätsbegriff ist dabei vor allem mit den gesellschaftskulturellen Entwicklungen verknüpft, die unter den Stichworten organisierte Moderne und Postmoderne firmieren. Der Begriff hat in diesem Zeitraum einen Wan165 Vgl. Aleida Assmann/Heidrun Friese, Einleitung, in: dies. (Hg.), Erinnerung, Geschichte, Identität, 3. Identitäten, Frankfurt a.M. ²1999, 11–23, 11; Andreas Reckwitz, Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik, in: Werner Rammert (Hg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen, Leipzig 2001, 21–38, 21.

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del durchlaufen, der die gesellschaftsstrukturellen Veränderungen widerspiegelt. Andreas Reckwitz hat diese Bedeutungsverschiebungen im Identitätsdiskurs der Soziologie und Psychologie der organisierten Moderne zwischen den 40er und 70er Jahren und der Postmoderne seit den späten 70er Jahren prägnant beschrieben.166 Das klassische Identitätskonzept sei, so Reckwitz, kompetenztheoretisch orientiert und vor allem auf die Probleme der sozialen Verortung und der Subjektkonstanz bezogen, während die Postmoderne Identitätsdebatte durch ihre hermeneutische und historische Orientierung ausgezeichnet sei und sich hauptsächlich auf das Problem des kontingenten Selbstverstehens der Subjekte beziehe, also auf das Problem des Sinnes, den Subjekte sich und ihrem Handeln zuschreiben.167 Die Frage der Konstanz dieses sinnhaften Selbstverstehens sei in den Hintergrund getreten. Die Aspekte der Konstanz und Kohärenz bilden, das darf bei der Betonung des Wandels gleichwohl nicht aus dem Blick geraten, Kontinuitätsmomente, die dem Begriff und seiner Geschichte tief eingeschrieben sind. Insbesondere Jürgen Straub hat diese Momente der Selbigkeit, Nämlichkeit und Einheit des Identitätsbegriffs unter Berufung auf philosophische Überlegungen von Dieter Henrich und Ernst Tugendhat betont und vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, deutlicher als es gemeinhin in den sozialwissenschaftlichen Diskursen geschieht, zwischen Individualität als der unverrechenbaren Besonderheit des Subjekts und Identität als Bezeichnung der Momente seiner Einheit, Kontinuität und Kohärenz zu unterscheiden.168 Faktum ist jedoch, dass sich die Semantiken von Individualität und Identität überschneiden – wenngleich auch deutlich zu sein scheint, dass Individualität der umfassendere Begriff ist.169 Man wird hier wohl mit einer gewissen Unschärfe der Begriffe leben müssen. Für die weitere Arbeit mit den Begriffen im Kontext der vorliegenden Studie schlage ich vor, die Unterscheidung beider Begriffe als Akzentuierung von Besonderheit im Blick auf Individualität und als Betonung von Kontinuität und soziokultureller Zugehörigkeit im Blick auf Identität zu fassen. Weitgehend unstrittig ist heute, dass qualitative personale Identität nicht gegeben ist, sondern konstruiert wird und dass diese Konstruktion auf einem unmittelbaren „Identitätsgefühl“ aufbaut, auf dem Gefühl, dass ich ich bin.170 Auf dieser Basis entwickelt sich durch Erfahrung, Reflexion und 166 Vgl. Reckwitz, Identitätsdiskurs. 167 Ders., Identitätsdiskurs, 25. 168 Jürgen Straub, Identitätstheorie im Übergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des Nicht-Identischen in subjekttheoretischen Diskursen, in: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau 14, 1991, 49–71, 54–61. 169 Vgl. Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000. 170 Vgl. Heiner Keupp u.a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 1999, 28–29.

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Konstruktion eine Selbst- und Weltsicht, die erfahrungsdeutende und handlungsleitende Funktionen hat. Der Identitätsforscher Heiner Keupp und sein Team formulieren im Blick auf diese zweite, individuell konstruierte Schicht: Identität verstehen wir als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient. In dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen.171

Die Rede von „Teilidentitäten“ verweist auf den von Reckwitz beschriebenen Wandel der Identitätssemantik im Kontext der Postmoderne. Diese Verschiebung kann – so weit der Identitätsbegriff in den einschlägigen Debatten wegen seiner resultativen Momente und seiner impliziten Einheitsvorstellung nicht verabschiedet wurde172 – durch die Stichworte Prozessualität, Vielfalt, Patchwork, Sinnbasteln und Intersubjektivität charakterisiert werden. Man könnte auch sagen: Die Weiterentwicklungen des Identitätsbegriffs haben ihn den soziokulturellen Entwicklungen angepasst. Die Ende der 90er Jahre erneut einsetzende Konjunktur des Identitätsbegriffs kann als Reflex auf das hohe Tempo des gesellschaftlichen Wandels gedeutet werden.173 Den Hintergrund dieser Dynamik bilden die in verschiedenen Zusammenhängen schon skizzierten Modernisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts. Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von der „reflexiven Moderne“, die einen zweiten Individualisierungsschub mit sich gebracht habe, der industriegesellschaftliche Lebensformen durch solche ersetzt

171 Keupp, Identitätskonstruktionen, 60. 172 So plädiert Wolfram Fischer-Rosenthal dafür, den Identitätsbegriff als unterkomplexes Konzept, das mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt halten könne, zu verabschieden und durch den Begriff der Biographie zu ersetzen, der den lebenslangen Orientierungsprozess von Individuen in funktional differenzierten Gesellschaften besser zu beschreiben vermöge. FischerRosenthal deutet die Konjunktur des Identitätskonzeptes als Kompensation des Verlustes allgemeiner Sinnzusammenhänge, des „heiligen Baldachins“, von dem Peter Berger spricht, vgl. Wolfram Fischer-Rosenthal, Melancholie der Identität und dezentrierte biographische Selbstbeschreibung. Anmerkungen zu einem langen Abschied aus der selbstverschuldeten Zentriertheit des Subjekts, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 12, Heft 2, 1999,143–168. Auch wenn man einigen Beobachtungen Fischer-Rosenthals zustimmen mag, ist der Identitätsdiskurs doch ein gegenwartskulturell nach wie vor so präsenter Diskussionszusammenhang der Probleme des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, dass er ganz abgesehen von der Zukunftsfähigkeit seiner Theoriekonzepte schon allein aus zeitdiagnostischen Gründen nicht beiseite gelassen werden kann. 173 Vgl. Keupp, Identitätskonstruktionen, 8. Für die Konjunktur des Identitätsbegriffs stehen u.a.: Heiner Keupp/Renate Höfer (Hg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt a.M. 1997; Herbert Willems/Alois Hahn (Hg.), Identität und Moderne, Frankfurt a.M. 1999, weitere Literaturhinweise in diesen Bänden.

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habe, „in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenschustern müssen“.174 Diese Entwicklung erfährt in der Spätmoderne/Postmoderne – also vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – eine Radikalisierung, so dass noch mehr strukturierende Eigenleistung von den Subjekten gefordert ist, ein Prozess, der sich auch in dem Terminus „Identitätsarbeit“ spiegelt. Ein anderer Ausdruck dieses Sachverhaltes ist der schon genannte Begriff „Bastelexistenz“. Das Ergebnis dieses Identitätsarbeitens und -bastelns hat Heiner Keupp als „Patchwork-Identität“ beschrieben.175 Der Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass auch die erreichten Identitäts-Kontinuitäten durch Zusammengesetztheit, Fragmentarität und Prozessualität ausgezeichnet sind. In der gegenwärtigen Diskussion werden diese soziologischen und sozialpsychologischen Charakterisierungen in medienwissenschaftlicher Perspektive bestätigt und weitergeführt. Den Hintergrund bilden Beobachtungen im Zusammenhang mit den neuen Erfahrungsmöglichkeiten, die durch die computervermittelte Kommunikation des Internet eröffnet werden. Ein Schlüsseltext ist das 1995 in Amerika und 1998 unter dem Titel Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet in Deutschland erschienene Buch der amerikanischen Soziologin Sherry Turkle.176 Turkle vertritt die These, dass die Computerisierung unserer kulturellen Kontexte – sie spricht auch von einer „Kultur der Simulation“177 – die Art der Formung und Erfahrung von Identität weiter verändere. Vielfalt und Wandlungsfähigkeit würden immer wichtiger. Das Internet eröffnet neue Möglichkeiten der Konstruktion und Inszenierung von Identität. In den virtuellen Welten von Spielen oder anderen Sozialität ermöglichenden Kommunikationsräumen des Internet können die Internetnutzer sich textbasiert oder in Verbindung mit Piktogrammen beliebige Identitäten zulegen. Die spezifische Entkopplung von Sender und Botschaft ermöglicht Rollenspiele, bei denen aus Männern Frauen werden können und umgekehrt. Die Nutzer können ihren virtuellen Körper nach ihrem Gusto beschreiben und auch graphisch entwerfen. Sie können sich auf diese Weise ganz neu inszenieren und die Grenzen ihres Körpers und ihrer Geschichte partiell aufbrechen. Sie können sich viele solcher virtuellen Identitäten zulegen und in der Kommunikation mit anderen Nutzern vielfältige neue Erfahrungen sammeln. 174 Ulrich Beck, Die „Individualisierungsdebatte“, in: Bernhard Schäfers (Hg.), Soziologie in Deutschland. Entwicklung, Institutionalisierung und Berufsfelder, theoretische Kontroversen, Opladen 1995, 185–198, 190. 175 Heiner Keupp, Auf dem Weg zur Patchwork-Identität? In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 20, Heft 4, 1988, 425–438. 176 Sherry Turkle, Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek bei Hamburg 1998. 177 Turkle, Netz, 10.

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Turkle berichtet, dass sich Internet User oftmals parallel in mehreren solchen Welten bewegen, die durch die verschiedenen gleichzeitig auf dem Computerbildschirm geöffneten Fenster zugänglich sind. Turkle führt aus: „In der alltäglichen Praxis vieler User sind Fenster zu einer starken Metapher für die Annahme geworden, dass das Selbst ein multiples, dezentriertes System ist. [...] Die Fenster nötigen uns [...] die Lebenspraxis eines dezentrierten Selbst auf, das in vielen Welten existiert und viele Rollen gleichzeitig spielt.“178 An einer Reihe von Fallbeispielen zeigt Turkle, dass die Erfahrungen mit Netz-Identitäten in sogenannten MUDs (virtuellen Internet-Welten) als produktiv und nicht als bedrohlich erlebt werden können. Eine 26-jährige Büroangestellte bekennt: „Ich bin nicht eine Person, ich bin viele. Jeder Teil lässt sich in den MUDs vollständiger ausdrücken als in der Echtwelt. Auch wenn ich mehr als ein Selbst in den MUDs auslebe, empfinde ich mich beim MUDing mehr als ‚mich selbst‘.“179 Der Außenseiter Gordon („fünfundneunzig Kilo mit Brille“) erlebt die Chance eines Neubeginns im Internet, erfährt Integration und Anerkennung und findet schließlich sogar eine Freundin, mit der er auch im wirklichen Leben (im Userjargon: Real Life oder RL) eine Beziehung eingeht.180 Die Studentin Ava, die bei einem Autounfall ein Bein verlor, findet durch die Erfahrung von virtuellem Sex auch im wirklichen Leben wieder zu einer erfüllten Sexualität zurück.181 Turkle resümiert: Ich habe behauptet, unsere Erfahrungen im Internet helfen uns, Modelle psychischen Wohlbefindens zu entwickeln, die in einem bedeutsamen Sinne postmodern sind: Sie erlauben uns Vielfalt und Flexibilität, und sie erkennen die Wirklichkeit, das Selbst und den anderen als Konstrukte. [...] Auf diese Weise werden wir darin bestärkt, uns als wandlungsfähige, emergente, dezentrierte, multiple und flexible Subjekte in einem ständigen Prozess des Werdens zu betrachten.182

Die Internet-Forscherin und Turkle-Kollegin Amy Bruckman hat die virtuellen Internet-Umgebungen treffend als „Identity Workshops“ bezeichnet.183 Die virtuellen Welten erschließen der zunehmenden Reflexivität des Projektes Identität neue Räume. Sie unterscheiden sich von den bekannten kulturellen Reflexionsräumen und Wissensordnungen wie Religion, Psychotherapie, Kunst und Wissenschaft durch eine neue Radikalität der Inszenierungsoptionen. Sherry Turkle sieht in ihnen eine der Psychotherapie 178 Turkle, Netz, 17. 179 Dies., Netz, 298. 180 Dies., Netz, 306f. 181 Dies., Netz, 430. 182 Dies., Netz, 429f. 183 Amy Bruckman, Identity Workshop: Social and Psychological Phenomena in Text-Based Virtual Reality. MIT Media Laboratory 1992, cc.gatech.edu/pub/people/asb/papers/identityworkshop.rtf, 22f (23. April 2004).

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vergleichbare Bereicherung unserer Selbstgestaltungsmöglichkeiten.184 Spezifisch für diese neuen Möglichkeiten der Selbstinszenierung im Cyberspace ist dabei ihr spielerischer Charakter. Er entsteht durch die Relativierung des alltagsweltlichen Referenzrahmens der Kommunikation.185 Welche Auswirkungen die mit der Computervermittlung gegebene Ambivalenz von Begrenzung und spielerischer Erweiterung der Kommunikationserfahrung, von Missverständnissen aufgrund fehlender situativer Kontexte und Täuschungen durch Inszenierungspraktiken langfristig auf Identitätsbildungsprozesse haben werden, gehört zu den zentralen Fragestellungen einer interdisziplinären Erforschung des Internet. Ich habe den Internet-bezogenen Identitätsdiskurs darum etwas ausführlicher dargestellt, weil er in zweierlei Hinsicht paradigmatisch für die jüngsten Entwicklungen dieser Debatte ist: Zum einen steht er für die Wahrnehmung der zunehmenden Bedeutung von Medien für den Identitätsbildungsprozess, zum anderen bringt er die postmodern-konstruktivistische Auffassung von Identität exemplarisch zum Ausdruck. Diese wird auch im sozialphilosophischen Diskurs hervorgehoben. Eine in diesem Zusammenhang erhellende Unterscheidung macht Undine Eberlein in ihrer sozialphilosophischen Untersuchung gegenwärtiger Individualitätskonzepte im Anschluss an Michel Foucault und dessen Idee einer „Ästhetik der Existenz“: Sie unterscheidet zwischen Selbstfindung und Selbstproduktion.186 Beide Perspektiven interpretiert Eberlein als spezifische Ausformungen des romantischen Individualitätskonzeptes, das sich zunehmend durchgesetzt habe und gegenwärtig das vorherrschende Modell individueller Sinnstiftung, Selbstthematisierung und Lebensgestaltung sei, eine Art Ersatzreligion der Spätmoderne mit den Idealen der Authentizität und der Einzigartigkeit des Einzelnen. Eberlein kann zeigen, dass die Idee der Selbstfindung im Sinne einer Suche nach dem „wahren Selbst“, die in der bundesrepublikanischen Alternativkultur der 70er Jahre noch dominierte, in den 80er und erst recht in den 90er Jahren durch das Konzept der Selbstproduktion nach dem Vorbild künstlerischer Arbeit abgelöst worden ist. Ein Faktor für diesen Wechsel sei nicht zuletzt der Mangel an theoretischer Plausibilität des Selbstfindungsmodells gewesen. Heute gehe es nicht mehr um Selbstfindung, sondern um Selbstproduktion und Selbstgestaltung. Ziel 184 Sherry Turkle, Identität in virtueller Realität, in: Stefan Bollmann/Christiane Heibach (Hg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1996, 315–331, 314ff. 185 Sybille Krämer, Netzphilosophie. Über die Kommunikation im Internet. Überlegungen zur telematischen Interaktion, in: Christian Hartmann u.a. (Hg.), Netzdiskurs. Das Internet und der Strukturwandel von Kommunikation und Öffentlichkeit, Loccumer Protokolle 67/97, Loccum 1998, 11–22, 18ff. 186 Undine Eberlein, Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne, Frankfurt a.M./New York 2000, 26–61.

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dieser Bemühung sei die Inszenierung der eigenen Person als einzigartig. Der Wert ‚Einzigartigkeit‘ sei in die normativen Bestände der Gegenwartskultur aufgenommen. „Sei originell!“, „Sei einzigartig!“ lauten mithin die Imperative, die die normativen Horizonte besonders im Bereich des von Gerhard Schulze so genannten Selbstverwirklichungsmilieus kennzeichnen. In diesem Zusammenhang lasse sich auch eine Ausweitung und Diffusion des vormals nur in der Arbeitswelt relevanten Leistungsprinzips beobachten. Erfolgsdruck bestehe nicht mehr nur im Berufsleben, auch die Selbstgestaltung der eigenen Individualität, die Selbstverwirklichung, sei zu einem Wettbewerbsthema geworden. Soziokulturell leben wir also, so muss man vor dem Hintergrund von Eberleins Diagnose wohl folgern, in einem fortgesetzten Wettkampf um Einzigartigkeit. Es genügt nicht mehr, ein im Sinne der Selbstbestimmung eigenes Leben zu führen, es muss sich auch durch Einzigartigkeit auszeichnen. Dass diese auch wahrgenommen werden will, dass ihr Wert mit der sozialen Anerkennung steigt, dass diese in der Mediengesellschaft wiederum eng mit Fragen der Medienpräsenz verknüpft ist, bleibt bei Eberlein jedoch noch unberücksichtigt. So wäre in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass Medienpräsenz in der Form von Internet-Homepages schon zum selbstverständlichen Inventar heutiger Selbstproduktionspraktiken von Jugendlichen gehört. Eberleins sozialphilosophisch orientierte Beschreibung der Karriere, Ausbreitung und Diffusion des romantischen Individualitätskonzeptes in den Mainstream der Gesellschaft hinein konvergiert in ihren Grundzügen weitgehend mit der skizzierten Entwicklung des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses. Beide Diskussionsstränge betonen die Durchsetzung des Selbstproduktionsparadigmas, in identitätstheoretischen und sozialwissenschaftlichen Kontexten stehen dafür Begriffe wie Identitätskonstruktion, Identitätsarbeit oder Bastelexistenz, in den mehr sozialphilosophisch orientierten Diskursen Termini wie Selbsterschaffung und Ästhetik der Existenz. Betont Eberlein als Philosophin die theoretische Inkonsistenz des Selbstfindungsparadigmas, so kann ein Blick in die sozialwissenschaftliche Analyse des soziokulturellen Wandels in der Postmoderne die gesellschaftskulturellen Ursachen des Wechsels vom Selbstfindungsmodell zum Selbstproduktionskonzept noch einmal aus anderen Perspektiven erläutern und verdeutlichen. Wie erscheint die Unterscheidung von Selbstfindung und Selbstproduktion im Horizont des schon mehrfach herangezogenen Diskursfeldes der sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnose? In der Postmoderne ist der einzelne zunehmend weniger bestimmt durch traditionelle Bindungen und soziale Herkunft. Die Macht des Vorherbestimmten nimmt zugunsten eines Anwachsens der Optionen weiterhin ab. Unter diesen Optionen muss das Subjekt beständig auswählen. Sie zwingen es zur Wahl und zur Reflexion der Wahl. Die Subjekte sind zur Selbstpro68

duktion herausgefordert, sie sind strukturell dazu gezwungen. Statt Finden des Vorgezeichneten ist ein permanentes Entscheiden gefordert, eine fortgesetzte Kontingenzbewältigungspraxis (in dem Sinne, dass die Entscheidung immer auch anders ausfallen könnte), die zugleich einen permanenten Prozess der Selbsterschaffung beinhaltet. Einen wesentlichen Aspekt des Charakters dieser Selbstproduktionsarbeit der Subjekte beleuchten Ronald Hitzler und Anne Honer mit den Metaphern des „Sinnbastelns“ und der „Bastelexistenz“: Sie heben damit die Laienhaftigkeit der Selbstproduktionsarbeit im Bereich der Sinnorientierungen hervor.187 An die Stelle der religiösen und weltanschaulichen Sinn-Heimaten sei, so Honer und Hitzler, ein Supermarkt der Sinnangebote getreten, in dem sich die Sinnbastler nun bedienen müssten, ohne selbst Experten für Sinnkonstruktionen zu sein. Über das Angebot ist der Sinnbastler qua Medien informiert. Hitzler und Honer verstehen Medien in diesem Zusammenhang allerdings noch mehr als Kataloge, aus denen der Bastler seine Materialien wählt, weniger als eigenständige Angebote, die selbst schon umfassende Sinnangebote enthalten. Die Medien sind jedoch, das zeigen unter anderem die Beobachtungen von Turkle deutlich, selbst als Bastelmaterial in Rechnung zu stellen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Narrationen der Medienkultur. Denn: „Kohärenz wird über Geschichten konstruiert.“188 Erzählungen sind das bevorzugte Medium, mit Hilfe dessen Subjekte ihre Erfahrungen rekonstruieren, in einen sinnhaften Zusammenhang bringen und kommunizierbar machen. Festzuhalten ist: Die Selbsterschaffung im Bereich der Sinnorientierungen stellt hohe Anforderungen an die Subjekte. Denn sie müssen ihre sinnschöpferischen Kompetenzen autodidaktisch entwickeln. Wesentliche Ressourcen dieses Lern- und Produktionsprozesses sind die Sinnerzählungen der Medienkultur. Dieser Umstand macht auf einen weiteren wichtigen Sachverhalt aufmerksam, der mit der Bastelmetapher ebenfalls in den Blick kommt. Sie ist nämlich auch darum recht treffend, weil sie auf etwas hinweist, was in den Beschreibungen der Freiheitszuwächse postmoderner Individualisierung oftmals zu wenig Beachtung findet: auf die kulturelle Vorgegebenheit des Bastelmaterials. Damit sind erhebliche Standardisierungen verbunden, die die Gestaltungsspielräume und Möglichkeiten für das Komponieren einer individuellen Lebensstil- und Lebenssinncollage nicht wenig einschränken. Hier ist die an Einzigartigkeit orientierte Selbstproduktion in besonderer Weise herausgefordert. Es gilt, das Bastelmaterial zu benutzen, das allen zur Verfügung steht, und daraus gleichwohl eine Identität zu kreieren, die 187 Hitzler/Honer, Bastelexistenz, 310. 188 Keupp u.a., Identitätskonstruktionen, 58.

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durch ihre Einzigartigkeit hervorsticht. Es wird deutlich, dass unter diesen Bedingungen dem Ästhetischen, dem Stil, eine herausragende Bedeutung zufallen muss. Denn auf welchem Wege sollten sich die geforderten Differenzen sonst erzeugen lassen? Man wird allerdings konzedieren müssen, dass neben der Ausarbeitung von Einzigartigkeit auch das Erreichen von Kohärenz und das Erlangen von Anerkennung als zentrale Ziele der Identitätsarbeit weiterhin bestehen bleiben. So hält Heiner Keupp die Kohärenz für essentiell und die Anerkennung für das wichtigste Ziel der Identitätsarbeit.189 Keupp resümiert: „Kohärenz, Anerkennung, Authentizität, Handlungsfähigkeit, Ressourcen und Narration sind wichtige Bausteine des Modells der alltäglichen Identitätsarbeit.“190 Einzigartigkeit wird von Keupp nicht genannt. Sie ist in seiner Beschreibung noch am ehesten in dem Begriff der Authentizität enthalten. Vor dem Hintergrund eigener lebensweltlicher Beobachtungen scheint mir die Analyse von Eberlein und ihre Betonung von Einzigartigkeit als Ziel der Selbstproduktion jedoch in treffender Weise über Keupp hinauszugehen, jedenfalls im Blick auf jene Milieus, in denen die Voraussetzungen für eine exzessive Befassung mit der eigenen Selbsterfindung gegeben sind. Identitätsarbeit findet schließlich nicht in allen Bereichen der Gesellschaft in gleicher Weise statt. Dieser Aspekt des soziokulturellen Kontextes verweist noch einmal zurück auf die Grundbedingungen. Ganz basale Voraussetzungen und Begrenzungen des Sinnbastelns liegen in den soziokulturellen Ressourcen der Subjekte. Ohne entsprechende Bildungsvoraussetzungen und ohne gewisse finanzielle Möglichkeiten ist an ein Sinnbasteln, das seinen Namen verdient, gar nicht zu denken. Die Bastelexistenz wird darum vor allem – ich hatte schon darauf hingewiesen – im Bereich des Selbstverwirklichungsmilieus anzutreffen sein. Man darf ihre Bedeutung deshalb sicher nicht unterschätzen, repräsentiert sie doch ein Milieu, das als Vorhut des gesellschaftlichen Wandels angesehen werden kann. Anderseits darf nicht aus dem Blick geraten, dass in anderen gesellschaftlichen Bereichen andere Prioritäten gelten. Heiner Keupp und die um ihn versammelten Identitätsforscher resümieren vor dem Hintergrund ihrer empirischen Identitäts-Forschungen: „Wir haben in unserer Untersuchung viele Belege für Lebenskunst gefunden, und zweifelsohne bekommen ästhetische Kategorien in den Identitätsnarrationen eine wachsende Bedeutung; aber die Fragen nach Zugehörigkeit, Anerkennung und nach Bedingungen gesicherten Vertrauens in die Tragfähigkeit eigener Beziehungen scheinen uns nach wie vor von überragender Bedeutung für die alltägliche Identitätsarbeit zu sein.“191 189 Vgl. Keupp u.a., Identitätskonstruktionen, 246 und 252ff, 267. 190 Dies., Identitätskonstruktionen, 270. 191 Dies., Identitätskonstruktionen, 297.

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Diese zuletzt genannten Aspekte der sozialen Bezogenheit und Gemeinschaftsbedürftigkeit von Identität sind in jüngerer Zeit von der Kommunitarismus-Debatte betont worden.192 Von ihrer Bedeutung zeugt auch die vermehrte Hinwendung zu klar abgegrenzten Gruppen nationalistischer, religiösfundamentalistischer, sektenähnlicher oder religiös-therapeutischer Couleur. Weiterhin sieht es so aus, als ob Medien auch in dieser Hinsicht eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Denn sie schließen den einzelnen an soziale Kommunikationen und soziale Synthesen an, sei es als Rezipienten oder – wie zum Beispiel im Internet – auch als Produzenten. Festgehalten werden kann, dass die Auseinandersetzung mit medienkulturellen Kontexten unter dem Druck der gestiegenen Anforderungen an die Selbstkonstruktions-, Selbstproduktions- und Selbstdeutungsleistungen der Subjekte im Blick auf ihre Identität und Individualität an Bedeutung gewonnen hat. Dies gilt auch für die religiöse Identität und die sie hervorbringende und umgreifende individuelle Religiosität. Der an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft angesiedelte Identitätsdiskurs hat darüber hinaus auf zwei Momente im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft besonders aufmerksam gemacht: auf das Moment der Zugehörigkeit und das der Einzigartigkeit. Korrespondiert Zugehörigkeit mit basaler gesellschaftlicher Anerkennung und subjektivem Vertrauen, so Einzigartigkeit mit besonderer gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und expressiver subjektiver Selbstproduktion. Es wird zu fragen sein, welche Rolle Medienerfahrungen und ihre religiösen Gehalte im Blick auf diese Anforderungen der Selbstverortung und Selbsterschaffung im Soziokulturellen und Religiösen spielen. 2.4.2 Theologische Deutungen des Identitätsbegriffs Der sozialwissenschaftliche Identitätsdiskurs wurde vor allem im Bereich der Praktischen Theologie und hier vor allem in der Religionspädagogik aufgenommen. Helmut Reiser ging 1972 so weit zu formulieren: „Die Grundfrage der Religions-pädagogik ist mithin das Problem der menschlichen Identität.“193 Im Kontext eines therapeutisch orientierten und sozialisationsbegleitend konzipierten religionspädagogischen Ansatzes erhielt der Identitätsbegriff einen mehr oder weniger normativen Status. Religion wurde daran gemessen, inwieweit sie dazu beitrug, eine gelingende Identität auszubilden. Identitätsbeschädigende Erfahrungen mit Kirche und Religion sollten bearbeitet 192 Vgl. dazu Wolfgang Bialas, Kommunitarismus und neue Kommunikationsweise. Versuch einer Kontextualisierung neuerer philosophischer Diskussionen um das Identitätsproblem, in: Keupp/Höfer, Identitätsarbeit, 40–65. 193 Helmut Reiser, Identität und religiöse Einstellung, Hamburg 1972, 22.

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und abgebaut, identitätsfördernde entwickelt und gestärkt werden. Der religionspädagogische Identitätsdiskurs bewegte sich weitgehend im Fahrwasser des pädagogischen.194 Eine eigenständigere und originellere Auseinandersetzung mit dem Identitätsdiskurs im Kontext der Praktischen Theologie beginnt erst Ende der 80er Jahre im Zuge der Rezeption von Theoremen der PostmoderneDiskussion und den damit einhergehenden Konzepten der Pluralisierung und Flexibilisierung von Identität. Diese Ansätze sind vor allem mit dem Namen Henning Luther verknüpft. Luther deutet die Heterogenität und Fragmentarität postmoderner Identität im Horizont von Sündenbegriff und Rechtfertigungstheologie. Er resümiert: „Gegen ein Identitätskonzept, das Identität als herstellbare und erreichbare versteht und das für Identität Kriterien wie Einheitlichkeit, Ganzheit und dauerhafte Kontinuität konstitutiv macht, wären darum vielmehr die Momente des Nicht-Ganz-Seins, des Unvollständig-Bleibens, des Abgebrochenen – kurz: Momente des Fragments zur Geltung bringen.“195 Diese Momente könnten aus theologischer Sicht ohne Angst zur Geltung gebracht werden. Die Gottebenbildlichkeit sei eine kontrafaktische Zusage und eben keine Frage der Bella Figura, des Erfolgs biographischer Identitätsarbeit, sondern der Gnade und des Glaubens. Das theologische Konzept der Rechtfertigung wird damit zur zentralen Deutungskategorie sowohl für das Anerkennungsproblem der Identitätsarbeit als auch für ihr Streben nach einer Ausarbeitung von Einzigartigkeit. Im Blick auf Religionspädagogik und Homiletik betont Luther, das eigentümlich Christliche liege darin, „davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentiertheit von Ich-Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glaube hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.“196 Ähnlich argumentiert Bernhard Dressler. Auch er interpretiert die Rechtfertigungslehre als identitätskritische Botschaft, die vom „Selbstverwirklichungszwang“ entlaste und die Annahme von Erfahrungen der Sinnlosigkeit und Fragmentarität zulasse.197 Abschließen will ich diese knappe Sichtung theologischer Deutungen der Identitätsthematik durch die Vergegenwärtigung identitätsbezogener Überlegungen Wilhelm Gräbs, die noch einmal die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Identitätsarbeit in den Blick nehmen. Gräbs Sicht der 194 Vgl. Gesa Heinrichs, Identität und Geschlecht: Bildung als diskursive Praxis der Geschlechterformierung, in: Britta L. Behm (Hg.), Das Geschlecht der Bildung – die Bildung der Geschlechter, Opladen 1999, 219–237, 221. 195 Henning Luther, Umstrittene Identität. Zum Leitbild der Bildung, in: ders., Alltag, 150–159, 159; weiterhin: ders., Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: ders., Alltag, 160–182. 196 Luther, Fragment, 172. 197 Bernhard Dressler, Wie bilden sich heute religiöse Identitäten? In: Pastoraltheologie 87, 1998, 236–252, 252.

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Identitätsproblematik konvergiert dabei in ihrer Grundstruktur mit der zu Beginn beschriebenen Zweistufigkeit von Identität, bei der eine Deutungsebene auf der Basis eines unmittelbaren Identitätsgefühls aufbaut. Gräb bezeichnet den genannten Sachverhalt als „die Paradoxie der Selbstvertrautheit“.198 Auf der einen Seite haben wir einen unmittelbaren Zugang zu uns selbst, auf der anderen Seite fragen wir nach unserer Identität. Wir haben ein unmittelbares Gefühl von uns selbst, müssen jedoch zugleich beständig an der Frage arbeiten, wer wir sind, wie wir die Welt sehen und wie wir uns in ihr verhalten wollen. Diese Momente der Fremdheit und Unbestimmtheit im Verhältnis zu uns selbst fordern uns beständig heraus, unser Leben zu deuten. Gräb spricht in diesem Zusammenhang und im Anschluss an Schleiermachers Religionstheorie auch von „Religion 1“ und „Religion 2“.199 Denn er versteht die bewusste Einholung der unmittelbaren Selbstvertrautheit schon als eine basale religiöse Erfahrung (Religion 1). Sie macht uns das unverfügbare Sichgegebensein des Selbstbewusstsein bewusst. „Religion 2“ bezeichnet hingegen „die Vorstellungen, mit denen wir uns deutend zu uns verhalten“.200 Im Blick auf den empirischen Teil der Untersuchung machen Gräbs Ausführungen über das Verhältnis von unmittelbarer Selbstvertrautheit und Deutungsbedürftigkeit noch einmal nachdrücklich auf die Notwendigkeit von Selbstdeutung als einem menschlichen Grundbedürfnis aufmerksam, das durch das Phänomen der unmittelbaren Selbstvertrautheit keineswegs suspendiert wird, vielmehr auf dieser erst aufbaut. 2.4.3 Religiöse Identitätsbildung und individuelle Religiosität Die von Henning Luther entwickelte dezidiert christliche Perspektive der Identitätsthematik ist für die Fragestellung der vorliegenden Studie zunächst zu eng. Hier interessiert der Prozess der religiösen Identitätsbildung und Selbstverortung in seiner ganzen Breite. Wie das Spektrum dieser Breite abgegrenzt wird, hängt einmal mehr von der religionstheoretischen Optik ab. Für einen ersten Zugang zur Bedeutung von Medien für den religiösen Identitätsbildungsprozess soll der Winkel – wie oben schon ausgeführt – möglichst weit eingestellt und mit Luckmanns weitem Religionsbegriff gearbeitet werden. Religiöse Identitätsbildung wird dann synonym mit dem Sinnbasteln von Hitzler und Honer. Sie ist vor dieselben Probleme der Auswahl und Neukombination von Sinnangeboten gestellt. Religiöse Iden198 Gräb, Lebensgeschichten, 63ff. 199 Ders., Lebensgeschichten, 66–69. 200 Ders., Lebensgeschichten, 67.

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tität kann dabei als der Kontinuitätsaspekt von individueller Religiosität verstanden werden. Die Studie favorisiert gleichwohl den Begriff der individuellen Religiosität, um auch in dieser Hinsicht die Perspektive möglichst offen zu halten. Die Untersuchung will die zeitdiagnostischen Früchte des Identitätsdiskurses ernten, ohne seinen zentralen Begriff prominent aufzunehmen und zu positionieren. Er scheint mir zu vieldeutig und im Blick auf das Interesse der vorliegenden Untersuchung trotz aller Umformung und Neuinterpretation nicht zuletzt immer noch zu stark von den Momenten der Kontinuität und des Resultativen bestimmt. Für die Hermeneutik von Erfahrungsprozessen scheint er mir darum nur bedingt geeignet zu sein. Aus diesem Grund soll der Identitätsbegriff im Theoriedesign dieser Studie im Hintergrund bleiben. Gleichwohl könnten sich Perspektiven und Unterscheidungen des Identitätsdiskurses in der Deutung des Materials als hilfreich erweisen. Fortgeführt wird der weiter gefasste Begriff der individuellen Religiosität. Der Begriff wird im Sinne Luckmanns als „individuelles System ‚letzter‘ Relevanzen“ verstanden.201 Er hat eine gewisse Nähe zu dem in der Therapiekultur verbreiteten Begriff der Spiritualität.202 Eine große Schnittmenge scheint er mir mit dem Begriff der gelebten Religion zu bilden. Individuelle Religiosität betont etwas stärker die Subjektivität und scheint mir darum den Gegenstand der Untersuchung noch präziser ins Auge zu fassen als der Begriff der gelebten Religion, der stärker auf die körperliche und soziale Performance abhebt. In den Selbstdeutungsprozessen individueller Religiosität können sich implizite und explizite Momente mischen: explizit religiöse Sinnbezüge, die religiöse Traditionen verarbeiten, und implizit religiöse Sinnmuster, die nur in funktionaler Hinsicht als religiös gedeutet werden können. Individuelle Religiosität lebt dabei von den Deutungsangeboten der Religionskultur in Kirche und Gesellschaft, von der Medienreligion des Kinos ebenso wie von den Sinnerzählungen der Bibel. Sie ist Produkt und Prozess individueller Selbstgestaltung im Feld des Religiösen.203 Sie bildet sich – wie die religiöse Identität – in der Auseinandersetzung der Subjekte mit den religiösen Sinndimensionen ihrer sozialen und 201 Luckmann, Religion, 118. 202 Die Konjunktur des Begriffes „Spiritualität“ in deutschsprachigen Psychologie- und Psychotherapiekontexten geht auf eine Rezeption des amerikanischen Spiritualitätsdiskurses zurück. Vgl. Michael Utsch, Psychotherapie und Spiritualität: Aktuelle Trends und alte Konflikte, in: Materialdienst der EZW, Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 65, 3/2002, 68–78. Der Begriff ist dem Begriff der „gelebten Religion“ ebenfalls verwandt: Er zielt auf die individuelle Religiosität, die sich nicht in erster Linie an institutionellen oder dogmatischen Normen orientiert, sondern sich in der subjektiven und eklektizistischen Auseinandersetzung mit dem pluralen Kosmos heutiger Religionskultur aufbaut. 203 Vgl. zu diesem Gestaltungsaspekt auch Hans-Jürgen Fraas, Art. „Religiosität“, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Göttingen ³1992, 1619–1621.

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kulturellen Umwelt.204 Individuelle Religiosität erwächst also aus Interaktionen. Sie ist nicht natürlich gegeben, sondern bildet sich durch religiöse Kommunikation. Bernhard Dressler stellt zurecht klar: Analog zum Verhältnis von Spracherwerb und Denkfähigkeit lässt sich [...] sagen, dass nicht religiösen Gefühlen und Einsichten sekundär ihre Artikulationsformen zu wachsen, sondern umgekehrt: Durch den Gebrauch religiöser Zeichen wird man religiös.205

Die Veränderungen des religionskulturellen Zeichenvorrats sind beschrieben: Dem Bedeutungsverlust der kirchlichen Religionskultur steht ein Bedeutungszuwachs der außerkirchlichen Religionskultur gegenüber. Auf die gewachsene Bedeutung der Medien in diesem Zusammenhang wurde schon mehrfach hingewiesen. Sie steht im Folgenden zur Debatte.

2.5 Religion und Medien 2.5.1 Die Medialisierung von Religion Religion findet heute in der Mediengesellschaft statt. Das war natürlich in bestimmter Hinsicht immer schon so. Denn auch Stimme und Schrift sind Medien – in einem weiten Sinne. Die Rede von der Mediengesellschaft bezieht sich demgegenüber vor allem auf den Prozess der Moderne und insbesondere auf die Zeit seit der Erfindung, Ausbreitung und Ausdifferenzierung der technischen Massenmedien, also in erster Linie von Film, Hörfunk, Fernsehen und Internet. Die Medientechnologien haben Kultur und Gesellschaft verwandelt. Auch die Religionskultur – die kirchliche wie die außerkirchliche – ist davon nicht unberührt geblieben. Die Medien haben die Strukturen religiöser Kommunikation verändert. Einen ersten Einschnitt bildet die schriftliche Fixierung der religiösen Überlieferungen. Mit ihr setzt die Kanonisierung von Texten ein, zu denen bestimmte Gruppen privilegierten Zugang haben. Die zunächst begrenzte Verschriftlichung bedeutet ein verstärktes Reflexivwerden der religiösen Kommunikation. Theologie als systematisches Nachdenken über Religion entsteht. Für den Beginn der Neuzeit ist die Erfindung des Buchdrucks um 1450 entscheidend. Der Buchdruck hat weitreichende Folgen. Er ist für die Renaissance ebenso grundlegend wie für die 204 Vgl. zur Unterscheidung von Religion als sozialer und kultureller Kategorie und Religiosität als darauf bezogener individueller Kategorie auch Carsten Wippermann, Religion, Identität und Lebensführung. Typische Konfigurationen in der fortgeschrittenen Moderne. Mit einer empirischen Analyse zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Opladen 1998, 216–223. 205 Dressler, Identitäten, 251.

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wissenschaftlichen Revolutionen der Neuzeit und für die Reformation.206 Das Schriftprinzip der Reformation und die damit geforderte individuelle Bibellektüre waren erst durch die massenhafte Verbreitung der Bibel realisierbar. Der Prozess der Tradition christlich-religiöser Inhalte wurde dadurch grundlegend beeinflusst. Es kam zu einer Individualisierung und Demokratisierung der christlichen Religionskultur. Die Wechselwirkung von Buchdruck und Reformation führte zur öffentlichen Wahrnehmung von kontroversen Positionen. Öffentliche Kommunikation über Fragen der Religion wurde möglich. Ein Prozess der Pluralisierung und damit des selbstständigen Denkens breiter Schichten hatte begonnen.207 Eine Folge war, dass die Bedeutung der religiösen Institutionen als Monopolanbieter von Religionskultur – insbesondere der römisch-katholischen Kirche – abnahm208 – eine Entwicklung übrigens, die heute durch das Internet einen neuen, wirkungsmächtigen Impuls erhalten hat. Der aufgrund des Buchdruckes nun individuell lesbare Text ermöglichte und beförderte die Loslösung des Religiösen von der starken Bindung an kirchliche Autoritäten ebenso wie seine gleichzeitige Individualisierung. Ohne Medien ist weder die Reformation denkbar noch die weitere Entwicklung des Protestantismus zur Individuenreligion der Gegenwart. Deutlich ist, dass mit dieser Entwicklung eine Spiritualisierung oder, anders gesagt, Mentalisierung der Religion einherging. Denn durch die Verbreitung religiöser Texte wurde ihre Rezeption auch außerhalb des Gottesdienstes möglich, außerhalb der sozialen Aufführung von Religion. Diese verlagerte sich zu einem Teil in die Praxis der einsamen Lektüre und Kontemplation, in die mentalistische Religiosität der Individuen, die ohne Sozialform auskommt. Die Periodisierung von Medienangeboten ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts führte dann zur Konstitution von Öffentlichkeit als permanentem Wirkungszusammenhang und zugleich zu einer zunehmenden ökonomischen Autonomie und publizistischen Unabhängigkeit der Verlage.209 Im 19. Jahrhundert kam die Aufnahme von Anzeigen und Werbung hinzu und ermöglichte eine Umstellung der Finanzierungstechnik, die eine weitere Preissenkung und damit eine entsprechend weitere Verbreitung der Medienprodukte zur Folge hatte.210 Hubert Knoblauch hat hervorgehoben, dass diese durch den Buchdruck veranlassten Entwicklungen auch für den Bereich des Religiösen eine zunehmende Marktorientierung nach sich zogen.211 Drucker206 Vgl. Eisenstein, Press. 207 Vgl. Ludwig, Internet, 354. Ludwig weist darauf hin, dass der Buchdruck innerhalb weniger Jahre zu einem Preissturz der Bibel von 100 Prozent auf 2,2 Prozent führte, ders., Internet, 346. 208 Vgl. Knoblauch, Populäre Religion, 208ff. 209 Ludwig, Internet, 348–353. 210 Ders., Internet, 356. 211 Knoblauch, Populäre Religion, 209.

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pressen und Verlage waren schließlich kommerzielle Unternehmen, die ihre Erzeugnisse auf dem freien Markt verkaufen mussten. Diese kommerzielle Orientierung gilt im wesentlichen auch für den an der Schwelle zum 20. Jahrhundert aufkommenden Film. Das Ende der 30er Jahre entstehende Fernsehen wurde hingegen zunächst als ausschließlich über Gebühren finanzierte öffentlich-rechtliche Institution konzipiert und erst mit der Einführung des dualen Rundfunksystems in den 80er Jahren für den Markt freigegeben. Heute ist das Mediensystem ein komplexer Wirkungszusammenhang aus Printmedien und elektronischen Medien, der partiell subventioniert ist, vorwiegend jedoch kommerziell funktioniert und dabei zugleich eine eminent politische Funktion hat, nämlich die Gewährleistung der öffentlichen Kommunikation einer als plurale Demokratie organisierten Gesellschaft. Das Mediensystem schafft damit erst die Grundlage für demokratische Meinungsbildungsprozesse. Diese Funktion kann es nur unter der Bedingung der Pressefreiheit wahrnehmen, die darum ein so essentieller Wert für plurale Demokratien ist. Doch zurück zur Medialisierung der Religion. Knoblauch führt aus, dass sich unter dem Einfluss von Markt und Medien schließlich eine neue Form der Religion herausbildet, die er als „populäre Religion“ bezeichnet.212 Er erläutert seine These anhand der Phänomene der amerikanischen Electronic Church, der Ausbreitung des New Age-Komplexes und der Papstbesuche. Diese Formen von Religion werden, so Knoblauch, durch das globale Mediensystem verbreitet und individuell und außerhalb von Institutionen rezipiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich folgern: Medialisierung von Religion bedeutet eine weitere Individualisierung und Privatisierung religiösen Lebens. Und sie bedeutet im Post-Gutenberg-Zeitalter von Multimedialität und Audiovision eine erneute Versinnlichung. Jochen Hörisch hat darauf in seiner Mediengeschichte hingewiesen. Seine leitende These: Die im Bann von Stimme und Schrift stehende frühe Mediengeschichte ist sinnzentriert, die neuere Medientechnik fokussiert hingegen unsere Aufmerksamkeit immer stärker auf die Sinne. Phono- und Photographie machen es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts möglich, dies- und jenseits der Sinndimension, die dem Sprachmedium nun einmal nicht auszutreiben ist, zu prozedieren.213

Was diese Entwicklung für die Religionskultur bedeutet, ist kaum erforscht. Zu fragen wäre unter anderem nach der Bedeutung des Bildlichen für die religiöse Erfahrung und in diesem Zusammenhang auch nach dem Verhältnis des Visuellen zum religionstheoretisch vorherrschenden Paradigma der Deutung. 212 Ders., Populäre Religion, 201ff und 210ff. 213 Jochen Hörisch, Vom Sinn zu den Sinnen. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a.M. 2001, 14.

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Die multimedial und audiovisuell geprägte Medialisierung betrifft sowohl die kirchliche wie die außerkirchliche Religionskultur. Die populäre Religion der Medien ist dabei allerdings deutlich weiter zu fassen als in Knoblauchs Analyse. Denn das Mediensystem hat, so ein Ergebnis der theologischen Medienforschung, selbst und ganz unabhängig von den Inhalten der kirchlichen Religionskultur religiöse Funktionen übernommen. Den Kirchen ist auf dem Feld der Medien eine starke Konkurrenz erwachsen. Die Kirchen nehmen zwar immer noch einen wichtigen Platz in Kultur und Gesellschaft ein, doch die Machtdynamiken sind deutlich: Die Kirchen verzeichnen Bedeutungsverluste, das Mediensystem einen Bedeutungszuwachs. Dabei handelt es sich nicht um einen einfachen Substitutionsprozess der kirchlichen Religionskultur durch die moderne Medienkultur – wenngleich er mit Sicherheit auch solche Anteile hat. Die kirchliche Religionskultur löst sich schließlich nicht auf. Nur ihr Platz, ihre Bedeutung im gesellschaftskulturellen Gesamtkontext verändert sich. Zugleich ist mit Luckmann von Transformationsprozessen auszugehen: Traditionelle Religion wird medienkulturell umgeformt. Die daraus entstehenden Transformationsgestalten sind oftmals nicht mehr als Ausdrucksformen von Religion – jedenfalls von Religion im umgangssprachlichen Sinne – zu erkennen. In der einschlägigen Debatte wird dieses Phänomen einer unsichtbaren Religion der Medien, wir hatten schon darauf hingewiesen, auch unter dem Titel „Medienreligion“ erörtert.214 Nach einer langen Zeit der vorherrschenden Medienskepsis, die neben vielem anderen sicher auch mit einem gewissen Recht von den medien- und kulturkritischen Debatten der Kritischen Theorie und der Verflachung mancher Medienangebote genährt war, hat sich auch die protestantische Theologie, insbesondere die Praktische Theologie, in der letzten Zeit der Medien-Thematik stärker zugewandt. Dieses Medieninteresse der Praktischen Theologie und innerhalb ihres Feldes insbesondere der Religionspädagogik steht im Kontext einer generellen Öffnung für gegenwartskulturelle Phänomene mit einem Schwerpunkt bei der religionstheologischen Auseinandersetzung mit der populären Kultur.215

214 Vgl. Schilson, Medienreligion; weitere Literatur s.u. 215 Vgl. u.a. Gräb, Sinn; Herrmann, Sinnmaschine; Gotthard Fermor, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Stuttgart 1999; Thomas Klie (Hg.), Spiegelflächen. Phänomenologie – Religionspädagogik – Werbung, Münster u.a. 1999; HansMartin Gutmann, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 1998; Bernd Schwarze, Die Religion der Rock- und Popmusik. Analysen und Interpretationen, Stuttgart 1997.

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2.5.2 Medienreligion Günter Thomas hat vier Überschneidungsfelder von Religions- und Medienkultur unterschieden: 1. den Bereich der Selbst- und Fremddarstellungen expliziter Religion in den Medien (z.B.: Das Wort zum Sonntag, Sendungen der Fachredaktionen). 2. die Ebene der Verarbeitung von Versatzstücken der Tradition in den Medien. 3. die medialen Transformationsgestalten religiöser Rituale (Formate des performativen Realitätsfernsehens wie Hochzeitsshows u.a.). 4. die Ebene der Sinnstiftung und rituellen Alltagsstrukturierung.216 Die Debatte um die Medienreligion ist hauptsächlich auf der vierten Ebene angesiedelt. Arno Schilson führt aus: Das Besondere der Medienreligion liegt [...] darin, dass sie sich als herausragende Gestalt einer spezifisch postmodernen, diffusen und ‚vagierenden‘ Religiosität in der Vielfalt der Fernsehprogramme implizit und indirekt darstellt und deshalb eher unterbewusst bleibt, als dass sie unmittelbar und reflexiv wahrgenommen wird. Weder den Fernsehmachern und Programmgestaltern noch den Zuschauerinnen und Zuschauern dürfte diese religiöse Prägung einer scheinbar säkularen Fernsehwirklichkeit heute klar erkennbar sein.217

Es geht also vor allem um die unsichtbare Religion der Medien, um ihre Funktionen der Sinnvermittlung und Lebensstrukturierung, die erst auf der Basis eines funktionalen Religionsverständnisses als religiös interpretiert werden können. Das Konzept der Medienreligion ist somit nicht zuletzt das Ergebnis einer religionshermeneutischen Interpretation von Medienphänomenen. Diese Interpretation ist naturgemäß umstritten. So konzediert die Medienwissenschaftlerin Angela Keppler zwar eine „deutliche Verwandtschaft von religiöser und medialer Praxis“, meint aber, dass die unstrittigen Parallelen nicht ausreichen, um den Begriff der Medienreligion zu rechtfertigen.218 Zu den Parallelen, die Keppler vor allem am Beispiel der performativen TV-Reality-Shows (Nur die Liebe zählt, Traumhochzeit usw.) beobachtet, zählt sie die „Überschreitung der Privatsphäre“, die „Heiligsprechung der alltäglichen Existenz“, das „unbegrenzte menschliche Verstehen“, den rituellen Charakter und die „quasi-religiöse Vergemeinschaftung“. Sie zieht es jedoch im Unterschied zu Luckmann vor, „von einer dezidiert religiösen Erfahrung nur im Fall einer starken Transzendenz zu 216 Günter Thomas, Medienreligion. Religionssoziologische Perspektiven und theologische Deutungen, in: Anna-Katharina Szagun (Hg.), Jugendkultur – Medienkultur (Rostocker Theologische Studien 8, hg.v. Udo Kern/Klaus Hock), Münster 2002, 83–114, 86–91. 217 Arno Schilson, Medienreligion, http://www.uni-mainz.de/FB/Geschichte/Religion/welcome.htm (10. August 2003). 218 Angela Keppler, ‚Medienreligion‘ ist keine Religion. Fünf Thesen zu den Grenzen einer erhellenden Analogie, in: Günter Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medienkultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven, Wiesbaden 2000, 223–230, 223, 229f.

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sprechen, die sich auf eine ‚höhere‘ oder ‚wahrere‘ Welt bezieht“.219 Für Keppler beginnt Religion also erst bei den großen Transzendenzen. Medienreligion ist in ihren Augen keine vollwertige Religion, sondern allenfalls eine erhellende Analogie. Kepplers Kritik an dem Begriff der Medienreligion macht erneut deutlich, dass die religionstheoretische Optik über den Befund entscheidet. Bei aller Kritik am Konzept der Medienreligion hat Keppler zugleich eine spezifische funktionale Parallele zwischen Fernsehen und Protestantismus sehr deutlich herausgearbeitet: das Versprechen unbegrenzten Verstehens, der vorbehaltlosen Anerkennung und Rechtfertigung von individuellen Lebensgeschichten. Bestimmte Fernsehformate vermitteln, so könnte man auch sagen, Rechtfertigungsglauben ohne expliziten Gottesbezug. Ich würde in diesem Fall im Unterschied zu Keppler durchaus von einem starken Transzendenzbezug sprechen. Allerdings einem impliziten. Denn eine Deutung mit Hilfe explizit religiöser Semantik fehlt. Das Fernsehen bildet jedenfalls einen Fokus der Debatte um die Medienreligion.220 Das wurde nicht zuletzt durch Kepplers Überlegungen deutlich. Doch die Gestalten der Medienreligion sind vielfältig. Sie findet sich im Kinofilm ebenso wie im Fernsehen, in der Werbung, in Musikvideos und im Internet. Hat der medienreligiöse Diskurs in erster Linie die audiovisuellen Medien des 20. Jahrhunderts im Blick, so müsste er seinem Sachgehalt nach auch auf die Printmedien ausgeweitet werden. Denn auch Romane und Zeitungen gehören zur Mediengeschichte der Moderne und sind voller Religion. Sinnvoll scheint es mir auch, das ganze Spektrum religiöser Sinndimensionen zwischen expliziter und impliziter Religion in den Begriff zu integrieren und so alle vier von Thomas unterschiedenen Ebenen des Verhältnisses von Medien und Religion einzubeziehen – mit einem Schwerpunkt beim implizit Religiösen, dessen Hermeneutik den Kern der Debatte ausmacht. Die Verarbeitung von Versatzstücken der Tradition (Bilder, Symbole, Erzählungen) wäre dann ebenso Bestandteil des Gemeinten wie strukturelle Parallelen, erst hermeneutisch zu erschließende religiöse Dimensionen und schlichte Medialisierungen explizit religiöser Kommunikation (im Sinne von Thomas’ Selbst- und Fremddarstellungen). Im Folgenden greife ich die beiden audiovisuellen Leitmedien unserer multimedialen Gegenwartskultur – den Film und das Fernsehen – heraus, um den medienreligiösen Diskurs am Beispiel ihrer jeweiligen Medienwelten noch genauer zu beschreiben.221 Auf die religiösen Implikationen des 219 Keppler, Medienreligion, 229. 220 Vgl. Janowski/Schmidt, Art. „Medien“, 324ff. 221 Der Film ist dabei vor allem in qualitativer Hinsicht als Leitmedium anzusprechen, das Fernsehen in quantitativer. Zu den medienreligiösen Dimensionen des Internet vgl. Jörg Herrmann, Erlösung durch Kommunikationstechnologie? Die Herausforderung des Internet für Theologie und

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Buches gehe ich weiter unten ein, wenn ich die im empirischen Teil der Untersuchung nachgefragten Einzelmedien unter Aspekten der Medientheorie und der Medienrezeptionsforschung charakterisiere. An dieser Stelle geht es zunächst darum, die These von der Medienreligion an den Beispielen weiter zu erläutern und zu konkretisieren, anhand derer sie formuliert wurde. Ich gehe dabei in der folgenden Skizzierung der religiösen Funktionen und Sinnschichten von Film und Fernsehen medienhistorisch vor, das heißt, ich beginne mit dem Film, dessen Geburtsstunde noch im 19. Jahrhundert liegt, in dem Jahrhundert also, in dem die Ära der technischen Massenmedien mit der Telegraphie, dem Telefon und schließlich eben mit dem Film anbricht. In Sachen Zeitbudget ist der Film mittlerweile längst vom Fernsehen überholt worden. Was die Intensität der Medienerlebnisse angeht, so kommt dem Kinobesuch jedoch – vor allem bei Jugendlichen – auch in der Fernsehgeneration noch eine exponierte Stellung zu.222 Filme machen Eindruck. 2.5.2.1 Der Kinofilm „Von einem unerwarteten Glücksgefühl überwältigt verlasse ich das Kino und laufe desorientiert und zugleich wie befreit durch das nächtliche Soho. Das also meinen die Griechen, wenn sie von Katharsis sprechen. Die Wirklichkeit sieht plötzlich anders aus, klarer, vielschichtiger, lebendiger“, schreibt Herbert Grieshop in der sonntäglichen Kolumne des Berliner Tagesspiegel unter der Überschrift „Wo ist Gott?“ über seine Kino-Erfahrung mit Thomas Vinterbergs Dogma-Film Das Fest (1998).223 Er fährt fort: „Und wo ist Gott? Oft gerade da, wo man ihn nicht sucht. Manchmal sogar im Kino. Dann wenn es einem Film gelingt, uns zu entlassen mit einer neuen Begeisterung für die Welt. Wenn man aus der Dunkelheit ins Freie tritt mit dem Gefühl, sich wieder in das Leben mit all seinen Konflikten und Spannungen verliebt zu haben.“ Am Vormittag war der Autor der Kolumne in einem Gottesdienst gewesen. Eine „Enttäuschung“, wie er schreibt. Er steht mit seiner Erfahrung nicht allein. Auch der prominente amerikanische Schriftsteller John Updike kann dem Kino mehr abgewinnen als der Kirche. Er bekannte in einem Interview: „Jedenfalls hat das Kino mehr für mein spirituelles Leben getan als die Kirche. Meine Vorstellungen von Ruhm, Erfolg und Schönheit stammen alle von der Leinwand. Während sich die christliche Religion überall auf dem Rückzug befindet und immer mehr an Religionspädagogik, in: Thomas Klie (Hg.), Darstellung und Wahrnehmung, Religion im medialen Crossover, Münster 2000, 77–95; ders., Cyberspace. Zur Veränderung der Kommunikationsverhältnisse durch Computernetze, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 42, 10–12/1998, 287–293. 222 Vgl. Michael Charlton/Klaus Neumann-Braun, Medienkindheit. Eine Einführung in die aktuelle kommunikationswissenschaftliche Forschung, München 1992, 16. 223 Herbert Grieshop, Wo ist Gott? In: Der Tagesspiegel, 19. Januar 2002.

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Einfluss einbüßt, füllt der Film dieses Vakuum und versorgt uns mit Mythen und handlungssteuernden Bildern. Film war für mich während einer bestimmten Phase meines Lebens eine Ersatzreligion.“224 Das Kino kann zu einem Ort religiöser Erfahrung werden. Darauf weisen die Äußerungen von Grieshop und Updike hin. In den letzten Jahren ist diese religiöse Dimension des Kinos auch von der theologischen Medienforschung verstärkt thematisiert worden. Eine Reihe von Arbeiten zur Religionshermeneutik des Kinofilms liegt mittlerweile vor.225 Diese Studien untersuchen die expliziten Bezugnahmen des Kinofilms auf religiöse Traditionen ebenso wie seine impliziten, erst hermeneutisch zu erschließenden religiösen Dimensionen. Dabei zeigt sich, dass sich explizite Verarbeitungen christlicher Motive zwar immer wieder finden, dass sie aber mit dem Fortschreiten der Filmgeschichte auch immer seltener werden. Die Religion des Kinofilms ist heute vor allem entzifferungsbedürftig, implizit, unsichtbar. Sie lebt in Transformationsgestalten des Christlichen, die erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar werden, sie entwirft Sinnhorizonte, deren religiöse Valenz erst auf der Basis eines funktionalen Begriffes von Religion deutlich wird. Dabei ist die unsichtbare Religion des Kinos nicht ohne Konturen. Es lassen sich durchaus Trends beobachten und dominante Sinnmuster im sinnlichen Sinnangebot des Films ausmachen. In den bisher vorliegenden Arbeiten zur Hermeneutik der Medienreligion des Films wurden in diesem Zusammenhang vor allem drei Topoi namhaft gemacht: die bergende Natur, die unbedingte Liebe und die befreiende Authentizität.226 Es handelt es sich dabei zugleich um gesellschaftskulturelle Trends, die sich auch in anderen Bereichen der Gegenwartskultur ausprägen: in Therapiekultur und Literatur, in politischen Bewegungen und esoterischen Zirkeln. 224 John Updike, „Amerika hat sein Versprechen gehalten.“ Star-Autor John Updike über Kirche, Kino und das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in: Focus, Heft 31, 1998, 96–98, 98. 225 Matthias Fritsch/Martin Lindwedel/Thomas Schärtl, Wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist, Science-Fiction-Filme. Angewandte Philosophie und Theologie, Regensburg 2003; David L. Smith, „Beautiful Necessities“: American Beauty and the Idea of Freedom, in: Journal of Religion and Film, Vol. 6, No. 2, October 2002, http://www.unomaha.edu/~wwwjrf/ am.beauty.htm (29. Dezember 2002); Herrmann, Sinnmaschine; Ingo Reuter, Matrix – oder über den Sinn einer an sich bedeutungslosen Frage, in: Praktische Theologie 35, Heft 4, 2000, 263–274; Inge Kirsner/ Michael Wermke (Hg.), Religion im Kino. Religionspädagogisches Arbeiten mit Filmen, Göttingen 2000; Albert J. Bergesen/Andrew M. Greeley, God in the Movies, New Brunswick/London 2000; Martin Ammon/Eckart Gottwald (Hg.), Kino und Kirche im Dialog, Göttingen 1996; Peter Hasenberg u.a. (Hg.), Spuren des Religiösen im Film. Meilensteine aus 100 Jahren Filmgeschichte, Mainz/Köln 1995. 226 Vgl. Jörg Herrmann, Traditionelle Religionskultur und aktuelle Filmkultur, in: Junge Kirche. Zeitschrift europäischer Christinnen und Christen 63, September/Oktober 2002, 20–28; ders., Sinnmaschine, bes. 212–220; Klaas Huizing, Ästhetische Theologie, Bd. 2. Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie, Stuttgart/Zürich 2002, 174f.

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Zur Besonderheit der Medienreligion des Kinos gehört, dass ihr Dispositiv in einigen Hinsichten große Ähnlichkeit mit der Praxis des kirchlichen Christentums hat.227 Diese Nähe beginnt bei den Orten der Aufführung: bei den Kinos – nicht von ungefähr auch Kinotempel genannt. Besonders einige der frühen amerikanischen Kinos erinnern an Kirchenbauten und wurden auch bewusst in Anlehnung an kirchliche Vorbilder gestaltet. Weitere Parallelen zeigen sich bei der Betrachtung der Rezeptionssituationen am Ort der Kirche und am Ort des Kinos. Schon ein vergleichender erster Blick auf die Umstände von Kinobesuch und Kirchgang kann das verdeutlichen. In beiden Fällen verlässt man das Haus und begibt sich in einen länglichen Raum, an dessen Stirnseite auf Leinwand oder Kanzel Lebensdeutungen dargeboten werden. Mit 24 Bildern in der Sekunde erzählte Deutungen im Kino, mündlich vorgetragene in der Kirche. An beiden Orten ist die Darbietung rituell gerahmt: in der Kirche mit Lied und Liturgie, im Kino mittels Vorhang und der obligaten Kino-Werbung. In diesen immer gleichen Ablauf sind die Sinndeutungen des Lebens durch Film oder Predigt eingebettet. Beide Darstellungsformen leben von sinnstiftenden Narrationen: der Film von den subjektiven Geschichten seiner Autorinnen und Autoren, die Predigt von den überlieferten Erzählungen der biblischen Tradition. Sicher, die Interessen sind nicht identisch. Das Kino will vor allem unterhalten, die Predigt religiösen Sinn erschließen. Doch auch das Kino erschöpft sich nicht in der Inszenierung großer Gefühle und eindrucksvoller Bilder. Es setzt sich, auf andere Weise als die traditionelle christliche Religionskultur, ebenfalls mit den letzten Fragen und Sinndimensionen des Lebens auseinander. Ich will versuchen, diese religiöse Dimension des Kinofilms an einem Beispiel kursorisch zu erläutern. Ich beziehe mich dabei auf den nun schon etwas in die Jahre gekommenen populären Spielfilm Titanic (USA 1997) von James Cameron. Diese Wahl hat ihren Grund darin, dass für diesen Film eine der ganz wenigen Rezeptionsstudien vorliegt, die eine der religionshermeneutischen Thematik verwandte Fragestellung verfolgt. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Aufschluss darüber zu erhalten, ob die in der religionshermeneutischen Werkanalyse von Titanic herausgearbeiteten Sinnstrukturen auch von Kinobesuchern wahrgenommen, aufgegriffen und angeeignet werden. Die religiöse Valenz des Films Titanic kann also durch die Ergänzung von werkhermeneutischen und rezeptionshermeneutischen Perspektiven umfassend zur Darstellung kommen. Titanic ist nach wie vor der weltweit erfolgreichste Film. Allein in der Bundesrepublik hatte der am 8. Januar 1998 in den Kinos gestartete Film bis 227 Zum Begriff des Dispositivs vgl. Knut Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2003, 186ff.

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heute weit über 17 Millionen Zuschauer, die 10 Millionen Fernsehzuschauer der RTL-Ausstrahlung am ersten Weihnachtsfeiertag 2000 nicht eingerechnet. Der Film über den Untergang des Luxusliners Titanic kontrastiert Liebesgeschichte und Katastrophengeschehen. Beide Motivkomplexe sind vielfach explizit und implizit religiös aufgeladen. Ich skizziere im Folgenden nur einige zentrale Linien aus einer umfangreicheren eigenen Analyse.228 Die Titanic ist zunächst das Gegenbild der Arche. Entsteht die Arche aufgrund göttlicher Anweisungen als ein Rettungsboot, so die Titanic aus dem selbstgewissen Geist menschlicher Schöpfungsmacht heraus. Das Schiff ist eine Art Inkarnation menschlichen Fortschrittglaubens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es verkörpert den technischen state of the art um die Jahrhundertwende: ein ultimatives Symbol menschlicher Schöpfungspotenz und Naturbeherrschung, das in Konzeption (zu wenig Rettungsboote) und Verwendung (sensationslüsternde Steigerung der Geschwindigkeit) von Hybris bestimmt ist. Der Film knüpft darin an die Urgeschichte menschlicher Hybris an, wie sie in der Sündenfallerzählung (der Mensch will sein wie Gott) und der Erzählung vom Turmbau zu Babel (der Mensch will sich einen Namen machen) symbolisiert ist. Besonders ins Auge fällt die Analogie zur Turmbaugeschichte: der Wille zu einer unüberbietbaren Kulturleistung, die durch Größe und Rekord Schlagzeilen im Himmel und auf Erden macht. Denn die möglichen Schlagzeilen in New York waren es schließlich, die den Titanic-Kapitän zur fatalen Geschwindigkeitssteigerung verleiteten. Der Film interpretiert, so kann man diesen Aspekt resümieren, den technischen Fortschritt im Licht seiner möglichen Folgen: Kollision. Mit dem Eisberg, der immer stärkeren Natur. Titanic erzählt eine Geschichte von der Ambivalenz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Eine zweite Erzählung, eine Liebesgeschichte, ist mit dieser ersten verwoben. Am Scheitelpunkt des Films, kurz vor dem Untergang des Schiffes, zitiert ein Priester aus dem 21. Kapitel der Offenbarung des Johannes. Dieses explizit religiöse Motiv stellt das gesamte Geschehen in einen apokalyptischen Horizont. Gegen den sinnverwirrenden Zusammenstoß mit dem Eisberg wird die Liebe in Stellung gebracht. Es ist eine unbedingte Liebe, von der hier erzählt wird. Sie verwandelt die Hauptfiguren, überwindet soziale Barrieren und erfüllt das Leben mit Sinn. Die religiöse Unbedingtheit der TitanicLiebe erweist sich im Angesicht des Untergangs. Zunächst riskiert die Hauptfigur Rose ihr Leben, als sie den unterdecks angeketteten Jack befreit. Später, nach dem Untergang des Schiffes, geht Jacks Liebe – wie meistens im populären Kino eine Liebe auf den ersten Blick – so weit, dass er der Geliebten den rettenden Platz auf einem treibenden Türblatt überlässt. Noch 228 Vgl. Herrmann, Sinnmaschine, 192–208, 212–216.

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im Angesicht des Todes bekräftigt er sein Opfer und damit die Todesverachtung seiner Liebe mit vor Kälte zitternder Stimme: die Titanic-Fahrkarte zu gewinnen, sei das Allerbeste gewesen, was ihm je passiert sei. Denn das Ticket habe ihn zu Rose gebracht. Titanic verkündet das Evangelium einer Liebe, die stärker ist als der Tod. Es liegt in der Konsequenz dieser Konzeption, dass Rose nach dem Untergang und damit auch nach Jacks Tod seine Auferstehung träumt. Einer der beiden Werbe-Slogans des Films bringt es auf den Punkt: „Nothing on earth could come between them.“ Nichts konnte sie trennen: nicht der skrupellose Cal Hockley, der noch während des Untergangs versucht, Jack einen Diebstahl zu unterstellen, um ihn im Unterdeck dem sicheren Tod ausliefern zu können; nicht der Untergang der Titanic und nicht der Tod Jacks. Die Liebe der beiden Protagonisten ist der höchste Wert im Titanic-Universum. Tröstet die biblische Tradition angesichts der Trübsal mit der Überzeugung, dass „nichts uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist“ (Röm 8,39), so spendet Camerons Film seinen Trost im Namen der Liebesreligion: „Nothing on earth could come between them.“ Die Liebenden des populären Kinos müssen füreinander leisten, was im Christentum von Gott ausgeht: unbedingte Liebe. Der Widerstand der Liebe gegen den Einbruch sinnverwirrender Kontingenz ist gewissermaßen eine Ebene tiefer gelegt: Er ist ganz der erotischen Liebe und ihrer Subjektivität aufgebürdet. Bemerkenswert ist, wie genau die beiden zentralen Werbeslogans des Films der Doppelstruktur religiöser Interpretationen entsprechen und darin präzise auf seine strukturelle Verwandtschaft zur Religion verweisen. Clifford Geertz hat hervorgehoben, dass das Charakteristische religiöser Lebensdeutungen darin besteht, dass sie Kontingenz und Leiden einerseits anerkennen und ihm andererseits im Namen einer umfassenderen Wirklichkeit widersprechen.229 Beide Aspekte finden sich auch in Titanic und werden von den Slogans „Collide with destiny!“ im Blick auf die Kontingenz und „Nothing on earth could come between them“ im Blick auf die Liebe konzis zum Ausdruck gebracht. Titanic ist dabei nur ein Beispiel für die Zentralität des Liebesmotivs als lebensgeschichtlicher Sinnquelle im populären Film der 90er Jahre. Man kann von einer postmodernen Liebesreligion sprechen. Diese Deutung korrespondiert mit den Beobachtungen soziologischer Zeitdiagnosen. So hat Ulrich Beck die Liebe als „irdische Religion“ interpretiert, die religiöse Sinnstiftungsfunktionen übernommen habe.230 Das in der Romantik vorgedachte Konzept der Liebesreligion habe sich damit auf breiter Basis durchgesetzt. Seine kulturelle Codierung, so kann 229 Geertz, Religion, 72. 230 Ulrich Beck, Die irdische Religion der Liebe, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990, 222–266, 229.

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aus der Sicht der religionshermeneutischen Analyse ergänzt werden, ist vom Roman auf das Kino übergegangen. Interessant ist nun, wie sich die religiösen Sinndeutungspotentiale des Films in der Perspektive einer Rezeptionsuntersuchung darstellen, die Andreas Hepp und Waldemar Vogelgesang im Juni 1998 auf der Basis von leitfaden-orientierten Interviews zur Aneignungs- und Erlebnisform des Films Titanic mit Kinobesuchern in Trier durchgeführt haben.231 Dabei haben sie auch nach der Aneignung des mythischen Sinndeutungspotentials des Films gefragt. Sie verstehen Mythen im Anschluss an Roland Barthes als „Bedeutungszuschreibungen, mittels derer Menschen ihrem eigenen Alltagshandeln einen Sinnhorizont verleihen“.232 Diese Perspektive konvergiert mit der religionshermeneutischen Herangehensweise. Hepp und Vogelgesang stellen nun zwei Mythenkomplexe heraus, die sich in der Aneignung als dominant erweisen: den Liebesmythos und den Technikmythos. Für die Aneignung des Liebesmythos bestimmen sie folgende Kernbedeutung: „Die wahre, sich selbst verleugnende Liebe gipfelt in der Selbstaufgabe und ist letztlich stärker als der Tod.“ Die Befragten fanden dafür Formulierungen wie: „Wenn man richtig liebt, gibt es keine Grenzen mehr, weder im Leben noch im Tod.“233 Eine 33-jährige Designerin kommentiert die Szene auf dem treibenden Türblatt mit den Worten: Zwar stirbt Jack in dem Eiswasser, aber er stirbt für Rose und für die Liebe zu ihr. So tragisch diese Szene auch ist, sie zeigt, die Liebe ist stärker als der Tod. Sie verliert nichts von ihrer Macht, denn auch als Greisin ist Rose noch in ihrem Bann.234

Im Blick auf die Aneignung des Technikmythos formulieren die Autoren als Grundaussage, „dass der blinde Glaube an die vom Menschen geschaffene Technik den Tod bringt und die Hoffnung in solchen Situationen, in denen die Technik außer Kontrolle gerät, in einer idealisierten menschlichen Kultur gesehen wird.“235 Die Titanic wird als Symbolisierung für eine irrationale Technikhybris aufgefasst. „Mit der Titanic ist doch nicht nur ein Schiff untergegangen“, so ein 25-jähriger Student, „sondern auch ganz allgemein der Glaube, Technik sei 100 Prozent sicher.“236 231 Andreas Hepp/Waldemar Vogelgesang, „Ich hab’ einfach nur geheult.“ Zur emotionalen Aneignung des Medien-Events Titanic aus Rezipierendenperspektive, in: Texte Nr. 2, Sonderheft der Zeitschrift medien praktisch, Filmerleben. Zur emotionalen Dramaturgie von Titanic, Heft 9, 1999, 30–40; vgl. auch Renate Luca, Titanic – Filmerleben in psychoanalytischer Sicht. Beispiele der Filmrezeption und medienpädagogische Überlegungen, in: Texte Nr. 2, Sonderheft der Zeitschrift medien praktisch, 1999, 41–51. 232 Hepp/Vogelgesang, Aneignung, 37. 233 Dies., Aneignung, 37. 234 Dies., Aneignung, 37. 235 Dies., Aneignung, 37. 236 Dies., Aneignung, 37.

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Rettung oder jedenfalls Trost wird in der menschlichen Kultur gesehen, die für die Befragten vor allem von einem während des Untergangs unbeirrt bis zum Schluss spielenden Streichquartett verkörpert wird. „Sie wissen, dass sie sterben werden“, sagt eine Kinobesucherin, „aber sie verneinen eigentlich den Tod dadurch, dass sie weiterspielen.“237 Die Musik wird zum Symbol einer kulturellen Kritik und Transzendierung der Apokalypse technischer Hybris. Am nachhaltigsten beeindruckt habe die Filmbesucher die Sinnfigur „Selbstaufgabe und Tod“. Sie ermögliche es, der individuellen wie der kollektiven Katastrophe noch „etwas Sinnvolles abzugewinnen“, wie dies ein Befragter umschreibt.238 Der Mythos von der großen, zum Selbstopfer bereiten Liebe könne sogar, so eine 36-jährige Hausfrau, „ein Anstoß sein, um das eigene Leben zu ändern“.239 Aus religionshermeneutischer Perspektive ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Figur des Selbstopfers eine lange christliche Vorgeschichte in den (besonders vom Johannesevangelium und von Paulus ins Spiel gebrachten) theologischen Deutungen des Todes Jesu als Sühneopfer hat, man also auch hier von einer Verarbeitung, Umformung und Fortschreibung zentraler Motive der christlichen Tradition sprechen kann. Die Autoren resümieren, dass medialen Sinnorientierungsangeboten in einer Zeit vielfältiger Traditionsabbrüche und Freisetzungen eine wachsende Bedeutung als Sinnressourcen zukomme. Dazu trage auch bei, dass Filme in mehrfacher Hinsicht soziokulturell verankert sind, indem sie sowohl gesellschaftlich virulente Alltagsmythen aufgreifen als auch MedienEvents und Sinndeutungsmuster mit einem gewissen Anspruch sozialer Verbindlichkeit generieren und also selbst – in religionshermeneutischer Terminologie – religionsproduktiv sind. Ein eindrückliches Beispiel für die religionsäquivalente Funktion und die soziale Verbindlichkeit von MedienEvents war die schon erwähnte Ausstrahlung des Films durch den Fernsehsender RTL am ersten Weihnachtsfeiertag 2000, die laut Auskunft der RTL-Pressestelle von 10,59 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern verfolgt wurde. Die Platzierung des Films am ersten Weihnachtsfeiertag unterstreicht die werkhermeneutischen Ausführungen zu seinem religiösen Sinnpotential. Dieses ist offenbar auch den RTL-Programmverantwortlichen evident: Zum Fest der Liebe nehmen sie den Film in das Programm, der die Liebesreligion der populären Gegenwartskultur am vielleicht eindrucksvollsten umsetzt und inszenieren damit den „Weihnachtsgottesdienst“ der Fernsehgemeinde. 237 Dies., Aneignung, 38. 238 Dies., Aneignung, 38. 239 Dies., Aneignung, 38.

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Es lässt sich also sehen, dass die in der religionshermeneutischen Interpretation erhobenen Sinnstrukturen auch in der Rezeption thematisch werden, ja, dass eine weitgehende Konvergenz der Ergebnisse der religionshermeneutischen Werkanalyse und der rezeptionsanalytischen Rekonstruktion des mythischen Potentials anhand von Publikumsbefragungen konstatiert werden kann. Was Hepp und Vogelgesang Liebesmythos und Technikmythos nennen, war in der religionshermeneutischen Betrachtung als Liebesreligion und Motivkomplex der Katastrophe bzw. als Symbolisierung menschlichen Fortschrittsglaubens bezeichnet worden. Damit ist gezeigt, dass der Film Titanic nicht nur religionshermeneutisch erschließbare religiöse Sinndimensionen enthält, sondern diese Dimensionen auch in der konkreten Rezeption kommunikativ angeeignet werden und religiöse Sinnreflexionen bei den befragten Kinobesuchern auslösen. Dieses Ergebnis ist insofern bemerkenswert, als die beiden Analysen unabhängig voneinander durchgeführt worden sind. Es zeigt, dass religionshermeneutische Werkanalysen der empirischen Überprüfung standhalten können und unterstreicht insofern die Plausibilität der in der vorliegenden Studie verfolgten Fragestellung. 2.5.2.2 Das Fernsehen Das Fernsehen hatte lange Zeit ein sehr schlechtes Image in Kirche und Theologie. Es galt als Medium der Zerstreuung, dass dem Innehalten und der für den christlichen Glauben wesentlichen Auseinandersetzung mit dem Wort entgegenarbeitet, dass letztlich zur Zersetzung von Christentum und Kirche beiträgt.240 Diese Situation hat sich gewandelt. In den letzten Jahren sind das Fernsehen und seine religiösen Funktionen und Dimensionen zunehmend in das Blickfeld der theologischen Medienforschung gekommen.241 Die Plausibilität der These seiner religiösen Valenz wird dabei dadurch unterstrichen, dass sie auch von Medienwissenschaftlern und Mediensoziologen außerhalb der theologischen Medienforschung im engeren Sinne vertreten wird.242 Im Zentrum der Analysen stehen vor allem zwei Aspekte: die rituellalltagsstrukturierende Funktion des Fernsehens und seine sinnstiftendkosmisierende Funktion. Beide Gesichtspunkte finden sich mit unterschiedlichen Anteilen in vielen Formen des gesamten TV-Programmspektrums wieder. Gemeinsam kommen sie vor allem in der Programmform Serie zur 240 Vgl. Knut Hickethier, Transformationen. Sinnstiftung, Wertevermittlung und Ritualisierung des Alltags durch das Fernsehen, in: Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen, 29–44, 35. 241 Vgl. vor allem: Günter Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt a.M. 1998; ders. (Hg.), Religiöse Funktionen; Pirner, Fernsehmythen; Gräb, Sinn. 242 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen; außerdem vor allem: Jo Reichertz, Die Frohe Botschaft des Fernsehens. Kulturwissenschaftliche Untersuchung medialer Diesseitsreligion, Konstanz 2000.

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Geltung. Dieses Programmsegment ist zielgruppenspezifisch ausdifferenziert und umfasst sowohl tägliche Angebote (sogannte Daily Soaps wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Marienhof) als auch wöchentliche (etwa Lindenstraße und Ally McBeal). Besonders erfolgreich sind die insbesondere auf Jugendliche zugeschnittenen Daily Soaps. Sie gehören zu den von Jugendlichen (vor allem von Mädchen) am häufigsten genutzten Fernsehgenres, weit vor den ebenfalls an ein jugendliches Publikum gerichteten Daily Talks.243 Für das Programmsegment Daily Soap gilt: Der tägliche Senderhythmus verschafft den entsprechenden Formaten eine hohe Präsenz in der Alltagskultur, die relative Alltagsnähe der dort diskutierten Themen bzw. der dort erzählten Geschichten lässt ihnen eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Realitätskonstruktionen, auf die Orientierung und Identitätsbildung gerade jugendlicher Zuschauer zukommen.244

Untersuchungen haben gezeigt, dass Daily Soaps (jedenfalls bis zu einem bestimmten Alter) weitaus häufiger als Talks im familiären Kontext rezipiert werden.245 Wie stark Mediengebrauch und Familienkontext generell miteinander verwoben sind, hat jüngst eine qualitative Langzeitstudie zum Mediengebrauch von Jugendlichen deutlich gemacht. Danach basiert die Familienkommunikation zu großen Teilen auf Fernsehinhalten. Anhand von Fernsehinhalten, so eine zentrale These der Forscher, werde die ethische Familienkultur entwickelt und vermittelt.246 Serien zeichnen sich dabei auch inhaltlich durch eine besondere Nähe zur Familienthematik aus. Lothar Mikos führt aus: „Zwar sind aufgrund der auf Endlosigkeit angelegten Erzählung eine Vielzahl einzelner Themen möglich, aber nur ein Thema hat tatsächlich Seriencharakter und ist mit der formalen Struktur der Serie verknüpfbar, die Familie. Es gibt also nur ein Seriengenre, die Familienserie, denn nur im Rahmen der Familienbeziehungen ist eine Entwicklung der quasi unendlichen Geschichte möglich, weil das Familienleben der Serienfamilie ebenso zyklisch und ritualisiert abläuft wie das der Zuschauer.“247 243 Uwe Hasebrink, Der repräsentative Überblick: Merkmale der Talk- und Soap-Nutzung bei 12 bis 17-jährigen Jugendlichen in Deutschland, in: Udo Göttlich/Fritz Krotz/Ingrid Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps und Daily Talks im Alltag von Jugendlichen, Opladen 2001, 157–170, 159ff. 244 Udo Göttlich/Uwe Hasebrink/Jörg-Uwe Nieland, Zur Einführung: Daily Soaps und Daily Talks in der öffentlichen und in der wissenschaftlichen Diskussion, in: Göttlich/Krotz/Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps, 15–22,15. 245 Hasebrink, Überblick,166. 246 Jürgen Barthelmes/Ekkehard Sander, Erst die Freunde, dann die Medien. Medien als Begleiter in Pubertät und Adoleszenz. Medienerfahrungen von Jugendlichen, Bd. 2, München/ Opladen 2001, 226–250. 247 Lothar Mikos, „It’s a Family Affair.“ Fernsehserien und ihre Bedeutung im Alltagsleben, in: Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen, 231–245, 233f.

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Ein prominentes Serien-Beispiel ist die RTL-Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten (GZSZ). Die im deutschen Fernsehen am 28.11.1994 gestartete Soap erreichte in den letzten Jahren Tag für Tag im Durchschnitt zwischen fünf und sechs Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer (bei den 14–29jährigen entspricht das einem Marktanteil von bis zu 40%).248 Als Kernzielgruppe gelten die 14–29-jährigen. Die erzählten Geschichten handeln darum auch vorwiegend von den Erfahrungen und Problemen dieser Altersgruppe. Es werden mit ritueller Konstanz und Kontinuität Konstruktionen von Konflikten und Lösungsstrategien angeboten, die die Zuschauer interessieren, unterhalten und bei ihrer eigenen Identitätsarbeit unterstützen. Versteht man Religion mit Thomas Luckmann als Medium der identitätsstiftenden Integration in soziokulturelle Sinnwelten, so sind Daily Soaps wie GZSZ eine prominente Form der gelebten Religion von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Doch das Fernsehen hält für jedes Lebensalter Sinnangebote bereit. Die Medienreligion des Fernsehens ist vielfältig. Im Folgenden fasse ich ihre wichtigsten Formen und Funktionen zusammen. 1. Die wiederkehrenden Programmangebote des Fernsehens strukturieren den Alltag. Sie haben rituelle Funktionen. 2. Die Nachrichtensendungen wie die Tagesschau haben darüber hinaus Kontingenzbewältigungsfunktionen: Sinnverwirrende Katastrophenerfahrungen werden durch die Ordnung der Sendung und die Strategien der Berichterstattung konterkariert und entschärft. Schon allein die Form der Sendung transportiert die Botschaft: Es gibt Sicherheit und Ordnung in einer vom Chaos bedrohten Welt. Aktuelle Sondersendungen wie die „Brennpunkte“ im ARD-Programm geben erste Orientierungen angesichts akuter Katastrophen. 3. Die narrativen Programmangebote des Fernsehen erfüllen Funktionen der Sinnstiftung und Wertevermittlung. Zumeist und vor allem in Fernsehkrimis herrscht dabei das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit: die Guten siegen und die Bösen werden bestraft. 4. Die Talkshows – insbesondere die Daily Talks von Arabella über Nicole bis hin zu Meiser und Fliege – können als Agenturen zur Verständigung über die Moral der Gesellschaft angesehen werden. Hier werden ethisch-moralische Fragen verhandelt und mit den gesellschaftlich vorherrschenden Wertvorstellungen abgeglichen. Daily Talks sind ein wichtiger Ort der Selbstverständigung der Gesellschaft über ihren moralischen Minimalkonsens und zugleich der ‚Volkserziehung‘ im Sinne dieses Konsens. Funktionen von Schule und Kirche sind auf das Fernsehen übergegangen. 248 Vgl. Udo Göttlich, Zur Entdeckung eines Genres. Die deutschen Daily Soaps im Fernsehen der 90er Jahre, in: Texte Nr. 3, Sonderheft der Zeitschrift medien praktisch, Heft 9, 2000, 32–44, 36; vgl. auch Lothar Mikos, Die tägliche Dosis Identität. Daily Soaps und Sozialisation, in: medien praktisch, Heft 4, 1997, 18–22.

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Außer Moral bieten Daily Talks auch Lebenshilfe an.249 Der ehemalige Fernsehpfarrer und Nachmittagstalker Jürgen Fliege bezeichnete seine Sendung nicht ganz zu unrecht als „größte Selbsthilfegruppe der Republik“. Dieser seelsorgerliche Charakter ist auch – auf ältere Zielgruppen als die Nachmittagssendungen ausgerichtet – ein wichtiger Aspekt der Late Night Talks (wie etwa Beckmann, Kerner oder Maischberger). In diesen Formaten sind darum solche Gäste gern gesehen, die neben ihrer Prominenz auch im Persönlichen Besonderes und seelsorgerlich Relevantes zu bieten haben: überwundene Lebenskrisen, Schicksalsschläge, Neuorientierungen. 5. Was sich bei Fliege schon andeutet, wird in den Sendeformen, die die Medienwissenschaftlerin Angela Keppler als „performatives Realitätsfernsehen“ bezeichnet hat, noch einmal gesteigert: die enge Verzahnung von Leben und Fernsehen. Es geht dabei um Sendungen wie Traumhochzeit, Verzeih mir!, Surprise, Suprise, Big Brother und anderes mehr. In diesen Sendungen wird geheiratet, gebeichtet, werden Wunder erlebt und soziale Elementarerfahrungen von Anerkennung und Ablehnung inszeniert. Die Performance des realen Lebens wird hier im Fernsehen fortgeschrieben und wird darin ganz im Sinne kirchlicher Kasualien verdichtet und interpretiert. Das Fernsehen tritt in funktionaler Hinsicht an die Stelle der Kirche. Die impliziten TV-Messages „Ihr werdet verstanden!“ und „Alles wird gut!“ ersetzen die christliche Rechtfertigungsbotschaft. 6. Ein interessanter Sonderfall sind die vor allem von den Musiksendern Viva und MTV ausgestrahlten Videoclips. Sie sind ein bedeutsamer Teil der Jugendkultur. Ihre filmischen Kurzerzählungen stecken voller Religion. Andreas Mertin hat das eindrucksvoll aufgezeigt.250 Auch im Blick auf das Fernsehen lassen sich, das sollte durch diese Aufzählung schon deutlich geworden sein, – ähnlich wie beim Kinofilm – explizite und implizite religiöse Dimensionen unterscheiden. Die expliziten Anteile betreffen die Verarbeitung von Motiven der christlichen Religionskultur im Videoclip ebenso wie Das Wort zum Sonntag, Gottesdienstübertragungen und die Berichterstattung über Kirchen und Religionsgemeinschaften. Günter Thomas hatte die zuletzt genannten Formen unter der Überschrift ‚Selbst- und Fremddarstellungen von Religion‘ eingeordnet. Im Kontext des medienreligiösen Diskurses hat dieser Aspekt eine marginale Bedeutung. Auch im Zusammenhang des gesamten TV-Programmangebotes – unabhängig von der Frage nach Religion – hat dieser Bereich seit den Anfängen des Fernsehens beständig an Relevanz und Resonanz verloren – analog zum Bedeutungsschwund der kirchlichen Religionskultur. Von religionsherme249 Vgl. Sabine Trepte/Sina Zapfe/Wiebke Sudhoff, Orientierung und Problembewältigung durch TV-Talkshows: Empirische Ergebnisse und Erklärungsansätze, in: Zeitschrift für Medienpsychologie, 13 (N.F. 1), 2/2001, 73–84. 250 Andreas Mertin, Videoclips im Religionsunterricht, Göttingen 1999.

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neutischem Interesse ist vor allem – wie auch schon beim Kino – die funktionale Ebene: die unsichtbare Religion des Fernsehens. Im Unterschied zum Kino fällt in diesem Zusammenhang auf, dass insbesondere in den kulturwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Religion und Fernsehen immer wieder auf die Diesseitigkeit der Fernsehreligion hingewiesen wird.251 In ihrer weitgehend fehlenden Bezugnahme auf große Transzendenzen im Sinne eines transmundanen Jenseits liege eine wesentliche Differenz zur christlichen Tradition. Es war nicht zuletzt diese Differenz, aufgrund derer Angela Keppler die Rede von der Medienreligion des Fernsehens nicht gelten lassen wollte. Die schwierige Frage der angemessenen Terminologie wird jedoch auch im kulturwissenschaftlichen Lager unterschiedlich beurteilt. Für den Soziologen Jo Reichertz reichen die funktionalen Äquivalenzen aus, um von Religion sprechen zu können. Für ihn ist das Fernsehen „Bestandteil einer alltäglichen Volksreligion“.252 Reichertz, der sich religionstheoretisch hauptsächlich an Luckmanns sinntheoretischem Konzept der unsichtbaren Religion orientiert, stellt fest: „Die Institution ‚Fernsehen‘ bietet viele Dienstleistungen an, die traditionell von den christlichen Kirchen erbracht und verwaltet wurden. All dies rechtfertigt aus meiner Sicht die schon mehrfach formulierte These, dass die Institution ‚Fernsehen‘ und das von ihr an alle Haushalte Versendete in vielen Punkten (für Kandidaten/innen wie auch für die Zuschauer) dem ‚Religiösen‘ äquivalent ist und dass deshalb die Institution ‚Fernsehen‘ das leistet, was ehemals die Religion vollbrachte, weshalb auch viele Besucher des Fernsehens (Kandidaten wie Zuschauer) bereit sind, vieles zu geben.“253 Das Fernsehen sei nicht die einzige Instanz, die Funktionen von der kirchlichen Religionskultur übernommen habe. Es habe aber aufgrund der Reichhaltigkeit seines Programmangebotes – und, so müsste man hinzufügen, des Umfanges seiner Präsenz in der Lebenswelt heutiger Zeitgenossen – ein besonderes Gewicht und stelle darum auch eine starke Konkurrenz für die Kirchen dar.

251 Vgl. u.a. Jo Reichertz, Die Frohe Botschaft des Fernsehens. Kulturwissenschaftliche Untersuchung medialer Diesseitsreligion, Konstanz 2000, bes. 247–260; Jochen Hörisch, Transparenz statt Transzendenz. Über Fernsehen und Religion. Jörg Herrmann im Gespräch mit Jochen Hörisch, in: Magazin für Ästhetik und Theologie, Heft 22, 2003, http://www.theomag.de/223/ jh5.htm, 3 (24. April 2004). 252 Reichertz, Botschaft, 260. 253 Ders., Botschaft, 244.

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2.6 Empirische Religionsforschung Von der Ende der 60er Jahre einsetzenden empirischen Wende der Praktischen Theologie war eingangs schon die Rede.254 Auch davon, dass dieses erneute Interesse an empirischer Forschung an die empirische Orientierung der Praktischen Theologie um 1900 anknüpft. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang weiterhin, dass sich die Praktische Theologie mit dieser Neuorientierung von der, so Michael Meyer-Blanck, „systematisch-theologischen Überfremdung (löst), wie sie für das Verkündigungsparadigma typisch war“.255 Dieser Löslösung korrespondiert eine Öffnung gegenüber den Sozialwissenschaften, ihren Methoden, Erkenntnissen und Theorien. Im Zuge dieser Entwicklung kam es vor allem zu einer stärkeren Vernetzung der Praktischen Theologie mit der Religions- und Kirchensoziologie, der Psychologie, der Pädagogik und ihren empirischen Methoden. Auch die vier bisher durchgeführten Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD stehen in diesem Zusammenhang.256 Die dritte EKD-Erhebung arbeitet dabei erstmals mit themenorientierten Erzählinterviews. Sie steht damit im Kontext einer zunehmenden Bedeutung qualitativer Methoden in der empirischen Religionsforschung innerhalb (aber auch außerhalb, s.u.) der Praktischen Theologie seit Beginn der 90er Jahre.257 Qualitative Methoden wurden wichtig, um der Individualisierung und Pluralisierung von Religion nachspüren zu können. Der qualitative Teil der dritten EKD-Studie verfolgt dieses Interesse im Rahmen des Interesses an Kirchenmitgliedschaft. Dabei stand die große Mehrheit der distanzierten Mitglieder im Mittelpunkt. Ihre Religiosität und Kirchlichkeit sollte mir Hilfe von Erzählinterviews erforscht werden. Inten254 Programmatisch: Klaus Wegenast, Die empirische Wendung in der Religionspädagogik, in: Der Evangelische Erzieher, Heft 20, 1968, 111–125. 255 Michael Meyer-Blanck, Praktische Theologie und Empirie, in: ders./Birgit Weyel, Arbeitsbuch Praktische Theologie. Ein Begleitbuch zu Studium und Examen in 25 Einheiten, Gütersloh 1999, 46–54. 256 Helmut Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsumfrage, Gelnhausen, Berlin 1974; Johannes Hanselmann, Helmut Hild und Eduard Lohse, Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1984; Klaus Engelhardt/Hermann von Loewenich/Peter Steinacker, Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997; EKD, Kirche – Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten, Lebensstile, Kirchenbindungen, Hannover 2003; zur Forschungslage generell auch Andreas Feige, Kirchenmitgliedschaft in der BRD. Zentrale Perspektiven empirischer Forschungsarbeiten im problemgeschichtlichen Kontext der deutschen Religions- und Kirchensoziologie nach 1945, Gütersloh 1990. 257 Vgl. u.a. Albrecht Schöll, Zwischen religiöser Revolte und frommer Anpassung, Gütersloh 1992; Petra Zimmermann, Das Wunder jener Nacht. Religiöse Interpretation autobiographischer Weihnachtserzählungen, Stuttgart 1992; Stephanie Klein, Theologie und empirische Biographieforschung, Stuttgart 1994; Eberhard Hauschildt, Alltagsseelsorge, Göttingen 1996; Ulrich Schwab, Familienreligiosität, Stuttgart 1996; Regina Sommer, Lebensgeschichte und gelebte Religion von Frauen, Stuttgart 1998.

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diert war „eine Annäherung an die Selbst- und Weltdeutung der mehr oder weniger Distanzierten“.258 Im Zentrum standen also die subjektiven Sichtweisen der Interviewpartner. Ein wesentliches Ergebnis war, dass die distanzierten Kirchenmitglieder keineswegs areligiös sind, sondern dass sie ihre ganz individuelle Religiosität entwickelt haben. Ihre Erfahrungen mit der kirchlichen Religionskultur spielen dabei oft eine wichtige Rolle.259 Aber sie unterscheiden auch deutlich zwischen Kirchlichkeit und individueller Religiosität.260 Kritik an der Institution Kirche – unter anderem an ihrem normativen Anspruch in Religionsfragen – kann dabei problemlos mit dem Rückblick auf positive Kirchenerfahrungen koexistieren. Die Studie bestätigt also noch einmal, was auch die religionssoziologische Forschung beschreibt: Distanz zur Institution Kirche bedeutet nicht Religionslosigkeit.261 Dem Schwinden der Bedeutung kirchlich geprägter und gebundener Religiosität steht ein Anwachsen der Bedeutung individueller Religiosität gegenüber, die sich aus vielfältigen Quellen und Erfahrungen speist – darunter solche mit Kirche und Christentum. Dabei haben die Interviews weiterhin erneut deutlich gemacht, wie sehr die individuelle Religiosität mit der individuellen Lebensgeschichte verflochten ist.262 „Über die religiöse Thematik“ werde, so die Studie, „im Medium lebensgeschichtlicher Reflexion gesprochen. Die erzählte Lebensgeschichte ist der ‚Sitz‘ der Religion“.263 Die Biographie ist dabei nicht nur Ort der Religion, sie prägt auch, so ein weiteres Ergebnis der Studie, die Wahrnehmung von Religion: „Es hat sich gezeigt, dass sich der Lebenshintergrund der Interviewten auf ihr Verständnis des Themas Religion und Kirche entscheidend auswirkt. Nicht nur die sprachliche Gestaltung der Erzählung, sondern auch, welche existenziellen Fragen nach Deutung verlangten und was die erzählenden Personen als religiöse Erfahrung qualifizierten, war ganz entscheidend davon beeinflusst, 258 Studien- und Planungsgruppe der EKD, Quellen religiöser Selbst- und Weltdeutung. Die themenorientierten Erzählinterviews der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Bd. I: Dokumentation, Hannover 1998, 9. 259 Vgl. etwa die Auswertung der Interviews mit Uta und Uwe in: Studien- und Planungsgruppe der EKD, Quellen Bd. I, 55–70 u. 123–143. 260 Vgl. dazu auch Regina Sommer, Quellen religiöser Selbst- und Weltdeutung. Die themenorientierten Erzählinterviews der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, in: Joachim Matthes (Hg.), Fremde Heimat Kirche – Erkundungsgänge: Beiträge und Kommentare zur dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2000, 85–93, 91; das Auseinanderfallen von Kirchlichkeit und individueller Religiosität wird auch in der vierten EKD-Mitgliedschaftsstudie erneut festgestellt, vgl. Peter Höhmann/Volkhard Krech, Die vierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Alles wie gehabt? in: Praktische Theologie 39, Heft 1, 2004, 3–12, 5. 261 Wesentliche Neuigkeiten haben die Erzählinterviews allerdings nicht erbracht. Dies liegt wohl unter anderem daran, dass sie zu oberflächlich ausgewertet wurden. Vgl. die treffende Kritik von Gerald Kretschmar, Distanzierte Kirchlichkeit: eine Analyse ihrer Wahrnehmung, Neukirchen 2001, 284f. 262 Das bestätigt die Ausführungen unter 2.3. 263 Studien- und Planungsgruppe der EKD, Quellen, Bd. I, 61.

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welchem Milieu jemand angehörte, war beeinflusst vom jeweiligen Bildungshintergrund, von der jeweiligen sozialen Stellung in der Gesellschaft.“264 Eberhard Hauschildt hat, anknüpfend an diese Beobachtung und an Gerhard Schulzes kultursoziologische Studie Die Erlebnisgesellschaft, gefordert, den Milieukontext von Religiosität und Kirchlichkeit stärker zu berücksichtigen.265 Diese Beobachtungen und Überlegungen ähneln denen, die in der Medienrezeptionsforschung vorgetragen werden (s.u. 3.5). Verallgemeinert ließe sich sagen: Die soziokulturelle Positionalität bestimmt in hohem Maße die Wahrnehmung, Rezeption, Aneignung und den Gebrauch von kulturellen Symbolisierungen. Bildungsgrad und Milieu sind dabei wichtige Faktoren. Konkret in den Worten der EKD-Studie: „Die vertrauten Sprachmuster der Tradition werden von den Kleinen Leuten bereitwilliger akzeptiert, auch wenn man selber nicht so sprechen würde, da diese Sprache nicht die eigene Sprache ist.“266 Höherer Bildungsgrad korrespondiert umgekehrt mit größerer Kirchendistanz. Dass dabei die Probleme, die insbesondere höher gebildete Menschen, eben auch distanzierte Kirchenmitglieder, mit den Kirchen haben, nicht nur mit ihrem Charakter als Institutionen zu tun haben, sondern wesentlich auch mit der mangelnden Plausibilität traditioneller dogmatischer Topoi, hat eine empirische Studie gezeigt, die Klaus-Peter Jörns ungefähr zeitgleich mit der dritten EKD-Erhebung publiziert hat.267 Der Befund eines verstärkten empirischen Interesses seit den späten 60er Jahren gilt auch für die deutschsprachige Religions- und Kirchensoziologie. Unlängst haben Andreas Feige und Ingrid Lukatis darauf hingewiesen, dass seit den 90er Jahren – parallel zur Entwicklung in der Praktischen Theologie – eine erneute Konjunktur der Empirie zu beobachten ist.268 Ihr Forschungsbericht vermerkt 170 Titel seit 1990, die sich acht Themenfeldern zuordnen lassen. Zwei Themenfelder sind, so die Autoren, der empirischen Religionsforschung in den 90er Jahren neu zugewachsen: „die Erforschung von Religiosität und Kirchlichkeit in Ostdeutschland und Osteuropa wäh264 Engelhardt u.a. (Hg.), Fremde Heimat, 15. 265 Eberhard Hauschildt, Milieus in der Kirche. Erste Ansätze zu einer neuen Perspektive und ein Plädoyer für vertiefte Studien, in: Pastoraltheologie 87, 1998, 392–404; die Milieufrage ist dann auch in der vierten Mitgliedschaftsuntersuchung stärker berücksichtigt worden. Dabei ist deutlich geworden, dass Fragen des Lebensstils und der Ästhetik eine wichtige Rolle im Prozess religiöser Bildung und Selbstbildung spielen. 266 Engelhardt u.a. (Hg.), Fremde Heimat, 175. 267 Klaus-Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München 1997, 95; auf die nicht wenigen Probleme dieser Studie hat Andreas Feige hingewiesen, vgl. ders., Auf dem richtigen Weg zur Religion der Bürger? Eine methodologische Analyse von Prämissen und Argumentationslogiken in drei neueren empirischen Untersuchungen, in: Joachim Matthes (Hg.), Fremde Heimat Kirche – Erkundungsgänge, 94–124, bes. 101–117. 268 Andreas Feige/Ingrid Lukatis, Empirie hat Konjunktur. Ausweitung und Differenzierung der empirischen Forschung in der deutschsprachigen Religions- und Kirchensoziologie seit den 90er Jahren – ein Forschungsbericht, Praktische Theologie 39, Heft 1, 2004, 12–32.

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rend und nach der Wende“ und „die Frage nach Religion in der Lebensgeschichte von Menschen“.269 Hinsichtlich der methodischen Zugänge vermerken Feige und Lukatis, dass auch in der Religionssoziologie, wie in der Soziologie generell, qualitative Verfahren auf dem Vormarsch sind.270 Eine publizistische Frucht dieser Entwicklung ist die 2003 erschienene erste deutschsprachige Einführung in die qualitative Religionsforschung von Hubert Knoblauch.271 Zur Notwendigkeit empirischer Religionsforschung bemerkt – wie oben schon zitiert – Knoblauch generell: „Denn während wir über historische Religionen (und Texte heutiger Religionen) enorm viel wissen, beschäftigen sich nur wenige mit dem, was man die gelebte Religion nennen kann. Das Verhältnis der Forschenden, die sich mit historischen Texten beschäftigen, zu denjenigen, die die gelebte Religion erkunden, fällt nach wie vor überdeutlich zu Ungunsten der Gegenwartsreligion aus. Entsprechend wissen wir zwar sehr viel über die ‚Tradition‘ und die ‚Schriften‘, wenig aber über die gelebte Religion der heutigen Menschen.“272 An diesem Defizit arbeitet die empirische und näherhin qualitative Religionsforschung. Dabei plädiert Knoblauch für eine ethnographische Orientierung der qualitativen Empirie, weil sie die Chance biete, religiöse Lebenswelten aus der Binnenperspektive der Subjekte heraus multiperspektivisch (mit Hilfe von teilnehmender Beobachtung, von Interviews, audiovisuellen Aufzeichnungen und Dokumentensammlungen) zu beschreiben.273 Um der Breite und Vielfalt der Phänomene gerecht zu werden, empfiehlt Knoblauch, bei diesen Forschungen einen weiten Religionsbegriff im Sinne Luckmanns zugrunde zu legen.274 Dieser Vorschlag bestätigt die eigenen Überlegungen zur religionstheoretischen Orientierung der vorliegenden Studie. Optiert Knoblauch für einen weiten funktionalen Religionsbegriff in Anknüpfung an Luckmann, so fällt zugleich auf, dass diese weite religionstheoretische Perspektive, jedenfalls so weit ich sehe, noch nie ausdrücklich zum Ausgangspunkt und Gegenstand einer empirischen Studie gemacht worden ist. Untersucht wurden zumeist Phänomene, die ihren Platz in der Weite eines funktionalen Religionsverständnisses finden konnten. Doch die ganze Breite der individuellen Religiosität, die schwer fassbare unsichtbare Religion der Individuen, ihre transzendenzbezogenen Selbstdeutungsvollzüge, das, was sie unbedingt angeht – mit welcher Semantik sie diese Dimension ihrer Selbsterfahrung auch immer zur Sprache bringen –, ist ein 269 Dies., Empirie, 26. 270 Dies., Empirie, 27. 271 Hubert Knoblauch, Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft, Paderborn 2003. 272 Ders., Religionsforschung, 24f. 273 Ders., Religionsforschung, 12f, 28f, 53f. 274 Ders., Religionsforschung, 14, 45.

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weitgehend offenes Forschungsfeld. In dieses Feld hinein bewegt sich die vorliegende Studie unter dem Aspekt der religionsbildenden Potenz von Medienerfahrungen. Auch dieser Bereich ist weitgehend unerforscht. „Auffällig ist“, so Manfred L. Pirner, „dass es bisher kaum Arbeiten gibt, welche die Frage nach religiösen Dimensionen der populären Kultur empirisch von der Rezipientenseite her bearbeiten.“275

275 Manfred L. Pirner, ‚Religion‘ und ‚Religiosität‘. Tendenzen und Probleme in kultur- und religionshermeneutischen Analysen populärer Kultur, in: Theo-Web-Wissenschaft. Zeitschrift für Theorie der Religionspädagogik 2, 1/2002, 3, http://www.user.gwdg.de/~theoweb/Theo-Web/ wissenschaft_02-1.htm (2. Oktober 2003).

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3. Medienkultur

3.1 Medienkultureller Wandel Im 19. und 20. Jahrhundert hat die medienkulturelle Dynamik durch die Erfindung und Verbreitung der audiovisuellen und elektronischen Medien Film, Hörfunk und Fernsehen starke Impulse erhalten.1 Digitalisierung und Computervernetzung haben diese Entwicklungen seit den 90er Jahren weiter transformiert, so dass wir es im 21. Jahrhundert mit einem globalen Mediensystem zu tun haben, dessen weltumspannendes Nervensystem Internet immense Datenströme um den Erdball jagt und in einem virtuellen Kommunikationsraum rund um die Uhr multimedial präsent hält. Diese zuletzt genannte Entwicklung wird auch als digitale Revolution bezeichnet, die mit der Einführung der phonetischen Schrift im achten vorchristlichen Jahrhundert verglichen wird und sich erst in den Anfängen befindet. Sie ermöglicht und unterstützt die globale Vernetzung und damit auf allen Ebenen zugleich die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung. Der Trend, den Joshua Meyrowitz schon 1985 in seiner Analyse der elektronischen Medien und vor allem des Fernsehens unter dem Stichwort „no sense of place“ beschrieben hatte und der aus der Möglichkeit von Fernsehen und Rundfunk resultiert, die Differenzen des Raumes aufzuheben, wird durch das Internet weiter verstärkt.2 Es entsteht eine globale Mediengegenwart, die, so könnte man in Anlehnung an die Formulierung von Meyrowitz sagen, einen „new sense of time“ hervorbringt. Mediennutzer werden zu Weltbürgern und Zeitgenossen des Weltgeschehens. Bedeutende Ereignisse werden global und nahezu in Echtzeit kommuniziert. Die mediale Verarbeitung der Terroranschläge vom 11. September 2001 zeigte, was das bedeuten kann. Das globale Mediensystem ist symbiotisch mit lokalen Kulturen und Gesellschaften verwoben und wirkt über die Medienerfahrungen der Subjekte auf ihre Wahrnehmungen, Sinnorientierungen, Handlungen und Identitätsbildungsprozesse zurück.3 Die Bedeutung, die Medienerfahrungen dabei heute zukommt, ist kaum zu überschätzen. Denn noch nie zuvor waren Kultur und 1 Vgl. dazu Schmidt, Faszination, 175–194. 2 Joshua Meyrowitz, No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behavior, Oxford 1985. 3 Vgl. Detlev Schöttker, Vom Laut zum Cyberspace. Entwicklung und Perspektiven der Mediengeschichtsschreibung, in: ders. (Hg.), Mediengebrauch und Erfahrungswandel, Göttingen 2003, 9–21, 9f.

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Gesellschaft in einem so starken Maße von technischen Medien durchdrungen. Nie zuvor hatten Erfahrungen mit audiovisuellen und digitalen Medien darum eine solche Präsenz in den Lebenswelten der Subjekte wie heute. Die Ergebnisse der ARD/ZDF-Studie Massenkommunikation, die seit 1964 regelmäßig (zuletzt im Abstand von fünf Jahren) durchgeführt wird und die als weltweit einzige Repräsentativstudie zur langfristigen Ermittlung von Mediennutzungsgewohnheiten im Intermediavergleich gilt, können diesen Sachverhalt veranschaulichen und ihn ins Verhältnis zur Nutzung der alten und älteren Medien Zeitung und Buch setzen.4 In der letzten Befragung im Jahr 2005 wurde zum zweiten Mal auch das Internet einbezogen. Seine durchschnittliche Nutzungsdauer ist mit 44 Minuten täglich zwar gegenüber 2000 (13 Minuten) schon erheblich angestiegen, aber immer noch vergleichsweise gering (63 Prozent der Haushalte verfügen im Jahr 2005 über einen PC, davon sind gut zwei Drittel internettauglich, die Nutzer gehören vorwiegend der Altersgruppe der 14–29jährigen an). Der Löwenanteil entfällt nach wie vor auf die klassischen elektronischen Medien Hörfunk und Fernsehen (89 Prozent des Zeitbudgets, mehrere Radiogeräte pro Haushalt, Zweitfernseher in jedem zweiten Haushalt). Insgesamt verbrachten die Bundesbürger, ich hatte die Zahlen eingangs schon genannt, im Jahr 2005 im Durchschnitt 600 Minuten am Tag mit Medien – das sind zehn Stunden. Gegenüber 1980 (346 Minuten) hat die Mediennutzung um etwa 75 Prozent zugenommen.5 Dieser Anstieg ist multifaktoriell begründet: Er hat mit der Verbreitung von Videorecordern, Computern und dem Internet ebenso zu tun wie mit der Entwicklung des Hörfunks zum Tagesbegleiter und mit der Vervielfältigung und stärkeren Unterhaltungsorientierung der Fernsehprogramme seit der Einführung des dualen Rundfunksystems (öffentlich-rechtliche und private Anbieter) Mitte der 80er Jahre. Die Fernsehnutzung stieg von 113 Minuten im Jahr 1970 auf 220 Minuten im Jahr 2005.6 Eine 1998 publizierte UNESCOStudie ergab, dass Kinder im weltweiten Durchschnitt schon fast ebenso viel Zeit, nämlich rund drei Stunden, mit dem Fernseher verbringen – mehr als mit Hausaufgaben (zwei Stunden), Spielen im Freien (1,5 Stunden), mit Freunden (1,4 Stunden), mit dem Lesen (1,1 Stunden), Radiohören (1,1 Stunden), mit Musik (0,9 Stunden) oder Computern (0,4 Stunden). Der Fernseher dominiert das Leben der Kinder, er ist, rein quantitativ und im Weltmaßstab, die wichtigste Sozialisationsinstanz.7 In Deutsch4 Engel/Ridder, Massenkommunikation 2005. 5 Von Eimeren/Ridder, Trends, 500f. 6 Dies., Trends, 496. 7 Jo Groebel, Mediensozialisation und –wirkungen bei Kindern in Deutschland und anderen Ländern. Ergebnisse der UNESCO-Medienstudie und deutscher Untersuchungen, in: Walter

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land liegt der Vergleichswert mit rund 100 Minuten allerdings noch deutlich niedriger.8 Die 2005er-Zahlen für die BRD pro Tag (Erwachsene) im einzelnen: Hörfunk: 221 Minuten, Fernsehen: 220 Minuten, CD/MC/LP: 45 Minuten, Tageszeitung: 30 Minuten, Bücher: 25 Minuten, Internet: 44 Minuten, Zeitschriften: 12 Minuten, Video/DVD: 5 Minuten.9 Im Blick auf die Nutzungsmotive zeigt sich, dass Unterhaltung und Information bei den klassischen elektronischen Medien an erster Stelle stehen (Fernsehen: 90% Information, 83% Spaß, 79% Entspannung), aber auch Bedürfnisse nach Mitreden-Können (62%), Denkanstössen (54%), Gewohnheiten (54%), Alltagsorientierung (28%) und Einsamkeitskompensation (22%) eine wichtige Rolle für die Fernsehzuschauer spielen.10 Etwas andere Akzente lassen sich im Blick auf die Tageszeitung beobachten: Bei ihr steht das Informationsbedürfnis deutlich an erster Stelle (98%), gefolgt von dem Wunsch, mitreden zu können (79%) und dem Interesse an Denkanstößen (63%). Auch Alltagsorientierung ist (49%) ein zentrales Nutzungsmotiv. Eine ähnliche Verteilung zeigt sich beim Internet. Die Zahlen deuten darauf hin, dass Lesemedien stärker mit Reflexivität verkoppelt sind, während audiovisuelle Medien die emotionale Ebene stärker ansprechen. Im Blick auf die Verteilung der Motivationslagen im Spektrum kognitiv-rationaler und emotionaler Ansprüche an elektronische Medien lässt sich eine zunehmende Differenzierung zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern feststellen: Unterhaltung und Entspannung werden eher bei den Privatsendern gesucht, Information und Orientierung hingegen mehr bei den öffentlich-rechtlichen Anbietern. Im Blick auf die soziokulturelle Orientierung der jeweiligen Publika dieser Angebote wurde beobachtet, dass Informationsorientierung mit eher hoher Bildung, hohem Einkommen, starkem politischen Interesse und einem Alter über 30 einhergeht, während Unterhaltungsorientierung mit eher niedriger formaler Bildung, einem Alter unter 30 Jahren, niedrigem Einkommen und eher geringem politischen Interesse verknüpft ist.11 So erheblich die Zunahme der Nutzungszeiten im diachronen Vergleich seit 1980 einerseits anmutet, so sehr bleibt sie auf der anderen Seite doch hinter dem Anwachsen des Angebots zurück: Es hat allein bei Hörfunk und Fernsehen seit 1980 ungefähr um den Faktor zehn (durchschnittlich 38 Klingler (Hg.), Fernsehforschung in Deutschland. Themen – Akteure – Methoden, Bd. 1, BadenBaden 1998, 545–558, 552. 8 Groebel, Mediensozialisation, 546. 9 Engel/Ridder, Massenkommunikation 2005, 496ff. 10 Von Eimeren/Ridder, Trends, 428ff; dort auch die folgenden Zahlenangaben. 11 Marie Luise Kiefer, Ein Unikat in der Rezeptionsforschung. Langzeitstudie Massenkommunikation zur Mediennutzung und Medienbewertung, in: Walter Klingler (Hg.), Fernsehforschung, Bd. 1, 17–29, 22.

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BRD-Fernsehprogramme im Jahr 2005 stehen zumeist drei Programmen im Jahr 1980 gegenüber) zugenommen.12 Dabei ist zugleich zu beobachten, dass neue Medien die alten nicht verdrängen. Neue und alte Medien ergänzen sich vielmehr. Das Kino als klassischer Rezeptionsort des Films kann mit den für die elektronischen Medien genannten Zahlen kaum mithalten. Die intensivsten Kinogänger sind die 20- bis 24-jährigen mit rund acht Kinobesuchen pro Person im Jahr 1999.13 Das scheint wenig. Man muss jedoch in Rechnung stellen, dass der Kinobesuch eine geplante Unterbrechung des Alltagshandelns ist und sich durch eine besondere Erlebnisintensität und Prägnanz auszeichnet. Das Kinoerlebnis hat eine exponierte Stellung. Das Fernsehen ist demgegenüber weitaus stärker in den Alltag integriert und zum Teil ähnlich wie der Hörfunk zu einem Begleitmedium geworden. Dennoch ist das Fernsehen als quantitatives und sozialintegratives Schwergewicht immer noch das unangefochtene Leitmedium der Gegenwartskultur.14 Sogenannte Fernsehereignisse wie die Fernsehspiel-Trilogie über die MannFamilie von Heinrich Breloer, Daily Soaps wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Übertragungen königlicher Hochzeiten und Talkshows wie Sabine Christiansen können eine starke Aufmerksamkeit erzielen, von den Rezipienten mit hohem Engagement verfolgt werden und eine beachtliche Wirkungsgeschichte in privaten und öffentlichen Kommunikationszusammenhängen entfalten. Die religiöse Dimension von Fernseherfahrungen, insbesondere die Kontingenzbewältigungsfunktion der liturgischen Ordnung des Programmflusses, der sinnstiftenden Ordnungen der Nachrichtenformate und der diskursiven Deutungen der Talkshows ist in der Fernseh-Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September erneut deutlich geworden.15 Aber das sind schon Fragen der Religionshermeneutik. Mir ging es an dieser Stelle darum, zunächst die rein quantitative Präsenz der Medien und insbesondere der audiovisuellen und digitalen Medien und damit auch der entsprechenden Medienerfahrungen im heutigen Alltag aufzuzeigen. Medienkulturhistorisch heißt das: Wir leben im Zeitalter von Audiovision und Multimedialität. Dahin hat uns die exponentielle Medienentwicklung des 20. Jahrhunderts katapultiert.16 Die „Gutenberg-Galaxis“, so nannte der 12 Von Eimeren/Ridder, Trends, 495. 13 Dirk Blothner/Gerhard Neckermann, Das Kinobesucherpotential 2010 nach sozio-demographischen und psychologischen Merkmalen, hg. von der Filmförderungsanstalt, Berlin 2001, 6. 14 Vgl. Hickethier, Medienwissenschaft, 268. 15 Vgl. insbesondere zur Liturgieförmigkeit des Fernsehens: Günter Thomas, Liturgie und Kosmologie. Religiöse Formen im Kontext des Fernsehens, in: Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen, 91–105. 16 Um die Beschleunigung in kulturhistorischer Perspektive ermessen zu können, betrachte man allein die Geschichte der Medienerfindungen an der Schwelle zum und im 20. Jahrhundert: 1872 Telefon, 1895 Film, 1918 Radio, 1931 Fernsehen, 1951 Tonband, 1971 Satelliten-TV, 1978

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Medienwissenschaftler Marshall McLuhan den von der Dominanz der Printmedien bestimmten Zeitraum, ist damit abgelöst.17 Kultur ist heute dominant audiovisuelle Medienkultur und als solche vor allem Unterhaltungskultur.18 Aufgrund der starken gesellschaftskulturellen Mediendurchdringung hat sich der Terminus „Mediengesellschaft“ eingebürgert. Damit ist zugleich angedeutet, dass die Medien die Gesellschaft auch verändern. Siegfried J. Schmidt hat sieben Aspekte dieses Prozesses hervorgehoben. Danach bewirken Medien eine jeweils medienspezifische Disziplinierung der Wahrnehmung, transportieren ein Demokratisierungsversprechen, führen zu Kommerzialisierung, verstärken die Individualisierung, entkoppeln Kommunikation und Körper und verstärken die Erfahrung von Kontingenz und von Intermedialität.19 Medien sind dabei zum einen Kulturphänomene, die die kulturellen Kontexte durchdringen und transformieren, zum anderen aber auch eigenständige Institutionen, die im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine immer größere Autonomie erlangt haben und heute als eigenständige Machtzentren zu den bestimmenden Akteuren gesellschaftlicher Prozesse gehören.20 Medien kommunizieren Politik. Sie können einzelne Politiker wie politische Systeme aufbauen (NS-Staat) und stürzen helfen (Nixon, Scharping, DDR), können Kriegspropaganda verbreiten (NS-Deutschland, Irak-Krieg) wie zum Ende von Kriegen beitragen (Vietnam), sie können hohe Spenden eintreiben (Live-Aid, Tsunami-Hilfe) und Wahlen beeinflussen. Medien, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur stehen also in einer engen Wechselbeziehung. Die Verflechtung hat seit der Einführung des dualen Rundfunksystems in Deutschland in den 80er Jahren noch zugenommen. Denn seitdem sind auch die elektronischen Medien Rundfunk und Fernsehen dem Druck der Ökonomie ausgesetzt, der vermittelt auch auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunksektor ausstrahlt und zu einer Konvergenzentwicklung der privaten und öffentlich-rechtlichen Angebote beigetragen hat („Quotenfernsehen“).21 Kabelfernsehen, 1979 Telefax, 1980 Btx, 1981 PC, 1983 CD, 1992 WWW, vgl. Stefan Kombüchen, Von der Erlebnisgesellschaft zur Mediengesellschaft. Die Evolution der Kommunikation und ihre Folgen für den sozialen Wandel, Münster/Hamburg/London 1999, 16; vgl. Schmidt, Faszination, 175–185. 17 Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962. 18 Werner Faulstich, Medium, in: ders. (Hg.), Grundwissen Medien, München ³1998, 21–105, 104. 19 Schmidt, Faszination, 185–195. 20 Vgl. Otfried Jarren, Auf dem Weg in die „Mediengesellschaft“? Medien als Akteure und institutionalisierter Handlungskontext. Theoretische Anmerkungen zum Wandel des intermediären Systems, in: Kurt Imhof/Peter Schulz (Hg.), Politisches Räsonnement in der Informationsgesellschaft, Zürich 1996, 79–96. 21 Vgl. Klaus Merten, Konvergenz der Deutschen Fernsehprogramme. Eine Langzeituntersuchung 1980–1993, Münster 1994.

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Ökonomisierung und Globalisierung sind die Megatrends, die heute die Medienentwicklung und damit auch Kultur und Gesellschaft prägen. Im Blick auf Kultur und Gesellschaft wird das Phänomen der zunehmenden Mediendurchdringung auch als zunehmende „Medialisierung kommunikativen Handelns“ beschrieben.22 Diese geht einher mit einer starken Verwobenheit von Alltag und Medien.23 Unter Aufnahme des kultursoziologischen Konzeptes der „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze erläutert Stefan Kombüchen vor dem Hintergrund des beschriebenen Bedeutungszuwachses der Medien – der zunehmenden Medialisierung von Kommunikation – und auf der Basis von Befragungen den Übergang von der Erlebnis- zur Mediengesellschaft.24 Freizeit sei heute vorwiegend Medienfreizeit, Medien seien die Hauptfaktoren des sozialen Wandels geworden und soziale Milieus unterschieden sich in erster Linie durch ihren Medienstil: „Die Mediennutzung ist Ausdruck der Identität eines Menschen und der Abgrenzung gegenüber anderen.“25 In diachroner Perspektive bedeutet der Tatbestand der Mediengesellschaft für die Subjekte: „Sozialisation ist heute Mediensozialisation.“26 Das bedeutet nicht zuletzt, dass Medien eine wichtige Rolle bei der Konstruktion und Formung von Identitäten, Weltsichten und Alltagspraktiken spielen. 27

3.2 Der Medienbegriff Im Blick auf den Medienbegriff lassen sich ähnlich wie beim Religionsbegriff engere und weitere Fassungen unterscheiden. Die Diskussionslage scheint mir insgesamt im Vergleich zum religionsbegrifflichen Diskurs ein wenig übersichtlicher zu sein. Auch brauchen die diesbezüglichen Begriffsklärungen nicht so ausführlich zu sein wie beim Religionsbegriff, dem eine hermeneutische Schlüsselfunktion im Kontext der Untersuchung zukommt. Die Näherbestimmung des Medienbegriffes dient hingegen vor allem der generellen Klärung des begrifflichen Rahmens und kann darum knapper und pragmatischer ausfallen. Der Begriff „Medium“ taucht in verschiedenen Verwendungszusammenhängen auf. Im Allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet Medium in 22 Friedrich Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch Medien, Wiesbaden 2001. 23 Vgl. Krotz, Mediatisierung, 33–35. 24 Kombüchen, Mediengesellschaft. 25 Ders., Mediengesellschaft, 201. 26 Siegfried J. Schmidt, Werbung zwischen Wirtschaft und Kunst, in: ders./Brigitte Spieß (Hg.), Werbung, Medien und Kultur, Opladen 1995, 26–43, 41. 27 Vgl. Krotz, Mediatisierung, 17, 37.

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einem weiten Sinne „Mittel“ oder „Vermittelndes“. In einem ähnlich weiten Sinne wird der Begriff auch in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen verwendet. So spricht man in der Pädagogik von „Unterrichtsmedien“, in der Literaturwissenschaft vom „Medium Literatur“ oder in der Musikwissenschaft vom „Medium Musik“. Spezifischer sind die Bestimmungen und Verwendungen in den Disziplinen, die sich ausdrücklich mit Fragen der Medienforschung befassen wie den Medien-, Kommunikations- und Publizistikwissenschaften. Hinsichtlich einer recht allgemeinen Bedeutung des Medienbegriffes lässt sich in diesem Bereich ein gewisser Konsens feststellen. Danach speichern und/oder transportieren Medien Informationen über unterschiedliche Kanäle (wie Bücher, Telefonleitungen, Radiowellen und CD-ROMs).28 Sie speichern und übertragen Daten. Durchgesetzt hat sich auch die Unterscheidung von Primärmedien, die ohne Technik auskommen (wie das Theater), Sekundärmedien, die auf der Produktionsseite auf Techniken basieren (wie das Buch oder die Zeitung) und Tertiärmedien, die sowohl auf der Produktions- wie auch auf der Rezeptionsseite Technik voraussetzen (wie etwa Telefon und Fernsehen).29 Im Blick auf die Verschiedenheit der Kanäle der Informationsübertragung oder Informationsspeicherung lassen sich heute an die zwanzig Einzelmedien unterscheiden. Das Spektrum reicht vom Brief über den Computer und das Fernsehen bis hin zur Zeitung.30 Generell kann die Mediengeschichte als Versuch betrachtet werden, die räumlichen und zeitlichen Beschränkungen der direkten Kommunikation zu überwinden, wobei die jeweiligen Medien dann wieder neue Beschränkungen mit sich bringen.31 Was die einzelnen Medien jeweils ermöglichen und verhindern, ob sie etwa nur auf monologische Massenkommunikation beschränkt sind wie die Zeitung, das Buch oder das klassische Fernsehen oder aber auch dialogische Kommunikationsformen zulassen wie das Telefon oder das Internet, ist eine Frage der Technologie. Medientheorie und Medienforschung hat es darum immer auch mit Medientechnologien und deren institutioneller Organisation in der Form von Rundfunkanstalten oder Verlagen zu tun. Komplexere Medienbegriffe versuchen, auch diese Ebenen der Technologie und des Sozialen aufzunehmen. Medientheorie ist insofern immer zugleich vernetzt mit Theorien des Sozialen und der Kultur. Die Einbettung in das Soziale wird auch in der auf 28 Vgl. Jochen Hörisch, Einleitung, in: Peter Ludes, Einführung in die Medienwissenschaft. Entwicklungen und Theorien, Berlin 1998, 11–32, 28f. 29 Vgl. Hörisch, Einleitung; Faulstich, Grundwissen, 21. 30 Vgl. ders., Grundwissen, 22. 31 Vgl. Werner Holly, Alte und neue Medien. Zur inneren Logik der Mediengeschichte, in: Bernd Rüschoff/Ulrich Schmitz (Hg.), Kommunikation und Lernen mit alten und neuen Medien, Frankfurt a.M. 1996, 9–16.

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die modernen Massenmedien zielenden Mediendefinition von Niklas Luhmann deutlich. Er konstatiert zu Beginn seiner Studie über die Massenmedien: „Mit dem Begriff der Massenmedien sollen im Folgenden alle Einrichtungen der Gesellschaft erfasst werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen.“32 Medien sind Einrichtungen der Gesellschaft, Einrichtungen, die der Kommunikation einer Gesellschaft dienen und sie und ihre Mitglieder dadurch zugleich prägen. Neben den konkreten Medieninhalten ist die Spezifik der Technologien von großer Bedeutung für die Rolle, die Medien in der Öffentlichkeit der Gesellschaft, die heute im wesentlichen Medienöffentlichkeit ist, spielen. Siegfried J. Schmidt und Guido Zurstiege haben versucht, die verschiedenen Komponenten des Semiotischen, Technischen, Sozialen und Konkret-Inhaltlichen in einer komplexen Bestimmung des Medienbegriffes zu integrieren. Sie schreiben: Nach unserer Auffassung bündelt ‚Medium‘ folgende vier Komponentenebenen: Kommunikationsinstrumente, das heißt materielle Zeichen, die zur Kommunikation benutzt werden, allen voran natürliche Sprachen; Medientechniken, die eingesetzt werden, um Medienangebote etwa in Form von Büchern, Filmen oder E-Mails herzustellen, zu verbreiten oder zu nutzen; institutionelle Einrichtungen bzw. Organisationen (wie Verlage oder Fernsehsender), die entwickelt werden, um Medientechniken zu verwalten, zu finanzieren, politisch und juristisch zu vertreten usw.; schließlich Medienangebote selbst, die aus dem Zusammenwirken aller genannten Faktoren hervorgehen (wie Bücher, Zeitungen, Fernsehsendungen usw.). Das Zusammenwirken dieser Faktoren kann nur als ein systemisches, sich selbst organisierendes Zusammenwirken verstanden werden, bei dem keine der vier Komponenten übersehen werden darf.33

Was heißt all dies nun für das Subjekt? Wie sind Individuum und Mediengesellschaft, Subjekt und Medienkultur aufeinander bezogen? Diesen Fragen soll unter den zentralen Aspekten ‚Lebenslauf‘ und ‚Identität‘ weiter nachgegangen werden.

3.3 Medien und Lebenslauf Im Zuge der Biographiekonjunktur wurden in den 80er Jahren erstmals auch medienbiographische Fragestellungen verfolgt.34 So wurde nach dem 32 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen ²1996, 10. 33 Siegfried J. Schmidt/Guido Zurstiege, Orientierung Kommunikationswissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 2000, 170. 34 Maria Hirzinger, Biographische Medienforschung, Wien 1991, 33f.

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Ineinandergreifen von Mediengeschichten und Lebensgeschichten gefragt, nach den biographischen Spuren von Medienerfahrungen, nach der Bedeutung von Medien für die Lebensbewältigung, die Identitätsbildung und die Konstruktion der eigenen Biographie.35 Von Anfang an hatten die medienbiographischen Forschungsansätze dabei mit dem Problem zu tun, „dass Medien, die im realen Lebensvollzug allgegenwärtig sind, in biographischer Rekonstruktion nur eine marginale, wenig bewusste und wenig erinnerliche Rolle spielen“.36 Das liegt nicht zuletzt an der Einbettung von Medienerfahrungen in die Alltagsroutinen. Medienerfahrungen, die nicht durch besondere Koinzidenzen verstärkt sind, haben die Tendenz zu verblassen. Die Verarbeitung von Medienerfahrungen ähnelt unbewussten bzw. unterbewussten Prozessen. Gleichwohl ist es ein unstrittiges und auch durch Einzelstudien nachgewiesenes Ergebnis der Medienforschung, dass Medien wichtige Orientierungsfunktionen im Kontext der Biographie- und Identitätskonstruktion übernommen haben.37 Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass das in den 80er Jahren im Zuge einer stärker qualitativen Orientierung innerhalb der Sozialwissenschaften und zugleich einer zunehmenden Rezeptionsorientierung der Medienforschung aufgeflammte Interesse an medienbiographischen Fragestellungen in den 90er Jahren wieder zurückgegangen ist und erst in allerjüngster Zeit unter anderem mit zwei Arbeiten zur Bedeutung von Kino- und Fernseherfahrungen im Lebenslauf wieder neue Nahrung erhalten hat.38 Die Ergebnisse dieser Arbeiten sollen im Zusammenhang der Zusammenfassungen der Ergebnisse der Medienrezeptionsforschung zu den in der vorliegenden Studie zur Debatte stehenden Einzelmedien Buch, Film und Fernsehen dargestellt werden. An dieser Stelle sollen hingegen noch Ergebnisse zweier neuerer Studien zu den Medienerfahrungen Jugendlicher und zum Konzept der „Mediengeneration“ zur Sprache kommen. Beide Studien zeigen – in biographischer und in generationeller Perspektive – die starke Bestimmtheit individueller Medienerfahrungen von soziokultureller Positionalität (dieser Aspekt wird im Übrigen auch von der Medienforschung der Cultural Studies herausgestellt, s.u.). 35 Klaus Neumann-Braun/Silvia Schneider, Biographische Dimensionen in der Medienaneignung, in: Werner Holly u.a. (Hg.), Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Medienforschung, Opladen 1993, 193–210, 194. 36 Dieter Baake/Uwe Sander/Ralf Vollbrecht, Medienwelten Jugendlicher, Bd. 2, Lebensgeschichten sind Mediengeschichten, Opladen 1990, 16. 37 Vgl. Neumann-Braun/Schneider, Medienaneignung, 194ff. 38 Dagmar Beinzger, Medienbiographien. Biographische Fragestellungen in der Medienforschung, in: medien praktisch, Heft 3, 1998, 31–35, 32; Elizabeth Prommer, Kinobesuch im Lebenslauf. Eine historische und medienbiographische Studie, Konstanz 1999; Christiane Hackl, Fernsehen im Lebenslauf. Eine medienbiographische Studie, Konstanz 2001.

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Die Positionalität der Rezipienten wird in biographischer Perspektive zunächst von der Familie bestimmt. In ihr findet die grundlegend prägende Mediensozialisation statt. Das machen die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu den Medienerfahrungen Jugendlicher des Deutschen Jugendinstituts einmal mehr deutlich. Im Rahmen dieser Studie wurden im Zeitraum von 1992 bis 1998 22 Münchner Jugendliche (zwölf Mädchen und zehn Jungen, von denen je ein Drittel Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien besuchte) und deren Eltern (unterschiedliche familiale Lebensformen) über die Adoleszenz hinweg (vom 13. bis zum 20. Lebensjahr) zu ihren Medienerfahrungen befragt.39 Erstmals wird hier der Verlauf der Medienbiographie im Intermediavergleich für die Jugendzeit im Rahmen eines ethnographischen Ansatzes mit drei Befragungswellen im angegebenen Zeitraum erforscht. 1997 wurde der erste Band der Studie veröffentlicht. 2001 folgt der zweite. Damit liegt zum ersten Mal eine qualitative Studie vor, die den Mediengebrauch von Jugendlichen in biographischer Perspektive untersucht. Auf der Basis von 143 qualitativen Interviews wurden unter anderem folgende Beobachtungen gemacht:40 1. Der Mediengebrauch wird in der Familie gelernt. Zugleich ist die familiäre Kommunikation stark von Medien bestimmt. Jürgen Barthelmes, einer der Autoren der Studie, führt aus: „Nun zeigt sich in den Familien der Trend, dass zwischen Eltern und Kindern viel über Fernsehinhalte von zum Beispiel Spielfilmen geredet, gestritten und gelacht wird. Das Reden über Medienthemen in Familien, insbesondere über Gewalt und Sexualität, ist zu einem Forum geworden, bei dem ‚ethische Grundregeln‘ bzw. das ‚kulturelle Erbe‘ einer Familie vermittelt wird.“41 2. Am liebsten sehen Kinder und Jugendliche Spielfilme. Sie rangieren auf der Beliebtheitsskala noch vor Fernsehserien und Songtexten. Spielfilme erfüllen für Kinder und Jugendliche Unterhaltungs- und Lebensbewältigungsfunktionen. Als Kinder sehen sie die Filme im Fernsehen oder auf Video. Mit dem 15./16. Lebensjahr nimmt die Bedeutung des Fernsehens dann deutlich ab und die Filme werden verstärkt im Kino rezipiert.42 3. Es ist eine deutliche Korrespondenz zwischen den Lebenswelten und den Medienwelten Heranwachsender erkennbar. Kinder und Jugendliche 39 Jürgen Barthelmes/Ekkehard Sander, Erst die Freunde, dann die Medien. Medien als Begleiter in Pubertät und Adoleszenz. Medienerfahrungen von Jugendlichen, Bd. 2, Opladen/ München 2001; dies., Medien in Familie und Peergroup. Vom Nutzen der Medien für 13 und 14jährige. Medienerfahrungen von Jugendlichen, Bd. 1, München 1997; dies., Familie und Medien. Forschungsergebnisse und kommentierte Auswahlbibliographie, München 1990. 40 Vgl. bes. dies., Freunde, 288–303. 41 Jürgen Barthelmes, „Im Meer der Bilder tauche ich immer wieder auf“, Was suchen die Jugendlichen in den Medien? Ergebnisse einer Längsschnittstudie, in: medien praktisch, 1/2002, 28–33, 30. 42 Barthelmes/Sander, Freunde, 111ff, 140ff.

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suchen in den Medien nach ihren Entwicklungs- und Lebensthemen. Die Bilder und Vorbilder der Medien dienen ihrer Selbstbildung. Sie benutzen sie als Anregung und Orientierung auf dem Weg zu einem eigenen Leben und zu eigenen Überzeugungen. Bei der Suche nach „ihren Themen“ spielen Geschlecht und Alter eine wesentliche Rolle: Während Jungen in Spielfilmen nach Bildern der Männlichkeit suchten, waren Mädchen an Bildern der Weiblichkeit interessiert; während Liebe als Filmthema für die 13- bis 14-jährigen noch kaum interessant war, rangierten Filme mit dieser Thematik bei den 19- bis 20-jährigen ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Als wesentlich für die Strukturierung des Mediengebrauchs zeigte sich das Prinzip der Wiederholung. „Einige der befragten Mädchen sahen beispielsweise bis zu 20 Mal Filme wie Dirty Dancing, Pretty Woman, Grüne Tomaten oder Der Feind in meinem Bett und setzten sich dabei mit den unterschiedlichen Frauenbildern auseinander, indem sie beim medialen Miterleben immer wieder ihre eigenen Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Einschätzungen aufs Neue ausloteten.“43 Die Medien, so die Studie, werden zu Spiegeln und Begleitern, zu Ressourcen der individuellen Identitäts- und Sinnarbeit, deren Gebrauch durch rituelle Praktiken (Wiederholung) charakterisiert ist. Dabei geht es sowohl um Themen und Lebensentwürfe, um vorletzte und letzte Sinnhorizonte als auch um die Stil- und Geschmacksbildung. 4. Die enge Verbindung von Filmgeschichten und Lebensgeschichte hat zur Folge, dass die Erinnerung an Filme zum einen im Blick auf das bewusste Selbstverhältnis biographische Einschnitte markieren kann und zum anderen im Blick auf das Weltverhältnis Material für die Selbstmitteilung bereitstellen kann. Ob die Beobachtungen dieser Studie allerdings auch in zwanzig Jahren noch relevant sind, ist durchaus ungewiss. Denn die Mediennutzung unterliegt aufgrund der medientechnologischen Dynamik und ihrer Folgen einem starken Wandel. Auf diesen Zusammenhang bezieht sich der Begriff der „Mediengeneration“. Stefan Weiler hat diesen seit einigen Jahren in der Medienforschung kursierenden Begriff einer empirischen Überprüfung unterzogen und seine Berechtigung plausibilisiert.44 Danach zeigt sich bei Kindern ein eigener „Generationsstil“ im Umgang mit Medien, der ihnen ein großes Sinnstiftungspotential zuschreibt und darüber hinaus auf eine Ablösung der Fernsehgesellschaft durch das Multimedia-Zeitalter mit dem Leitmedium PC und schließen lässt. Zwischen den Generationen liegen 43 Barthelmes, „Im Meer der Bilder“, 31. 44 Stefan Weiler, Die neue Mediengeneration. Medienbiographien als medienpädagogische Prognoseinstrumente. Eine empirische Studie über die Entwicklung von Medienpräferenzen, München 1999.

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Welten, Wissens- und Kompetenzklüfte. Aber auch innerhalb von Generationen sind große Unterschiede möglich. So unterscheidet Weiler fünf Mediennutzungstypen in der heutigen Elterngeneration: Danach sind die nach wie vor die Gutenberg-Galaxis bevölkernden „Vielleser“ zumeist Frauen (48% mit Mittlerer Reife) im Alter von 31 bis 50 Jahren, während die „Multimedia-Nutzer“ sich mehrheitlich aus der Gruppe der 20- bis 30jährigen rekrutieren. Im Blick auf den Charakter der Mediensozialisation kann Weiler zeigen, dass „der Stil der nachfolgenden Generation im Umgang mit Medien, die Präferenz bestimmter Medien und Medieninhalte sowie auch Motive und Einstellungen vornehmlich auf die Familie und deren Vorlieben zurückzuführen ist“.45 Ein wichtiger Gesichtspunkt soll abschließend noch benannt sein: die Frage der Medienrezeption und des Mediengebrauchs in biographischen Umbruchs- und Krisensituationen. Dieser Zusammenhang ist im Kontext der vorliegenden Studie von besonderem Interesse. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass in biographischen Krisensituationen auch die Religions- und Sinnthematik virulenter wird. Wie sich der Mediengebrauch nun im Kontext der intensivierten Wahrnehmung der religiösen Dimension im Rahmen solcher Situationen verändert, welche Medien warum bedeutsam für die Reflexion und Bewältigung der Situation werden, soll in den Interviews erfragt und erkundet werden.

3.4 Medien und Identität Schon im Kontext der Skizzierung des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses war die Bedeutung der Medien für die Identitätsbildung zur Sprache gekommen, insbesondere die Bedeutung der neuen Möglichkeiten computervermittelter Kommunikation. Anhand vieler Beispiele hat Sherry Turkle gezeigt, dass Subjekte das Internet als zusätzliche Möglichkeit der Identitätskonstruktion gewinnbringend für sich nutzen können, indem sie dadurch sowohl das Spektrum ihrer medial vermittelten Kommunikationserfahrungen als auch ihrer personalen Erfahrungen zu erweitern vermögen. Dass Medien unter den Bedingungen der Postmoderne eine wichtige Rolle im Identitätsbildungsprozess übernommen haben, ist aber auch schon in Prä-Internet-Zeiten deutlich geworden. So schrieben Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun schon 1992: „Der Aspekt von Mediengebrauch und Identitätsentwicklung gewinnt heute, in den 90er Jahren, einen besonderen Stellenwert. Die gegenwärtige Tendenz zur De-Institutionalisierung verstärkt die Bedeutung der Institution Massenmedien als einer zentralen Sinn45 Ders., Mediengeneration, 260.

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agentur für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Der soziale Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft lässt die Massenmedien in verstärktem Ausmaß zu einem tragenden Element im Konsum- und Freizeitsektor werden.“46 Lothar Mikos hat die Thematik 1999 unter Bezugnahme auf ein von Jürgen Belgrad entwickeltes Identitätskonzept zusammenfassend dargestellt.47 Identitätsarbeit vollzieht sich danach in der Spannung von Selbstverstehen und Selbstgestaltung, von Sinn-Rekonstruktion und Sinnkonstruktion.48 Dieses „Sinnbasteln“, um hier den Begriff von Hitzler und Honer noch einmal aufzugreifen, bedient sich aller kulturellen Ressourcen, insbesondere natürlich der medienkulturellen Sinnerzählungen, die die lebensweltliche Alltagserfahrung mit Dominanz durchdringen. Mikos beschreibt diesen Sachverhalt resümierend: „Insofern spielen Medien bei der Identitätsentwicklung eine wichtige Rolle. Ging man früher davon aus, dass sich Identität in sozialen Interaktionen entwickelt, muss man heute mediale Interaktionen hinzurechnen. Den verschiedenen Formen der Populärkultur und der Medien, insbesondere aber dem Fernsehen kann eine ‚Schlüsselrolle in der Strukturierung von zeitgenössischer Identität‘ zugewiesen werden [...]. Die Auseinandersetzung mit den anderen findet nicht nur in sozialen Kontexten in direkter Kommunikation statt, sondern auch über die symbolischen Welten der Medientexte in der Medienrezeption und -aneignung.“49 Im Blick auf das Fernsehen sieht Mikos insbesondere in Familienserien und Daily Soaps geeignetes Bastelmaterial für die Identitätsarbeit – besonders für die Jugendlichen, der Hauptzielgruppe der einschlägigen Daily Soaps. Sie könnten sich identifizieren und abgrenzen, eben die altersspezifischen Konfliktdarstellungen, Lebensentwürfe und Sinnvorschläge für ihr eigenes retrospektives und prospektives sinnhaftes Selbstverstehen nutzen. Fan-Gemeinschaften von Serien oder Serienhelden treten zu den identitätsrelevanten Peer Groups hinzu. All dies vermittelt Normen, Werte und Rollenbilder, Lebensentwürfe und Sinnmuster. Geschlechterrollen-Vorbilder haben dabei naturgemäß eine hervorgehobene Bedeutung.50 Ebenso sind ästhetische Faktoren wichtig – nicht zuletzt hinsichtlich der Orientierung über Moden und Lebensstile.51

46 Charlton/Neumann-Braun, Medienkindheit, 113. 47 Lothar Mikos, Erinnerung, Populärkultur und Lebensentwurf. Identität in der multimedialen Gesellschaft, in: medien praktisch, Heft 1, 1999, 4–8. 48 Ders., Erinnerung, 4. 49 Ders., Erinnerung, 5. 50 Vgl. Groebel, Mediensozialisation, 548. 51 Vgl. Ders., Mediensozialisation, 551.

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3.5 Medienrezeptionsforschung Doch wie genau wirken Medien? Wie können die Prozesse ihrer Rezeption und Aneignung beschrieben werden? Diese Fragestellungen werden in der Medienrezeptionsforschung untersucht. Dabei ist deutlich geworden: Medienrezeption ist ein aktiver Prozess, der Zuschauer ist produktiv. Dies ist ein wesentliches und unstrittiges Ergebnis der Ansätze qualitativer Medienrezeptionsforschung, die sich seit den 80er Jahren, auch angeregt durch die Rezeptionsforschungen der Cultural Studies, in der Bundesrepublik entwickelt haben.52 Diese Forschungen stehen im Zusammenhang mit einer schon älteren Tradition der Medienwirkungsforschung. Beide Forschungsbereiche überschneiden sich. Sie unterscheiden sich durch unterschiedliche Akzentuierungen und zum Teil auch Herangehensweisen. Geht die Medienwirkungsforschung stärker vom Medium und seinem Informationsgehalt aus, so interessiert sich die qualitative Medienrezeptionsforschung vor allem für den Rezipienten und seinen Umgang mit dem Medium und den darin enthaltenen Sinnangeboten. Grundsätzlich ist das gesamte Feld der Medienwirkungs- und Rezeptionsforschung durch eine Verschiebung der Perspektive gekennzeichnet. Waren die Anfänge der Wirkungsforschung durch die Annahme starker Medienwirkungen nach dem Reiz-Reaktions-Schema gekennzeichnet (in der öffentlichen Meinung ist diese Auffassung leider immer noch recht verbreitet), so konnten Untersuchungen deutlich machen, dass Menschen den Medien nicht schutzlos ausgeliefert sind, sondern sie im Sinne eigener Interessen und Bedürfnisse nutzen und also Medienangebote auswählen und sinnproduktiv mit ihnen arbeiten.53 Zugespitzt: Aus der Frage, was die Medien mit den Menschen machen, wurde die Fragestellung, was die Menschen mit den Medien machen. Die Rezeption konstruktivistischer Ansätze in der Kommunikations- und Medientheorie hat diesen Perspektivwechsel theoretisch unterstützt. Generell muss betont werden, dass eine transdisziplinäre Medienwissenschaft mit einem verbindlichen Methoden-Kanon 52 Heinz Bonfadelli, Medienwirkungsforschung, in: ders./Otfried Jarren (Hg.), Einführung in die Publizistikwissenschaft, Bern/Stuttgart/Wien 2001, 337–379, 373; Michael Charlton, Grundlagen der empirischen Rezeptionsforschung in den Medienwissenschaften, in: Joachim Felix Leonhard u.a. (Hg.), Medienwissenschaft, 1. Teilbd., Reihe: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 15, Berlin 1999, 81–110; Michael Charlton/Silvia Schneider (Hg.), Rezeptionsforschung. Theorien und Untersuchungen zum Umgang mit Massenmedien, Opladen 1997; Stefan Aufenanger, Strukturanalytische Rezeptionsforschung – Familienwelt und Medienwelt von Kindern, in: Eckard König u.a. (Hg.), Bilanz qualitativer Forschung, 2 Bd., Weinheim 1995, Bd. 1, 207–220. 53 Vgl. Margot Berghaus, Wie Massenmedien wirken. Ein Modell zur Systematisierung, in: Rundfunk und Fernsehen 47, Heft 2, 1999, 181–199, 184; Heinz Bonfadelli unterscheidet in der Medienwirkungsforschung die drei Phasen: Medienallmacht, Medienohnmacht, moderate Effekte; ders., Medienwirkungsforschung I. Grundlagen und theoretische Perspektiven, Konstanz 22001, 14ff, bes. auch 31ff.

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(noch) nicht existiert.54 Die folgende Skizze ist der an Ordnungsversuche (vor allem von Heinz Bonfadelli, Margot Berghaus und Michael Charlton) anknüpfende Versuch, für die vorliegende Arbeit brauchbare Theorieperspektiven, Ergebnisse und Methoden herauszudestillieren. In der traditionellen Wirkungsforschung unterscheidet man drei Phasen: die Medieneffekte im Vorfeld der Kommunikation (präkommunikative Phase), während des Kommunikationsprozesses (kommunikative Phase) und nach der Medienzuwendung (postkommunikative Phase).55 Innerhalb der einzelnen Phasen wird dann noch einmal zwischen unterschiedlichen Wirkungen differenziert, so etwa innerhalb der postkommunikativen Phase zwischen den Auswirkungen auf das Wissen, die Einstellungen und die Verhaltensweisen der Rezipienten. Einstellungsänderungen konnten dabei selten beobachtet werden. Im Vordergrund stand die Beobachtung der Verstärkerwirkung von Medien: vorhandene Einstellungen und Meinungen werden verstärkt. In letzter Zeit sind vor allem kognitive Medieneffekte in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt.56 Drei Ansätze stehen hier wiederum im Vordergrund: die AgendaSetting-Theorie, die Wissenskluft-Perspektive und die KultivierungsAnalyse. Am plausibelsten und erfolgreichsten hat sich die Agenda-SettingTheorie erwiesen. Danach haben moderne Massenmedien eine AgendaSetting-Funktion, das heißt, sie bestimmen durch ihre Themenauswahl und Themeninszenierung, welche Themen im öffentlichen Diskurs zur Debatte stehen und verhandelt werden. Die Wissenskluft-Perspektive verfolgt die Hypothese, dass Medieninformationen von unterschiedlichen Milieus unterschiedlich schnell angeeignet werden und dass die Wissenskluft zwischen den differenten Milieus dadurch eher zu- als abnimmt. Die von George Gerbner entwickelte Kultivierungs-Analyse unterstellt dem Fernsehen Homogenisierungseffekte.57 Sie geht davon aus, dass das Fernsehen eine allgemeinverbindliche Symbolwelt darstellt, die die Sinnhorizonte der Subjekte prägt und darin die Funktion übernommen hat, die früher der Religionskultur zukam. Die Sinnmuster dieser Symbolwelt formieren auch die Sinnhorizonte und Wahrnehmungen der Subjekte. Gerbner konnte zum Beispiel nachweisen, dass Vielseher ihre Umwelt als gewalthafter wahrnehmen, als es den tatsächlichen Verhältnissen entspricht.58 Das Fernsehen 54 Vgl. Charlton/Schneider, Vorwort, in: dies. (Hg.), Rezeptionsforschung, 8. 55 Vgl. Bonfadelli, Medienwirkungsforschung I, 18f. 56 Vgl. ders., Medienwirkungsforschung I, 24f, 221ff. 57 Vgl. George Gerbner u.a., Growing Up With Television: The Cultivation Perspective, in: Jennings Bryant u.a. (Hg.), Media Effects. Advances in Theory and Research, Hillsdale 1994, 152–165. 58 George Gerbner/Larry Gross, Living With Television: The Violence Profile, in: Journal of Communication 26, Heft 2, 1976, 173–199.

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hat egalisierende Effekte und beeinflusst die Rezipienten in Richtung eines Mainstreaming ihrer Realitätswahrnehmung und ihrer Weltsichten. Heinz Bonfadelli fasst die Befunde der klassischen Wirkungsforschung folgendermaßen zusammen: Medieninhalte sind weder eine hinreichende noch eine notwendige Ursache von direkten Effekten. Der Einfluss der Medien ist im kognitiven Bereich größer als bei Einstellungen. Massenkommunikation verstärkt in erster Linie existierende Einstellungen, aktiviert latente Positionen und verändert mit geringster Wahrscheinlichkeit existierende oder latente Gegenpositionen.59

Im Blick auf die Bandbreite der Medien lautet der Befund, dass das Fernsehen das wichtigste und aus Rezipientensicht glaubwürdigstes Medium ist (bei höher gebildeten Mediennutzern ist es die Zeitung). Personale Kommunikation ist jedoch insgesamt im Vergleich mit Medienkommunikation immer noch weitaus wirkungsvoller und lebensbestimmender. Im Blick auf die Rezipienten korrelieren folgende Merkmale mit größerer Beeinflussbarkeit durch Medien: jung, weiblich, kaum religiös, geringe Bildung, Unterprivilegierung, geringes Selbstbewusstsein, hohes Anerkennungsbedürfnis. Bei hoher rationaler Plausibilität der Medieninhalte sind allerdings auch gebildete Rezipienten wegen ihrer größeren Lernbereitschaft beeinflussbar. Die zuletzt genannten (erwartbaren) Befunde zeigen, dass Medienwirkungen mit soziokulturellen Faktoren korrelieren. Margot Berghaus hat ein Modell entwickelt, dass zum einen das kaum noch überschaubare Feld der Medienwirkungsforschung zu systematisieren hilft und zum anderen die Medienwirkungen in ihren jeweiligen soziokulturellen Kontexten zu verstehen vermag.60 Dieses Modell soll im Folgenden skizziert werden. Es erlaubt noch einmal eine systematische Perspektivierung der klassischen Medienwirkungsforschung und entwirft ein Modell, dass auch als Rahmen für die noch darzustellenden qualitativen Ansätze der Medienrezeptionsforschung fungieren kann. Berghaus entwirft ein hierarchisches Wirkungsmodell, dass drei Stufen der Einbettung und Steuerung von Medienwirkungen unterscheidet. Priorität hat das direkte soziale Umfeld des Rezipienten. Es steuert die Medienwirkungen, gibt Lesarten vor. Auf einer zweiten Stufe ist der Medieninhalt in den Kontext des Mediums als Medium eingebettet. Auch hier gilt: Das Medium ist mächtiger als einzelne Inhalte. Die Selektion des Mediums geht der Selektion der Inhalte des Mediums voraus. Und der Kontext des Mediums steuert die Lesart der Inhalte. Auf einer dritten Stufe unterscheidet Berghaus innerhalb der Medieninhalte zwischen Themen und Informatio59 Bonfadelli, Medienwirkungsforschung I, 260; zum Folgenden: 260ff. 60 Berghaus, Massenmedien.

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nen auf der einen Seite und Meinungen und Einstellungen auf der anderen. Auf dieser Stufe haben die Themen und Informationen Priorität. Meinungen und Einstellungen werden hingegen vorwiegend im sozialen Umfeld gebildet, diskutiert und verändert. Der Medieneinfluss ist hier indirekt und schwach. Berghaus begründet ihr Modell unter anderem mit einer auf Forschungen von Paul Watzlawick, Klaus Merten und Niklas Luhmann basierenden Hierarchisierung der Kommunikationsformen, nach der die evolutionsbiologisch und dann auch kulturell älteren Kommunikationsformen die jüngeren steuern, also etwas die nonverbale Kommunikation die verbale und die personale die mediale Kommunikation (bei Watzlawik: der Beziehungsaspekt bestimmt den Inhaltsaspekt). Man könnte auch sagen: körpernahe Kommunikation hat immer das größere Gewicht und steuert die Auswahl und Beurteilung der nächsten Stufe medialer Vermittlung. Diese Gewichtung wird von den Befunden der Medienwirkungsforschung gestützt. Berghaus verweist im Blick auf die zweite Stufe ihres Modells (Medium versus Medieninhalt) unter anderem auf die oben schon genannten Kultivierungs-Studien von Gerbner und die Fernsehanalysen von Joshua Meyrowitz, der ebenfalls die Differenz von Medium und Medieninhalt scharf betont und im Blick auf die Wirkung des Fernsehens insgesamt vier egalisierende Wirkungen auf den sozialen Wandel herausstellt, nämlich die Auflösung von Rollen- und Autoritätsgrenzen, von Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, Kindheit und Erwachsensein und Bürgern und Politikern. Resümierend schreibt Berghaus: Die Macht der Medien ist Informationsmacht oder auch – Kehrseite der Medaille – Fehlinformationsmacht oder Verschweigungsmacht oder Gleichgültigkeit. Die Lenkung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen und Informationen steuert, wie wir unsere Welt sehen und was wir wissen. Und das schlägt sich in Handlungen nieder.61

Berghaus betont die soziale Einbettung der Medienrezeption. Ihre Sichtweise konvergiert mit den Ergebnissen der Medienforschung im Bereich der britischen und amerikanischen Cultural Studies. Diese heben darüber hinaus auch die mit der sozialen Einbettung von Medienrezeption einhergehende Einbettung in Machtverhältnisse und Machtfelder hervor und die dadurch bestimmte gruppenspezifische Lesart von Medientexten.62

61 Dies., Massenmedien, 196. 62 Rainer Winter, Cultural Studies, in: Uwe Flick u.a. (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, 204–213; Rainer Winter, Cultural Studies als kritische Medienanalyse: Vom „encoding/decoding“-Modell zur Diskursanalyse, in: ders. u.a. (Hg.), Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen/Wiesbaden ²1999, 49–65; Andreas Hepp, Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Opladen/Wiesbaden 1999; John

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Die sich von den klassischen Ansätzen der Medienwirkungsforschung durch ein noch ausdrücklicheres Interesse an den subjektiven Aneignungsprozessen unterscheidenden jüngsten Ansätze qualitativer Medienrezeptionsforschung, die, angeregt durch die Medienforschung der Cultural Studies, vor allem im Rahmen der Kognitionswissenschaft und der empirischen Literaturwissenschaft erarbeitet wurden, teilen mit den Cultural Studies ein Verständnis des Rezipienten als aktivem Konstrukteur von Sinn. Sie knüpfen darüber hinaus an die konstruktivistische Medientheorie und die handlungstheoretische Sozialforschung an, vor allem an den symbolischen Interaktionismus. Insbesondere der konstruktivistisch-handlungstheoretisch orientierte Ansatz der „Strukturanalytischen Rezeptionsforschung“, den Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun entwickelt haben, scheint mir aufgrund seiner Komplexität (die soziokulturelle Einbettung des Rezeptionsvorganges berücksichtigend), seiner konstruktivistischhandlungstheoretischen Orientierung (aktiver, konstruierender Rezipient) und seiner Konvergenz mit religionshermeneutischen und kulturtheoretischen Konzepten (Symbol, Subjekt, Sinn, Deutung usw.) für die vorliegende Studie anschlussfähig und geeignet – auch das Interesse an Lebensbewältigung und Identitätsbildung mit Hilfe von Medien ist kompatibel.63 Mit den empirisch arbeitenden Literaturwissenschaften und den Medienforschungsansätzen der Cultural Studies teilt die Strukturanalytische Rezeptionsforschung die Einsicht in die Polyvalenz (Polysemie bzw. Vielsinnigkeit) von Medientexten, die ein Feld möglicher Bedeutungen eröffnen und von den Rezipienten je individuell angeeignet werden. In diesem Prozess ergeben sich je individuelle Lesarten. Der Strukturaspekt des Ansatzes beinhaltet den Anspruch, die Bedeutungsstrukturen auf den verschiedenen, den eigentlichen Rezeptionsprozess multifaktoriell bestimmenden Ebenen des Medientextes, des situativen, soziokulturellen und des subjektivbiographischen Kontextes zu analysieren und miteinander in Beziehung zu setzen und also etwa Werkanalyse und Rezeptionsanalyse aufeinander zu beziehen – wie es in der Medienforschung der Cultural Studies schon länger gängige Praxis ist.

Fiske/John Hartley, Reading television, London 1978; John Fiske, Television culture, London/ New York 1987. 63 Michael Charlton, Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft, in: ders./Schneider (Hg.), Rezeptionsforschung, 16–39; Stefan Aufenanger, Strukturanalytische Rezeptionsforschung; Michael Charlton, Methoden der Erforschung von Medienaneignungsprozessen, in: Werner Holly u.a. (Hg.), Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Medienforschung, Opladen 1993, 11–26; Charlton/Neumann-Braun, Medienkindheit, bes. 81–100; Michael Charlton/Klaus Neumann-Braun, Medienrezeption und Identitätsbildung. Kulturpsychologische und kultursoziologische Befunde zum Gebrauch von Massenmedien im Vorschulalter, Tübingen 1990.

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Die handlungstheoretische Orientierung impliziert, dass Medienaneignung als Sonderfall allgemeinen Handelns verstanden wird, als parasoziale Interaktion. Mit diesem Begriff greift die Strukturanalytische Rezeptionsforschung ein Konzept auf, das die Amerikaner Horton und Wohl eingeführt haben, um die Ähnlichkeit und Differenz von Medienkommunikation gegenüber der face-to-face-Kommunikation zum Ausdruck zu bringen.64 Sie begannen auf diese Weise damit, die theoretischen Perspektiven des Symbolischen Interaktionismus, der sich im Anschluss an George Herbert Mead in der Soziologie entwickelte, auf die Kommunikation von Menschen mit und mittels Medien zu übertragen. Die Strukturanalytische Rezeptionsforschung führt diesen Ansatz fort und versteht Medienkommunikation ebenfalls als Modifikation von face-to-face-Kommunikation. Das Rezeptionsgeschehen selbst wird in der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung als mehrschrittiger Prozess aufgefasst, „in welchem sich ein sozial situierter und biographisch vorgeprägter Rezipient in Beziehung zu einem kulturellen Sinnangebot setzt“.65 Vier Schritte werden unterschieden: Ein erster Schritt ist gekennzeichnet durch die Situationsgestaltung zur Aufnahme der Mediennutzung, ein zweiter umfasst die Phase der thematischen Selektion zu Beginn und während des Mediengebrauchs – Rezipienten suchen die Medien thematisch voreingenommen nach solchen Sinnentwürfen ab, die für die eigene Lebensbewältigung von Nutzen sind, so ein wichtiges Ergebnis der einschlägigen Studien.66 Die eigentliche Rezeptionsphase bildet den dritten Schritt. Der vierte Schritt ist durch die Verwertung der Medienaneignung für die eigene Lebensführung gekennzeichnet. Die Phaseneinteilung ähnelt der oben schon im Zusammenhang der klassischen Rezeptionsforschung referierten. Empirisches Material wird unter anderem durch qualitative Interviews gewonnen. Eine 1990 von Charlton und Neumann-Braun vorgelegte Studie konnte zeigen, dass schon Kinder im Alter zwischen acht Monaten und sieben Jahren Medien nach Hilfen für die Lebensbewältigung absuchen und sie für die eigene Identitätsbildung nutzen.67 Medien dienen Kindern also keineswegs nur als Unterhaltung oder Informationsbeschaffungsmöglichkeit. Sie werden schon ganz früh zur Reflexion der eigenen Erfahrung benutzt, zur Selbstvergewisserung, zur Erprobung von Handlungsmöglichkeiten und zur Vorbereitung auf künftige Lebenssituationen: zur kognitiven Identitätsarbeit. Michael Charlton hat die umfassende Lebensorientierungs- und Lebensbewältigungsfunktion von Medienrezeption in einem späteren Text 64 Donald Horton/R.Richard Wohl, Mass Communication and Para-Social Interaction, in: Psychiatry 19, Heft 3, 1956, 215–229. 65 Charlton, Rezeptionsforschung, 23. 66 Ders., Rezeptionsforschung, 24. 67 Ders./Neumann-Braun, Medienrezeption und Identitätsbildung.

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zusammenfassend dargestellt.68 Darin weist er darauf hin, dass Medien über den Beitrag zur individuellen Identitätsbildung hinaus alltagsstrukturierende Funktionen haben, Anlass für soziale Interaktionen geben und die Familienkommunikation prägen. Die Ergebnisse konvergieren mit den oben dargestellten der Münchner Jugendstudie. Ein auf die Strukturanalytische Rezeptionsforschung aufbauendes und die Prozesse noch weiter differenzierendes Modell der Medienrezeption soll diese Skizzierung des Forschungsstandes zu einer systematischen Perspektive bündeln, die den theoretischen Rahmen der Studie vervollständigt. Ich knüpfe dabei an Überlegungen von Lothar Mikos an, die die handlungstheoretische Orientierung der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung und ihr Interesse an der strukturellen Einbettung der Medienrezeption aufnehmen.69 Danach ist zunächst zwischen Produzent, Text und Rezipient zu unterscheiden. Gegenstand der Rezeptionsforschung ist in der Regel, sofern nicht der Rezeptionsvorgang selbst erforscht wird, der rezipierte Text. Dieser kommt in einem Prozess zustande, der kognitive und emotionale Elemente hat. Analog zur sozialen Kommunikation kann er als parasoziale Interaktion bzw. Beziehung (s.o.) beschrieben werden, bei der sich Phasen der Involviertheit und der Distanzierung abwechseln.70 Ebenso muss er – wie jeder Kommunikationsprozess – als innerer Dialog des Rezipienten mit sich selbst vorgestellt werden, basiert doch jede Kommunikation auf einem imaginativem Rollentausch, bei dem sich das Subjekt beständig in die Rolle seines Kommunikationspartners versetzt, um ihn verstehen zu können.71 Der Vorgang der Rezeption ist weiterhin eingebettet in die Diskurspraxis der Rezipienten, die wiederum in der soziokulturellen Praxis ihrer Gegenwart verortet ist. Diese Kontexte wirken auf die Rezeption ein und schlagen sich darum auch im rezipierten Text nieder. Der Rezeptionsvorgang ist also vielfach situativ gerahmt. Alle Elemente stehen in Wechselbeziehungen: Text, Rezipient und soziokultureller Kontext bzw. soziokulturelle Praxis. Lothar Mikos formuliert vor diesem Hintergrund im Blick auf das Fernsehen: „Die Individuen erleben ihren Alltag mit dem Fernsehen und durch das 68 Michael Charlton, Medienrezeption und Lebensbewältigung, in: Der Deutschunterricht, Heft 3, 1997, 10–17. 69 Lothar Mikos, Rezeption und Aneignung – eine handlungstheoretische Perspektive, in: Uwe Hasebrink u.a. (Hg.), Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung. Angewandte Medienforschung. Schriftenreihe des Medien Instituts Ludwigshafen, hg. von Hans-Bernd Brosius, Bd. 17, München 2001, 59–71. 70 Lothar Mikos, Fern-Sehen. Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens. Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft. Eine Schriftenreihe mit der Hochschule für Film und Fernsehen ‚Konrad Wolf‘ Potsdam-Babelsberg, Bd. 57, Berlin 2001, 71–73; zum Charakter von parasozialen Beziehungen insbesondere im Blick auf Unterhaltungssendungen des Fernsehens vgl. Peter Vorderer, Unterhaltung durch Fernsehen: Welche Rolle spielen parasoziale Beziehungen zwischen Zuschauern und Fernsehakteuren? In: Klingler (Hg.), Fernsehforschung, Bd.2, 689–707. 71 Vgl. Krotz, Mediatisierung, 86f, 63f.

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Fernsehen im Rahmen der intertextuellen Bezüge. Auf diese Weise trägt das Fernsehen wesentlich zur Erfahrungskonstitution der Individuen in ausdifferenzierten Gesellschaften bei.“72 Im Blick auf die Stufen und Grade der Rezeption unterscheidet Mikos noch einmal zwischen Rezeption und Aneignung, wobei Mikos zugesteht, dass schon während der Rezeption Aneignung stattfindet, die Übergänge mithin fließend sind. Dennoch scheint mir die Unterscheidung plausibel und sinnvoll, um den Grad der aktiven Aufnahme des Medientextes zum Ausdruck zu bringen. Aneignung bezeichnet in diesem Sinne die Integration des Medientextes in die Interaktionen und Handlungen des Rezipienten, in – mit anderen Worten – seine handelnde Reproduktion des rezipierten Textes. Die Unterscheidung von Rezeption und Aneignung weist darauf hin, dass Medientexte eine unterschiedliche Relevanz für die Praxis der Subjekte haben – Differenzen, denen im qualitativen Teil der Studie nachzugehen sein wird. Motiviert werden Rezeption und Aneignung von den bewussten und unbewussten Wünschen und Bedürfnissen des Zuschauers: von seinen subjektiven Relevanzstrukturen. Im Blick auf die Wünsche betont Mikos, dass die Fernsehrezeption immerhin eine symbolische Befriedigung ermögliche.73 Diese Funktion teile das Fernsehen mit der Populärkultur (und der Religion!). Dabei konvergieren die schon szenisch-visuell im Subjekt vorhandenen Wunschbilder mit entsprechenden Fernsehbildern. Die die Rezeption bestimmenden subjektiven Relevanzstrukturen sind, hier kommen Konzepte der Cultural Studies ins Spiel, mehr oder weniger von den Sichtweisen der Interpretationsgemeinschaften geprägt, denen die Rezipienten angehören. Diese Gemeinschaften wiederum, das zeigt die Fan-Kultur, bilden ihre Gruppenidentitäten unter Bezugnahme auf Medientexte aus – wie auch die individuelle Identitätsarbeit auf Fernsehtexte als oftmals einziger sozial geteilter symbolischer Welt angewiesen ist. Das Beispiel der Fan-Kultur macht auch noch einmal darauf aufmerksam, dass Medienrezeption ihre eigenen Bedingungen mit hervorbringt. Wesentliche Ergebnisse, Unterscheidungen und Perspektiven der Medienrezeptionsforschung sind damit vorgestellt. Im Folgenden sollen nun im Sinne einer kurzen Medienkunde sowohl wichtige Merkmale der im Blick auf den empirischen Teil ausgewählten Einzelmedien skizziert werden als auch wesentliche Ergebnisse der auf diese Medien bezogenen Rezeptionsforschungen zusammengefasst werden. Aus Gründen der Überschaubarkeit der Studie habe ich mich auf die drei Einzelmedien Buch, Kinofilm und Fernsehen konzentriert. Mir ist bewusst, dass damit wichtige Bereich wie 72 Mikos, Rezeption, 69. 73 Ders., Fern-Sehen, 91f.

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etwa das für Jugendliche und ihre Identitätsentwicklungen kaum zu überschätzende Medium Musik und das ebenfalls für die nachwachsenden Generationen zunehmend wichtige Medium Internet bzw. PC unberücksichtigt bleiben. Es ist allerdings zu vermuten, dass die auf der Basis der Frage nach der Bedeutung der ausgewählten Einzelmedien gewonnenen Ergebnisse und Einblicke zugleich exemplarischen Charakter haben und insofern auch zur Orientierung im Blick auf weitere, auch andere Medien einbeziehende Studien beitragen können.

3.6 Einzelmedien 3.6.1 Das Buch Wesentliche Merkmale des Mediums Buch Das Buch ist das älteste der im Rahmen der Untersuchung ausgewählten Einzelmedien. Die Geschichte des Buches beginnt im ersten Jahrhundert, die Ära seiner massenhaften Verbreitung mit der Erfindung der Drucktechnik in der Mitte des 15. Jahrhunderts.74 Heute ist das Buch Element eines Mediensystems. Seine zentrale sozialintegrative Stellung in der bürgerlichen Individualitätskultur des 18. und 19. Jahrhunderts hat heute das Fernsehen übernommen. Bettina Hurrelmann konstatiert: „Im Unterschied zum Fernsehen stiften Bücher in den (heutigen) Familien kaum Gemeinsamkeiten, sie organisieren kaum für die Familie wichtige soziale Situationen. Das ist ein unübersehbarer Unterschied zu den Lesesituationen, die uns als Erbauung und Belehrung, Sinnorientierung und Unterhaltung in den Familienkontexten aus früheren Jahrhunderten bezeugt sind. Einige dieser Funktionen und Situationsbezüge scheint das Fernsehen inzwischen übernommen zu haben, das Lesen ist dagegen eine situationsabstrakte Tätigkeit geworden.“75 Fernsehen hat sozialintegrative Funktionen, Lesen ist zu einer einsamen Tätigkeit geworden. Man zieht sich mit einem Buch zurück. Die „GutenbergGalaxis“ ist durch die „Mediengesellschaft“ ersetzt. Lesen ist nur noch eine von vielen medienbezogenen Tätigkeiten im Medienalltag der Gegenwart. Dennoch ist die für das Lesen von Büchern aufgewandte Zeit im 20. Jahrhundert über Jahrzehnte hin erstaunlich stabil geblieben.76 Ein sehr deutlicher 74 Vgl. Werner Faulstich, Buch, in: ders. (Hg.), Grundwissen, 133–150, 135. 75 Bettina Hurrelmann, Familiale Voraussetzungen des Fernsehens und des Lesens von Kindern – eine interaktionistische Perspektive auf die Mediensozialisation, in: Klaus Neumann/ Michael Charlton (Hg.), Spracherwerb und Mediengebrauch, Tübingen 1990, 169–194, 190. 76 Margrit Schreier/Gerhard Rupp, Ziele/Funktionen von Lesekompetenz im medialen Wandel, in: Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hg.), Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen, Weinheim/München 2002, 251–271, 251f.

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Rückgang ist in den letzten Jahren vor allem bei Tageszeitungen beobachtet worden.77 Eine deutlich negative Korrelation von Fernsehkonsum und Lesekompetenz wurde erst bei sehr hohem Fernsehkonsum nachgewiesen.78 Häufig werden „Buch“ und „Literatur“ gleichgesetzt. Dabei ist der Anteil der belletristischen Bücher vergleichsweise gering (5,8% 1740, 13,5% 1996).79 Der Löwenanteil der Buchproduktion entfällt auf den Bereich der Fach- und Sachbücher. Korrespondierend zur Unterscheidung von Sachbuch und Belletristik unterscheidet man zwischen dem „Buch zur Unterhaltung“ und dem „Buch zur Weiterbildung“. Im Zeitalter der Globalisierung hat sich auch der Buchmarkt globalisiert und Bestseller wie die populären Kriminalromane von John Grisham oder die Thriller von Stephen King werden weltweit vermarktet. Die Anfänge Das Buch basiert auf der Schrift. Die Schrift hat das menschliche Selbst- und Weltverhältnis grundlegend verändert: Die mit ihr einhergehenden Möglichkeiten der Herstellung, Speicherung und Verteilung von Informationen haben Geschichtsschreibung und Wissenschaft allererst hervorgebracht und Ökonomie, Politik, Kultur und Religion tiefgreifend verwandelt. Die Schriftkultur reicht etwa 7000 Jahre zurück und wurzelt in ökonomischen (nicht in kultischen!) Zusammenhängen.80 Erst im achten vorchristlichen Jahrhundert gelang den Griechen die vollständige Übersetzung der Sprache aus dem Klang ins Sichtbare: die Erfindung der phonetischen Schrift. Damit war die vollständige Externalisierung des Gedächtnisses erreicht – mit vielfältigen kulturellen Konsequenzen. Durch die Erfindung des Buchdruckes in der Mitte des 15. Jahrhunderts erhält der Prozess der Literalisierung einen weiteren starken Impuls. Der entstehende Buch- und Medienmarkt konstituiert eine von religiösen Sinndeutungsmonopolen zunehmend unabhängige Sphäre öffentlicher Kommunikation. Reformation und Buchdruck verstärken sich wechselseitig auf dem Weg der Demokratisierung von Wissen, Kultur und Religionskultur. Die auf jüdische Wurzeln zurückgehende starke Schriftori77 Peter Vorderer/Christoph Klimmt, Lesekompetenz im medialen Spannungsfeld von Informations- und Unterhaltungsangeboten, in: Groeben/Hurrelmann (Hg.), Lesekompetenz, 215–235, 218. 78 Vgl. Marco Ennemoser/Kathrin Schiffer/Wolfgang Schneider, Empirisches Beispiel: Die Rolle des Fernsehkonsums bei der Entwicklung von Lesekompetenz, in: Groeben/Hurrelmann (Hg.), Lesekompetenz, 236–246, 236, 245. 79 Vgl. Faulstich, Buch, 133. 80 Vgl. Daniela Kloock, Oralität und Literalität, in: Daniela Kloock/Angela Spahr (Hg.), Medientheorien: eine Einführung, München 1997, 237–266, 237; Jan Assmann, Schrift und Kult, in: Manfred Faßler/Wulf R. Halbach (Hg.), Geschichte der Medien, München 1998, 55–81, 51; vgl. zum Folgenden diese beiden Texte und: Walter Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987; Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M. 1991.

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entierung des Protestantismus bildet eine diese Prozesse befördernde Voraussetzung (und Konsequenz). 81 Mit dem Buchdruck expandiert die Buchkultur. Im 18. Jahrhundert ist das Buch kulturelles Leitmedium. Der Roman etabliert sich als Kunstform in Theorie und Praxis. In Familienkontexten entsteht eine Lese- und Vorlesekultur.82 Der Anteil der religiösen Titel nimmt zugunsten der belletristischen Literatur langsam ab. Der Roman Der Roman ist die literarische Form der Moderne. Er teilt und spiegelt ihre Themen und Probleme. Eine prägnante und nach wie vor gültige Beschreibung dieser Zusammenhänge – bei aller Kritik im Einzelnen – gibt Georg Lukács in seiner 1914/15 niedergeschriebenen und 1920 erstmals als Buch erschienenen Studie Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik.83 Darin charakterisiert Lukács den Roman als „Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“.84 Die seligen Zeiten der Orientierungsgewissheit unter vormodernen Sinndächern seien vorüber, die Sinnfrage sei zum individuellen Problem geworden, das im Roman eine prominente Form der Bearbeitung findet. Im Roman begebe sich das Individuum auf den Weg zu sich selbst, auf die Suche nach dem Sinn.85 Lukács interpretiert den Roman dabei als die ästhetische Realisation eines „Trotzdem“86 in einer „gottverlassenen Welt“.87 Er identifiziert die Ironie des Romans als „negative Mystik der gottlosen Zeiten“.88 Lebenssinn werde nur annäherungsweise gefunden: im Medium der Selbsterkenntnis.89 Betonten Lukács und später Walter Benjamin die Gottverlassenheit und Ratlosigkeit des Romans, 90 so heben heutige Literaturtheorien eher die Stärken und Möglichkeiten des Romans hervor. Jochen Hörisch sieht die Funktion der schönen Literatur vor allem darin, Alternativversionen der Welt zu entwerfen, die uns instinktentbundenen Mängelwesen zeigen können, wie wir (auch) leben können. Alles könnte, so Hörisch, auch ganz anders sein.91 Er zählt Buchdruck, Alphabetisierung und Lesekultur „zu den 81 Vgl. Assmann, Schrift. 82 Charlton/Neumann-Braun, Medienkindheit, 29. 83 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, München 22000. 84 Ders., Theorie, 32. 85 Ders., Theorie, 70. 86 Ders., Theorie, 62. 87 Ders., Theorie, 77. 88 Ders., Theorie, 79. 89 Ders., Theorie, 71. 90 Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Walter Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. ²1980, 385–410, 389. 91 Hörisch, Sinn, 155ff.

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machtvollsten unter den bisherigen Anthropotechniken“.92 Ähnlich wie Hörisch beschreibt Marcus Düwell die Möglichkeiten des Narrativen aus der Sicht einer Theorie ästhetischer Erfahrung. Durch literarische Erzählungen vermittelte ästhetische Erfahrung ermögliche eine spielerische Distanz zur Verbindlichkeit des Alltagslebens, erschließe Handlungsspielräume, indem sie vorstellbar und erfahrbar mache, dass „es auch anders sein könnte“.93 Für Düwell hat das Erzählen darum eine indirekte moralische Bedeutung: dadurch, dass es unsere Horizonte und damit auch unsere Handlungsfähigkeit erweitert. Literatur und Religion Literatur in Buchform ist diejenige Form der Buchkultur, die der Religionskultur am nächsten steht. Denn in der Literatur geht es wie in der Religion nicht zuletzt um die Deutung und die poetische Verarbeitung von vorletzten und letzten Lebensfragen, um die Bearbeitung der lebensgeschichtlichen Sinndimension. Dabei hat sich die Literatur ähnlich wie die bildende Kunst im Prozess der Moderne immer weiter von Theologie und Kirche emanzipiert. Zugleich hat sie Anteil an der Ausdifferenzierung und Umformung der christlichen Religionskultur. Im Zuge dieser Entwicklung hat sie Funktionen der kirchlichen Religionskultur übernommen. Folgt man der Analyse von Heinz Schlaffer, so lassen sich diese Transformationsprozesse besonders deutlich an der späten Blüte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert ablesen: „Mit der Übernahme religiöser Sprachgebärden beginnt der Aufstieg der deutschen Literatur, mit der Ersetzung der Religion durch die Kunst ist er vollendet.“94 Keimzelle sei die protestantische Religionskultur und insbesondere das protestantische Pfarrhaus gewesen (Bodmer, Gottsched, Gellert, Lessing, Wieland, Lichtenberg, Lenz, Jean Paul, die Brüder Schlegel waren Pfarrerssöhne). Die These, dass die Literatur Funktionen der Religion übernommen hat, wird auch von Literaten geteilt. Martin Walser betont in seiner 1981er Büchnerpreisrede: „Die Literatur ist die aktuelle Religion.“95 Und Jonathan Franzen, Autor des Erfolgsromans Die Korrekturen (USA 2001), konstatiert: Selbst für Menschen, die nichts glauben, was sie nicht mit eigenen Augen sehen, kann die formale Ästhetik, mit der die menschliche Tragödie [im Roman, Anm. d. Verf.] geschildert wird, Erlösungscharakter annehmen.96

92 Ders., Sinn, 161. 93 Marcus Düwell, Ästhetische Erfahrung und Moral, in: Dietmar Mieth (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, 11–35, 26. 94 Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München, Wien 2002, 93. 95 Martin Walser, Woran Gott stirbt, Frankfurt a.M. 1981, 147. 96 Jonathan Franzen, Vielleicht auch träumen, in: Literaturen, Juli/August 2002, 6–23, 22.

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Die tragische Weltsicht des Romanciers vereine, ganz im Sinne Nietzsches, Einsichten in die Dunkelheit und Unvorhersehbarkeit des Lebens mit der Klarheit und Schönheit der Form „zu einem Erleben von religiöser Intensität“.97 Betont Franzen die Möglichkeiten der ästhetischen Verarbeitung ambivalenter Lebenserfahrungen im Roman, so verweist der Philosoph Richard Rorty auf seine Möglichkeiten, dem Leser neue Perspektiven zu eröffnen, und erblickt vor allem darin eine Nähe des Romans zur Religion. Rorty schreibt: Demzufolge möchte ich unsere spirituellen Bedürfnisse zusammenfassen als unsere Hoffnung, in eine unbekannte Welt vorzustoßen, die bislang nicht erträumte Perspektiven eröffnet. Bei weltlichen Intellektuellen wird dieses Bedürfnis durch die Lektüre von Romanen wie denen von James und Proust erfüllt, so wie es bei religiösen Intellektuellen durch die Lektüre von Thomas a Kempis oder Ignatius von Loyola erfüllt wird.98

Die Erfahrung des Lesens der Romane von Proust und James gehe über Moral und Ästhetik hinaus: Wer aber behauptet, dass diese Romane eher moralisch als ästhetisch oder gleichermaßen moralisch wie ästhetisch bedeutsam seien, scheint etwas Wichtiges zu übersehen, und zwar jenes Gefühl, erhoben worden zu sein, welches die Leser dieser Romane mit gläubigen Menschen teilen, denen die Lektüre von Erbauungsliteratur das Gefühl vermittelt hat, eine bessere Welt gesehen zu haben. Die Lektüre sowohl der einen als auch der anderen Art von Buch bringt ein Gefühl der Erhebung und der Hoffnung hervor.99

Für den religiösen Intellektuellen richte sich diese Hoffnung auf eine Vereinigung mit Gott. „Für Intellektuelle, die sich von James oder Proust erhoben fühlen, ist es die Hoffnung, ihr Leben auf dieser Welt irgendwann als ein Kunstwerk zu begreifen – irgendwann zurückzuschauen und alles in eine Art Muster einfügen zu können –, ihr Lieben und ihre Kämpfe, ihre Träume und ihre Niederlagen, ihr jeweiliges Selbst in der Jugend und im Alter. Es ist die Hoffnung, dass alle Menschen und Ereignisse, die einmal für sie wichtig waren, in eine zusammenhängende Geschichte der Reifung eingebracht werden können. Es ist eher das Streben nach Form als das Verlangen nach Transzendenz.“100 Rorty knüpft mit seinen Überlegungen bei Harold Bloom an, der das Lesen von Romanen als Königsweg zu einem autonomen Selbst interpretiert. Lesen fördere die Autonomie, indem es den 97 Ders., Vielleicht, 21f. 98 Richard Rorty, Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003, 49–66, 64. 99 Rorty, Roman, 64. 100 Ders., Roman, 65.

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Horizont erweitere und aus Selbstbezogenheit befreie. Romane, so Rorty im Anschluss an Bloom, helfen, die Bedürfnisse und Selbstbeschreibungen anderer besser zu verstehen. Rorty interpretiert den Roman vor diesem Hintergrund „als einen Versuch [...], Christi These umzusetzen, dass die Liebe das einzige Gesetz sei“.101 Von Bloom ausgehend entwickelt Rorty seine Beschreibung des besonderen Leseerlebnisses vor allem in Analogie zur religiösen Erfahrung weiter, bestimmt die gemeinte Erfahrung näher als „höhere Stufe von Bewusstheit“ und „Erweiterung des Vorstellungsvermögens“ und vergleicht sie mit der Intensität der Liebe und der existenziellen Nachhaltigkeit der von William James beschriebenen religiösen Erfahrungen.102 Dementsprechend könne man von Erlösung sprechen, allerdings nicht durch eine erlösende Wahrheit, sondern durch die Erfahrung des Lesens selbst. Generell sei „im Zentrum der Hochkultur die Literatur inzwischen an die Stelle von Religion und Philosophie getreten“.103 Funktionsäquivalenz bedeutet für Rorty jedoch nicht schon Identität. Die Leseerfahrung unterscheidet sich in mancher Hinsicht auch von der religiöse Erfahrung im Kontext der christlichen Tradition: sie ist nicht unbedingt auf große Transzendenzen bezogen; „sie ist“, so Rorty, „eher das Streben nach Form als das Verlangen nach Transzendenz“.104 Der Romanleser sucht, so Rortys Vorstellung, nach einer sinnvollen Gesamtschau seines Lebens im Spiegel einer gelungenen Form. Die Perspektive, die durch Rortys Überlegungen in den Blick gekommen ist, die Frage nach den religiösen Funktionen der Literatur, die unabhängig von der Verarbeitung christlicher Traditionen sind, wurde in der theologischen Literaturforschung erstmals dezidiert von Dorothee Sölle reflektiert. Ihre Habilitationsschrift Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung setzt einen neuen Akzent in der theologischen Auseinandersetzung mit der Literatur.105 Neben der ausdrücklichen Verarbeitung christlicher Traditionen interessiert Sölle im Anschluss an Tillich vor allem die implizite Religion des Romans. Sie wählt für die Entwicklung dieser Perspektive den Begriff der „Realisation“. Sölles Hauptthese: Die Funktion religiöser Sprache in der Literatur besteht darin, weltlich zu realisieren, was die überlieferte Sprache verschlüsselt aussprach. Realisation ist die weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion ‚gegeben‘ oder versprochen ist.106 101 Ders., Roman, 59. 102 Ders., Roman, 60f. 103 Ders., Roman, 53. 104 Ders., Roman, 65. 105 Dorothee Sölle, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt 1973. 106 Dies., Realisation, 29.

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In der Spur von Sölle bewegt sich Lutz Friedrichs in der auf seiner Marburger Dissertationsschrift basierenden Studie Autobiographie und Religion der Spätmoderne: biographische Suchbewegungen im Zeitalter transzendentaler Obdachlosigkeit.107 Dieses Buch kann als aktueller Schlüsseltext für die Verhältnisbestimmung von Literatur und Religion gelten. Der große zeitliche Sprung von Sölle zu Friedrichs – 26 Jahre – zeigt dabei zum einen, wie weit Dorothee Sölles Arbeit ihrer Zeit voraus war, zum anderen, wie wenig Nennenswertes sich in der theologischen Literaturforschung seit der 1973 erschienen Studie von Sölle ereignet hat. Friedrichs nimmt die aktuellen religionstheologischen und literaturtheoretischen Debatten auf und zeigt paradigmatisch, welche Rolle der Religion in der Autobiographik der Spätmoderne zukommt. Das beschriebene Bild scheint mir generelle Tendenzen der Gegenwartsliteratur zu treffen. Friedrichs schließt religionstheoretisch bei Tillich und den weiten funktionalen Religionsbestimmungen heutiger religionstheologischer Kulturhermeneutik an. Verdichtet findet er dieses sinntheoretische Verständnis von Religion als biographischer Tiefendimension unter anderem in einer Formulierung Tillichs: „Religiös zu sein bedeutet, leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief erschüttern.“108 Literaturtheoretisch verfolgt Friedrichs eine rezeptionsästhetische Perspektive und vollzieht damit die Wendung zum Leser nach, die für die literaturtheoretische Debatte seit dem Ende der 60er Jahre bestimmend ist. Man spricht auch von einer pragmatischen Wende innerhalb der Literaturwissenschaften, die vor allem mit den Namen Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser verbunden ist.109 Literarisch-ästhetische Texte bilden diesem Theorieansatz nach nicht Realität ab, sondern entwerfen fiktionale Welten, die Wirklichkeit poetisch deuten. Dadurch, dass diese Texte Leerstellen und Unbestimmtheiten enthalten, fordern sie den Leser zum Mitspielen und zur Beteiligung heraus. Bedeutung wird im individuellen Lesevorgang je individuell im Medium der Leser-Text-Interaktion generiert. Dieses Konzept geht – wie die Kulturanalyse im Kontext der Cultural Studies und die heutige Medienrezeptionsforschung generell – von der Vielsinnigkeit von Texten aus. Vor diesem so angedeuteten Theoriehintergrund hat Friedrichs autobiographische Texte von Wolfgang Koeppen und Peter Handke untersucht. In 107 Lutz Friedrichs, Autobiographie und Religion der Spätmoderne: biographische Suchbewegungen im Zeitalter transzendentaler Obdachlosigkeit, Stuttgart/Berlin/Köln 1999. 108 Paul Tillich, Die verlorene Dimension, in: Manfred Baumotte (Hg.), Tillich-Auswahl II, Gütersloh 1980, 7–14, 8. 109 Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. ²1997; Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens – Theorie ästhetischer Wirkung, München ³1990.

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ihrer religionshermeneutischen Interpretation kommt er der Position von Lukács wieder nahe, indem er die religiöse Dimension der von ihm untersuchten Texte im Modus der Negation und des Suchens angespielt sieht. Der Literat Franzen, der den ästhetischen Genuss des Lesens mit religiösen Begriffen beschreiben kann, geht hier, ebenso wie Dorothee Sölle, etwas weiter. Die Rede von „Erlösungscharakter“, „Zuflucht“ in Sätzen und „Realisation“ beschreibt Momente der Erfüllung, die über die Artikulation von Schmerz und Sehnsucht hinausgehen. Diese Momente sind, so wird vor allem bei Franzen deutlich, stark auf das Ästhetische der Literatur bezogen. Diesen ästhetischen Aspekten des Verhältnisses von Religion und Literatur hat zuletzt Klaas Huizing mit seiner Ästhetischen Theologie nachgespürt.110 Darin will er zunächst die Bibel als literarisches Kunstwerk wiederentdecken und sie mit Hilfe ästhetischer Kategorien als Inkarnationsdrama verstehen, das sich in der Wiedergeburt seiner Leserinnen und Leser erfüllt.111 „Thema“, seiner Überlegungen ist „die Wiedergeburt durch die Lektüre“.112 Huizing sieht den Menschen als ein „Lesewesen“ und traut dem Lesen – unbekümmert um die Ergebnisse der empirischen Leseforschung – viel zu. Im Blick auf die Bibel formuliert er: „Das Thema der Texte, das in Christus anbrechende Gottesreich, wird durch das Textgeschehen Wirklichkeit. Diese Textdramatik oder dieses Textereignis hat zugleich die Kraft, die Wiedergeburt einzuleiten.“113 Eine zentrale literaturtheoretische Referenz bilden die Überlegungen Wolfgang Isers. In seiner literarischen Anthropologie interpretiert Iser die instinktentbundene Kulturoffenheit und Kulturbedürftigkeit des Menschen als seine Plastizität, die in der Literatur ein Medium der Inszenierung und Selbstbildung gefunden habe.114 Menschen bedürften der literarischen Fiktion, der Darstellung von Lebensmöglichkeiten, um sich selbst entwerfen zu können. Das biblische Portrait Christi sei nun, so Huizing, das Fiktionsangebot christlicher Lektüre, das ein gelingendes Leben vor Augen führe, zu dem die Leser durch die Lektüre wiedergeboren werden könnten.115 In einem zweiten der audiovisuellen Medienkultur gewidmeten Band führt Huizing dann aus, dass auch heutige Medien vergleichbare Rezeptionserfahrungen vermitteln könnten, dass sich in ihnen Heiligenlegenden finden, die Wiedergeburtserfahrungen im oben beschriebenen Sinne evozieren 110 Klaas Huizing, Ästhetische Theologie Bd. 1. Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Stuttgart 2000. 111 Huizing, Mensch, 22f. 112 Huizing, Mensch, 23. 113 Huizing, Mensch, 27. 114 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991. 115 Huizing, Mensch, 61f, 140f.

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könnten.116 Zur Identifikation solcher Heiligenlegenden zieht Huizing einen „postsubstanziellen Religionsbegriff“ heran, dessen Spezifik durch ein Ensemble von Güte-Gesten jesuanischen Ursprungs ausgezeichnet ist.117 Die Rezeption „Die Leser passen ihre Lese-Strategie immer stärker an das InformationsÜberangebot in der Mediengesellschaft an“, so resümiert der Leseforscher Bodo Franzmann die Ergebnisse der 2002 unter dem Titel Leseverhalten der Deutschen im neuen Jahrtausend von der Stiftung Lesen veröffentlichten Studie, die das bundesdeutsche Leseverhalten im Jahr 2000 zum Gegenstand hat.118 Dies gilt insbesondere für Jugendliche (14–19-jährige). Gegenüber einer Vergleichsstudie von 1992 hat sich der Anteil der Parallelleser in dieser Altergruppe („Ich habe öfter mehrere Bücher, in denen ich gleichzeitig lese.“) in etwa verdoppelt (Zunahme von 11 auf 20 Prozent), das überfliegende Lesen hat um 20 Prozent zugenommen.119 Hinzu kommt für diese Altersgruppe eine neue Form des Lesens: das Lesen am Computerbildschirm (drei Viertel der Jugendlichen nutzen regelmäßig den Computer!).120 Lesen ist in der Regel eine einsame Praxis geworden. Es ist ein sublimes Vergnügen und zugleich ein Vorgang der Selbst- und Sinnbildung. Emphatische Literaturwissenschaftler, die nicht empirisch arbeiten, neigen – wie Theologen – dazu, diesen Selbstbildungsaspekt stark zu betonen. So kann Harold Bloom formulieren: „Die endgültige Antwort auf die Frage ‚Warum lesen?‘ lautet, dass nur gründliches, ständiges Lesen ein autonomes Selbst begründet und fördert.“121 In welchem Verhältnis Selbstbildungs- und Bildungsinteressen auf der einen Seite und Unterhaltungsbedürfnisse auf der anderen jeweils zueinander stehen, variiert. Unstrittig ist jedenfalls, dass Lesen Vergnügen bereiten kann. Man spricht auch von „Leseglück“.122 Plausibel ist ebenfalls, dass Lesen die Imaginationsfähigkeit und das Fremdverstehen zu fördern vermag. Wie genau sich Lesen oder auch die

116 Ders., Ästhetische Theologie Bd.2. Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie, Stuttgart 2002. 117 Huizing, Medien-Anthropologie, 164. 118 Vgl. die Pressemitteilung der Stiftung Lesen unter: http://www.stiftung-lesen.de/journal/ zahlen/zahlen01.html, (16. Juli 2002); Stiftung Lesen/Spiegel-Verlag (Hg.), Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend. Eine Studie der Stiftung Lesen, Mainz/Hamburg 2001. 119 Bodo Franzmann, Die Deutschen als Leser und Nichtleser. Ein Überblick, in: Stiftung Lesen/Spiegel Verlag (Hg.), Leseverhalten, 7–31, 18. 120 Franzmann, Leser, 31. 121 Harold Bloom, Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten, München ²2000, 208f. 122 Vgl. Peter Vorderer/Christoph Klimmt, Lesekompetenz im medialen Spannungsfeld von Informations- und Unterhaltungsangeboten, in: Groeben/Hurrelmann (Hg.), Lesekompetenz, 215– 235, 221.

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Nutzung anderer Medien auf die Empathiefähigkeit auswirken, ist allerdings noch nicht systematisch erforscht.123 Der Beginn einer modernen Lesekultur wird im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verortet.124 In diesem Zeitraum wird das wiederholte Lesen religiöser Texte allmählich von der einmaligen Lektüre weltlicher und jeweils neuer Textangebote abgelöst. Im 19. Jahrhundert kommt es dann aufgrund der zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung und der Expansion des Literaturmarktes zur eigentlichen Demokratisierung des Lesens. Im 20. Jahrhundert wird das Lesen zu einem Aspekt von Medienrezeption unter anderen. Mit dem Siegeszug der audiovisuellen Medien und des Computers vollzieht sich die Transformation zur Mediengesellschaft, die auf die Lesekultur zurückwirkt: Das Lesen bleibt heute gegenüber anderen Mediennutzungen zurück. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen steht die Frage nach der Veränderung der Lesekompetenz und der Lesesozialisation in der Mediengesellschaft im Mittelpunkt heutiger Leseforschung.125 Wichtige Faktoren der Lesesozialisation bleiben, so ein Ergebnis, auch unter den Bedingungen der Mediengesellschaft weiterhin die Familie, die Schule, die Peergroup und natürlich die Selbstsozialisation. Auch die Geschlechtervariable ist bedeutsam für das Lesen: Frauen präferieren Printmedien, Männer Bildschirmmedien (Frauen bevorzugen Spiel- und Liebesfilme, Männer Abenteuer- und Dokumentarfilme).126 Lesekompetenz bleibt auch in der Mediengesellschaft eine wesentliche Basiskompetenz. Es ist jedoch eine Funktionsverschiebung des Lesens zu beobachten. Margrit Schreier und Gerhard Rupp stellen fest: Zum einen ist das Lesen zunehmend weniger an die Printmedien gebunden; statt dessen steigt die Relevanz der digitalen Verarbeitung textueller Information. Zum anderen werden die Funktionen des Literarischen zunehmend auch von anderen Medien übernommen, so dass speziell das literarische Lesen, das über lange Zeit den normativen Kern des Begriffs der Lesekompetenz bildete, in der Mediengesellschaft eher an Bedeutung verliert bzw. in einer generellen literarischen Rezeptionskompetenz aufgeht.127

Vor allem literarisches Lesen hat, wo es praktiziert wird, auch Lebensbewältigungsfunktionen. Dieser Aspekt ist in jüngerer Zeit zum Gegenstand 123 Vgl. Vorderer/Klimmt, Lesekompetenz, 224. 124 Vgl. Norbert Groeben u.a., Das Schwerpunktprogramm „Lesesozialisation in der Mediengesellschaft“, in: ders. (Hg.), Sonderheft 10 zu: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft, Tübingen 1999, 1–26, 2f; vgl. diesen Text auch zu den folgenden Ausführungen. 125 Vgl. Groeben u.a., Schwerpunktprogramm. 126 Vgl. Groeben u.a., Schwerpunktprogramm, 5–11. 127 Schreier/Rupp, Ziele/Funktionen der Lesekompetenz im medialen Umbruch, in: Groeben/ Hurrelmann (Hg.), Lesekompetenz, 251–271, 268.

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empirischer Literaturforschung gemacht worden.128 Literarische Texte eignen sich besonders als Medien für die Reflexion von Lebensfragen, weil sie aufgrund ihrer genuinen Polyvalenz relativ große Interpretationsspielräume anbieten, in die sich der jeweilige Leser mit seinen Problemen, Bedürfnissen, Fantasien und seiner Lebensgeschichte eintragen bzw. imaginativ einspielen kann. Wie vielfältig die konkreten Lesestrategien dabei sind, die Leser anwenden, um sich Genuss beim Lesen zu verschaffen und zugleich – manchmal mehr, manchmal weniger – relevante Lebensthemen zu bearbeiten, konnten Michael Charlton und Corinna Pette in einer qualitativen Studie aufzeigen, in der sie die Auseinandersetzung von sechs erwachsenen Lesern mit demselben Roman untersuchten.129 Dass Lektüren Wiedergeburtsdramen (Huizing) auslösen, erscheint vor dem Hintergrund dieser Studie allerdings als eher unwahrscheinliche Ausnahme. 3.6.2 Der Kinofilm Wesentliche Merkmale des Mediums Kinofilm. Der Film ist mit seiner gut hundertjährigen Geschichte das zweitälteste der hier zur Debatte stehenden Einzelmedien.130 Er ist im 21. Jahrhundert Teil eines umfassenden Mediensystems. Das Fernsehen und die Videotechnik haben seine kulturelle Präsenz vervielfacht und verändert. Die Digitalisierung ist im Begriff, die Verbreitung und Herstellung des Films erneut zu beeinflussen und zu erweitern. Gut hundert Jahre nach seiner Erfindung ist der Film zu einer der wichtigsten kulturellen Ausdrucksformen der Spätmoderne avanciert.131 Er hat dazu beigetragen, die Schriftkultur in eine audiovisuell geprägte Kultur zu verwandeln. Er hat zum Entstehen einer neuen Form der populären Kultur amerikanischer Prägung und globaler Verbreitung beigetragen. Der populäre Film ist ein globales Phänomen. Filme wie die Titanic oder Der Herr der Ringe sind Medienereignisse, die fast zeitgleich in allen Ländern der Welt, in denen eine entsprechende Kinoinfrastruktur existiert, gezeigt und wahr128 Vgl. Michael Charlton/Corinna Pette, Lesesozialisation im Erwachsenenalter: Strategien literarischen Lesens in ihrer Bedeutung für Alltagsbewältigung und Biographie, in: Groeben (Hg.), Lesesozialisation, 103–117, dort auch weitere Literatur zum Thema. 129 Corinna Pette/Michael Charlton, Empirisches Beispiel: Differenzielle Strategien des Romanlesens: Formen, Funktionen und Entstehungsbedingungen, in: Groeben/Hurrelmann (Hg.), Lesekompetenz, 195–213. 130 Ich greife im Folgenden u.a. auf einige im Rahmen meiner Dissertation erarbeitete Beschreibungen und Deutungen zurück, vgl. Herrmann, Sinnmaschine, 78ff. 131 Vgl. Stephan Abarbanell/Reinhard Middel/Karsten Visarius, Medien und Kultur, in: Kirche und Kultur in der Gegenwart. Beiträge aus der evangelischen Kirche, hg. im Auftrag des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996, 374–390, 375.

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genommen werden. An die Kinoauswertung schließt sich dann ein weitere Verwertung im Video- und Fernsehbereich an. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll es allerdings in erster Linie um den im Kino rezipierten Film gehen, um den sogenannten Kinofilm also, der durch die Gruppenrezeption im Kino von dem im Fernsehsehprogramm gezeigten oder mittels DVD oder Video abgespielten Film unterschieden ist. Wirtschaftlich dominant ist der erzählende Spielfilm, der eine Reihe von Genres ausgebildet hat. Die Dokumentationsfunktion des Films, anfangs auch noch im Kinosaal beheimatet, ist inzwischen weitgehend auf das Fernsehen übergegangen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Grundlegend für den Kinofilm ist sein Doppelcharakter als Ware und als Kunst.132 In der Regel steht ein Aspekt im Vordergrund. Innerhalb der Filmkultur kann dementsprechend idealtypisch zwischen dem auf Publikumsresonanz und wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten populären Film und dem künstlerisch ambitionierten Film unterschieden werden. Insbesondere der auf eine Symbiose mit dem Publikum zielende populäre Film steht in einer engen Beziehung zum Gesellschaftlichen, spiegelt die Ängste und Wünsche seiner Zeit. Während der populäre Film dabei dazu neigt, Komplexität zu reduzieren und die gesellschaftlichen Probleme durch HappyEnd-Geschichten zu kompensieren, so arbeitet sie der künstlerisch ambitionierte Film auf oftmals provozierende Weise gerade heraus. Beide Seiten, das Aufdecken von Negativität und ihre fiktionale Kompensation ergeben erst zusammen ein vollständiges Bild der Gegenwartslage. Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer schrieb schon in den 20er Jahren – ohne dabei zwischen populären und künstlerischen Orientierungen innerhalb der Filmkultur zu unterscheiden: „Die Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft.“133 Filme geben Auskunft über die Träume und Alpträume einer Gesellschaft. Sprach Hegel von der Philosophie als der Zeit „in Gedanken gefaßt“, so könnte man den Film als ein Medium charakterisieren, welches seine Zeit auf umfassende Weise in einer Bildererzählung widerspiegelt. Die Anfänge Als der Geburtstag der siebten Kunst wird gemeinhin der 28. Dezember 1895 angesehen. An diesem Tag organisierten die Brüder Lumière, Fotofabrikanten aus Lyon, die erste öffentliche Filmvorführung im Pariser Grand Café.134 Technisch gesehen war der Film aus der Fotographie hervorgegangen. Kulturell betrachtet war er in der Varieté- und Jahrmarktswelt verwurzelt. Ist der fotographische Kontext mit dem Namen Lumière ver132 Vgl. Margit Dorn, Film, in: Faulstich (Hg.), Grundwissen, 201–220, 202. 133 Siegfried Kracauer, Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in: ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, 279–294, 279. 134 Vgl. Ulrich Gregor/Enno Patalas, Geschichte des Films, Gütersloh 1962, 12f.

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knüpft, so der Jahrmarktsaspekt mit dem französischen Zauberer und Theatermann Georges Méliès. Beide Namen stehen darüber hinaus für zwei unterschiedliche Tendenzen, die für die Weiterentwicklung des Films von grundlegender Bedeutung sind: Waren die Brüder Lumière vor allem an dokumentarischen Filmaufnahmen interessiert, so ging es Méliès um das Illusionspotential des Mediums. Die Lumières gelten darum auch als Begründer des Dokumentarfilms, Méliès als Vater des fiktionalen Films.135 In der Zeit zwischen 1896 und 1912 entwickelte sich der Film von einer Jahrmarktsattraktion zu einer eigenständigen Wirtschaftsbranche und Kunstform. 1902 wurde in Los Angeles das erste Kino eröffnet.136 Mit dem Entstehen des langen Spielfilms war das neue Medium endgültig aus den Kinderschuhen herausgewachsen.137 Entwicklungen Die ersten fünfzig Jahre der Filmtheorie waren von ExpressionismusTheorien bestimmt.138 Der Filmwissenschaftler James Monaco führt diese Orientierung auch auf das Interesse der Filmtheorie zurück, den Film als eigenständige Kunstform zu etablieren. Im Zuge dieser Intention habe man die Reflexivität und die Gestaltungsmöglichkeiten des Films betont. Als konziseste theoretische Bündelung der expressionistischen Position gilt Rudolf Arnheims Film als Kunst von 1932.139 Das Standardwerk der realistischen Position erschien knapp dreißig Jahre später: Siegfried Kracauers Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit von 1960.140 Rudolf Arnheim betont die subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten des Filmautors wie sie nicht zuletzt aus den spezifischen Begrenzungen des Mediums resultieren. Stellt Arnheim die Vermittlungsleistung und das illusionistische Potential in den Mittelpunkt, so hebt Kracauer die fotographische Herkunft des Films und seine damit gegebene Affinität zur physischen Realität hervor. Es sei somit die Chance des Films, die materielle Welt in ihrer Ungestelltheit, Zufälligkeit, Fragmentarität und Unbestimmtheit zur Geltung zu bringen. Ein Filmautor nach dem Geschmack Kraucauers nähert sich seinem Gegenstand darum mimetisch. Durch die fotographische Bildlichkeit des Films vermag er eine ästhetische Erfahrung zu vermitteln, die, 135 So z.B. Meyers Grosses Taschenlexikon in 24 Bänden, 4., vollständig überarbeitete Auflage, hg. und bearb. v. Meyers Lexikonredaktion, Bd. 7, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1992, 79. 136 James Monaco, Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia, überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Reinbek 1996, 237. 137 Vgl. Monaco, Film, 232ff. 138 Vgl. Ders., Film, 411. 139 Rudolf Arnheim, Film als Kunst, Frankfurt a.M. 1979. 140 Siegfried Kracauer, Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. ³1979.

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wie Kracauer formuliert, zur „Errettung“ und „Enthüllung“ der physischen Realität beitragen kann. Dabei geht es Kracauer nicht um eine mystische Enthüllung, sondern um die Materialität des Gesellschaftlichen. Der italienische Neorealismus ist das Paradigma seiner Theorieperspektive. Ende der sechziger Jahre erfasste der linguistic turn auch die Filmtheorie. Das Standardwerk der semiotischen Filmtheorie Langage et Cinéma von Christian Metz erschien 1971 in Frankreich und 1972 in Deutschland.141 Der französische Filmwissenschaftler zerlegte den Film in seine Zeichencodes und untersuchte das Zusammenspiel von Bild, Sprache und Ton im Film. Heute geht die Filmwissenschaft multiperspektivisch vor: Sie bedient sich semiotischer, genrespezifischer, soziologischer und rezeptionsanalytischer Methoden.142 Die jüngere Geschichte des Films ist geprägt durch einen Siegeszug des populären Kinofilms. Bis auf den alten Star Wars-Film von 1977 datieren alle Titel auf den ersten 15 Plätzen der weltweiten Einspielhitliste aus den letzten Jahren.143 Angeführt wird die Liste der Kassenschlager nach wie vor von James Camerons Titanic, dem bis heute immer noch weltweit erfolgreichsten Film. Dieser Erfolg des populären Films seit den 90er Jahren ist nicht zuletzt der technischen Optimierung von Herstellung und Abspiel (MultiplexKinos) geschuldet. In ästhetischer Hinsicht hat das postmoderne Kunstkino die im Blick auf die Gegenwart nach wie vor entscheidenden Akzente gesetzt. Seine komplexen Erzählstrukturen, seine Lust am Zitat, an der Ironie, am Schock und an der Beschleunigung haben auch das populäre Kino beeinflusst. Gleichwohl bleibt die Dichotomie zwischen Kunstorientierung und populärer Orientierung bestehen. Das Kunstkino der Festivals von Cannes, Berlin und Venedig zeichnet sich durch einen weitaus höheren Grad an medialer Selbstreferentialität und Komplexität aus. Auch in thematischer Hinsicht sind deutliche Differenzen erkennbar. Ist das Thema Nummer eins des populären Films immer noch und immer wieder die Liebe, so präsentiert sich das Themenspektrum des Kunstfilms breiter und problembezogener. Aufs Ganze gesehen bewahrheitet sich die These Siegfried Kracauers vom Film als Spiegel der Gesellschaft: die Themen der Filme des großen populären Films seit den 90er Jahren spiegeln die Themen und Probleme ihrer Zeit: Liebe, Natur, Authentizität, Identität, Gewalt. Es sind diejenigen Themen und Fragen, die die ökologischen, erlebnisorientierten und zugleich nach neuer Verbindlichkeit suchenden Trends in 141 Christian Metz, Semiologie des Films, München 1972. 142 Vgl. Wolfgang Gast, Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse, Frankfurt a.M. 1993. 143 The Internet Movie Database, The Top Grossing Movies of All Time at the Worldwide Box Office, http://www.imbd.com/Charts/worldtopmovies (8. August 2006).

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einer sich beständig weiterhin pluralisierenden, globalisierenden, medialisierenden und ästhetisierenden Gesellschaft und Kultur mit sich führen. Der deutsche Kinomarkt wird dabei von amerikanischen Produktionen beherrscht. Der Marktanteil des deutschen Films schwankt zwischen zehn und zwanzig Prozent. Den Abspielmarkt dominieren die seit den 90er Jahren verbreiteten Multiplex-Kinos, die im Unterschied zu den engen Schachtel-Kinos der 70er Jahre das aktuelle Mainstream-Film-Angebot in großzügigen Kinosälen und optimaler technischer Qualität anbieten. Sie setzen auf den Erlebnischarakter des Kinobesuchs und bemühen sich, diesen mit allen architektonischen und technischen Mitteln und durch die Art der Filmauswahl zu intensivieren. Der Multiplex-Boom der 90er Jahre passt in das von Gerhard Schulze schon in den 80er Jahren beschriebene Bild der „Erlebnisgesellschaft“.144 Während sich die Multiplex-Häuser ganz dem populären Film – auch Mainstream-Film – verschrieben haben, grenzen sich neuerdings viele kleinere Kinos unter dem Label Arthouse-Kinos programmatisch von dieser Entwicklung ab und bieten ein Programm an, das, neben einer qualitätsbewussten Auswahl aus dem Mainstream-Angebot, auf künstlerisch ambitionierte Filme setzt. In dieser Entwicklung spiegelt sich das schon erwähnte Changieren des Films zwischen seinem Charakter als Unterhaltungsware und als Kunstform. Film und Religion Die religiöse Dimension des Kinofilms war schon im Kapitel zum Begriff der Medienreligion ausführlich zur Sprache gekommen. Ich will darum an dieser Stelle nur auf eine Tendenz des Gegenwartskinos hinweisen, die auch in anderen Bereichen der Gegenwartskultur beobachtet werden kann und die möglicherweise in den Interviewabschnitten, die sich auf aktuellere Medienerfahrungen beziehen, eine Rolle spielen könnte: auf die religiöse Aufladung von Authentizität. Andrea Köhler hatte im Blick auf die Authentizitätswelle der deutschen Gegenwartsliteratur interpretiert: „Das ‚Authentische‘ ist eine Art Gottesersatz in der mediengedoubelten Welt.“145 Die religiöse Aufladung des Authentischen ist nun aber nicht allein in der Literatur zu beobachten, sie findet sich auch in der – wie Köhler es ausdrückt – „mediengedoubelten Welt“ selbst: im Film. Eine Reihe von Filmen lässt sich mit etwas unterschiedlichen Akzentuierungen unter dieser Thematik zusammenfassen, darunter auch die dänischen Dogma-Filme, deren Regisseurinnen und Regisseure sich einem gesteiger144 Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 82000. 145 Zitiert nach Klaas Huizing, Ästhetische Theologie Bd. 3, Der dramatisierte Mensch, Stuttgart 2004, 25f.

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ten Realismus verschrieben haben. Mit filmästhetisch ganz anderer Akzentuierung bringt der amerikanische Film der letzten Jahre das Authentizitätsthema zur Darstellung: mit allen Mittel der Illusionsmaschine Kino. Ich denke insbesondere an Filme wie Die Truman Show (USA 1998), Matrix (USA 1999), American Beauty (USA 1999), Cast Away – Verschollen (USA 1999), Magnolia (USA 1999), Fight Club (USA 1999) und A.I. Artifical Intelligence (USA 2001).146 Ich will diese Aufladung von Authentizität an einem Beispiel etwas genauer erläutern. In Die Truman Show geht es um das Verhältnis von Konstruktion und Wahrheit, von Täuschung und Authentizität.147 Zwei Jahre vor Big Brother erzählt Peter Weir die Geschichte von Truman Burbank, dem unfreiwilligen Hauptdarsteller einer Live-TV-Show, der als einziger nicht weiß, dass sein Leben in der blankgeputzten Kleinstadt Seahaven rund um die Uhr Gegenstand einer weltweit ausgestrahlten Fernsehinszenierung namens Truman Show ist. 5000 versteckte Kameras beobachten den langweiligen Alltag des Versicherungsvertreters Burbank seit seiner Geburt. Über allem wacht Christof, Schöpfer und Produzent der gobalen Fernseh Show. Aufgrund eines ebenfalls inszenierten traumatischen Erlebnisses – sein angeblicher Vater ertrank vor seinen Augen beim Segeln – ist Truman Burbank unfähig, Wasser auch nur zu überqueren und somit den auf einer Insel gelegenen Fernsehort Seahaven, über den Christof sagt, er sei „besser als die Welt draußen“, zu verlassen. Doch Fernweh und Zweifel kommen auf und wecken bei Truman Burbank ein detektivisches Interesse an der Wahrheit. Eine zufällige Begegnung mit seinem tot geglaubten Vater schürt die Skepsis, so dass Christof sich veranlasst sieht, Trumans Nachfragen mit einer inszenierten Wiederbegegnung still zu stellen. Das plötzliche Wiederauftauchen des Vaters wird mit einer jahrzehntelangen Amnesie begründet. In dem Wiedersehen wird der Kontrast zwischen Inszenierung und authentischen Gefühlen auf die Spitze getrieben: Während Christof eine Show dirigiert, glaubt Truman, seinen Vater in die Arme zu schließen. Gefühle, so zeigt sich, sind für das empfindende Subjekt immer authentisch. So sehr sie auf falschen Voraussetzungen beruhen mögen. Gefühle sind es auch, die Burbank der Entdeckung der Wahrheit noch näher bringen: vor allem die Liebe Lauras, einer zur Gegnerin gewandelten früheren Schauspielerin der Show, die Truman Burbank, den Gefangenen der Mediengesellschaft, befreien möchte. Es gelingt ihr, sich bis zu ihm durchzukämpfen und ihn zum 146 Vgl. zu American Beauty und Matrix David L. Smith, „Beautiful Necessities“: American Beauty and the Idea of Freedom, Journal of Religion and Film, Vol. 6, No. 2, October 2002, 1–8, http://www.unomaha.edu/~wwwwjrf/am.beauty.htm (29. Dezember 2002), Matrix – oder über den Sinn einer an sich bedeutungslosen Frage, in: Praktische Theologie 35, Heft 4, 2000, 263–274; Georg Seeßlen, Die Matrix entschlüsselt, Berlin 2003. 147 Ähnlich interpretiert Klaas Huizing den Film, vgl. ders., Medien-Anthropologie, 166–177.

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Ausbruch aus dem Fernsehparadies Seahaven zu ermutigen. Am Ende kann Burbank sogar seine Wasserphobie überwinden: Er flieht mit einem Segelboot (Santa Maria!) von der Insel. Das Geschöpf hat vom Baum der Erkenntnis gegessen und will nun mehr wissen und in Freiheit leben. Das geht, wie schon in der Sündenfallgeschichte, nur auf dem Weg der Rebellion gegen den Schöpfer, den Produzenten Christof. Der kann den Eigensinn seines Geschöpfes nicht akzeptieren. Mit Hilfe eines lebensbedrohlichen Unwetters versucht er, Truman zur Umkehr zu zwingen. Doch Truman Burbank kämpft und hält am Kurs in die Freiheit fest. Er zieht die Ambivalenz des Realen der Idylle von Seahaven vor, einem Ort, von dem Christof sagt, er sei „wie die Welt sein sollte“. Doch Truman Burbank favorisiert die Gebrochenheit des Authentischen gegenüber der Perfektion der Simulation. Am Schluss des Films, die Spitze des Segelbootes hat sich in die Wand des überdimensionalen Studios gebohrt – glücklicherweise direkt neben einer Treppe zu einer Ausgangstür, durch die Truman Burbank seine Show gleich für immer verlassen wird – kommt es zu einem Dialog zwischen Truman und Christof. Truman: „War gar nichts echt?“ Christof: „Du warst echt. Deshalb hat man dir so gern zugesehen. Hör zu Truman! Da draußen findest du nicht mehr Wahrheit als in der Welt, die ich für dich geschaffen habe: dieselben Lügen, derselbe Betrug. Aber in meiner Welt hast du nichts zu befürchten.“ Truman: „Sie hatten nie eine Kamera in meinem Kopf!“ Gibt es also doch ein wahres Leben im falschen? Einen medienfreien Raum im Inneren des Subjekts und außerhalb der Fernsehstudios? Der Film scheint solches nahe zu legen. Er predigt das Authentische des eigenen Lebens in den Zeiten allgegenwärtiger Medialität, den Exodus aus den Gefangenschaften der Mediengesellschaft. Um der Wahrheit willen. Ein gehöriger Schuss medientheoretischer Naivität wird dabei in Kauf genommen. Das knapp vorgestellte Beispiel steht für ein zentrales Sinnmuster der Medienreligion des Kinos. Generell lässt sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse theologischer Medienforschung in religionskulturhistorischer Perspektive wohl sagen, dass der Kinofilm heute wichtige Funktionen im Bereich narrativer Lebensdeutung von der kirchlichen Religionskultur übernommen hat. Eine schöne Bestätigung dieser Diagnose aus der Rezipientenperspektive liefert der autobiographische Essay Kino des Journalisten Willi Winkler.148 Winkler bekennt sich darin als passionierter Cineast, der am liebsten allein ins Kino geht. Um zu beschreiben, was er dabei erlebt, bedient er sich immer wieder einer religiös konnotierten Sprache: Ins Kino gehst du nur allein. Natürlich siehst du einen Film nur selten für dich; richtig im Kino bist du aber bloß als einsamer Massenmensch. Der Film gehört dir nur, wenn 148 Willi Winkler, Kino. Kleine Philosophie der Passionen, München 2002.

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du nachher nicht drüber reden musst. [...] Das Mysterium währet leider nicht ewiglich, aber über die Straße kannst du es vielleicht balancieren, in die U-Bahn, mitten hinein unter Menschen, die doch rein gar nichts wissen von der eben stattgehabten Verwandlung, die nicht im Entferntesten ahnen, dass du, wie wir Esoteriker sagen, eine höhere Seinsebene erreicht hast. Die gibt es nämlich nur im Kino. [...] Du kannst es nicht teilen. Die unio mystica kann sich nur zwischen dir und der Leinwand ereignen.149

Für Winkler kann das Kino zum Ort mystischer Erfahrung werden. Welche Wirkung diese Erfahrung haben kann, erläutert Winkler unter anderem mit Hilfe eines Bibelzitates, mit dem Scorsese seinen Film Wie ein wilder Stier (1979) beschließt. Es lautet: „Das eine weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe.“ Winkler: „Das ist der eine Satz, der die Kino-Erfahrung beschreibt, meine jedenfalls: Im Kino und nur im Kino gehen mir die Augen auf.“150 Den Skeptikern hält er entgegen: „Kino: das ist doch eine Traumwelt! sagen die Schlaumeier, aber wem hätten sie damit geholfen? Wer aber ans Kino glaubt, wird selig. Kurz.“ Filme, so betont Winkler an anderer Stelle, dabei auf eigene oder bezeugte Erfahrungen zurückgreifend, Filme könnten sogar Leben retten oder jedenfalls Kraft fürs Überleben geben.151 Die Rezeption Die intensivsten Kinogänger sind die 16- bis 29-jährigen (Schüler, Lehrlinge, Studierende).152 Abiturienten im Alter zwischen 20 und 24 – in der Regel also Studierende – zieht es mit durchschnittlich acht Kinobesuchen im Jahr 1999 am häufigsten ins Kino. Es zeigt sich, dass diese Gruppe auch andere Medien überdurchschnittlich häufig nutzt (Videos, DVDs, Computerspiele, Internet).153 Die Motivation für den Kinobesuch baut sich hauptsächlich durch Mundpropaganda auf.154 Was Kinobesucher erwarten fasst Dirk Blothner im Rahmen einer wirkungspsychologischen Untersuchung so zusammen: Vom Kino erwarten die Menschen ein außergewöhnliches Erlebnis. Sie wollen frische Bilder sehen und sie wollen intensive Erfahrungen machen. Die einen erwarten Spannung und Thrill, die anderen eine vertiefte Einsicht in die Grundprobleme des Lebens.155 149 Ders., Kino, 52f. 150 Ders., Kino, 88. 151 Ders., Kino, 9, 77, 85. 152 Vgl. hierzu und zum Folgenden ders., 85ff, ähnlich Prommer, Kinobesuch, 16. 153 Dirk Blothner/Gerhard Neckermann, Das Kinobesucherpotential 2010 nach soziodemorahischen und psychologischen Merkmalen, hg.v. der Filmförderungsanstalt, Berlin 2001, 10. 154 Dies., Kinobesucherpotential, 17. 155 Dirk Blothner, Filminhalte und Zielgruppen. Wirkungspsychologische Untersuchung zur Zielgruppenbestimmung von Kinofilmen der Jahre 1998 und 1999 auf der Basis des GfK-Panels, Berlin 2000, 11.

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In einer Fortführung der Studie unterstreicht Blothner das Interesse der Kinobesucher an der Reflexion von Lebensfragen im Film und das kulturelle Deutungspotential desselben: „In unseren Analysen haben wir auch herausgearbeitet, dass viele der großen Filmhits weit davon entfernt sind, rein oberflächliche Unterhaltungsbedürfnisse zu befriedigen. Bei Filmen wie Titanic, American Beauty, ja sogar bei American Pie konnten wir im Gegenteil feststellen, dass sie sensibel auf Entwicklungstendenzen antworten, die in der westlichen Kultur einen Ausdruck suchen.“156 Hinsichtlich des Interesses an Lebensdeutung stellt Blothner fest, dass es mit steigendem Alter ebenfalls ansteigt, dass also Zuschauer über 30 deutlich weniger an „Spaß“ interessiert sind, dafür umso mehr an einer Vertiefung der Inhalte.157 Unterhaltung ist natürlich, so wird man hinzufügen können, weiterhin ein wichtiges Motiv. Was sich aber ändert, ist das Mischungsverhältnis. In einer zusammenfassenden Studie spricht Blothner auch von einem wachsenden „Hunger nach Inhalten“ als Ausdruck eines modernisierungsbedingt wachsenden Orientierungsbedürfnisses.158 Dieser Hunger nach Sinn – Blothner spricht u.a. von „Sinnvakuum“ und „Sinninflation“159 – findet Nahrung in der Medienkultur: Mit Inhalten versorgen sich die Menschen heute über das Fernsehen und das Kino. Besonders Kinofilme eröffnen in sich geordnete und geschlossene Welten, die unaufdringlich Antworten geben auf die großen Fragen des Lebens.160

Filme geben diese Antworten nun nicht nur auf der kognitiven Ebene, sie geben sie vielmehr in einer dramatischen Form. Sie bieten dem Zuschauer für die Dauer eines Films das an seine Erfahrungen anknüpfende und sie steigernde Erlebnis einer Verwandlung an.161 Blothner findet fast religiöse Formulierungen, um diese lebenssteigernde Funktion des Kinos zu beschreiben: Wir möchten im freieren Raum der fiktionalen Unterhaltung ausprobieren, was wir uns im realen Leben nicht (zu)trauen. Wir benutzen das Kino, um zu erfahren, was uns lieb und teuer ist, und um unsere Grenzen kennen zu lernen. Der Alltag hat sich das Kino geschaffen als den ‚anderen Ort‘, dessen Verheißungen und Versprechungen in den unruhigen Tagesläufen aufleuchten und verlocken. Wir wissen es intuitiv:

156 Ders., Filminhalte und Zielgruppen 2. Fortführung der wirkungspsychologischen Untersuchung zur Zielgruppenbestimmung von Kinofilmen des Jahres 2000 auf der Basis des GfK-Panels, Berlin 2001, 49. 157 Ders., Filminhalte, 48. 158 Ders., Erlebniswelt Kino. Über die unbewusste Wirkung des Films, Bergisch-Gladbach 1999, 9. 159 Ders., Erlebniswelt, 247, 264. 160 Ders., Erlebniswelt, 10. 161 Ders., Erlebniswelt, 16ff.

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Das Kino ist nicht das Leben, und es ist es doch. Das Kino strahlt einen Glanz aus. Es ist das Leben in einer gesteigerten und intensivierten Form.“162

Und weil das Kino das Leben in intensivierter Form zur Darstellung bringt, vermag es die Selbsterfahrung der Zuschauer zu vertiefen, ihren Hoffnungen und Ängsten Ausdruck zu verleihen, ja, sogar Anstöße für Veränderungen zu geben.163 Blothner erläutert seine Thesen immer wieder an Beispielen – so etwa, wenn er zeigt, wie der Film Dead Man Walking – Sein letzter Gang (Tim Robbins, USA 1995), in dem ein zum Tode Verurteilter um seine Begnadigung kämpft, als memento mori wirken kann, das seine Zuschauer aufrüttelt und auf eindringliche Weise mit dem Tod konfrontiert.164 „In seltenen Fällen“, so Blothner, „kann ein Film den Wendepunkt eines Lebens markieren.“165 Menschen gehen ins Kino, weil sie Sinn suchen, Lebenssteigerung, Unterhaltung. Doch in welchem Verhältnis stehen diese Komponenten zueinander? Befragungen zufolge gibt es für den Kinobesuch vor allem drei Motivationen: An erster Stelle steht das Bedürfnis, einen bestimmten Film sehen zu wollen, an zweiter der Wunsch nach Unterhaltung und schon an dritter Stelle (rund 30% der Befragten geben dieses Motiv als Hauptmotiv an) das Bedürfnis, mit Freunden zusammen sein zu wollen.166 Das soziale Ereignis ist ein wichtiger Grund, ins Kino zu gehen. Und Kino als soziale Aktivität ist zugleich ein kommunikatives Ereignis. Nach dem Kino spricht man über den Film. Und wenn man nicht unmittelbar nach einem Film über dessen Inhalt und die eigenen Eindrücke spricht, so ergeben sich in Gesprächen doch immer wieder Diskurse über Filme. Filme sind kommunikative Sinnressourcen. Wie sie angeeignet und benutzt werden, differiert. Eine Reihe von Untersuchungen im Kontext der Cultural Studies hat gezeigt, wie außerordentlich stark dabei der Einfluss des soziokulturellen Kontextes von Rezipienten auf ihre jeweiligen Lesarten und Gebrauchsweisen von Filmen ist. So haben etwa John Fiske und Robert Dawson in einer eindrucksvollen Studie untersucht, wie obdachlose Männer in einem kirchlichen Heim in den USA Fernsehfilme rezipieren.167 Einer ihrer Lieblingsfilme war Die Hard (USA 1987), ein Film, in dem eine Gruppe von terroristischen Gangstern am Heiligabend einen Wolkenkratzer in ihre Gewalt bringt, um den Tresor eines Konzerns zu knacken. Ein von Bruce Willis 162 Ders., Erlebniswelt, 23. 163 Ders., Erelbniswelt, 36ff. 164Ders., Erlebniswelt, 51f. 165 Ders., Erlebniswelt, 36 166 Vgl. Prommer, Kinobesuch, 112f. 167 John Fiske and Robert Dawson, Audiencing Violence: Watching Homeless Men Watch Die Hard, in: James Hay/Lawrence Grossberg/Ellen Wartella (Hg.), The Audience and its Landscape, Boulder 1996, 297–316.

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gespielter heldenhafter Polizist kann sie jedoch alle überwältigen. Die beobachteten Obdachlosen identifizierten sich nun nicht mit dem guten Helden alias Bruce Willis, sondern mit den Gangstern. Sie schalteten das Fernsehgerät aus, bevor der Held und die Polizei Recht und Ordnung vollends wieder herstellen konnten. Fiske und Dawson interpretieren diesen Befund als dezidiert oppositionelle Lesart, die in der soziokulturellen Position der Rezipienten gründet. Diese und andere Untersuchungen haben wiederholt die These von der Polysemie (Vielsinnigkeit) von Medientexten unterstrichen. Medientexte werden in der Interaktion mit dem Zuschauer auf je andere Weise gelesen. Je größer dabei ihr polysemes Potential, desto größer ihre Chance, zu Kulttexten zu werden – in diesem Fall zu Kultfilmen.168 Populäre Kultur als der Zusammenhang der Produktion und Rezeption massenmedial verbreiteter Filme und Medientexte ist also, so lässt sich mit Blick auf die Produktivität der Zuschauer sagen, ebenso sehr eine Schöpfung der Rezipienten wie der Produzenten. Besonders deutlich tritt diese Produktivität der Rezipienten bei dem Phänomen der Fan-Kultur hervor. Rainer Winter hat anhand einer ethnographischen Untersuchung der FanKulturen von Horrorfilm-Fans gezeigt, dass Fans soziale Welten mit eigenen sozialen Events und eigenen Medienwelten ausbilden.169 Winter unterscheidet im Anschluss an John Fiske drei Stadien der Produktivität der Horrorfilm-Fans: semiotische, expressive und textuelle Produktivität.170 Bewegt sich die semiotische Produktivität auf der Ebene der sinnkonstruierenden Rezeption, so geht die expressive einen Schritt weiter, indem filmisches Material für den kommunikativen Ausdruck und die individuelle Artikulation Verwendung findet. Mit textueller Produktivität meint Winter schließlich die Herstellung konkreter Texte etwa für Fanzines. Fans sind, so lässt sich resümierend sagen, in besonderer Weise sinnproduktiv tätige Rezipienten. Sie veranschaulichen, so Winter, „das Grundprinzip der [...] Populärkultur. Nicht der Autor eines medialen Textes bestimmt seine Interpretation, sondern die Zuschauer, die in dessen Gebrauch ihre eigenen Interessen und Absichten verfolgen.“171 Welchen konkreten Sinn ein Medientext dann jeweils ergibt, hängt dabei nicht zuletzt entscheidend von der soziokulturellen Positionalität der Rezipienten ab. Erst ein ethnographischer Zugang ermögliche es darum, so das Credo der Medienforschung im Umkreis der Cultural Studies, die unterschiedlichen Kontexte der Medienrezeption mit der notwendigen Differen168 Rainer Winter, Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess, München 1995, 106f. 169 Ders., Zuschauer, 127–222. 170 Ders., Zuschauer, 199f; die Unterscheidung ähnelt der oben schon zitierten zwischen Rezeption und Aneignung im Kontext der Rezeptionsforschung. 171 Ders., Zuschauer, 222.

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ziertheit zu erfassen.172 Dieser Hinweis soll im Blick auf die zu führenden Interviews in doppelter Hinsicht aufgenommen werden: Zum einen soll der Kontext mit Hilfe eines dem Interview vorgeschalteten Fragebogens zusätzlich erkundet werden, zum anderen soll die soziokulturelle Einbettung von Medienerfahrungen im Interview selbst angemessen berücksichtigt werden, indem nicht nur auf den Inhalt der Erfahrung abgehoben wird, sondern auch deren Situierung im Leben der Befragten erkundet wird. Der soziokulturelle Kontext verdichtet sich diachron in der biographischen Dimension. Die biographische Präsenz des Kinofilms ist dabei deutlich konturiert. 70 Prozent der Kinogänger sind zwischen 14 und 29 Jahren alt.173 Sie suchen das Kino vor allem am Wochenende auf und verfügen über einen relativ hohen Bildungsstand: rund zwei Drittel haben mittlere Reife oder Abitur.174 Das Kinopublikum besteht also vorwiegend aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Die kinointensivste Phase der Medienbiographie beginnt in der Teenagerzeit und endet zumeist mit der Aufnahme der Berufstätigkeit und/oder der Familiengründung. Welche Bedeutung das Kinoerlebnis jedoch in der kinointensiven Phase hat, ist bislang noch wenig erforscht.175 Elizabeth Prommer bemerkt zu Recht: Die Qualität des individuellen Filmerlebens, die Sinn- und Bedeutungskonstruktion der einzelnen werden durch die bisherigen Studien nicht erhellt. Es ist offensichtlich, dass man ins Kino geht, um einen Film zu sehen. Welchen Stellenwert dieses Ereignis im Leben eines Menschen hat, bleibt durch die bisherige Forschung verborgen.176

Prommer hat von diesem Desiderat ausgehend die Bedeutung des Kinobesuchs (verstanden als Medienhandeln in der Lebenswelt) im Lebenslauf anhand von medienbiographischen Leitfaden-Interviews untersucht. Die Ergebnisse sind allerdings mager und gehen über die Unterscheidung dreier Kinonutzungstypen (normale Kinogänger, Cineasten und spätberufene Kinofans) kaum hinaus.177 Interessant für die hier verfolgte Fragestellung ist allenfalls, dass bei den eifrigsten Kinobesuchern, den von Prommer so genannten Cineasten, ein familiäres Integrationsdefizit zu beobachten war. Prommer deutet den häu172 Vgl. Andreas Hepp, Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen/Wiesbaden 1999, 204ff und 256ff. 173 Vgl. Prommer, Kinobesuch, 16. 174 Vgl. dies., Kinobesuch, 110. 175 Dieses Defizit gilt im Übrigen generell im Blick auf die Medienrezeptionsforschung: qualitative Fallstudien sind immer noch Mangelware; vgl. dazu auch Hans-Dieter Kübler, „Medienkindheit“ und Mediensozialisation. Empirische Substanz oder gängige Metapher?, in: medien praktisch, Heft 4, 1997, 4–9, 7. 176 Prommer, Kinobesuch, 167. 177 Dies., Kinobesuch, 271–276.

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figen Kinobesuch vor diesem Hintergrund als Kompensation einer sozialen Mangelerfahrung: „Im Kino konnten sie [die Cineasten, Anm. d. Verf.] Lebenshilfe bzw. Vorschläge für eigene Lebensentwürfe suchen.“178 Die biographische Bedeutung und Nachwirkung der Filminhalte ist Prommer zufolge aufs Ganze des Publikums gesehen gleichwohl marginal. Im Vordergrund steht, so Prommers Beobachtung, der soziale Aspekt des Kinobesuchs. Möglicherweise hängen die im Blick auf Inhalte und Sinnstiftungsfunktionen des Films recht dürftigen Ergebnisse der Untersuchung mit den zu unspezifischen Fragestellungen der Leitfaden-Interviews zusammen. Die Studie markiert also einmal mehr das Defizit: Wie Individuen in ihrer Sinnarbeit mit den Sinnangeboten des Kinofilms umgehen, ist noch weiter und genauer zu erforschen. Empirische Anhaltspunkte dafür, dass Kinofilme tatsächlich lebensweltlich relevante Sinnreflexionen auslösen, gibt hingegen die oben schon zitierte Studie zur emotionalen Aneignung des MedienEvents Titanic von Andreas Hepp und Waldemar Vogelgesang.179 3.6.3 Das Fernsehen Wesentliche Merkmale des Mediums Fernsehen Das Fernsehen ist viel geschmäht. Kein anderes Medium hat unter Gebildeten einen so schlechten Ruf. Seit seinen Anfängen ist es immer wieder insbesondere von Intellektuellen aus dem linken politischen Lager gescholten worden. Man warf ihm „Rückbildung des Bewusstseins“ (Adorno) vor und „Verblödung“ (Enzensberger), man sprach von der „Glotze“, der „Flimmerkiste“ oder dem „Nullmedium“ (Enzensberger). Es wurde vor „Passivierung“ (Anders) gewarnt, vor der Fernsehgewalt und davor, dass wir uns „zu Tode amüsieren“ (Postman) könnten. Doch allen Schmähreden zum Trotz ist das Fernsehen von zentraler Bedeutung für die Öffentlichkeit der Gesellschaft. Nicht zuletzt die Katastrophen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vor allem die Terroranschläge vom 11. September 2001 in Amerika und die Überschwemmungskatastrophen vom Sommer 2002 in Europa, haben die ungebrochene Bedeutung des Bildmediums Fernsehen für alle Dimensionen des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens mit Nachdruck deutlich gemacht. Sowohl im Blick auf die anschauliche Kommunikation als auch hinsichtlich der kulturellen, sozialen und politischen Verarbeitung dieser Ereignisse spielte das Fernsehen eine zentrale Rolle. 178 Dies., Kinobesuch, 272. 179 Hepp/Vogelgesang, Aneignung.

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Diese Rolle ist und war immer schon gekennzeichnet durch eine eigensinnige Verschränkung von Privatheit und Öffentlichkeit: Das Fernsehen holt die Welt ins Wohnzimmer – die Mondlandung ebenso wie den Einsturz des World Trade Center, den Vietnamkrieg ebenso wie den Fall der Berliner Mauer. Diese einstmals vom Kino auf das Fernsehen übergegangene Dokumentationsfunktion – die das Fernsehen überdies in Echtzeit erfüllt – ist aber nur ein wichtiger Bereich. Das Fernsehen hat neben seiner Informationsfunktion auch Unterhaltungs- und Bildungsfunktionen. Das Spektrum ist so umfassend, dass man davon sprechen kann, dass das Fernsehen die gesamte Breite menschlicher Erfahrung mit der Vielfalt seiner Formen von den Nachrichten bis hin zur Daily Soap durchdringt, das Politische ebenso wie die Intimität des Privaten, die Sphäre des Kulturellen wie das Soziale. Seine Bedeutung für den Alltag der Zeitgenossen lässt sich schon an der durchschnittlichen Nutzungsdauer von 220 Minuten am Tag im Jahr 2005 ablesen.180 Nur der Hörfunk wird mit durchschnittlich 221 Minuten am Tag noch eine Spur stärker genutzt. Die Hörfunknutzung ist allerdings flüchtiger, vor allem begleitend und in noch stärkerem Maße unterhaltungsorientiert. Im Medienvergleich erweist sich das Fernsehen bei der Frage nach der Alltagsbedeutung nach wie vor als führend.181 Man kann auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch vom Fernsehen als dem Leitmedium der gesellschaftlichen Kommunikation sprechen.182 Gleichwohl haben sich Angebot und Rezeptionsweisen in den letzten vierzig Jahren stark gewandelt. Das Angebot ist seit der Einführung des Dualen Systems Mitte der 80er Jahre sprunghaft – etwa um den Faktor zehn (s.o.) – angestiegen. Zugleich konnte eine zunehmende Konvergenz der privatrechtlichen und der öffentlich-rechtlichen Angebote beobachtet werden, die unter dem Einfluss der Unterhaltungsorientierung der Privatsender auch insgesamt eine stärkere Unterhaltungsorientierung der Fernsehangebote nach sich zog.183 Im Wechselspiel mit der Veränderung der Angebotsstruktur haben sich auch die Nutzungsgewohnheiten verändert. War das Fernsehen in seinen Anfängen in den 50er Jahren noch ein Gruppenmedium, das man in Fernsehstuben gemeinsam rezipierte, so hat es sich zunehmend zu einem Einzelmedium gewandelt, das ganz individuell genutzt wird. Diese Entwick180 Ridder/Engel, Massenkommunikation 2005, 424. 181 Dies., Massenkommunikation 2005. 182 Vgl. auch Hickethier, Medienwissenschaft, 268. 183 Vgl. Christa Maria Ridder/Bernhard Engel, Massenkommunikation 2000: Images und Funktionen der Massenmedien im Vergleich. Ergebnisse der 8. Welle der ARD/ZDFLangzeitstudie zur Mediennutzung und -bewertung, in: Media Perspektiven, Heft 3, 2001, 102–125, 123ff; Udo Michael Krüger, Zum Stand der Konvergenzforschung im Dualen Rundfunksystem, in: Walter Klingler u.a. (Hg.), Fernsehforschung, Bd. 1, 151–184; Kiefer, Unikat, 17–29.

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lung, die schon in den 70er Jahre deutlich wurde, hat durch die Einführung des Dualen Systems einen weiteren starken Impuls erhalten. Die mit dieser Neuerung verbundene Programmexplosion hat die Fernsehgemeinde weiter fragmentiert und individualisiert. Im Verein mit der Durchsetzung der Fernbedienungstechnologie hat sie zudem das leichte Zappen oder Switchen zwischen den unterschiedlichen Programmen ermöglicht, das heute die individuelle Nutzung maßgeblich prägt.184 Die Anfänge Ein wesentlicher Meilenstein für die Entstehung der Medientechnologie Fernsehen war die am 27. März 1931 von Manfred von Ardenne zum Patent angemeldete Röhrenapparatur zur TV-Aufnahme und Wiedergabe.185 Nicht zuletzt aus Prestigegründen wird die Entwicklung der Fernsehtechnologie in NS-Deutschland besonders vorangetrieben, so dass bereits am 22. März 1935 ein halbwegs regelmäßiger Programmbetrieb aufgenommen werden kann. Ein erster Höhepunkt: die Übertragung von den 11. Olympischen Spielen 1936 in Berlin, die von der Bevölkerung in Fernsehstuben und Fernsehsälen verfolgt wird und die natürlich nicht zuletzt eine nationalsozialistische Propaganda-Inszenierung ist. Der Zweite Weltkrieg verzögerte die Entwicklung des Fernsehens zum Massenmedium in Deutschland dann noch bis in die 50er Jahre (regelmäßiger Sendebetrieb des NWDR, Vorläufer der ARD, seit Weihnachten 1952).186 Ein wichtiges Datum der weiteren Fernsehtechnologieentwicklung war die Erfindung der magnetischen Bildaufzeichnung (MAZ) Anfang der 50er Jahre.187 Ab 1963 gibt es mit dem ZDF eine zweite landesweit operierende Fernsehanstalt, ab 1972 ist das Umschalten per drahtloser Fernbedienung möglich.188 Beide Sendeanstalten, ARD wie ZDF, sind selbstverwaltete und dem Gemeinwohl verpflichtete Anstalten des öffentlichen Rechts, die aus Rundfunkgebühren finanziert werden.189 Ihnen obliegt die per Staatsvertrag zugeschriebene Aufgabe einer unabhängigen publizistischen Grundversorgung der Bevölkerung mit Information, Bildung und Unterhaltung. Ihr wichtigstes Organ ist der Rundfunkrat, in dem alle als gesellschaftlich relevant geltenden Gruppen von der Regierung bis hin zu den als Körperschaften organisierten Religionsgemeinschaften vertreten sind.

184 „Der Switcher wechselt an einem Vier-Stunden-Abend oft mehr als hundertmal die Kanäle.“ Hickethier, Medienwissenschaft, 285. 185 Vgl. Hörisch, Sinn, 343. 186 Vgl. Gerhard Schäffner, Fernsehen, in: Faulstich (Hg.), Grundwissen, 174–200, 175. 187 Vgl. Schäffner, Fernsehen, 181. 188 Vgl. Hörisch, Sinn, 344. 189 Vgl. Schäffner, Fernsehen, 189.

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Das in der ersten Zeit zu nächtlicher Stunde endende Programmangebot des öffentlich-rechtlichen Fernsehens kann ab 1967 in Farbe genossen und ebenfalls seit dieser Zeit mit dem Videorecorder aufgezeichnet werden.190 1969 hatten ungefähr 85 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte einen Fernsehapparat.191 Nach langem politischen Streit kam es 1984 zur Einführung des sogenannten Dualen Systems, in dem neben den öffentlich-rechtlichen Anstalten auch private Veranstalter Programme ausstrahlen, die durch Werbeeinnahmen finanziert werden.192 Das Programmangebot hat sich seitdem vervielfacht, so dass heute mit Hilfe eines Kabelanschlusses an die 40 und mit einer Satellitenschüssel noch weit mehr TV-Programme empfangen werden können. Entwicklungen Das Fernsehen war – wie oben schon angedeutet – von Anfang an ein Hassobjekt der Intellektuellen. Einer seiner frühesten und schärfsten Kritiker war Günther Anders. In seinem 1956 erstmals erschienen Buch Die Antiquiertheit des Menschen schalt er das Fernsehen als eine Technologie, die die Menschen passiv mache und um die Erfahrung des wirklichen Lebens betrüge.193 Beide Kritiken sind widerlegt worden, die Passivierungsthese insbesondere von der Fernsehforschung im Kontext der britischen Cultural Studies.194 Bemerkenswert ist, dass Anders seine Kritik im Vorwort zur 1979 erschienenen fünften Auflage seines Buches selbstkritisch revidiert hat. Er kann dem Fernsehen nun sogar positive Züge abgewinnen: Unterdessen hat sich nämlich herausgestellt, dass Fernsehbilder doch in gewissen Situationen die Wirklichkeit, deren wir sonst überhaupt nicht teilhaftig würden, ins Haus liefern und uns erschüttern und zu geschichtlich wichtigen Schritten motivieren können. Wahrgenommene Bilder sind zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts. Die täglich in die amerikanischen Heime kanalisierten Bilder vom vietnamesischen Kriegsschauplatz haben Millionen von Bürgern die auf die Mattscheibe starrenden Augen erst wirklich ‚geöffnet‘ und einen Protest ausgelöst, der sehr erheblich beigetragen hat zum Abbruch des damaligen Genozids.195

Viele weitere Beispiele für die gesellschaftliche Bedeutung und den kulturellen Wert ließen sich nennen. Im Blick auf die deutsche Situation sei nur an die Ausstrahlung der amerikanischen Serie „Holocaust“ im deutschen 190 Hörisch, Sinn, 346. 191 Vgl. Hickethier, Medienwissenschaft, 269. 192 Vgl. Hörisch, Sinn, 345. 193 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen – Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1980. 194 Vgl. Hepp, Cultural Studies. 195 Anders, Antiquiertheit, VIII.

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Fernsehen erinnert und an die dadurch ausgelöste öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit in den 80er Jahren. Dafür, wie das Fernsehen nicht nur als Index, sondern auch als Agent, Begleiter und Verstärker des sozialen Wandels fungiert, ist der Fall der Mauer ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Die vom DDR-Fernsehen am 9. November gegen 19:00 Uhr übertragene Äußerung des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski zum sofortigen Inkrafttreten der genehmigungslosen Ausreisemöglichkeit für DDR-Bürger wird umgehend von der Bevölkerung ausprobiert. Je mehr die Theorie des Fernsehens von der empirischen Medienforschung eingeholt wurde, desto mehr wandelte und differenzierte sich das Bild. Meilensteine waren die Studien des amerikanischen Medienwissenschaftlers Joshua Meyrowitz.196 Sie zeigten, dass das Fernsehen Autoritäten entzaubert und Grenzen durchlässiger macht: zwischen der Welt der Frauen und der Männer, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. In den letzten Jahren lässt sich ein deutlicher Trend der Zuwendung zum Zuschauer in der Forschung und Theoriebildung beobachten. Die Aktivität des Zuschauers steht im Mittelpunkt, sein alltagspraktischer Umgang mit dem Fernsehen, die Funktionen, die das Fernsehen im Blick auf Sinnorientierung, Identitätsbildung, Alltagsstrukturierung, Handlungsanleitung und Unterhaltung erfüllt. Besondere Aufmerksamkeit fanden in diesem Zusammenhang die Fragen der Mitwirkung des Fernsehens an der Konstruktion und Inszenierung personaler Identität. Diesen Fragen wird im Abschnitt über das Verhältnis von Religion und Fernsehen noch weiter nachzugehen sein. Hier sei jedoch schon vermerkt, dass die einschlägige Literatur dem Fernsehen eine zentrale Rolle bei der Konstitution identitätsbildender Sinnhorizonte zuschreibt.197 Es sind vor allem die Serien, denen hier wichtige Funktionen zuerkannt werden. Ralph Weiß betont: „Jeden Werktag aufs Neue treten die Serienfans in eine symbolische Welt ein, in der sich für sie ein praktisch unerfülltes Lebensideal anschaulich verwirklicht.“ Die Medienrezeption gebe einem utopischen Lebensentwurf sinnlich-symbolische Gestalt, mache ihn so zum Bestandteil des Alltags und sichere dadurch dessen subjektiven Sinn.198 Die Ausdifferenzierung des Fernsehangebots ist weit fortgeschritten: sowohl hinsichtlich der Anzahl der Anbieter und ihrer differenten Spartenund Zielgruppenorientierung (vom Sportkanal bis hin zum privaten Lokalfernsehen) als auch hinsichtlich der inneren Differenziertheit der Pro196 Joshua Meyrowitz, Die Fernsehgesellschaft, 2 Bd., Weinheim 1990. 197 Vgl. Ralph Weiß, „Praktischer Sinn“, soziale Identität und Fern-Sehen, in: Medien- & Kommunikationswissenschaft 48, Heft 1, 2000, 42–62. 198 Weiß, Sinn, 58f.

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grammangebote großer Sendeanstalten, die ein denkbar breites Spektrum von Informationssendungen unterschiedlicher Genres über Talkshows, Gameshows, Musiksendungen, Soaps bis hin zu Dokumentar- und Spielfilmen abdecken. Von einem Fernsehmarkt lässt sich im engeren Sinne erst seit der Einführung des Dualen Systems sprechen. Durch die entstandene Konkurrenzsituation sind auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten unter den Druck des Marktes gekommen. Die Ausweitung der Teilfinanzierung des öffentlichrechtlichen Fernsehens durch Werbeeinnahmen hat diesen Druck noch verstärkt.199 Einschaltquoten spielen nun auch im öffentlich-rechtlichen Bereich eine immer entscheidendere Rolle und die Programmverantwortlichen bewegen sich im Spannungsfeld von Auftrag und Quote. Die drei großen privaten und öffentlich-rechtlichen Anbieter teilen sich das Gros des heutigen Fernsehmarktes mit je unfähr einem Drittel Marktanteil (2001: ARD: 13,9%, ZDF: 13,2%, ARD III: 13,2%, RTL: 14,7%, Sat1: 10,1%, PRO 7: 8,0%).200 Die Privaten dominieren im Unterhaltungsbereich, die Öffentlich-Rechtlichen im Informationsgenre. Fernsehen und Religion In den letzten Jahren hat sich die theologische Medienforschung dem Fernsehen erneut und intensiver als je zuvor zugewandt. Akzente hat vor allem Günter Thomas mit seiner 1998 veröffentlichten Dissertationsschrift Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens gesetzt.201 Die These von einer religiösen Funktion des Fernsehens ist dabei nicht neu. Im deutschsprachigen Raum wurde sie erstmals von Hans-Jürgen Benedict vertreten. Er maß dem „Sinnsystem“ Fernsehen bereits Ende der 70er Jahre die Funktion einer „Quasi-Religion“ zu.202 In der gegenwärtigen Diskussionslage wird die These, dass das Fernsehen viele Funktionen der kirchlichen Religionskultur übernommen habe, auch außerhalb der Theologie von Sozial- und Medienwissenschaftlern vertreten.203 Die Thematik steht, wie oben schon ausgeführt, insgesamt im Kontext der Debatte um das Konzept 199 Der Werbeträger Fernsehen hat einen Anteil von 21 Prozent am gesamten deutschen Werbemarkt. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hatte 2001 Werbeeinnahmen in Höhe von 315,5 Millionen Euro, die Werbeeinnahmen des Fernsehmarktes beliefen sich im selben Zeitraum auf 4,469,03 Millionen Euro, http://www.ARD.de/ARD_intern/mediadaten/index.phtml?3_7 und 3_2 (23. September 2003) 200 Http://www.br-online.de/br-intern/medienforschung/md_fs/marktanteile_fs_brd.html (23. September 2003). 201 Günter Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt am Main 1998; weiterhin: Pirner, Fernsehmythen; Gräb, Sinn. 202 Hans-Jürgen Benedict, Fernsehen als Sinnsystem? In: Wolfram Fischer u.a. (Hg.), Religionssoziologie als Wissenssoziologie, Stuttgart 1978, 117–137, 117. 203 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen; außerdem: Reichertz, Botschaft.

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der Medienreligion. Nimmt man die Debatte um Fernsehen und Religion etwas genauer in den Blick, so erweist sich auch hier die von Günter Thomas vorgenommene und schon im Zusammenhang der Erläuterung des Stichwortes Medienreligion herangezogene Unterscheidung von vier Aspekten des Verhältnisses von Medien und Religion bzw. Fernsehen und Religion als hilfreich, um das Diskussionsfeld zu ordnen.204 Danach sind im Überschneidungsfeld von Fernsehen und Religion folgende Dimensionen zu unterscheiden: 1. Die Dimension der Selbst- und Fremddarstellung expliziter Religion. In diesen Bereich gehören die Programme der sogenannten Kirchenfunkredaktionen im öffentlich-rechtlichen System wie Gottesdienstübertragungen, „Das Wort zum Sonntag“ oder auch journalistische Berichte der entsprechenden Fachredaktionen über die großen christlichen Kirchen oder andere Religionsgemeinschaften. 2. Die Verarbeitung religiöser Motive und Traditionen in Fernsehtexten. Hier geht es um das Vorkommen von Paradiesmotiven in Werbespots oder auch anderer Symbole und Traditionsstücke im fiktionalen Bereich des Fernsehens – etwa Nonnen, die in Krimis auftauchen oder Symbole, die in Fernsehspielen oder Serien eine Rolle spielen. 3. Die Dimension der Parallelen zwischen Fernsehformen und religiösrituellen Vollzügen. Zu den Sendeformen, die religiösen Riten und Formen ähneln und als Transformationsgestalten derselben interpretiert werden können, gehören Formate wie Traumhochzeit oder Nur die Liebe zählt. Sie gleichen den Amtshandlungen bzw. Sakramenten der christlichen Kirchen und wurden in der Medienforschung als Formate des „performativen Realitätsfernsehens“ bezeichnet.205 Auch die großen Medienrituale wie die Fernsehberichterstattung rund um der Trauerfeier für Papst Johannes Paul II fallen in diese Rubrik der Fernsehform von Übergangsritualen mit sozialen Integrationsfunktionen und religiösen Sinnvermittlungsleistungen. 4. Die Dimension der funktionalen und strukturellen Substitution und Äquivalenz von aktueller Fernsehkultur und traditioneller christlicher Religionskultur. Dieser vierte Bereich ist sicher der umfassenste und interessanteste zugleich. Hier geht es um den Beitrag des Fernsehens zur Sinn- und Wertorientierung und zur liturgischen bzw. rituellen Alltagsstrukturierung. Das Konzept der impliziten Religion ist in dieser Dimension ein zentraler hermeneutischer Begriff. Es entdeckt Religion in funktionaler Perspektive auch dort, wo weder in Selbstbeschreibungen noch in umgangssprachlichen Beschreibungen von Religion die Rede ist und wäre. 204 Vgl. Günter Thomas, Liturgie und Kosmologie. Religiöse Formen im Kontext des Fernsehens, in: ders. (Hg.), Religiöse Funktionen, 91–105. 205 Vgl. Angela Keppler, Die Kommunion des Dabeiseins. Formen des Sakralen in der Fernsehunterhaltung, in: Rundfunk und Fernsehen 43, 1995, 301–311.

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Günter Thomas stellt in seinen religionshermeneutischen Analysen zwei Aspekte besonders heraus: die liturgische Ordnung des Programmflusses und kosmisierende Funktion des Mediums Fernsehen.206 Das programmförmige Präsentationskontinuum des Fernsehens sei, so Thomas, als liturgische Ordnung interpretierbar. An diesen Strom „alltäglicher Außeralltäglichkeit“ kann sich der Zuschauer jederzeit anschließen, indem er sich vor dem Fernseher, dem spätmodernen Hausaltar, niederlässt. Der permanente Ritus der Programmstruktur und ihrer festen Zeiten (etwa von Nachrichtensendungen) integriert den Zuschauer einerseits in die virtuelle Fernsehgesamtgemeinde, andererseits bewirkt er auch reale Vergemeinschaftungen von Rezipienten vor dem Schirm – etwa in Familienkontexten. Dass der liturgische Programmfluss des Fernsehens immer wieder auch hochwirksame Bitten um Kollekten enthält, haben die Spendenaufrufe anlässlich der Naturkatastrophen der letzten Jahre eindrucksvoll gezeigt. Das Fernsehen hat hier auch die Voraussetzungen für wirksame Spendenaufrufe allererst geschaffen: die anschauliche und hautnahe Berichterstattung, die die Zerstörung und das Leiden in jedes Wohnzimmer transportierte. Zugleich hat die rituelle Struktur der Berichterstattung geholfen, die sinnverwirrende Kontingenz der Katastrophe (Flut, Tsunami usw.) zu bewältigen. Diese Bewältigung auf der symbolischen Ebene setzt sich mit den Spendenaufrufen im Konkreten fort. Bei der Verarbeitung des Katastrophenchaos in den Ordnungen von Nachrichtenformaten, Reportagen und Talksshows greifen liturgische und kosmisierende Funktionen des Fernsehens ineinander. Dabei geht die kosmisierende Funktion über die Ebene der liturgischen Ordnung noch hinaus, denn sie betrifft den inhaltlichen Sinndeutungsaspekt. Das Fernsehen produziert, so Thomas, einen Sinndeutungshorizont nach dem Vorbild religiöser Kosmologien, der die ganze Vielfalt der Welterfahrungen aufnimmt und sinndeutend und wertevermittelnd bearbeitet. Dies geschieht, so Knuth Hickethier, in wachsendem Maße durch narrative Formen. Dazu gehört zum Beispiel auch der Kriminalfilm, in dem am Ende doch immer das Gute siegt, ebenso wie die Daily Soap, die insbesondere auf Jugendliche und deren Alltags- und Lebensprobleme abzielt.207 Während Soaps narrative Orientierungsstrukturen liefern, erörtern Talksshows in erster Linie Moralvorstellungen und tragen so hauptsächlich zur ethisch-moralischen Orientierung bei.208 206 Thomas, Liturgie, 97ff, der Artikel fasst die zentralen Thesen der oben genannten Dissertationsschrift von Thomas zusammen. 207 Hickethier, Transformationen, 39. 208 Lothar Mikos, Die Verpflichtung zum Guten. Moralische Konsensversicherung im Fernsehen am Beispiel von Daily Talks und anderen Formaten, in: Texte Nr. 3, Sonderheft der Zeitschrift medien praktisch, 9/2000, 3–13; Ingrid Paus-Haase/Uwe Hasebrink, Talkshows im Alltag

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Betrachtet man die verschienen Dimensionen des Überschneidungsfeldes von Fernsehen und Religion im Vergleich, so wird deutlich, dass der wesentliche Konnex vor allem auf der strukturellen und funktionalen Ebene gesehen wird. Religiös valent ist das Fernsehen also nicht in erster Linie in Sendungen wie Das Wort zum Sonntag oder in Gottesdienstübertragungen, sondern in seiner Bereitstellung von strukturierenden, orientierenden und deutenden Sinnhorizonten. Die religiösen Funktionen resümierend konstatiert Knut Hickethier: Das Fernsehen hat also [...] auf einer strukturellen Ebene, weniger in den inhaltlichen Details, Funktionen der Religion übernommen: Sinnstiftung in einer an sich ‚sinn-los‘ erlebten Umwelt, Orientierungsvermittlung in einer als unübersichtlich erfahrenen Welt und eine Ritualisierung des Alltagslebens durch die mediale Zeitstrukturierung. Diese Funktionen sind wesentlicher und weitaus wirksamer als die Übernahme bestimmter religiöser Inhalte.209

Dieser strukturelle Gesichtspunkt wird auch in den Interviews zu berücksichtigen sein. Hickethier weist in diesem Zusammenhang auf eine Eigenart der Fernsehrezeption hin, die ihre religionsempirische Erforschung erschwert: „Die Funktionen des Fernsehens sind deshalb so wirksam, weil sie oft im Nicht-Bewußtsein ablaufen und nicht didaktisch explizit benannt werden.“210 Stärker am Aspekt des Institutionellen orientiert beschreibt Jo Reichertz die funktionale Äquivalenz des Fernsehens: Die Institution ‚Fernsehen‘ bietet viele Dienstleistungen an, die traditionell von den christlichen Kirchen erbracht und verwaltet wurden. All dies rechtfertigt aus meiner Sicht die schon mehrfach formulierte These, dass die Institution ‚Fernsehen‘ und das von ihr an alle Haushalte Versendete in vielen Punkten [....] dem ‚Religiösen‘ äquivalent ist und dass deshalb die Institution ‚Fernsehen‘ das leistet, was ehemals die Religion vollbrachte.211

Reichertz sieht auch, dass das Fernsehen nicht die einzige Instanz ist, die das Erbe der kirchlichen Religionskultur angetreten hat. Es nehme aber wegen seiner „Reichhaltigkeit“ eine „prominente Stellung“ ein.212 Funktionale Äquivalenz heißt dabei für Reichertz nicht Identität. Eine wesentliche von Jugendlichen: Zusammenfassung der ‚Talkshow-Studie‘, in: Udo Göttlich/Fritz Krotz/Ingrid Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps und Daily Talks im Alltag von Jugendlichen, Opladen 2001, 137–155; Udo Göttlich, Zur Entdeckung eines Genres. Die deutschen Daily Soaps im Fernsehen der 90er Jahre, in: Texte Nr. 3, Sonderheft der Zeitschrift medien praktisch, 9/2000, 32–44; Lothar Mikos, „It’s a Familiy Affair.“ Fernsehserien und ihre Bedeutung im Alltagsleben, in: Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen, 231–245; Göttlich/Krotz/Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps und Daily Talks. 209 Hickethier, Transformationen, 43. 210 Ders., Transformationen, 43. 211 Reichertz, Botschaft, 244. 212 Ders., Botschaft, 244.

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Differenz sieht Reichertz darin, dass das Fernsehen im Unterschied zum Christentum eine „Diesseitsreligion“ sei, die ohne Bezugnahme auf ein Jenseits auskomme.213 Die Rezeption Die wesentlichen Mediadaten zur Fernsehnutzung sind weiter oben schon genannt worden: Die durchschnittliche Nutzungsdauer betrug im Jahr 2005 220 Minuten. 1970 betrug sie noch 113 Minuten. Die Vervielfachung (ungefähr mit dem Faktor zehn) der Fernsehkanäle (die Programmstunden pro Tag sind etwa um den Faktor 20 gestiegen; es wird seitdem rund um die Uhr gesendet) seit der Einführung des Dualen Systems hat die Bedeutung des Fernsehens unterstrichen.214 Die innere Struktur und Unterhaltungsorientierung der kommerziellen Programmangebote haben zur Entwicklung des Fernsehens zu einem Begleitmedium („Bügelfernsehen“) beigetragen. Zentrale Fernsehnutzungsmotive sind: 1. Information, 2. Spaß und 3. Entspannung.215 Die jungen Zuschauer (14–29 Jahre) finden sich mehrheitlich bei den Privatsendern, bei denen die Unterhaltungsangebote am meisten Resonanz finden.216 Für die Fernsehrezeption gilt im Weiteren, was zur Rezeptionsforschung weiter oben schon gesagt wurde: der soziokulturelle Kontext hat eine wichtige Steuerungsfunktion, die Rezipienten sind als aktive Konstrukteure und Aneigner zu denken, Selektivität bestimmt den Rezeptionsprozess. Ein im Blick auf das Fernsehen sehr dominantes Thema der Wirkungsund Rezeptionsforschung der letzten Jahre ist die Frage der Wirkung von Gewaltdarstellungen. Das Interesse an dieser Thematik hat sich nach dem Amoklauf des Schülers Robert Steinhäuser in einem Erfurter Gymnasium im Frühjahr 2002 noch einmal erheblich verstärkt. Zum Forschungsstand in dieser Frage ist generell anzumerken, dass es mittlerweile zwar sehr viele Einzelstudien gibt, dass aber eine umfassenden Bündelung und systematische Auswertung immer noch aussteht.217 Es kann jedoch immerhin gesagt werden, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studien der nach wie vor besonders von der Boulevardpresse gern vertretenen Meinung von starken und direkten negativen Wirkungen von Gewaltdarstellungen widersprechen. Wichtige Ergebnisse resümierend formulieren Michael Kunczik und Astrid Zipfel: „Es scheint so zu sein, dass Gewaltdarstellungen auf die Mehrheit der Betrachter keine oder nur schwache Effekte 213 Ders., Botschaft, 255f. 214 Vgl. Kiefer, Unikat, 21. 215 Ridder/Engel, Massenkommunikation 2005, 426. 216 Dies., Massenkommunikation, 426ff. 217 Michael Kunczik/Astrid Zipfel, Wirkungen von Gewaltdarstellungen, in: Klingler u.a. (Hg.), Fernsehforschung Bd. 2, 561–577, 562f.

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haben, aber bei bestimmten Problemgruppen womöglich starke Wirkungen zeigen.“218 Dieses Resümee lässt sich verallgemeinern: Von einer unmittelbaren mimetischen Wirkung von Fernsehangeboten mit direkten Handlungsfolgen kann zumeist keine Rede sein. Sie bildet die Ausnahme. Ob und in welcher Weise Fernsehangebote mimetische Wirkungen entfalten, ist von vielen Faktoren auf der Seite der Rezipienten abhängig. In einer Hinsicht ist jedoch zweifelsohne eine intensive Wirkung auf die Praxis der Rezipienten zu beobachten: In über 50 Prozent der öffentlichen Alltagsgespräche spielen Medieninhalte (an erster Stelle Fernsehinhalte) eine zentrale Rolle.219 Sie werden dazu benutzt, subjektive Befindlichkeiten und subjektiven Sinn zum Ausdruck zu bringen. Fernsehinhalte bilden also Kommunikationsressourcen, werden Teil der Sprache in einem umfassenden Sinne. Wie sich diese Prozesse im konkreten Raum sozialer Kommunikation darstellen, hat Angela Keppler anhand von Tischgesprächen untersucht. Ihre Studie zeigt, wie bedeutend das Fernsehen als Themenressource für die soziale Kommunikation geworden ist. Keppler fasst zusammen: Das Medium Fernsehen, so könnte man sagen, liefert der Gruppe gleichsam ein Stück gemeinsamer Wirklichkeit, jedoch nicht frei Haus, sondern auf Rechnung: auf eine Rechnung, die durch die gesprächsförmige Aneignung der Sendung zu begleichen ist. Um sozial wirksam zu werden, müssen die Produkte der Medien – oft nicht nur einmal, sondern vielmals – durch das Nadelöhr der alltäglichen Kommunikation.220

Die Ergebnisse von Keppler sprechen gegen das landläufige Vorurteil vom Fernseher als Kommunikationsverhinderungsapparat. Eine Veränderung der Fernsehrezeption der letzten Jahre ist die positive Resonanz auf die stärkere Unterhaltungsorientierung der privaten Anbieter.221 Dabei kann Unterhaltung zugleich auch Orientierungsfunktionen erfüllen wie das im deutschen Fernsehen seit Anfang der 90er Jahre bedeutsame Unterhaltungsangebot Daily Soap zeigt, indem es einem jugendlichen Publikum Vorschläge für die Lösung und Bearbeitung von Alltagskonflikten bietet.222 Soaps tragen so zur sozialen und durch den Stilkosmos, den sie entfalten, zugleich (und in enger wechselseitiger Verbindung damit) zur ästhetischen Identitätsbildung bei. Die Soaps rangieren dabei auf der Be218 Kunczik/Zipfel, Wirkungen, 569. 219 Vgl. Michael Charlton/Michael Klemm, Fernsehen und Anschlusskommunikation, in: Klingler u.a. (Hg.), Fernsehforschung Bd. 2, 709–727, 711ff. 220 Angela Keppler, Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien, Frankfurt a.M. 1994, 251. 221 Vorderer, Unterhaltung, 690. 222 Vgl. Göttlich, Entdeckung, 38,43; Mikos, Familiy Affair; Göttlich/Krotz/Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps und Daily Talks.

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liebtheitsskala deutlich vor den jugendspezifischen Talksshows und entfalten auch durch ihre über Jahre sich erstreckende Kontinuität eine weitaus intensivere medienbiographische Wirkung als Talks.223 Uwe Hasebrink resümiert die vorhandenen Studien im Kontext einer mehrere Studien zu Talks und Soaps bündelnden und auswertenden Untersuchung: Zusammenfassend lässt sich also zur Einbettung von Daily Soaps und Daily Talks in die Fernsehnutzung der Jugendlichen Folgendes sagen: Daily Soaps stehen bei Mädchen, Zeichentrick, Action- und Science-Fiction-Serien sowie Sport bei den Jungen im Vordergrund der Fernsehnutzung, während Daily Talks in dieser Hinsicht eine untergeordnete Rolle spielen. Dabei ist die Nutzung von Soaps und Talks offensichtlich Bestandteil eines generellen Interesses an Fernsehangeboten, in denen es in erster Linie um die alltagsnahe Behandlung von Beziehungsthemen geht.224

Den stärksten Eindruck machen diese Formate, so die Forschungslage im selben Band resümierend Ingrid Paus-Haase, auf junge, formal niedriger gebildete Mädchen: Sie nehmen Daily Talks und Daily Soaps in besonderer Weise weitgehend unkritisch als ‚Abbild von Realität‘ und Orientierungsforen wahr. Vor allem Soaps gehören als über Jahre bekanntes und bei vielen bereits seit etwa dem achten Lebensjahr rezipiertes Genre zum Alltag; sie werden zum weitgehend unhinterfragten alltäglichen Refe223 Udo Göttlich/Uwe Hasebrink/Jörg-Uwe Nieland, Zur Einführung: Daily Soaps und Daily Talks in der öffentlichen und in der wissenschaftlichen Diskussion, in: Göttlich/Krotz/Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps und Daily Talks, 15–22,17. Dass allerdings auch Talks wichtige Orientierungsund Lebensbewältigungsressourcen für Jugendliche darstellen können, haben Sabine Trepte u.a. durch empirische Untersuchungen nachweisen können. Die Autorinnen schreiben: „Wir wissen nun, dass vor allem problembelastete Personen Talksshows einschalten, um sich Hilfe und Rat zu holen. Dabei wählen sie ganz konkret Sendungen aus, die sich mit Problemen befassen, die auch im eigenen Leben aktuell und relevant sind. Bei der Suche nach Orientierung steht der Moderator als wichtige Bezugsperson zur Verfügung. Gerade Menschen, die in den Talkshows nach lebenspraktischen Hinweisen für eigene Krisen suchen, bauen eine intensive Beziehung zu ihren Lieblingsmoderatoren auf und sehen sie als Vorbild. Weil die Themen der Sendungen den Nerv des eigenen Lebens treffen und die Moderatoren als Vorbilder fungieren, avanciert die Talkshow für die orientierungssuchenden Zuschauer zu einer Art Kommunikationsforum. [...] Es wurde also gezeigt, dass die Talkshow bestimmten Nutzern Lebenshilfe bietet und als Kommunikationsforum angesehen wird.“ Trepte/Zapfe/Sudhoff, Orientierung, 81. Ausdrücklich werden diese Sinnorientierungsfunktionen von Talkshows auch im Kontext des Bedeutungsverlustes kirchlicher Orientierungsangebote gesehen: „Der Verlust traditioneller Sinnsysteme wie Familie oder Kirche führt dazu, dass ersatzweise Medienangebote Sinn stiften und somit auch Orientierung bieten. Kollektive Sinnvorgaben, die ehemals durch Religion als übergreifender Instanz und die Familie als ausführendem Organ angeboten wurden, werden zunehmend von anderen Institutionen und Subgruppen präsentiert. [...] Die Talkshow steht hier als eine Institution zur Verfügung, die für die Zuschauer Möglichkeiten der privaten Auseinandersetzung bietet. Talkshows bieten ‚dem Mann auf der Straße‘ ein Forum, sein Weltbild zu vermitteln und somit auch die Möglichkeit, neuen Sinn zu finden und Identitäten auszuhandeln.“ Dies., Orientierung, 82. 224 Uwe Hasebrink, Der repräsentative Überblick: Merkmale der Talk- und Soap-Nutzung bei 12 bis 17-jährigen Jugendlichen in Deutschland, in: Göttlich/Krotz/Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps und Daily Talks, 157–170, 164.

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renzrahmen auf nahezu allen Ebenen: von Moden und Trends über Topics und Plots bis hin zu den Protagonisten. Diese jungen Mädchen stehen damit [...] im Fokus medienpädagogischer Verantwortung.225

Wie stark die mimetische Wirkung von Fernsehinhalten dabei auf das reale soziale Leben sein kann, haben Constanze Bausch und Stephan Sting durch empirische Studien über rituelle Medieninszenierungen in Peergroups in einer Berliner Grundschule gezeigt.226 Bausch und Sting haben mit den Schülerinnen und Schülern Video-Arbeitsgemeinschaften gebildet. Sie schreiben: In der Gestaltung der Aufnahmen sind die Kinder vollkommen selbstständig, unser Fokus ‚Medienrituale‘ wird nicht akzentuiert. Die inhaltliche Offenheit der VideoArbeitsgemeinschaften gestalten die Kinder durch Aktualisierungen von Fernsehgenres: In allen Gruppen inszenieren sie fast ausschließlich Werbungen, Talkshows, Actionfilme, Nachrichtensendungen und Musik-Clips.227

Die Ergebnisse zeigen, so die Autoren, wie stark Kinder in ihrer Vorstellungswelt von Fernseherfahrungen geprägt sind und dass sie unwillkürlich Fernsehformate nachahmen, wenn es darum geht, spontan eigene Inszenierungen zu entwickeln. Bausch und Sting folgern, dass „sich PeergroupVergemeinschaftung zu einem nicht unerheblichen Teil auf medienbezogene Ritualisierungsprozesse stützt“.228 Die Studie verweist eindrucksvoll auf das mimetische Potential des Fernsehens, das nicht nur im Blick auf das individuelle Handeln von Subjekten in Rechnung zu stellen ist, sondern auch Modelle für soziale Rituale liefert. Die Studie legt darüber hinaus die konzeptionelle Konsequenz nahe, den Begriff der Mimesis an zentraler Stelle in die theoretische Beschreibung von Medienrezeptionsprozessen zu integrieren. Dies scheint mir auch vor dem Hintergrund bisheriger Beschreibungen von Medienrezeption nach dem Vorbild personaler Kommunikation plausibel. Das Konzept der parasozialen Interaktion würde dadurch erweitert und in ästhetischer Hinsicht präzisiert. Denn Mimesis als nachschaffendes Nachahmen ist sinnlich vermittelt und damit auch geschmacksgeleitet. Gunter Gebauer und Christoph Wulf, die der Kategorie des Mimetischen im Zusammenhang einer performativitätsorientierten Betrachtung von Kultur und Gesellschaft eine zentrale Bedeutung zumessen, unterscheiden drei Dimensionen der Mimesis: 225 Ingrid Paus-Haase, Schlussfolgerungen: Daily Talks und Daily Soaps als Foren der Alltagskommunikation, in: Göttlich/Krotz/Paus-Haase (Hg.), Daily Soaps und Daily Talks, 311–339, 325. 226 Constanze Bausch/Stephan Sting, Rituelle Medieninszenierungen in Peergroups, in: Christoph Wulf u.a. (Hg.), Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften, Opladen 2001, 249–323. 227 Bausch/Sting, Medieninszenierungen, 261f. 228 Dies., Medieninszenierungen, 256.

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Zum einen entwirft sie das Individuum als Teil eines größeren sozialen Zusammenhangs, indem es zu seiner Umwelt Bezug nimmt. Zum zweiten hebt es [das Konzept der Mimesis, Anm. d. Verf.] hervor, dass am sozialen Handeln wesentlich der Körper mit seinen Sinnen beteiligt ist. Drittens rückt es das gestalterische und sinnliche Herstellen sozialer Welten in das Zentrum der Betrachtung. In mimetischen Handlungen machen die sozialen Subjekte eine je vorgängige Welt noch einmal, als ihre Welt. Mit diesen Akten stellen sie eigene Welten her und fügen sich in die Gesellschaft ein.229

Auf die rezeptionstheoretische Unterscheidung von Rezeption und Aneignung (3.5) angewendet, wäre die ästhetische Dimension für beide Aspekte relevant. Fernsehen hat, das lässt sich vor dem Hintergrund dieser zuletzt genannten Ergebnisse und Überlegungen noch einmal resümierend sagen, eine wichtige Funktion für die Sozialisation und die Identitätsarbeit von Heranwachsenden. Lothar Mikos betont in diesem Zusammenhang die Integrationsfunktion: Einerseits stellt das Fernsehen als kulturelles Forum vielfältiges Material bereit, das geeignet scheint, die eigene Identität im Rahmen gesellschaftlicher Bezüge zu verorten. Andererseits wird dieses Material in den verschiedenen Bezügen, in denen Individuen agieren, oft zum einzigen gemeinsamen Bezugspunkt, über den somit nicht nur im Nachhinein in der Aneignung der Fernsehtexte gemeinsame Erfahrung möglich wird, sondern gerade in der gemeinsamen Aneignung lassen sich Werte, Normen, Rollenmuster etc. thematisieren, mit deren Hilfe die eigene Identität ausgehandelt oder rekonstruiert werden kann. In einer durch pluralisierte Lebenswelten gekennzeichneten Gesellschaft der reflexiven Moderne wird dies für die Individuen zu einer der wichtigsten Funktionen von Fernsehen und dessen Rezeption und Aneignung. Denn die gemeinsamen Fernseherfahrungen, die sich gewissermaßen als roter Faden durch die verschiedenen Lebensbereiche der Individuen ziehen, sind es oft nur noch, die für die Individuen eine an gemeinsamen Erfahrungsbereichen aushandelbare Identität ermöglichen.230

3.6.4 Resümee Die medienkundlichen und religionshermeneutischen Skizzen der drei Einzelmedien Buch, Film und Fernsehen haben gezeigt, dass die These von der Übernahme religiöser Funktionen durch Medien im Blick auf alle drei zur Debatte stehenden Einzelmedien sowohl von Kulturwissenschaftlern als auch von Theologen vertreten wird. Die Bestandsaufnahmen haben weiter229 Gunter Gebauer/Christoph Wulf, Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg 1998, 300. 230 Mikos, Fern-Sehen, 170.

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hin gezeigt, dass die angeführten und dem Forschungsinteresse der vorliegenden Studie mehr oder weniger nahe kommenden Rezeptionsuntersuchungen die These von der Übernahme religiöser Funktionen durch Medien schon in vielerlei Hinsicht plausibilisieren können. Auch wenn diese Untersuchungen kein dezidiert religionshermeneutisches Theoriedesign im Hintergrund haben, so zeigen sie doch deutlich, dass Bücher, Filme und Fernsehsendungen nicht an letzter Stelle als Ressourcen von Sinnorientierung und Lebensbewältigung genutzt werden. Dafür stehen vor allem die Studien von Michael Charlton und Corinna Pette im Blick auf den Roman, von Andreas Hepp, Waldemar Vogelgesang, Jürgen Barthelmes, Ekkehard Sander und Dirk Blothner im Blick auf den Film und von Angela Keppler, Jo Reicherts, Sabine Trepte u.a. und Udo Göttlich u.a. im Blick auf das Fernsehen.

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II. Empirische Analysen 1. Methodik

Nachdem der theoretische Rahmen und der Forschungsstand in den jeweiligen für die Studie relevanten Bereichen dargestellt worden sind, können nun die qualitativen Studien ins Auge gefasst werden. Vorab ist noch einmal zu betonen, dass mit der Spezifik der Perspektive Neuland betreten wird. Wie genau die Subjekte bei ihrer existenziellen – religiösen, lebensphilosophischen und ethischen, retrospektiven und prospektiven – Sinnarbeit mit den Sinnentwürfen von Medientexten umgehen, wie sie ihre Weltsichten und religiösen Einstellungen prägen, welche Spuren sie in ihrer Religionsbiographie hinterlassen und wie sie ihr Handeln mitbestimmen, ist noch weitgehend unerforscht. Am nächsten kommt dem Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung die schon erwähnte Titanic-Studie von Hepp und Vogelgesang. Aber auch diese Studie geht nicht von einer dezidiert religionshermeneutischen Perspektive aus – wenngleich die sinn- und mythentheoretischen Konzepte mit der religionshermeneutischen Perspektive konvergieren – und ist darüber hinaus auf nur einen Film und die postkommunikative Phase der Rezeption bezogen. Die biographische Dimension ist dabei ebenso wenig in den Blick genommen wie der Grad der Aneignung und Integration in die eigene Lebens- und Kommunikationspraxis und die Bedeutung auch anderer Medientexte, ihrer Pluralität und Intertextualität. Gernot Wersig bemerkt hinsichtlich dieses zuletzt genannten Aspektes der Vielfalt der Medieneinflüsse im Blick auf das Zustandekommen von Weltbildern aus medienwissenschaftlicher Sicht: Letztlich benötigt alles Handeln als Voraussetzung eine Vorstellung von dieser Welt, jedes Handeln trägt aber auch zu der Bildung (Aufrechterhaltung und/oder Veränderung) dieses Bildes von Welt bei. Wenn Medien wirken, dann sicher auf dieser Ebene, aber diese Frage ist bislang weitgehend ausgeklammert worden – nicht aus methodischen Gründen, sondern wohl eher, weil sich diese Wirkweisen kaum an bestimmten Medien, Inhalten, Situationen festmachen lassen. Die Bedeutung der Medien, ihre Interaktion miteinander, aber auch mit anderen Rezeptionsobjekten für die Bildung von Weltbildern stellt eine spannende Frage dar, der sich die Wirkungsforschung bisher noch nicht gestellt hat.1

1 Gernot Wersig, Medienintegrierende Perspektiven der Rezeptionsforschung, in: Uwe Hasebrink u.a. (Hg.), Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung, Angewandte Medien-

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Wersigs Formulierung dieses Desiderats trifft sich mit der religionshermeneutischen Fragestellung der vorliegenden Studie. Der Winkel ihrer religionsbegrifflichen Optik ist so weit eingestellt, dass auch Weltbilder und Weltsichten erfasst werden, ja, dass Religion ihrem weitesten Begriff nach eben genau darin gesehen wird: in einer sinnstiftenden Gesamtschau von Selbst und Welt. Zugänglich wird dieser Bereich von individueller Religiosität und Weltsicht nur durch qualitative Methoden. Es muss mit Hilfe von transkribierten und zu analysierenden Interviews nach den Einflüssen von unterschiedlichen Medienerfahrungen auf die individuellen Sinnorientierungen gefragt werden. Es geht also im Folgenden um ein Kapitel qualitativer Medienrezeptionsforschung mit dem oben dargestellten religionstheologischen Hintergrund. In medien- und religionsbiographischen Interviews soll der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss Bücher, Kinofilme und Fernsehsendungen auf die religiösen und weltanschaulichen Orientierungen der Befragten hatten und haben. Dabei soll ausdrücklich ein weiter funktionaler Religionsbegriff zugrunde gelegt werden, der es erlaubt, sowohl die explizite Religiosität zu erfassen als auch denjenigen Überzeugungen und Sichtweisen der Interviewpartner nachzugehen, die man als religiös-weltanschauliche Sinnorientierungen oder mit Gerhard Schulze auch als Lebensphilosophien fassen könnte. Dieser Theorierahmen bleibt jedoch in den Interviews selbst im Hintergrund. Es geht schließlich darum, die subjektive Religiosität von innen heraus zu beschreiben und zu sehen, wie diese sich in der sinnkonstruktiven Selbstdeutung der Subjekte in der Besinnung auf ihre Medien- und Religionsbiographie zeigt. Sowohl im Zusammenhang der Interviews als auch im Blick auf ihre Bearbeitung, Analyse und Interpretation ist dabei also die für die qualitative Sozialforschung eigentümliche Spannung von empirischer Offenheit und vorausgehender, begleitender und nachfolgender Theoriereflexion und Theoriebildung zu berücksichtigen.2 Dabei wurde die Bedeutung theoretischen Vorwissens in den letzten Jahren zunehmend betont und das radikale Plädoyer für Offenheit aus der Programmschrift der qualitativen Forschung, dem Buch „The Discovery of Grounded Theory“ der amerikanischen Soziologen Anselm L. Strauss und Barney G. Glaser3, als „induktivistisches forschung. Schriftenreihe des Medien Instituts Ludwigshafen hg. von Hans-Bernd Brosius, Bd. 17, München 2001, 181–195, 193. 2 Uwe Flick, Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 41999, 10; qualitative Methoden werden in Deutschland seit dem Ende der 70er Jahre stärker diskutiert und haben in den 80er Jahren unter anderem durch die Methoden des narrativen Interviews nach Fritz Schütze und die objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns wegweisende Impulse erhalten, vgl. a.a.O., 18. 3 Anselm L. Strauss/Barney G. Glaser, The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Chicago 1967.

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Selbstmissverständnis“ kritisiert und relativiert.4 Udo Kelle deutet die „induktivistische Rhetorik“ dieser Anfänge der qualitativen Sozialforschung als forschungspolitische Strategie mit problematischen Folgen: „Methodologisch ist diese Rhetorik jedoch fatal, weil ein solches Modell forschungspraktisch gar nicht umsetzbar ist – jeder Versuch, theoretische Konzepte allein aus Daten emergieren zu lassen, wird letztendlich nur dazu führen, dass der Untersucher im Datenmaterial geradezu ertrinkt.“5 Kelle hält der Vorstellung von Glaser und Strauss, man könne Theorien aus dem Datenmaterial herauswachsen lassen, die wissenschaftstheoretische Einsicht von Imre Lakatos entgegen, dass „es keine Wahrnehmung geben (kann), die nicht von Erwartungen durchsetzt ist, und deshalb gibt es auch keine natürliche (das heißt psychologische Abgrenzung) zwischen Beobachtungssätzen und theoretischen Sätzen“.6 Auch qualitative Forschung kommt also nicht ohne Theorie aus. Theorie und Empirie greifen ineinander. Es handelt sich um ein zirkuläres Wechselspiel, um ein Pendeln zwischen Offenheit und Theoriegeleitetheit. Der Zugang zum Feld ist dabei zunächst immer mehr oder weniger theoriegeleitet, vermittlungslose Zugänge sind nicht denkbar. Und selbstverständlich geht es auch in der qualitativen Forschung um das Überprüfen von Hypothesen und das Herantragen von theoriebestimmten Fragestellungen.7 Im vorliegenden Fall geht es um die empirische Überprüfung, Konkretisierung, Präzisierung und Weiterentwicklung des vor allem religionstheologisch-kulturhermeneutisch erarbeiteten Konzeptes der Medienreligion. Gemäß dem Prinzip der Offenheit können sich dabei in der Auseinandersetzung mit den empirischen Daten auch Modifikationen und ganz neue Ideen ergeben. Zur Offenheit gehört, dass sich die Analyse der Interviewtranskripte ebenso stark am gewonnenen Material orientiert und versucht, es zum Sprechen zu bringen, wie an den religionshermeneutischen Interpretationskategorien. Grundsätzlich geht es darum, hypothesenüberprüfend und theoriegenerierend zu arbeiten und das Material nicht zuletzt auf mögliche Typologien hin zu analysieren. Dass die Ergebnisse keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können, liegt auf der Hand. Sie geben Einblicke in individuelle Erfahrungsprozesse, 4 Vgl. Udo Kelle, Die Bedeutung theoretischen Vorwissens in der Methodologie der Grounded Theory, in: Rainer Strobl/Andreas Böttger (Hg.), Wahre Geschichten? Zu Theorie und Praxis qualitativer Interviews, Beiträge zum Workshop Paraphrasieren, Kodieren, Interpretieren im Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen am 29. und 30. Juni 1995 in Hannover, Baden-Baden 1996, 23–47, 32. 5 Kelle, Methodologie, 32. 6 Ders., Methodologie, 28; Imre Lakatos, Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Philosophische Schriften, Bd. 1, Wiesbaden 1982, 14. 7 Vgl. Werner Meinefeld, Hypothesen und Vorwissen in der qualitativen Forschung, in: Uwe Flick u.a. (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, 265–275, 274f.

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können auf der Basis des generierten Materials Typisches sichtbar machen und Interpretationen anregen. Darin liegt ihr produktives Potential. Zur Entfaltung kommt es durch das Nadelöhr der Individualität der Perspektiven. Dies gilt auch für die Seite des Forschers und Interpreten. Die Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens besteht in der methodischen Reflexion und der nachvollziehbaren Darstellung seiner Analysen und Interpretationen. Zur Absicherung wurden das methodische Vorgehen und ausgewählte Analysen der vorliegenden Studie in der Arbeitsgruppe Medienreligion am Berliner Seminar für Praktische Theologie diskutiert.

1.1 Die Konzeption der Interviews Als Interviewform wurde das Leitfaden-Interview gewählt, das sich in der Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen bewährt hat.8 Die Form des narrativen Interviews nach Schütze ist im Blick auf die hier verfolgten Fragestellungen zu unspezifisch und zu offen.9 Wollte man die gewählte Interviewform einer Unterkategorie von Leitfaden-Interviews zuordnen, so käme sie dem von Andreas Witzel vorgeschlagenen „problemzentrierten Interview“ am nächsten.10 Dieses orientiert sich an einer Problemstellung/Fragestellung, wird flexibel auf seinen Gegenstand hin konzipiert und prozessorientiert geführt.11 Letzteres bedeutet zum Beispiel, dass der Interviewer durch sein Abwarten, Nachfragen oder Bestätigen narrative Äußerungen des Interviewpartners zu fördern versucht.12 Narrationen sind im vorliegenden Fall darum wichtig und erwünscht, weil es schließlich um Erfahrungen geht, näherhin um Medienerfahrungen, deren adäquate Mitteilungsform das Medium der Erzählung ist.13 Das Ausfüllen eines Kurzfragebogens zu biographischen und demographischen Daten wurde dem jeweiligen Interview vorausgeschickt, ein Postscriptum, das dazu dient, im Blick auf die spätere Analyse möglicherweise noch relevante Eindrücke und Kontexte (z.B. Art der Kontaktaufnahme, 8 Flick, Qualitative Forschung, 31. 9 Fritz Schütze, Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis, Heft 3, 1983, 283–293. 10 Vgl. Andreas Witzel, Das problemzentrierte Interview, in: Gerd Jüttemann, Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder, Heidelberg 1987, 227–256. 11 Witzel, Interview, 230ff. 12 Vgl. ders., Auswertung problemzentrierter Interviews: Grundlagen und Erfahrungen, in: Strobl/ Böttger (Hg.), Wahre Geschichten? 49–75, 55. 13 Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders., Illuminationen, Frankfurt a.M. ²1980, 385–410, 385.

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Dauer des Interviews, nähere Umstände, erste Eindrücke und Einschätzungen) festzuhalten, im Anschluss notiert.14 Der Interview-Leitfaden Der Aufbau des Leitfadens wurde im Verlauf einer Probephase mehrfach verändert. Diese Probephase war eingeplant, um über eine die Konzeption des Leitfadens betreffende, aber theoretisch schwer entscheidbare Frage mehr Aufschluss zu gewinnen: über die Frage, ob es sinnvoller ist, zunächst nach den einzelnen Medien zu fragen und ihre spezifische Rolle in der Biographie je für sich retrospektiv zu rekonstruieren, oder ob es der Studie mehr dient, nach einigen Einstiegsfragen zu Medienerfahrungen neueren Datums in der Biographie zurückzugehen und ihre medienbezogenen Erfahrungsdimensionen immer im Blick auf alle drei in Frage stehenden Medien chronologisch bis in die Gegenwart hinein zu rekonstruieren. Es zeigte sich schon nach dem ersten Versuch mit einem thematisch an den Einzelmedien orientierten Leitfaden, dass das wiederholte Springen innerhalb der Medienbiographie des Interviewten eine gewisse Mühe bereitet und es näher zu liegen scheint, in den jeweiligen Abschnitten der Biographie gleich auf den Umgang mit allen drei Medien einzugehen. Das zweite Interview wurde also mit einem entsprechend veränderten Leitfaden geführt. Der darin vorgenommene dreiteilige Aufbau erwies sich als plausibel: mit Fragen zu aktuellen Medienerfahrungen zu beginnen, daraufhin die Medienbiographie zu rekonstruieren (Kindheit, Jugendzeit, Erwachsenenalter), um in einem dritten Teil dann noch einmal resümierende und vergleichende Fragen zu stellen. Um die medienbezogenen Fragen biographisch noch besser einzubetten, stand zu Beginn des ersten Teils die Frage: „Was hat sich im letzten Jahr an Besonderem ereignet (eigene Person, Familie, Beruf, Freundschaften, Partnerschaft, Wohnung, Umzug, Reisen, Krankheiten)?“ Der zweite Teil begann mit der Frage: „Bevor wir nun weiter über Ihre Medienerfahrungen sprechen, möchte ich Sie bitten, noch einmal Ihr Leben zu skizzieren. In welche biographischen Abschnitte würde Sie Ihr bisheriges Leben einteilen (Kindheit, Schulzeit, Ausbildungszeit, Umzüge, Einschnitte [...])?“ Es zeigte sich jedoch, dass beide Fragen einen eher hemmenden Einfluss auf den Fortgang des Interviews hatten. Besonders die erste Frage zielte wohl zu sehr und eben auch zu schnell auf existenzielle Intimitäten. Diese beiden Eingangsfragen fielen darum in den folgenden Versionen des Leitfadens weg. Davon einmal abgesehen erschien der an der biographischen Chronologie orientierte Aufbau jedoch praktikabel und stimmig. Um ganz sicher zu gehen, mit diesem Aufbau den besten Weg 14 Der Kurzfragebogen findet sich im Anhang. Zum Postscriptum siehe auch Flick, Qualitative Forschung, 106f; relevante Informationen aus den Postscripta sind in die Analysen eingegangen.

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gewählt zu haben, entschied ich mich für eine letzte Gegenprobe und führte ein weiteres Interview, in dem ich versuchte, den an den Einzelmedien orientierten Zugang medienbiographisch auszudifferenzieren und so die thematisch-systematische Orientierung mit der biographisch-chronologischen zu verschränken. Die Erfahrung entsprach jedoch der mit dem ersten Probeleitfaden gemachten: das auf die Einzelmedien bezogene Rekonstruieren der jeweiligen Medienerfahrungen und das damit verbundene wiederholte Springen innerhalb der Biographie erwies sich erneut als mühevoll. Dies wurde mir auf meine Nachfrage hin auch von meinem Interviewpartner im Anschluss an das Interview bestätigt. So war also klar geworden, dass der Aufbau des Leitfadens für die weiteren Interviews sich an der biographischen Chronologie orientieren sollte. Da die drei Probeinterviews gleichwohl interessantes Material boten, habe ich sie mit in den Datenkorpus aufgenommen. Ich will nun vor dem Hintergrund der Skizzierung dieses Vorlaufs den Aufbau des dann im Weiteren verwendeten Leitfadens noch etwas genauer erläutern.15 Im ersten Abschnitt des Leitfadens unter der Überschrift „Die aktuelle Situation“ geht es um Medienerfahrungen der „letzten Zeit“. Diese Formulierung wird nicht konkret zeitlich spezifiziert, um den Erinnerungshorizont für Schlüsselerfahrungen offen zu lassen, die einige Tage, Wochen, Monate, aber auch ein oder zwei Jahre zurückliegen können. Die erste Frage nach dem letzten Kinobesuch soll auf lockere Weise ins Thema helfen. Es schließen sich weitere Fragen zum Komplex Kinofilm an. Mit dem Kinofilm zu beginnen, schien mir naheliegend, weil Kinoerfahrungen – wie die Rezeptionsforschung gezeigt hat – im Vergleich zu Fernseherfahrungen einen prägnanteren Eindruck hinterlassen und im Vergleich mit Lektüreerinnerungen zudem als handlicher erscheinen. Die Frage nach Leseerfahrungen folgt an zweiter Stelle, weil Lektüreerinnerungen wiederum im Vergleich mit Fernseherinnungen plastischer und leichter zugänglich sind. Wenn dann an dritter Stelle nach den Fernseherfahrungen gefragt wird, ist das Erinnerungsvermögen schon aktivierter, so dass sich die oftmals blasseren Fernseherinnungen möglicherweise etwas leichter erfragen und beschreiben lassen. Zu jedem Medium wird nach der bedeutsamsten Erfahrungen der letzten Zeit gefragt. Nachfragen zu den drei Aspekten Erfahrungsbezug, Denkanstöße und Lebensphilosophie schließen sich jeweils an. So soll die Sinnorientierungsdimension ohne explizite Bezugnahme auf eine religionstheoretische Terminologie aus unterschiedlichen Perspektiven emotional, kognitiv und nachhaltigkeitsbezogen angespielt werden. Eine Frage nach weiteren bedeutsamen Erfahrungen der letzten Zeit schließt sich jeweils an. 15 Siehe Leitfaden im Anhang.

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Im zweiten Abschnitt des Leitfadens geht es um die mit der Kindheit beginnende chronologische Rekonstruktion der Medienbiographie. Um das Thema Kindheit ein wenig einzuführen und auf die innere Agenda zu setzen, werden zunächst noch einmal Geburtsdatum, Geburtsort und der Ort, an dem die Kindheit verlebt wurde, erfragt. Dann folgt eine erste medienbezogene Frage nach dem ersten Kinobesuch. Es schließen sich weitere Fragen zu beeindruckenden Kinoerfahrungen der Kindheit an. Die Reihenfolge Kino, Lesen, Fernsehen wird aus den oben genannten Gründen beibehalten. Statt nach Denkanstößen und Lebensphilosophien wird jedoch im Kindheitsabschnitt nur das bloße Beeindruckungspotential der jeweiligen Medienerfahrungen nachgefragt, etwas auf das Fernsehen bezogen: „Gab es Sendungen, die Sie in Ihrer Kindheit besonders beeindruckt haben?“ Diese Formulierung schien mir vor dem Hintergrund des in der Kindheit noch nicht vorhandenen gesteigerten Reflexions- und Abstraktionsvermögen angemessen. Auch die Einstiegsfrage zum Fernsehen („Welche Rolle spielte das Fernsehen in Ihrer Kindheit? Wie war es in Ihren Familienalltag integriert?“) stellt die Kindheitssituation mit ihrer typischen Verflochtenheit von Fernsehen und Familie in Rechnung. Die Frage nach der Korrespondenz von Lebenssituationen und Medienerfahrungen in der Kindheit schließt die Fragen zum Kindheitskomplex ab, zielt noch einmal auf Aufschluss über die Verwobenheit von Biographie und Medienbiographie und gibt darüber hinaus Gelegenheit, noch wichtige Erfahrungen nachzutragen, deren Erinnerung sich erst sukzessive einstellt. Um eine gewisse thematische Kontinuität zu gewährleisten, knüpft die Frage, die zum Komplex Jugend überleitet (bis zum Ende der Schulzeit als Orientierungsmarke), an die Fernseherfahrungen der Kindheit an und zielt auf die weitere Entwicklung der Fernsehgewohnheiten in der Jugendzeit. Die Frage nach Fernsehgewohnheiten soll das Fernsehen auch als lebensweltliche Praktik in den Blick bringen. Die auf einzelne „wichtige“ Sendungen gerichteten Nachfragen integrieren nun wieder die stärker reflexiven Begriffe „Denkanstöße“ und „Sicht des Lebens und der Welt“. Mit diesen Begriffen wird auch bei wichtigen Lese- und Kinoerfahrungen nachgefragt. An die Fragen zum Fernsehen schließen sich in diesem Abschnitt zunächst Fragen nach Leseerfahrungen an. Grund für diese Variation der bisherigen Reihenfolge war die Überlegung, dass die im Blick auf das Fernsehen im Vergleich größte Erinnerungsanstrengung auch den Erinnerungsraum für die im Vergleich mit dem Kino immer noch schwerer zu erinnernden Leseerfahrungen schon produktiv geweitet haben könnte. Die Fragen nach dem Kino folgen darum an dritter Stelle. Der Komplex Jugend wird wie der Abschnitt zur Kindheit mit einer Frage nach Korrespondenzen von Lebenssituationen und Medienerfahrungen abgeschlossen. 163

Der Komplex Erwachsensein und Berufstätigkeit beginnt wiederum aus Kontinuitätsgründen mit Fragen nach der weiteren Entwicklung des Verhältnisses zum Kino. Mit dieser einleitenden Fragestellung soll der Kinobesuch wie oben schon das Fernsehen auch als Praktik wahrgenommen werden. Es folgen Fragen zu wichtigen Büchern, zum Fernsehen und die den Abschnitt abschließende Frage zu Korrespondenzen zwischen Lebenssituationen und Medienerfahrungen. In einem dritten Teil geht es zum Schluss noch einmal darum, die Medienerfahrungen hinsichtlich der Dominanz einzelner Medien (1.), ihrer Intensität im Vergleich (2.), ihrer Bedeutsamkeit in biographischen Umbrüchen (3.), ihrer Rolle im Alltag (4.), ihrer Bedeutsamkeit für die (hier auch explizit erwähnte) religiöse Sinnorientierungspraxis (5.) und den Selbstausdruck (6.) in die Biographie einzuzeichnen. Eine letzte generelle und nicht unbedingt medienbezogene Frage (7.) nach den für die ethisch-religiöse und weltanschauliche Orientierung prägendsten biographischen Erfahrungen öffnet das Feld noch einmal ganz explizit in Richtung auf die religiöse Thematik und soll nicht zuletzt helfen, die Bedeutung der Medienerfahrungen im Blick auf ein traditionelles Religionsverständnis zu relationieren.

1.2 Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner Die Zusammenstellung der Stichprobe der Interviewpartner ist von zentraler Bedeutung für den Forschungsprozess. Auszugehen ist von einer Anzahl von 15 bis 30 Interviews. Mit dieser Größenordnung, die sich an vergleichbaren Untersuchungen orientiert, bewegt man sich in einem Bereich, der auf der einen Seite genug Material für einen Typenbildungsprozess erzeugt, zum anderen aber die Daten in einem noch zu bewältigenden Umfang hält.16 Hinsichtlich der weiteren Auswahlkriterien gelten folgende an der Fragestellung und an relevanten Forschungsständen orientierte Überlegungen. Da sich Männer und Frauen, wie die Rezeptionsforschung (vgl. 3.5) deutlich machen konnte, in ihrem Medienumgang unterscheiden, sollten die Inter16 Das sind für qualitative Religions-, Medien- und Biographieforschungen übliche Fallzahlen, vgl. Hackl, Fernsehen, 86f; Hauschildt, Alltagsseelsorge, 126; Armin Nassehi, Die Deportation als biographisches Ereignis. Eine biographieanalytische Untersuchung, in: Georg Weber (Hg.), Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945–1949, Bd. 2, Die Deportation als biographisches Ereignis und literarisches Thema, Köln/Weimar/Wien 1995, 5–412,118. Für eine eher etwas geringere Fallzahl spricht das Interesse der vorliegenden Studie an Vertiefung, nicht an Breite. Im Allgemeinen bewegt sich der Umfang der Stichprobe bei qualitativen Untersuchungen zwischen einem und hundert Fällen. Wesentlich ist dabei nicht die statistische, sondern die inhaltliche Repräsentativität, vgl. Hans Merkens, Stichproben bei qualitativen Studien, in: Barbara Friebertshäuser u.a. (Hg.), Handbuch qualitativer Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim/München 1997, 97–106, 97, 104. Es geht um für die Fragestellung typische Fälle.

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viewten je zur Hälfte Frauen und Männer sein. Die Interviewpartnerinnen und -partner sollten weiterhin mehrheitlich junge Erwachsene sein, die ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben, nun die ersten Erfahrungen mit einer Berufstätigkeit sammeln und somit selbstverantwortlich und selbstständig im Leben stehen. Sie sollten auf einen Bildungsgang zurückblicken können, in dessen Verlauf wesentliche Fragen der Lebensorientierung beantwortet worden sind und man mithin davon ausgehen kann, dass grundlegende Auseinandersetzungen und Weichenstellungen im Prozess der ethisch-religiösen und lebensphilosophischen Identitätsbildung erfolgt sind und diesbezügliche Schlüsselerfahrungen vorliegen und kommuniziert werden können. Je nach Schulabschluss und Ausbildung sind die zu Befragenden demnach unter den Mitte 20- bis Mitte 30-jährigen zu suchen, einzelne Ausnahmen eingeschlossen.17 Um eine Abgrenzung des Suchfeldes zur Orientierung – nicht als strenges Auswahlkriterium – zu markieren: Die zu Befragenden sollten in etwa zwischen 1968 und 1978 geboren worden sein. Damit ist eine bestimmte Geburtskohorte und zugleich auch eine bestimmte Mediengeneration in den Blick genommen, so dass sich auch generationell typische Muster abzeichnen könnten. Man erhielte so nicht nur ein Bild von Einzelfällen und von darin enthaltenen allgemeinen Typiken des Ineinander von Religions- und Medienbiographie, sondern auch von Fällen, die mehr oder weniger eine Mediengeneration repräsentieren: in etwa die „Fernsehgeneration“, die Mediengeneration also, die schon weitgehend in den Genuss der gesellschaftsweiten Präsenz des Mediums Fernsehen vor dem Hintergrund einer Sättigung mit Geräten seit Anfang/Mitte der 70er Jahre gekommen ist.18 Das umrissene Suchfeld ist also auch im Blick auf die geplante Frage nach dem Fernsehen angemessen gewählt. Weiterhin ist zu fragen, ob und wie viele weitere Unterscheidungen (Milieu, Religionskultur) sich in diese Stichprobe angesichts der begrenzten Fallzahl noch sinnvoll integrieren lassen. Neben der Geschlechterzugehörigkeit bilden vor allem die Milieuzugehörigkeit und der Bildungsgrad (etwa im Blick auf das Bücherlesen usw.) religions- und mediennutzungsrelevante Merkmale. Deutlich ist, dass das breite Spektrum der Ausdifferenzierung der Milieus, mit dem in der heutigen kultur- und konsumsoziologischen Milieuforschung gearbeitet wird, sich angesichts der begrenzten Fallzahl kaum in die Untersuchung aufnehmen lässt. Dies ist bei einer Studie, die an ersten Beobachtungen und Grundmustern interessiert ist, aber auch nicht notwendig. Eine bildungsspezifische Differenzierung scheint mir gleichwohl noch gut 17 Die InterviewpartnerInnen des qualitativen Teils der dritten EKD-Studie waren zwischen 21 und 45 Jahren alt, vgl. Studien- und Planungsgruppe der EDK (Hg.), Quellen, Bd. I, 16. 18 Vgl. Weiler, Mediengeneration, 48f; zur Rede von der „Fernsehgeneration“ auch Heinz Bonfadelli, Kinder und Medien, Media Perspektiven, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1986, 29.

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integrierbar: die Unterscheidung von Interviewteilnehmern mit Abitur und ohne Abitur. Im Blick auf die noch vergleichsweise grobe Milieueinteilung, die Gerhard Schulze in seiner kultursoziologischen Studie „Die Erlebnisgesellschaft“ vornimmt, wäre damit immerhin zwischen einer Zugehörigkeit zu Selbstverwirklichungs- und Niveaumilieu auf der einen Seiten und Integrations-, Harmonie-, und Unterhaltungsmilieu auf der anderen unterschieden.19 Ein erster Aufschluss darüber, wie stark der Medieneinfluss auf religiöse und weltanschauliche Orientierungen überhaupt anzusetzen ist, wie sich der Zusammenhang von Religionsbiographie und Medienbiographie je subjektiv konstelliert, sollte sich mit den nach diesen Kriterien ausgewählten Fällen gewinnen lassen. Die Festlegung der genauen Anzahl der Fälle soll dem Forschungsprozess überlassen bleiben, der darin einem Grundgedanken der oben schon angeführten Grounded Theory folgt, die den Forschungsprozess eng an den jeweiligen schon gemachten Erfahrungen und Beobachtungen orientiert wissen will. In religionskultureller Hinsicht sollte die Gruppe in etwa den Bevölkerungsdurchschnitt repräsentieren. Beabsichtigt ist schließlich die Beobachtung genereller Trends und Typiken, nicht die Analyse von Extrempositionen. Das bedeutet, dass distanzierte Kirchlichkeit die Stichprobe in religionskultureller Hinsicht bestimmen sollte. In den zu führenden Interviews selbst wird es dann um eine Rekonstruktionsarbeit der individuellen Medien- und Religionsbiographie und des Ineinanders beider Themen im lebensgeschichtlichen und lebensweltlichen Kontext im Blick auf die drei für die Fallstudien ausgewählten Medien Buch, Film und Fernsehen gehen. Im Fokus sind dabei subjektiv relevante Sinnstrukturen. Vor dem Hintergrund distanzierter Kirchlichkeit ist davon auszugehen, dass diese Sinndimensionen von den Befragten selbst nicht unbedingt mit dem Themenfeld Religion und Kirche in Zusammenhang gebracht werden. Der Zugang zu den Interviewteilnehmern wurde auf zwei Wegen gesucht: Zum einen konnten einige Teilnehmer der Gruppen- und Einzelinterviews aus einem Berliner Forschungsprojekt zur Medienreligion gewonnen werden, die im Zusammenhang dieses Projektes ihre Bereitschaft erklärt hatten, für weitere Befragungen zur Verfügung zu stehen, zum anderen wurde auf Personen aus dem Umfeld des Autors zurückgegriffen (Familienmitglieder oder nahe Verwandte ausgeschlossen). Der zuletzt genannte Weg ist umstritten. Es geht dabei um die Frage, wie dienlich oder hinderlich Fremdheit/Distanz bzw. Vertrautheit/Nähe sich in der Beziehung zu den zu befragenden Personen auswirken.20 Grundsätzlich ist im Qualitativen 19 Schulze, Erlebnisgesellschaft. 20 Vgl. Flick, Qualitative Forschung, 74ff.

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vom Konzept der reflektierten Subjektivität auszugehen, nicht vom Ideal eines unabhängigen Beobachters.21 So gesehen sind beide Zugänge möglich – so lange sie reflektiert werden. Mir schien im Fall der vorliegenden Untersuchung eine gewisse Vertrautheit unter Umständen förderlich, geht es doch um sehr persönliche Fragen, deren Beantwortung durch ein Vertrauensverhältnis zum Interviewer nur befördert werden kann, ein Vertrauensverhältnis, das bei Personen aus dem eigenen Umfeld eher gewährleistet ist als bei vollkommen fremden Interviewpartnern.22 Man kann sich aber auch vorstellen, dass Nähe blockierend wirkt: Der Interviewer traut sich möglicherweise nicht, bestimmte Fragen zu stellen, der Interviewte antwortet möglicherweise nicht unbefangen genug, weil er nicht möchte, dass seine Antwort Auswirkungen auf den über das Interview hinausgehenden Beziehungskontext hat. So gesehen scheint beides ambivalent: eine größere Nähe zu den Interviewpartner wie auch eine größere Distanz. Vor diesem Hintergrund schien es mir am plausibelsten, Nähe und Distanz in den Interviewbeziehungen zu kombinieren. Im Ergebnis kamen acht der 20 Interviewpartnerinnen und Interviewpartner aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, die Kontakte zu den übrigen zwölf kamen über das oben erwähnte Forschungsprojekt am Berliner Seminar für Praktische Theologie und durch die Vermittlung von Kollegen und Bekannten zustande. Neben der Zusicherung der Anonymisierung der Transkripte und der Erläuterung der gewünschten Gesprächsform habe ich während der Kontaktaufnahme (zumeist via Telefon oder E-Mail) auch die Fragestellung der Untersuchung grob erläutert. Wichtig war mir in diesem Zusammenhang auch, deutlich zu machen, dass es mir bei dem Interview weder um intellektuelle Leistungen noch um Erinnerungsleistungen geht, sondern dass individuelle Erfahrungen im Mittelpunkt stehen.

21 Franz Breuer stellt zutreffend fest: „Die epistemologische Situation sozialwissenschaftlicher Erkenntnis ist durch Eigenschaften des Subjekts und der Subjekt-Objekt-Interaktion geprägt – also subjektgebunden, subjektabhängig.“ Vgl. ders., Subjekthaftigkeit der sozial-wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeit und ihre Reflexion: Epistemologische Fenster, methodische Umsetzungen (44 Absätze), in: Forum Qualitative Sozialforschung, Vol. 4, No. 2, Mai 2003, 3, http://www. qualitative-reasearch.net/fqs-texte/2-003/2-03intro-3-d.htm (14. Oktober 2003), 12. Absatz. 22 In dem qualitativen Teil der dritten EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaft ist man ebenfalls den Weg über das Umfeld der Forscher gegangen, vgl. Studien- und Planungsgruppe der EKD (Hg.), Quellen religiöser Selbst- und Weltdeutung. Die themenorientierten Erzählinterviews der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 1998, 16f.

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1.3 Die Durchführung Für das Führen der Interviews galten die an Andreas Witzels Vorschlägen zur Interviewgestaltung orientierten Regeln:23 Die Anwendung des Interview-Leitfadens sollte fexibel gehandhabt werden, Nachfragen sollten möglich sein und erst im Gespräch auftauchende Spuren verfolgt werden. Der Interviewer sollte sich mit eigenen Bewertungen zurückhalten und eine non-direktive Gesprächsführung praktizieren.24 Ziel war es, den subjektiven Sichtweisen der Interviewparter möglichst viel Raum zu geben und sie durch Nachfragen und bestätigende Hörersignale („Spiegeln“ würde Carl Rogers in seiner psychotherapeutischen Gesprächsführungsstrategie dazu sagen) zum Erzählen ihrer Medienerfahrungen zu animieren, Witzel spricht von „erzählgenerierenden Kommunikationsstrategien“. Hinzu kommen „verständnisgenerierende Kommunikationsstrategien“, Nachfragen, die auf unklare oder widersprüchliche Äußerungen des Interviewten reagieren oder sich aufgrund von Äußerungen des Interviewten aus dem theoretischen Vorwissen des Interviewers ergeben. Mit diesen Intentionen und Strategien wurden im Zeitraum zwischen dem 5. März 2003 und dem 4. September 2003 insgesamt 20 in der Regel etwa zwischen ein und zwei Stunden lange Interviews geführt (eines geriet allerdings besonders lang, insgesamt 4 1/2 Stunden, und musste auf zwei Abende verteilt werden). Vier von diesen Interviews habe ich nach jeweils einmaligem Abhören nicht für die weitere Analyse aufbereitet, weil sie mir im Vergleich deutlich uninteressanter als die übrigen erschienen. Die verbliebenen 16 Interviews habe ich bis auf das überlange vollständig transkribiert bzw. transkribieren lassen.25 Aus dem Interview mit „Überlänge“ habe ich wichtige Passagen ausgewählt und transkribiert und die nicht transkribierten Teile im Transkript paraphrasiert. Generell ging es mir bei der Transkription der Aufnahmen um die Sinnzusammenhänge der Aussagen und wichtige andere Äußerungen wie etwa Lautäußerung (Lachen etc.), die mitnotiert werden sollten. Eine ganz detaillierte Transkription jeder Pause, jedes „Hm“ und jedes Räusperns war für die Bearbeitung der Fragestellung nicht notwendig.

23 Vgl. Andreas Witzel, Das problemzentrierte Interview (26 Absätze), in: Forum Qualitative Sozialforschung, Vol. 1, No. 1, Januar 2000, http://www.qualitative-reasearch.net/fqs (14. Oktober 2003), 11.–18. Absatz. 24 Flick, Qualitative Forschung, 94–113. 25 Die anonymisierten Transkripte können auf Wunsch beim Autor eingesehen werden.

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1.4 Die Auswertung Im Prozess der Auswertung wurden verschiedene methodischen Ansätze der qualitativen Forschung miteinander kombiniert und zugleich modifiziert.26 Dabei sollten zwei Aspekte Beachtung finden: zum einen ging es darum, das Interviewmaterial mit Hilfe eines kategorisierenden Verfahrens aufzubrechen und durch ein kategorienbezogenes Vergleichen nach Typen und Mustern zu fragen, andererseits stellt jedes Interviewtranskript eine aufgrund des Leitfadens thematisch strukturierte Sammlung von Narrationen dar, die die Medien- und Religionsbiographie der Interviewten in Ausschnitten rekonstruiert und darum auch eine sich auf der Basis interner Bezüge aufbauende Gesamtgestalt bildet. Vor diesem Hintergrund sehe ich drei Argumente für die Integration sequentieller Betrachtungsweisen in die Auswertung, die die jeweilige Kontextualität der Äußerungen stärker berücksichtigen: die narrativen Einheiten der Äußerungen zu einzelnen Medienerfahrungen, die Bezogenheit der Äußerungen auf den Gesamtkontext der individuellen Biographie und zum dritten und generell das unauflösliche Ineinander von Religion und Leben, von Sinndeutungen und Lebensgeschichte. Aus diesen Gründen wurden kategorisierende Verfahren und sequentielle Ansätze kombiniert. Dabei habe ich mich hinsichtlich der kategorisierenden Methoden an den methodischen Grundlinien der Grounded Theory und den Vorschlägen von Andreas Witzel und Christiane Schmidt zur Auswertung von Leitfadeninterviews orientiert, hinsichtlich der sequentiellen Techniken an den Überlegungen von Fritz Schütze und Armin Nassehi.27 Die induktiv-deduktive Pendelbewegung des Auswertungsprozesses wurde dabei nicht nur innerhalb der jeweiligen Methoden durchlaufen, sondern auch im Wechselgespräch zwischen den kategorisierenden und den sequentiellen Elementen durchgespielt. Dabei stand der kategorisierende Zugriff am Anfang und die zur vertiefenden Einzelfallanalyse herangezogenen Interviews wurden auf der Basis der Interpretationsarbeit an den typologischen Skizzen der Gesamtauswertung ausgewählt. In der vorliegenden Darstellung werden sie gleichwohl vor der systematisierenden an den herausgearbeiteten Kernkategorien orientierten Gesamtauswertung präsentiert. Dieser Aufbau schien mir den Forschungsprozess am nachvollziehbarsten und angemessensten zur Darstellung zu bringen, weil die Fragestellung für den Leser zunächst in 26 Das methodische Vorgehen wurde mit dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen in Mannheim (Zuma, www.gesis.org) beraten. 27 Vgl. Strauss/Glaser, Discovery ; Anselm Strauss/Juliet Corbin, Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996; Nassehi, Deportation; Christiane Schmidt, Analyse von Leitfadeninterviews, in: Uwe Flick u.a. (Hg.), Handbuch, 447–456; Andreas Witzel, Interview.

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dem Kontext wahrgenommen wird und wahrnehmbar wird, in den sie genetisch und phänomenologisch an erster Stelle gehört: in den Zusammenhang einer individuellen Biographie. Die Darstellung trägt damit im Übrigen auch der Vorgängigkeit von Narrationen im Sinnbildungsprozess Rechnung, auf denen die systematisierenden Beschreibungen und Interpretationen allererst aufbauen. Zum Vorgehen im einzelnen: In einem ersten Schritt habe ich mir eine Übersicht über das erzeugte Material verschafft. Dabei habe ich mich an der Methode der Globalauswertung und an Vorschlägen von Andreas Witzel zur Auswertung von Leitfadeninterviews orientiert.28 Nach einer Überprüfung (Kontrollhören), einheitlichen Aufbereitung und Formatierung der Transkripte und ihrer gründlichen Lektüre wurden sie in der Weise einer ersten Kodierung unterzogen, dass der Text am Rand mit Stichworten aus dem Leitfaden und mit (neue thematische Aspekte erschließenden) Begriffen aus den Interviewäußerungen versehen wurde. Auf der Basis dieses ersten Durchgangs wurde dann eine zusammenfassende Nachzeichnung und Charakterisierung jedes Interviews auf wenigen Seiten erstellt, die auch im Blick auf die weitere Bearbeitung interessante Beobachtungen und Interpretationsideen enthielt.29 Der weitere Prozess des Kodierens der Transkripte orientierte sich an dem von Anselm L. Strauss und Barney G. Glaser und von Strauss in Zusammenarbeit mit Juliet Corbin weiterentwickelten Vorschlägen.30 Es handelt sich dabei um ein dreistufiges Verfahren, welches über einen offenen und einen axialen Kodiervorgang in einem selektiven Kodieren zu Kernkategorien kommt, die dann das Grundgerüst für die Beschreibung typischer Strukturen und aus dem Material heraus entwickelter Theorieperspektiven bilden.31 Das offene Kodieren soll den Text zunächst möglichst breit und differenziert wahrnehmen, soll ihn möglichst offen für Unvorhergesehenes mit Begriffen versehen, die sein semantisches Potential nach vielen Seiten hin aufschließen. Der Arbeitsschritt des axialen Kodierens dient dazu, aus der Fülle heraus wieder Bündelungen und Verdichtungen vorzunehmen und zu sogenannten Achsenkategorien zu kommen, die Achsen bzw. Oberbegriffe bilden. Das selektive Kodieren konzentriert das Kategorien-Set noch 28 Ders., Interview, 19.–26. Absatz; vgl. zur Globalauswertung die von Uwe Flick im Anschluss an Böhm vorgeschlagenen Schritte: Flick u.a. (Hg.), Qualitative Forschung, 215f. 29 Dieser Arbeitsschritt wird auch von Witzel vorgeschlagen, vgl. ders., Interview, 19.–26. Absatz; auch im Rahmen der dritten EKD-Studie wurde mit solchen Nachzeichnungen gearbeitet, vgl. Studien- und Planungsgruppe der EKD, Quellen, Bd. 1, 24–25. 30 Strauss/Glaser, Discovery; Strauss/Corbin, Grounded Theory. 31 Vgl. auch die konzise Beschreibung der Methode bei: Andreas Böhm, Theoretisches Codieren. Textanalyse in der Grounded Theory, in: Flick u.a. (Hg.), Handbuch, 475–485, weiterhin: ders., Qualitative Forschung, 196–217.

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einmal auf die für die Fragestellung zentralen Kategorien. Getragen ist dieses Vorgehen vom Bemühen um maximale empirische Offenheit. Interpretationen sollen nach der Vorstellung von Strauss und Glaser möglichst wie von selbst aus dem Material herauswachsen. Gegenüber der oben schon aus prinzipiellen Gründen kritisch vermerkten Überbetonung des Induktiven kommt in der vorliegenden Studie noch hinzu, dass die an das Material herangetragenen Voraussetzungen und Fragestellungen schon stark theoretisch präfiguriert sind, dass es also nicht zuletzt um die empirische Überprüfung des religionstheologischen Konzeptes der Medienreligion geht. Vor dem Hintergrund dieser Theoriegeleitetheit des Forschungsprozesses erhält auch die Kodierung einen stärker deduktiven bzw. theorieorientierten Akzent, als es die Grounded Theory in ihrer ursprünglichen Form vorsieht. Die Dreistufigkeit des Verfahrens wurde gleichwohl beibehalten. Eine gewisse Verwandtschaft hat das praktizierte Verfahren mit dem auf der Basis der Grounded Theory entwickelten thematischen Kodieren.32 Auf der Basis der kategorisierenden Analyse des Materials wurden acht Interviews für eine vertiefende Einzelfallanalyse ausgewählt, die zum einen medienreligiöse Typen aufweisen, zum anderen aufgrund der Dichte und Vielfalt der Bezüge zum Thema der Studie von besonderem Interesse sind.33 Die Vorgehensweise der Einzelfallanalysen orientiert sich vor allem an Überlegungen von Armin Nassehi, der bei Schütze anknüpft, jedoch in vieler Hinsicht über ihn hinausgeht.34 Nassehi modifiziert die von Schütze vorgesehenen Schritte der formalen Textanalyse, der strukturellen Inhaltsanalyse und der analytischen Abstraktion, nicht ohne mit Fuchs zu betonen, dass es „eindeutige Regeln für Auswertung und Interpretation biographischer Interviewtexte“ nicht gebe.35 Im Rahmen der formalen Textanalyse erscheint Nassehi die von Schütze vorgeschlagene Eliminierung nichtnarrativer Textpassagen unsinnig, weil narrative und interpretative Anteile sich zum einen kaum sauber trennen lassen, zum anderen, weil Nassehi das damit unter anderem von Schütze verfolgte Interesse an Rückschlüssen auf den ‚wirklichen Lebenslauf‘ nicht teilt. In der vorliegenden Untersuchung wird es ebenfalls nicht geteilt, es interessieren vielmehr Deutungsmuster und gerade nicht Rekonstruktionsversuche davon, ‚wie es wirklich gewesen‘ ist. Die strukturelle Inhaltsanalyse, die Untersuchung von Gliederung und strukturellem Aufbau der Interviews, wird von Nassehi dahingehend 32 Vgl. ders., Qualitative Forschung, 206–215. 33 Aus Gründen des Umfangs präsentiert die vorliegende Publikation nur sieben Einzelanalysen. 34 Vgl. Nassehi, Deportation, 105ff; Schütze, Biographieforschung. 35 Nassehi, Deportation, 108; Walter Fuchs, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, Opladen 1984, 280.

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akzentuiert, dass er über die Beobachtung formaler Strukturen hinaus thematische Felder und Einzelthemen namhaft zu machen sucht. Diese Strukturierung ist im vorliegenden Fall schon in starkem Maße von der Struktur des Leitfadens her vorgegeben. Sie wird aber in den Einzelfalldarstellungen in der jeweils vorliegenden Form noch einmal deutlich kenntlich gemacht. Im dritten Schritt, den Schütze als analytische Abstraktion bezeichnet, geht es dann um die Interpretation des Materials. In den konkreten Analysen bin ich vor diesem Hintergrund so vorgegangen, dass ich den gesamten Gesprächsverlauf in seiner als Transkript vorliegenden Weise interpretierend rekonstruiert habe, das heißt, dass ich den Text in seiner Abfolge rekapituliert habe und zwar in einer teilweise paraphrasierend-zusammenfassenden und teilweise unter Bezugnahme auf zentrale Äußerungen interpretierenden Form, bei der es darum ging, die in den Medienerfahrungen enthaltenen subjektiv bedeutsamen Sinnmuster herauszustellen. Meine Beobachtungen und Interpretationen habe ich abschließend jeweils noch einmal in einer Gesamtinterpretation zusammengefasst. Es handelt sich bei den Einzelfallanalysen mithin um Rekonstruktionen und Interpretationen der einzelnen Interviews. In allen Analysen und Interpretationen wurde darauf geachtet, das individuelle Ineinander von Religionsbiographie und Medienbiographie, von Sinnorientierungspraxis und Medienumgang zunächst aus der Sicht der Interviewpartner zu rekonstruieren und erst darauf aufbauend religionshermeneutisch zu interpretieren.

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2. Analyse und Interpretation des Interviewmaterials

Im Folgenden werde ich meine Analysen und Interpretationen in zwei Schritten darstellen. Am Anfang stehen sieben Einfallanalysen, eine systematische Gesamtauswertung des Materials folgt. Im Prozess der Analyse bildete das kategorisierende Vorgehen den ersten Schritt. In Anlehnung an das dreistufige Kodierverfahren der Grounded Theory wurden Kernkategorien herausgearbeitet, die das Gerüst der Gesamtauswertung bilden, in der es darum geht, typische Strukturen hervorzuheben (siehe 2.2). Die Einzelfallanalysen folgten im Verlauf des Auswertungsprozesses an zweiter Stelle, stellen also Vertiefungen innerhalb der Gesamtauswertung dar. Sie wollen typische Züge der herausgearbeiteten Medienreligiosität am Einzelfall sichtbar machen und darüber hinaus ein generelles Bild der Medienbiographien der Befragten anhand der drei ausgewählten Medien Buch, Film und Fernsehen im Horizont von Religions- und Sinnfragen zeichnen. Dass ich diese Einzelfallanalysen in der folgenden Darstellung gleichwohl der Gesamtauswertung voranstelle, hat den oben schon genannten Grund: Es schien mir der Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse und des Aufbaus des Forschungsprozesses dienlich, die hier zur Debatte stehenden Fragestellungen und Interpretationen zunächst im Kontext einer individuellen Medienund Religionsbiographie zu entwickeln und darzustellen. Einige Wiederholungen müssen bei diesem Verfahren in Kauf genommen werden: zum einen wiederholen sich Momente aus den rekonstruierenden Interpretationen der Einzelfälle in der systematisierenden Darstellung, zum anderen tauchen natürlich auch zentrale Aspekte der die Transkripte rekapitulierenden und rekonstruierenden Interpretation in der abschließenden und bündelnden Gesamtdeutung der Einzelinterviews wieder auf. Bei der vergleichenden Analyse der medienreligiösen Topoi erwiesen sich drei Sinnorientierungsmuster als dominant: Die Kontingenzbewältigung mit Hilfe von Medienerzählungen, der Mediengebrauch zur ästhetischen Lebenssteigerung und schließlich das Ideal des authentischen Lebens. Innerhalb der Kontingenzbewältigungsfunktion lässt sich noch einmal zwischen der Bewältigung bzw. Bearbeitung negativ-sinnverwirrender und positiver Kontingenzen unterscheiden.1 Mit positiver Kontingenz meine ich 1 Die Beobachtung der zentralen Bedeutung von Kontingenzbewältigung durch Medien konvergiert mit den bisherigen Ergebnissen der Medienrezeptionsforschung (vgl. 3.5), die wiederholt

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dabei die Unbestimmtheit und (in Grenzen) freie Wählbarkeit menschlicher Zukunft, die durch Vorstellen und Handeln näher bestimmt werden muss. Wollte man diese medienreligiösen Figuren traditionellen dogmatischen Themen zuordnen, so wäre die Bewältigung sinnverwirrender Kontingenz am ehesten dem Bereich von Sünde und Erlösung zuzuordnen, die ästhetische Lebenssteigerung am ehesten dem Topos der präsentischen Eschatologie und ihrer Frage nach der jetzt schon möglichen Gegenwart des Gottesreiches und das Ideal des authentischen Lebens der futurischen Eschatologie, derjenigen Gestalt des Lebens, die erhofft wird und auf die hin es gestaltet werden soll. Man könnte, wie leicht zu sehen ist, im Hintergrund dieser heilsgeschichtlichen Struktur auch die drei Zeitmodi als Strukturprinzip erkennen, in die menschliche Existenz immer eingebunden ist: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es liegt jedenfalls nahe, diese Abfolge auch für die Präsentation der Einzelfallanalysen zu wählen und ihre Darstellung damit in einer Weise zu gliedern, die auf der strukturellen Ebene auf ihre Korrespondenz mit der traditionellen christlichen Religionskultur verweist. In religionstheoretischer Hinsicht bemerkenswert ist dabei unter anderem der Sachverhalt, dass auch der am stärksten gegenwartsorientierte Modus, der auf ästhetische Lebenssteigerung zielende Mediengebrauch, eine Transzendenzerfahrung meint: die gesteigerte Wahrnehmung der Transzendenz von Selbst und Welt im vollzugsorientierten Verweilen im Spüren ihrer mir nicht von mir selbst gegebenen Gegenwart. Die medienreligiösen Akzente, unter denen die Interviewanalysen jeweils dargestellt werden, sind dabei nicht mehr als Akzente, typische Züge, die an den jeweiligen Interviews abgelesen werden können. Die Interviews enthalten darüber hinaus noch weit mehr und anderes. Gleichwohl habe ich die Transkripte nicht auf die von mir darin erblickten Typen hin verdichtet. Es schien mir vielmehr wichtig, die Vielfalt der Medienerfahrungen und die Verwobenheit von subjektiv bedeutsamen Sinnperspektiven mit dem individuellen biographischen Kontext einzufangen und darzustellen. Angestrebt war eine medien- und religionsbiographische Rekonstruktion, die auch Einblicke in medienbiographische Muster, in die Spezifik von Medienerfahrungen und ihre ästhetischen und mimetischen Dimensionen eröffnet. Das Interesse an der Analyse der ästhetischen Medialität von Medienerfahrungen ist dabei kein Seitenaspekt, der gelegenheitshalber mituntersucht wird. Ästhetik und ästhetisch vermittelte Mimesis sind vielmehr Faktoren, die, das zeigen die Analysen des Materials ganz deutlich, die Wirkung von Medienerfahrungen entscheidend bestimmen und die darum auch im Blick auf ihre medienreligiöse Dimension von zentraler Bedeutung sind. auf den Beitrag von Medien zur Lebensbewältigung aufmerksam gemacht hat, vgl. u.a. Charlton, Rezeptionsforschung als Aufgabe, 23f.

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2.1 Einzelfallanalysen Bei den nun folgenden Einzelanalysen habe ich mich an den vom Leitfaden bestimmten chronologischen Verlauf der Interviews gehalten und die vorliegende Textgestalt der Transkripte gliedernd, paraphrasierend und interpretierend rekapituliert. Von dieser Vorgehensweise bin ich erst in der abschließenden Gesamtinterpretation abgewichen, in der ich versucht habe, die jeweilige individuelle Religiosität in ihren biographischen und medienbiographischen Kontexten und in ihren impliziten und expliziten Gestalten zu skizzieren.2 Individuelle Religiosität wird dabei zunächst im Sinne Luckmanns als „individuelles System ‚letzter‘ Relevanzen“3 verstanden. Mit anderen Worten: Individuelle Religiosität meint die individuellen Sinnhorizonte und Sinnvollzüge von letzter Bedeutung. Die Unbedingtheitsdimension im religionsphilosophischen Sinne muss damit noch nicht berührt sein. Letzte Relevanz kann in subjektiver Perspektive auch der Sieg von „Werder Bremen“ haben. Ich verstehe „letzte Relevanz“ jedenfalls in diesem weiten Sinne subjektiver Bedeutsamkeit. Der Blick richtet sich vor diesem Hintergrund zunächst auf subjektiv bedeutsame Sinnmustern (bzw. Sinnhorizonte von lebensorientierender Bedeutung). Erst in einem zweiten Schritt werden diese Muster noch einmal hinsichtlich der Reichweite ihres Transzendenzbezuges und des Charakters ihrer Semantik genauer beschrieben. Man kann sich die zunehmende Spezifik von Religiosität auch als ein Ineinander von konzentrischen Kreisen vorstellen: ganz außen ist unter Religiosität der kontingenzbearbeitende Aufbau individueller Sinnhorizonte unter Bezugnahme auf kulturelle Sinnwelten zu verstehen (hier scheint mir der Focus wichtiger religionssoziologischer Theorieperspektiven zu liegen), weiter innen geht es um sinndeutende Antworten unter ausdrücklicher Bezugnahme auf große Transzendenzen (hier scheint mir der Focus der religionsphilosophischen und religionstheologischen Perspektiven zu liegen) und im Kern finden sich sinndeutende Antworten unter Bezugnahme auf spezifische religiöse Traditionen und Semantiken (das ist der Bereich expliziter Religiosität). Die religionshermeneutische Interpretation bedient sich dieser 2 Zur theoretischen Begründung dieses Vorgehens hatte ich auf Armin Nassehis Auseinandersetzung mit Fritz Schütze verwiesen. Zur Vorgehensweise in seinen Interviewanalysen schreibt Nassehi: „Wir haben den gesamten Gesprächsverlauf in der Weise interpretierend rekonstruiert, dass wir uns Schritt für Schritt an der Sequentialität der Texte abgearbeitet haben, und sie so in der Tat rekonstruiert haben. Das bedeutet: Die sequentielle Selektivität des Textes wird anhand der Differenzierung in thematische Felder und parallele Erzählstränge unter Zitation von Textsequenzen nachverfolgt, so dass für jedes Interview eine interpretierende, sich allerdings strikt an das narrative Nacheinander haltende Rekonstruktion des Textes vorliegt.“ Abgeschlossen werden die Analysen durch Gesamtinterpretationen; ders., Deportation, 108. 3 Luckmann, Religion, 118.

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mehrperspektivischen Optik in vollem Umfang vor allem in den zusammenfassenden Gesamtinterpretationen und natürlich im Kontext der kategorisierenden Auswertung. In einem ersten Abschnitt stelle ich die Befragten kurz vor und fasse die mit Hilfe des zu Beginn des Interviews vorgelegten Kurzfragebogens gewonnenen Daten zusammen. 2.1.1 Lebensbewältigung Klaus: Kontingenzbewältigung und Mimesis Biographische Daten, religiöse Orientierung, Mediengebrauch, Situation Klaus ist zum Zeitpunkt des Interviews 29 Jahre alt. Er lebt in einer westdeutschen Großstadt, hat einen Realschulabschluss, eine Ausbildung als Außenhandelskaufmann und arbeitet als Verkaufsleiter einer Firma im Technikbereich. Es handelt sich um den Bruder eines Freundes. Der Autor lernt ihn jedoch erst im Zusammenhang des Interviews kennen. Das Interview wurde am 12. Mai 2003 in der Wohnung des Interviewten geführt. Klaus ist in keiner Kirche mehr Mitglied. Er charakterisiert sein Verhältnis zur Kirche als „kritisch“ und bezeichnet sich selbst als nicht religiös. „Religiös“ bedeutet für ihn: „starker Glaube an ein Gottesbild, welches von der Kirche produziert wird“. Medienfavorit von Klaus ist der Film. Er geht nach eigener Einschätzung 25 bis 30 Mal im Jahr ins Kino. Mit dem Fernseher verbringt er etwa eine Stunde am Tag, mit Büchern ein bis zwei Stunden. Romane nehmen dabei im Vergleich einen etwas größeren Raum ein als Sachbücher. Als Interviewer war ich von der Artikulationsfähigkeit des Interviewten beeindruckt. Aufgrund der Schulbildung hätte ich damit in dieser Weise nicht gerechnet. Rekonstruktion und Interpretation des Interviews In dem Interview mit Klaus werden vier Aspekte von Medienerfahrungen besonders deutlich: ihre Kontingenzbewältigungsfunktion, ihre Geschlechterrollenorientierungsfunktion, ihre Vorbildfunktion (Ideal des authentischen Lebens) und ihre mimetische Wirkung. Alle genannten Aspekte sollen im folgenden Durchgang durch das Interview hervorgehoben werden. In medienreligiöser Hinsicht steht dabei die Kontingenzbewältigung im Vordergrund, in medienästhetischer Hinsicht die mimetische Wirkung. Beiden Gesichtspunkten gilt die besondere Aufmerksamkeit der interpretierenden Rekonstruktion.

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Aktuelle Medienerfahrungen Der letzte Film, der auf Klaus Eindruck gemacht hat, war der Spielfilm About Schmidt mit Jack Nicholson. Klaus war danach „schon ein bisschen schockiert“. Die Darstellung der Tragik, des Scheiterns und der Hilflosigkeit des Alters, seiner Mut- und Ziellosigkeit, ist ihm nahegegangen und hat auch Mitleid bei ihm ausgelöst. Allerdings auch Abgrenzung: „weil ich so im Alter nicht sein werde.“ Besonders „heavy“ war für Klaus die Darstellung des ziellosen Hineinlebens in den Tag. Klaus erläutert, dass er sich sein Alter ganz anders vorstellt, er spricht von Strukturen, Zielen und davon, dass man „sich nicht so schnell gehen lässt“. Der Film war für ihn ein „abschreckendes Beispiel“ des Alterns, das Klaus dazu angeregt hat, sich alternative Szenarien vorzustellen. Als weiterer Film der letzten Zeit kommt Klaus der Titel In The Bedroom in den Sinn. In diesem Film geht es um den gewaltsamen Tod eines Kindes und um die Rache des Vaters. Beschäftigt hat Klaus besonders, wie die Eltern und vor allem der Vater die Trauer verarbeiten und wie es dann zu einer Rachetat kommt, die man zwar nachvollziehen, aber nicht rechtfertigen kann. Beide genannten Filme reflektieren existenzielle Lebenssituationen, zeigen, wie Menschen die Kontingenzerfahrungen des Partnerverlustes und des Alterns (About Schmidt) und des gewaltsamen Todes eines Kindes (In The Bedroom) verarbeiten. Klaus ist in beiden Fällen als Zuschauer in diese Auseinandersetzung mit eingetreten und ist durch sie zu einer kontingenzbezogenen Selbst- und Weltdeutung angeregt worden: zur Entwicklung von alternativen Szenarien zur Bewältigung von Tod und Alter und zur lebensphilosophisch-ethischen Reflexion über Trauer und Rache. In seinen Äußerungen über beide Filmerfahrungen findet auch die Machart, die ästhetische Dimension Erwähnung: So spricht er im Blick auf About Schmidt von der „extremen“ Darstellung der Ziellosigkeit der Hauptfigur und im Blick auf In The Bedroom von der „sehr, sehr gut(en)“ Inszenierung. Zu den einprägsamen Büchern der letzten Zeit zählt Klaus Romane von Nick Hornby, die er auf Englisch liest. Sein Lieblingsbuch: About a Boy. Die Verfilmung hat er schon mehrfach gesehen. Daneben spielen in der letzten Zeit Sachbücher zu Wirtschaftsthemen eine wichtige Rolle. Die Hornby-Bücher sind in erster Linie Unterhaltung für Klaus. BelletristikLektüre hat für ihn generell vor allem Entspannungsfunktionen. Beim Thema Fernsehen hat ihn in letzter Zeit die unterschiedliche Berichterstattung über den Irak-Krieg beschäftigt: der, wie er sich ausdrückt, „Hurra-Patriotismus“ (6) der englischen und amerikanischen Sender und die Zweifel an der Objektivität der gesendeten Bilder. Klaus findet es beunruhigend, dass man „nicht mehr wirklich die Wahrheit bekommt“ oder jedenfalls diese Gefahr bestehe. Die Amerikaner könnten einem „irgend177

welche Bilder aufzwängen [...], die überhaupt nicht bewiesen sind“ und also mit Macht auf der medialen Ebene das durchsetzen, was sie auf die gleiche Weise im Politischen durchgesetzt hätten. Man habe „so wenig Prüfinstanzen“, es tauchten immer wieder Bilder auf, „die vollkommen gefaked waren“. Die Intensität der Auseinandersetzung von Klaus mit dem Fernsehen und der Fernsehberichterstattung über den Irak-Krieg ist bemerkenswert. Und obwohl er das Problem authentischer Bilder aufwirft, ist seine Sichtweise des Konfliktes doch ganz stark und in erster Linie vom Fernsehen bestimmt. Wie sollte es auch anders sein? Kindheit Klaus war mit fünf oder sechs zum ersten Mal im Kino, um einen Walt Disney-Film anzusehen. Etwas später gab es dann gemeinsam mit seinem großen Bruder auch Western-Filme im Kino zu sehen, manchmal auch Märchenfilme aus Osteuropa. Die Kindheitslektüren waren von Karl May und Micky Maus bestimmt. Insgesamt bedauert Klaus, in seiner Kindheit nicht mehr gelesen zu haben. Weitaus bedeutender als die Welt der Bücher war das Fernsehen in der Kindheit von Klaus. Er durfte so viel sehen, wie er wollte und war gebannt von den vielen Bildern und Geschichten, von den vielen verschiedenen Leben, „die man so schnell mit der Fernbedienung umschalten konnte, und dann war man auf einmal in einem anderen Leben drin“. Interessant war am Fernsehen, „wie andere Kinder oder Jugendliche ihren Tag gestalten“, der Vergleich anhand von Sendungen wie Die rote Zora, Krieg der Knöpfe oder Timm Thaler, die Frage: „‚Was mach ich so, und was könnte ich verändern, was machen die? Oh, die machen das, das können wir auch mal machen‘.“ Das Mimetische spielte eine große Rolle, die Nachahmung war allerdings nicht immer von Erfolg gekrönt: aber man probierte es zumindest, und es war auch, das Fernsehen war auf alle Fälle auch ’ne Ideenquelle, also, wenn man selbst keine Kreativität hatte, versuchte man das irgendwie übers Fernsehen zu kompensieren, um dann zu sagen‚ oh ja, das ist neu, das versuchen wir morgen mal’.

Jugend In der Jugendzeit war die Fernsehnutzung dann zum einen stark von der Sportberichterstattung über Fußball und andere Sportereignisse bestimmt, zum anderen von den Musiksendungen von Formel eins bis MTV. Es sei bei der Musik auch darum gegangen, eine Musikart zu finden, die zum eigenen Weltbild passt, die, wie Klaus es formuliert, „das eigene Weltbild widerspiegelt“. Die Musik habe eine wichtige Rolle im Rahmen der Identitätssuche gespielt. Klaus war jedoch nie jemand, der sich vollkommen mit 178

einer Stilrichtung identifizieren konnte. Es war ein „Probieren“, geleitet von der Frage: „Was machen die anderen, was kann ich machen?“ Deutlich wird, dass das Fernsehen in der Kindheit und in der Jugendzeit eine wichtige Rolle in der Medienbiographie von Klaus spielt. Im Vordergrund stehen die Funktionen Horizonterweiterung, Handlungsorientierung, Stil- und Geschmacksorientierung, Identitätsorientierung. War in der Kindheit das mimetische Potential noch recht ungebrochen („Was mach ich so und was könnte ich verändern, was machen die?“), so ist die jugendliche Auseinandersetzung mit MTV schon stärker reflexiv getönt (Klaus spricht von einem „Probieren“). Bücher waren in der Jugend von Klaus kaum von Bedeutung. Er hat Zeitung gelesen, war viel mit Freunden unterwegs, hat das Fernsehen intensiv genutzt („mein liebster Freund war dann doch noch der Fernseher“) und den Wert der Bücher erst später entdeckt. Seine Kinofilmrezeption war von Hollywood-Mainstream-Filmen bestimmt. Action-Filme standen dabei nicht zuletzt wegen der Geschlechterrollenorientierung im Vordergrund („wie funktioniert das Mannsbild“). Diese genderbezogene Orientierungsfunktion des Films sei Klaus auch damals schon bewusst gewesen, trete aber heute im Rückblick noch stärker hervor. In diesem Kontext war auch der Film Indiana Jones wichtig, „sicherlich ein prägender Film“, wie Klaus bemerkt. Fasziniert hat ihn die Hauptfigur, dieser männliche Einzelgänger, dem es mit Disziplin und Witz gelingt, schwierige Situationen „zu managen“, eine Männerdarstellung, die für Klaus unter anderem die Message beinhaltete, dass man „nicht so schnell aufgeben sollte“. Indiana Jones mischte sich dann auch mit Bildern von James Dean. Erstrebenswert erschien das coole Einzelgängerdasein, das autarke Existieren des Abenteurers. „Das war auch ein Bild“ mit Vorbildcharakter. Und „auf alle Fälle dieser Gedanke, für mich zumindest, also, ich sehe es da draus, dass es, egal, was das ist, immer irgendwie zu schaffen ist, wenn man überlegt und halt nicht sagt: ‚Das geht nicht.‘ Sondern zumindest versucht, da irgendwie heraus zu kommen.“ Erwachsensein Im Weiteren Verlauf seiner Medienbiographie ist Klaus dann dem Kinofilm gegenüber kritischer und anspruchsvoller geworden. Heute möchte er „eigentlich ’n Film sehen, der irgendwelche Inhalte vermitteln möchte“ und der dabei nachvollziehbar und linear eine „komplette Geschichte erzählt“, ohne die narrative Grundform aufzugeben. Die Filme könnten ihn ruhig fordern und belasten. Als Negativbeispiel nennt er den Film Italienisch für Anfänger4: „Italienisch für Anfänger, das ist ’n komischer finnischer Film, 4 Die Interviewpartnerin Lena konnte gerade diesem Film besonders viel abgewinnen.

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wo’s einfach nur so ’ne Geschichte über ’n Friseur ist, also, das muss ich mir nicht angucken. Da denk ich mir auch ‚Mein Leben hat mehr Spannung als dieser Film. Da muss ich nicht reingehen‘.“ Als positive Beispiele für inhaltsvolle Filme nennt er Sieben, Black Cat, White Cat und American Beauty. Besonders hebt Klaus American Beauty hervor. Der Film habe ihn „sehr beeindruckt [...], also auch nachhaltend, [...] sehr, sehr tief berührt“. Er habe die Unfähigkeit zur Kommunikation, die Sehnsucht nach Liebe und den durch unspektakuläre Anstöße initiierten Aufbruch zu einem selbstbestimmten Leben überzeugend dargestellt: Diese teilweise [...] verzweifelte Suche nach Liebe und Geborgenheit, das ist schon sehr, sehr beeindruckend. Und das hat mich schon sehr, also, beeindruckt mich noch nach wie vor sehr, auch einfach daher, dass er hervorragend gemacht ist, schauspielerisch wie kameratechnisch hervorragend in Szene gesetzt.

Nochmals nach dem Besonderen der Erfahrung mit American Beauty gefragt, führt Klaus aus: Ja, es ist hauptsächlich ja das Begleiten dieser Personen auf der Suche, der kurz seinen, oder zum Ende seines Lebens doch noch das Leben findet, Glück findet, indem er für sich feststellt, was er machen will, also, auch, dass er dann macht, nachdem er den Anschubser bekommen hat, das wirklich macht, was er machen möchte. Und dann daran, darin aufgeht, und das ist auch so, ich mein, jeder ist wahrscheinlich auf der Suche nach dem, was er gerne machen möchte, und das ist auch wie zum Beispiel, dass man eben offen durchs Leben gehen muss, und dann trifft man auf jemanden, der vielleicht mit ’nem kleinen Fingerzeig dann einem andeuten kann‚ da, mach doch das, oder, musst so und so das machen, dann findest du auch deine Position im Leben, die du gerne haben möchtest‘, und das fand ich auch sehr gut umgesetzt, dass man einfach feststellt, manchmal, es muss nicht immer was Großes sein, was das Leben verändert, sondern es kann auch nur ’ne kleine Bekanntschaft sein oder nur ’ne Bekanntschaft sein.

„Unabhängigkeit“ identifiziert Klaus als das Ziel dieser Veränderung in American Beauty. Und weiter unten fasst er die Message, die der Film für ihn hatte, unter anderem in die Worte: „Das möchte ich aber, und ich mache das jetzt, ob es nun vernünftig ist oder nicht, sondern ich fang jetzt an zu leben.“ War die Jugend am stärksten vom Fernsehen und an zweiter Stelle vom Kino bestimmt – Bücher spielten nur eine marginale Rolle –, so hat das Kino seit der Schulzeit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Wie auch das Fernsehen war das Kino in der Jugend nicht zuletzt Ressource für die Identitätsarbeit, näherhin für die Geschlechterrollenorientierung. Dies wird anhand der Ausführungen von Klaus über den Film Indiana Jones und dessen Vorbildfunktion ganz deutlich. Im Erwachsenenalter steigt der Anspruch an die rezipierten Filme inhaltlich wie formal deutlich an. Die Un180

terhaltungskomponente tritt in den Hintergrund: Filme könnten ruhig „fordern“ und „belasten“. Paradigma für diese Entwicklung in der Medienbiographie von Klaus ist die Erfahrung mit dem Film American Beauty. Klaus war „sehr, sehr tief berührt“ von diesem Film, davon, die Protagonisten auf ihrer Suche nach Glück und Sinn, nach Selbstbestimmung und nach ihrer „Position im Leben“ zu begleiten. Die geschilderte Erfahrung hat fraglos eine medienreligiöse Qualität. Die Bedeutung der Bücher hat in dem fraglichen Zeitraum erheblich zugenommen. Besonders beeindruckt hat Klaus der Roman Schuld und Sühne von Dostojewski, den er mit Anfang 20 gelesen hat. Das Buch habe sein Verständnis und seine Wahrnehmung von den möglichen Konsequenzen menschlichen Handelns erweitert. Im Fortgang des Gespräches bemerkt Klaus, dass er generell, auch bei Filmen, mehr an realistischen Geschichten ohne Happy End interessiert ist, „wo man auch sich dran aufreiben kann, oder wo sich die Protagonisten dran aufreiben“. Interessant findet Klaus an solchen Geschichten (er nennt unter anderem Die Verachtung von Alberto Moravia), wie diese Personen dann auch mit dem Scheitern leben“, die Frage, wenn man scheitert, [...] wie scheitert man dann, und was macht man, wenn man gescheitert ist, und wie geht es weiter? Das ist so der Ansatz, [...] aus Neugierde oder Interesse daran, wie man mit dem Scheitern umgeht. Weil, das Scheitern ist ja dann auch wie ein Weg in was Neues. Und wie positiv es dann wird oder negativ, aber eigentlich ist mein Interesse dann schon so, dass es dann ins Positive geht. I: Wie können Menschen mit Krisen fertig werden? Genau, Krisenbewältigung auch, ja, ja.

Von einer solchen Bewältigung erzählt auch Die Verachtung, nämlich von einem Ehemann, dessen Frau bei einem Autounfall ums Leben kommt. Klaus deutet sein Interesse an der Krisenbewältigung anderer nicht zuletzt vor dem Hintergrund des eigenen bisherigen Verschontseins von Schicksalsschlägen: „als ob ich irgendwie das aufholen müsste.“ Man könnte interpretieren: Um sein Bild von der Welt und dem Leben zu vervollständigen. Zugleich vermitteln die Erfahrungen mit solchen Büchern oder Filmen – Klaus spielt in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf den Film About Schmidt an – prophylaktische Kontingenzbewältigungsmodelle. Klaus führt aus: Und deshalb ist da irgendwie so ’n Interesse drin, sozusagen, präventiv zu wissen, was macht man, wenn. Wie machen es andere, und wie geht das weiter, und, aber einfach auch so aus Interesse heraus, wie die, also, noch gar nicht mal für mich selber, sondern einfach so zu sehen, wie machen’s andere.

Das Fernsehen war zwischendurch ganz „abgeschaltet“ im Leben von Klaus. Vor zweieinhalb Jahren, damals noch in England, habe er wieder 181

begonnen, das Fernsehen mehr zu nutzen, vor allem, um politische Sendungen zu sehen und Informationen über politischen Themen zu erhalten. Dabei treten einzelne Formate und Sendungen ganz in den Hintergrund gegenüber der Funktion der Informationsvermittlung. Bemerkenswert ist, wie stark die Bedeutung von Büchern im Erwachsenenleben von Klaus zunimmt, wie sehr sich das Fernsehen von der Identitätsressource zu einer reinen Informationsquelle verwandelt und wie dezidiert religiös getönt die Beschreibungen von bedeutsamen Lektüreerfahrungen sind. Wie im Zusammenhang der Filmerfahrungen schon beobachtet, ist Klaus in den letzten Jahren stärker an realistischen Darstellungen interessiert, die Ambivalenz und Scheitern einschließen. Zentral ist die Thematik des Scheiterns, seine Möglichkeit und seine Bewältigungsmöglichkeiten. Man könnte hier von zwei Hauptfunktionen von Büchern im Erwachsenenalter von Klaus sprechen: Wahrnehmungserweiterung und Kontingenzbewältigung, vor allem Kontingenzbewältigung. Wichtig zu sehen ist allerdings, dass Kontingenzbewältigung nicht unbedingt durch Bezugnahmen auf große Transzendenzen geschieht, sondern durch Erzählungen von Menschen, die Kontingenzen konkret bewältigen. Die Roman-Religion von Klaus kommt also ohne große Transzendenzen aus. Nachfragen Im dritten Teil des Interviews führt Klaus aus, dass das Fernsehen das wichtigste Medium seiner Kindheit und Jugend gewesen sei, dass dann in der späten Adoleszenz Bücher und Filme wichtiger wurden. Zwischen 20 und 24 sei dann der Film das wichtigste Medium gewesen, in diese Zeit fällt auch das Nachholen von Filmgeschichte. In Verbindung mit dieser Kinokonjunktur gab es auch den vorübergehenden Versuch, beruflich in der Kinobranche Fuß zu fassen. Mit dem Scheitern dieser Initiative ging das Kinofilminteresse wieder ein wenig zurück und die Bücher gewannen an Bedeutung. Resümierend formuliert Klaus für die Zeit ab seinem 20. Lebensjahr das Ranking: Kino, Bücher, Fernsehen. Im Blick auf Intensitäten schwankt Klaus zwischen Büchern und Filmen auf dem ersten Platz: für die Bücher sprechen Zeit und Raum, sich als Leser sein eigenes Bild machen zu können. Klaus entscheidet sich dann aber doch dafür, dem Film den ersten Platz einzuräumen, „ganz knapp gefolgt von den Büchern“. Das Fernsehen sei mehr ein „Beiwerk, also, das hat mich, auch in der Kindheit hat’s, [...] also, das war mehr so ’n Reiz für die Augen und ’n bisschen für den Geist, aber es war jetzt [...] überhaupt nicht vergleichbar mit der Intensität, die ich jetzt von Büchern oder von Kinofilmen her kennen würde.“ Zur Lebenshilfefunktion von Medien und zur Verbindung von Medienerfahrungen und Lebenssituationen weiß Klaus nichts zu berichten. 182

Im Alltag begleiten Klaus heute vor allem die Bücher. Ins Kino kommt er seinem eigenen Geschmack nach zu wenig. Der Fernseher dient der Unterhaltung und dem Abschalten, auch bei „,heute‘ oder so“. Nach einer Erholungsphase kehrt Klaus dann wieder zu den Büchern zurück. Bei Gesprächen über ethische, religiöse oder lebensphilosophische Fragen bezieht sich Klaus seiner eigenen Einschätzung nach dann aber doch wieder am stärksten aufs Fernsehen, fügt jedoch zugleich hinzu, dass der Begriff der Religion für ihn schwer zu fassen sei, was mit seinem Konfirmandenunterricht zu tun habe, der relativ viel verbockt hat, [...], weil einfach ’n vernünftiges Verhältnis zur Kirche gar nicht stattfinden konnte, und mit, ja, sag ich so für mich, also, ich sage für mich, ich glaube zwar an Gott, aber ich brauche die Kirche nicht dafür. Und deshalb steh ich dem Ganzen auch sehr, sehr, nicht sehr kritisch, aber kritisch gegenüber, und ich hab eigentlich zur Kirche eigentlich keine Beziehung.

Auf meine Nachfrage zum Ethischen hin erläutert Klaus, dass er im Blick auf seine Handlungsorientierung eher die Begriffe „Erziehung“ und „gesunder Menschenverstand“ bevorzugt, dass er die eigenen Handlungen im Alltag nicht mehr ständig hinterfragt. Klaus: Dann kommt die Erfahrung doch sehr stark, gerade im Alltag vor, weil man da doch, sag ich mal, zu achtzig Prozent immer mit denselben Konflikten irgendwie konfrontiert wird, und dann macht man’s einfach, [...], reagiert man da drauf, und man hat nicht mehr so diese Überlegung ‚Wie agier’ ich jetzt richtig‘ oder, ich sag jetzt mal, politisch korrekt oder ethisch richtig zu agieren, es gilt vielmehr: ‚man macht es einfach, wie man’s dreißig Mal vorher gemacht hat. Gut, man könnte dann überlegen ‚Kannst du’s nicht auch anders machen?‘ Aber wenn man einmal da so reingeraten ist in den Trott, sag ich mal, ist es manchmal auch schwer oder auch bequem, einfach, wenn man auf die Erfahrung zurückgreifen kann und sagt ‚Es ist dreißig Mal gut gegangen, warum sollte ich jetzt anfangen, beim einunddreißigsten Mal zu überlegen, auch, wenn es für jemand anderen besser wäre? Aber ich bin damit bis jetzt gut gefahren, dann bleibe ich auch dabei‘.

In diesem zuletzt nachgezeichneten Interviewabschnitt zum Problem des Ethischen wird sehr schön der Routinecharakter menschlichen Verhaltens in alltagsethischen Situationen deutlich. Diese Beschreibung konvergiert mit Theorieentwicklungen in der Sozial- und Kulturtheorie, die die Bedeutung mimetisch eingeschriebener körperlicher Routinen hervorheben. Individuen werden in dieser Perspektive als „body/minds“ verstanden, die Praktiken ausführen. Andreas Reckwitz fasst das praxistheoretische Verständnis des Individuums folgendermaßen zusammen: „The ‚individual‘ consists in the unique crossing of different mental and bodily routines ‚in‘ one mind/body and in the interpretative treatment of this constellation of ‚crossing‘“.5 Ethik 5 Andreas Reckwitz, Toward a Theory of Social Practices. A Development in Culturalist Theorizing, in: European Journal of Social Theory 5 (2), 2002, 243–263, 257.

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erscheint in praxistheoretischer Perspektive in erster Linie als Frage nach der Bildung und Pflege von sozialen Routinen. Die Beschreibungen von Klaus scheinen mir diese Sichtweise zu unterstützen und zugleich auch treffend den zentralen Bereich der Bildung dieser Routinen vermittels mimetischer Prozesse zu benennen: Erziehung und Selbsterziehung. Inwieweit Medien an diesen Bildungsprozessen mitwirken, lässt sich anhand dieser zuletzt nachgezeichneten Passage nicht ermessen. Es erscheint mir aber im Blick auf frühere Interviewpassagen deutlich, dass sowohl bestimmte Fernsehserien in der Kindheit als auch bestimmte Kinofilme in der Jugendzeit – ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an das Männerbild in Indiana Jones – an der mimetischen Formung solcher Routinen mitgewirkt haben. Bei der Frage nach den ethisch und religiös prägendsten Erfahrungen kommt Klaus erneut auf den schlechten Konfirmandenunterricht zu sprechen, der sein Verhältnis zur Kirche zerrüttet habe. Er glaube gleichwohl an Gott, könne aber mit ihm auch ohne Kirche kommunizieren. In der Kirche fühle er sich leicht bevormundet, zudem sei er kein „Gruppenmensch“. Er könne die Kirche als Institution akzeptieren, möchte aber selbst kein Teil von ihr sein. In dem kritischen Verhältnis zur Kirche hat ihn auch die fehlende Anteilnahme des Pfarrers bei der Beerdigung seines Großvaters bestärkt. Den Schnitt habe er schon mit 14 vollzogen, schon damals habe er festgestellt: „die Kirche ist nicht das Richtige, oder sie kann nicht die Werte vermitteln, die du suchst.“ Anlässlich der Traueransprache bei der Beerdigung seines Großvaters habe er gedacht: „selbst das können sie nicht.“ Kirchlich heiraten möchte Klaus aber dennoch, weil er das schön findet. „Nur Standesamt“ sei eine „halbe Sache“. Problematisch findet er an den Kirchenvertretern, die er kennen gelernt hat, dass sie ihm keine persönliche Nähe zu den Werten der Bibel und des Christentums vermitteln konnten und eben für ihn nicht authentisch und überzeugend waren, ihn nicht hätten erreichen können, weder im Konfirmandenunterricht noch im Gottesdienst, weder durch eine Taufe noch durch eine Beerdigung. Neben der mangelnden Authentizität sei dafür auch das Gefühl verantwortlich gewesen, „dass sie, irgendwie, auf einen herabschauen“, dass sie „immer Schuldbewusstsein“ suggerierten, alte Predigten wiederholten und dabei die Wärme der biblischen Texte nicht vermitteln könnten. Resümierend: Und das ist, nee, da bin ich nicht so, da fehlt mir wirklich so die Wärme, die man so oft irgendwie aus diesen Psalmen hört, und die man auch wirklich selber empfindet, nur, wenn man die nicht spürt von demjenigen, der sie vorträgt, so verliert das unwahrscheinlich viel, und das mag ich eigentlich gar nicht. Dann lese ich lieber mal selber in der Bibel für mich, und dann hab ich mehr Vorstellungen und mehr Gefühl oder empfange auch viel mehr als von jemandem, der da lustlos auf der Kanzel steht. Und deshalb ist da, glaub ich, der Punkt, wo ich sage ‚Nee, muss ich nicht hingehen‘.

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Gesamtinterpretation Aufs Ganze gesehen fällt bei Klaus die starke Phasenspezifik seiner Medienbiographie auf: in der Kindheit und frühen Jugend war eindeutig das Fernsehen das wichtigste Medium, dann kam der Kinofilm mit einem von Klaus deutlich benennbaren Schwerpunkt im Alter zwischen 20 und 24, dann holen die Bücher auf, so dass Klaus heute von Filmen und Büchern als ihn etwa gleichwertig interessierenden Medien spricht. Ganz deutlich ist auch der jeweilige Bezug zu den altersbedingten Lebensthemen: Das Fernsehen war als Ressource der kindlichen und jugendlichen Identitätsarbeit – zunächst in Form von Kinderserien, später von Musiksendungen – bedeutsam. Heute dient es der Unterhaltung und der politischen Information, die aber durchaus kritisch rezipiert wird, wie die Bemerkungen von Klaus über die Irak-Berichterstattung zeigen. Im Blick auf Kindheit und Jugend wird das mimetische Potential von Fernsehen und Film besonders deutlich, im Blick auf die Rezeption des Musikfernsehens insbesondere die ästhetische Dimension der Mimesis. Dieser ästhetische Aspekt des Mimetischen wird auch von den einschlägigen Theorien sozialer Mimesis hervorgehoben: Kreative Nachahmung ist sinnlich vermittelt, bedarf eines sinnlichen Anreizes.6 Ästhetische Attraktion und Passung ermöglichen und steuern mimetische Prozesse. Die Bücher werden im biographischen Verlauf zunehmend wichtiger. Sachbücher sind beruflich bedeutsam, Romane dienen der Unterhaltung (Nick Hornby), aber auch der intensiven Auseinandersetzung mit Lebensfragen (Dostojewski, Moravia). Am ausführlichsten und differenziertesten spricht Klaus über seine Filmerfahrungen. Zwei Aspekte fallen dabei besonders auf: zum einen die deutlich hervortretende Funktion des Films als Ressource der Geschlechterrollenorientierung in der Jugendzeit (Indiana Jones), zum anderen das aktuelle Interesse an Filmen, die zeigen, wie Menschen mit dem Scheitern umgehen, wie sie Lebenskrisen bewältigen und ihre Position im Leben finden (About Schmidt, American Beauty). In diesem Zusammenhang wird auch noch einmal eine Konvergenz mit den Lektüreerfahrungen und insbesondere mit dem Moravia-Roman sichtbar. Hier scheint ein inhaltlich-thematischer Fokus der Medienerfahrungen von Klaus zu liegen. Es lässt sich interpretieren: Klaus interessiert sich als Erwachsener in besonderer Weise für Bücher und Filme, die davon erzählen, wie Menschen sinnverwirrende Kontingenzerfahrungen verarbeiten, wie sie mit dem Scheitern umgehen und wie sie Lebenskrisen bewältigen. Die Rezeptionen dieser filmischen und literarischen Kontingenzbewältigungsmodelle, die Klaus besonders nachhaltig beeindruckt haben, sind dabei ganz dies6 Vgl. Gunter Gebauer/Christoph Wulf, Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg 1998, 7–22, 256ff.

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seitsorientiert und konkret. Große Transzendenzen sind nicht im Spiel und werden offensichtlich auch nicht vermisst. Im dritten Abschnitt des Interviews fällt auf, dass Klaus dem Fernsehen einerseits nur eine marginale Bedeutung zuspricht („Beiwerk“), sich andererseits im Gespräch über Lebensfragen dann aber doch stark auf das Fernsehen bezieht – vermutlich, weil es immer noch das allgemeinverbindlichste Medium ist. Im Blick auf das Verhältnis zu Ethik und Religion bestätigen die Aussagen von Klaus zum Teil schon Bekanntes: die Verwurzelung von individuellem Verhalten in Routinen, die Klaus mit großer Hellsicht beschreibt, die Bedeutung des Konfirmandenunterrichts, der in seinem Fall zu einer nachhaltigen Störung seines Verhältnisses zur Kirche geführt hat, die Aussage, dass Klaus an Gott glaube, die Kirche dafür aber nicht brauche, die Wahrnehmung, dass Kirchenvertreter Schuldbewusstsein suggerieren würden, ihn von oben herab behandelt hätten und die Werte des Christentums nicht vermitteln könnten. Zwei Aspekte scheinen mir besonders interessant an der Beschreibung des Verhältnisses zur Kirche: zum einen die Kritik an der mangelnden Professionalität pastoraler Arbeit (das Wiederholen alter Predigten), zum anderen die Kritik an der mangelnden Authentizität, an der fehlenden Kohärenz von Lehre und Leben, am fehlenden Vorbild einer zur Mimesis anreizenden gelebten Religion also. An diesem Punkt zeigt sich eine gewisse Übereinstimmung der Beschreibungen von medienreligiösen Erfahrungen und Erfahrungen im Kontext der kirchlichen Religionskultur: Der mimetische Faktor ist in beiden Erfahrungsbereichen bedeutsam. Fragt man nach inhaltlichen Aspekten, so wird deutlich, dass Authentizität ein Wert ist, der für Klaus von Bedeutung ist und an dem er auch seine Erfahrungen mit der evangelischen Kirche misst. Er findet sich ebenfalls in seinen Medienerfahrungen, wenn er betont, dass er realistische Geschichten ohne Happy End mag, und in seinen recht ausführlichen Beschreibungen seiner Filmerfahrung mit American Beauty hervorhebt, dass ihn die Suche der Protagonisten nach ihrem Leben und ihrem Glück, nach ihrem eigenen Leben (Beck) mithin, dem authentischen Leben, sehr tief berührt habe. Im Zusammenhang mit American Beauty betont Klaus zudem die Bedeutung des ästhetischen Gemachtseins für die Eindrücklichkeit. Diese Wahrnehmung weist noch einmal bestätigend zurück auf die Bedeutung des Faktors Ästhetik für mimetische Prozesse. Im Übrigen, dies gilt es ebenfalls im Umkreis der ästhetischen Thematik zu vermerken, benutzt auch Klaus bevorzugt das Verb „berühren“ für die Eindrücklichkeit bedeutsamer Filmerfahrungen. Lebensorientierende Bedeutung und damit medienreligiöse Qualität haben für Klaus heute vor allem Filme und Bücher, die vom Umgang mit Kontingenzerfahrungen erzählen und die Vorbilder authentischen Lebens 186

präsentieren. Ihre mimetische Wirkung hängt dabei nicht zuletzt von ihrer ästhetischen Gestalt ab. Johanna: Kontingenzbewältigung und persönliche Videopraxis Biographische Daten, religiöse Orientierung, Mediengebrauch, Situation Johanna ist 37 Jahre alt und lebt in einer westdeutschen Großstadt. Sie hat evangelische Theologie studiert und ist heute als Dozentin in der Arbeitsvermittlung tätig. Johanna ist Mitglied der evangelischen Kirche und bezeichnet ihr Verhältnis zur Kirche als „teils sehr eingebunden, teils sehr distanziert“. Sie beschreibt sich selbst als religiös und erläutert den Begriff als „gläubig in der Ausdrucksform einer Religion“. Johannas Medienvorliebe gilt den Büchern, vor allem dem Roman. Sie geht gegenwärtig nur wenige Male im Jahr ins Kino, vermerkt jedoch, dass sie früher häufiger im Kino war. Mit dem Fernsehen verbringt sie täglich zwei bis drei Stunden. Mit Bücher nach eigener Einschätzung ein bis zwei Stunden. Das Interview wurde am 19. Mai 2003 in der Wohnung von Johanna geführt. Der Kontakt war über einen Kollegen zustande gekommen. Zu Beginn des Interviews fragte Johanna, ob ihr Mann dem Interview beiwohnen könne. Ich sah – nicht zuletzt aufgrund der sehr kleinen Wohnung – keine andere Möglichkeit, als diesem Wunsch zu entsprechen. Johannas Mann war also während des gesamten Interviews anwesend. Seine beiden Äußerungen während dieser Zeit wurden im Transkript unter dem Kürzel „A2“ notiert. Als unmittelbar charakteristisch blieb die konzentrierte Aufmerksamkeit der Interviewten im Gedächtnis und die Differenz zwischen den Erfahrungen mit der Bibel und denen mit anderen Büchern. Rekonstruktion und Interpretation des Interviews Im Interview mit Johanna wird wie schon bei Klaus ebenfalls die medienreligiös valente Kontingenzbewältigungsfunktion und Kontingenzbearbeitungsfunktion von Medienerfahrungen deutlich. Ein besonderer Aspekt, der auch in anderen Interviews mehr oder weniger sichtbar wird, ist das Sichverfügbarmachen dieser Funktionen durch eine persönliche Videopraxis. Aktuelle Medienerfahrungen Johanna hat zuletzt den Film Der Herr der Ringe – Die zwei Türme gesehen und beschreibt diese Erfahrung als „ein Transportieren in eine andere Welt“. Auch Harry Potter hat sie gesehen, obwohl sie als Mutter einer kleinen Tochter gegenwärtig nur noch selten ins Kino kommt. In letzter Zeit hat sie Filme darum zu meist im Fernsehen gesehen. Wegen seines Bezuges zu eigenen Erfahrungen hat sie vor allem der Film Seite an Seite beeindruckt.

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Das ist ein Film, da geht es um eine Mutter, die getrennt lebt von ihrem Mann und der hat eine neue Freundin. Und wie diese Frau mit den Kindern dann klarkommt, auch mit der Ex-Frau. Das ist mir ziemlich zu Herzen gegangen, weil das so eine Situation ist, in der ich auch lebe. Das ist dann so ein Film, den gucke ich einfach gerne, weil eine eigene Erfahrung mit drin ist.

Johanna hat diesen Film vor zwei Jahren zum ersten Mal gesehen und sich daraufhin als Video gekauft. Das Ende des Films findet sie „amerikanisch“ und „unrealistisch“. Gleichwohl findet Johanna: „Aber trotzdem sind viele Sachen drin, wo ich dachte, ja, genauso ist es und das müsste man auch anders hinkriegen.“ Heute sieht sie ihn „immer mal wieder“ und erläutert: „Filme, die mich beeindrucken, habe ich auf Video.“ Im Blick auf die Frage, ob der genannte Film vor allem ein Spiegel eigener Erfahrungen sei oder ob er auch neue Gedanken anrege, erklärt Johanna: „Also das ist so eine Mischung, teilweise an manchen Stellen eigene Erfahrungen und dann neue Gedanken, wo man dann denkt, so könnte es eigentlich auch laufen.“ Schon in diesem ersten Abschnitt kommt Johanna im Zusammenhang mit dem Film Seite an Seite auf ihre persönliche Videopraxis zu sprechen. Durch die Anschaffung des Films als Video hat sie sich dessen lebensorientierende Funktion verfügbar gemacht und sieht ihn nun „immer mal wieder“. Diese rituelle Praxis erinnert an die Praxis der täglichen Bibellektüre. Auffällig ist, dass nicht Bücher diese Funktionen übernommen haben, sondern Filme. Die Vermutung liegt nahe, dass dies daran liegt, dass ihre Rezeption weniger Investition, weniger Energie und Initiative verlangt. Der Energieaufwand könnte ein Argument sein, wenn man bedenkt, dass Zeiten biographischer Krisen in der Regel Energiemangelsituationen sind. Unter den Büchern der letzten Zeit hebt Johanna eine Autobiographie einer in der NS-Zeit in einem „Lebensborn“ geborenen Frau hervor, die ihrer Vergangenheit auf die Spur kommt. Johanna war von dieser Suche nach der eigenen Geschichte fasziniert und hat viel über den Einfluss der eigenen Herkunft nachgedacht, darüber „wieweit das einen eigentlich prägt“. Dieses Interesse hat mit ihrer eigenen Herkunft zu tun: mit der Kriegsflucht der Mutter aus dem Osten. Für Johanna hat das genannte Buch ihre Auffassung der Bedeutung von Geschichte und der Auseinandersetzung mit ihr unterstrichen und darüber hinaus den Gedanken angeregt, das Gespräch mit ihrer Mutter über deren Herkunft noch einmal zu suchen. Der stille Don ist ein weiterer Titel, den Johanna im Fortgang des Gespräches hervorhebt. Sie hat das „unheimlich spannend geschrieben(e)“ Buch vor zwei Jahren gelesen. Es geht darin um den ersten Weltkrieg und einen Kosaken, dem ein Hiobsschicksal widerfährt. Das negative Ende des Buches beschäftigt Johanna bis heute. Johanna:

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Dann habe ich den Schluss gelesen und habe mich wahnsinnig geärgert. Da dachte ich, so ein vertanes Leben einfach. Die ganze Familie ist dann tot, entweder erschossen oder vor Kummer gestorben. Das fand ich ganz furchtbar. Das beschäftigt mich jetzt noch manchmal, da denke ich über den Schluss nach und denke, dass kann eigentlich nicht angehen.

Johanna ist mit dieser Irritation noch nicht fertig. Einerseits sieht sie die Kontingenz, beobachtet sie, dass Menschen „von Schicksalen hin und her geworfen werden“, andererseits spricht sie vom Idealismus und davon, dass man trotz Wandel und Kontingenz „vielleicht doch zu einer inneren Einstellung stehen sollte“. Deutlich ist, dass die Lektüre und insbesondere der Schluss bei Johanna über einen längeren Zeitraum hinweg eine religiös valente Reflexionsarbeit am Kontingenzproblem ausgelöst haben. Ein ähnliches Irritationspotential hatte Anna Karenina, der Roman von Dostojewski, der vom Scheitern und dem Selbstmord einer schönen und begabten Frau erzählt. Johanna: „Das ist von der Thematik her genau dasselbe.“ „Fernsehen gucke ich, um mich seicht zu unterhalten. Einfach abends abspannen, wenn ich müde bin. Nur was angucken, und das meiste bleibt auch nicht hängen.“ Hier reproduziert sich die schon öfter vermerkte Beobachtung, dass das Fernsehen keine profilierten Erinnerungen hinterlässt, weder in bildlicher noch in sprachlich-inhaltlicher Hinsicht. Johanna weiß somit über das Fernsehen nicht viel zu berichten und kommt schnell wieder auf ihre Lektüreerfahrungen zurück und erzählt von spannenden KrimiLektüren der letzten Zeit. Kindheit An Kinobesuche in ihrer Kindheit kann sich Johanna nicht erinnern. Ihr erster Kinobesuch (die Verfilmung des Musicals Grease) fällt schon in ihre Jugendzeit. Gelesen hat sie die klassischen Kinderbücher: Pippi Langstumpf, Die kleine Hexe, Räuber Hotzenplotz. Das Fernsehen war ein Gegenstand beständigen Begehrens, weil es von den Eltern stark begrenzt wurde (u. a. auf Sendungen wie Sesamstrasse und Sandmännchen). Jugend In der Jugend ist die Fernsehnutzung dann kaum intensiver geworden. Der Vater war ihr ein abschreckendes Beispiel: Er ist immer spät nach Hause gekommen, war dann müde, so wie ich jetzt – jetzt kann ich das so ein bisschen verstehen – und hat sich dann nach dem Abendessen vor den Fernseher gesetzt. Mich hat das irgendwie sehr geärgert. Und dann ist er eingeschlafen. Ich hätte immer gerne mehr von ihm gehabt.

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Im Blick auf Bücher erinnert sich Johanna unter anderem an den Titel Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren. Dieses Buch gehörte zu den Kinderbüchern, die Johanna in der Jugendzeit noch – nachholend gewissermaßen – gelesen hat. Tod und Jenseits spielen darin eine Rolle. Die Lektüre hat ein Nachdenken über den Tod ausgelöst. Auch hier wieder insbesondere der Schluss, der erzählt, wie die beiden Brüder gemeinsam in den Tod springen. Johanna: „Dann springen sie in den Abgrund rein, so dass sie beide gleichzeitig sterben. Das fand ich merkwürdig. Da habe ich viel drüber nachgedacht, ob ich das gut finde oder nicht. Das weiß ich bis heute so richtig nicht.“ Bemerkenswert ist an Johannas Äußerungen über Die Brüder Löwenherz zweierlei: Zum einen, dass sie noch sehr präzise Erinnerungen an die Lektüre zu haben scheint, zum anderen, dass es wieder der Schluss ist, der eine bleibende Irritation hinterlässt und dass in dem Versuch der Beurteilung des Endes ästhetische Geschmackskategorien („ob ich das gut finde oder nicht“) eine gewisse Rolle zu spielen scheinen. Auch Erich Fromms Bestseller Die Kunst des Liebens hat Johanna in dieser Zeit mit großem Interesse gelesen, kann sich aber in diesem Fall an den Inhalt kaum noch erinnern. Ebenso haben einige Schulpflichtlektüren Johanna beeindruckt: Faust, Romeo und Julia auf dem Dorfe und Mutter Courage. Solche Bücher, findet Johanna, müsste man eigentlich öfter lesen. Dies fällt ihr jedoch schwer, wenn sie den Inhalt einmal kennt. Aus Mutter Courage erinnert sie eine Szene noch besonders gut: wie da die Soldaten kamen, die stumme Tochter aufs Dach stieg und Krach machte, um die anderen zu warnen. Das war eine sehr eindrückliche Szene, so wie Menschen über ihre Grenzen hinauswachsen, sich was einfallen lassen. [...] Das ist was, was ich sehr bewundernswert finde, wenn Leute so über sich hinauswachsen, also nicht so schnell klein beigeben.

Die „eindrückliche“ und vorbildhafte Szene regt Johanna zu aktuell noch gültigen lebensphilosophischen Reflexionen über die Kreativität an, die Menschen in der Konfrontation mit dem Unerwarteten, dem kontingent sich Ereignenden entwickeln können. An Faust fand sie die Sprache faszinierend und den alle Grenzen überschreitenden Wissensdrang. In letzterem erkennt sich Johanna wieder, darin „so verbohrt nach irgendwas Streben ohne Kompromisse zu machen und sich selber nur im Weg zu stehen“. Gefallen hat ihr, dass im Faust selbst um so einen Menschen gekämpft wird. Beim Kino fallen Johanna zunächst nicht viele Erfahrungen ein. Obwohl sie glaubt, in ihrer Jugendzeit oft im Kino gewesen zu sein. Schließlich nennt sie das Musical Hair, dessen Musik sie mochte und dessen Handlung sie beschäftigt hat, insbesondere der Zusammenhang, der erzählt, wie einer aus der im 190

Mittelpunkt stehenden Hippie-Gruppe aufgrund bestimmter Zufälle unfreiwillig als Soldat nach Vietnam fliegen muss und dort umkommt. Zwei Aspekte fallen in Johannas Äußerungen über den Film besonders auf: Sie findet die Darstellung des freien Hippie-Lebens „schön“ und ihre Ansichten „schön locker“. In einem harten Kontrast zu diesem Leben steht der sinnlose und kontingente Tod des durch Zufälle nach Vietnam gelangten Mitgliedes der Gruppe. An die Hair-Erinnerung schließt sich die Erinnerung an einen ebenfalls Vietnam-kritischen Film, an Birdy. Darin geht es um das Vietnam-Trauma und um seine Auswirkungen im Leben zweier junger Soldaten, von denen sich der eine, Birdy eben, nach seiner Rückkehr aus Vietnam wie ein Vogel verhält. Der Film korrespondierte mit Johannas damaligem starken Interesse für Psychologie und hat sie in ihrer Begeisterung dafür bestärkt, in ihrem Glauben, dass man versuchen muss zu verstehen, warum Menschen so sind wie sie sind, und dass durch so ein Verstehen auch Kommunikation wieder möglich werden kann. Johannas Nacherzählung des Films zeigt, wie stark die Erinnerung und Rekonstruktion über zentrale Sequenzen läuft: Birdy. Das war auch so ein Vietnam-kritischer Film. Der Film da fängt damit an, dass ein junger Mann in die Psychiatrie eingeliefert wird. Er kommt auch von Vietnam zurück und benimmt sich wie ein Vogel. Also, er sitzt nur da, zusammengekauert wie ein Vogel, spricht nicht mehr. Sein Freund, auch aus dem Vietnam-Krieg, der das ganze Gesicht verbunden hat, wird zurückgeholt, um ihm zu helfen. Er setzt sich zu ihm ins Zimmer und erzählt ihm die Jugendgeschichte. Da waren die beiden befreundet, der eine war schon immer so ein bisschen ein Sonderling und hat sich immer mit Vögeln sehr befasst. Da wird halt so eine amerikanische Jugend geschildert, wie die zusammen Tauben gefangen haben. Der eine hat immer geträumt, dass er fliegen kann. Sie haben alles probiert: Mit dem Fahrrad den Berg runter und der hatte dann so Pappflügel, wollte losfliegen und fiel immer nur in den Graben rein. Der eine zieht eben in den Krieg und der andere steht am Fenster und [...] irgendwie meldet sich der dann auch und zieht auch in den Krieg. Er stürzt mit dem Hubschrauber ab und in dem Moment setzt wohl alles aus. Ich krieg das nicht mehr so zusammen, im Film ist es ja logisch, dass er da so sitzt und das Ende weiß ich noch, da steht er auf, geht, wie in seiner Jugend, aufs Dach und versucht, wieder runter zu fliegen. Der andere steht hinten dran und sagt „spring nicht“. Doch er springt. Da denkt man, oh Gott, nun ist vorbei. Der andere geht auch ganz entsetzt an den Abgrund. Da sieht er, der ist nur einen halben Meter tiefer gesprungen und steht da und lacht sich halb tot. Auch im Film kommt raus, dass eben der mit dem völlig verletzten Gesicht auch seine psychischen Schäden mitgekriegt hat, aber nicht so offen. Der eine zeigt das sehr offen durch das Sich-Ins-Vogelleben-Zurückziehen und der andere tut eben sehr männlich. Man kriegt immer mehr mit, dass der auch seine Macken abgekriegt hat. Ja, ich glaube, die Nase ist bei ihm weg oder so was. Ich fand damals diesen Film sehr beeindruckend, also diese Studie von Psyche, was in Menschen so vor sich geht und wie sie Schaden nehmen können, und wie die Seele sich so helfen kann, indem sie dann z.B. Zuflucht nimmt – er sitzt dann nur noch in der Ecke; er kann sich so in sich zurückziehen und findet so merkwürdige Ausdrucksformen dafür.

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Es geht für Johanna in Birdy, so lässt sich interpretieren, vor allem um diesen zuletzt genannten Aspekt: darum, „wie Menschen Schaden nehmen können, und wie die Seele sich so helfen kann“. In religionshermeneutischer Terminologie: Johanna interessiert, wie Menschen sinnverwirrende Kontingenzen bewältigen. Ingesamt fällt an Johannas Erinnerungen an Medienerfahrungen in ihrer Jugendzeit auf, dass Johanna die jeweiligen Schlussbilder so gut in Erinnerung sind (Hair, Birdy, Die Brüder Löwenherz). Weiterhin fällt auf, dass, wie schon bei den aktuellen Erfahrungen, auch hier bei den nachhaltigen früheren Erfahrungen mit Büchern, Filmen und mit dem Fernsehen zum einen das Fernsehen als marginal erscheint und sich zum anderen bei den Büchern und Filmen ein inhaltlicher Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit der Kontingenzproblematik zeigt. Ästhetische Kategorien schwingen dabei immer mit. Erwachsensein Heute, als Erwachsene, wählt Johanna die Filme, die sie im Kino sieht, gezielter aus. Sie hat auch viele kritische Filme gesehen und führt dazu aus: Da geht man nicht zur Unterhaltung rein, um einfach einen netten Abend zu haben, sondern man geht ins Kino, um sich mit einem Thema auseinander zu setzen. Da fällt mir zum Beispiel ein der Film Frauensache. Da ging es um Abtreibung in der Zeit des 2. Weltkrieges in Frankreich. Das sind so Filme, wo man hinterher sehr nachdenklich rausgeht. Da sagt man nicht unbedingt, ich hatte einen schönen Abend.

Bewusst auf einen solchen Film gehofft hatte sie beim Besuch des Films Jenseits von Afrika. Doch der Freund der Freundin, mit der sie im Kino war, hat die Stimmung gestört: „Sie und ich, wir guckten beide voll Ergriffenheit auf die Leinwand. Er machte immer nur dumme Kommentare. Das war ziemlich nervig.“ Wichtig waren die ‚kritischen Filme‘ ihres frühen Erwachsenenlebens auch im Blick auf die Auseinandersetzung mit der Frauenfrage und den gesamten Komplex der Geschlechterrollenorientierung. Sie halfen bei der Klärung ihrer Position. Johanna: So auch der Film mit Jodie Foster Angeklagt. Da wird sie in der Kneipe vergewaltigt und eine Anwältin ermutigt sie, eine Anzeige zu machen. Das Problem ist aber, dass sie nicht die zur Vergewaltigung ermutigt hat, aber ziemlich heftig mit ihnen geflirtet und einen sehr knappen Rock anhatte. Es ging halt um diese Sache, wenn eine Frau nun einen knappen Lederrock anhat und anfängt mit Männern rumzuflirten, ob die dann ein Recht haben, sie dann eben zehn Minuten lang zu vergewaltigen, zu viert, – die ganze Kneipe guckt zu – oder ob diese Frau eben doch ein Recht hat, diese Leute anzuzeigen. Das war auch ein sehr kritischer Film. Das waren so Themen, mit denen hatte ich mich dann da schon neu befasst. Eigentlich bestätigt einem das vom Rechtsempfinden her in dem, was man sowieso denkt, dass das so eigentlich nicht gerecht sein kann.

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Unter den vielen Büchern, die Johanna als Erwachsene gelesen hat, hebt sie an erster Stelle Dostojewskis Schuld und Sühne hervor und die darin verhandelten ethischen Fragen von Recht und Macht und Gewissen. Die Frage, wie „das Gewissen überhaupt entsteht“ habe sie auch im Theologiestudium schon beschäftigt. Der ganze Themenkomplex findet bis heute ihr Interesse: Aber vielleicht schon so die Frage, wieweit hat man ein Recht, sich über Gesetze hinweg zu setzen und wieweit untersteht ein Mensch dann doch einer gewissen Moral oder einer Ethik oder ist das einfach alles so christlich antrainiert und sind andere Formen überhaupt denkbar und wie sehen andere Welten aus? So diese ganzen Überlegungen.

Von Dostojewski hat sie auch der Roman Die Brüder Karamasow stark beschäftigt. Hier war es vor allem die Rolle der Kirche und die Frage der Freiheit. Ihre kirchenkritische Einstellung ist durch die Lektüre verstärkt worden. Weiterhin nennt Johanna den Titel Die Verwandlung von Kafka. Auch darin stand für sie die Freiheitsthematik im Vordergrund, die sie auch in ihrem Studium sehr beschäftigt hat – so die Frage der Willensfreiheit, aber auch die Frage der sozialen Beziehungen und der sich darin vollziehenden Ermöglichungen oder Beschneidungen von Freiheit. In diesem Zusammenhang kommt Johanna auch noch einmal auf Dostojewskis Großinquisitor zurück und die Frage: „Kann der Mensch wirklich nicht mit der Freiheit umgehen?“ In diesem Zusammenhang gibt es Anlass für Johanna zu erläutern, warum sie kein Vikariat an ihr Theologiestudium angeschlossen hat: Also, ich bin deshalb nicht ins Vikariat gegangen, weil ich wusste, das halte ich da nicht durch. Ich hatte Angst, daran irgendwie zu zerbrechen. Dieser Spagat zwischen dem, was ich so denke, was Kirche oder Religion ist, und dem, was die Institution so von sich gibt. Heute sehe ich das ein bisschen lockerer. Damals war ich sehr streng und habe das alles sehr auf die Goldwaage gelegt.

Das Fernsehen hat während des Studiums keine Rolle gespielt, weil Johanna über kein Fernsehgerät verfügte. Später hat sie immer dann viel ferngesehen, wenn sie viel gearbeitet hat. Das sei im Moment auch wieder so, sie sehe fern „einfach, um abzuspannen“. Manchmal müsse sie den ganzen Tag reden und sei dann froh, wenn sie zuhause den Fernseher einschalten könne: Einfach jemanden brabbeln hören, ohne Mitdenken zu müssen, das war für mich eine unheimliche Entspannung. Und ganz gezielt, ich glaube, ich mache da schon einen Unterschied, wenn ich Lust habe, ganz gezielt Fernsehen zu gucken, leihe ich mir am liebsten einen Film aus und such mir dann was aus, was mich dann interessiert.

Dies mache sie vor allem, wenn sie wenig Zeit zum Lesen habe. Zu ihren Favoriten gehört der Film Sinn und Sinnlichkeit, den sie „bestimmt 20 Mal“ gesehen hat. Interessanterweise schätzt sie vor allem die schöne Sprache 193

des Films, auch die Darstellung der Charaktere gefällt ihr. Aus denselben Gründen mag sie den Film Krieg und Frieden. Manche Dialogsätze der Figuren beider Filme enthielten „kleine Wahrheiten“. Johanna erläutert: „Wenn die ihre Gedanken äußern, dass man einfach so mitdenken kann und denken kann: da ist was Wahres dran.“ Interessant sei auch die Wahrnehmung der Ambivalenz gut dargestellter Charaktere. Deutlich ist, dass Johannas zentrales Medium ihrer Selbst- und Weltdeutung das Buch ist. Doch auch der Film ist sehr wichtig. Hier fällt die rituelle Videopraxis besonders ins Auge, die Johanna anhand des Beispiels Sinn und Sinnlichkeit erwähnt, einen Film, den sie an die 20 Mal gesehen hat. Diese Äußerungen korrespondieren mit den Äußerungen über den Film Seite an Seite vom Anfang des Interviews. Auch dieser Film war zum Gegenstand von Videopraxis geworden. Im Blick auf Romane und Sachbücher liegt ein Schwerpunkt bei der Freiheitsthematik. Diese Beobachtung korrespondiert mit der Kontingenzthematik, die sich als Schwerpunkt der aktuellen Lektüren abgezeichnet hatte, benennt gewissermaßen den anderen Pol dieser Spannung zwischen Freiheit und Schicksal, Gestaltung und Kontingenz. Der thematische Focus, der sich anhand der Filmerfahrungen zeigt, ist hingegen konkreter konturiert: Er ist von der Frauenfrage bestimmt. Auch diese bewegt sich allerdings, und hier scheint so etwas wie ein roter Faden der thematischen Interessen von Johanna deutlich zu werden, in dem weiten Horizont der Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Existenz zwischen Geworfensein und Entwurf, zwischen dem kontingent Gegebenen und dem selbstbestimmt Gestaltbaren, zwischen Schicksal und Freiheit. Die tendenziell negative Qualifizierung der Seite des kontingent Gegebenen und Sich-Ereignenden in den von Johanna hervorgehobenen Medienerzählungen lässt den Kontingenzbewältigungsaspekt in den Vordergrund dieser Thematik treten. Nachfragen Im letzten Teil des Interviews führt Johanna aus, dass die Bücher immer Priorität für sie hatten, im Studium waren sie besonders präsent. Wenn sie einmal eine Zeit lang nicht recht zum Lesen kommt, merkt sie „spätestens nach einem halben Jahr, es fehlt einfach.“ Dann steht sie „richtig dürstend vor Buchhandlungen“. Fernsehen hat die Funktion des Abschaltens, Videos sieht sie vermehrt, wenn sie zu wenig Zeit hat, Bücher zu lesen; sie bevorzugt dann Literaturverfilmungen von Klassikern „um wenigstens mal zu wissen, um was es da in dem Ganzen geht.“ Auch hinsichtlich der Intensität stehen Bücher für Johanna an erster Stelle. Sie haben ihr die „meisten gedanklichen Anstöße“ vermittelt, nicht zuletzt die Sachbücher, die sie während des Studiums gelesen hat. Filme hätten selten vergleichbar auf sie gewirkt, das Fernsehen „fast gar nicht“. Hilf194

reich sei ihr der Film Seite an Seite manchmal gewesen. Johanna erläutert: „Aber früher merkte ich, wenn es irgendwo schwierig war, dass ich mich hingesetzt habe und den Film geguckt habe und dadurch einfach mal neue Ideen gekriegt hab, einfach getröstet war, dass es anderen auch so geht.“ Die medienreligiöse Videopraxis hat hier eine seelsorgerliche Trostfunktion. Diese Äußerung pointiert auch noch einmal die vorherigen Äußerungen zu Johannas Videopraxis im Zusammenhang der Filme Seite an Seite und Sinn und Sinnlichkeit. Neben anderen Funktionen (Ersatz für zeitaufwendige Lektüren, ästhetischer Genuss, Anregungen für das eigene Leben) scheint die Videopraxis auch eine ganz basale tröstende Kontingenzbewältigungsfunktion für Johanna zu haben: Es ist für Johanna schlicht tröstlich zu sehen, „dass es anderen auch so geht“, dass andere auch ähnliche Probleme mit ihren Kindern, Trennungen und neuen Partnerschaften haben, wie Johanna sie aus ihrem eigenen Alltag kennt. Beim Lesen theologischer Bücher sei es immer ein „Highlight“ gewesen, wenn der Autor „ähnliche Gedanken hatte wie ich“. Auf die Frage, warum sie eigentlich nach bedeutsamen Leseerfahrungen gefragt keine theologischen Bücher genannt habe, äußert Johanna Verwunderung und zählt einige Titel auf, die sie auf diese Frage ihrer Meinung nach eigentlich hätte nennen müssen. Dass sie sie nicht zur Sprache gebracht hat, führt Johanna darauf zurück, dass diese Bücher in die Rubrik ‚Studium und Arbeit‘ gehörten. In ihrem aktuellen Medienalltag haben auch die Bücher mehr eine Unterhaltungsfunktion, dementsprechend liest sie vor allem Romane und Krimis: „Und es ist dann auch so ein Abtauchen, wie ich beim Herrn der Ringe gesagt habe, einfach in ’ne andere Welt rein.“ Bei Gesprächen über ethische oder religiöse Themen bezieht sich Johanna am stärksten auf Bücher aus ihrer Studienzeit. Selbst zu schreiben, war für Johanna immer wichtig. Es war immer dann besonders hilfreich, wenn es ihr schlecht ging oder wenn sie in konflikthaften Beziehungen Stellung nehmen wollte. Zu ihren ethisch, religiös und weltanschaulich prägendsten Erfahrungen zählt Johanna an erster Stelle den Kindergottesdienst. Sie habe immer gern Geschichten gehört und kann sich sogar an die allererste Geschichte erinnern, die ihr in diesem Zusammenhang erzählt worden ist: die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Verbindung zu Bibel und Kirche hat sich in der Jugend mit einem „tollen Bibelkreis“ fortgesetzt. Später hat Johanna ein soziales Jahr in einer Kirchengemeinde absolviert, dem sie prägende Erfahrungen zuschreibt. Diese positiven Erfahrungen und die Argumente eines Pastors haben sie dann motiviert, das Studium der evangelischen Theologie aufzunehmen. In diesem Abschnitt des Interviews fiel mir auf, dass Johanna die prägenden Bibel-Erfahrungen in der Kindheit und in der Jugendzeit im Zu195

sammenhang meiner Frage nach Schlüssellektüren dieser Phasen gar nicht erwähnt hatte. Warum? „Ich glaube, ich weiß, was das ist, das sind die Bücher, die ich irgendwie vergeistigt habe, um es mal so zu sagen: das ist für mich kein Buch mehr, das sind Geschichten in meinem Kopf.“ Johanna erläutert: Und vielleicht weil ich es nie so übers Lesen so mitgekriegt hab, sondern mehr durch Erzählen und so. Dass es für mich dann nicht unbedingt ein Buch ist. Ich merke nämlich, dass ich zur Bibel als Buch dann wieder ein sehr distanziertes Verhältnis habe, teilweise. Also, wo es mir sehr schwer fällt, Sachen am Stück zu lesen, weil dann sofort alles widerstreitet. Während die Geschichten, die Geschichten, die ich im Kopf hab, die sehr wohl aus der Bibel kommen, sind für mich was anderes. Das fällt mir aber auch erst jetzt so im Gespräch auf.

Ähnliches gelte für manche Gestalt der Kirchengeschichte (Luther, Abälard usw.). Diese Gestalten seien durch lebendigen Vortrag, durch Diskussionen und Gespräche „so sehr vergegenwärtigt“, dass Johanna auch von „lebenden Gestalten“ sprechen kann und die vom Interviewer zur Beschreibung dieser mentalen Präsenz vorgeschlagene Kategorie „innerer Film“ mit Zustimmung aufgreift. Gesamtinterpretation Zunächst fällt Johannas Videopraxis ins Auge, hier insbesondere die seelsorgerliche Funktion des Films Seite an Seite, mit dem sie einschneidende eigene Erfahrungen verbindet und den sie sich in Krisensituationen immer wieder angesehen hat, um auf neue Ideen zu kommen und sich getröstet zu fühlen. Bemerkenswert ist im Zusammenhang von Johannas Videopraxis weiterhin, dass sie die „schöne Sprache“ als für sich wesentliches Qualitätskriterium ihrer Videofavoriten hervorhebt. Funktional betrachtet erscheint jedoch die Kontingenzbewältigungsfunktion als dominantes Moment ihrer Erfahrung mit dem Film Seite an Seite und mit anderen Filmen (u.a. Birdy). Diese Thematik bildet auch einen Schwerpunkt in Johannas Lektüreerfahrungen. Bücher stehen dabei für sie generell an erster Stelle, ihre besondere Vorliebe gilt den großen russischen Romanen. Im Blick auf den Kinofilm führt Johanna aus, dass sie mit zunehmendem Alter gezielter ins Kino gegangen ist und sich in ihrem Erwachsenenleben verstärkt nachdenklichen Filmen zugewandt habe, „um sich mit einem Thema auseinander zu setzen“. Das Fernsehen hat demgegenüber primär die Funktion des Abspannens, der Unterhaltung. Eine im Blick auf ihre Erfahrungen mit Büchern besonders interessante Wendung nimmt das Interview ganz zum Schluss, wo Johanna ihr Verhältnis zu biblischen Geschichten erläutert. Weil die Rezeption dieser Texte 196

durch das Erzählen im Kindergottesdienst und später durch das Gespräch im Bibelkreis performativ vermittelt war, haben die Figuren und Geschichten eine ganz andere Präsenz in Johannas Kopf erlangt als das nur Gelesene, so dass ihr dieser Bereich der Bucherfahrung im Zusammenhang der einschlägigen Fragen gar nicht in den Sinn gekommen war. Johanna spricht von „lebendigen Gestalten“ und einem „inneren Film“. Die performative Vermittlung evoziert offenbar Imaginationen von besonderer Lebendigkeit und Präsenz. Es scheint, als habe die mündlich erzählte Geschichte ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit, als treffe die imaginative Rückerstattung des Lebens auf weniger Hindernisse als beim Lesen. Generell scheint die Interviewte ein starke Imaginationsfähigkeit zu haben, ihre Rede vom „Abtauchen“ bei der Lektüre von Krimis, Romanen oder Fantasy-Geschichten deutet darauf hin. Waren die Erfahrungen mit den Erzählungen der Bibel intensiv in einem positiven Sinne, so bleibt Johannas Verhältnis zur Institution Kirche ambivalent. Religiös zu sein, bedeutet für sie „gläubig in der Ausdrucksform einer Religion“ (Fragebogen) zu sein. Es fällt hier auf, wie stark diese Erläuterung die individuelle Religiosität an die kulturelle Religionssemantik knüpft, die ja wiederum eng mit der Institution vernetzt ist, der gegenüber Johanna Vorbehalte hat. Aus welchen Erfahrungen sich diese Vorbehalte, diese negative Seite der Ambivalenz gegenüber der Institution Kirche speisen, wird jedoch nicht recht deutlich. Johanna sah jedenfalls nach ihrem Theologiestudium eine große Diskrepanz zwischen ihrer persönlichen Religiosität und der Institution Kirche, die sie von einer Fortsetzung der theologischen Ausbildung nach dem Studium abhielt. Offenbar hat Johanna große Ängste vor einem Verlust ihrer Autonomie. Diese Thematik klingt in ihren Äußerungen zur Freiheitsthematik wiederholt an. Die Freiheitsthematik ist wiederum eng mit der Frauenfrage verknüpft und auf das religiöse Zentralproblem der Kontingenz bezogen. Die Kontingenzproblematik bildet dabei einen inhaltlichen Faden, der sich durch Johannas Erfahrungen mit Büchern und Filmen hindurchzieht und auf unterschiedliche Weise immer wieder eine zentrale Rolle in den jeweiligen Büchern und Filmen und ihren Rezeptionen durch Johanna („Lebensborn“Buch, Birdy, Hair, Anna Karenina, Der stille Don, Die Verwandlung, Die Brüder Karamasow usw.) spielt. Die Präsenz der Kontingenzproblematik erinnert an Detlev Pollacks Bestimmung des Religionsbegriffes (s.o. 2.2.1.3), in der Pollack die „Kontingenz- und Sinnproblematik“ als zentrale Bezugsproblematik des Religiösen benennt. Religion zeichnet sich nach Pollack näherhin dadurch aus, dass die Bearbeitung des religiösen Bezugsproblems der Kontingenz durch eine Verbindung von Immanenz und Transzendenz stattfindet. Mit Transzendenz meint Pollack allerdings in 197

erster Linie große Transzendenz. Im strengen Sinne des Pollackschen Begriffes läge also in Johannas medienbezogenen Kontingenzreflexionen keine Religion vor. Von einer religiösen Valenz lässt sich hier nur im Horizont der weiten Luckmannschen Sichtweise sprechen. 2.1.2 Lebenssteigerung Stefan: Ästhetische Lebenssteigerung in kunstreligiöser Perspektive Biographische Daten, religiöse Orientierung, Mediengebrauch, Situation Stefan ist zum Zeitpunkt des Interviews 35 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er lebt in einer westdeutschen Kleinstadt, hat im Fach Kulturwissenschaften promoviert und arbeitet als freier Journalist und Wissenschaftler. Er gehört zu den über den Freundeskreis des Autors gewonnenen Interviewpartnern. Das Interview wurde am 31. März 2003 im Arbeitszimmer des Autors geführt. Es war das erste Interview, in dem der nun auch weiterhin verwendete und im Mittelteil an der biographischen Chronologie orientierte Leitfaden zum Einsatz kam. Stefan ist Mitglied der evangelischen Kirche, bezeichnet sein Verhältnis zu ihr aber als distanziert. Er bezeichnet sich selbst als religiös und beschreibt seine Religiosität als „Glaube an eine Kraft hinter den sichtbaren oder diskursiv zugänglichen Dingen“. Seine Medienvorlieben sind Bücher. Stefan geht nach eigener Einschätzung ungefähr zehn Mal im Jahr ins Kino, verbringt dem Kurzfragebogen zufolge keine Zeit mit dem Fernsehen – im Interview stellt sich dieser Aspekt seines Medienumgangs noch einmal anders dar – und verbringt etwa eine Stunde am Tag mit Sachbüchern oder Romanen. Während des Interviews stellte ich bei mir selbst gelegentlich eine gewisse Ungeduld wegen der vielen Exkurse und Abschweifungen fest. Rekonstruktion und Interpretation des Interviews Das Interview mit Stefan zeigt eine im wesentlichen in der Auseinandersetzung mit Medienerfahrungen, insbesondere mit Lektüren und Filmerfahrungen, ausgebildete ästhetische Religiosität. Durch Medienerfahrungen fokussierte ästhetische Lebenssteigerung, ästhetische Wahrnehmung der Transzendenzbezogenheit menschlicher Existenz, wird von Stefan zudem – und da geht er über die in den anderen Interviews beobachteten Praktiken und Sinnperspektiven ästhetischer Lebenssteigerung hinaus – im Rahmen eines auch explizit religiös semantisierten Horizontes gedeutet. Daneben und darüber hinaus trägt das Interview noch eine Vielzahl weiterer Gesichtspunkte zum Thema der Untersuchung bei. 198

Aktuelle Medienerfahrungen Der letzte Film, den Stefan gesehen hat, war der Dokumentarfilm Bowling for Columbine. Er habe auch etwas mit seinen Erfahrungen zu tun gehabt, weil er zeitweise ein gewisses Faible für Waffen gehabt habe. Insgesamt fand er den Film jedoch eher enttäuschend, verbreitete Klischees über Amerika reproduzierend. Ansonsten sei Stefan in letzter Zeit aus Zeitgründen kaum im Kino gewesen und der letzte Film, der ihn stärker beeindruck habe, liege schon etwas länger zurück. Es handelt sich, wie Stefan dann ausführt, um den Film The Thin Red Line, einen Antikriegsfilm, den er 1999 in Paris gesehen hat. Auf meine Bitte hin, seine Erfahrung mit The Thin Red Line noch etwas genauer zu beschreiben, führt Stefan aus, dass der Film die Geschichte einer Invasion einer von Japanern während des Zweiten Weltkrieges besetzten Pazifikinsel durch die Amerikaner erzählt und dass der Film so stark auf ihn gewirkt habe, weil er das Kriegsgeschehen sehr eindrucksvoll mit ästhetischen Naturaufnahmen kontrastiert habe. Stefan berichtet: Aber es war wirklich so, es war ganz langsam und gleichzeitig gab es so eine Ebene irgendwie der Denkpräsenz. Also eine Form von ganz greifbarer, fühlbarer Poesie der Wirklichkeit an der Schwelle zum Tod. Gewissermaßen dieser Blick, dieser Zeitlupenblick, von dem immer berichtet wird, dass sich also in dem Augenblick, in dem alles vorbei sein kann, alles noch mal ganz besonders beleuchtend färbt. Und diese Poesie hat mich so was von überwältigt.

Wenig später fährt Stefan fort: „Aber ich war hinterher, das ist das, was ich so ein paar Dutzend Mal nach Kinofilmen erlebt habe, irgendwie nach Kunst überhaupt oder auch nach Kinofilmen, dass ich so richtig aufgeweicht war und mir auch Sachen einfielen und so.“ Auf meine Bitte hin, diese durchlässig machende Wirkung noch präziser zu beschreiben, führt Stefan weiter aus: Aus meiner Perspektive war es sicherlich so, das, was dieser Film geschafft hat, war eine Form von sinnlicher Gewahrwerdung seiner selbst, aber auch der umgebenden organischen Natur, das herauszustellen und das also gewissermaßen slow motionmäßig langsam zu vergrößern. Also Zeitlupe auch so richtig als Lupe. Ich weiß nicht, ich kann das nicht nachvollziehen, das ist, glaube ich, auch eine poetische Verklärung. [...] Es war diese Extremsituation/Grenzsituation Krieg und gleichzeitig muss man das auch machen als Kunstmittel, und die Kunst erschließt gewissermaßen, den Alltagsschleier zerreißend, und dahinter war dann auch ein Leuchten. Das ist auch so in diesen Background-Romanen, es war so dieses: all things shining. Also das war irgendwie eine Form poetischer Emanation, die so stark war in diesem Film.

Stefan beschreibt seine Filmerfahrung mit Hilfe eines religiös-ästhetischen Vokabulars auf eine Art und Weise, die ihre Intensität äußerst anschaulich 199

widerspiegelt. Er spricht von einem Zerreißen des Alltagsschleiers und einem dadurch sichtbar werdenden Leuchten, von einer „poetischen Emanation“ und von einer „poetischen Verklärung“, von „fühlbarer Poesie [...] an der Schwelle zum Tod“, die ihn „überwältigt“ habe, eine Erfahrung, die er mit manchen Kinofilmen und Kunstwerken gemacht habe und die mit einer gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit und Durchlässigkeit nach innen wie nach außen einhergehe, mit „sinnlicher Gewahrwerdung seiner selbst, aber auch der umgebenden organischen Natur“. Er lobt zugleich die Inszenierung und die schauspielerische Leistung und berichtet, dass er sich nach dem Kinobesuch „eine ganze Menge hinterher noch aufgeschrieben“ habe. Augenfällig ist das Ineinander von ästhetischen und religiösen Dimensionen in dieser Erfahrung, die sichtbarmachende Funktion der Kunst, die einen Schleier zerreißt und eine Intensivierung der Wahrnehmung bewirkt, die die transzendente Tiefendimension der Wirklichkeit wahrnehmbar macht. Stefan erläutert: „Aber diese intensivierte Wahrnehmung schien mir doch etwas zu zeigen, was ich selber aus zeitintensivierter Wahrnehmung kenne und was mir durchaus irgendwie in gewisser Weise ein Blick auf ein Dahinter war. Also das war ein ganz metaphysischer Film.“ Stefan erläutert die in seinen Augen metaphysische Dimension des Films noch genauer: Das würde ich, weil es ja ein Film war, Bilder, Töne und Bewegung, würde ich das als ein jenseits der Sprache befindliches Zeigen von Dingen, Verhältnissen und Seelenverhältnissen beschreiben, das in dieser Geste etwas gleichgekommen ist, was ich auch kenne und empfinde. Ich kann das jetzt schlecht erklären, weil, ich erinnere mich schlecht daran, aber ich weiß auch nicht mehr, was genau, es ist immer noch ein bisschen das Wie, was ich dir beschreibe und nicht das Was. Das hatte was zu tun damit, wie der Wert irgendwie erst in der Abwesenheit wirklich gespürt wird oder dass Wert erst in Abwesenheit erscheint oder so. Diese Verkopplung von Kostbarkeit und Prekärem die wurde dort stark, die ich auch selber so empfinde.

Die Bedrohungserfahrung durch den Krieg steigere die Intensität der Werterfahrung, der Kontrast möglicher Vernichtung lässt die Bedeutsamkeit des Daseins zur Geltung kommen. Die von Stefan beschriebene Erfahrung mit dem Film The Thin Red Line bietet eine Fülle von Anknüpfungspunkten für ästhetische und religionshermeneutische Interpretationen im Horizont der ästhetischen und religionstheoretischen Debatten der Gegenwart. Ich will hier nur die aus meiner Sicht wichtigsten Perspektiven andeuten, um im Rahmen der Gesamtinterpretation dann noch einmal auf diese Thematik zurückzukommen. Ich beginne mit der Veränderung der Zeiterfahrung, die Stefan beschreibt. Die Rede von „Denkpräsenz“ und von einem „Zeitlupenblick“ macht deutlich, dass es sich um eine Art von Erfahrung handelt, die ganz auf den Augenblick konzentriert ist, auf das Hier und Jetzt des sinnlichen Ereignisses, das erfahren wird. Diese 200

Gegenwartsorientierung ist nach Martin Seel ein zentrales Merkmal der ästhetischen Erfahrung, zeichnet sich diese doch gerade durch ein vollzugsorientiertes Verweilen im Hier und Jetzt der Wahrnehmung selbst aus.7 Dieter Mersch spricht im Blick auf diesen Gegenwartscharakter der ästhetischen Erfahrung und das in diesem sinnlichen Ereignis Sichzeigende auch von einer „nichttheologischen Transzendenz“.8 Mersch wird nicht müde, diesen nichtreligiösen Charakter der aisthetisch erfahrbaren Transzendenz zu betonen: „Noch einmal sei erwähnt, dass es sich nicht um die Annahme eines Außen, dem ein religiöses oder theologisches Attribut zugedacht werden kann, handelt, sondern um das, was als die Unaufhörlichkeit oder Unendlichkeit des Ereignisses eines (Sich)Zeigens zu exponieren wäre, dessen ununterbrochenes Zuvorkommen zugleich die irreduzible Vorgängigkeit einer Alterität behauptet, dessen primäre Gabe nicht wieder durch die Logik des Sekundären, der Verspätung eingeholt werden kann, auch wenn sie ohne Vermittlung dieser nicht aufzuweisen wäre.“9 Die Nähe zum Religiösen ist allerdings evident und zeigt sich auch in den Formulierungen, die Mersch gebraucht, um den Alteritätscharakter der ästhetischen Erfahrung zu beschreiben, unter anderem, wenn er davon spricht, dass sich das Sichzeigen „im Kommen, der An-Kunft als Offenbarung“ enthüllt.10 Es ist von dieser intensivierten Wahrnehmung der immanenten Transzendenz im Modus des Ästhetischen nur ein kleiner Schritt zur religiösen Interpretation dieser Erfahrung. Dieser Schritt deutet sich in Stefans Beschreibungen seiner Erfahrungen mit The Thin Red Line schon an, wenn er von einem „Dahinter“ spricht und von einer „ganz metaphysischen Erfahrung“, wird allerdings erst später im Zusammenhang der Äußerungen über Stefans Jonas-Lektüre explizit vollzogen. An dieser Stelle changiert Stefans Beschreibung zwischen ästhetischen und religiösen Kategorien, zwischen einem „jenseits der Sprache befindlichen Zeigen von Dingen“ und einer metaphysischen Qualität, also einer auf Ganzheit ausgreifenden Interpretation. Im Zusammenhang der Fragen zum Komplex Buch erwähnt Stefan zunächst, dass er in letzter Zeit viele Kurzgeschichten gelesen habe und führt generell aus: „Ich glaube alle Sachen, alle Kulturprodukte, die mich bewegen und beeindrucken, die haben ganz viel mit mir zu tun. So funktioniert meine Rezeption und das andere lässt mich dann auch kalt und das kann ich auch nicht lesen und das will ich auch nicht.“ Im Weiteren Verlauf erläutert Stefan zunächst seine Vorliebe für den amerikanischen Autor Richard Ford und seine Sympathie für dessen Helden: 7 Martin Seel, Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderzeiten ästhetischer Wahrnehmung, in: Birgit Recki/Lambert Wiesing, Bild und Reflexion, München 1997, 29ff. 8 Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, 37. 9 Ders., Materialität, 405. 10 Ders., Materialität, 37.

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Dieser Held da in diesen beiden dicken Büchern, das ist so ein Typ, der irgendwie ein paar auf die Backe gekriegt hat vom Leben und hat aber auch Glück gehabt. Also nicht pleite, hat irgendwie Geld, gleichzeitig ist er so ein bisschen angeschmiert. Und das ist eine Mischung, mit der identifiziert man sich gerne, weil man in dieser Identifikation gleichzeitig Geld hat, aber auch sein Versagen ausleben kann.

Fords Held ist offenbar vom Leben gezeichnet, hat „ein paar auf die Backe gekriegt [...] vom Leben“, musste mit Kontingenzerfahrungen umgehen, hat aber auf der anderen Seite auch Glück im Unglück gehabt. Die Auseinandersetzung mit Kontingenzerfahrungen ist, das zeigt sich auch im Interview mit Stefan, wichtig, ist offenbar ein zentrales Merkmal für Lebensnähe und Bedeutsamkeit von Medientexten. Was Medientexte über diese Lebensnähe und die darin enthaltene Grunderfahrung der Kontingenz hinaus für Stefan interessant machen, beschreibt er am Beispiel des Autors Chandlers genauer: Was mich daran fasziniert, ist diese Luzidität, das Auf-Den-Punkt bringen von etwas, was ich durchaus auch kenne. Was ich kenne, was ich aber nicht so verbalisiert habe. Wobei als Zwischenresümee glaube ich, wäre das schon mal so ein Kriterium, gewissermaßen das Ans-Licht-Heben von etwas, von dem ich zumindest vage spüre, dass es vorhanden ist, für was ich aber bisher keine Ausdrucksform gefunden habe. [...] Ich finde es aber immer gut, wenn ich selber spüre, wenn etwas in mir drin war und sogar vielleicht etwas in mir drin war, was ich gar nicht gewusst habe, vielleicht sogar gerade dann plötzlich eine Form gefunden hat. Das ist eigentlich das Erlebnis. Und wenn ich sage präzise, dann ist das sehr genau. Wenn da Sätze drin sind, wo ich wirklich das Gefühl habe, das ist jetzt eine absolute Metapher eines Erlebnisses oder einer Situation.

Es sei eine Mischung aus Wiedererkennen und der Erfahrung von etwas Neuem. Man müsse schließlich schon etwas kennen, um überhaupt verstehen zu können. Absolute Fremdheit entzieht sich dem Verstehen. Stefan findet zur Erläuterung dieser Zusammenhänge ein sprechendes Bild: Es ist etwas Vorbekanntes in einer unerwarteten Form ausgebildet, so dass ich es betrachten kann. Also, es ist gewissermaßen, es hat so ein bisschen den Effekt – vielleicht kann man sich das so vorstellen: Ich gehe zum Friseur, habe einen tollen Friseur, ein großes Naturtalent, der mich sieht und der sagt, warte mal ab. Dann macht er schnipp, schnipp, schnipp und ich sehe mich im Spiegel und stelle fest, oh, habe ich auch noch das Potential eines Alain Delon, eines wie auch immer, in mir. So was vielleicht. Also ich würde sagen, es ist durchaus für mich. Ich empfinde das ein bisschen individuell und ich komme mir da ein bisschen konservativ vor. Es ist Wiedererkennung, aber es ist nicht nur Wiedererkennung. Es ist auch Neuerkennung.

Literatur vermittle die Erfahrung von Verfremdung und Wiedererkennen zugleich. Stefan: „Das Schlagende ist, und das ist ja nun auch wieder trivial, dass man das Gefühl hat, das könnte ja von mir sein.“ 202

Stefan beschreibt in seinen Äußerungen über seine aktuellen Lektüreerfahrungen sehr genau und plastisch, welche Funktion Literatur im Prozess des Selbstverstehen und der Selbstgestaltung, also in dem Prozess der – um es mit einer Formulierung Heiner Keupps zu sagen – „Identitätsarbeit“11 haben kann: Sie verhilft zu Formulierungen von etwas, was vorbekannt oder zumindestens vage gespürt schon vorhanden ist oder war. Dieser Vorgang hat klärende und perspektivierende Komponenten: Es geht zum einen um ein „Auf-Den-Punkt-Bringen“ und „Ans-Licht-Heben“ von schon mehr oder weniger Bekanntem, zum anderen aber auch um „Neuerkennung“ und um die Entdeckung von so noch nicht Gesehenem. Stefans Theorie der literarischen Identitätsbildung, an späterer Stelle spricht er von seiner „Privat-Poetik“, entspricht in den benannten Grundzügen ziemlich genau den Überlegungen von Paul Ricoeur zum Zusammenhang von Narration und Identität. Für Ricoeur hat die Lektüre vor allem zwei Funktionen: Selbsterkenntnis und – noch wichtiger – Neugestaltung des Selbst.12 Bei Ricoeur wird auch noch einmal deutlich, dass identitätsbildende Selbstauslegung ganz grundsätzlich auf die Vermittlung durch kulturelle Symbolisierungen angewiesen ist. Ricoeur: Die Neugestaltung (refiguration) dank der Erzählung offenbart einen Aspekt der Selbsterkenntnis, der bei weitem den Rahmen der Erzählung überschreitet: Das Selbst erkennt sich nicht unmittelbar, sondern nur indirekt, über den Umweg über verschiedenste kulturelle Zeichen.13

Stefan hatte mit Hilfe seines Friseurbildes plastisch und treffend beschrieben, wie dabei neue Perspektiven ins Spiel kommen. Ricoeurs theoretische Beschreibung kann diesen Vorgang verdeutlichen: Sich eine Figur durch Identifikation aneignen, bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so zu imaginativen Variationen des Selbst werden. Durch dieses Spiel bestätigt sich das berühmte Wort von Rimbaud (das mehr als einen Sinn hat!): Je est un autre, ich ist ein anderer.14

Die Lektüre kann dann, um wieder auf Stefans Beschreibung zurückzukommen, zur Entdeckung des Alan Delon in mir als einer Variation des anderen in mir selbst führen – ein Friseurbesuch mit unerwartetem Ausgang gewissermaßen. Es lohnt, schon an dieser Stelle einen knappen Vergleich der Film- und Lektüreerfahrungen von Stefan anzustellen. Es zeigen sich nämlich auch 11 Keupp u.a., Identitätskonstruktionen, 60ff. 12 Paul Ricoeur, Narrative Identität, in: Heidelberger Jahrbücher 31, 1987, 57–67, bes. 63ff. 13 Ders., Identität, 65. 14 Ders., Identität, 66.

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hier wieder deutliche Differenzen in der Rezeption von Film und Buch. Während der Film durch sein visuell-präsentatives Entgegenkommen stärker den Ereignischarakter des sichzeigenden Lebens in einer ästhetisch gesteigerten Wahrnehmung zu Bewusstsein bringt, seinen Widerfahrnischarakter und seine immanente Transzendenz im Zuvorkommen und darin auch seine Alterität und Fremdheit, so scheint das belletristische Buch im Unterschied dazu vor allem zu den Prozessen des Selbstverstehens und der Selbstgestaltung beizutragen. Der Film vermag also vor allem zu zeigen, jenseits des Sagens, das Buch hingegen wird im Selbstgespräch zum Sprechen gebracht, als ein Medium des Sagens. Dadurch, dass ein Buch mehr mentale Investition verlangt, um zum Sprechen und Aussagen gebracht zu werden und zugleich zu einem inneren Film umgesetzt zu werden, mehr Investition als ein Kinofilm, dessen Bildererzählung sich schon sinnlichanschaulich präsentiert, sich zeigt, hat das Lesen mehr Nähe zum aktiven Selbstausdruck. Es animiert zum Schreiben. Nicht jeden und nicht immer. Aber im Fall von Stefan wird diese Nähe umgehend deutlich, wenn er vom Lesen auf das Schreiben kommt und davon berichtet, dass er „Selbsterkundungsaufsätze“ schreibe. Stefan habe dabei „Mini-Hierophanien“ gehabt: „Weil ich wirklich viele dieser Erlebnisse gehabt habe, dass sich mir da etwas erschlossen hat, also so Mini-Hierophanien, also nicht nur im Wald und am Meer. Und ich habe die immer als Momente der Transparenz erlebt. Transparenz des Existierens.“ Das Fernsehen spielt in Stefans Leben eine marginale Rolle, manchmal sehe er etwas, weil seine Frau den Fernseher eingeschaltet habe, manchmal einen Spielfilm wie zuletzt Der Soldat James Ryan. Generell bleibe das Gefühl der „verlorenen Zeit“ zurück. Kindheit Stefans erste Kinoerfahrung war der Besuch des Zeichentrickfilms Bambi mit seinem Vater im Alter von sechs oder sieben Jahren. An den Inhalt kann sich Stefan kaum erinnern, dafür aber an die beeindruckende Gesamterfahrung: Aber ich erinnere mich an mein Erstaunen, dass das so groß war und so süffig und so üppig und der Ton samtig und so durch mich durch ging und ich hatte glaube ich auch Zeichentrick noch nicht gesehen. Das fand ich auch ganz toll, prall. Ich erinnere mich, dass das so richtig mutterschoßmäßig war.

Bemerkenswert hier: Die starke Einheitskomponente dieser Erfahrung. Sie blieb jedoch, jedenfalls in der Kindheit, eine Ausnahme, weil Stefans Eltern so gut wie nie ins Kino gegangen seien. Das Kino galt ihnen als minderwertige Unterhaltungskunst. Was das Lesen angeht, so sei Stefan in seiner Kindheit ein, wie er sich ausdrückt, „Abenteuerbücher-Lesejunge“ gewesen, der unter anderem viele 204

Karl May-Bücher gelesen habe, sich mit Old Shatterhand „voll identifiziert“ habe und in diesen Karl May-Kosmos mit Haut und Haaren eingestiegen sei. Das Fernsehen war demgegenüber in der Kindheit vor allem ein „Unterhaltungsmedium“. Nicht ohne traumatische Aspekte allerdings: Auf den schockierenden Eindruck durch Bilder eines sich überschlagenden Autos in einem Kriminalfilm hin erteilte die Mutter zeitweises Fernsehverbot. Bezeichnend für die Fernseherfahrungen von Stefan ist darüber hinaus der rituell-alltagsstrukturierende Aspekt: nachmittags „immer, so um 17.20 Uhr“ habe er amerikanische Slapstick-Filme gesehen, am Donnerstag um 16.40 Uhr Wickie. Jugend In der Jugendzeit wurde dann am Wochenende oder an Feier- und Festtagen mit der ganzen Familie Fernsehen gesehen: „Der dicke Film. Und das ist zum Beispiel gewesen: Der Graf von Monte Christo. Dieser Film hatte eine irritierende und ängstigende Wirkung auf Stefan. Und dann fiel ich aber wieder zurück in die sichere Geborgenheit meiner Kindheit und dachte mir, aber nein, Gott sei Dank bin ich ja hier, hier ist alles gut, alle verstehen sich, es gibt keine Probleme, ich bin gesund, das ist alles okay. Und verschwand wieder in diesen Kokon, den ich mich auch lange zu verlassen geweigert habe. Aber das war etwas, an was ich mich auch immer erinnern werde. Aber das war durch diesen Film motiviert.

Generell waren in der Jugend auch wieder Bücher am wichtigsten, damit habe sich Stefan „ganze Nachmittage verzogen“ und das „sehr genossen“. Abenteuerromane waren wichtig, darunter Seekriegsromane. Ein Schlüsselerlebnis war die Lektüre von Hemingways Wem die Stunde schlägt im Alter von 14. „Das war der Hammer.“ Daraufhin habe Stefan Schriftsteller werden wollen (hier zeigt sich wieder die enge Bezogenheit von Lesen und Schreiben, die bei Stefan ganz deutlich zum Ausdruck kommt). Besonders beeindruckt hat ihn, dass in diesem Buch „Weltbruchstücke zusammengefügt worden sind“. Er konnte sich selbst in vielerlei Hinsicht in diesem Buch wiedererkennen: im Blick auf Fragen der Männlichkeit, der Liebe, der Sexualität. Stefan sei es in dieser Zeit „richtig schlecht“ gegangen, er hätte einen Tutor brauchen können, um das Herausfallen aus „dem Behütetsein“ zu bewältigen. Die durch Hemingway inspirierte Praxis des Schreibens, die damals begonnen habe, sei auch eine Form gewesen, um diese Erfahrungen des „Leidens am Nichts, an der Welt“ zu bearbeiten. Stefan: Also als ich aus dem Behütetsein rausfiel, als ich dann nicht mehr zurückschlüpfen konnte, einer Erfahrung, der man nur dadurch begegnen kann, indem man sie gestaltet in sprachlicher Form. Das war das Gefühl, deswegen musste ich das auch machen. Mittlerweile würde ich das anders sagen, ich würde weniger das Kompensatorische

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als das Ästhetische, das geglückte Neue, der geglückte neue Funke, den würde ich stärker bewerten als dieses im Sagen Bannen. Das ist die klassische pubertäre Selbsterfahrung, die Schreiberei, die dann irgendwie einsetzte. Das war einigermaßen früh und das war auch ab da mit meinem Lesen. Und ich habe mir dann versucht, mir die Autoren zu suchen, die das genährt haben und wo ich mich widerspiegeln konnte und wo ich auch letztlich meine rudimentäre Jugend-Metaphysik erweitert fand.

An Hemingway habe ihn auch dieses Durchhaltevermögen und diese Leidensfähigkeit fasziniert: „to live with pain“ und das „Ich halte durch bis zum Ende, indem ich Tequila Sunrise trinke“. Generell hätten ihn Bücher stark beeindruckt, manchmal schockiert wie Texte von Kafka oder den Bronte-Schwestern. Wichtig sei auch die Auseinandersetzung mit dem Thema der Männlichkeit gewesen, ein Thema, das von den Pflichtlektüren in der Schule nicht aufgegriffen wurde: Ich hatte dann meine eigenen harten Kameraden, so Männer, schreibende Männer, die viel tranken dabei. Das stand auch ein bisschen konträr zu dem, was wir in der Schule gemacht haben zu der Zeit. Zu dem Kanon, das fand ich völlig belanglos, das hat mich nicht ausgedrückt.

Es wird hier besonders deutlich, wie stark Stefans Lektüreinteressen von seinen jeweiligen biographischen Problemlagen bestimmt sind. Hemingway passte dabei zum einen zum Thema Männlichkeit, zum anderen korrespondierte seine Predigt der Härte und des Zähnezusammenbeißens auch mit der generelleren Thematik des Erwachsenwerdens und seiner Abschiedsschmerzen. Nach Hemingway sei eine Knut Hamsun-Zeit gekommen und danach eine Richard Ford-Zeit. Eine „Hermann-Hesse-Unterzeit“ habe es auch gegeben. Besonders intensiv war jedoch die Begegnung mit Hamsun. Ihre Intensität habe zu tun mit der „Poetik des Findens, die ich ja vorhin schon beschrieben habe“. Hamsun habe auch dazu gedient, „ein Instrumentarium des Fühlens zumindest einmal anzugucken, wenn nicht anzueignen“. Hamsuns Poesie habe die Dinge verzaubern können, der Erfahrung eine Bedeutung verliehen, „für die es sich zu leben lohnt“. Wichtig ist, dass Stefan sich mit den Helden identifizieren kann, denn „wenn ich die Helden unsympathisch finde, habe ich auch keinen Bock, was zu lesen“. Die Kinoerfahrung in der Jugendzeit sei einerseits mit Filmen wie Eis am Stiel und der Auseinandersetzung mit Sexualität verbunden gewesen, zum anderen mit Filmen wie Rambo und den „virilen Träumen“ der Jugendzeit. Mit 18 sei der Kinobesuch dann häufiger geworden. In diese Zeit fällt der Film Diva, der bei Stefan den Wunsch ausgelöst hat, „auch in einer solchen zauberhaften Welt leben“ zu wollen. Sein eigenes Leben habe er damals als defizitär empfunden. In seinem realen Leben habe er nach der Schönheit gesucht, die ihm Filmbilder, aber auch Fotographien in Reiseführern vermittelt hätten. So hätten ihn zum Beispiel Italienfotos im Magazin Merian 206

motiviert, nach Italien zu fahren. Stefan sei auf der Suche gewesen nach etwas, „was auch so ist wie im Film“. Im Vergleich erscheinen die jugendlichen Lektüreerfahrungen von Stefan bedeutsamer als seine Filmerfahrungen. Sie sind stark von alterspezifischen Themen bestimmt (Geschlechterrollenorientierung, Männerbild, Erwachsenwerden), haben aber durchaus einen lebensphilosophischen Horizont. Folgende Funktionen lassen sich unterscheiden: das Zusammenfügen der „Weltbruchstücke“, die Erweiterung der „Jugend-Metaphysik“, die Aneignung eines „Instrumentariums des Fühlens“, die Vermittlung einer Lebensphilosophie der Verzauberung einerseits und des Zähnezusammenbeissens andererseits und nicht zuletzt die mimetische Anstiftung zu einer Praxis des Schreibens zur Bearbeitung der adoleszenten und zugleich kontingenten Erfahrung des Herausfallens aus dem „Behütetsein“. Erwachsensein Später, im Erwachsenenaltern, sei ein Schlüsselfilm Auf Wiedersehen Kinder von Louise Malle gewesen. Bei diesem und anderen Filmen war aber weniger das Nachdenken wichtig als vielmehr das Atmosphärische. Zu den wichtigsten Romanen seines Erwachsenenlebens zählt Stefan Bücher von Tolstoi und Dostojewski. Unter weltanschaulich-religiösen Aspekten sei allerdings die Lektüre der philosophischen Biologie von Hans Jonas die wichtigste Leseerfahrung gewesen. Diese habe eine „spirituelle Wende“ herbeigeführt, sei ein „totaler Einschnitt“ gewesen. Jonas habe für ihn das Denken und Fühlen wieder zusammengebracht und dadurch eine „ganz große Not gelindert“. Stefan beschreibt die Bedeutung dieser Erfahrung unter anderem mit den Worten: Also ich würde sagen, die zentralen Einschnitte in meinem Leben waren irgendwie das Ende meiner Kindheit in einem depressiven Sommer so en block und indem ich immerhin Hemingway und die klassische Musik entdeckt habe und der nächste Einschnitt war – es kam noch irgendwie eine Phase dazwischen – jedenfalls, war dieser Jonas, war irgendwie direkter. Seitdem bin ich auch, schwimme ich nicht mehr.

Das Problem, auf das Jonas die Antwort war, beschreibt Stefan folgendermaßen: Entfremdung und Entfernung war so irgendwie das Hauptmoment in meinen ganzen Schwierigkeiten, würde ich sagen. Im Grunde genommen hatte ich das Gefühl, dass das Geistige, das allgemein akzeptiert war, vom fühlenden Erleben völlig entfremdet, entfernt abgeschnitten war. Und dass es da nur zwei verschiedene Welten gab, die nicht zusammenhingen. Das eine war eine sinnlich-körperliche, aber irgendwie stumme, und das andere war so die diskursive Welt, die nicht zusammenhing. Und Jonas hat das einfach für mich wieder zusammengebracht. Weil er ja in diesen Thesen, die ich mir zu eigen gemacht habe und jetzt auch mit dieser ganzen Dissertation

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und meinen Sachen versucht habe, weiter zu begründen, also die Bedeutung im vollen Sinne aus körperlichem Erleben oder aus ganzheitlichem Erleben oder so. Das ist ja Jonas. Er hat gewissermaßen, er hat eine ganz große Not gelindert.

Durch Jonas sei es ihm erstmals befriedigend gelungen, seine persönlichen Erfahrungen theoretisch einzuordnen. Also das Ganze war so, dass ich gerne immer versuche, meine Erfahrungen irgendwie theoretisch einzuordnen. Dass ich also auch lerne, meine eigenen Erlebnisse oder meine eigenen Erschütterungen und Begeisterungen, Ekstasen und Verzweiflungen hätte ich gerne eingeordnet in ein vorhandenes, irgendwie in eine Philosophie oder so. Das hat nicht funktioniert. Ich habe das ja auch studiert und ich fand das außerordentlich beklemmend und traurig und irgendwie fremd und lebensfern und ich hatte das Gefühl, dass durch Jonas es eine Möglichkeit gibt, das durchaus zu versöhnen. Also nicht unbedingt mir bekannte Sachen, die mir fremd und schwierig erscheinen, dass es da auch einen Weg gibt, auch mich selbst zu verstehen. Dazu kommt natürlich die eschatologische Komponente. Jonas ist ja auch ein sehr religiöser Denker.

Auch das Religiöse sei durch die Jonas-Lektüre wieder in den Blick gekommen, stellt Jonas seine Überlegungen doch in den Horizont der Idee eines göttlichen Kosmos: Gott verwirklicht sich danach in der Schöpfung, „um sich selbst zu erleben“. Stefan erläutert die theologischen Überlegungen von Jonas und führt aus, dass sich die Gottheit dafür entschieden habe, „das Wagnis des Seins oder des Werdens auf sich zu nehmen, um sich selbst inne zu werden in Geschöpfen, die aber außerhalb der Kontrolle sind“. Der Ansatz sei pantheistisch: „Alles ist beseelt, ist Gottheit“. Jonas bedeutet für Stefan die Wiederentdeckung der Religion als Erwachsener. Nach einer religiösen Phase in seiner Kindheit – „da hatte ich sehr viele Ängste, [...] wo ich auch immer ganz viele Gebete gesprochen habe“ – habe er bis zur Jonas-Lektüre in einem „sehr rationalen Kosmos“ gelebt. Doch diese Rationalität bedeutete eine Verkürzung: Der Kosmos war für mich viel zu rational eigentlich. Für mein Empfinden. Er war erstens unpoetisch in diesem empfundenen Sinne und er war auch unglaublich mechanistisch natürlich. Und das war alles plötzlich anders, das ließ sich alles miteinander vereinbaren. Jonas war für mich ein absolutes – wie heißen denn diese Erlebnisse – diese Erlebnisse, die den Heiligen widerfahren, als sie sich dann bekehrten. Also, es war völlig zentral.

Stefan kann sich sogar noch an die Sekunden erinnern, in denen er die entscheidenden Sätze las. Er habe im Liegestuhl auf der Terrasse seiner damaligen Freundin gelegen und Jonas zur Vorbereitung eines Seminars gelesen, er „las diese Sätze und dachte, das kann doch nicht wahr sein, was hier steht. Ja genau das ist es“. Es war die Erfahrung, dass jemand ausspricht, 208

was Stefan schon so ähnlich durch den Kopf gegangen war. Endlich habe er einen Gewährsmann gehabt. Seine damalige Situation als Student der Biologie beschreibt er so: Ich habe ja auch diese Biologie studiert im verzweifelten Bemühen, nicht Schriftsteller werden zu müssen oder so und das war alles so schrecklich, weil das alles so, weil all das, was offensichtlich bedeutsam war, das war irgendwie alles nur Elektrotechnik. Ich war auch blöd. Also, wir haben in entscheidenden Zeiten, das hat mich wirklich um Jahre zurückgeworfen, das möchte ich wirklich, dass das meinen Kindern anders geht. In den entscheidenden Zeiten habe ich niemanden gehabt, der mir irgendwie sagte, was ich brauche.

Es habe ein Mentor gefehlt und die Eltern hätten diese Aufgabe auch nicht erfüllen können. Erst die Jonas-Lektüre, dieser durch ein Seminar veranlasste „säkulare Glückstreffer“, habe ihm einen Weg aus seinen weltanschaulichen Nöten gewiesen. Stefan beschreibt die Erfahrung der Jonas-Lektüre wie ein Augustinisches Bekehrungserlebnis, durch das Denken, Fühlen und Religion wieder zusammengefunden haben und die Versöhnung verschiedener und vormals geschiedener Welten möglich geworden sei. Stefan schildert diese Erfahrung einer „spirituellen Wende“ als den größten Einschnitt seit dem Ende seiner Kindheit. Erst dadurch sei es ihm wieder möglich geworden, seine Erfahrungen auch philosophisch einzuordnen und insofern eine neue Dimension des Selbstverstehens zu erreichen. Das Bedürfnis nach einer Einordnung des eigenen Erlebens in ein Bild vom Ganzen habe immer bestanden. Dass ein Philosophiestudent ein solches Bedürfnis hat, kann man erwarten. Zu fragen wäre, ob es von allgemeinerer Verbreitung ist, ob es gar zu den anthropologischen Grunddaten menschlicher Reflexionssubjektivität gehört, auf Ganzheit ausgreifende Sinnhorizonte aufzubauen, ob also alle Menschen so ein individuelles Bild vom Ganzen - was auch ein System letzter Relevanzen einschließt – entwerfen, sei es auch noch so rudimentär. Dass Menschen Sinnhorizonte brauchen, dass sie in kulturellen Bedeutungsgeflechten leben und aufgrund ihrer mangelnden Instinktsteuerung auch von symbolischen Ordnungen und Strukturen und deren Aneignung abhängen, ist sicher unstrittig. Aber wie steht es um die Spannweite dieser Sinnhorizonte? Reichen in der Regel diejenigen Sinnmuster aus, die zur Bewältigung des Alltags befähigen, oder ist das Bedürfnis nach einer darüber hinausgehenden und das Ganze von Welt und Selbst umgreifenden Deutung ein menschliches Grundbedürfnis? Berührt der letzte Sinn individueller Sinnhorizonte menschlichen Handelns in der Regel mehr oder weniger zwangsläufig die Ebene der großen Transzendenzen und damit die Dimension von Metaphysik und Religion im engeren Sinne? Oder begnügt sich das individuelle Sinnbedürfnis zumeist mit der Beantwortung von Sinnfragen 209

im Horizont kleiner und mittlerer Transzendenzen? Auf diese Frage wird im systematischen Teil der Auswertung noch einmal zurückzukommen sein. Bemerkenswert ist jedenfalls an Stefans Beschreibung des Problems, für das Jonas die Lösung bot, die starke Betonung des Emotionalen, des Empfindens, der Gefühle. Dieser Bereich habe in Stefans Philosophiestudium keinen Platz gehabt. Die Emphase, mit der Stefan die Erfahrung der Versöhnung von Denken und Fühlen im Medium der Jonasschen Überlegungen schildert, legt die Frage nahe, ob der gegenwärtige so stark am Paradigma der Deutung orientierte religionstheoretische Diskurs eigentlich in der Lage ist, die Dimension des Fühlens angemessen aufzunehmen. Diese Frage wird ebenfalls noch einmal aufzugreifen sein. Im Blick zurück auf Stefans Filmerfahrung mit The Thin Red Line erscheinen die Beschreibungen als komplementär: die Schilderung der JonasLektüre liefert die Ausformulierung der Religionstheorie für die Filmerfahrung mit The Thin Red Line nach. Die Wahrnehmung eines „Dahinter“, das „Leuchten“ der Filmbilder korrespondiert der pantheistischen Auffassung, dass sich die Gottheit im Weltprozess verwirklicht und insofern jede Wahrnehmung eine potentielle religiöse Tiefendimension hat. Fernsehen habe in dieser Studienzeit so gut wie keine Rolle gespielt. Auch in Nachrichtenfragen zieht Stefan die Hörfunknachrichten den Fernsehnachrichten vor („weil, die Bilder brauchst du ja nicht“). Sein Urteil über das Fernsehen lautet zugespitzt: „Ich finde Fernsehen die Pest“. Er stimmt der Enzensberger-These vom „Nullmedium“ Fernsehen zu. Gleichwohl kann er vor dem Monitor hängen bleiben und „bis morgens um vier Uhr fern [...] gucken“. Nachfragen Im dritten Abschnitt des Interviews wird noch einmal deutlich, dass Bücher das wichtigste Medium für Stefan waren und auch noch sind, philosophische Bücher und Romane. Vor allem in seiner, wie er es nennt, „JugendFührerscheinzeit“, also als junger Erwachsener, waren aber auch Filmerfahrungen wichtig: „es gab sehr einschneidende Kinofilmerlebnisse, weil ich eben, weil das eben visuell war.“ Im Blick auf die Funktion der Lebensbewältigung gibt Stefan jedoch deutlich den Büchern den Vorrang: Na ja, ich würde sagen, im Grunde ist es so, dass eigentlich nur Bücher Lebensbewältigungsfunktion hatten, bis eigentlich zu dieser Plateauphase, wo ich dann erwachsen war, so mehr oder weniger reif. Und seitdem ist das nicht mehr festgelegt. Weil alle möglichen Kulturerzeugnisse das haben, das ist dann irgendwie vom Zufall abhängig. Also Bildende Kunst haben wir ja auch ausgeklammert. Das ist durchaus auch so, zum Teil. Ich hatte in meiner impressionistischen Lyrikphase passend zu Rilke dann auch noch eine Rodin-Phase. [...] Ich würde sagen, weil ich ja sozusagen auch Philosoph bin, sind es oft einfach solche Bücher. Weil ich auch so persönlich denke und

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nicht so systematisch. Und auch durchaus zunehmend und ich würde auch bestimmte Bücher mit auf die Insel nehmen, die aus der Ecke sind. Die einfach keine belletristischen Bücher sind.

Auch heute, unter den zeitlich einschränkenden Bedingungen des Familienlebens, liest er noch relativ viel: „das bleibt irgendwie Schwerpunkt.“ Ins Kino kommt er nur noch selten und vor dem Fernsehen bleibt er manchmal einfach hängen. Bücher sind auch das für seinen Selbstausdruck bedeutsamste Medium. An die letzte Frage nach den ethisch-religiös prägendsten Erfahrungen schließt sich, wie oft, noch einmal ein relativ langer Gesprächsgang an, in dem Stefan von seiner eigenen schwachen religiösen Sozialisation berichtet und von den Schwierigkeiten, mit diesem Thema nun selbst als Vater umzugehen (anders als seine Mutter, die mit ihm gebetet hat, singt Stefan mit seinem Sohn Schlaflieder: „Das ist wie Poesie anstatt des Gebets“). Ein antiinstitutioneller Affekt sei jedenfalls vom Elternhaus her prägend gewesen, mit der Folge, „dass ich schon immer dazu tendiert habe, meine Privatreligion zu haben“. Für diese Privatreligion habe Stefan lange Zeit keine Entsprechung im kulturellen Ausdruck gefunden. Nach einer vorübergehenden parapsychologischen Phase in der frühen Adoleszenz habe seine Privatreligion erst durch die oben beschriebene Begegnung mit Hans Jonas wieder einen Ort in der kulturellen Welt erhalten. Stefan nennt seine Privatreligion auch eine „Kunstreligion“. Verbindungen zur Kirche sind vorhanden, aber im Vordergrund steht die „auch nicht so schön(e)“ Erfahrung, „zu diesen Selbststrickbaukastengläubigen“ zu gehören, jemand zu sein, „der selber irgendwie an so einer Metaphysik ’rumbastelt“. Mit seiner latenten Religiosität sei Stefan bis zur Begegnung mit Jonas „seelisch obdachlos“ gewesen, denn seine Kunstreligion habe im zeitgenössischen Diskurs nicht funktioniert. Im Kern ginge es darum, „dass sich in glücklich gefügter Symbolik das Sein offenbart“, das Schöpferische werde im geglückten Ausdruck - in der Schönheit - transparent für seinen Ursprung, für „das Leuchten des Seins“. Diese Enthüllung könne die Kunst noch am ehesten leisten. An dieser metaphysischen Poetik will Stefan weiter arbeiten. Auf meine Nachfrage, ob man diese Themen nicht auch im Rahmen einer profanen Ästhetik abhandeln könne und was das Religiöse daran sei, ergibt sich folgende interessante Interaktion. Stefan antwortet: Ja, ich würde es ja auch nicht mit Religion verknüpfen. Es ist nur insofern, also irgendwie hat es mit den letzten Dingen zu tun, das touchiert das einfach, die Religion. I: Letzte Dinge im Sinn von letzte Werte? A: Nein, letzte Dinge im Sinne von Leben und Tod und irgendwie Werden und Vergehen und Entfaltung und Zusammenbruch oder so. Also das ist dann zwangsläufig

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irgendwie theologisch, würde ich sagen. Das ist dieser Bereich der Metaphysik, wo es um das Sein geht. Das hat ja irgendwann mal diese Indikation. Ich stelle einfach fest, dass das diese Dinge sind, die mich einfach interessieren.

Gesamtinterpretation Das Leitmedium in Stefans Biographie sind die Bücher. An zweiter Stelle rangieren Filme, das Fernsehen hat eine marginale Bedeutung, wird prinzipiell abgelehnt („Ich finde Fernsehen die Pest“). Stefan macht ganz deutlich, dass die Auswahl der Medienprodukte etwas mit ihm selbst zu tun haben müsse. Ein thematischer roter Faden, der sowohl in der Rezeption des Films The Thin Red Line zu erkennen ist, als auch in der Lektüre von Hamsun und vor allem von Hans Jonas ist eine religiöse Naturästhetik, allgemeiner gesagt, eine religiös aufgeladene Metaphysik. Entscheidend ist in dieser Hinsicht die Lektüre der philosophischen Biologie von Hans Jonas, die Stefan wie ein Bekehrungserlebnis schildert, durch das bisher Unausgedrücktes artikuliert (seine bis dahin obdachlose private Kunstreligion) und bisher als dissonant Empfundenes – nämlich Emotion und Kognition, Leben und Philosophie – versöhnt worden sei. Zusammengefasst: in glücklich gefügter Symbolik offenbare sich das Sein, in Momenten der Schönheit werde das Sein transparent für seinen schöpferischen Grund, für Gott, der sich im Naturprozess verwirklicht. Durch die Jonas-Lektüre ist Stefan wieder zur Religion gekommen, habe er einen Gewährsmann für seine Kunstreligion gefunden, nach der sich das Göttliche im Ästhetischen zeigt. Diese Sichtweise kommt auch in seiner Beschreibung anderer für ihn bedeutsamer Medienerfahrungen zum Ausdruck, so etwa in der Schilderung der Rezeption des Film The Thin Red Line, in der Rede vom Leuchten und vom Zauber der Natur und der Dinge, von der Erfahrung ihrer Intensität vor dem Hintergrund ihrer Bedrohung durch die Gewalt des Krieges. Ebenso ist sie seiner Beschreibung der Hamsun-Lektüre inhärent, wenn er von dessen verzaubernder Poesie spricht und von der sinnstiftenden Aufladung mit Bedeutung. Bei Hamsun blitzt auch die Auseinandersetzung mit dem Thema der Männlichkeit auf, dass sich als weiteres Thema – neben dem der Sexualität – durch Stefans Medienerfahrungen zieht. Hinsichtlich der Funktion von Medienerfahrungen fällt auf, dass Stefan mehrfach die Erfahrung beschreibt, dass ein Buch oder ein Film etwas artikuliert, was er selbst auch kennt, aber (noch) nicht so habe ausdrücken können. Dass diese Erfahrung eng mit der Aufgabe der Selbstgestaltung verknüpft ist und nicht nur mit der präzisen Beschreibung von Sachverhalten der Welterfahrung zu tun hat, macht das treffende Friseur-Bild deutlich, mit dessen Hilfe Stefan die besagte Funktion der Literatur zu verdeutlichen sucht: Der begabte Friseur könne, einem guten Buch vergleichbar, ein Potential entwickeln helfen, eine Dimension der eigenen Persönlichkeit ausarbeiten helfen. 212

Das Sich-Im-Spiegel-Ansehen sei dann eine Mischung aus Wiedererkennen und Neuerkennen, aus Vertrautheit und Fremdheit. Literatur und Medien sind in dieser Funktion, so könnte man interpretieren, Mäeutinnen im Prozess des Selbstverstehens und der darauf aufbauenden Selbstbildung. Im Blick auf Religion spricht Stefan von der „nicht so schönen Erfahrung“, zu diesen „Selbststrickbaukastengläubigen“ zu gehören. Er beklagt das Fehlen eines Mentor in den entscheidenden Phasen der weltanschaulichen Orientierung. Seine Eltern hätten an dieser Stelle versagt, die Kirche wird als mögliche Mentorin in diesem Selbstbildungsprozess gar nicht erwähnt – auch hier also wieder der Befund des Auseinanderfallens von individueller Religiosität und kirchlicher Religionskultur. Stefans Beschreibungen korrespondieren, darauf habe ich eingangs schon hingewiesen, in vielfältiger Weise mit den ästhetischen, kulturphilosophischen und religionstheoretischen Diskursen der Gegenwart. Festgehalten seien folgende Aspekte und Fragen: 1. Seine Erfahrungen belegen die große Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Sie legen nahe, religiöse Erfahrung als eine mit Hilfe religiöser Kategorien gedeutete ästhetische Erfahrung zu interpretieren, näherhin als eine religiöse Interpretation ästhetischer Transzendenzerfahrungen. Bei Stefan kommen die religiösen Kategorien durch seine JonasLektüre verstärkt ins Spiel. 2. Film- und Lektüreerfahrungen zeigen sich in ihrer visuell-präsentativen (Film) und ihrer auf aktive Imaginations- und Deutungsarbeit (Buch) angewiesenen Akzentuierung, in ihrer Zuordnung zu den Grundmodi des Zeigens und des Sagens, des bildlichen Ereignisses und der sprachlichen Deutung. Im Rezeptionsprozess vollzieht sich ein Chiasmus: In der Lektüre werden den Buchstaben Bilder zurückerstattet, dem Sagen ein inneres Zeigen, im Sehen und Erinnern des Films hingegen wird den Bildern eine individuelle Interpretation hinzugefügt, dem Zeigen ein inneres Sagen. 3. Stefans Beschreibungen seiner Lektüreerfahrungen korrespondieren mit Paul Ricoeurs theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von Narration und Identität, die dem Lesen eine zentrale Bedeutung im Prozess des Selbstverstehens und der Selbstgestaltung zumessen. Hier scheint mir besonders das „Spiel der imaginativen Variation“ bedeutsam.15 Literatur erscheint vor diesem Hintergrund als eine besonders offene und flexible Ressource der Identitätsarbeit (bis zu seinem Erwachsenenalter hätten „eigentlich nur Bücher Lebensbewältigungsfunktion“ gehabt, bemerkt Stefan. Der Film transportiert dadurch, dass er seine Bilder immer schon mitliefert, ein die Imagination auch begrenzendes Alteritätsmoment, das im Unterschied zum Buch stärker mimetisch als imaginativ stimulierend zu wirken 15 Ders., Identität, 66.

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scheint. Stefan war in seiner Jugendzeit auf der Suche nach dem, „was auch so ist wie im Film“: mimetische Praxis. In der Lektüre hingegen erlebte Stefan ein „Auf-Den-Punkt-Bringen“ und „Neuerkennung“: Selbstverstehen und imaginative Selbstgestaltung. 4. Die Bedeutung der Versöhnung von Denken und Fühlen, die in Stefans Äußerungen über seine Jonas-Lektüre deutlich wird, legt die Frage nahe, ob der am Paradigma der Deutung orientierte Religionsdiskurs der Gegenwart die Dimension des Gefühls angemessen berücksichtigt und ob nicht Stefans Schilderungen Anlass geben, über eine stärkere Integration der Dimension des Emotionalen in die Religionstheorie nachzudenken. 5. Stefans Medienerfahrungen sind stark von seinen biographischen Problemlagen (Geschlechterrollenorientierung, Erwachsenwerden) bestimmt. 6. Ist Stefans Bedürfnis nach der Einordnung seiner Erfahrungen in ein Bild vom Ganzen von Selbst und Welt und damit in den Horizont großer Transzendenzen repräsentativ oder begnügt sich das individuelle Sinnbedürfnis in der Regel mit der Beantwortung von Sinnfragen im Horizont kleiner und mittlerer Transzendenzen? 7. Mit dem schon genannten Auseinanderfallen von individueller Religiosität und traditioneller christlicher Religionskultur bei Stefan korrespondiert auch seine väterliche Praxis des Singens von Schlafliedern an der Stelle des Abendgebetes, das seine Mutter noch praktiziert hatte. Er kommentiert: „Das ist wie Poesie anstatt des Gebets.“ Diese Praxis könnte man als Hinweis auf eine generelle Transformation des Religiösen in Ästhetik deuten. Stefans Jonas-Erfahrung weist hingegen auf ein Weiteres: auf die Möglichkeit der Rückkehr oder Wiederaneignung religiöser Semantik unter veränderten Vorzeichen. Man könnte diese Beobachtung als Indiz lesen: Zwischen diesen Polen der Transformation und der Neuaneignung der kirchlich vermittelten christlichen Religionskultur scheint sich die Entwicklung heutiger Religionskultur zu vollziehen. Lukas: Ästhetische Lebenssteigerung Biographische Daten, religiöse Orientierung, Mediengebrauch, Situation Lukas ist zum Zeitpunkt des Interviews 27 Jahre alt. Er hat Abitur, eine Lehre als Tischler absolviert und studiert Design in Berlin. Lukas ist Mitglied der evangelischen Kirche, beschreibt sein Verhältnis zu ihr jedoch als „distanziert“. Er bezeichnet sich als religiös und versteht darunter den „Glauben an eine spirituelle Kraft, die immer in einem ist“. Zu seinen Medienvorlieben gehören die Filme von Wim Wenders und Bücher von Haruki Murakami. Im Fernsehen sieht er am liebsten Dokumentationen und Nachrichten. Er geht nach seiner Einschätzung ungefähr 24 Mal im Jahr ins Kino und verbringt etwa zehn Stunden im Monat mit 214

dem Fernsehen. Beim Lesen bevorzugt er Romane und gibt an, etwa zehn Stunden im Monat mit Büchern zu verbringen. Der Kontakt zu Lukas kam über eine Kollegin zustande. Das Interview wurde am 17. April 2003 in der Wohnung des Autors in Berlin geführt. Auffällig war, dass Lukas zunächst betonte, wenig Zeit zu haben, schließlich aber doch fast drei Stunden blieb und die Fragen sehr ausführlich und offen beantwortete. In inhaltlicher Hinsicht fiel mir unmittelbar im Anschluss an das Interview besonders auf, dass das religionsbiographisch wichtige Buch Das dritte Auge im primär medienbezogenen Teil des Interviews keine Rolle gespielt hatte. Rekonstruktion und Interpretation des Interviews Das Interview mit Lukas zeigt in einigen Passagen unter anderem, besonders deutlich wie Medien der ästhetischen Lebenssteigerung und Lebenstranszendierung dienen können. Daneben und darüber hinaus werden in dem Interview noch eine Fülle weiterer themenrelevanter Aspekte sichtbar. Aktuelle Medienerfahrungen Zuletzt hat Lukas den Film Good bye Lenin im Kino gesehen. Der Film hat ihm gefallen. Auf die Frage, ob Good bye Lenin ihm Denkanstöße vermittelt hat, antwortet Lukas: „Ja, schon. Also ich mein, das is ja jetzt, es gibt immer Denkanstöße in einigermaßen guten Filmen, und in dem Zusammenhang vielleicht den Denkanstoß, doch eher ehrlich zu sein.“ Bemerkenswert ist im Zusammenhang der weiteren Erläuterung dieser Aussage, mit welcher Selbstverständlichkeit Lukas über die Filmfiguren wie über wirkliche Menschen spricht, so etwa, wenn er über die Lügen der Figur der Mutter gegenüber ihren Kindern sagt: „Und ich denke, dass diese Lügen halt relativ belastend waren und dass, wenn man sie ausgesprochen hätte, die Kinder vielleicht wesentlich reifer geworden wären an dieser Ehrlichkeit, ja, hätten da wahrscheinlich viel mehr mit anfangen können.“ Ein weiterer Film, der Lukas in letzter Zeit beschäftigt hat, war der Dokumentarfilm Rivers and Tides, der die Arbeit des Landart-Künstlers Andy Goldsworthy vorstellt. Fasziniert hat Lukas, wie Goldsworthy mit Zeit und Natur arbeitet: Wenn er ’ne Skulpturen aus Eis macht, dass diese Skulpturen dann irgendwann zur Blüte kommen, wenn das Licht grade richtig steht, und dann halt auch zum Zerfall kommen, wenn das Licht zu lange drauf geschienen hat. Und das ist was ganz Spannendes, also, wie halt Leben und Sterben, einfach die, diese Vergänglichkeit und auch die Schönheit der Vergänglichkeit, also dass es auch was Schönes ist, wenn Dinge ihren Höhepunkt haben und dann auch sterben, sozusagen, oder wieder weitergehen, also das hat mich sehr beeindruckt.

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All die von Goldsworthy berührten Themen der Langsamkeit, des mimetischen Naturumgangs, der Schönheit und der Vergänglichkeit interessieren Lukas. Er führt aus: Also wenn man sich mit Langsamkeit beschäftigt, oder auch mit, ja, mit Tod, oder sonst irgendwelchen Dingen, dann is man nicht grad so, also das Ganze, die ganze Gesellschaft fixiert sich ja eher auf Schnelligkeit, und vor allem auf das Leben und gar nicht so auf die Vergänglichkeit, und ja, in dem Zusammenhang fand ich, war es für mich wie so ’n ja, interessant, darüber will ich nachdenken, das beschäftigt mich, das wird in der Gesellschaft nicht angeboten als Lösungs-, zum drüber Nachdenken.

Nach Büchern gefragt nennt Lukas an erster Stelle den Roman Naokos Lächeln von Haruki Murakami. Es gehe darin um die grundsätzliche Frage, „wie man mit dem Leben umgeht“, was man aus seinem Leben macht und darum, wie man es betrachtet, „ob das Glas halb voll ist oder halb leer“. Lukas berichtet, dass er in seinem Leben schon oft Menschen beigestanden habe, „für die das Glas eher halb leer is, und die ich dazu motivieren wollte, dass sie das Glas als halb voll empfinden“. Man müsse allerdings als Helfer auch Distanz wahren, das sei im Übrigen auch Thema in dem genannten Roman. Die Hauptperson begehe am Ende Selbstmord, der Roman sei aber nicht pessimistisch, denn andere Figuren verkörperten eine lebensbejahende Haltung, die auch Lukas nahe liegt. Er resümiert: „Das is ’n schönes Buch, weil ’s mich motiviert hat, auch einfach so ja zu sagen, auch wenn, ich entscheid mich halt für ’s Leben.“ Ein weiteres Buch, das Lukas in letzter Zeit beeindruckt hat, ist Der Gott der kleinen Dinge. Er führt aus: „Und da interessier’ ich mich für die kleinen Bilder, die in dem Buch versteckt sind, also, es is eher wie im Theater, im modernen Theater, dass so halt Bilder interessant sind oder kleine Sequenzen, wo ich dann denke ja, das kenn’ ich oder das spiegelt so mein Leben, oder so.“ Insbesondere eine Szene, in der es um Erwartungen zwischen Eltern und Kindern geht, spiegelt und kommentiert für Lukas eigene Erfahrungen, die Frage, inwieweit man im Anderen mehr die eigenen Wünsche liebt und sieht als seine reale Person. Fernsehen spielt im Leben von Lukas eine eher marginale Rolle. Seine Informationen bezieht er hauptsächlich aus Zeitungen. Gleichwohl habe ihn die Fernsehberichterstattung über den Irak-Krieg beeindruckt, „diese Bilder-Flut“. Er erinnert sich besonders an einen Live-Korrespondentenbericht, der wegen eines Feuergefechtes unterbrochen werden musste. Lukas: „Also die Information war gering, aber die Bilder waren sehr stark, sozusagen und ja, war man dann schon sehr nah dran an diesem Krieg und konnte aber irgendwie nichts tun.“ Generell nennt Lukas Dokumentationen und Nachrichten als bevorzugte Fernsehformate. 216

Blicken wir auf diese ersten Äußerungen zu aktuellen Erfahrungen mit Filmen, Büchern und dem Fernsehen, dann fällt zunächst die Selbstverständlichkeit auf, mit der Lukas konstatiert: „es gibt immer Denkanstöße in einigermaßen guten Filmen.“ Im Blick auf die beiden Filme, die er nennt (Good bye Lenin und Rivers and Tides), wird deutlich, dass Good bye Lenin stärker ethische Fragestellungen bei Lukas anspricht – die Frage der Ehrlichkeit –, während der Dokumentarfilm über den Landart-Künstler Goldsworthy religions- und lebensphilosophische Dimensionen berührt: die Frage nach Tod und Vergänglichkeit, nach einem mimetischen Naturverhältnis und einer ästhetischen Wahrnehmung der Natur. Zwei Aspekte sind es jeweils, die mir besonders bemerkenswert erscheinen: zum einen die Tatsache, dass Lukas über die Figuren des Films Good bye Lenin spricht wie über real existierende Menschen, zum anderen, dass er deutlich macht, dass ihn der Dokumentarfilm Rivers and Tides auch darum so angesprochen hat, weil Reflexionsmöglichkeiten über die darin vorkommenden Thematiken von Tod, Vergänglichkeit, Langsamkeit und Schönheit andernorts in der Gesellschaft „nicht angeboten“ würden. Auch die jüngeren Lektüreerfahrungen von Lukas sind deutlich religionskulturell konnotiert. Der Murakami-Roman wirft existenzielle Fragen auf: wie man sein Leben betrachtet und was man daraus macht. Lukas hat das Buch in seiner grundsätzlichen Lebensbejahung bestärkt, Bejahung angesichts allen Scheiterns und aller Ambivalenzen. In theologischen Begriffen ließe sich deuten: Der Roman hat Lukas Momente der Rechtfertigung und der Hoffnung vermittelt.16 Das zweite Buch, das Lukas erwähnt, der Titel Der Gott der kleinen Dinge betrifft Lukas im Vergleich in viel konkreterer Hinsicht: er findet sein Leben in kleinen Sequenzen und Bildern gespiegelt, wird angeregt, über Projektionen und Erwartungen in Beziehungen nachzudenken. Beide Erfahrungen tragen zum Selbstverstehen und zur Perspektivierung des eigenen Lebens bei. Das Fernsehen präsentiert sich demgegenüber in weitaus stärkerem Maße als Interface des Zeitgeschehens und ist im Blick auf die existenzielle Sinnorientierung von eher marginaler Bedeutung. Aktuell im Vordergrund steht für Lukas die Berichterstattung über den Irak-Krieg, die damit verbundene Bilderflut, die Schwierigkeit, diese Bilder zu bewältigen, zu bewerten und letztlich vor allem auch das Problem, sich zu diesen Bildern zu verhalten. Letzteres wird sehr plastisch an seiner Beschreibung des durch einen Angriff unterbrochenen Korrespondentenberichts deutlich: die Nähe 16 Im Horizont der Tillichschen Interpretation des Rechfertigungsgedankens als Bejahung des Bejahtseins könnte man diese Lektüreerfahrung als implizite Rechtfertigungserfahrung deuten, vgl. Paul Tillich, Der Mut zum Sein, in: ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, GW, Bd. XI, Stuttgart, 13–139, 122ff.

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zum Geschehen, die das Fernsehen auf der einen Seite vermittelt, und zugleich die Unmöglichkeit zu handeln auf der anderen Seite. Kindheit Lukas erste Kinoerfahrung in der Kindheit hat er mit dem Film Die unendliche Geschichte nach dem gleichnamigen Buch von Michael Ende gemacht. Er kann sich an zwei Arten von Momenten besonders erinnern: an spannende Momente und an Momente der Geborgenheit. Ingesamt ein sehr einnehmendes Erlebnis: „ich war aufgesogen von diesem Film. [...] in diese Welt eingetaucht, diese Fantasy-Welt.“ Eine weitere nachhaltige Kinoerinnerung aus der Kindheit betrifft einen tschechischen Märchenfilm, der von der Pest und einem Drachen handelte. Diese Erinnerung ist negativ konnotiert, „fast ein bisschen traumatisiert“ habe ihn der Film, jedenfalls „geängstigt“. Bei den Lektüren der Kindheit nennt Lukas an erster Stelle Momo. Er kann sich noch gut an den Straßenfeger erinnern, der zu seiner nicht enden wollenden Aufgabe die Einstellung gefunden hatte, immer nur auf die nächsten Schritte zu blicken. „Fernsehen bedeutete Gemütlichkeit“, in der Fernsehzeit gegen sechs oder sieben Uhr am Abend, wenn die Sendungen Trio mit vier Fäusten oder Pink Panther kamen. Auch Dokumentationen hat Lukas schon als Kind gern gesehen, meist zusammen mit seinem Vater. Außerdem durfte er vor dem Zubettgehen immer noch die Tagesschau sehen. Er kann sich noch an den Wechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl erinnern und daran, dass er nicht verstand, warum Schmidt sein Amt aufgeben musste. Besondere Fernseherfahrungen hat Lukas bei einer benachbarten Arbeiter-Familie gemacht. Die Mutter habe immer die 17-Uhr-Unterhaltungssendung TeleCafe gesehen, auf dem Sofa liegend. Manchmal hätten er und ihre Kinder dann mit ihr unter der Decke auf dem Sofa gelegen. Lukas: „Diesen Jingle, also, wenn man mir den heute vorspielen würde, wüsste ich sofort, aha Tele-Cafe, und würde dann halt mich wahrscheinlich geborgen fühlen, also ich war sehr viel da, aber ich hab nie Tele-Cafe geguckt.“ Auffällig an den Kindheitserfahrungen mit Medien ist die Ambivalenz von Geborgenheit und Bedrohung, die einen roten Faden zu bilden scheint. Geborgenheit und Gemütlichkeit scheint dabei besonders mit Fernseherfahrungen verbunden. Ein zentraler Faktor scheint der rituelle Aspekt dieser Erfahrungen zu sein, die sich wiederholenden Sendezeiten, bestimmte damit verbundene Arrangements und Atmosphären. Die Inhalte werden demgegenüber bedeutungslos, wie sich vor allem im Zusammenhang der Schilderungen der Besuche bei der benachbarten Familie zeigt und der Bedeutung des Tele-Cafe-Jingles, der eine ganze Gefühlswelt aufzurufen vermag. 218

Jugend In der Jugendzeit wurde, bestimmt von der zunehmenden Bedeutung des Themas Sexualität, die Sendung Tutti Frutti interessant, die FernsehStriptease Show der 80er Jahre, die Lukas heimlich gesehen hat. „Tutti Frutti hat dann vielleicht Bud Spencer abgelöst“, erläutert Lukas die damalige Entwicklung. Gegen Ende der Schulzeit sei Lukas dann sehr politisch interessiert gewesen, habe viele politische Sendungen und Magazine regelmäßig gesehen (Tagesthemen, Zack, Monitor usw.). Besonders überzeugend fand er Zack mit Friedrich Küppersbusch: „der hat sich was getraut, fand ich so, irgendwie, der hat seinen Mund aufgemacht.“ Aber auch Talk im Turm hat Lukas sehr interessiert, neben dem jeweiligen Thema nicht zuletzt aufgrund der Diskussionskultur und des Umgangs mit Konflikten. Lukas spricht von einem „Realitätstraining“ durch Fernseh-Talksshows, welches zur Orientierung im Blick auf das eigene Diskussionsverhalten beigetragen hat. Über seine Leseerfahrungen in der Jugendzeit sagt Lukas: Also von siebzehn bis zwanzig hab ich viel gelesen von, also so viel Fromm Haben oder Sein oder Das Drama des begabten Kindes von Alice Miller, also so Psychoanalysegeschichten, hab aber ansonsten so Hesse und Nietzsche, Sartre, Camus, ich wollte ganz schlau sein. Und hab [...] dann irgendwann [...] ein Buch gelesen, da stand: mehr als zehn Bücher versauen den menschlichen Verstand und dann hab ich aufgehört zu lesen.

Gleichwohl hat Lukas sich viele Gedanken im Anschluss an die Lektüren von Sartres Das Spiel ist aus und Camus Der Fremde gemacht: über Liebe und Solidarität, über Schuld und Verantwortung. In der Erinnerung an die Lektüre von Der Fremde führt Lukas aus: Und er empfindet aber irgendwie keine Schuld, oder er entzieht sich selber dieser Verantwortung, also was ist letztendlich Verantwortung, und meinetwegen Zivilcourage oder, und Moral?

Ein Ergebnis dieser Lektüren war: „dass ich Lebenspraxis brauche.“ Der bloße Konsum von Wissen, um „meinetwegen schlau rüberzukommen“, mache keinen Sinn, weil der Bezug zum Leben fehle. Das Kino war für Lukas in der Jugend zunächst eng mit dem Thema „Mädchen-Rumkriegen“ verbunden. Seine ersten erotischen Erfahrungen hat er im Dunkel des Kinosaals bei einer Vorführung von Pretty Woman gemacht. In der frühen Jugend hat er ansonsten, motiviert durch eine Clique („was ist gerade angesagt“, „Mitreden-Können“), zumeist Action-Filme gesehen. „Und die anspruchsvollen Filme kamen, denk ich erst später, so mit sechzehn, siebzehn.“ Darunter war Il Postino, eine Literaturverfilmung über die Beziehung zwischen einem Briefträger und dem Dichter Pablo Neruda, der auf einer Insel im Exil lebt. „Emotional berührt“ hat Lukas „diese 219

Lebensliebe, [...] dieser Glaube von diesem Postmann, also dass er quasi, er entdeckt so ‘ne neue Qualität des Lebens“, findet durch den Kontakt zum Dichter zu einer neuen Lebensqualität und Lebensintensität. Lukas führt aus: Also dass das Leben so ’ne andere Ebene kriegt. Also vorher is er halt sehr direkt am Leben, was zum Beißen kriegen und vielleicht bisschen schüchtern irgend ’ner Frau hinterherstellen und so, und das andere hat dann eher so was wie, ja, wie riecht die Luft und wie schmeckt das Wasser und alles so noch mal reflektieren.

Lukas beschreibt hier eine ästhetische Erfahrung, die der Film ihm nahe gebracht hat: die Rückwendung der Reflexivität auf die Sinneswahrnehmung, das vollzugsorientierte Verweilen in der Sinneswahrnehmung selbst, das die ästhetische Erfahrung auszeichnet. Der Postmann (und der Zuschauer Lukas) ist durch den Dichter sowohl hinsichtlich seiner (ästhetischen) Wahrnehmung inspiriert als auch im Blick auf sein Handeln. Denn er verfolgt seine Ziele immer selbstbewusster. Der Film habe Lukas „sicherlich was mitgegeben“, nämlich: „dass man sich trauen soll.“ Die Hauptfigur des Films, der Briefträger, habe jedenfalls zu diesem Mut gefunden: Und er spricht dann auch diese Frau an letztendlich, oder, ja, nähert sich dieser Frau in gewisser Weise, weil er sich einfach traut, er is ja jetzt selbstbewusst, das find ich auch ’ne Lebensmaxime, dass man, man soll schon mal den inneren Schweinehund überwinden, dass man auf das zugeht, was man am liebsten nicht verlieren will, aber wenn man ’s gar nicht, wenn man nicht drauf zugeht, verliert man’s, also diese Sache.

Weitere anspruchsvolle Filme, die für Lukas Bedeutung hatten, waren Koyaanisqatsi und Schindlers Liste. Der Spielberg-Film hat ihm besonders hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von „Egoismus und Gemeinsinn“ zu denken gegeben. „Dieses Kippen“ bei Schindler, das Realisieren von mehr Verantwortung habe ihn sehr beschäftigt und in diesem Zusammenhang dann auch das umgekehrte und von Lukas als „mein Thema“ bezeichnete Problem, dass man gegenüber dem Helfer-Syndrom Egoismus aufbauen müsse. Zentrale Fragen, die der Film wachgerufen habe, seien gewesen: Warum entstehen überhaupt die Nazis, also warum entsteht, was is Macht, also der Umgang mit Macht? Und die Verführbarkeit des Menschen und so weiter, und dann diese Hierarchie – Mechanismen, also dass jemand da noch immer wieder die Verantwortung wieder nach oben abgibt, aber wenn ’s für ihn passt, die Verantwortung trägt und so weiter, also das, ja das ist faszinierend. I: Würden Sie sagen, dass dieser Film Ihnen Einsichten über diese Zusammenhänge vermittelt hat? Die sie so in der Weise vorher noch nicht hatten? A: Ja, würd’ ich schon sagen. Und es is faszinierend also, wie dieser Apparat von Schindler funktionieren konnte, weil im Prinzip ist Schindler kein guter Mensch. Aber er hat verdammt was Gutes geschaffen, also und ich glaube, dass der gute Mensch, der

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wäre halt in diesem System sofort umgebracht worden. Und das is das Faszinierende daran, also, wie schafft man ’s gut zu bleiben, aber trotzdem also, man muss, ich meine jetzt als eigener Mensch, man muss ja auch Geld verdienen und wirtschaften und so weiter, im Kapitalismus mitmachen, und man will ja trotzdem irgendwie gut bleiben, und was weiß ich, in den Himmel kommen, oder man will ’n guter Mensch sein, ne, und dann aber trotzdem, und in dem Zusammenhang find ich da sehr spannend.

Die Medienerfahrungen in der Jugendphase sind von zwei Themenkomplexen stark bestimmt: vom Thema Sexualität und von Fragen der Ethik. Dabei steht die Sexualitätsthematik in der Pubertät im Vordergrund: im Fernsehen wird Tutti Frutti interessant und löst die Action-Orientierung ab, das Kino wird als Ort des „Mädchen-Rumkriegen(s)“ attraktiv. Ein deutlicher Bruch ist im Übergang zur Adoleszenz im Alter von 16/17 feststellbar: von nun an werden anspruchsvollere Filme, Bücher und Fernsehsendungen wichtiger. Im Fernsehen interessieren Lukas politische Talksshows (sowohl die Inhalte als auch die Diskussionskultur), bei den Büchern und Filmen sind es vor allem ethische Fragen nach Schuld und Verantwortung (Sartre, Camus), nach der Möglichkeit eines ethischen Verhaltens unter den Bedingungen des NS-Staates und des Kapitalismus (Schindlers Liste). Weitere zentrale Thematiken entwickelt Lukas am Beispiel des Films Il Postino: das Konzept einer ästhetischen Lebenssteigerung, einer anderen Lebensqualität durch eine Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung und eine Lebensphilosophie des Mutes. Die ästhetische Dimension wird im Laufe seiner Medienbiographie an Bedeutung noch zulegen. Erwachsensein Als Erwachsener ist Lukas weiterhin oft im Kino gewesen. Er erwähnt den Film Die Liebenden von Pont-Neuf als hervorstechende Erfahrung. Die Emotionalität des Films hat ihn begeistert. Lukas führt aus: Da trifft sie [die Hauptfigur des Films, eine Künstlerin, Anm. d. Verf.] ja diesen auf der Straße lebenden jungen Mann, der wesentlich direkter lebt, also der quasi Impulse viel direkter auslebt und was ja bei uns viel unterdrückt wird, wenn man ’n Impuls kriegt, muss man erst mal gucken, ob das Ausleben jetzt sozial kompatibel is, und, oder ob man dann positiv oder negativ auffällt, also diese ganzen Über-IchMechanismen, Zensuren, man zensiert sich ja ständig selber, um dazuzugehören. Und das wird da durchbrochen, also so sehr schön, wo sie dann da am Strand lang rennen, und sie ihn an seinem erigierten Penis halt fasst, und halt so hinter sich herzieht, aber so einfach, es geht gar nicht um Sex, sondern es geht einfach um Lebenslust, also um Zelebrieren des Lebens, so. Fand ich ein sehr schönes starkes Bild. Auch im Kontrast zu dieser Melancholie, die Juliette Binoche ja eigentlich, is, glaub ich, die Hauptdarstellerin in dem Film.

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Das „Zelebrieren des Lebens“, „die Lebenslust“ der Liebenden, von denen der Film erzählt, hat Lukas für den Film eingenommen. Er hat Lukas in seinen eigenen Anschauungen bestärkt. So zu leben, findet auch Lukas erstrebenswert: „Also, ich für mich selbst wünsche mir oder genieße das, wenn ich mich traue, mein Leben zu zelebrieren, vielleicht auch, ja, man lebt ja nur einmal.“ Zum zweiten Mal berichtet Lukas nun schon davon, dass ihn Filme zu einer ästhetischen Lebenssteigerung motiviert hätten: zu einer intensivierten Wahrnehmung (Il Postino) und dazu, „mein Leben zu zelebrieren“. Es geht jeweils um ein nichtinstrumentelles Verweilen in der Gegenwart sinnlicher Erfahrungen, welches als sinnstiftend interpretiert wird. Im Blick auf das Lesen berichtet Lukas von einem Schlüsselerlebnis: auf einer Asienreise hat er Nietzsches Also sprach Zarathustra gelesen und ist, wie er es ausdrückt, „dran auch gescheitert“, hatte Schwierigkeiten, wirklich zu verstehen, worum es geht. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist ihm klar geworden, dass ihn „die Lebenspraxis viel mehr interessiert“. Er hat daraufhin begonnen, bildhauerisch zu arbeiten, hat eine Lehre als Tischler gemacht, wollte „mit beiden Beinen auf dem Boden“ stehen und hat sich gesagt: „Nietzsche mach ich, wenn ich sechzig bin.“ Zum Fernsehen gibt Lukas zu Protokoll: „Tja, wenn überhaupt Softpornos zur Entspannung, aber das is banal.“ Im Weiteren Verlauf wird dann doch eine darüber hinausgehende Fernsehnutzung deutlich. Die Tagesschau ist wichtig, aber auch die Musikvideos auf MTV, die Lukas als „den Puls der Jugend“ bezeichnet und für die er sich immer wieder Zeit nimmt. An den Musikclips interessiert ihn die Ästhetik ebenso wie die Messages. Intensität, Provokation und Geschwindigkeit der Clips findet Lukas dabei auch anstrengend und merkt an: Die Teenager sind ganz schön im Stress, also wenn se, die müssen da ja immer mitmachen, müssen sich irgendwo zuordnen. Na ja, also die analysier ich, ich guck mir halt die Leute an, was wollen die senden mit ihrem Clip und was ham die für ’ne Message, politisch oder ego-mäßig, wie wollen die Macht haben, wie wollen die cool sein, also wie funktionieren die, das glaub ich so, diese Clip-Kultur is ganz spannend, auch Werbung zu gucken is auch sehr spannend, weil ’s einfach so, man is auch wieder so, Verführung und wie funktioniert der Mensch, wie wird er verführt oder so.

Lukas problematisiert in diesem Zusammenhang auch die Fülle der Bilder und die damit einhergehende Entwertung des einzelnen Bildes: Die Wertigkeit der Bilder, also zum Beispiel, es gibt unglaublich viele Bilder, wir haben wahnsinnig viele Sender, und das is ja auch ein populäres Thema, dass ja, Bilderflut und so weiter und auch unendlich viele Möglichkeiten, angeblich, aber dann die Belastung, sich entscheiden zu müssen auf der anderen Seite, und dann der Verlust an Wert, also was ist schon ein Musik-Clip wert, bei der Masse an Musik-

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Clips, oder was ist ein Produkt wert bei der Masse an Produkten. Und diese Wertigkeit find ich da ganz spannend.

Gut findet Lukas die Versuche, die Geschwindigkeit und Flut der ClipBilder malerisch zu verarbeiten und die Bilder auf diese Weise wieder zu verlangsamen. Die Medienerfahrungen im Erwachsenenalter werden hinsichtlich der Lektüre vom Scheitern an Nietzsche und von der Hinwendung zur „Lebenspraxis“ markiert. Im Blick auf den Kinofilm berichtet Lukas von der einprägsamen Rezeption des Films Die Liebenden von Pont Neuf. An diesem Film schätzt Lukas die Intensität und Spontaneität, mit der die Figuren des Films ihre Gefühle ausleben und ihr Leben zelebrieren: mit der sie ihr Leben ästhetisch zu steigern vermögen. Dies ist eine auch für Lukas bedeutsame Sinnperspektive. Im Fernsehen sind es die Musikvideos, die Lukas besonders hervorhebt. Lukas sieht sie sich an, weil er sich für „den Puls der Jugend“ interessiert, für die Inhalte der Clips und für ihre Gestaltung. Interessant sind die Reflexionen von Lukas über die mit der Fülle und Geschwindigkeit der Bilder verbundene Entwertung des einzelnen Bildes. Diese Beobachtungen und Wahrnehmungen konvergieren mit aktuellen kunstphilosophischen Diskursen, die vom „Ende der Bilder“ in einem emphatischen Sinn sprechen, vom Transitorischwerden von Bedeutungen angesichts der Überfülle von Bilderkaskaden, die unsere Gegenwartskultur im Zeitalter von Audiovision und Digitalität in Permanenz hervorbringt.17 Die Äußerungen von Lukas zeigen in diesem Zusammenhang, dass die Problematik des Bedeutungsschwundes und der Entwertung durch die Situation der Überfülle nicht nur ein Phänomen ist, welches von den einschlägigen Theorien beschrieben wird. Es wird offenbar auch von den Rezipienten deutlich wahrgenommen. Und es zeigt sich in den Äußerungen von Lukas, dass ein Wunsch nach Bedeutungsstrukturen und Hervorhebungen auch bei Rezipienten vorhanden bleibt, die schon mit und in der Bilderfülle groß geworden sind. Nachfragen Im dritten Teil des Interviews ist Lukas schnell klar, wie die Dominanzverhältnisse in seiner Medienbiographie zu verteilen sind: in der Kindheit war der Fernseher auf dem ersten Platz, in der späteren Jugend (16–21) das Buch und heute ausgewählte Filme und das Theater. Im Blick auf Intensitäten will sich Lukas auf kein Ranking einlassen und konstatiert: „Alles hat seine Zeit, [...], alles war stark.“ 17 Vgl. Andreas Mertin, Blind vor Bildern. Zur Veränderung der Bilderwelt, in: Kunst und Kirche, Heft 1, 2004, 17–21.

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Zur Frage, ob Medien für ihn jemals hilfreich gewesen seien, führt Lukas aus: Ja, auf jeden Fall, also mir helfen meine Erinnerungen an Bücher oder Filme, oder wenn ich ’n Film, ich reflektiere mich selbst eigentlich grundsätzlich, wenn ich Filme oder Bücher sehe, ich glaube, dass, dann wird ’n Buch erst interessant, wenn man sein eigenes Leben darin wieder findet, oft, also. Oder zumindest Dinge, die man beobachtet hat.

Man lese ein Buch in jedem Alter anders, andere Stellen würden relevant, weil man andere Fragen habe. Lukas entwickelt hier in seinen Worten ein Kapitel rezeptionsästhetischer Literaturtheorie und merkt am Ende an: „Man findet schon Antworten in den Filmen und Büchern, aber nicht, wenn man sie sucht, man kriegt sie dann irgendwann so.“ Selten habe er Bücher auf der Suche nach Antworten gelesen. Das gelte auch für Filme. Manchmal ist es aber doch so. Am Beispiel von Paris-Texas führt er aus: Jetzt würd’ ich gerne Paris-Texas sehen, da hab ich ’n kurzen Ausschnitt in dieser Präsentation gesehen, dachte, ja, das is irgendwie auch so diese, Sinn und Unsinn des Lebens und so, also das, wie geht man mit dem Leben um, also das is schon so, sind so Fragen, die ich eben mir stelle und dann krieg ich da ’n kleines Häppchen, denk ich so, cool, in dem Film find’st Du vielleicht so ’n bisschen Inspiration, Antworten, ja, und dann geh ich dann, hol ich mir den Film.

Lukas sucht Inspiration, Antworten auf Lebensfragen in der Medienrezeption. Seinen gegenwärtigen Medienalltag charakterisiert er mit den Worten: „Berlin hat die Bücher verdrängt. Es gibt so viel zu tun. [...] Also dieses Phänomen, sich mit sich selbst zu verabreden, um auf ’m Bett zu liegen und zu lesen, das mach ich schon lange nicht mehr.“ Kino und Theater sind an die Stelle der Bücher getreten. Doch immerhin: „Und das sind dann auch so Zeitinseln, wo ich mit mir selbst im Kino sitze.“ Der Kinobesuch wird in dieser zuletzt zitierten Äußerung als eine ästhetische Erfahrung beschrieben, die sich hinsichtlich ihres Zeiterlebens von der alltäglichen Zeiterfahrung unterscheidet, als gegenwartsorientierte Unterbrechung wahrgenommen wird. Zugleich ist die Selbsterfahrung ästhetisch gesteigert: Lukas betont ausdrücklich, dass er mit sich selbst im Kino sitze und diese Erfahrung an die Stelle des Mit-Sich-Selbst-Verabredet-Seins der Lektüre getreten sei. Auf die Frage nach der Bedeutung von Medienbezügen in tiefergehenden Gesprächen hebt Lukas zunächst das Andere der Medien hervor: „Wenn ich wach bin, dann beobachte ich das Leben und reflektier das Leben, also mein eigenes Leben erklärt mir das Leben.“ „Das Niedergeschriebene, die niedergeschriebenen Erfahrungen anderer Menschen“, die „Reflexionen von anderen Menschen“ kommen an zweiter Stelle. 224

Als Produzent bevorzugt Lukas den gestalterischen Selbstausdruck: „Ich spreche durch Formen.“ Medien benutze er nur aufgrund des Zwanges zur Selbstvermarktung. An die Frage nach den ethisch, religiös und weltanschaulich prägendsten Erfahrungen schließt sich – wie oft – noch ein längerer Gesprächsgang an. Es stellt sich heraus, dass Lukas einmal Diakon werden wollte, seine Tagebücher bis zum 16. Lebensjahr Gott gewidmet hat und überhaupt sehr religiös – nicht im kirchlichen Sinne allerdings – war, regelmäßig gebetet hat; Lukas berichtet davon mit einer selbstkritischen Tendenz gegenüber den ängstlichen und werkgerechten Momenten dieser Phase. Der „Wendepunkt“ kam mit einem Gemeindepraktikum während der Schulzeit: Also ich hab den Superintendenten gefragt, wie er halt, was er unter Gott versteht und das konnte der mir irgendwie gar nicht sagen, also der war zu busy, so ’n bisschen und der ganze Apparat da, das war nicht meine Vorstellung von Glaube, das war, ich wusste, die haben mir das auch gar nicht nahegebracht, ich hab’ vielleicht eher so ’n Meister gesucht oder so was, aber da nicht gefunden.

Seine Eltern hätten im Blick auf seine intensive Religiosität bis zu diesem Wendepunkt keine wichtige Rolle gespielt. Lukas: Aber ich hab meinen Gott, meine Gottesfürchtigkeit, eher so aus mir selber is die entstanden. und ich hab halt auch immer, also Gott war wie so ’ne Art Vater, also ich habe dem halt alles erzählt und, aber ich bin nie beichten gegangen, ich wusste gar nicht, dass das geht, also ich bin ja evangelisch und habe da, ja also die Kirche war schon, ich war da recht ehrfürchtig, so auch im Konfirmanden-Unterricht und die Bibel-Geschichte. Ja. Aber es war dann so leer für mich, also irgendwie hat das, habe ich nicht das gefunden an Inhalten, was ich gesucht habe, also in der Intensität, wo ich drin war, da täglich sozusagen da zu beten und das konnte mir diese Gemeinde da nicht geben, also es war mir viel zu wenig.

Die Predigten seien langweilig gewesen, „keen Feuer drin“, der Diakon habe einerseits mehr begeistern können, auf der anderen Seite aber sei er pädophil gewesen und darum unangenehm aufdringlich. Gleichwohl: „An Gott glaub ich schon immer noch.“ Nach der Enttäuschung durch das Gemeindepraktikum und den Superintendenten schloss sich dann eine „esoterische Phase“ an. Denn: Als Teenager war ich schon sehr auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und auch nach dem Glauben, oder einfach nach ’nem Meister oder wie auch immer, denk ich. Und das hab ich halt in unserer Kirche nicht gefunden und hab das dann halt gesucht, hab dann mit sechzehn also so ’n Reiki-Kurs gemacht und dann noch Tai Chi gemacht richtig lange, und Bücher gelesen. Ja, das, da hab ich dann ’n bisschen mehr gefunden an, also diese Spiritualität.

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In diesem Zusammenhang spielte das Buch Das dritte Auge eine zentrale Rolle. Auffällig, dass Lukas den Titel im Abschnitt über Schlüsselbücher der Jugendzeit nicht erwähnt hat. Er erklärt sich diesen Sachverhalt selbst so: „Kommt immer auf ’s Thema drauf an, also ich hab viele Schubladen in meinem Gehirn und die gehen halt nur auf, wenn man gewisse Stichworte sich selber stellt.“ Als weitere Begründung führt Lukas an, dass der Bereich des Religiösen im Moment in seinem Leben nur eine marginale Rolle spielt, weil anderes wichtiger ist, er sehr „in der Gesellschaft drin“ ist und die „Glaubenswelt“ zugleich gegenwärtig „nicht so viel Platz in der Gesellschaft“ habe. Zu seiner aktuellen religiösen Disponiertheit bemerkt er: Ich denk immer weniger an Gott, weil ich halt letztendlich, ich kümmere mich um mein, also es is halt mein Leben, Überleben, und na ja, Lebensinhalt? Ich mach grade vor allen Dingen Selbstvermarktung oder Selbst-, also Ausbildung und Selbstvermarktung und wie, man kommt ins Alter, wo man sich selber ernähren muss, dann muss man sich da drauf konzentrieren, und (ja klar) da hat das nicht mehr so viel Platz. [...] Soziales Engagement und ‚Gemeinsam sind wir stark‘ und so was, det is alles da und präsent, aber es wird nicht so in Richtung Glaube entwickelt, sondern eher so Weltanschauung oder ‚Wie leb ich?‘, und [...], ich denke, unsere Gesellschaft hat, der Glaube hat so ’ne Renovierung verdient insgesamt, also das muss komplett saniert werden alles. Es muss ganz viel abgerissen werden, damit das überhaupt wieder entstehen kann.

„Cool“ findet Lukas, dass die evangelischen Kirchen ihre Kirchengebäude auch für Ausstellungen zur Verfügung stellen, findet das einen „Schritt in die richtige Richtung“ und sieht im Umbau in „ökologische Zentren“ und „Galerien“ eine Zukunft für die Kirchengebäude. An der Institution Kirche, so wie er sie wahrnimmt, kritisiert Lukas die Leere: der Konfirmandenunterricht sei wie „Mathe“ gewesen, ohne Emotionen, der Kirche fehlten Autoritäten: „Also die Leute, die die Leute überzeugen, die ’s halt auch ausstrahlen, also, die Glauben ausstrahlen und leben, also, ja. Das, ich sehe, die verkörpern immer viel zu sehr die Institution als den Glauben.“ Gesamtinterpretation Lukas ist ein typisches Beispiel für einen religiösen Sucher, der sich aufgrund von Enttäuschungen durch die kirchlichen Institutionen zunächst der Esoterikszene zuwendet und dort und später in seinen eigenen vor allem vom Film angeregten religionsphilosophische Reflektionen seine religiösen Bedürfnisse auslebt. Ästhetische Lebenssteigerung ist dabei ein Inhalt von zentraler Bedeutung. Charakteristisch für die medien- und religionsbiographische Entwicklung von Lukas sind Brüche und Diskontinuitäten. Drei solche Brüche stehen im Vordergrund: Zunächst ist der Bruch zwischen Religionsbiographie im 226

engeren Sinne und Medienbiographie zu nennen. Das Buch Das dritte Auge hatte eine wichtige Funktion im Kontext von Lukas religiöser Orientierung in der Jugend, wird aber bei den wichtigen Büchern dieses biographischen Abschnittes nicht erwähnt. Lukas erklärt diesen Sachverhalt mit den verschiedenen „Schubladen“ im Gehirn, die sich nur bei bestimmten Stichworten öffneten. Dies deutet im Übrigen erneut darauf hin, dass die jeweilige Semantik Sinnfelder doch sehr stark voneinander abgrenzt und von außen beobachtete funktionale Kontinuitäten in der Innenperspektive noch lange keine Verbindungslinien herstellen. Ein weiterer Bruch betrifft das Verhältnis von Kirche und Religion, das durch das enttäuschende Gemeindepraktikum in der Schulzeit endgültig zerrüttet wurde. Danach hat sich Lukas stärker dem Esoterikbereich zugewandt. Später hat dieser Bereich, für den Lukas den Titel „Spiritualität“ verwendet (im Fragebogen erläutert er „religiös“ als „Glauben an eine spirituelle Kraft, die immer in einem ist“), immer mehr an Bedeutung eingebüßt, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Insgesamt hat sich der Bereich der Wertorientierungen weniger in Richtung „Glauben“ und mehr in Richtung „Weltanschauung“ entwickelt. Der dritte Bruch betrifft die Mediennutzung von Lukas, seine Lektüre philosophisch anspruchsvoller Bücher: Nach der „Schlüsselerfahrung“ einer unbefriedigenden Lektüre von Nietzsches Also sprach Zarathustra hat er für sich festgestellt, dass ihn die Lebenspraxis viel mehr interessiert, und hat beschlossen, eine Lehre als Tischler zu absolvieren. Generell sind Medien für Lukas Gelegenheiten zur Selbstreflexion, die erst interessant werden, „wenn man sein eigenes Leben darin wiederfindet“. Ein Ranking der Intensitäten möchte er nicht aufmachen, aber eine biographische Verteilung wird deutlich: in der Kindheit dominierte das Fernsehen (es stand u. a. für Geborgenheit), in der Jugend waren die Bücher am wichtigsten, aber auch anspruchsvolle Filme, und heute haben ausgewählte Filme und das Theater Priorität („Berlin hat die Bücher verdrängt“). Interessant ist, dass sich das Moment des Kontemplativen im Rahmen dieser Entwicklung offensichtlich von der Lektüre ins Kino verlagert hat. An die Stelle des „Phänomen(s), sich mit sich selbst zu verabreden, um auf ’m Bett zu liegen und zu lesen“ ist der Kinobesuch getreten: „Und das sind dann auch so Zeitinseln, wo ich mit mir selbst im Kino sitze.“ Dabei zeigt sich vor allem in den Äußerungen über Filme und Bücher, dass Lukas mit ihrer Hilfe zentrale lebensphilosophische, ethische und religiöse Fragen reflektiert, dafür stehen die Filme Good bye Lenin, Rivers and Tides, Il Postino, Schindlers Liste und Die Liebenden von Pont-Neuf ebenso wie die Romane und Bücher Naokos Lächeln, Der Gott der kleinen Dinge, Das Spiel ist aus und Der Fremde. Zentrale Werte, die in Lukas Erzählungen von seinen Medienerfahrungen deutlich werden und die er 227

selbst dadurch mitgebildet und beeinflusst sieht, sind Mut („dass man sich trauen soll“), ästhetisch-hedonistische Lebenssteigerung (das Leben „zelebrieren“), lebenspraktischer Bezug und ethische Reflexion. Bemerkenswert ist die Bewusstheit für die ästhetische Medialität, mit der Lukas seine Medienerfahrungen an einigen Stellen beschreibt. Besonders fällt dies im Abschnitt über die Musikvideos auf, die sich Lukas manchmal ganz bewusst ansieht, um Inhalt und Formen besser zu verstehen und damit nicht zuletzt am „Puls der Jugend“ zu bleiben. Er kann allerdings auch ganz in eine Filmgeschichte eintauchen und – wie im Zusammenhang seiner ersten Bemerkungen über Good bye Lenin – über die Figuren sprechen wie über wirklich existierende Menschen. Reflexive Distanz und eintauchende Nähe schließen sich offenbar nicht gegenseitig aus, sondern können gut koexistieren. Versucht man die Religiosität von Lukas resümierend zu skizzieren, muss man zunächst einmal von der starken Orientierung an der kirchlichen Religionskultur in der Jugendphase ausgehen. Lukas wollte ja sogar Diakon werden, hat seine Tagebücher Gott gewidmet und regelmäßig gebetet. Lukas: „Als Teenager war ich schon sehr auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.“ Die Abkehr von dem Wunsch, Diakon zu werden, wurde durch ein enttäuschendes Gemeindepraktikum ausgelöst. Die negativen Erfahrungen: der Superintendent konnte Lukas religiöse Fragen nicht beantworten, die Predigten waren langweilig, die religiöse Praxis nicht von der Intensität, die Lukas suchte. Lukas bilanziert: „Ich hab vielleicht eher so ’n Meister gesucht oder so was, aber da nicht gefunden.“ Er hat in der Kirche Menschen vermisst, „die Glauben ausstrahlen“, sich in der Folge esoterischen Kursen und Büchern zugewandt und in diesem Bereich mehr von dem Gesuchten gefunden. Was Lukas in der Kirche vermisste, waren, so lässt sich interpretieren, Erfahrungen mit authentisch gelebter Religion, die Vorbildfunktionen hätte erfüllen können und der mimetischen Praxis Anreize hätte geben können. Die esoterische Phase ist dann zunehmend in eine mehr ethisch bestimmte Weltanschauung mit einer religiösen Tiefendimension (treffend die Formulierung von Lukas aus dem Kurzfragenbogen über seinen Glauben, an „eine spirituelle Kraft, die immer in einem ist“) übergegangen („Wie leb ich?“). Für diese Weltsicht sind Bücher und Filme die zentralen Sinnressourcen. Deren Orientierungspotential ist allerdings zu einem großen Teil der Kontingenz des zufälligen Findens unterworfen: „Man findet schon Antworten in den Filmen und Büchern, aber nicht, wenn man sie sucht, man kriegt sie dann irgendwann so.“ Zu den Antworten, die für Lukas über den Tag hinaus bedeutsam sind, die wichtige Aspekte seiner Religion ausmachen, gehören mit Sicherheit: die Perspektive einer ästhetischen Lebenssteigerung, wie sie die Filme Die Liebenden von Pont Neuf und Il Postino für Lukas zur Darstellung bringen, 228

und die Perspektive einer mutigen und solidarischen Lebensgestaltung, wie sie etwas der Briefträger in Il Postino im Privaten und die Figur Oscar Schindler im Rahmen des Films Schindlers Liste im Gesellschaftspolitischen zum Ausdruck bringen. 2.1.3 Lebensperspektivierung Christoph: Das Ideal des authentischen Lebens Biographische Daten, religiöse Orientierung, Mediengebrauch, Situation Christoph ist 33 Jahre alt und wohnt in einer westdeutschen Großstadt. Er hat Abitur, hat ein kulturwissenschaftliches Studium absolviert und arbeitet zur Zeit als freier Journalist. Er stammt aus dem sozialen Umfeld des Autors und ist mit diesem flüchtig bekannt. Christoph ist nach wie vor Mitglied der evangelischen Kirche. Sein Verhältnis zu ihr beschreibt er in dem Kurzfragebogen mit den Worten: „Ich kann mit Kirche nicht viel anfangen, gehe aber hin und wieder in einen Gottesdienst.“ Christoph gibt im Weiteren an, religiös zu sein und an Gott zu glauben. Seine Medienvorlieben sind Bücher und Filme mit einer Präferenz für das Buch. Ins Kino geht Christoph nach seiner eigenen Einschätzung nur etwa acht Mal im Jahr, den Fernseher nutzt er ungefähr 15 Minuten pro Tag. Er liest am liebsten Romane und verbringt am Tag ungefähr eine halbe Stunde mit Büchern. Das Interview wurde im Arbeitszimmer der Wohnung des Autors geführt. Die Atmosphäre war ausgesprochen gut. Als unmittelbarer Eindruck blieb die zentrale Stellung der Authentizitätsthematik im Gedächtnis. Rekonstruktion und Interpretation des Interviews Der erste Eindruck im Nachgang des Gespräches hat sich in der Analyse bestätigt: Das Ideal des authentischen Lebens kann als zentrales medienreligiös valentes Sinnmuster der Medienerfahrungen von Christoph identifiziert werden. Aktuelle Medienerfahrungen Den letzten Film, den Christoph gesehen hat, 25 Stunden, fand er „ziemlich schlecht“. Er sei nicht so richtig in Schwung gekommen, „es wirkte alles aufgesetzt [...], dann doch nicht authentisch“. Schon hier wird die Authentizitätsthematik angesprochen, die sich im Fortgang des Interviews als zentrales Motiv erweisen wird. Beim zweiten Film, den Christoph nennt (Der Mann meiner Mutter) kommt sie sogleich wieder zur Sprache: als Grund, warum Christoph den Film „großartig“ fand. Er bekennt: „Ich mag Filme gern, die authentisch wirken und wo man denkt, die Leute könnte man 229

kennen. [...] Irgendwie gab es da Parallelen.“ In dieses Raster passt auch der Dogma-Film Open Hearts, der Christoph ebenfalls gefallen hat. Er nennt in diesem Zusammenhang ein weiteres Merkmal der Filme, die er gut findet: Die Filme, die ich so im letzten dreiviertel Jahr gesehen habe, die waren alle anstrengend und auch sehr gut. Da kam man ziemlich gebeutelt aus dem Kino! Es gibt kaum Filme, die ich mit Distanz sehen kann und gleichzeitig super finden kann. Vielleicht unterhaltsam und lustig [...] Aber die, für die ich mich begeistern kann, sind zum Teil auch anstrengend.

Und wenig später ebendort: „Die Filme, die bei mir hängen bleiben sind die, wo es Parallelen gibt zu meinem Leben.“ Dies gilt auch für die zuletzt genannten Filme Der Mann meiner Mutter, in dem ein Mann in der Lebensmitte sein Leben überdenkt, und Open Hearts, in dem eine Beziehung durch einen schweren Unfall auseinandergeht. Im Blick auf den Film Der Mann meiner Mutter äußert Christoph, dass er die Darstellung der zärtlichen Zuwendung des Ehemannes zu seiner kranken Frau „sehr schön“ fand. Hier scheinen Ethik und Ästhetik ineinander zu fließen: Das ethisch Gute wird zugleich und möglicherweise nicht zuletzt aufgrund seiner ethischen Qualität als „schön“ bezeichnet. Existenziell und damit medienreligiös bedeutsame Filme müssen für Christoph Parallelen zu seinem Leben haben, müssen „nachvollziehbar“ sein, sollen authentisch wirken und ihm nahe kommen. Sie sind dann zumeist auch anstrengend. Aber gerade das trägt dazu bei, dass sich Christoph für sie begeistern kann. Ein weiteres Merkmal dieser Filme, das Christoph ebenfalls begrüßt, ist ihr offener Schluss. Unter den zuletzt gelesenen Büchern hebt Christoph den Titel Liegen lernen von Frank Goosen hervor. Es geht um das Erwachsenwerden. Auch hier findet Christoph viele Parallelen zu seinem eigenen Leben, insbesondere zu seinem Verhältnis zu seinen Eltern, über das er bei der Lektüre nachdenkt, aber auch zu seiner eigenen Situation und der Frage nach Heirat und Familiengründung. Er konnte die Lage der Hauptfigur, die sich zum Schluss des Romans auf Ehe und Familie einlässt, „sehr gut nachvollziehen“, ebenso die geschilderten Empfindungen und das Bedürfnis, „mit seiner Vergangenheit, seinen Frieden zu machen“. Christoph stellt fest, dass er keine Angst davor hätte, sich, wie die Hauptfigur des Romans, „sehr viel definitiver durch ein Kind oder Hochzeit“ auf eine Beziehung einzulassen und dass er schon manches Mal kurz davor war. Zu diesem Themenkomplex der Lebensform passt ein weiteres Buch, das Christoph nennt: How to be good von Nick Hornby. Darin geht es auf unterhaltsame Weise um Singles in der Großstadt und deren Beziehungsprobleme. Christoph merkt an, dass der unterhaltsame Stil des Buches den Zugang zu ernsthafteren Gedanken nicht verbauen würde. Auch dieses Buch 230

hat eine große Nähe zu Christophs aktuellen Fragen nach einer angemessenen Lebensform und Beziehungsgestaltung. Christophs Äußerungen über seine aktuellen Film- und Lektüreerfahrungen resümierend ist festzustellen, dass sie offenbar exakt zu seinen aktuellen Lebensgestaltungsfragen nach Heirat und Familiengründung passen. Im Alter von 33 und mit einer mittelfristig sicheren Berufsperspektive befindet er sich in einer Situation, in der ihn diese Fragen beschäftigen und in der er sich seine Lektüren und seine Kinoerfahrungen offensichtlich bewusst oder unbewusst vor diesem Hintergrund aussucht. Diese Beobachtung bestätigt ein landläufiges Ergebnis bisheriger Medienrezeptionsforschung: Die soziokulturelle Positionalität steuert die Medienrezeption. Die Rezipienten suchen die Medien thematisch voreingenommen nach ihren aktuellen Lebensthemen und Lebensfragen ab.18 Christophs Fernsehverhältnis ist, wie er selbst es formuliert, „ambivalent“. Früher, als er noch bei seinen Eltern wohnte, habe er das Gefühl gehabt, zu viel zu sehen; er habe Schwierigkeiten gehabt auszuschalten und an Sucht gedacht („Mir fällt es sehr schwer auszuschalten, auch wenn irgendein ‚Scheiß‘ läuft“). Als er zuhause auszog, habe er sich dann keinen Fernseher gekauft und besitzt immer noch keinen. Fernsehen gibt es für Christoph im Augenblick nur mit anderen Leuten [...] ab und zu. Da habe ich nicht das Problem, dass ich nicht ausschalten kann. Das ist sowieso in Gesellschaft sehr viel angenehmer, aber zu Hause habe ich keinen Fernseher. Es ist jetzt kontrollierter, aber ich weiß nicht, wie es wäre, wenn ich zu Hause einen Fernseher hätte.

Besonders interessieren ihn Talkshows mit interessanten Gästen und Dokumentationen. „Ich finde es immer spannend, wenn jemand da sitzt und etwas zu erzählen hat.“ Das Fernsehen hat offenbar Suchtpotential. Diesem ist Christoph mit radikalen Maßnahmen begegnet: er hat im Rahmen der Gründung eines eigenen Hausstandes zu Beginn seines Studiums bewusst auf einen Fernseher verzichtet. So gehört das Fernsehen vor allem zu seinem zurückgelassenen früheren Leben im Elternhaus. Wenn er dennoch einmal das Fernsehen nutzt, zumeist offenbar in Gesellschaft, finden die Formate Dokumentation und Talksshow sein besonderes Interesse. In Talkshows müssen es Menschen sein, die „etwas zu erzählen“ haben, die, so kann man interpretieren, etwas Besonderes, eine biographisch einschneidende Erfahrung zu berichten haben. Diese Erzählungen haben dann auch wieder, so lässt sich weiter deuten, lebensgeschichtliche Sinndeutungsdimensionen.

18 Vgl. Charlton, Rezeptionsforschung, 24.

231

Kindheit Christophs erster Kinofilm war Das Dschungel-Buch. Christoph beschreibt diese Kindheitserfahrung als „super“, „umwerfend und überwältigend“, kann aber nicht mehr genau sagen, wie alt er war, vermutlich aber schon zehn. Im Alter von zwölf hat er weitere Unterhaltungsfilme gesehen und langsam auch ein Urteil entwickelt. Gelesen hat Christoph in seiner Kindheit sehr viel. In den Ferien hatte er oft zehn Bücher dabei. An einzelne Titel kann er sich jedoch nicht erinnern. Etwas später haben ihm seine Eltern dann etwas anspruchsvollere Bücher zum Lesen gegeben, mit denen er aber lange wenig anfangen konnte. Er erwähnt in diesem Zusammenhang auch das von der Schule verordnete Lesen als Negativerfahrung. Die Fernsehnutzung war von den Eltern, insbesondere der Mutter, auf etwa eine halbe Stunde pro Tag für die „Sesamstrasse“ begrenzt. Jugend In der Jugend stieg der Fernsehkonsum dann etwas an: Fernsehen gehörte zu den Besuchen beim Großvater, aber auch zum Familienleben am Wochenende. Dann wurde gemeinsam geguckt (Die Muppet Show, Flipper, Bonanza, Lassie usw.). „Ich habe das damals als Unterhaltung wahrgenommen, aber auch als sehr faszinierend.“ Es fällt Christoph schwer zu sagen, ob und inwiefern ihn diese Fernseherfahrungen geprägt haben. Was die Bücher angeht, so gab es eine zwei- bis dreijährige Phase in der Jugendzeit, in der Christoph neben den „mit Widerwillen“ absolvierten Pflichtlektüren für die Schule gar keine Bücher gelesen hat. Er spricht selbst von einem „Bruch“. Einzig an den Böll-Titel Ansichten eines Clowns hat Christoph positive Erinnerungen, die aber sehr diffus und unspezifisch sind. Im Kino war Christoph in seiner Jugend kaum. Er erinnert sich an Otto – der Film und resümiert seine Kinoerfahrungen als Jugendlicher: „Es ist nichts hängen geblieben.“ Erwachsensein Als Erwachsener hat Christoph dann begonnen, regelmäßig ins Kino zu gehen, vor allem in der Zeit vom Herbst bis zum Frühjahr. Zu seinen Lieblingsfilmen zählt er: Night on Earth von Jim Jarmusch, Funny Bones, Vier Hochzeiten und ein Todesfall, Das Leben ist schön und Das Fest. Unter weltanschaulichen Gesichtspunkten hebt er besonders Funny Bones und Das Leben ist schön hervor. Funny Bones habe er ungefähr zehn Mal gesehen. Der Film erzählt die Geschichte einer Künstlerfamilien in den USA. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von Vater und Sohn. Die Figuren des Films seien ihm nahe gekommen – ihre Tragik, ihre Komik, ihre Sensibilität. Christoph führt aus: „Es waren die Typen, die ich spannend fand und diese Sensibilität, die bald zu groß war fürs Leben.“ Erneut blitzt das 232

Authentizitätsthema auf: „Ich mag die Suche nach einem Leben, was authentisch ist. Es ist vielleicht auch tröstlich, Menschen zu sehen, die auch so leben. Es sind ja keine Vorbilder, wenn das so gebrochene Persönlichkeiten sind. Bei denen fühle ich mich so ein bisschen heimisch.“ Im Blick auf die Funktion führt Christoph weiter aus, dass die Figuren des Films für ihn „eine Art Familie“ seien. Er würde die vorgestellten Lebensentwürfe nicht übernehmen. Ihre Funktion beschreibt er weiter mit den Worten: Vielleicht ist es diese Kompromisslosigkeit, die ich bestimmt nicht selber lebe, aber es macht Mut zu sehen, dass es Menschen gibt, die das schaffen. Du hast ja vorhin gefragt, was ich im Fernsehen gerne sehe [...] Manchmal hat man das Glück, solche Menschen im Interview zu erleben oder in einer Dokumentation, die ihr Leben gegen alle Widerstände gelebt haben und auch gelitten haben. Die einem aber irgendwie Mut machen.

Solche Menschen verkörpern für Christoph die Ideale Mut, Authentizität und menschliche Wärme. Christoph: „Es gibt wunderbare Menschen [...] Die strahlen sehr viel Wärme aus. Das ist etwas, was ich mir auch wünsche!“ Authentizität beschreibt Christoph als Wissen um das eigene Denken und Fühlen und den unverstellten Ausdruck desselben. Christoph führt aus: Wenn jemand schöne Gefühle und Gedanken hat und die dann lebt, auch alles Mögliche zulässt, das ist für mich Authentizität. Vielleicht ist das auch ein wichtiger Aspekt! Nicht nur Krisen zu haben, sondern auch zu versuchen, dort wieder herauszukommen.

Eine gewisse Tiefe und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit sich selbst gehören für Christoph ebenfalls zur Authentizität hinzu. Die Darstellung solcher authentischer Charaktere, die gebrochen sind, aber mutig, sensibel und warmherzig, zugleich aber kompromisslos in ihrer Treue zu sich selbst, hat für Christoph Funktionen des Wiedererkennens, des Trostes, der Ermutigung, der Beheimatung und des Vorbildhaften. Letzteres wird in seiner Äußerung über die Wärme ausstrahlenden Menschen deutlich, die ein Idealbild verkörpern. Im Feld der Bücher benennt Christoph die Autoren Mann, Kafka und Hornby und die Titel Der Zauberberg und Die Blechtrommel. Diese Bücher hätten schon „viel in Gang gesetzt, aber vielleicht nicht so viel wie bei Filmen und bei Musik“. Die Blechtrommel habe insbesondere aufgrund der Sprache auf Christoph gewirkt, ihn vor allem ästhetisch fasziniert. Insgesamt sei jedoch die Erinnerung an Filme stärker. Das Fernsehen hat in Christophs Erwachsenenleben nur eine marginale Bedeutung. In der Zeit seines Zivildienstes hat Christoph noch relativ viel ferngesehen, mit seinem Auszug aus dem Elternhaus mit 21 begann dann zunächst eine bis heute andauernde fernsehlose Zeit, die nur einmal durch 233

einen neunmonatigen Auslandsaufenthalt in England unterbrochen wurde, währenddessen Christoph wieder mehr fern gesehen hat. Die von ihm schon genannten Formate Dokumentation und Talk gehören zu den Favoriten seiner spärlichen Fernsehnutzung. Nachfragen Im dritten Teil des Interviews beschreibt Christoph die Phasen seiner Medienbiographie folgendermaßen: die Kindheit sei Fernseh- und Lesezeit gewesen, die Jugend vor allem Fernsehzeit. Im Erwachsenenleben hat sich das Kino dann als Leitmedium seiner Medienbiographie durchgesetzt. Die Frage nach den Intensität beantwortet Christoph analog: Intensiv sei das jeweils dominante Medium gewesen. Zur Lebenshilfefunktion von Medien antwortet Christoph: Ich glaube, dass sie immer hilfreich sind, wenn man das große Glück hat, einen Film zu sehen, der einem nahe geht. Oder ein Buch zu lesen, was einen fasziniert. Allein diese Möglichkeit, in diese Welt abzutauchen, das ist schon viel wert. Ich kann das nicht so zeitlich einordnen, da hatte ich eine Krise und ich habe das Buch gelesen und plötzlich hatte ich wieder Hoffnung. So habe ich das eher nicht empfunden, aber das sind schon Wegbegleiter. Egal, ob es einem gut oder schlecht geht [...] Bei Funny Bones ging es mir ganz gut und ich fand es toll. Es hätte mir immer sehr gut gefallen! Es ist beides sehr kontinuierlich, Gefühl und Lebensgefühl. Es ist schon Glück, ein gutes Buch wieder einmal in der Hand zu haben. Ich finde viele Bücher ganz gut. Das ist zeitlich abhängig von diesem Glück, wenn man es findet.

Manche Medien wie etwa der Film Vier Hochzeiten und ein Todesfall oder das Buch About a Boy markieren biographische Wendepunkte („das fällt schon zeitlich zusammen, aber nicht unbedingt ursächlich“). Im Blick auf About a Boy ist Christoph davon überzeugt, dass das Buch ihn vor fünf Jahren „nicht so berührt“ hätte wie heute, wo „die Geschichte näher an mir selbst dran ist als vor fünf Jahren. Bei allen Unterschieden“. Christoph führt weiter aus: „Ja, ich denke, dass das Gegenwartsliteratur ist und dass ich zum ersten Mal als Erwachsener sagen konnte, ich lese jetzt etwas, das bin nicht ich, aber das ist sehr nah an meinem Leben.“ In dieser auf die Frage nach der Lebenshilfefunktion folgenden Passage fällt zunächst auf, wie Christoph den Unterschied zwischen berührenden Lektüreerfahrungen und Filmerfahrungen beschreibt. Er spricht nämlich von dem großen Glück, „einen Film zu sehen, der einem nahe geht. Oder ein Buch zu lesen, was einen fasziniert“. Der Film „geht nahe“, das Buch „fasziniert“. Diese Formulierungen scheinen mir präzise die Differenzen der Rezeptionssituationen des Lesens und des Filmsehens zu akzentuieren: das Buch fasziniert, zieht gewissermaßen an und in sich hinein, bedarf aber wohl des aktiven Nachspürens, löst eine Bewegung beim Rezipienten aus, 234

ohne sich selbst dabei zu bewegen. Der Film hingegen präsentiert sich, wird präsentiert, geht, bewegt sich, entfaltet seine Bildererzählung vor den Augen des Zuschauers, kommt auf ihn zu und geht ihm so nahe. Beide, Bücher und Filme, können dabei auf je ihre Weise zu „Wegbegleitern“ werden, in die sich auch „abtauchen“ lässt, die also die Möglichkeit einer unterbrechenden Weltdistanzierung eröffnen, die man als eine medienreligiöse Funktion identifizieren kann.19 Im Fortgang betont Christoph dann die Kontingenz solcher berührender Medienerfahrungen und ihrer biographischen Passung. Ein wesentliches Kriterium ihrer berührenden Wirkung scheint ihre jeweilige konkrete Nähe zur biographischen Situation des Rezipienten zu sein. Im gegenwärtigen Medienalltag von Christoph spielt ein bisher noch nicht genanntes Medium eine große Rolle: das Internet. Christoph nutzt es vor allem aus beruflichen Gründen, um an Informationen heranzukommen. Generell konstatiert Christoph: „Ich versuche Kino und Bücherlesen immer auch Raum zu geben, damit ich etwas finde, was mich fasziniert.“ In ethischen oder religiösen Diskussionen bezieht sich Christoph seiner Einschätzung nach am stärksten auf Bücher und Zeitschriften, die ihm helfen, Ereignisse einzuordnen. Obwohl er selbst als Journalist arbeitet, ist es ihm nicht so wichtig, sich mit Hilfe von Medien zu artikulieren. Er könnte „auch monatelang kein Wort schreiben“. Im Blick auf die abschließende Frage zu den ethisch-religiös prägendsten Erfahrungen nennt Christoph zunächst seine Eltern. Religion hätten sie ihm „eher so dezent vermittelt“, ohne viel über das Thema zu sprechen. Christoph weiß bis heute nicht, ob seine Eltern zu diesem Thema „eine dezidierte Meinung“ haben und fügt hinzu: „Es ist ja auch so, dass du religiös sein kannst und dir aber nicht viel Gedanken darüber machst.“ Christoph bemerkt, dass er in dieser Hinsicht seinen Eltern ähnelt. Diese Einschätzung konvergiert mit der zuvor schon gemachten: „Ja, also ich bin nicht sehr stark religiös. Ich glaube an Gott und das machen meine Eltern, glaube ich, auch.“ Großen Einfluss hatte dann später der Konfirmandenunterricht bei einem „super Typ“, auch die gemeinsamen Reisen, die Gruppe und das Zusammensein haben Christoph viel gegeben. Christoph: „Ich fand das super, mit den Leuten da zusammen zu sein. Das war eine ganz tolle Gruppe!“ Seine Religiosität umschreibt Christoph mit den Worten: „immer nur ein Glaube, ein Gefühl. Etwas vage alles [...].“ An der Kirche findet er Anziehendes und Abstoßendes. Kritisch bemerkt er:

19 Vgl. die religionsbestimmende Merkmalskonstellation bei Kaufmann, Religion, 84f.

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Ich mag keine, ich kann es nicht besser sagen, heilige Atmosphäre. Wenn Menschen so tun, als gäbe es das Schlechte nicht auf der Welt und das irgendwie ausklammern wollen und so benennen, dass es in ihrem Leben keine Rolle spielen darf. Ich finde, es gibt Menschen in der Kirche, die total saftlos und verstaubt auf mich wirken. Mit denen kann ich nichts anfangen.

Gesamtinterpretation Zunächst fällt vom Ende des Interviews her auf, dass Christoph ein Musterbeispiel für einen mittlerweile sehr häufig anzutreffenden Typus von individueller Religiosität ist: Er kann auf der einen Seite – wie er schon in dem Kurzfragebogen angegeben hatte – nicht viel mit der Kirche anfangen, bezeichnet sich jedoch zugleich als religiös und kann auch auf gute Erfahrungen mit der Kirche zurückblicken. Heute stört ihn jedoch die euphemistische Ausgrenzung von Negativität, die er negativ mit der Kirche verbindet. Seine eigene Religiosität umschreibt Christoph im Interview einmal traditionell mit den Worten „Ich glaube an Gott“, dann wieder nur sehr vage mit den Worten „ein Glaube, ein Gefühl“. Zwei Befunde der bisherigen kirchen- und religionssoziologischen Untersuchungen finden hier erneut Bestätigung: zum einen der häufige Befund einer dezidiert positiven Erfahrung mit dem Konfirmator, zum anderen die Beobachtung des Auseinanderfallens von individueller Religiosität und kirchlicher Religionskultur im Erwachsenenalter trotz positiver Erfahrungen mit der Kirche in der Vergangenheit. Aber nicht nur individuelle Religiosität in der Perspektive ihrer Selbstbeschreibung und kirchliche Religionskultur fallen auseinander, auch die Selbst- und Fremdbeschreibung der religiösen Dimensionen von Christophs in dem Interview zur Darstellung gebrachten Sinnorientierungspraxis bleiben disparat. So naheliegend es vor dem Hintergrund der medienbezogenen Äußerungen von Christoph wäre, dass er etwa sagt: „Meine Religion ist eine Religion des authentischen Gefühls, der menschlichen Tiefe und Wärme. Ihre Sinnressourcen sind realistische Bücher und Filme, die mir nahe gehen“, so sehr bleiben die Sphären des Religiösen im umgangssprachlichen auf Kirche und Tradition bezogenen Sinne und des Medialen im Sinne der erfragten Medienerfahrungen doch getrennt. Sie lassen sich erst von außen aus der Beobachterperspektive zweiter Ordnung auf der Basis eines funktionalen Religionsverständnisses verbinden. Vor diesem Hintergrund wird man interpretieren können: Authentizität ist in der Tat der Wert letzter Relevanz in Christophs individuellem Sinnkosmos, jedenfalls insoweit er in dem Interviewtranskript zur Darstellung gekommen ist. Es lässt sich darum von einer Authentizitätsreligion sprechen, die ihre kulturelle Referenz in Büchern und Filmen findet, die eine existenzielle Tiefe haben und darum auch anstrengend sind. Sie zeigen „gebrochene Persönlichkeiten“, die ihre 236

Lebensentwürfe in ermutigender Weise auch gegen Widerstände und zum Preis von Leidenserfahrungen verwirklichen. Christoph spricht vom Glück eines guten Buches oder eines guten Filmes, der „einem nahe geht“ und schreibt schon der durch diese Erfahrungen möglichen Distanznahme zum Alltag eine große Bedeutung zu: „Allein diese Möglichkeit, in diese Welt abzutauchen, das ist schon viel wert.“ Die sich bei Christoph besonders deutlich in seinen Ausführungen über den Film Funny Bones zeigende Aufladung von Authentizität, die von einer Authentizitätsreligion sprechen lässt, von Authentizität als letztinstanzlichem Sinnhorizont, konvergiert mit Beobachtungen im Bereich der Literaturwissenschaften, die eine religiös konnotierte Authentizitätswelle in der Gegenwartsliteratur diagnostizieren,20 ebenso mit Beobachtungen im Bereich des Films, wo Authentizität ebenfalls Konjunktur hat, und mit Befunden aus der Sozialphilosophie, die Authentizität als Merkmal eines romantischen Individualismus als Element einer „Ersatzreligion der Gegenwart“ deuten.21 Undine Eberlein formuliert aus sozialphilosophischer Sicht: Einzigartigkeit, Authentizität, Selbstverwirklichung, Selbstfindung sind die Themen des modernen Numinosen, die als ‚letzte Werte‘ dem Leben der romantischen Individualisten einen scheinbar unhintergehbaren Sinnhorizont bieten. Genau darin besteht die wichtigste Leistung des romantischen Individualitätsmodells als Religionsersatz. Es ist ein Modernisierungsprodukt, das auf die Sinndefizite, welche die sozialstrukturellen und kulturellen Veränderungen hinterlassen, mit individueller Sinnstiftung reagiert. Mit der Wandlung der Formen und Inhalte des Heiligen geht aber auch der funktionale Gehalt der Religion teilweise an den romantischen Individualismus über.22

Ich würde jedoch anders als Undine Eberlein nicht von einer „Ersatzreligion“ sprechen, sondern im Fall von Christoph von einer vollgültigen Medienreligiosität im Sinne von Thomas Luckmanns Begriff von unsichtbarer Religion. Diese Religiosität ist ein Produkt individueller Selbstbildung, die vor allem von dem Glück des Findens eines guten Buches oder Filmes lebt, weniger von den verordneten Lektüren der Schule oder anderer Bildungsinstitutionen. Selbstbestimmung ist mithin wichtig, auf der Seite des Objektes eine Nähe zur Lebenssituation, zum eigenen Leben. Bedeutsam scheint auch die ästhetische Dimension, wenn Christoph davon spricht, dass er das Verhältnis zweier Filmfiguren „sehr schön“ fand, dass er ein Leben „mag“, das nach Authentizität sucht, dass er mit dem Begriff der Authentizität „schöne Gefühle und Gedanken“ verbindet und über einen Film, der ihn berührt hat, zugleich auch ein positives ästhetisches Urteil fällt.

20 Vgl. Huizing, Ästhetische Theologie Bd. 3, 25f. 21 Eberlein, Einzigartigkeit, 283–350. 22 Dies., Einzigartigkeit, 312.

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Felix: Horizonterweiterung durch Medienrezeption Biographische Daten, religiöse Orientierung, Mediengebrauch, Situation Felix ist zum Zeitpunkt des Interviews 33 Jahre alt. Er lebt in einer westdeutschen Großstadt, hat im Fach Medienwissenschaften promoviert und arbeitet nun als Medienwissenschaftler. Er gehört zu den Interviewpartnern, die aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Autors stammen. Das Interview wurde am 5. März 2003 in der Wohnung des Interviewten geführt. Es war das erste Interview der Studie und basierte auf der oben beschriebenen ersten Version des Leitfadens. Die Fragen orientierten sich darin an den Einzelmedien, nicht an der Chronologie der Biographie. Die Gliederung weicht darum von den bisherigen Analysen ab. Aus den Antworten auf die Fragen zur religiösen Orientierung und zum Mediengebrauch des Kurzfragebogens, der allen Interviewpartnern zu Beginn vorgelegt wurde, geht hervor, dass Felix nach wie vor Mitglied der evangelischen Kirche ist, deren Angebote aber nicht wahrnimmt, jedoch vermerkt, sie seien „für andere sicherlich oft sinnvoll“. Die Frage, ob er sich als religiös bezeichnen würde, beantwortet Felix mit einem klaren Nein. Unter „religiös“ versteht er, „an Gott glauben und/oder der Institution Kirche eng verbunden sein“. Beides träfe für ihn nicht zu. Bei seinen Medienvorlieben nennt Felix Bücher und Filme. Er beziffert seine Kinobesuche auf 50 bis 60 pro Jahr. Das Fernsehen nutzt er nach seiner eigenen Einschätzung nur etwa eine halbe Stunde am Tag. Da er beruflich viele Sachbücher lesen muss, liest er lieber (aber auch seltener) Romane. Ingesamt verbringt er nach seiner eigenen Einschätzung vier Stunden am Tag mit Büchern. Das Interview fand abends in einer entspannten Atmosphäre statt. Ich hatte danach den Eindruck, ein gutes und für meine Fragestellungen ertragreiches Interview geführt zu haben, dass sich phasenweise auf einem sehr hohen Reflexionsniveau bewegte. Allein das Springen innerhalb der biographischen Chronologie empfand ich hin und wieder als störend. Rekonstruktion und Interpretation des Interviews Im Interview mit Felix geht es ebenfalls um Themen, die schon in den bisherigen Analysen von zentraler Bedeutung waren: um die Auseinandersetzung mit Kontingenzerfahrungen, um ästhetische Lebenssteigerung und um ein eigenes, authentisches Leben. Deutlicher als in anderen Interviews wird an einigen Stellen die horizonterweiternde Funktion des Lesens, die Auseinandersetzung mit positiver Kontingenz im Sinne der Unbestimmtheit der Zukunft durch die Praxis der Lektüre und ihre die Imagination stimulierende Wirkung. Der in diesem Interview noch verwendete Probeleitfaden war so aufgebaut, dass am Anfang des Interviews Fragen zum Komplex Kino standen, 238

dann die Komplexe Bücher und Fernsehen folgten und schließlich noch ein Abschnitt resümierender und vergleichender Fragen. Die Komplexe zu den einzelnen Medien waren jeweils von einer Frage nach den letzten beeindruckenden Erfahrungen eingeleitet, um daraufhin eine biographische Vertiefung der Thematik zu verfolgen. Erfahrungen mit Kinofilmen Zuletzt hatte Felix den Film Baran gesehen. Interessant fand er an Baran, etwas über das Leben im Iran zu erfahren. Auf die Frage nach Denkanstössen durch den Film antwortet Felix, dass es sich um eine schwierige Frage handele, weil Denkanstösse ja nicht immer direkt nach dem Film ausgelöst würden, sondern manchmal erst, wenn man sich später an einen Film erinnere. Im Blick auf Baran berichtet Felix von dem Gefühl und der Wahrnehmung, dass das Leben andernorts sehr viel härter sein könne und man selbst es eigentlich sehr gut habe und sich darüber freuen sollte. Darin habe für ihn auch eine implizite Aufforderung gelegen, mehr zu tun, „damit es anderen besser geht“. Baran habe ihn im Übrigen an einen chinesischen Dokumentarfilm erinnert, der von den extrem harten Lebensbedingungen chinesischer Industriearbeiter erzählt. Dieser Film habe für ihn ebenfalls die Aufforderung enthalten, „dass man im Grunde eigentlich etwas tun müsste“. Um gleich hinzuzufügen: „Aber dann verläuft das natürlich wieder in diesem Unspezifischen ‚Irgendwann spende ich mal wieder was‘.“ Als weitere beeindruckende Filme der letzten Zeit nennt Felix drei Dokumentarfilme, die er auf den Berliner Filmfestspielen gesehen hat und fügt hinzu, dass Dokumentarfilme bei ihm häufig einen stärkeren Eindruck hinterlassen hätten als fiktionale Filme. Er führt dies auch auf seine beständige berufliche Beschäftigung mit Spielfilmen zurück, auf das Gefühl, etwas Gestaltetes zu sehen und auf die Erfahrung, mit Spielfilmen „relativ wenig Überraschungen“ zu erleben. Bei Dokumentarfilmen sei das Material zwar auch gefiltert und geformt, aber in seinen Grundzügen doch real. Man sehe da „Dinge, die sich im Spielfilm vielleicht viele nicht trauen“, „überraschende Details“, „ein Reichtum der Lebenswelt“, „wie Menschen eben tatsächlich leben“. Das „Überraschende und eben neue Informationen“ kämen für ihn „dann schon eher aus dem Dokumentarfilm“. Der Spielfilm habe für ihn, so führt er unter Bezugnahme auf den Medienphilosophen Noel Carroll aus, im Blick auf Weltbilder und moralische Konzepte eher die Funktion der Affirmation und Klarifikation, also vor allen Dingen eine Bestätigungsfunktion. Zur Korrespondenz von Lebenssituationen und Filmen kann Felix spontan nichts sagen. Aber natürlich gebe es Filme, die einen besonderen Eindruck hinterlassen hätten, die wichtig geworden seien. Felix nennt an erste Stelle Eraserhead von David Lynch. Seine surreale Übersteigerung der 239

Angstthematik habe bei ihm „eine sehr, sehr starke alptraumhafte Wirkung erzeugt“. Es ginge „um das Gefangensein in so einer Situation, die man eigentlich nicht gewollt hat, aus der man aber nicht wieder herauskommt. Dieses Moment fand ich wohl das Stärkste daran, also aus einer Verpflichtung heraus sinnlos sein eigenes Leben zu zerstören“. Anknüpfend an Eraserhead nennt Felix die Filme Das Irrlicht und Leaving Las Vegas, die ihn ebenfalls stark beschäftigt hätten. Felix erläutert: Noch andere Filme, die ich interessant fand, sind zum Beispiel zwei Filme, die von Selbstzerstörung, Lebensekel und schwer erklärlicher Todessehnsucht handeln, und zwar Das Irrlicht von Luis Malle und Leaving Las Vegas von Mike Figgis, wo es darum geht, dass die beiden Protagonisten Alkoholiker sind und sich beide zugrunde richten, wobei die Filme in unterschiedlicher Weise eine einfache Erklärung dafür verweigern und einen dadurch dazu zwingen, dass man diese Erklärung sucht. Das hat mir auch Eindruck gemacht, beide Filme.

Im Zusammenhang der Frage nach besonders wichtigen Filmen nennt Felix auch gleich einige (Lantana, Magnolia, The Deep End, In The Bedroom), die ihn besonders geärgert hätten, weil er sie als didaktisch, besserwisserisch und zudem als „gähnend langweilig“ empfunden habe, obwohl diese Filme von der Kritik sehr gut besprochen worden seien. Ein so starkes Auseinanderklaffen von Erfahrung und Empfehlung habe er selten erlebt. In Anknüpfung an den Eindruck des Didaktischen komme ich mit einer Verständnisnachfrage noch einmal auf die zuvor genannten Filme Das Irrlicht und Leaving Las Vegas zurück, die sich in Felix Augen eher dadurch auszeichneten, dass sie das Rätselhafte nicht zu erklären versuchten. Felix hebt noch einmal hervor, dass ihn an diesen beiden Filmen auch die Thematisierung des Problems der Selbstdestruktivität besonders interessiert habe. Felix: Ich fand das interessant, weil beide Filme eigentlich auf so Tendenzen, selbstdestruktive Tendenzen aufmerksam machen, die, glaube ich, strukturell in diesem System Mensch angelegt sind. Man muss nicht Konrad Lorenz Aggressionstheorien oder Freuds Todestrieb ins Feld führen. Man kann das auch anders erklären, man kann es auch evolutionsbiologisch fundieren oder evolutionspsychologisch. Ich denke aber, dass das schon eine Rolle spielt, solche Momente.

Drei Aspekte fallen im Blick auf die Filmerfahrungen von Felix besonders auf. Zum einen die Aussage, dass ihn Dokumentarfilme oft nachhaltiger beeindruckt hätten, dass „das Überraschende und eben neue Informationen dann schon eher aus dem Dokumentarfilm kommen“. Im Blick auf die Funktionen von Dokumentarfilmen und Spielfilmen machen die Äußerungen von Felix deutlich, dass der Dokumentarfilm stärker als der Spielfilm zur Erweiterung seiner Weltwahrnehmung beizutragen vermag und in Ver240

bindung damit auch ethische Impulse transportieren kann. Der Spielfilm hingegen dient Felix mehr der Klarifikation und Affirmation seiner Weltsichten. Felix reagiert dabei sehr sensibel auf den Ton und die Erzählweise und fühlt sich schnell belehrt und besserwisserisch behandelt. Als inhaltlicher Schwerpunkt der Erfahrungen, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, zeichnet sich die Thematik der Selbstdestruktivität und des kontingenten Scheiterns ab. Bücher Felix war zuletzt von dem Roman Die Korrekturen besonders beeindruckt. „Sehr subtil beschrieben“ und „auch noch spannend“ fand er die Schilderung einer schwierigen Familiengeschichte und konnte sowohl die darin enthaltene Thematik von Alter und Krankheit als auch die Familienthematik mit eigenen Erfahrungen verbinden: Das [Buch, Anm. d. Verf.] hat mir in vieler Hinsicht sehr gut gefallen, weil es auch diesen Kosmos Familie als ein ganz problematisches Gebilde zeigt und weil es Alterungs- und Verfalls- und Krankheitsprozesse auf eine Weise abbildet, mit der ich sehr viel anfangen konnte, die ich mit meinen Erfahrungen als Zivi im Altersheim in Verbindung bringen konnte, weil dann auch Familienstrukturen beschrieben wurden, die ich aus eigener Anschauung wiederzuerkennen glaubte. Ich fand das war sehr subtil beschrieben. Sicher, an einigen Sachen habe ich mich auch gestört, aber zusätzlich war das Ganze auch noch spannend, ein gutes und eindrucksvolles Buch.

Auf die Frage nach dem Spezifischen des Buches hebt Felix die Multiperspektivität der Darstellung hervor. Man verstünde so viel besser, warum sich Menschen zugrunde richteten und quälten, man könne es besser nachfühlen und nachvollziehen, die Probleme und die verschiedenen Strategien ihrer Bewältigung würden anschaulich und dabei nicht vereinfacht. Resümierend führt Felix aus: Und insgesamt würde ich sagen, dieses Vielschichtige, Kontrastive, dann dieser neue Aspekt des Diachronen, des Alterns und des Verfalls, dann die Multiperspektivität und in dem ganzen die anschauliche Subtilität der Darstellung, die aber trotzdem nicht auf Unterhaltungswerte und Überzeichnung verzichtet. Das hat für mich die besondere Qualität ausgemacht.

Es schließt sich die Frage nach weiteren Schlüsselerfahrungen mit Büchern an. Felix nennt spontan zwei Texte, die ihn in der Pubertätszeit besonders beeindruckt und beschäftigt hätten: Der Zauberberg und das Theaterstück Leonce und Lena. Im Weiteren fallen ihm noch „zwei ins Philosophische gehende Bücher“ ein. Existiert Gott? von Hans Küng habe er in der Konfirmationszeit gelesen, um seinen inneren Konflikt zwischen dem Gefühl, „jetzt musst du eigentlich glauben“ und dem Konfirmationsmotiv, „die 241

Geschenke abzusahnen“ zu bearbeiten. Allerdings habe ihn Küng nicht überzeugen können, im Gegenteil, die von Küng zitierten religionskritischen Positionen hätten ihn viel mehr überzeugt. Auf den Titel Der Mythos von Sisyphos, den er mit 15 oder 16 gelesen habe, geht Felix nicht weiter ein. Als prägende Jugendlektüre nennt er im Folgenden weiterhin Jean Pauls Siebenkäs, ein Buch, das ihn zum einen aus stilistischen Gründen fasziniert habe, zum anderen aufgrund des Gedankens, „dass eigentlich die Alltagswelt wunderbar ist“, dass eben nicht das große Abenteuer in der Außenwelt das eigentlich Aufregende sei, sondern das Abenteuer im Kopf, der Sachverhalt, dass man auch in einer äußerlich langweiligen Lebenssituation „in einem kleinen Dorf irgendwo“ intensiv erleben könne. Auf die Nachfrage, ob dies neue Erkenntnisse gewesen seien, antwortet Felix, dass es eher „so eine Bestätigung dessen (war), was ich immer schon vermutet hatte oder so gesehen hatte. Und ich war froh, das in einem Buch so wiederzufinden, auf eine Weise beschrieben zu finden, dass es sich manifestierte, dass es begrifflich fassbar wurde, dass es anschaulich wurde.“ Die Erfahrungen mit Thomas Mann und Büchner hingegen seien darüber hinaus gegangen: „da hatte ich schon das Gefühl, dass da etwas Neues passierte und dass die Bücher was in mir ausgelöst haben und mich beschäftigt haben und mich in gewisser Weise auch geprägt haben.“ Dies sei allerdings schwer fassbar, habe in erster Linie mit Gefühlen, Atmosphären, Figurentypen und Situationen zu tun. Gelegentlich habe es auch einzelne Sätze in Romanen gegeben, die eine für die eigenen Gedanken klärende Funktion hatten. Auf meine Bitte um eine genauere Erläuterung der Erfahrungen mit Mann und Büchner, führt Felix aus, dass die Lektüre des Zauberbergs für ihn einen ästhetischen Distiktionsgewinn bedeutet habe und darüber hinaus in der Verbindung von Intellektualität und Erotik, von Streitbarkeit und Spiel in den Figuren von Nafta und Settembrini die Erkenntnis gelegen habe, dass sich diese Aspekte nicht ausschließen müssten, dass man nicht entweder Streber oder „der coole, anerkannteTyp“ sein müsse, sondern dass sich beides verbinden ließe. An Leonce und Lena habe ihn die Stimmung von „traurigem Leichtsinn und melancholischer Fröhlichkeit“ beeindruckt, das Verspotten gesellschaftlicher Regeln und Institutionen auf der einen Seite und die Fähigkeit, „aus dem Stand heraus seinen Lebensentwurf ändern“ zu können auf der anderen, „die Verbindung von Romantik und Coolness“. Die Frage, ob diese Figuren Vorbildcharakter hatten, Ideale verkörperten, findet Felix schwer zu beantworten. Er meint, dass die Zeit der unkritischen Orientierung an Idealbildern bei ihm relativ früh zuende gewesen sei. Mit zehn, elf, zwölf habe das noch eine Rolle gespielt. Später hätten nicht mehr einzelne Figuren gewirkt, sondern eher die Gesamtbedeutung eines Textes. 242

Felix bezieht sich hier auf John Fiske und dessen Auffassung, dass Rezeption bedeutet, einen subjektiven Gebrauch von einem Text zu machen, der manchmal nur noch wenig mit der intendierten Bedeutung zu tun haben kann. Wie schon bei Stefan unter Bezugnahme auf Paul Ricoeur beobachtet, zeigen sich auch hier in den Lektüreerfahrungen von Felix die beiden zentralen Funktionen der Lektüre: Klärung und Artikulation des Selbst- und Weltverstehens (Jean Paul, Jonathan Franzen) und Anregung für die Selbstgestaltung durch Figurenentwürfe, deren Charaktere etwa Erotik und Intellektualität (Der Zauberberg) oder auch Romantik und Coolness (Leonce und Lena) verbindet. Wie bedeutsam dabei die ästhetische Dimension ist, zeigen die Äußerungen von Felix über den Roman Die Korrekturen. Es scheinen geradezu vor allen Dingen die Komplexität und Multiperspektivität der Darstellung zu sein, die die Tiefe und Intensität der Lektüreerfahrung ausmachen. In religionshermeneutisch-inhaltlicher Hinsicht fällt ins Auge, dass die Lektüre des Küng-Titels Existiert Gott? in Konfirmandenzeiten das Gegenteil der Intention des Autors Küng bewirkte und bei Felix die Religionskritik untermauerte. Die Jean Paul-Lektüre hingegen bestärkte Felix in dem Gedanken der Wunderbarkeit der Alltagswelt und des Sinns ihrer ästhetisch intensivierten Wahrnehmung. Hier spielte auch die Textgestalt, der Stil wieder eine wichtige Rolle. Fernsehen Das Fernsehen sei für Felix vor allem ein Begleitmedium, was er einschaltet, wenn er nicht mehr so aufnahmefähig ist. „Das heißt, dass das Fernsehen es schwerer hat, mich zu beeindrucken.“ Zu den hervorstechenden Fernseherfahrungen zählt Felix das Betrachten von Dokumentationen. Zuletzt hat ihn ein Film über die Nachbarstaaten des Irak beeindruckt, die Bilder der dort lebenden Menschen, ihre Lebensverhältnisse, ihr Ausdruck. Grundsätzlich hätten ihn aber Bücher immer am stärksten beeindruckt, auch stärker als Filme. Felix führt aus: Von der Intensität des Eindrucks her sind Bücher bei mir immer mit Abstand am stärksten gewesen, auch stärker als Filme, was damit zu tun haben mag, dass man mit einer anderen Haltung da reingeht. Also, vielleicht mehr Aufmerksamkeit aufbringen muss, mehr Imaginationsleistung in einer bestimmten Weise, dass es sich über einen längeren Zeitraum hinzieht das Lesen, dass man Teile wiederlesen kann, dass man an Teilen hängen bleibt, dass es nicht kollektiv ist, sondern in seinem privaten Raum ist, aber auf der anderen Seite nicht wie beim Fernsehen in seinem privaten Raum und als Begleitmedium, sondern darauf konzentriert. Vielleicht hat es natürlich auch damit zu tun, dass ich früher immer viel, viel mehr gelesen habe.

Das Kino sei aufgrund des kleinstädtischen Programms unattraktiv gewesen, was durch seinen damaligen „elitären Abgrenzungstrip“ noch verstärkt worden 243

sei. Er kann sich aber trotz allem noch gut an den Augenblick der ersten Inbetriebnahme des neu angeschafften Fernsehapparates erinnern. Er sei damals sieben gewesen und stellt im Zusammenhang dieser Schilderung fest, dass er sich noch heute genau an die Titelsongs einiger Serien erinnert, die er damals als Kind gesehen hat, aber nicht sagen könne, was sie ausgelöst haben. Er weiß aber noch genau, dass sie lustig waren, „irgendwie unterhaltsam“. Im Zusammenhang der Frage nach der Verknüpfung von Lebenssituationen und Fernseherfahrungen kommt Felix wieder auf die Bücher. Denn die habe er sich schließlich aussuchen können. Beim Kino habe es diese Wahlmöglichkeit erst gegeben, als er in eine größere Stadt kam und zudem durch eine Freundin mehr für das Kino interessiert wurde. Seine Fernsehnutzung habe sich in dieser Zeit kaum verändert. Er habe das Fernsehen damals verachtet und die Kritik Enzensbergers am „Nullmedium“ Fernsehen geteilt. Gleichwohl habe er es immer wieder auch genutzt. Felix vergleicht sich mit einem Protagonisten aus dem Moretti-Film Caro Diario, der das Fernsehen – Enzensberger zitierend – verachtet, gleichzeitig aber einer Serie verfallen ist. Als jüngste Fernseherfahrung nennt Felix das Anschauen von Deutschland sucht den Superstar im Freundeskreis. Das sei interessant gewesen, aus Unterhaltungsgründen, aber auch, weil es einen aufklärerischen Effekt gehabt habe, die Sendung habe Einblick gegeben in Mechanismen der Musikbranche, in Milieus und Charaktere. Im Fortgang des Gespräches fallen Felix dann immer mehr Fernseherfahrungen ein und er muss zugeben, dass er „das Fernsehen doch sehr unterschätzt“ habe. Er nennt insbesondere die Nachmittagstalkshows, in die er in seinen Arbeitspausen gelegentlich hineingezappt habe und die ihm interessante Einblicke in Lebenswelten und Moraldiskurse gegeben hätten, in denen es etwa um die Bestimmung moralischer Grenzen gegangen sei und um das, was „nun wirklich nicht akzeptabel“ ist. An dem Abschnitt über das Fernsehen fällt auf, dass Felix immer wieder vom Thema abkommt und über Bücher und das Kino spricht. Diese Äußerungen sind sehr aufschlussreich. Dennoch zunächst noch einmal zum Fernsehen: Es ist ein Begleitmedium für Felix, das er nutzt, wenn er „nicht mehr so aufnahmefähig“ ist. Dabei beobachtet er Ambivalenzen an sich selbst: zum einen teilt er Enzensbergers Fernsehkritik, zum anderen nutzt er das Fernsehen dann aber doch recht umfangreich. Am meisten Eindruck hinterlassen Dokumentationen, die Bilder von anderen Orten und Menschen, die visuellen Eindrücke, Gesichter, Verhaltensweisen, Umgebungen. Dies passt zur Äußerung von Felix über seine generelle Vorliebe für Dokumentationen zu Beginn des Interviews. Darüber hinaus hebt Felix noch zwei weitere Fernsehformate hervor: die Nachmittagstalkshows und ihre Moraldiskurse und die Sendung Deutschland sucht den Superstar, die als unterhaltsame Gesellschaftsbeobachtung sein Interesse fand. Das Kino wurde erst relativ 244

spät medienbiographisch relevanter: es bedurfte des verbesserten Angebots der Großstadt und des Kinointeresses einer Freundin, um Felix mehr für das Kino zu begeistern. Bücher hingegen waren durchgängig bedeutsam, die Lektüreerlebnisse auch später noch im Vergleich mit beeindruckenden Filmerfahrungen „immer mit Abstand am stärksten“. Felix versucht, diese Intensität mit einer Reihe von Gründen zu erklären: mit der beim Lesen aufzubringenden Imaginationsleistung, mit dem langen Zeitraum der Rezeption, mit der subjektiven Taktung der Rezeption (Hängenbleiben, Wiederlesen), mit der Privatheit und Konzentriertheit der Lesesituation, mit einer intensiven Lesesozialisation. Nachfragen Im dritten mehr resümierenden Teil des Interviews antwortet Felix auf die Einstiegsfrage, welche Medien besonders hilfreich im Blick auf die Lebensbewältigung waren, dass Bücher in diesem Zusammenhang für ihn an der ersten Stelle stünden. Er beschreibt ihre Lebensbewältigungsfunktionen unter anderem mit den Worten: Und zwar als Kind und als Heranwachsender habe ich, glaube ich, da sowohl im Sinn von so einem Eskapismus und Psychohygiene Ausgleich, Ablenkung gefunden und Trost gefunden und Anreize, andere Welten, überhaupt die Vorstellung, was alles anders sein kann, also dieses Ding, du lebst zwar so, aber es gibt tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst.

Und wenig später: Also diese Vorstellung, selbst wenn es dir jetzt langweilig erscheint oder unerträglich, es gibt tausend Möglichkeiten, es wird sich verändern, es kann sich verändern, durch dich, durch die Umstände, durch kontingente Zufälle und in dem Sinn: gib die Hoffnung nicht auf. Dann denke ich, dieses Moment, dieses Gefühl, eine Weiterentwicklung, eine Verfeinerung zu erleben, indem ich das lese, sozusagen der Genuss des Gefühls, sich in irgendeiner Weise zu bilden und zu verbessern. Dann natürlich in der Auseinandersetzung mit 13, 14, 15 mit so Fragestellungen wie Tod oder Sex oder so. So Fundamentalthemen: Gott, Tod, Sex. Da haben natürlich Bücher auf die unterschiedlichste Weise etwas geholfen, würde ich sagen. Demgegenüber würde ich sagen, Filme letzten Endes weniger. Das mag damit zusammenhängen, dass ich relativ spät dazu gekommen bin, dass ich relativ früh eine Haltung hatte zwischen entweder: ich begebe mich in diese Welt hinein, schüttle sie danach aber auch wieder ab, begebe mich in so eine kurze Erfahrung, aus der ich mehr oder weniger unverändert herausgehe, und dieser analytischen Haltung.

Im Blick auf den Film bemerkt er, dass er nicht sagen könne, welche Rolle unterbewusste Prozesse gespielt haben könnten. Er deutet sein vorübergehendes Interesse an Horrorfilmen als eine Form des Angstmanagements. In 245

der Pubertät habe er Angst gehabt, wahnsinnig zu werden und diese Thematik auch in der Literatur verfolgt: „Dieses Überschreiten geistiger und gefühlsmäßiger Schmerzgrenzen, also da in so Extrembereiche zu kommen, in denen man nicht mehr weiter weiß oder wo dann das Schlimmste droht, der Absturz in so eine Hölle im Kopf oder so.“ Filme seien dann später wichtiger geworden (etwa ab 20), als das den eigenen Wünschen und Ängsten Ausgesetztsein der Pubertät nicht mehr so stark war. Sie hätten darum auch nicht die Rolle „der fundamentalen Verstörung oder des Schocks oder der Erneuerung“ spielen können. Selbst, wenn es Schock-Filme waren, haben sie mich selten so tief berührt, sondern ich bin meistens rausgegangen und habe gedacht, ja, ein Film. Auch das Fernsehen war dann eher ein Objekt der Reflexion, aus dem man was lernt, weil man beobachtet, wie es gemacht ist. Und wo man symptomatisch nach bestimmten Befindlichkeiten der Gesellschaft sucht oder nach Befindlichkeiten eines Milieus oder einer Kultur, aber das eher auf so einer reflektierenden Ebene. Ich glaube, das hat dann nicht diese Wucht.

Im Blick auf Lebensbewältigungsfunktionen schätzt Felix seine Lektüreerfahrungen als die bedeutsamsten ein. Bücher hätten ihm Ablenkung geboten, Fluchtmöglichkeiten, Trost. Sie hätten ihm einen Sinn vermittelt für die „tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst“ und zu seiner Selbstbildung, Geschmacksverfeinerung und Wahrnehmungsdifferenzierung beigetragen. In der Pubertät hätten sie auch religiöse, weltanschauliche und altersbedingte Probleme lösen helfen, die Felix mit den Stichworten „Gott, Tod, Sex“ umschreibt. Da der Film erst bedeutsam wurde, als die Gefühlsstürme der Pubertät sich gelegt hatten, konnte er nicht mehr so grundsätzlich erschüttern oder berühren. Auch sei die Mediennutzung schon damals im Alter von ungefähr 20 sehr reflexiv gewesen, die Medialität der Medienerfahrung sei immer kritisch präsent gewesen. Das gilt auch für das Fernsehen. Die Vorrangstellung von Buch und Lektüre ist überdeutlich. Besonders auffällig ist dabei die prägnante Beschreibung und Betonung der Horizonte eröffnenden und die Imagination anregenden Funktion von Literatur, ihre Fähigkeit des Aufzeigens der „tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst“. Die Beschreibungen der Lektüreerfahrungen von Felix unterstreichen erneut die theoretischen Überlegungen von Paul Ricoeur zur Eröffnung des „Spiel(s) imaginativer Variationen“ des Selbst durch die Lektüre. Möglicherweise ist die Literatur im Blick auf die Möglichkeit zu imaginativer Stimulation am Ende doch wirkungsvoller als die audiovisuellen Medien Film und Fernsehen, die immer schon konkrete Bilder liefern. Heute liest Felix, vor allem aus beruflichen Gründen, „immens viele“ Sachbücher und meint, dass diese den stärksten Einfluss auf sein Welt- und Menschenbild hätten. Belletristik liest er punktuell, wenn es seine Zeit erlaubt, dann aber mit großem Genuss. Seine Belletristik-Auswahl charak246

terisiert er als „sehr wahllos eklektizistisch“, er habe oft zu ausgemusterten und weggeworfenen Büchern aus der nahegelegenen Bücherhalle gegriffen, die er zufällig gefunden habe. Filme müsse er aus beruflichen Gründen viele sehen, weshalb seine Filmrezeption sehr stark analytisch geprägt sei. Das Fernsehen sei ein Begleitmedium. Als Medienproduzent nennt Felix die Wissenschaft als seine Form des tätigen Weltumgangs, spricht aber auch von einem „Restwunsch“ nach einem mehr künstlerischen Ausdruck. Gern würde er Dokumentarfilme drehen, nicht zuletzt, weil sie Wahrnehmungen der Gesellschaft ermöglichten, die ihm als Schreibtischarbeiter sonst nicht zugänglich seien. Auf die letzte Frage zu den im Blick auf Ethik und Religion biographisch prägendsten Erfahrungen hin wird das Interview dann noch einmal sehr persönlich. Wesentlich sei die Kindheitserfahrung gewesen, wegen einer lebensbedrohlichen und die Eltern stark beanspruchenden Erkrankung seines Bruders „sehr allein gelassen“ zu sein. Weiter nennt Felix als prägend die Erkenntnis der Sterblichkeit und die Unmöglichkeit, den Glauben vieler an ein Weiterleben nach dem Tod zu teilen. In seinen Worten: Dann ein weiteres prägendes Erlebnis war, glaube ich, tatsächlich die Erkenntnis von Sterblichkeit und diese ineins fallende Erkenntnis, es könnte so etwas wie ein Aufgehobensein in so einem Glauben an so etwas wie einen Gott geben, viele glauben daran, aber du kannst nicht daran glauben, das ist dir einfach unplausibel und letzten Endes kannst du nicht diesen Weg gehen, also diese Entscheidung, die stark an die Erkenntnis von Vergänglichkeit und Tod geknüpft war.

Zu den einschneidenden Erfahrungen zählt Felix weiterhin die Erfahrung des unglücklichen Verliebtseins und später die intensive Erfahrung von Leid und Tod im Rahmen seines Zivildienstes in einem Altenheim, die dortigen Erfahrungen der würdelosen Behandlung der alten Menschen, des Verfalls und des Kontrastes zwischen alten Fotos aus besseren Tagen an der Wand und dem damals aktuellen Zustand der jeweiligen Bewohner. Felix resümiert: Diese Erfahrung, die war doch sehr grausam im Grunde. […] Die hat sich dann auf weniger schlimme Weise fortgesetzt im Obdachlosenheim, wo ich dann mit Alkoholikern zu tun hatte und als Nachtportier in einer halbgeschlossenen Nervenklinik, wo ich halt diese Biographien auch gesehen habe. Und das war geballtes Leid über drei Jahre.

Offenbar ist Felix an diesen Erfahrungen auch gereift. Denn er sagt im Rückblick: „Danach hatte ich dann eher so das Gefühl, einer größeren Situationsmächtigkeit, einer größeren Fähigkeit, selbst zu gestalten und auch eben mit den eigenen Gefühlen umgehen zu können.“ Interessant ist die Schlusssequenz des Interviews, in der es darum geht, wie Felix zu dieser Massivität von Erfahrungen der Negativität – „geballtes 247

Leid über drei Jahre“, wie er selbst sagt – gekommen ist. Er stellt am Ende dieser Interaktion fest: „Ich wollte ja unbedingt ins Altersheim und auf die Intensivpflege und dort meinen Zivi machen. Vielleicht hätte ich mich nicht dafür entschieden, wenn ich nicht vorher schon eine Nähe zu diesem Thema gehabt hätte.“ Diese Äußerung legt die Interpretation nahe, dass die frühen Erfahrungen der schweren Erkrankung des Bruders und die damit verbundenen Einsamkeitssituationen prägend für einen Blick auf das Leben waren, der immer wieder dazu neigt, Einsamkeit und Leiden zu perspektivieren und aus Gründen der wiederholenden Durcharbeitung auch aufzusuchen. Gesamtinterpretation Folgende Merkmale des Interviews mit Felix fallen resümierend besonders auf: Felix ist ein sehr intensiver Leser, der Schlüsselerfahrungen der Selbstbildung in ethischer, weltanschaulicher und religiöser Hinsicht („Gott, Tod, Sex“) mit Büchern gemacht hat. Dabei hatte die Lektüre die Funktion, selbst schon Gedachtes oder Vermutetes zum Ausdruck zu bringen (etwa der Siebenkäs die Erfahrung der Schönheit und Sinnfälligkeit des Alltäglichen), religiöse, weltanschauliche und emotionale Probleme zu bewältigen (die Lektüre von Existiert Gott? in der Konfirmandenzeit; die Angst, wahnsinnig zu werden; Der Zauberberg), neue Horizonte und Selbstentwürfe zu eröffnen (Der Zauberberg, Leonce und Lena) und natürlich nicht zuletzt die des ästhetischen Genusses von komplexen Darstellungen (Die Korrekturen). Besonders deutlich geworden war bei Felix die horizonterweiternde und imaginationsstimulierende Wirkung der Literatur, ihre Funktion als Ressource im Prozess der Selbstproduktion, der Bearbeitung positiver Kontingenz. Der Film trat erst zu Beginn seines Studiums intensiver in sein Leben. Seine Rezeption bekam dann aus beruflichen Gründen bald eine sehr analytische Prägung. Neue Erfahrungen und Wahrnehmungen vermittelten, so Felix, eher Dokumentarfilme, der Spielfilm sei durch seinen Konstruktionscharakter in seiner Wirkung schon geschwächt. Bemerkenswert ist, dass die Dokumentarfilmerfahrungen, von denen Felix zu Beginn des Interviews berichtet (u.a. mit Baran), auch starke moralische Impulse enthielten, die Wahrnehmung der Lebensbedingungen der gezeigten Menschen, die „Aufforderung“ enthalten habe, „dass man im Grunde eigentlich etwas tun müsste“. Seine Glaubwürdigkeit gewinnt der Dokumentarfilm daraus, dass er zeigen kann, „wie Menschen tatsächlich leben“. Er ermöglicht es, deren Perspektive einzunehmen und nachzuvollziehen und führt auf diese Weise gleichsam automatisch in den Vergleich mit der eigenen Lebenssituation. Der Spielfilm habe für Felix vor allem die Funktion der Affirmation und Klarifikation eigener Sichtweisen. Empfindlich reagiert er auf besserwisse248

rische Erzählhaltungen. Hier wird noch einmal sehr deutlich, wie zentral die Dimension des Ästhetischen für die Wirkung des Medienproduktes Film ist. Schon ein sich ganz subtil durch den Handlungsaufbau vermittelnder pädagogischer „Tonfall“ kann die Rezeption erheblich stören und behindern. Ein gewisser thematischer Fokus der von Felix genannten Filme ist bei den Themen Selbstzerstörung, Angst, Todessehnsucht erkennbar. Mit dieser Thematik ist er schließlich auch im Zivildienst konfrontiert und nicht zuletzt in seiner jüngsten Lektüreerfahrung (Die Korrekturen). Vor dem Hintergrund der lebensbedrohlichen Erkrankung seines Bruders und der für ihn daraus resultierenden Einsamkeit in frühester Kindheit, könnte man interpretieren, dass hier ein zentrales Lebensthema von Felix immer wieder seine Medienrezeption bestimmt und vor allem in Erfahrungen mit Büchern und Filmen durchgespielt wird – im Sinne der vermittelten Erinnerung, Wiederholung und Durcharbeitung, der Verfeinerung des Verständnisses, der komplexen auch ästhetischen Wahrnehmung und der Eröffnung neuer Horizonte und Hoffnungen. Das Fernsehen ist hinsichtlich der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen eher zweitrangig, es dient vor allem als Begleitmedium der Informationsbeschaffung, der gelegentlichen Unterhaltung und der Gesellschaftsbeobachtung (Moraldiskurse, Milieus). Allein die Fernsehdokumentation vermag eine bedeutsame Medienerfahrung zu vermitteln. Felix Verhältnis zur kirchlichen Religionskultur ist ambivalent: einerseits bezeichnet er sich als nicht religiös, andererseits ist er nach wie vor Mitglied der evangelischen Kirche. Auf der intellektuellen Ebene hat er sich schon im Zusammenhang seiner Konfirmation anhand des Buches Existiert Gott? von Hans Küng mit den Fragen von Religion und Religionskritik auseinandergesetzt – mit einem negativen Ergebnis. Ein weiteres Motiv für die Beschäftigung mit Religion in dieser Jugendphase war die Erkenntnis der Sterblichkeit, Endlichkeit und die Frage nach einem Leben nach dem Tod. Doch auch hier das Ergebnis: „das ist dir einfach unplausibel und letzten Endes kannst du nicht diesen Weg gehen.“ Wollte man die individuellen weltanschaulich-religiösen Sinnhorizonte umreißen, wie sie in dem Interview zur Darstellung kommen, so könnte man sagen: Die zentrale religionskulturelle Sinnressource in der Biographie von Felix sind Bücher. Später, zu Beginn seines Studiums, kommen Filme hinzu. In ethischer Hinsicht ist der Dokumentarfilm bedeutsam, weil er die Lebenssituation und das Leiden anderer wahrnehmbar macht und dadurch Mitgefühl und die Bereitschaft zum Engagement auslöst. In inhaltlicher Hinsicht sind drei Aspekte hervorzuheben: die Auseinandersetzung mit dem Thema der kontingenten Selbstdestruktivität (Eraserhead, Leaving Las Vegas), der Schönheit und Intensität des Alltäglichen (Siebenkäs) und der vielfältigen Möglichkeitshorizonte, unter denen die Gegenwart des eigenen 249

Lebens zu betrachten insbesondere die Literatur vielfältige Anregung gibt. Auf Stichworte gebracht geht es bei den letztinstanzlichen Sinnhorizonten von Felix um die Themen: Authentizität, Kontingenzbewältigung/Verstehen, ästhetische Lebenssteigerung im Sinne der aisthetisch-kontemplativen Intensivierung des Augenblicks einerseits (das Wunderbare im Alltäglichen: Jean Paul) und der ästhetisch-imaginativen Optionalisierung des Selbst und der eigenen Zukunft („tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst“) andererseits. 2.1.4 Lebensdarstellung Hans: Mimesis und Ästhetik als Faktoren medienreligiöser Wirkung Biographische Daten, religiöse Orientierung, Mediengebrauch, Situation Hans ist 39 Jahre alt, hat ein Magisterstudium der Literaturwissenschaften, der Soziologie und der Philosophie absolviert, lebt in einer Großstadt, arbeitet an einer Dissertation über Fontane und erwirtschaftet seinen Lebensunterhalt mit Tätigkeiten als freier Autor und Übersetzer. Hans gehört zu den Interviewpartnern, die aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Autors gewonnen werden konnten. Anstoß zu dem Interview gab eine Äußerung von Hans in einem Gespräch mit dem Autor, in dessen Zusammenhang er erwähnte, dass er durch Kung Fu-Filme im Fernsehen zum Zen-Buddhismus gekommen sei. Das Interview wurde an zwei Abenden am 24. April 2003 und am 7. Mai 2003 in der Wohnung des Interviewten geführt. Hans ist zwar evangelisch getauft, aber aus der Kirche ausgetreten. Sein Verhältnis zur Kirche: „skeptisch, zu allen Kirchen gleichermaßen distanziert“. Er bezeichnet sich als nicht religiös. Religion hat für ihn mit der „Vorstellung eines Gottes oder des Göttlichen und [...] eines Jenseits“ zu tun. Seine Medienvorlieben sind Filme und Bücher, besonders schätzt er die Romane des 19. Jahrhunderts und die Klassiker des Spielfilms. Er schätzt seine Kinopraxis auf 20 bis 40 Besuche im Jahr. Mit dem Fernsehen verbringt er etwa 45 Minuten am Tag, mit Büchern nach eigenen Einschätzung sieben bis acht Stunden täglich. Zwei Besonderheiten zeichnen das Interview mit Hans in formaler Hinsicht aus: zum einen seine im Vergleich mit den übrigen Interviews erhebliche Länge (insgesamt über vier Stunden, zwei Abende waren notwendig!), zum anderen seine dialogischen Elemente. Ein wesentlicher Grund für die Länge des Interviews waren die ausführlichen Äußerungen von Hans zum Komplex des Lesens. Hier steht seine professionelle Auseinandersetzung mit Fontane und dem Roman des 19. Jahrhunderts im Rahmen seiner Dissertation im Hintergrund. 250

Rekonstruktion und Interpretation des Interviews Das Interview mit Hans zeigt in einigen Passagen besonders deutlich, wie sehr die Wirkung von Medienerfahrungen mimetisch und ästhetisch vermittelt ist, wie sehr also auch Medienreligiosität von diesen Faktoren abhängt. Aktuelle Medienerfahrungen Dem Himmel so fern war der letzte Film, den Hans gesehen hat, ein „sehr sympathischer Film“ – wie er betont. Er habe die Geschichte, die im Amerika der 50er Jahre spielt und in der es um Rassismus und Homosexualität in der damaligen Gesellschaft geht, gut nachvollziehen können. Ein wenig hätten ihn die Konflikte der Filmgeschichte an sein Aufwachsen in den 70er Jahren erinnert, generell sei der Film aber mehr eine Erinnerung an Probleme vergangener Zeiten gewesen. Aktueller, interessanter und intensiver war die Erfahrung mit dem Film Adaption, den Hans ebenfalls unlängst gesehen hat. Hans gerät ins Schwärmen, „sehr gut“, „brillant“, „das ist einer der intelligentesten Filme, die ich überhaupt in den letzten Jahren gesehen habe, und ich war restlos begeistert davon“. Es geht um den Versuch eines Drehbuchautors, das Buch The Orchid Thief der Journalistin Susan Orlean für die Leinwand zu adaptieren. Hans: Und da geht es ja so um eine sehr abstrakte und scheiternde Suche nach dem Sinn des Lebens und der ekstatischen Erfahrung in der Suche nach einer ganz bestimmten Orchidee, und (lacht) das fand ich sehr klug und sehr witzig. Am Schluss stellt sich heraus in diesem Film, dass diese Menschen, die nach dieser Orchidee suchen, dieses Paar, um daraus eine Droge zu bereiten, und der Film wird burlesk und komisch.

Hans rühmt den in dem Film auch enthaltenen „Seitenhieb auf das Hollywood-Business“, der ihm „sehr gut gefallen“ hat. Im Blick auf seinen lebensphilosophischen Gehalt hebt Hans hervor: Es hat mich zumindest sehr zum Nachdenken gebracht, diese Idealisierung dieser Ghost-Blume, ja, Ghost nannte sich das im Original, diese Orchidee, die extrem seltene Orchidee, die zu finden in diesen Sümpfen also für den Gescheiterten und durch einen tragischen Unfall seiner Familie beraubten Mann das einzige Lebensziel ist, da scheint mir viel Wahres drin zu stecken, da wird etwas idealisiert, was ästhetisch tatsächlich außerordentlich schön ist und die Idee ist die, dass diese Blume, es hat ganz eindeutig auch einen Bezug zur Romantik, insbesondere zur deutschen Romantik, das ist die ‚Blaue Blume‘ von Novalis, die hier in Gestalt einer Orchidee wieder auftaucht, dass das sozusagen den höchsten Lebenssinn vermitteln würde, die blaue Blume zu finden. Und es stellt sich dann heraus, dass man daraus aufgrund einer alten indianischen Rezeptur eine Droge gewinnen kann, die so kokain-artig wirkt und einem einen ganz tollen Kick gibt, und dass er deshalb so scharf auf diese Blume ist. Das ist also eine grobe Ernüchterung der Romantik. Deshalb find ich das sehr witzig und sehr klug und das gibt zu denken, ja.

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Hans findet insbesondere das Thema der Idealisierung in diesem Zusammenhang interessant. Damit hat er sich unlängst auch theoretisch befasst. Hans führt aus: Das geht es um die Ziele, die wir im Leben verfolgen, aufgrund unserer Ideale, das, was wir anstreben, das, was wir selbst sein möchten, wie wir von anderen wahrgenommen werden möchten, auch unser Selbstwertgefühl, und, ja, wie das zusammenhängt mit diesen Prozessen der Idealbildung, die ja auch eine sehr negative Seite haben.

Er kommt auf ein Buch des Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer zu sprechen, in dem die Destruktivität von Idealen beschrieben wird. Hans: Und ich denke, das gibt es, und ja, deshalb beschäftigte mich dieser Film auch so, auch dieser Schriftsteller, der da von Nicolas Cage gespielt wird, der dieses Drehbuch versucht zu adaptieren, ist ja ein Mensch, der ungeheuer hohe Ideale hat, im Gegensatz zu seinem Bruder, der einfach nur Erfolg haben will und den letzten kommerziellen Trash schreibt, und diese Ideale haben auch eine destruktive Seite, er quält sich nur und wird damit wohl keinen Erfolg haben, sehr unwahrscheinlich, weil er da was Unmögliches anstrebt, und das ist ja sozusagen das, er will das Buch über die Suche nach der Blauen Blume zu einem Drehbuch adaptieren und ist damit so auf der Suche nach der Blauen Blume. Und ich denke, sagte mir mal vor einiger Zeit ein befreundeter Schriftsteller, man leidet unter seinem Ich-Ideal und den Anforderungen, die das eigene Ich-Ideal an einen stellt und nur deshalb schreibt man Bücher. Also, wer das nicht hat, bei wem diese Ideal-Bildungsprozesse nicht so verlaufen sind, dass er ein so hoch hängendes Ich-Ideal hat, der setzt sich auch nicht hin und versucht, ein Buch zu schreiben, so wie ich es auch mit meinem Fontane-Buch tue. Man setzt sich selbst unter solchen Druck und will das, und insbesondere diese merkwürdige Idee, man müsse ein Buch schreiben, das tun nur Menschen, die solche Ideale haben und sich selbst ein so hohes Ziel vorschreiben.

Hans fügt hinzu, dass man auch einträglichere Tätigkeiten verrichten könne, er selbst aber auf die materiellen Gratifikationen nicht „sonderlich scharf“ sei. Das habe auch mit seiner kritischen Haltung gegenüber der Elterngeneration zu tun. Gleichwohl bewundert er seinen Vater, der in seinem Alter schon ein Haus gebaut hatte. Er wolle jedoch lieber ein Buch schreiben als ein Haus bauen, das sei seine Realität und sein Leben und das sei auch vollkommen in Ordnung so. Das einzige Problem sei, dass er sich durch seine hohen Ideale zu oft den unmittelbaren Lebensgenuss verbaue. Cecile von Theodor Fontane ist das Buch, das Hans in den letzten Jahren am intensivsten beschäftigt hat. Schon seit zwei Jahren arbeitet er an dem Cecile-Kapitel seiner Fontane-Dissertation. Das Buch habe ebenfalls viel mit den gerade im Zusammenhang des Films Adaption angesprochenen Themen Idealbildung und Narzissmus zu tun. Die großen Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts seien seine Leidenschaft, wissenschaftlich wie privat. Er sieht durch diese Romane auch psychologische Vorarbeit für die 252

psychoanalytische Theorie Freuds geleistet. Generell ist Hans der Meinung, dass die Romankunst im europäischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts ein Niveau realisiert, das später nie wieder erreicht wird. Beeindruckt ist Hans auch von dem Realismus-Konzept dieser Romankunst: Und Dinge kommen in den Blick, die vorher gar nicht in den Blick gekommen sind, und mich persönlich beeindruckt auch grade dieses Programm der Realisten, mit dem Anspruch Realität darzustellen. Die natürlich für den Literaturwissenschaftler nicht einfach zu wiederholen ist, die Realisten bilden die Realität ab, oder so etwas, so etwas gibt es nicht, die Realität, die sie da darstellen in ihren Texten, ist ein Konstrukt. Aber es ist ein sehr differenziertes Konstrukt, differenzierter, als es vorher je möglich war, und durch eine sehr genaue Beobachtung geprägt. Und da sehe ich auch immer noch das, was mich an künstlerischen Äußerungsformen, sei es von einem zeitgenössischen Spielfilm oder auch sonst einem Roman, was mich daran begeistert und was mich interessiert, weshalb ich mich damit beschäftige, das ist das, was ich dann auch im Glücksfall, im gelungenen Fall, als Realismus betrachten kann, nämlich eine auf genauer Beobachtung von Menschen basierende Einsicht. Und ich denke, was ich jetzt vorhin über den Film Adaptation gesagt habe, ist ein ganz gutes Beispiel dafür. Und da seh’ ich durchaus auch einen Zusammenhang mit der ganzen Entwicklung des europäischen Romans in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Im Blick auf den Roman Cecile führt Hans aus, dass ihm die darin auch enthaltene Narzissmus-Problematik besonders aktuell zu sein scheint. Die Hauptfigur sei in hohem Grade narzisstisch und dabei und dadurch zugleich ungeheuer leicht kränkbar. Narzissmus sei im Übrigen, darauf habe die neuere psychoanalytische Theorie hingewiesen, vor allem ein Bedürfnis nach Wertschätzung, danach, sich mit den Augen der anderen sehen zu können, um ermessen zu können, wie man auf andere wirkt und von ihnen bewertet wird. Narzissmus sei also eine im Kern soziale Thematik, kein Phänomen des Rückzuges auf sich selbst. Hans bekennt sich hier zur Beschreibungskraft des psychoanalytischen Narzissmus-Diskurses. Die Äußerungen über Cecile haben sich immer mehr theoretisch erweitert und mittlerweile eine allgemeine psychologisch-anthropologische Ebene erreicht. Die aktuellen Fernseherfahrungen von Hans sind stark durch die Fernsehberichterstattung über den Irak-Krieg bestimmt. Hans war ganz einverstanden mit der doch einigermaßen kritischen Berichterstattung, der es auch immer einmal gelang, Propaganda-Inszenierungen zu entlarven. Die Erfahrungen mit dem Film Adaption und dem Roman Cecile bestimmen die Äußerungen über aktuelle Medienerfahrungen. Es wird deutlich, dass die Erfahrung des Drehbuchautors in dem Film Adaption der Erfahrung von Hans als Verfasser einer Dissertationsschrift über Fontane korrespondiert. Die Schilderung der Filmerfahrung geht in lebensphilosophische Überlegungen über, die Frage nach dem Lebenssinn, die der Film Adaption bearbeitet, geht über in die Frage, welche Ziele Hans in seinem 253

Leben verfolgt. Wie Charly Kaufmann in Adaption ist es Hans wichtiger, ein gelungenes Buch zu schreiben als viel Geld zu verdienen. Wie Kaufmann sich von seinem Bruder unterscheidet, der mit seinem Drehbuchprojekt auf (ökonomischen) Erfolg zielt, unterscheidet sich Hans von seinem Vater, der im Alter von Hans schon ein Haus gebaut hatte. Immaterielle, kulturelle Werte und Ideale bestimmen den individuellen Sinnkosmos von Hans: Er möchte Autor einer gelungenen Form sein. Dabei leidet er an seinen Idealen und beklagt, dass sie ihm manchmal den Lebensgenuss verbauen – eine weitere Nähe zur Hauptfigur aus Adaption. Man könnte hier davon sprechen, dass sich ein traditionelles christliches Motiv mehrfach gebrochen in dem Transkript des Interviews mit Hans zur Darstellung bringt: das Motiv der gelungenen Schöpfung. Schon auf der Ebene des Films ist es in mehrfacher Weise präsent: 1. Die Figur Charly Kaufmann wird in einem schöpfungsgeschichtlichen Kontext exponiert.23 2. Die Protagonisten sind der Schönheit der Schöpfung in der Form einer besonderen Orchidee auf der Spur. 3. Charly Kaufmann arbeitet an der filmischen Umsetzung eines Buches über diese Orchideenobsession und insofern an dem Problem einer gelungenen Form/Schöpfung, die ihrerseits die gelungene Schöpfung zum Inhalt hat. 4. Charly Kaufmanns Drehbucharbeit kann als Metapher für die generelle Lebensgestaltungsaufgabe und ihre spezifischen Probleme gelesen werden. Hans knüpft an den Film an, indem er die schöpferische Tätigkeit der Autorenschaft zu seinem Lebensziel erklärt. Dabei verfolgt er – wie Charly Kaufmann – hohe Ideale: Er will nicht einfach nur ein Buch schreiben, es geht nicht nur um Schöpfung um der Schöpfung willen, es geht vielmehr entscheidend um die gelungene Schöpfung: um die Schönheit und Idealität, die in dem Film Adaption von der begehrten Geist-Orchidee verkörpert wird. Dieser Zusammenhang ist an mehreren Stellen mit der FontaneBeschäftigung verknüpft: zum einen über das Thema der Autorenschaft, zum anderen über die Themen Idealität und Narzissmus. Ging es in Adaption um eine schöne Blume und ihre Wertschätzung und damit verschränkt um Autorenschaft und deren Wertschätzung, so geht es in dem von Hans zitierten Fontane-Roman Cecile um Wertschätzung und Kränkung am Beispiel eines Frauenschicksals. Kindheit Seine erste Kinoerfahrung hat Hans im Alter von ungefähr sieben Jahren mit dem Walt Disney-Zeichentrickfilm Die Zauberflöte gemacht. Es war 23 Vgl. dazu meine Deutung des Films in: Jörg Herrmann, American Beauty – Mystik und Metaphysik im Film, in: Rüdiger Sareika (Hg.), Bill Viola. Die Wiederentdeckung des Mystischen in der Videokunst. Tagungsprotokolle. Institut für Kirche und Gesellschaft, Iserlohn 2004, 71–79.

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ein sehr beeindruckendes, faszinierendes Erlebnis. Bemerkenswert ist, dass seine Kinokindheit nicht von den eigenen Eltern begleitet wurde, sondern die Kinobesuche unter Aufsicht der Eltern einer Kindheitsfreundin stattfanden. Weitere Filmerfahrungen der Kindheit waren durch das Fernsehen vermittelt. So hat er in der Abwesenheit der Eltern heimlich Hitchcocks Die Vögel im Fernsehen gesehen. Die Eltern seien dann nach Hause gekommen, es habe einen „Riesenärger“ gegeben und Hans habe den Film nicht zuende sehen dürfen, habe seinen Fortgang aber im Bett mit Hilfe seines RadioWeckers, mit dem er den Fernsehton habe empfangen können, weiter verfolgt. Hitchcock sei der erste Regisseur gewesen, den er bewusst wahrgenommen habe, der ihn fasziniert habe und bis heute fasziniere – nicht zuletzt wegen seiner virtuosen Spannungsdramaturgie. Unter den Autoren seiner Kindheit hebt Hans Mark Twain hervor, auch ein Realist des 19. Jahrhunderts. Tom Sawyer und Huckleberry Fin seien sehr wichtige Bücher gewesen. Er habe auch die Kritik am Rassismus, die in Huckleberry Fin enthalten sei, schon empfunden. Hans führt aus: Und das hat er mir nahe gebracht, schon in Kinderzeiten, obwohl ich das gar nicht richtig verstanden habe natürlich, aber die Bezeichnung von diesen bösartigen engstirnigen Figuren, die diesen armen Jim nur wegen seiner Hautfarbe dermaßen quälen, das ging mir schon sehr nahe, das hab ich als Kind schon auch begriffen, denk ich. Auch wenn man das natürlich nicht verorten konnte in irgendeinem historischen Kontext, es war sehr abgelöst davon.

Später sei dann das Wissen um die amerikanische Geschichte hinzugekommen. Als Kind habe er die Bücher als Abenteuerromane gelesen, später habe er sie dann kontextualisieren können und ihren Realitätsgehalt besser wahrnehmen können. In der Erinnerung an seine damalige Lektüreerfahrung fällt Hans auf, dass er in seiner Identifikation zwischen den Figuren Tom Sawyer und Huckleberry Fin hin und her geschwankt sei, dass ihm „Huck Fin“ wegen seiner Außenseiterposition manchmal näher gewesen sei. Die Fernseherfahrungen von Hans waren in keiner Weise spektakulär und wie die von vielen Kindern von Chaplin, Dick und Doof, Lassie und Flipper geprägt. Hervorzuheben scheint mir im Blick auf die kindlichen Medienerfahrungen von Hans insbesondere seine Mark Twain-Lektüre und das frühe Verständnis für das Problem des Rassismus in Amerika, das diese Lektüre ihm eröffnete. Jugend In der Jugend war dann die Kung Fu-Fernsehserie mit David Carradine wichtig und hatte einschneidende religionsbiographische Konsequenzen. Es gab eine kollektive Begeisterung für diese Serie an der Schule, eine ganze Gruppe 255

von Jungs, zu der auch Hans gehörte, begann, Kung Fu zu trainieren und sich entsprechende Bücher zu besorgen. Die jugendliche Begeisterung für die Serie sei damals generell sehr verbreitet gewesen. Das mimetische Potential der Serie habe sich auch an den Knochenbrüchen gezeigt, zu denen es in der Folge nachgeahmter Kampfhandlungen gekommen sei. Die Gewaltdarstellungen seien jedoch im Vergleich zu dem heute Üblichen sehr harmlos gewesen, zudem stark ästhetisiert. Hans sieht Carradine noch vor sich, wie er mit seiner Umhängetasche durch den amerikanischen Westen zieht. Hans: Das waren ja immer Zeitlupenaufnahmen, die ja auch fantastisch aussahen, David Carradine hat das ja wunderbar gemacht. Ich sehe ihn noch vor mir, mit dieser Umhängetasche und diesen Klamotten, er war ein Huckleberry Fin des, die Idee, ein Chinese durchquert den amerikanischen Westen, und das waren ja auch so Verbindungen, man hat den Hong Kong-Kung Fu-Film genommen und den amerikanischen Western und hat das zusammengemixt. Eigentlich doch sehr originell auch.

Durch die Fußnote in einem Karatebuch, das sich Hans im Zuge seiner Begeisterung für die Serie besorgt hatte, stieß er dann auf das Buch Hara von Karlfried Graf Dürkheim. Dieses Buch habe er im Alter von 14 sehr genau studiert und habe die Meditationsanleitungen auch selbst ausprobiert. Durch ein Gespräch über das Buch mit seinem Vater habe er das autogene Training entdeckt, das er daraufhin ebenfalls ausprobiert habe. Grund für die Buchrecherchen sei vor allem der Wunsch gewesen, ebenso unangreifbar und stark zu werden wie David Carradine (Mimesis!). Hans: „Zunächst war mal der Gedanke da, dass ich und meine Freunde ausgezeichnet Kung Fu können, um eben so gut zu sein wie eben David Carradine im Film und damit stark und unangreifbar zu sein, was man sich vorstellt, und dazu haben wir uns solche Bücher besorgt.“ Das Interesse für Meditation und dann auch für den Zen-Buddhismus hielt sich bis in die Gegenwart durch. Entsprechende Lektüren bildeten den Hintergrund für den Besuch einer Vortragsveranstaltung mit einem ZenMeister in seiner Studierstadt. Dieser Meister habe ihn sehr beeindruckt. Aufgrund der Erfahrung an diesem Abend hat sich Hans diesem Meister angeschlossen und unter seiner Anleitung die Zen-Meditation erlernt. Hans war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt. Als er dann wenig später in seine jetzige Wohnstadt kam, hat er sich auch dort einem Zen-Dschodo angeschlossen, dem er so lange verbunden blieb, bis der dortige Meister wegging. Hans praktiziert die Zen-Meditation aber weiterhin jeden Tag. Als bedeutendstes Buch seiner Jugendzeit benennt Hans Selma Lagerlöfs Reise des kleinen Nils Holgerson mit den Wildgänsen. Hans: ein „ganz fantastisches Buch, das natürlich auch eine sehr starke religiöse Thematik hat, ein sehr christlich geprägtes Buch, was mich damals auch sehr berührt hat. Ich glaube, das hat auch eine kurze christliche Phase mit angestoßen.“ 256

Das Christliche daran beschreibt Hans mit den Worten: „Das ist so ‚compassionate‘, sagt man im Englischen. Ein starkes Gefühl des Mitleidens, Mitgefühls mit der Kreatur.“ Hans vergleicht die fantastische Dimension des Buches mit Tolkiens Herr der Ringe, einem Titel, den er mit zwanzig gelesen hat. Lagerlöfs Buch sei in gewisser Weise das Pendant seiner späten Kindheit/Jugend zum Realismus Mark Twains gewesen. Außerdem habe er natürlich als Kind Astrid Lindgren gelesen. Als Jugendlicher sei zudem Karl May von zentraler Wichtigkeit gewesen. Darauf habe ihn sein Vater gestoßen. Im Kino war Hans in seiner Jugend vergleichsweise wenig. Das lag nicht zuletzt an der Tagesheimschule, die er besuchte und die keine Zeit für das Kino ließ. Bemerkenswert ist an den Schilderungen zur Jugendphase an erster Stelle die Erfahrung mit der Serie Kung Fu. Ausgangspunkt ist die mimetische Wirkung: Hans und die anderen Jungs wollten so stark und unangreifbar sein wie David Carradine. Darum besorgten sie sich Bücher. Die Wirkung der Serienerfahrung im Leben von Hans ist weiterhin ein Paradebeispiel für die Wechselwirkung von Medienerfahrungen sowohl auf der Ebene des Medialen (Intermedialität) als auch mit sozialen Erfahrungen: Das durch die Serie ausgelöste Interesse für Kung Fu führte zu Lektüren, die ein Interesse für den ZenBuddhismus auslösten, das wiederum dazu führte, dass Hans an einer Veranstaltung teilnahm, die ein Erlernen der Zen-Meditation nach sich zog, die Hans bis heute praktiziert. Der mimetische Impuls der Kung Fu-Serie hat eine bemerkenswerte Wirkung in der Biographie von Hans entfaltet! Ebenfalls von zentraler Bedeutung scheint mir die Lagerlöf-Lektüre, von der Hans glaubt, dass sie eine „kurze christliche Phase“ bei ihm ausgelöst hat . Unter ‚christlich‘ versteht Hans in diesem Zusammenhang ein „starkes Gefühl des Mitleidens, Mitgefühls mit der Kreatur“. Verallgemeinernd könnte man interpretieren: Die Lektüreerfahrungen in der Kindheits- und Jugendphase scheinen in exponierter Weise Erfahrungen der imaginativen Rollenübernahme zu ermöglichen, des sich Hineinversetzens in Jims Perspektive im Blick auf die Mark Twain-Lektüre und in die des Nils Holgerson und seiner Wildgänse im Blick auf die Lagerlöf-Lektüre. Diese Rollenübernahme gehört zur Grundstruktur menschlicher Kommunikationsprozesse im Sozialen wie im Medialen.24 Sie ist, darauf haben die Forschungen zur Moralentwicklung hingewiesen, auch die Basis für differenzierte moralische Urteile.25 Diese Zusammenhänge legen es nahe anzunehmen, dass auch Medienerfahrungen für die moralische Entwicklung von Bedeutung 24 Darauf weist im Blick auf Medienrezeptionsprozesse insbesondere Fritz Krotz hin, vgl. ders., Mediatisierung, 63f. 25 Vgl. Ann Colby/Lawrens Kohlberg, Das moralische Urteil: Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz, in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt a.M. 1986, 130–162, 155.

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sind, möglicherweise, dies könnte man aus den Schilderungen von Hans schlussfolgern, sogar von erheblicher Bedeutung: Medienerfahrungen machen schließlich Rollenübernahmen möglich, die in dieser Prägnanz und Variation den Subjekten in ihrer Lebenswelt kaum zugänglich sind. Hier scheint sich ein Desiderat für weitere Forschungen anzudeuten. Erwachsensein Kino und Film wurden dann erst im Erwachsenenleben, insbesondere zu Beginn des Studiums wichtiger. Eine zentrale Rolle dabei spielte das Münchner Filmmuseum, das Hans in der Zeit seines Studiums manchmal drei bis vier Mal in der Woche aufsuchte, um sich dort Klassiker der Filmgeschichte und ganze Retrospektiven anzusehen. So konnte er sich die Filmgeschichte erschließen. Hans: „Und da bin ich sehr dankbar dafür, das hat mich das Filme-Sehen gelehrt.“ Über seine damalige Kinopraxis sagt er: „Also, da hatte ich auch Gleichgesinnte, die da immer mitgegangen sind, und wir haben uns danach die Köpfe heiß geredet über die Filme, also das war eine sehr intensive Zeit.“ Besonders geschätzt habe er damals Wim Wenders und dessen offene Ästhetik, aber auch der Western und seine Männerbilder hätten ihn besonders interessiert. Zu den Schlüsselerfahrungen mit Filmen gehörten auch Kubrick-Filme, „faszinierend in der Perfektion“, wie Hans betont. Er hebt den Film Clockwork Orange hervor, der in „ungeheuer“ beeindruckt habe. Das ethische Problem der Gewalt, das der Film reflektiert, habe ihn interessiert, aber mehr noch etwas anderes. Hans: „Aber das ist nicht das, was mich so daran begeistert, muss man auch gleich sagen: das meiste ist die Ästhetik.“ Ähnlich wie bei Tarkowskij, dessen frühe Filme für Hans wichtig waren, konnten ihn die späteren Kubrick-Filme allerdings nicht mehr so recht überzeugen. Clockwork Orange hat Hans unlängst wieder gesehen und merkt die starke Ästhetisierung der Gewaltdarstellungen an, auch die Darstellung der Gewalt als Vitalität. Die Verknüpfung von Ästhetik und Gewalt – der Hauptdarsteller liebt Beethoven – habe ihn mit 20 schon sehr irritiert. Beeindruckend fand Hans auch die Filme von Melville: Das sind absolut perfekte Filme in einer wunderbaren Ästhetik, da ist so, ja, das Gefühl der, sein berühmtester ist ja wohl der Le Samurai, Der eiskalte Engel, mit Alain Delon in der Hauptrolle. Also dieses Bild des völlig vereinsamten, nur auf sich gestellten Mannes, es hat etwas zutiefst Existenzialistisches.

Bei den Filmen mit Bogart, die er ebenfalls nennt, habe ihn die ethische Komponente besonders beschäftigt, das Bild des einsamen Mannes in einer feindseligen Umgebung, der sich dann doch für ein ethisches Verhalten entscheidet, das Existenzialistische: 258

Und das hat natürlich das Kino der 50er und 60er Jahre generell, auch grade in den USA, auch die Filme mit Humphrey Bogart haben mich sehr beeindruckt. Und diese Chandler-Verfilmungen, wo er den einsamen Detektiv spielt, das ist alles sehr geprägt vom Existenzialismus. Filme wie To have and have not und so etwas. Das sind, ja, so Filme, wo auch so stark herausgestellt wird, ähnlich wie ich das vorhin über den Western sagte: der Mann ist ganz auf sich gestellt, einer allein ist auf sich gestellt. Bei diesen Humphrey Bogart-Filmen ist ja der Konflikt häufig der, wenn ich das recht erinnere, To have and have not zum Beispiel, er steht im Prinzip auf dem Standpunkt, ‚ich stehe nur auf meiner eigenen Seite, ich lass mich von niemandem für irgendwas einspannen‘. Und er weicht von diesem Standpunkt dann schließlich ab. Er sieht, dass jemand seine Hilfe dringend braucht, der es auch wert ist und engagiert sich doch. Das hat auch eine sehr starke ethische Komponente und das hat mich wohl auch angesprochen in der Zeit, weil es ein Lebensgefühl traf. Also, ein Lebensgefühl, allein und auf sich gestellt zu sein. Und mit einer tendenziell feindseligen Realität fertig werden zu müssen. So würde ich das beschreiben.

Dieses Bild des einsamen Helden habe auch mit seiner damaligen Erfahrung zu Beginn des Studiums korrespondiert: mit der Erfahrung, ein Einzelkämpfer zu sein und sich mühsam und auf sich allein gestellt orientieren zu müssen, „gerade an dieser Universität, an der man ja auch ein verlorenes Schaf ist, und sich da irgendwie versucht zurechtzufinden und irgendwas aus seinem Leben zu machen“. Das Motiv des einsamen Helden bildet eine Brücke zu den Lektüreerfahrungen als Erwachsener, von denen Hans berichtet. Eine große Entdeckung war Arno Schmidt, den Hans mit Anfang 20 sehr mochte und von dem er bis auf das Alterswerk alles gelesen hat. Gefallen hat ihm an Schmidt auch dessen „radikaler Lebensentwurf“. Unter den Büchern von Schmidt hebt er den Roman Brand’s Haide hervor. Der sich darin mitteilende Lebensmut berühre ihn heute noch. Damals, vermutet Hans, waren es vielleicht auch die Parallelen zu seinem noch so unbestimmten und experimentellen Leben zu Beginn des Studiums, die eine Verbindung zu dem Buch darstellten. Hans hat sich aufgrund seiner Lektüreerfahrungen dann auch das Werk von Arno Schmidt systematisch zusammengekauft. Im Weiteren geht es noch einmal um Fontane und dessen tragische Sicht des Lebens. Das Fernsehen spielt im Erwachsenenleben von Hans eine eher marginale Rolle. Zu Beginn des Studiums habe er gar keinen Fernseher besessen, heute ärgere er sich immer wieder über sinnlos mit dem Programm-Zapping verbrachte Stunden. Die Medien seiner frühen Erwachsenenjahre waren, so könnte man sagen, das Münchner Filmmuseum und die Romane von Arno Schmidt. Die Aneignung von Filmgeschichte im Filmmuseum war dabei eine vieldimensionale Erfahrung. Sie hatte soziale Komponenten, man ging gemeinsam ins Kino und redete sich im Anschluss „die Köpfe heiß“, sie hatte ganz starke 259

ästhetische Komponenten, Hans ist von der Ästhetik von Clockwork Orange mehr beeindruckt als von seiner Gewaltthematik, und sie hatte nicht zuletzt inhaltliche Komponenten: vor allem das Motiv des einsamen Mannes, der sein Leben ohne fremde Hilfe meistern muss, hat Hans beeindruckt, nicht zuletzt, wie er auch selbst bemerkt, aufgrund der Korrespondenzen mit der schwierigen Orientierungssituation als Studienanfänger. Zu dieser Situation passte auch seine Lektüre des Schmidt-Romans Brand’s Haide, dessen Lebensmut ihn heute noch begeistern kann. Es zeigt sich in beiden Bereichen, bei den Filmen wie bei den Büchern, dass die Rezeption sehr stark von der soziokulturellen Position des Rezipienten Hans bestimmt ist. Nachfragen Im letzten Teil des Interviews rekapituliert Hans seine Medienbiographie und merkt im Blick auf Mediendominanzen an, dass die Rockmusik auch eine sehr wichtige Rolle im Alter von 15, 16, 17 gespielt habe. Dabei ging es um Musik, die schon wieder einige Jahre alt war, die aber, ähnlich wie das Kino, einen rebellischen Geist transportierte, der Hans interessierte. Gelesen habe er in dieser Zeit kaum. Zu dieser Lesepause, die in diesem Alter generell beobachtet werden könne, hat zusätzlich beigetragen, dass man sich in der Tagesheimschule, die Hans damals besuchte, auch kaum zum Lesen zurückziehen konnte. In der Kindheit hingegen war das Lesen zentral. Das Fernsehen erlangte erst in der Studienzeit durch den Besitz eines eigenen Fernsehers eine gewisse Bedeutung. Hinsichtlich der Intensität von Medienerfahrungen stehen für Hans ganz klar die Bücher auf dem ersten Platz. Hans führt aus: Also die ersten Lektüreerfahrungen waren auch sehr, sehr stark und sehr wichtig. Das könnte ich gar nicht sagen, wie das gewesen wäre, wenn ich da nicht Mark Twain gelesen hätte. Wüsste ich wirklich nicht. Das hat mein Verhältnis zur Literatur geprägt. Und schon in jungen Jahren einfach die Entdeckung des Lesens. Dass es möglich ist, sich mit einem Buch zurückzuziehen und dann in eine ganz andere Welt einzutauchen. Die Grunderfahrung des Lesers. Die hab ich da gemacht und in diesem Alter gab’s da keine Alternativen dazu und selbstverständlich ist das sehr prägend und wichtig eben aufgrund des Alters. Kino alleine wäre das eben auch nie gewesen, es war die Kombination mit der Literatur. Und dann auch natürlich, was über Kino zu lesen, filmhistorische Sachen zu lesen. Filmgeschichte zu kaufen, Filmlexika zu kaufen, in Filmlexika nachzuschlagen, was ist wichtig und so. Also ich glaube, es geht gar nicht anders. Auch mein Fernsehkonsum ist ja dadurch geprägt. Eben weil ich nicht angucke, was grade kommt, sondern es immer durch irgendwelche Vorinformationen habe.

Diese Passage zeigt neben der Bedeutung der Leseerfahrung auch sehr schön, wie eng und intensiv die intermedialen Beziehungen zwischen Filmsehen, Lesen und Fernsehen bei Hans waren und sind und dass Filmesehen 260

von hermeneutischen Aktivitäten begleitet ist.26 Im Weiteren berichtet Hans davon, dass in diesem intermedialen Wechselspiel auch die Tageszeitung und die darin enthaltenen Film- und Fernsehkritiken eine wichtige Rolle spielen, auch im Sinne der Aufmerksamkeitssteuerung im Blick auf spätere Fernsehausstrahlungen von Kinofilmen. Das gedruckte Wort, so stellt Hans fest, ist sein persönliches Leitmedium. Er unterstreicht dieses Bekenntnis auch noch einmal durch den Hinweis auf seine Entscheidung für eine literaturwissenschaftliche Magisterarbeit. Sein persönliches Intensitätsranking: Literatur, Film, Fernsehen. Hilfreich seien Medien für Hans immer gewesen, der Lebensbezug sei immer präsent gewesen. Er berichtet: Ich glaube, es ist konstant hilfreich gewesen. Man deutet die Lebenssituationen nach den Mustern, die man aus Filmen und Büchern kennt, hab ich so den Eindruck. Also diese, nicht jetzt speziell ein bestimmter Film oder ein bestimmtes Buch, das man dann verwenden würde, um die Situation zu deuten, aber das Auflösungsvermögen, die Fähigkeit, die Situation überhaupt in ihrer Komplexität zu erfassen, das hab ich erworben durch Bücher und Filme und das wende ich auf mein eigenes Leben an. Und da bin ich überzeugt, dass man das so tut. Also, deshalb ist ja auch die Literatur des 19. Jahrhunderts so interessant, weil sie ein ganz prägender, konstitutiver Bestandteil der bürgerlichen Öffentlichkeit ist, die sich da ergibt. Und deshalb ist es so signifikant, das zu analysieren, weil das zweifellos auch die Deutungsmuster sind, mit denen die bürgerliche Gesellschaft ihre Realität, ihre soziale Realität, ihre psychische Realität wahrnimmt.

Früher habe der Roman auch über die Zeitschriftenkultur eine große Verbreitung gehabt. Heute sei das Fernsehen die Hauptagentur für die Verbreitung von Mustern der Weltwahrnehmung. Hans: „Man bekommt als Rezipient eben gerade dieses Material an die Hand, um seinen Lebensalltag auch wahrzunehmen, wie man sich das strukturiert.“ Der Medienalltag von Hans ist stark von der Zeitungslektüre geprägt. Seit dem 11. September 2001 beobachtet er sich dabei, dass er die Fernsehnachrichten öfter verfolgt, „um festzustellen, ob irgendetwas Neues passiert ist“. „Ob sie nicht wieder irgendwo einen Anschlag verübt haben. Oder die Amerikaner irgendwo einmarschieren.“ Als störend empfindet Hans beim Fernsehen die mangelnde Möglichkeit „weiterzublättern“. Dies sei ein Vorteil der Zeitung. Am Fernsehen interessieren Hans in erster Linie Dokumentationen, nicht zuletzt über politische Themen. Der Roman informiert mich da nicht so über die Wirklichkeit, ich seh’ das irgendwie nicht. Aber so ’n Film bringt mir auch einfach nahe, was da passiert. Ganz schlicht und einfach, was Menschen da für Schicksale haben und das ist die große Stärke des Dokumentarfilms und Dokumentarfilm ist ja nun auch, bis auf wenige Highlights, die 26 Diese Hermeneutik könnte nicht zuletzt im Religionsunterricht in spezifischer Weise unterstützt werden.

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ins Kino kommen, gewöhnlich ’ne Sache des Fernsehens und das find ich da auch sehr legitim und sehr gut.

Manchmal habe das Fernsehen auch eine „Lückenbüßerfunktion“ und würde helfen, die Zeit zwischen zwei Büchern zu überbrücken, die notwendige Pause zu füllen. Auch habe das Fernsehen seinen Platz, wenn er zu müde zum konzentrierten Lesen sei. In Gesprächen über ethische oder religiöse Themen beziehe sich Hans hingegen häufig auf das Fernsehen, weil Ethik ja mit dem zu tun hat, was so passiere. In ethischer Hinsicht sei jedoch auch die Zeitung wichtig, vor allem die Kommentare. Selbstausdruck mit Hilfe von Medien ist für Hans sehr wichtig. Darum schreibe er schließlich ein Buch, seine Arbeit über Fontane, das sei ein „Grundwunsch“. Die Frage nach den in ethischer und religiöser Hinsicht prägendsten Erfahrungen führt, wie zumeist, noch einmal zu einem längeren Interviewabschnitt. Hans bemerkt zunächst, dass er seine Gymnasialzeit in einer katholischen Klosterschule verbracht habe, in der der Gottesdienstbesuch Pflicht war. Er habe also als evangelisch Getaufter gleichwohl viel mehr Erfahrungen mit katholischer Religionspraxis gemacht und dabei dann auch wieder irritierende und merkwürdige Erfahrungen des Ausschlusses – etwa vom Abendmahl. Die ästhetischen und mystischen Züge des Katholizismus findet Hans jedoch auch heute noch ansprechend. Generell sei ansonsten die Schule wichtig gewesen, insbesondere der Lateinunterricht als erste Konfrontation mit einer fremden Kultur. Dann sei der Tod seines Vaters einschneidend gewesen und habe ihn im Alter von 17 Jahren nachhaltig mit den Fragen des Todes und der Endlichkeit konfrontiert. Weiterhin prägend war die Nichtanerkennung als Kriegsdienstverweigerer im ersten Anlauf und die damit einhergehenden Erfahrungen mit staatlichen Behörden. Mit Hilfe eines Rechtsanwaltes gelang schließlich die Anerkennung. Friedensbewegung und Friedensthematik haben Hans in der Folgezeit intensiv beschäftigt: „Das hat ’ne existenzielle Rolle gespielt. Und das hat auch sehr beigetragen zur gesamten Haltung gegenüber der Gesellschaft. Weil mir diese atomare Aufrüstung als ein totaler Wahnsinn erschien. War ’s ja auch, man kann nur von Glück sagen, dass es vorbei ist.“ Später dann war die schon erwähnte Auseinandersetzung mit dem ZenBuddhismus und die Begegnung mit einem Zen-Meister wegweisend. Dieser Prozess war von einer Wechselwirkung zwischen medialen (Fernsehen, Bücher) und sozialen Erfahrungen geprägt. Er reicht bis in die Gegenwart und bestimmt die Lebensphilosophie von Hans, sein, wie er sagt, „lebensphilosophisches Konzept“. Er fasst es zum Schluss des Interviews auf meine Frage hin noch einmal zusammen. Es geht dabei um Buddhas Lehre vom gegenwärtigen Augenblick und die Notwendigkeit, weder der Vergangen262

heit nachzuhängen noch sich in Fantasien über die Zukunft zu verlieren. Hans resümiert: „Die Zukunft ist nicht real, das ist nur in unserem Kopf, real ist immer nur das, was hier und jetzt ist. Das ist ein ganz entscheidender Aspekt dieser Lehre. Das kann man vielleicht dazu sagen.“ Gesamtinterpretation Im Überblick fallen zunächst die Differenziertheit und die gute Erinnerungsfähigkeit auf, mit der Hans von seinen Medienerfahrungen berichtet. Ich denke hier vor allem an seine Ausführungen über den Film Adaption und über die Lektüreerfahrungen mit den Büchern von Mark Twain und Selma Lagerlöf. Weiterhin auffällig ist, wie sehr die intermediale Vernetztheit der Medienerfahrungen von Hans deutlich wird. Das mag zum einen daran liegen, dass Hans über die besonders stark ausgebildete Fähigkeit verfügt, seine Medienerfahrungen miteinander in Verbindung zu bringen. Diese Beobachtung kann sicher aber auch als Hinweis auf eine generell starke Interpendenz von Medienerfahrungen gewertet werden. Besonders schön wird die Wechselwirkung zwischen medialen Erfahrungen und dann aber auch zwischen medialen und sozialen Erfahrungen an der Entwicklung des Zen-Interesses und der persönlichen Zen-Religiosität von Hans deutlich. Das Fernsehen führt ihn zu den Büchern und die Lektüren motivieren ihn, einen Vortrag zu besuchen, der wiederum zu weiteren sozialen und religiösen Erfahrungen hinführt. Ausgangspunkt ist die mimetische Wirkung der Fernseh-Serie Kung Fu: Hans wollte „eben so gut [...] sein wie David Carradine im Film und damit stark und unangreifbar“. „Dazu haben wir uns solche Bücher besorgt.“ Im Alter von 14 Jahren. Deutlich wird hier, dass die mimetische Wirkung der Fernsehbilder einen Prozess der Selbstbildung auslöst. Die Bilder bringen in Bewegung, sie stoßen eine Bewegung an, die bis in die Gegenwart reicht. Ohne Frage kann so eine nachhaltige Wirkung nur von starken Bildern ausgehen, von Bildern die Hans darum auch heute noch im Gedächtnis sind: „Das waren immer Zeitlupenaufnahmen, die ja auch fantastisch aussahen, David Carradine hat das ja wunderbar gemacht. Ich sehe ihn noch vor mit, mit dieser Umhängetasche und diesen Klamotten, er war ein Huckleberry Fin.“ Es waren die „fantastisch“ aussehenden Bilder von Carradine, die eine stark mimetische und in der Konsequenz dann auch religionsproduktive Wirkung entfalteten. Die Erfahrung macht deutlich, dass Ästhetik und Mimesis zentrale Wirkungsfaktoren für die Eindruckswirkung von Medien sind. Hat das Fernsehen und insbesondere die Kung Fu-Serie mit David Carradine eine wichtige medienbiographische und dann auch biographische Bedeutung, so sind doch generell die Bücher – „das gedruckte Wort“ – das Leitmedium von Hans (im Kurzfragebogen hatte er angegeben, täglich sieben bis acht Stunden mit Büchern zu verbringen). In Hinsicht auf die 263

Selbst- und Weltdeutung billigt er Büchern und Filmen – das Kino ist erst im Studium ein wichtiger Faktor geworden – gleichermaßen eine wichtige Rolle zu: „Man deutet die Lebenssituationen nach den Mustern, die man aus Filmen und Büchern kennt.“ Bücher und Film vermitteln, so Hans, „die Fähigkeit, die Situation überhaupt in ihrer Komplexität zu erfassen“. Erneut lässt sich beobachten: Bücher und Filme haben mithin eine ganz zentrale Funktion im Blick auf das Selbstverstehen. Das Fernsehen sei hingegen für ihn heute vor allem wichtig, um zu erfahren, „was da passiert“. Für die gesellschaftliche Mehrheit sieht er es jedoch durchaus in der Funktion des Leitmediums der Weltwahrnehmung und Weltdeutung. Eine interessante Beobachtung knüpft sich an die Äußerungen von Hans über den Kubrick-Film Clockwork Orange, bei der er ethische und ästhetische Dimensionen unterscheidet und in der Abwägung dann doch ganz entschieden votiert: „Aber das ist nicht das, was mich so daran begeistert, muss man auch gleich sagen: das meiste ist die Ästhetik.“ Generell ist die ästhetische Dimension von Medienprodukten ein ganz wesentlicher Faktor für Hans. Ob ihn ein Buch, ein Film oder eine Fernsehdokumentation interessiert, fasziniert und beeindruckt, hängt ganz wesentlich von der jeweiligen Ästhetik ab. Es ist, so scheint es, eine gewisse semantisch-ästhetische Dichte, die im Zusammenwirken von Realitätsbezug, komplexer Reflexion und gelungener Darstellung entsteht und die dann die Nachhaltigkeit und Eindrücklichkeit von Medienerfahrungen für Hans und vermutlich für Medienrezipienten generell ausmacht. Resümierend kann zur Religiosität von Hans gesagt werden, dass er heute, aus der evangelischen Kirche ausgetreten, aufgrund seiner Erfahrungen in einer katholischen Klosterschule zwar einen gewissen Sinn für die mystischen und ästhetischen Aspekte des Katholizismus hat, sein Verhältnis zur kirchlichen Religionskultur aber generell von Distanz bestimmt ist. „Mit der Vorstellung eines Gottes oder des Göttlichen und [...] eines Jenseits“, wie Hans im Kurzfragebogen ausführt, kann er nichts anfangen. Seine Religiosität verdient den Namen Diesseitsreligion. Denn im Sinne der ZenMeditation gehört es zu seinen zentralen Überzeugungen, dass es wichtig ist, im Hier und Jetzt präsent zu sein. Die Art dieses Präsentseins hat ästhetische Konnotationen: zum einen im Sinne des Zen als einer Haltung des Verweilens in der Gegenwart der sinnlichen Erfahrung des eigenen Selbst und seiner Umgebung, zum anderen im Sinne des Wunsches nach Autorenschaft einer gelungenen Form, im aktuellen Fall eines Buches über Fontane. Auf dem Weg zu dieser Weltsicht waren zum einen filmische Vorbilder wie David Carradine oder Alain Delon, „dieses Bild des völlig vereinsamten, nur auf sich gestellten Mannes“, wirksam und haben ein – im Übrigen auch ganz stark mit der Frage der Geschlechterrollenorientierung verbundenes – starkes mimetisches Potential entfaltet, zum anderen waren Lektüreerfahrun264

gen (Mark Twain, Selma Lagerlöf) bedeutsam, die dazu beitrugen, die Perspektive anderer nachvollziehbar zu machen. Im Blick auf Carradine und Delon machen die Äußerungen von Hans zudem deutlich, dass die mimetische Wirkung über die sinnliche Vermittlung der Bilder läuft, genauer: der narrativ in bestimmter Weise bestimmten, kontextualisierten und charakterisierten Bilder. Denn das, was Carradine attraktiv macht, ist ja nicht seine Umhängetasche, sondern seine erzählerisch vermittelte Kampfesstärke und Unbesiegbarkeit, Eigenschaften also, die in dem Einzelbild selbst noch nicht enthalten sind, sondern erst durch die Erzählung eines Verhaltens, durch eine Bildererzählung zur Darstellung gebracht werden müssen und dem Einzelbild als Bedeutungskontext hinzugefügt werden müssen. Gleiches gilt für Delon und es gilt auch im Blick auf die inneren Bilder, die der Leser kreiert, Bilder von Mark Twains Jim und Selma Lagerlöfs Nils Holgerson. Die mimetische Wirkung von Mediendarstellungen ist also, um es noch einmal am Beispiel des Films zu erläutern, nicht nur ein Effekt von Einzelbildern, sondern vom Gesamteindruck, den eine Filmvorführung hinterlässt.

2.2 Gesamtauswertung im Horizont der leitenden Theorieperspektiven 2.2.1 Methodische Vorbemerkung In der folgenden Gesamtauswertung geht es um typologische Skizzen, die die am Material gemachten Beobachtungen unter Bezugnahme auf zentrale und besonders aussagekräftige Passagen aller sechzehn Transkripte zusammenfassend darzustellen suchen. Diese Skizzen folgen einer Reihe von Auswertungskategorien, die sich als Kernkategorien in einem an die Grounded Theory angelehnten induktivdeduktiven Verfahren herauskristallisiert haben. Dass es Überschneidungen zwischen den Kategorien gibt, liegt auf der Hand. Ästhetische und religiöse Dimensionen gehen ineinander über: Religiöse Erfahrungen haben immer auch eine ästhetische Seite, sind immer vermittelt mit sinnlichen Phänomenen auf der Ebene naturhafter Gegebenheit oder kultureller Darstellung. Umgekehrt können zunächst als ästhetisch wahrgenommene Erfahrungen sehr oft auch religiöse Implikationen haben und religiös gelesen werden. Mit der Unterscheidung von Ästhetik und Religion werden also unterschiedliche Dimensionen von Medienerfahrungen in den Blick genommen. Die Differenz der Perspektiven kann in einem ersten Zugriff so beschrieben werden, dass im Bereich des Ästhetischen Form und Wahrnehmung im Zentrum stehen, während im Religiösen Inhalt und Deutung Priorität haben. Vor dem Hintergrund dieser groben ersten Abgrenzung soll es in den typo265

logischen Skizzierungen der jeweiligen Medienerfahrungen in ästhetischer Hinsicht zunächst mehr um die formalen Aspekte gehen, in religiöser dann vor allem um die Sinnhorizonte und ihre Transzendenzspannweite. Deutlich ist, dass die Frage der Abgrenzung ästhetischer und religiöser Erfahrungsdimensionen im Anschluss an die Auswertung des Materials nach weiteren Überlegungen verlangt. Ebenso überschneiden sich – wie an früherer Stelle schon angemerkt – die Begriffe der Medienerfahrungen und der Medienpraktiken. Die Differenz ist graduell: Die Kategorie der Medienerfahrung betont mehr die mentale Eindruckswirkung, die Kategorie der Medienpraktik mehr die aktive Aneignung und den Gebrauch. Die Lektüre der folgenden Darstellungen ähnelt aufgrund dieser Überschneidungen ein wenig dem Blick durch ein Kaleidoskop: ähnliche Fragmente werden in unterschiedlicher Zusammensetzung und aus anderer Perspektive immer wieder neu betrachtet. Im Unterschied zum Kaleidoskop geht es dabei allerdings nicht um ein ästhetisches Interesse, sondern um eine möglichst differenzierte und multiperspektivische Beschreibung der Phänomene. Generell ist anzumerken, dass mit dem gewählten Katalog von Auswertungskategorien natürlich gleichwohl – Kaleidoskop hin oder her – eine Fokussierung und Einschränkung vollzogen ist. Das Material ist damit keineswegs erschöpfend ausgewertet. 2.2.2 Erfahrungen mit Büchern, Kinofilmen und dem Fernsehen 2.2.2.1 Bücher 2.2.2.1.1 Ästhetische Dimensionen a) Die Stellung des Buches und der Charakter der Leseerfahrung Trotz aller Unkenrufe, allen Abgesangs auf die Lesekultur und die GutenbergGalaxis ist im Blick auf die 16 in dieser resümierenden Auswertung zu betrachtenden Interviews festzustellen, dass das Buch sowohl hinsichtlich der Intensität der vermittelten Medienerfahrung als auch hinsichtlich der diachronen Dominanzverteilung den ersten Platz unter den drei nachgefragten Medien einnimmt. Für fünf von 16 Befragten gilt: „Durchweg war meine Priorität bei Büchern“ (Lena), für sechs Befragte teilen sich Bücher und Filme den ersten Platz.27 Für sieben der 16 Befragten steht die Aussage von Hans: „Bücher hatten schon die größte Intensität.“28 Intensität umfasst hier kognitive und 27 Im Blick auf die gesamte Medienbiograpie nach eigener Einschätzung dominant: Bücher und Filme etwa gleichgewichtig (6), Bücher (5), Fernsehen (3), Bücher und Fernsehen (1), Film und Theater (1). 28 Bücher: 7; Bücher und Filme: 2; Filme: 2; Fernsehen: 3. „Alles war stark zu seiner Zeit“: 1; Zeitung, Radio, Fernsehen: 1.

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emotionale Anteile. Bücher haben „einschneidende Bucherlebnisse“ (Stefan), aber auch „die meisten gedanklichen Anstöße“ (Johanna) vermittelt. Für die Intensität der Leseerfahrung bietet Felix plausibel Erklärungen: Von der Intensität des Eindrucks her sind Bücher bei mir immer mit Abstand am stärksten gewesen, auch stärker als Filme, was damit zu tun haben mag, dass man mit einer anderen Haltung da reingeht. Also, vielleicht mehr Aufmerksamkeit aufbringen muss, mehr Imaginationsleistung in einer bestimmten Weise, dass es sich über einen längeren Zeitraum hinzieht das Lesen, dass man Teile wiederlesen kann, dass man an Teilen hängen bleibt, dass es nicht kollektiv ist, sondern in seinem privaten Raum ist, aber auf der anderen Seite nicht wie beim Fernsehen in seinem privaten Raum und als Begleitmedium, sondern darauf konzentriert. Vielleicht hat es natürlich auch damit zu tun, dass ich früher immer viel, viel mehr gelesen habe.

Der letzte Satz der Äußerung von Felix deutet darauf hin, dass die Mediensozialisation natürlich auch ein wesentlicher Faktor für die individuelle Ausprägung von Medienpraktiken und Medienerfahrungen ist. Eine Äußerung von Hans kann diesen Aspekt veranschaulichen und zugleich differenzieren: Also die ersten Lektüreerfahrungen waren auch sehr, sehr stark und sehr wichtig. Das könnt ich gar nicht sagen, wie das gewesen wäre, wenn ich da nicht Mark Twain gelesen hätte. Wüsste ich wirklich nicht. Das hat mein Verhältnis zur Literatur geprägt. Und schon in jungen Jahren einfach die Entdeckung des Lesens. Dass es möglich ist, sich mit einem Buch zurückzuziehen und dann in eine ganz andere Welt einzutauchen. Die Grunderfahrung des Lesers. Die hab ich da gemacht und in diesem Alter gab es da keine Alternativen dazu und selbstverständlich ist das sehr prägend und wichtig eben aufgrund des Alters.

Die Äußerung von Hans nennt ein wesentliches Spezifikum der „Grunderfahrung des Lesens“: das Eintauchen „in eine ganz andere Welt“. Diese Unterbrechungscharakter, diese Möglichkeit der Distanznahme vom Alltag wird durchgängig hervorgehoben. Ein weiteres zentrales Merkmal der Lektüreerfahrung bringt Lena auf den Punkt: „Insgesamt mag ich einfach auch Bücher lieber, weil man auch einen freieren Raum hat, weil man keine feststehenden Bilder im Kopf hat, sondern wirklich sich vollständig eigene Bilder entwirft.“ Diese Bilder fügen sich im Prozess des Lesens zu einem inneren Film. Henrik: „Ich bin ein Mensch, der sich immer sehr konkret eine Situation vorstellt, also bastelt. Also das ganze Buch wird bei mir im Kopf zum Film, wo ich mich auch richtig an Szenen erinnern kann, die ich mir da gebastelt habe.“ Die Bedeutung von Bildlichkeit im Prozess des Lesens zeigt sich auch, wenn die Erinnerungen an Inhalte verblassen. Denn zurück bleiben in der Regel Bilder. So kann sich Lena an den Inhalt ihrer Steppenwolf-Lektüre nicht mehr erinnern, wohl aber hat sie noch „ein ganz dunkles Bild im Kopf, [...], das ist total eingebrannt“. 267

Besonders lebendig scheint dieser innere Film auszufallen, wenn schriftlich Tradiertes durch das mündliche Erzählen performativ vermittelt wird. Darauf deuten Johannas Erfahrungen mit der Bibel hin. Ihre Wahrnehmung der Bibel wurde durch das Erzählen biblischer Geschichten im Kindergottesdienst und später auch durch die Diskussionen biblischer Texte im gemeindlichen Bibelkreis geprägt. Vor diesem Hintergrund kommt Johanna im Blick auf die Bibel zu der Aussage: „Das ist für mich kein Buch mehr, das sind Geschichten in meinem Kopf.“ Sie spricht auch von „lebenden Gestalten“ und von Texten, die sie „vergeistigt“ hat. b) Die Auswahl der Lektüren Die Auswahl der Lektüren ist, so weit ich sehe, vor allem von drei Faktoren bestimmt: von den jeweils aktuellen Lebensfragen und Lebensthemen, von dem, was Eltern, Lehrer, Freunde und Rezensionen empfehlen, und vom kontingenten Finden von Büchern, wofür der Medienwissenschaftler Felix sicher das Extrembeispiel liefert, wenn er berichtet, dass er seine belletristischen Lektüren durch die von der benachbarten Bücherhalle weggeworfenen Bücher bestimmen lasse. Auffällig ist, dass die in institutionell gerahmten Bildungsprozessen angebotenen Lektüren nur in seltenen Fällen existenzielle Bedeutung erlangten. Subjektiv bedeutsame Lektüren ergeben sich offenbar in der Regel scheinbar zufällig. Wesentlich für die Tiefe und Intensität der Erfahrung ist dann allerdings schon, dass die in den Texten geschilderten Erfahrungen und Probleme eine Nähe zum eigenen Leben haben. c) Die Funktionen der Lektüren in einem mehr formalen Sinn So kontingent die Auswahl der Lektüren anmutet, so zentral ist ihre Funktion für die Selbstauslegungspraxis der Individuen. Hans hat das Wesen dieser Funktion druckreif formuliert: Man deutet die Lebenssituationen nach den Mustern, die man aus Filmen und Büchern kennt. [...] Das Auflösungsvermögen, die Fähigkeit, die Situation überhaupt in ihrer Komplexität zu erfassen, das hab ich erworben durch Bücher und Filme und das wende ich auf mein eigenes Leben an.

Bücher und Filme dienen der Lebensdeutung. Sie liefern Optiken der Lebensbetrachtung, die ein komplexeres Selbst- und Weltverstehen ermöglichen. Die damit verbundenen Deutungsvorgänge beinhalten Momente des Wiedererkennens und der Erschließung neuer Perspektiven. Zur Beschreibung des Moments des Wiedererkennens beim Lesen, der Artikulation mit Hilfe ganz bestimmter kultureller Muster, findet Stefan die folgende Formulierung: Was mich daran fasziniert ist diese Luzidität, das Auf-Den-Punkt-Bringen von etwas, was ich durchaus auch kenne. Was ich kenne, was ich aber nicht so verbalisiert habe.

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Wobei als Zwischenresümee glaube ich, wäre das schon mal so ein Kriterium, gewissermaßen das Ans-Licht-Heben von etwas, von dem ich zumindest vage spüre, dass es vorhanden ist, für was ich aber bisher keine Ausdrucksform gefunden habe. [...] Ich finde es aber immer gut, wenn ich selber spüre, wenn etwas in mir drin war und sogar vielleicht etwas in mir drin war, was ich gar nicht gewusst habe, vielleicht sogar gerade dann plötzlich eine Form gefunden hat. Das ist eigentlich das Erlebnis. Und wenn ich sage präzise, dann ist das sehr genau. Wenn da Sätze drin sind, wo ich wirklich das Gefühl habe, das ist jetzt eine absolute Metapher eines Erlebnisses oder einer Situation.

Stefan beschreibt das „Auf-Den-Punkt-Bringen“ als ein Spüren von Passung, als Ausdruck von Gefühltem, Erlebtem, Gespürtem, das im Gelesenen eine Ausdrucksform findet. Bemerkenswert ist, dass die Passung des artikulierenden Textes offenbar emotional ermittelt wird: „Wenn da Sätze drin sind, wo ich wirklich das Gefühl habe, das ist jetzt eine absolute Metapher eines Erlebnisses oder einer Situation.“ Oder wenig später: „Das Schlagende ist, und das ist ja nun auch wieder trivial, dass man das Gefühl hat, das könnte ja von mir sein.“ Lesen dient mithin dem Selbstverstehen, Lektüren vermögen das Selbstverstehen zu verbessern und zu differenzieren. Stefan sagt auch: „Es ist etwas Vorbekanntes in einer unerwarteten Form ausgebildet, so dass ich es betrachten kann.“ Ohne diese Form ließe es sich nicht betrachten. Hier wird noch einmal deutlich, worauf schon Paul Ricoeur hingewiesen hat: Selbstverstehen bzw. in Ricoeurs Vokabular Selbsterkenntnis ist nur vermittelt durch kulturelle Zeichen möglich. Und Texte und Zeichen sind dabei mehr als bloße Repräsentationen, bloße Beschreibungen. Sie formen die Erfahrung und verleihen ihr symbolische Prägnanz, geben ihr ein bestimmtes Gesicht, verorten sie im soziokulturellen Kontext. Dieser formende Aspekt der Artikulation wird auch in dem Bild des Friseurbesuches deutlich, mit dem Stefan seine Leseerfahrungen an einer Stelle beschreibt. Artikulation bringt immer ein Moment der Erschließung, der Umformung, der Verfremdung mit sich.29 Stefan: Vielleicht kann man sich das so vorstellen: Ich gehe zum Friseur, habe einen tollen Friseur, ein großes Naturtalent, der mich sieht und der sagt, warte mal ab. Dann macht er schnipp, schnipp, schnipp und ich sehe mich im Spiegel und stelle fest, oh, habe ich auch noch das Potential eines Alain Delon, eines wie auch immer, in mir. So was vielleicht. Also ich würde sagen, es ist durchaus für mich. Ich empfinde das ein 29 Vgl. dazu auch Matthias Jung, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer pragmatischhermeneutischen Religionsphilosophie, Freiburg/München 1999, u.a. 290f: „Was Artikulation von Beschreibung unterscheidet, ist nun gerade die Unmöglichkeit, diese Wesensmerkmale als präsymbolische Eigenschaften des erfahrenen Gehalts zu beschreiben. Beschreibungen lassen sich durch die Metapher des ‚Findens‘ charakterisieren, während Artikulationen stets die Aspekte des ‚Findens‘ und ‚Herstellens‘ miteinander verbinden.“

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bisschen individuell und ich komme mir da ein bisschen konservativ vor. Es ist Wiedererkennung, aber es ist nicht nur Wiedererkennung. Es ist auch Neuerkennung.

Im Akt des Lesens spiegelt sich die hermeneutische Grundstruktur des Verstehens, das immer Elemente des Wiedererkennens und der Neuheit, der Identität und der Differenz beinhaltet. Man könnte mit Martin Seel auch mehr korresponsive und mehr imaginative Anteile in der ästhetischen Erfahrung des Lesens unterscheiden. Ganz deutlich wird im Durchgang durch die Interviews, dass das Lesen diejenige Medienerfahrung ist, in der die Imagination im Vergleich mit der Filmrezeption und der Fernsehnutzung am stärksten stimuliert wird. Felix hat diese imaginativ anregende und den Horizont erweiternde Funktion des Lesens mit den Worten beschrieben: Und zwar als Kind und als Heranwachsender habe ich, glaube ich, da sowohl im Sinn von so einem Eskapismus und Psychohygiene Ausgleich, Ablenkung gefunden und Trost gefunden und Anreize, andere Welten, überhaupt die Vorstellung, was alles anders sein kann, also dieses Ding, du lebst zwar so, aber es gibt tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst.

Felix Beschreibung seiner Lektüreerfahrungen konvergiert mit den schon angeführten theoretischen Überlegungen von Paul Ricoeur zur Eröffnung des „Spiel(s) imaginativer Variationen“ des Selbst durch die Lektüre, mit Jochen Hörischs Rede von den literarischen Alternativversionen der Welt und mit Marcus Düwells Gedanken zur handlungserschließenden Funktion der Lektüre von Erzählungen, die vorstellbar und erfahrbar machen könnten, dass „es auch anders sein könnte“30. Dass es von dieser imaginativen Stimulation nur ein kleiner Schritt zum Schreiben ist, wird an dem Interview mit Stefan besonders deutlich. Die Möglichkeit, in den gelesenen Text Eigenes einzutragen – in einem weitaus stärkerem Maße, als es bei den präsentativen audiovisuellen Medien möglich ist –, kommt dem Ausdrucksbedürfnis offenbar entgegen und vermag, es in besonderer Weise anzuregen. Dass die imaginativ eröffneten Spielräume und Perspektiven nicht nur ein Ausdruckshandeln inspirieren können, sondern auch ganz konkreten Einfluss auf das soziale Handeln haben können, zeigen die Schilderungen von Henrik, der durch die Lektüre des Felix Krull auf seine Wirkung auf andere aufmerksam geworden ist und auf die Möglichkeit, diese auch strategisch einzusetzen: „Das hat mir neue Horizonte eröffnet in meinen Handlungsmöglichkeiten.“ Zu den besonderen Merkmalen der ästhetischen Erfahrung mit Büchern und insbesondere Romanen gehört neben der imaginationsstimulierenden 30 Düwell, Ästhetische Erfahrung, 26; Hörisch, Sinn, 155ff; Ricoeur, Identität, 66.

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Komponente auch ihre besondere Komplexität. So vermögen Lektüren, auch das konnten die Interviews zeigen, bei der Ausarbeitung komplexer Denk- und Gefühlswelten, „eines Instrumentarium(s) des Fühlens“ (Stefan), hilfreich zu sein. Zugleich vermittelt die Komplexität der Darstellung eine komplexe ästhetische Erfahrung, einen ästhetischen Genuss, der als Selbstzweck gesucht und geschätzt wird (vg. u.a. Felix). Wie steht es nun aber um die religiöse Dimension dieser durch Lesen ermöglichten Selbstauslegungsvollzüge? Richard Rorty hatte dem Hunger nach Romanen eher ein „Streben nach Form als ein Verlangen nach Transzendenz“ attestiert. 31 Zugleich sah er Philosophie und Religion durch Literatur ersetzt. Ist also die Literatur-Religion der Postmoderne eine Religion, in der die durch eine gelungene Form ausgelöste ästhetische Erfahrung an die Stelle der großen Transzendenz getreten ist? Das würde bedeuten, dass die ästhetische Dimension beim Lesen von Romanen im Vordergrund steht. Ist das Religiöse dabei ohne Bedeutung, ist es in Ästhetik übergegangen? Im Folgenden soll die Frage nach der religiösen Dimension der Lektüreerfahrungen der Befragten im Mittelpunkt stehen. Religiöse Dimensionen Wenn Richard Rorty in seiner Beschreibung der religiösen Dimension der Romanlektüre die Form in den Vordergrund stellt, so können die vorliegenden Interviews diese Sicht nur eingeschränkt bestätigen. Romane werden zwar ästhetisch genossen und emotional rezipiert, der Inhalt des Gelesenen ist dabei jedoch ebenfalls von großer Bedeutung. Vielleicht sind Romane sogar diejenigen Medien, bei denen die semantische Dimension den im Vergleich mit Filmen und Fernsehsendungen größten Anteil hat, was vermutlich damit zu tun hat, dass die Rezeption von Texten mehr semantische Aktivität verlangt als das Rezipieren von Film- oder Fernsehbildern, die aufgrund ihrer wahrnehmungsnäheren Semantik eingängiger sind. Wenn nun im Folgenden nach der religiösen Dimension des Lesens gefragt wird, so werden dabei individuell bedeutsame Sinnerfahrungen in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer weltdeutungsorientierten, selbstdeutungsorientierten, kontingenzbezogenen, ästhetischen, transzendenzbezogenen und ethischen Akzentuierung unterschieden. Dabei ist grundsätzlich zu sehen, dass Sinnerfahrungen mit Hilfe von Texten immer auf Verschränkungen von Selbst- und Weltdeutungen beruhen. Dies hat mit der hermeneutischen Grundstruktur von Erfahrungen zu tun. Matthias Jung hat sie pointiert beschrieben: „Es gilt, ‚Erfahrung‘ als den Titel für jenen humanen Grundvollzug zu verstehen, in welchem Subjekte ihres Welt- und Selbstverhältnisses gewahr werden, indem sie es in 31 Rorty, Roman, 65.

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öffentlich zugänglichen Ausdrucksgestalten für sich und andere fassbar machen.“32 Man könnte auch sagen, dass im Vollzug von Erfahrung die erste Person Singular (das Erfahrungssubjekt) mit der ersten Person Plural (dem Wir der Kultur) in Verbindung gebracht wird. Dabei kann der Subjekt- oder der Objekt-Pol akzentuiert sein. a) Weltdeutung Jeweils zwei Beispiele können das Gemeinte verdeutlichen. Lenas Schilderungen ihrer Lektüreerfahrungen mit Büchern über die deutsche NSVergangenheit sind ein gutes Beispiel für die Akzentuierung des ObjektPols: Die Bücher über die NS-Zeit haben Lenas Weltbild erschüttert und verändert. „Total schwer zu verdauen“ sei es gewesen, „dass so was eben überhaupt möglich ist“. Im Nachhinein findet Lena es aber „absolut wichtig, so was zu lesen“. Aber in der Teenagerzeit nimmt man sowieso solche Sachen wahnsinnig extrem und intensiv auf. Das hat mich auch ziemlich durcheinander gebracht. Eben erst recht, wenn man das so ausdehnt auf das Elend in der Welt, ist man ja förmlich erschlagen, was man damit machen soll. Das ist natürlich ein unheimlicher Bruch, wenn man vorher irgendwie in einer Kleinfamilie da so rumwurschtelt, man sich um seinen kleinen Mikrokosmos Gedanken macht und plötzlich dieser Bruch: Man muss halt überlegen, wie will man sich wo in der Gesellschaft positionieren oder will man dazu Stellung nehmen, will man da aktiv werden oder nicht.

Der Objekt-Pol steht auch bei Lisa im Vordergrund, wenn sie von Nietzsche und Foucault als den Schlüsselautoren ihrer Ausbildungszeit berichtet und sie als die für ihr Weltbild wichtigsten Autoren bezeichnet, Nietzsche wegen seiner interpretativen Kreativität und Foucault als Analytiker der Macht. Narrative und diskursive Texte sind gleichermaßen wichtige Faktoren der Weltdeutung für Leserinnen und Leser. b) Selbstdeutung Ein Beispiel für eine mehr vom Subjekt-Pol ausgehende und auf diesen bezogene sinnsuchende Lektüre findet sich in den Äußerungen von Anna. Als junge Erwachsene las sie alles von Hermann Hesse. Hesse stand für Anna für die „Auseinandersetzung mit sich selbst, die Suche nach einem Gegenüber, nach etwas Anderem, nach etwas Höherem, nach einem Sinn, nach dem, was gut ist oder was richtig ist“. Nach Hesse kamen für Anna Kundera und Marquez. Sie führt aus: „Es ging dann auch immer darum, so Sichten von Welt zu finden bei anderen. Und immer das, was mir gerade am nächsten war, habe ich eine Zeit lang relativ obsessiv gelesen.“ Das letzte 32 Jung, Erfahrung, 264.

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Buch von Bedeutung war der Roman Die gefährliche Geliebte von Haruki Murakami. Das Buch habe Anna Denkanstöße vermittelt. Sie führt aus: Ja, das ist ja ganz häufig so, dass, wenn einem Bücher gefallen, ist immer was dabei, was man erkennt oder wo man sich erkannt fühlt. Eigentlich spiegelt es das wider, womit ich mich gerade beschäftige. Deswegen ist ja ganz häufig so, dass man Bücher zu einer Zeit total toll findet, und, wenn man sie noch mal liest, überhaupt nichts damit anfangen kann.

Im Fortgang des Interviews nennt Anna Der Meister und Margarita als ein weiteres Schlüsselbuch der letzten Zeit, das ihr „immer noch total im Kopf ist“. Sie ist zufällig in einer Buchhandlung auf den Roman gestoßen, er passt aber auch zu ihrer Vorliebe für russische Autoren, für, wie sie sagt, „eine Mischung aus dieser Melancholie und Traurigkeit“. Anna sieht keine direkten Bezüge zu ihrer Biographie, aber doch zu der Frage, „wie man die Welt sieht und welche Werte für einen eine Rolle spielen [...] und wie man sein Leben leben will“. Beschäftigt hat sie vor allem das Thema der Verführbarkeit und die daraus resultierende Selbstentfremdung: die Verluste, die eintreten, wenn man es versäumt, „den selbstbestimmten Weg zu suchen“. Das Interview mit Anna zeigt ein Beispiel für selbstdeutungsbezogenes und sinnsuchendes Lesen, das stark von der jeweils aktuellen Lebenssituation bestimmt ist. Dass der Bezug zu sich selbst noch konkreter ausfallen kann, macht das Interview mit Patrick deutlich. Die Bücher, die Patrick als Erwachsenen interessieren, nennt er „Wahrheitsbücher“ und führt aus: „Wo Leute über ihr Leben schreiben oder wo Schriftsteller über Leute mit Problemen geschrieben haben. Lebensläufe von Schizophrenen, Drogenabhängigen und Kindern, die im Heim sind. Solche Sachen, die eben real sind.“ Es geht um den Kampf dieser Menschen um Integration in die Gesellschaft, um ihre Teilerfolge und ihr Herausfallen, ihren Kampf mit psychischen Krankheiten, ihren Versuch, „sich selbst aus diesem Loch zu befreien“. Den Bezug zum eigenen Leben beschreibt Patrick mit den Worten: Manchmal hilft mir das selber auch weiter, mich irgendwie aus meinem Loch rauszuholen, wenn ich sehe, der hat das so oder so geschafft. Also, warum soll ich das nicht auch so schaffen? Der hat es geschafft, also schaffst du es auch. Das gibt mir für mein Leben selber wieder so einen Ruck. Zu sagen, der hat es ja viel schlimmer gehabt. Wenn der das geschafft hat? Also man kann daraus lernen wie aus einem Sachbuch, wo man nachschlägt, was mache ich bei einer Erkältung. Also, dass man da für sich selber was rausziehen kann.

c) Kontingenzbewältigung/Lebensbewältigung Patricks Äußerungen verweisen zugleich auf ein Thema, bei dem sich ein Schwerpunkt der sinn- und wertorientierenden Lektüreerfahrungen der 273

Befragten abzeichnet: auf das Thema der Kontingenzbewältigung. Bei Patrick, bei dem eine psychische Erkrankung im Hintergrund steht, die seine Medienerfahrungen durchweg bestimmt, ist dieser Zusammenhang der Lebens- und Kontingenzbewältigung mit Hilfe von Lektüren besonders deutlich. Es geht bei ihm um die Auseinandersetzung mit der Kontingenzerfahrung seiner psychischen Erkrankung. Ein Beispiel für die Wahrnehmung der transsubjektiven Dimension der Kontingenzproblematik findet sich in dem Interview mit Esther. Sie bearbeitet im Medium der Lektüre eines Buches über die Situation von Frauen in Afghanistan zugleich die Frage der „Ungerechtigkeit der Welt“. Esther: Und heute, ja, heute is es, also, was weiß ich, bei diesem Buch irgendwie, was ich anfangs sagte, das mit Gott, Gott kommt nach Afghanistan nur noch, um zu weinen, irgendwie, da musste ich auch heulen, also, weil ich das einfach, das is schon, natürlich, das bewegt schon was, und insofern hilft es mir auch, was zu verarbeiten, natürlich, die Ungerechtigkeit der Welt, die zu verarbeiten, neues Wissen aufzunehmen und vielleicht auch Lösungsansätze irgendwann mal zu, zu finden.

Auch bei Johannas Lektüren bildet die Kontingenzproblematik einen roten Faden. Es geht in den Romanen und Erzählungen Anna Karenina, Der stille Don, Die Verwandlung und Die Brüder Karamasow um sinnverwirrende Kontingenzen, die Johanna zu denken geben, ohne dass die Lektüren Antworten enthielten. Von Antwort ließe sich allenfalls auf der Ebene des Modells sprechen: Die Romane zeigen, wie Menschen mit sinnverwirrenden Kontingenzerfahrungen umgegangen sind, sie zeigen Beispiele der Kontingenzverarbeitung. Sie enthalten jedoch keine Antworten auf die Kontingenzproblematik, die sie aus besonderen Quellen außerhalb der konkreten Erfahrung selbst schöpfen. Im Sinne von Detlev Pollacks Bestimmung des Religionsbegriffes (s.o. 2.2.1.3) wäre damit zwar auf die zentrale Bezugsproblematik des Religiösen angespielt, auf die „Kontingenz- und Sinnproblematik“, sie wäre jedoch nicht mit der nach Pollack für das Religiöse typischen Verbindung von Immanenz und großer Transzendenz bearbeitet.33 Von Religion ließe sich demnach nur in streng funktionaler Hinsicht sprechen. Die literarische Kultur antwortet wie die kirchliche Religionskultur auf die großen Herausforderungen sinnverwirrender Kontingenzerfahrungen. Doch ihre Antworten fallen bescheidener aus: Sie antwortet mit Beispielen, mit Erzählungen. Ihre Leserinnen und Leser empfinden das mehrheitlich aber offenbar nicht als ein Defizit, das sie nach den Antworten der kirchlichen Religionskultur suchen lässt. 33 Von Transzendenz ließe sich allenfalls im Sinne der Transsubjektivität von Medientexten sprechen.

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d) Ästhetische Lebenssteigerung und Lebensperspektivierung Sie schätzen vielmehr am Roman die Komplexität der Darstellung, seine poetische Kraft, die das diesseitige und alltägliche Leben verzaubern und mit Bedeutung aufladen könne, seine Wahrnehmung ästhetisch zu steigern vermag, die aber darüber hinaus auch den Horizont für die „tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst“ (Felix) öffnen könne. Man kann also im Blick auf das religiöse Bezugsproblem der Kontingenz- und Sinnproblematik hinzufügen: Romane bieten nicht nur Beispiele für die Bewältigung der sinnverwirrenden, negativen Kontingenz, sie vermitteln auch einen Sinn für den Möglichkeitshorizont, haben Anteil an der Hervorbringung und Bearbeitung positiver Kontingenz, indem sie zeigen, dass und wie alles auch ganz anders sein könnte. e) Transzendenzspannweiten Große Transzendenzen und explizite Religion spielen dabei nur im Ausnahmefall eine Rolle. Zwei exponierte Beispiele finden sich in den vorliegenden Interviews. Das eine Beispiel liefert Felix, der berichtet, dass er seine religiösen Fragen in der Konfirmandenzeit mit Hilfe des Küng-Titels Existiert Gott? zu bearbeiten suchte (Felix). Das weitergehende Beispiel findet sich in dem Interview mit Stefan. Er schildert die Erfahrung der Lektüre der philosophischen Biologie von Hans Jonas wie ein Augustinisches Bekehrungserlebnis, durch das Denken, Fühlen und Religion wieder zusammengefunden hätten und die Versöhnung verschiedener und vormals geschiedener Welten möglich geworden sei. Stefan beschreibt diese Erfahrung einer „spirituellen Wende“ als den größten Einschnitt seit dem Ende seiner Kindheit. Erst dadurch sei es ihm wieder möglich geworden, seine Erfahrungen auch philosophisch und religiös einzuordnen und insofern eine neue Dimension des Selbstverstehens zu erreichen. Charakteristisch für Jonas ist eine Verbindung von naturwissenschaftlichen, philosophischen und religionsphilosophischen Perspektiven und Semantiken. Auffällig ist an den einschlägigen Passagen des Interviews mit Stefan das starke Bedürfnis nach einer Einordnung seiner Erfahrungen in eine auf Ganzheit ausgreifende Lebensdeutung. Diese Beobachtung ließ fragen, ob das Bedürfnis nach einer dergestalt auf Ganzheit ausgreifenden Lebensdeutung als humanes Grundbedürfnis angesprochen werden kann. Ebenso gab und gibt das Interview mit Stefan die Frage auf, ob der gegenwärtige stark am Deutungsparadigma orientierte religionstheoretische Diskurs nicht um emotionale und praxisorientierte Dimensionen erweitert werden müsste. f) Fremdverstehen/Ethik Die Plausibilität dieser Frage wird unterstrichen, wenn man die ethischmoralische Dimension der bedeutsamen Lektüreerfahrungen der Befragten 275

betrachtet. An vielen Stellen ist davon die Rede, dass die Lektüre Mitleid auslöste. Besonders prägnant kommt dieser Aspekt im Interview mit Hans im Zusammenhang der Schilderung seiner Lagerlöf-Lektüre zum Ausdruck. Hans glaubt, dass sie eine „kurze christliche Phase“ bei ihm ausgelöst hat. Unter ‚christlich‘ versteht Hans in diesem Zusammenhang ein „starkes Gefühl des Mitleidens, Mitgefühls mit der Kreatur“. Ausgelöst wird das Mitgefühl durch die im Akt des Lesens erfolgte imaginative Rollenübernahme: Hans hat sich in die Rolle des Nils Holgerson und seiner Wildgänse hineinversetzt. Darum kann er mit ihnen fühlen. Ich hatte schon im Rahmen der Einzelanalyse des Interviews mit Hans darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit zu solchen imaginativen Rollenübernahmen ein ganz wesentlicher Faktor der Moralentwicklung ist und hatte gefolgert, dass Medienerfahrungen vor diesem Hintergrund und in dieser Perspektive von erheblicher Bedeutung zu sein scheinen: Medienerfahrungen machen schließlich Rollenübernahmen möglich, die in dieser Prägnanz und Variation den Subjekten in ihrer Lebenswelt kaum zugänglich sind (vgl. etwa auch Lenas Erfahrung mit der männlichen Perspektive eines Philipp Roth). Hier scheint sich in der Tat ein Desiderat für weitere Forschungen anzudeuten. Wie baut sich individuelle Moralität auf? In welchem Zusammenhang stehen dabei narrative Strukturen, Gefühl und Moral? 2.2.2.2 Kinofilme 2.2.2.2.1 Ästhetische Dimensionen a) Die Stellung und der Charakter der Kinoerfahrung Hinsichtlich der Intensität der Erfahrung rangiert das Kino im Durchschnitt an zweiter Stelle. Nur zwei der 16 Befragten geben an, die intensivsten Medienerfahrungen mit Kinofilmen gemacht zu haben. Deutlich ist aber auch, dass der Kinofilm nachhaltigeren Eindruck macht als das Fernsehen. So spricht Stefan von „einschneidenden Kinofilmerlebnissen“ und ebenso „einschneidenden Bucherlebnissen“, dem Fernsehen misst er hingegen eine nur marginale Bedeutung zu. Auch Klaus hebt seine Erfahrungen mit Filmen und Büchern gegenüber dem Fernsehen ab: Das Fernsehen sei mehr ein „Beiwerk, also, das hat mich, auch in der Kindheit hat’s, [...], also, das war mehr so ’n Reiz für die Augen und ’n bisschen für den Geist, aber es war jetzt [...] überhaupt nich vergleichbar mit der Intensität, die ich jetzt von Büchern oder von Kinofilmen her kennen würde“. Zur Intensitätserfahrung gehört auch der der Lektüreerfahrung verwandte Unterbrechungscharakter des Filmerlebens. Henrik berichtet von seiner Erfahrung mit dem Film Billy Elliot: „Also man hat vergessen, dass es eine Fiktion ist. Man hat sich wirklich da hineinbegeben, als wenn man teilhaben würde an seinem Leben.“ Und Stefan sagt über sein erstes Kinoerlebnis: „Ich erinnere mich an mein Erstaunen, dass das so groß war und so süffig und so 276

üppig und der Ton samtig und so durch mich durch ging und ich hatte glaube ich auch Zeichentrick noch nicht gesehen. Das fand ich auch ganz toll, prall. Ich erinnere mich, dass das so richtig mutterschoßmäßig war.“ Die Fähigkeit des Films, den Fluss des Lebens umfassend nachzubilden und eine ganze Welt in ihrer konkreten Gegenständlichkeit synästhetisch in Erscheinung treten zu lassen, hat eine suggestive Kraft, die die Rezipienten mit großer Intensität in die Wahrnehmung der filmisch konstruierten Welt zu versetzen vermag. Diese Suggestionskraft haben nicht nur realistische Filme. Auch filmische Fantasy-Welten können ihre Zuschauer in den Bann ziehen. Über ihre Erfahrung mit dem Film Der Herr der Ringe sagt Ute: Und es war einfach eine völlig fiktive Geschichte, wo man einfach für die Zeit, wo man im Kino sitzt, aus dem Alltag völlig erst mal raus ist und das für mich auch das Kino bewirken soll. Dass man versucht den Zuschauer so in ein Stück, in die Welt reinkommen zu lassen, die man da will und auch gar nicht sich mit Alltag beschäftigt während der Zeit, wo man sich den Film anschaut.

Ute liebt es, sich im Kino in eine andere Welt transportieren zu lassen. Der umfassend involvierende Charakter des Kinoerlebnisses im Multiplex-Kino wird an ihrer Beschreibung einer Erfahrung mit dem Film Der Gladiator sehr schön deutlich: Auch gut in Erinnerung geblieben ist Der Gladiator, das ist auch ein typischer Kinofilm für mich, wofür ich auf jeden Fall ins Kino gehe. Wo ich im Nachhinein auch denke, das ist auf keinen Fall ein Fehler gewesen, schon wegen des Sounds, den man im Kino hat. Mit dem Surroundsystem und wenn dann in der Arena die Wagen um einen rumfahren und man denkt, man sitzt mittendrin, das ist schon klasse gemacht.

Das Eintauchen in die filmische Welt kann dabei ganz intensiv sein, ohne dass das Wissen um die Medialität des Films ausgeschaltet würde. Der Zuschauer hat gewissermaßen eine doppelte Wahrnehmung: er folgt dem Film und weiß sich zugleich im Kino. Er kann nach dem Film über die Figuren sprechen wie über real existierende Menschen – so Lukas über die Figuren aus Good bye Lenin – und zugleich natürlich wissen, dass es sich um konstruierte Figuren handelt. Man muss also davon ausgehen, dass der Zuschauer im Modus des „Als ob“ in die filmische Welt eintritt, dass er dem Geschehen folgt, als ob es real sei, zugleich wissend, dass es sich „nur“ um einen Film handelt. Ob es einem Film gelingt, seine Zuschauer in eine andere Welt zu transportieren, ob er fasziniert und einen starken Eindruck macht und hinterlässt, ist, so legen die Äußerungen der Interviewten nahe, ganz wesentlich eine Frage der Ästhetik. So äußert Hans, dass das ethische Problem der Gewalt, das der Film Clockwork Orange reflektiert, ihn wohl interessiert habe, aber mehr noch etwas anderes. Hans: „Aber das ist nicht das, was mich so daran begeistert, muss man auch gleich sagen: das meiste ist die Ästhetik.“ 277

Wie ein Film wirkt, hängt wesentlich davon ab, wie er gemacht ist. Das ist ein deutlicher Tenor des gesamten Interviewmaterials. Die intensive Wirkung eines Films wird dabei bevorzugt mit den Worten „berührend“ oder „anrührend“ (so zum Beispiel Lena) beschrieben, das Nahegehende wird in Analogien zu körperlichen Empfindungen zum Ausdruck gebracht. Dass auch der Inhalt bei dieser Wirkung eine wichtige Rolle spielt, wird unter anderem an Lenas Äußerungen über ihre Erfahrung mit dem Film Italienisch für Anfänger deutlich. „Unheimlich berührend oder anrührend“ sei in Italienisch für Anfänger gewesen „wie diese tollpatschigen Menschen zueinander finden“. Das Zueinanderfinden rührt an, aber auch das „Wie“ des Zueinanderfindens, seine konkrete szenisch-dramaturgische Darstellung. Auch Tanjas Bericht über ihre Erfahrungen mit dem Film Titanic unterstreichen diese Diagnose: die Wirkung des Films habe wesentlich mit der dramaturgischen Umsetzung des Plots und mit der Musik zu tun gehabt. b) Konfrontative und mimetische Wirkungen des Films Ein grundlegender Unterschied zwischen Filmerlebnis und Lektüreerfahrung resultiert aus dem präsentativen Charakter des Films: Der Film präsentiert seine Bilder selbst.34 Kann der Leser sich seinen inneren Film selbst konstruieren, so wird dem Kinobesucher ein konkreter Film gezeigt. Dessen Bilder beinhalten ein Alteritätsmoment, das mimetische oder erschütternde Wirkungen haben kann, das, anders als ein Text, weniger die visuelle Imagination stimuliert, sondern vielmehr vor allem die Deutungsfähigkeit und die sprachliche Artikulation herausfordert. Der präsentative Charakter des Films kann äußerst starke Wirkungen haben, Wirkungen, die einer Gewalterfahrung nahe kommen können. So kann ein Film als Fortsetzung der in ihm gezeigten Gewalt mit anderen Mitteln erfahren werden, eine Erfahrung, wie sie etwa Henrik im Blick auf den Film Geboren am 4. Juli schildert. Es handelt sich dabei um einen Film über den Vietnamkrieg, der so schockierend und eindringlich die Kriegsfolgen vor Augen führt, dass eine Freundin, die Henrik in eine Vorführung des Films begleitete, einen Krampfanfall im Kino bekam, dass Zuschauer aus dem Kino rannten und sich übergeben mussten, dass ein Freund auf der Toilette zusammenbrach. Henrik selbst hatte nach dem Film das Bedürfnis, über das Gesehene zu sprechen, stieß damit jedoch auf keine Resonanz bei seinen Begleitern, die froh waren, „dass sie den Film überstanden hatten“. Die andere, gewissermaßen positive Seite dieses präsentativen Charakters des Film ist sein mimetisches Wirkungspotential. Biographisch scheint er dieses Potential am stärksten in der Jugendphase zu entfalten. So berich34 Vgl. zum präsentativen Charakter von Symbolisierungen auch Susanne Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a.M. 1987, 103.

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tet Stefan, dass er in seiner Jugend oft auf der Suche nach dem gewesen sei, „was auch so ist wie im Film“. Klaus berichtet von seiner jugendlichen Faszination durch den Film Indiana Jones und die Bedeutung des darin entworfenen Männerbildes für die eigene Geschlechterrollenorientierung. Henrik erzählt von der Neorealismus-Reihe im WDR-Fernsehen, die er im Alter von zwölf zusammen mit seiner Schwester regelmäßig gesehen hat. Er hebt den Film Rocco und seine Brüder hervor. Durch diesen Film sei er „richtig auch noch mal ins Grübeln geschickt (worden), wo ich merkte, okay, jetzt will ich auch langsam so irgendwie älter werden und will auch daran teilhaben“. Am Leben der Erwachsenen. Erzählt der Film als Bewegungsbild (Deleuze) eine Geschichte, so kann er sich doch auch mit einzelnen Bildern in das Gedächtnis seiner Zuschauerinnen und Zuschauer einschreiben. Lisa berichtet von so einer Erfahrung mit dem Film Birdy, der sie nachhaltig beeindruckt hat. Sie spricht von einer „menschlichen Erschütterung“ durch den Film und hat vor allem das Bild der Hauptfigur noch lebhaft vor Augen: „erinner’ mich noch total an das Bild, [...] eine nackte, zusammengekauerte, kahle, weiße, männliche Figur.“ Die mimetische Wirkung des Films beruht nun allerdings nicht unbedingt auf einzelnen besonders eindrucksvollen Bildern, sondern vor allem auf der synästhetischen Animation von Figuren, die als in ihrer Welt handelnde Subjekte in einer umfassenden Weise medial präsent werden. Indiana Jones überzeugt also sowohl durch sein Aussehen als auch durch seinen Mut und seine Art, sich zu bewegen, zu handeln und zu sprechen. 2.2.2.2.2 Religiöse Dimensionen Aus den Äußerungen über Erfahrungen mit dem Medium Film geht deutlich hervor, dass die Filmerfahrung im Jugendalter stark von der Wirkung mimetisch stimulierender Vorbilder bestimmt ist, während im Erwachsenenalter der Aspekt der Auseinandersetzung mit Kontingenzerfahrungen und Lebenskrisen immer mehr in den Vordergrund tritt. Sowohl die vorbildgebende als auch die kontingenzbewältigende Funktion des Films hat im Sinne eines Beitrags zur Ausbildung eines individuellen Selbst- und Weltverständnisses, eines individuellen Sinnhorizontes von orientierender Bedeutung, religiöse Funktionen. Eine Analyse des Transzendenzbezuges und des Bezuges zu explizit religiöser Semantik können den Charakter dieser religiösen Funktionen noch genauer beschreiben. Zunächst zum Aspekt der Vorbildfunktion. a) Vorbildfunktion Ein gutes Beispiel für die sinnorientierende Funktion filmischer Vorbilder im Jugendalter gibt Lisa. Im Blick auf die Tanz- und Musikfilme, die sie als Jugendliche gesehen hat, spricht sie von Bildern „von einem gelungenen 279

Leben“, von einer „Vision von Glück“. Diese Bilder seien gerade in der Pubertät, wo man noch nicht so genau wisse, wo es langgeht, und auch manchmal verwirrt sei, besonders wichtig. Sie zeigten, dass „du’s schaffen kannst“, dass das Leben gelingen kann und „wenn du gut bist, dann kannst du damit auch im weitesten Sinne die Welt verändern“. Beeindruckt habe sie in diesem Zusammenhang unter anderem der Film Gandhi: das konsequente Eintreten für politische Ziele, das Asketische, das Geradlinige, die Überzeugungskraft. „Der Glaube, die Welt verändern zu können durch starke Überzeugungen“ sei ihr in der Erziehung mitgegeben worden und von solchen Filmerfahrungen verstärkt worden. Auch im Interview mit Klaus tritt diese durch die Präsentation von faszinierenden Vorbildern mimetisch stimulierende Funktion des Films deutlich hervor. Er sah als Jugendlicher gern Action-Filme, immer auch mit der Frage: „Wie funktioniert das Mannsbild?“ In diesem Kontext war unter anderem der Film Indiana Jones von besonderem Gewicht, „sicherlich ein prägender Film“, wie Klaus bemerkt. Fasziniert hat ihn die Hauptfigur, dieser männliche Einzelgänger, dem es mit Disziplin und Witz gelingt, mit schwierigen Situationen zurechtzukommen und der nicht so schnell aufgibt. Indiana Jones verschmolz mit James Dean zum Bild eines autarken Abenteurers, der in allen Lebenslagen souverän bleibt. Eng verknüpft mit der mimetischen Wirkung ist die gerade auch im Jugendalter bedeutsame Funktion der Horizonterweiterung. Henriks Erfahrungen mit einer vom WDR-Fernsehen ausgestrahlten Filmreihe zum italienischen Neorealismus sind hier paradigmatisch. Diese Filme, die er immer am Donnerstagabend mit seiner Schwester zusammen gesehen hat, hätten Henrik die Wahrnehmung vermittelt: „okay, es gibt noch viel, viel mehr in diesem Leben als das, was dich hier umgibt. Das hat in mir echt die Lust geweckt, neugierig zu sein und so“ (Henrik). Die Filme haben bei Henrik schließlich auch eine Reiselust geweckt und mit dazu beigetragen, dass er an einem Schüleraustausch mit einer Schule in London teilgenommen hat. Horizonterweiterung und mimetische Stimulation stehen in einer engen Wechselbeziehung. So können filmische Vorbilder den Horizont erweitern, Impulse geben und zur Orientierung beitragen. Jugendliche Rezipienten benutzen sie als Orientierungsmarken und Anregungen bei der Aufgabe der Gestaltung des eigenen Lebens. Henrik beschreibt diese Funktion besonders treffend. Vor allem Filme, in denen „Menschen einfach das getan haben, was sie für richtig hielten, ohne Rücksicht auf Verluste“, hätten ihm Impulse gegeben, Filme, „wo“, wie Henrik ausführt, „ich gedacht habe, Mensch, irgendwann musst du auch mal dahin kommen, das zu machen, was du wirklich willst. Das muss jetzt nicht irgendein spezieller Film gewesen sein, sondern einfach dieses Medium Film, was einem da sozusagen diese Impulse gegeben hat oder mir das gegeben hat“. Solche Filme hätten ihm gezeigt, 280

dass seine „Lebenswirklichkeit nicht so (ist)“ wie er sie sich wünscht. Im realen Leben habe er solche anregenden und vorbildgebenden Lebensentwürfe nicht sehen können. Darum habe er sie „in Form einer Fiktion“ wahrgenommen. Diese Orientierungsfunktion habe das Kino für Henrik bis heute: „Das ist für mich so eine Inspiration, so dass ich sage, Mensch, zu sagen, du kannst froh und glücklich sein, so zu leben wie du lebst oder irgendwie genau das Gegenteil. Zu sagen, Mensch guck mal wieder da hin, was du eigentlich willst und warte nicht, dass es irgendwann von außen irgendwer für dich regelt. Also eigentlich doch immer so wie eine Leitlinie, an der man sich so orientieren kann.“ Bemerkenswert ist an den Äußerungen von Henrik auch, dass er die Funktion des Films als Kompensation eines Mangels an Vorbildern und Anregungen in seiner sozialen Erfahrung beschreibt. Diese Beobachtung scheint verallgemeinerbar: so prägnante Orientierungen wie im Kino finden sich generell in der Lebenswelt nicht. Das Kino ist schließlich, so Dirk Blothner, das „Leben in einer gesteigerten und intensivierten Form“.35 Es kann dabei helfen, „zu erfahren, was uns lieb und teuer ist“.36 Und diese Hilfe, so zeigen die Interviews der vorliegenden Studie, wird auch gesucht. Blothner ist zuzustimmen, wenn er aufgrund seiner Untersuchungen konstatiert, dass Menschen im Kino nicht nur Spannung und Thrill suchen, sondern eben auch „eine vertiefte Einsicht in die Grundprobleme des Lebens“.37 b) Themenorientiertere Selbst- und Weltdeutung Das stärker inhaltlich an Themen orientierte Filminteresse, so wird an den Interviews deutlich, nimmt mit dem Alter zu.38 Es gilt zunehmend, was Johanna über ihre Filmauswahl im Erwachsenenalter sagt: Da geht man nicht zur Unterhaltung rein, um einfach einen netten Abend zu haben, sondern man geht ins Kino, um sich mit einem Thema auseinander zu setzen. Da fällt mir zum Beispiel ein der Film Frauensache. Da ging es um Abtreibung in der Zeit des 2. Weltkrieges in Frankreich. Das sind so Filme, wo man hinterher sehr nachdenklich rausgeht. Da sagt man nicht unbedingt, ich hatte einen schönen Abend.

Die Filmerfahrung kann dabei – ähnlich wie im Zusammenhang der Beschreibung der Lektüreerfahrungen schon beobachtet – mehr selbstdeutungsbezogen oder mehr weltdeutungsbezogen akzentuiert sein, mehr auf das Selbstverstehen oder mehr auf das Fremdverstehen bezogen sein. Sie kann sich auf Historisches richten (Johanna) oder auf das Verstehenwollen 35 Blothner, Erlebniswelt, 23. 36 Ders., Erlebniswelt, 23. 37 Ders., Filminhalte, 11. 38 Dies hat auch Dirk Blothner in seinen empirischen Untersuchungen beobachtet, vgl. ders., Filminhalte, 48.

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der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen (zum Beispiel: Lisa). Einen mehr selbstbezogenen Modus beschreibt Lukas: Jetzt würde ich gerne Paris-Texas sehen, da hab ich ’n kurzen Ausschnitt in dieser Präsentation gesehen, dachte, ja, das is irgendwie auch so diese, Sinn und Unsinn des Lebens und so, also das, wie geht man mit dem Leben um, also das is schon so, sind so Fragen, die ich eben mir stelle und dann krieg ich da ’n kleines Häppchen, denk ich so, cool, in dem Film find’st Du vielleicht so ’n bisschen Inspiration, Antworten, ja, und dann geh ich dann, hol ich mir den Film.

Die stärker auf den Subjekt-Pol bezogenen Erfahrungen haben oftmals artikulierende und klärende Funktionen. Lena beschreibt diese Funktion prägnant, wenn sie im Blick auf die Filme Clockwork Orange und The Wall sagt, die genannten Filme hätten „das noch mal auf einen Punkt gebracht oder verbildlicht, [...], was eh die ganze Zeit in meinem Kopf war“. Felix, der Medienwissenschaftler, rückt den Sachverhalt wissenschaftlich aus und spricht von der Funktion der Affirmation und Klarifikation eigener Sichtweisen durch Spielfilme. Bei Felix kommt darüber hinaus auch eine spezifische, dem Objektpol zugeordnete Filmerfahrung in den Blick: die Erfahrung mit Dokumentarfilmen. Felix schätzt den Dokumentarfilm, weil er zu zeigen vermag, „wie Menschen tatsächlich leben“. Daraus könne, wie im Fall des Films Baran, für ihn auch der Appell erwachsen, mehr zu tun, „damit es anderen besser geht“. Dokumentarfilme hätten Felix oftmals stärker beeindruckt als Spielfilme. Das „Überraschende und eben neue Informationen“ kämen für ihn „dann schon eher aus dem Dokumentarfilm“. Der Dokumentarfilm erweitert den Horizont der Weltwahrnehmung auf spezifische Weise: im Blick auf wirkliche Menschen in realen Welten. Er kann so zur Wahrnehmung auch der konkreten Not anderer beitragen und erscheint als ein wichtiges Medium der moralischen Selbstbildung. Welche Thematiken nun erscheinen im Durchgang durch die 16 geführten Interviews im Zentrum der sinnorientierenden Auseinandersetzung mit Filmen, welche Schwerpunkte zeichnen sich in den Beschreibungen von Schlüsselerfahrungen mit Kinofilmen ab? Drei Themenkreise stehen hier meiner Beobachtung nach im Mittelpunkt der Filmerfahrungen im Erwachsenenalter: Das Kontingenzproblem, die Authentizitätsthematik und die ästhetische Lebenssteigerung. Im Blick auf alle drei Schwerpunkte kann eine Konvergenz mit den zentralen Thematiken der bedeutsamen Lektüreerfahrungen festgestellt werden. c) Kontingenzbewältigung/Lebensbewältigung Besonders prägnante Beschreibungen der Filmerfahrung als Auseinandersetzung mit den Krisen und Kontingenzen des Lebens finden sich in den Interviews mit Lisa, Klaus, Tanja und Patrick. Lisa stellt fest, dass es in den 282

Kinofilmen, die sie interessiert hätten, immer um „verlorene Figuren“ gegangen sei, um Menschen „die letzten Endes unrund sind“, „die ihr Leben nicht so richtig irgendwie in den Griff kriegen“. Klaus bemerkt, dass ihn realistische Filme ohne Happy End am meisten interessieren, Filme, „wo man auch sich dran aufreiben kann, oder wo sich die Protagonisten dran aufreiben“. Interessant findet Klaus an solchen Geschichten, „wie diese Personen dann auch mit dem Scheitern leben“, die Frage, „wenn man scheitert, [...] wie scheitert man dann, und was macht man, wenn man gescheitert is, und wie geht es weiter? Das is so der Ansatz, [...] aus Neugierde oder Interesse daran, wie man mit dem Scheitern umgeht. Weil, das Scheitern is ja dann auch wie ’n Weg in was Neues. Und wie positiv es dann wird oder negativ, aber eigentlich is mein Interesse dann schon so, dass es dann ins Positive geht. (I: Wie können Menschen mit Krisen fertig werden?) Genau, Krisenbewältigung auch, ja, ja.“ Klaus erwähnt in diesem Zusammenhang auch den Film About Schmidt, einen Film, in dem es um die Kontingenzen des Älterwerdens geht, und führt aus: Und deshalb is da irgendwie so ’n Interesse drin, sozusagen, präventiv zu wissen, was macht man, wenn. Wie machen es andere, und wie geht des weiter, und, aber einfach auch so aus Interesse heraus, wie die, also, noch gar nich mal für mich selber, sondern einfach so zu sehen, wie machen’s andere.

Auch Tanja interessiert sich für Filme, die „Entwicklungen von Menschen“ darstellen und zeigen „wie sie mit Schicksalsschlägen umgehen“. Eine zentrale religiöse Funktion des Kinofilms ist es mithin, eine ästhetisch konnotierte Auseinandersetzung mit biographischen Kontingenzerfahrungen zu ermöglichen. Dass diese Auseinandersetzung rituelle Formen annehmen kann, zeigt das Interview mit Patrick. Er berichtet von seiner Erfahrung mit einer Verfilmung des Musicals Linie eins. Diesen Film hat er eine Zeit lang zwei Mal am Tag gesehen. Er erzählt von den Erlebnissen eines Mädchens, das von zuhause ausgerissen ist, mit der U-Bahn durch Berlin fährt und ein anderes Mädchen trifft, das in einem Lied von seinem Schicksal erzählt: von der alkoholkranken Mutter, von Gewalt und von einem Selbstmordversuch. Diese Figur hat Patrick „schon sehr berührt“. „Weil ich mich irgendwo selber darin gesehen habe. Ich konnte sie verstehen.“ Beeindruckt hat ihn, dass dieses Mädchen trotz allem noch versucht, „anderen Mut zu machen“, dass sie dennoch weitermachen will. Patrick: „Ja, das hat mir ein bisschen Hoffnung gegeben, dass man vielleicht selber sein Leben positiver sehen muss. Vielleicht in der Hoffnung, eines Tages schafft man es doch noch. Man hat es jetzt zwar schwer, aber sich aufgeben? Man weiß ja nicht, ob nicht vielleicht doch irgendwas kommt [...] So die Hoffnung, es könnte ja doch noch weitergehen. Dass man, auch wenn man unten ist, doch noch ein bisschen Hoffnung hat.“

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Damals, als Patrick den Film in einer Videothek entdeckt hat, war er „ziemlich unten“ und hat „so etwas einfach gebraucht“. Er hat dann den Film manchmal nur bis zu diesem Lied gesehen. Wie diese Figur aus der Musicalverfilmung mit den kontingenten Leidenserfahrungen ihrer Biographie umgeht, berührt, tröstet und ermutigt Patrick auf eine Weise, dass daraus eine rituelle Alltagspraxis erwächst. Am wirkungsvollsten scheint es zu sein, wenn die kontingenten Leidenserfahrungen eine real mögliche Lösung erhalten. Von so einem Film mit einem realistischen Happy End und seiner Wirkung berichtet Henrik. Der Film Billy Elliot habe ihn zu Tränen gerührt. Er beschreibt ihn als „tiefgehend“ und „schön“ und erläutert seine Wirkung mit den Worten: „Das ist wahrscheinlich eher die Macht der Bilder, nicht so sehr das Inhaltliche, obwohl, vielleicht auch.“ Die Äußerung zeugt einmal mehr von dem engen Ineinander von Form und Inhalt. Während des Sprechens bemerkt Henrik, dass es auf beides ankommt: auf die Form ebenso wie auf den Inhalt. Henrik führt weiter aus: „Na, es ist ja die Geschichte von so einem Jungen, der anders ist als die anderen und jemand findet in einer so aussichtslosen und trostlosen Umgebung, dass er jemanden findet, der das erkennt, dass er anders ist, und der ihn darin fördert, zu seinem Anderssein zu stehen. Und das war das, was so berührend ist. Ich denke mal, das geht ja vielen Menschen so und viele Menschen wünschen, dass das so passiert. Und das fand ich berührend.“ Inhaltlich geht es um ein wertschätzendes Wahrgenommenwerden im kontingenten Anderssein und in der damit verbundenen Not. Dabei sei der Film auch noch visuell gut umgesetzt, „berauschend“, „mit einer Wahnsinnsleidenschaft gespielt“. „Und diese Bilder haben das halt geschafft, das auch umzusetzen. Was bestimmt nicht ganz einfach ist. Also man hat vergessen, dass es eine Fiktion ist. Man hat sich wirklich da hineinbegeben, als wenn man teilhaben würde an seinem Leben.“ d) Authentisches Leben Die Figuren der filmischen Kontingenzbewältigungsmodelle, die im Erwachsenenalter bevorzugt werden, sind nicht mehr die in der Tendenz souveränen Stars wie Indiana Jones oder Gandhi, sondern gebrochene Persönlichkeiten, die kämpfen müssen, aber auch Mut beweisen. Diese Figuren sind auf realistischere Weise Vorbilder. Sie kommen dem Zuschauer nahe. Christoph beschreibt dieses Verhältnis im Blick auf den Film Funny Bones mit den Worten: „Ich mag die Suche nach einem Leben, was authentisch ist. Es ist vielleicht auch tröstlich, Menschen zu sehen, die auch so leben. Es sind ja keine Vorbilder, wenn das so gebrochene Persönlichkeiten sind. Bei denen fühle ich mich so ein bisschen heimisch.“ Im Blick auf die Funktion der Figuren führt Christoph weiter aus, dass die Figuren des Films für ihn 284

„eine Art Familie“ seien. Was Christoph an diesen Figuren anzieht, beschreibt er im Fortgang des Interviews auch so: Vielleicht ist es diese Kompromisslosigkeit, die ich bestimmt nicht selber lebe, aber es macht Mut zu sehen, dass es Menschen gibt, die das schaffen. Du hast ja vorhin gefragt, was ich im Fernsehen gerne sehe [...] Manchmal hat man das Glück, solche Menschen im Interview zu erleben oder in einer Dokumentation, die ihr Leben gegen alle Widerstände gelebt haben und auch gelitten haben. Die einem aber irgendwie Mut machen.

Wichtig sei „nicht nur Krisen zu haben, sondern auch zu versuchen, dort wieder herauszukommen“. Die „gebrochenen Persönlichkeiten“ haben eben doch einen gewissen Vorbildcharakter: sie haben ihre Probleme auf vorbildliche und ermutigende Weise durchgestanden. Und sie verkörpern das Ideal eines authentischen Lebens, das für Christoph letztgültige Bedeutung hat. Authentizität bedeutet hier, so lässt sich aus dem Interview herauslesen: eine Kohärenz von Denken und Handeln, Wünschen, Wollen und Leben, man könnte auch sagen: ein selbstbestimmtes Leben oder in der Terminologie von Ulrich Beck: ein eigenes Leben. Wie dieses Leben in der Auseinandersetzung und Bewältigung von Lebenskrisen und Kontingenzerfahrungen erkämpft wird, interessiert die Befragten brennend, es interessiert sie, wie sich Lester Burnham in American Beauty sein verlorengegangenes Leben wieder aneignet (Klaus), wie die Protagonisten von Elling jedenfalls partiell zu einem eigenen Leben finden (Lisa) und wie der Briefträger in Il Postino zu einem mutigeren und darum selbstbestimmteren Leben kommt (Lukas). Das authentische Leben als das eigene Leben ist der letzte Wert, der letztinstanzliche Sinnhorizont, den die Filme in ihren Narrativen aufspannen und den die Rezipienten suchen und teilen. Die in der Zusammenschau von sozialphilosophischen, soziologischen und filmkulturellen Perspektiven sich abzeichnende Konvergenz (vgl. 3.5.2.2 und die Analyse des Interviews mit Christoph) zwischen – in der Terminologie von Undine Eberlein – einem mit religiöser Unbedingtheit aufgeladenen romantischen Individualismus und einer gewissen Authentizitätskonjunktur des Gegenwartskinos, zwischen dem gesellschaftlichen Ideal eines eigenen Lebens und einer Konjunktur der filmischen Darstellung seiner Verwirklichung spiegelt sich als eine Tendenz auch in den Interviews wieder. e) Ästhetische Lebenssteigerung Ein weiteres Zentralmotiv der medienreligiösen Filmerfahrung der Interviewten – neben der Vorbildhaftigkeit, der Kontingenzbewältigung und dem authentischen Leben – ist das Motiv der ästhetischen Lebenssteigerung. In den Interviews mit Lukas und Stefan tritt dieses Motiv besonders deutlich hervor. Im Interview mit Lukas ist das prägnanteste Beispiel seine Erfahrung mit dem Film Il Postino, einer Literaturverfilmung über die Beziehung zwi285

schen einem Briefträger und dem Dichter Pablo Neruda. Der Briefträger entdecke durch die Begegnung mit dem Schriftsteller eine „neue Qualität des Lebens“. Diese neue Lebensqualität und –intensität hat mit einer Wahrnehmungsveränderung zu tun, mit einer intensivierten Aisthesis. Lukas spricht von einer anderen Ebene, die dadurch erreicht werde: Also dass das Leben so ’ne andere Ebene kriegt. Also vorher is er halt sehr direkt am Leben, was zum Beißen kriegen und vielleicht bisschen schüchtern irgend ’ner Frau hinterherstellen und so, und das andere hat dann eher so was wie, ja, wie riecht die Luft und wie schmeckt das Wasser und alles so noch mal reflektieren.

In der Figur des Briefträgers verbindet sich in der Wahrnehmung von Lukas der aisthetische Impuls („wie riecht die Luft“) mit dem ethisch motivierenden einer vorbildhaften Entwicklung zu einem immer selbstbestimmteren Leben. Der Film habe Lukas „sicherlich was mitgegeben“, nämlich: „dass man sich trauen soll“. Hier kommen ästhetische Lebenssteigerung als auf die Sinnlichkeit zurückgewandte und in ihr verweilende Reflexivität und das ethische Ideal des authentischen, des eigenen Lebens zusammen. Bei Stefan wird die Erfahrung einer ästhetischen Transzendenz im Zusammenhang seiner Äußerungen über den Film The Thin Red Line besonders deutlich. Stefan berichtet von einer durch den Film ausgelösten „intensivierten Wahrnehmung“, von einer veränderten Zeiterfahrung, einer „sinnlichen Gewahrwerdung seiner selbst“ und einem gleichzeitigen Zerreißen des „Alltagsschleier(s)“, einem „Leuchten“ der Welt und einem Blick auf ein „Dahinter“. Stefan spricht auch von einem „ganz metaphysischen Film“ und von „fühlbarer Poesie“. Auf die Bezüge zu aktuellen theoretischen Beschreibungen ästhetischer Erfahrung bei Martin Seel und Dieter Mersch und auf deren Nähe zum Religiösen hatte ich in der Einzelanalyse hingewiesen. Mersch spricht im Blick auf die intensivierte Wahrnehmung des sinnlich Sich-Zeigenden als einer unverfügbar zuvorkommenden Alterität von einer „nichttheologischen Transzendenz“.39 Die Nähe dieser Erfahrung zum explizit Religiösen wird im Changieren von Stefans Beschreibungen zwischen ästhetischen und religiösen Kategorien ganz deutlich. f) Transzendenzspannweite Auffällig ist jedoch im Überblick über die herausgestellten Sinnmuster von lebensorientierender Bedeutung, dass sie ohne Bezugnahmen auf große Transzendenzen oder traditionelle religiöse Semantiken auskommen. Einzig Patrick beschäftigt im Zusammenhang mit der Steven King-Verfilmung Der Friedhof der Kuscheltiere die Frage nach Tod und Auferstehung. Generell 39 Mersch, Materialität, 37.

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sind die Vorbilder und Kontingenzbewältigungsmodelle, die authentischen Figuren und die ästhetische Lebenssteigerung im Diesseits des konkreten Lebens verortet – wie auch schon im Zusammenhang der Lektüreerfahrungen festgestellt. Der Film zeigt eine konkrete Welt, konkrete Menschen. Das ist seine Stärke, das macht seine Präsenz aus. Eine Äußerung von Lisa kann diesen Aspekt noch einmal im Vergleich mit der Leseerfahrung beleuchten. Lisa: Das is was, was auch meine Filmerfahrung und Bucherfahrung, Menschenerfahrung letzten Endes so zusammen bindet, dass is immer so dieses Berührtsein durch Bilder, durch Sätze, durch Sequenzen, durch Momente, also zum Beispiel so ’n Film wie Elling, ja, das is ja für mich ein absolutes Highlight gewesen der letzten Jahre.

An dem Film Elling habe sie die Klarheit und die Zärtlichkeit der Darstellung der Figuren beeindruckt. Ein solcher Blick beeindrucke sie in Filmen und Büchern gleichermaßen, in Filmen jedoch „auf `ne Art noch mehr, weil’s natürlich Präsenz hat“. Auf die Nachfrage nach dem Spezifischen der Darstellung hin, führt Lisa weiter aus: Ja, diese Darstellung, vorurteils- und urteilsfrei. Also, Zustände zu zeigen in ihren ganzen Abgründen, in eben aber auch ihren ganzen Hoffnungen, in ihrer ganzen Liebe, in der ganzen emotionalen Erfahrung. Das is letzten Endes das, was, was, was für mich die Stärke von Filmen ausmacht. Reif, reif sein, auch im Blick auf, auf Leben und, und gleichzeitig eben auch nich missionarisch sein wollen und trotzdem kommst du aus so ’nem Film raus und denkst dir‚ mein Gott, wie blind läufst du eigentlich manchmal da durch und siehst vieles nich und wirst aufmerksam gemacht, wieder aufmerksamer zu werden.

Kern des Filmerlebnisses ist, so Lisa, die emotionale Erfahrung, eine Erfahrung, die die Wahrnehmung zu schärfen vermag und die Augen zu öffnen vermag. Die Offenbarung des Kinos besteht hier also weniger in einem Blick über die Welt hinaus, sondern in einer geschärften und intensivierten Wahrnehmung für den Alltag dieser Welt. g) Hermeneutische und ethische Funktionen Filme, so lässt sich sagen, können zu einer Schule der Wahrnehmung werden, die unsere Alltagswahrnehmung sensibilisieren und schärfen kann. Sie zeigen uns nicht nur eine Welt im Film, nicht nur Kontingenzbewältigungen, nicht nur Vorbilder des authentischen und ästhetisch gesteigerten Lebens, sondern machen uns auch auf all dies im wirklichen Leben aufmerksam, sind Wahrnehmungsschulen und Handlungsimpulse. Inspirationen im Blick auf das, „was du wirklich willst“ (Henrik). Der Film zeigt uns aufgrund seines präsentativen Charakters ganz konkrete Bilder von dem, was 287

wir wirklich wollen könnten. Dies unterscheidet ihn vom Buch, dessen Buchstaben wir aufgrund unserer Lebenserfahrung erst wieder Leben einhauchen müssen. Das Alteritätsmoment ist insofern beim Film größer, der Aspekt des Zeigens von Konkretem, die Mimesis der Ereignishaftigkeit des Lebens selbst. Dafür ist die imaginative Komponente nicht so stark ausgeprägt wie bei der Literatur. Eine letzte Beobachtung: Die sinnstiftenden Werte der Befragten sind allesamt immaterieller Natur. Dieser Aspekt der Filmreligiosität der Interviewten kommt in den Äußerungen von Hans über den Film Adaption prägnant zum Ausdruck. Die Schilderung der Filmerfahrung geht in lebensphilosophische Überlegungen über, die Frage nach dem Lebenssinn, die der Film Adaption bearbeitet, geht über in die Frage, welche Ziele Hans in seinem Leben verfolgt. Hans ist es wie dem Protagonisten Charly Kaufmann in Adaption wichtiger, ein gelungenes Buch zu schreiben als viel Geld zu verdienen. Wie Kaufmann sich von seinem Bruder unterscheidet, der mit seinem Drehbuchprojekt auf (ökonomischen) Erfolg zielt, unterscheidet sich Hans von seinem Vater, der im Alter von Hans schon ein Haus gebaut hatte. Kulturelle Werte und Ideale bestimmen den individuellen Sinnkosmos von Hans: Er möchte Autor einer gelungenen Form sein. Dies gilt, wer den Film als Metapher zu lesen versteht, im Übrigen in doppelter Weise: im Blick auf Kulturprodukte und zugleich im Blick auf die Autorschaft des eigenen Lebens, die nicht nur eine ethische, sondern ebenso auch eine ästhetische Dimension hat. 2.2.2.3 Fernsehen 2.2.2.3.1 Ästhetische Dimensionen a) Die Stellung und der Charakter der Fernseherfahrung Das Fernsehen ist ein Begleitmedium geworden. Es hat mit durchschnittlich über drei Stunden täglicher Nutzungsdauer eine enorme Präsenz im Alltag, bleibt jedoch in seiner Eindrücklichkeit deutlich gegenüber Buch und Film zurück. Klaus formuliert, was für die meisten Befragten gilt: Er bezeichnet das Fernsehen als ein „Beiwerk“. Es sei „mehr so ’n Reiz für die Augen und ’n bisschen für den Geist“ gewesen, „überhaupt nich vergleichbar mit der Intensität, die ich jetzt von Büchern oder von Kinofilmen her kennen würde“. Bedeutung und Wertschätzung des Fernsehens sind bildungsabhängig. Die intensivste Fernsehnutzung findet sich bei Tanja, Esther und Ute, den Frauen ohne Abitur.40 Unterhaltung, Information und Alltagsbegleitung stehen dabei im Vordergrund. Ute schaltet den Fernseher gar ein, „um ein 40 Diese Beobachtung konvergiert mit den Ergebnissen der Fernsehrezeptionsforschung, vgl. u.a. Paus-Haase, Schlussfolgerungen, 325.

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Geräusch im Hintergrund“ zu haben. Zusammen mit der Beobachtung, dass ästhetische Kategorien in den Äußerungen über Fernsehsendungen nur selten eine Rolle spielen, könnte die Aussage von Ute die Frage nahe legen, ob das Fernsehen eigentlich angemessen als ein Bildmedium beschrieben ist, ob es nicht vielmehr ein schwach bebildertes Erzählmedium darstellt und dem Radio insofern fast verwandter ist als dem Kino. Mit dem Bildungsgrad wächst die Ambivalenz gegenüber dem Fernsehen. In der Gruppe der Männer mit Abitur ist sie am größten. Sie verachten das Fernsehen auf der einen Seite als „die Pest“ (Stefan) oder – mit Enzensberger – als ein „Nullmedium“ (Felix), räumen auf der anderen Seite aber ein, dass sie dann phasenweise doch zu intensiven Fernsehnutzern werden, Erfahrungen, von denen oftmals ein schaler Nachgeschmack bleibt. b) Funktionen des Fernsehens Unterhaltung, Information, Alltagsbegleitung und Orientierung sind zentrale Funktionen des Fernsehens. Deutlich wird durch die Interviews, dass das Fernsehen in der Kindheit und in der Jugend eine relativ wichtige Orientierungsfunktion entfalten kann. So berichtet Klaus von der Faszination der Fernbedienung und der Möglichkeit zu sehen, „wie andere Kinder oder Jugendliche ihren Tag gestalten“ und von der kreativen Nachahmung, die Kinderserien auslösen konnten. In der Jugendzeit trat dann die Sportberichterstattung in den Fokus des Interesses und Musiksendungen wie Formel eins und Musikkanäle wie MTV. Hier wird das Fernsehen dann zum Kanal für die Ästhetik der aktuellen Jugendkulturen. Mit zunehmendem Alter erhält die Informationsfunktion eine größere Bedeutung. Im Zusammenhang dieser Funktion war bei mehreren Interviewpartnern eine intensive kritische Auseinandersetzung mit der Fernsehberichterstattung über den Irak-Krieg im Jahr 2003 deutlich geworden. Klaus äußert in diesem Zusammenhang die Sorge, dass man „nicht mehr wirklich die Wahrheit bekommt“ oder jedenfalls diese Gefahr bestehe. Die Amerikaner könnten einem „irgendwelche Bilder aufzwängen [...], die überhaupt nicht bewiesen sind“ und also mit Macht auf der medialen Ebene das durchsetzen, was sie auf die gleiche Weise im Politischen durchgesetzt hätten. Man habe „so wenig Prüfinstanzen“, es tauchten immer wieder Bilder auf, „die vollkommen gefaked waren“. Die Einbettung des Fernsehens in Machtsphären, seine Beeinflussung durch Machtinteressen wird von Klaus, aber auch von Hans und Lukas ganz deutlich gesehen. Lukas thematisiert dabei nicht nur das Problem, die Kriegsbilder aus dem Irak zu bewältigen und zu bewerten, er geht auch auf die Schwierigkeit ein, sich zu diesen Bildern zu verhalten. Letzteres wird sehr plastisch an seiner Beschreibung des durch einen Angriff unterbrochenen Korrespondentenberichts deutlich: die Nähe zum Geschehen, die das Fernsehen auf der einen Seite 289

vermittelt, und zugleich die Unmöglichkeit zu handeln auf der anderen Seite. An diesem Beispiel wird auch noch einmal der Charakter des Fernsehens als Echtzeit-Transporteur des Weltgeschehens in das Wohnzimmer deutlich. Eine auch ästhetisch spezifische Leistung des Fernsehens wird im Interview mit Hans deutlich. Sie wird auch von Felix, Anna und Tanja ausdrücklich geschätzt: seine Dokumentationsfunktion. Hans beschreibt diese Leistung des Fernsehens mit den folgenden Worten: Der Roman informiert mich da nicht so über die Wirklichkeit, ich seh’ das irgendwie nicht. Aber so ’n Film bringt mir auch einfach nahe, was da passiert. Ganz schlicht und einfach, was Menschen da für Schicksale haben und das ist die große Stärke des Dokumentarfilms und Dokumentarfilm ist ja nun auch, bis auf wenige Highlights, die ins Kino kommen, gewöhnlich ’ne Sache des Fernsehens und das find ich da auch sehr legitim und sehr gut.

2.2.2.3.2 Religiöse Dimensionen Die religiöse Dimension des Fernsehens besteht, das zeigt das Material, in erster Linie in einer rituell-alltagsstrukturierenden und unterhaltendalltagsbegleitenden Funktion. Dabei lassen sich, so weit ich sehe, drei typische Aspekte unterscheiden. Zum ersten die rituelle Alltagsstrukturierung durch Nachrichtensendungen oder Soaps, zweitens das durch vor allem unterhaltende Angebote mögliche ‚Abschalten‘ und drittens die Funktion der Einsamkeitskompensation. Ein zweiter zentraler Topos ist die ethisch-moralische Orientierungsfunktion, in Einzelfällen lassen sich auch – ähnlich wie bei den Filmen und Büchern – Funktionen der sinnorientierenden Kontingenzbewältigung und impulsgebende Vorbildfunktionen beobachten. a) Rituelle und alltagsbegleitende Funktionen Ein prägnantes Beispiel für die Funktion der rituellen Alltagsstrukturierung gibt Tanja, wenn sie davon berichtet, dass sie täglich die RTL-Fernsehnachrichten um 18.45 Uhr verfolgt oder sich später am Abend eine Videoaufzeichnung ansieht, wenn sie die Sendung nicht zum Zeitpunkt der Ausstrahlung verfolgen konnte. Auch die Serie Ally Mc Beal ist fester Bestandteil ihrer rituellen Fernsehnutzung. Dass das Fernsehen als Mittel zum „Abschalten“ und zur „Entspannung“ genutzt wird, ist eine Antwort fast aller Befragten. Auf andere Weise als die Religion vermittelt das Fernsehen Abstand zur eigenen Lebenswelt und dem Angespanntsein des Alltags. Ute beschreibt die Entspannungserfahrung mit den Worten: „sich mal nett eine dreiviertel Stunde berieseln lassen.“ Wichtig scheint zu sein, dass das Fernsehen leicht konsumierbar ist und keine sonderliche Anstrengung von den Rezipienten verlangt. Die 290

durch das Fernsehen mögliche Unterbrechungserfahrung ist darum aber auch weniger exponiert und intensiv als beim Lesen oder beim Kinobesuch. Die Funktion der Einsamkeitskompensation41 kommt am stärksten bei Ute zum Ausdruck. Das Fernsehen war ein wichtiges Mittel gegen das Alleinsein in der ersten Zeit in ihrer ersten eigenen Wohnung. Radio und Fernsehen waren als schlichte Platzhalter für die prinzipielle Anwesenheit von anderen bedeutsam: „Es war einfach, dass Geräusche da waren.“ Auch heute hat Ute es gern „wenn noch ein Geräusch im Hintergrund ist, ob man nun drauf achtet oder nicht ist völlig nebensächlich“. Diese Kompensationsfunktion des Fernsehens beschreibt deutlich auch Anna: „Ich gucke Fernsehen eigentlich nur, wenn es mir schlecht geht, wenn ich so keine Energie habe, was anderes zu machen. Oder ich gucke gezielt, manchmal auch einfach so, wenn ich Lust hab. Ich gucke viel weniger, gucke mehr Doku.“ Wenn es Anna gut geht, so betont sie später noch einmal mit Nachdruck, nutzt sie das Fernsehen weniger. b) Kontingenzbewältigung/Lebensbewältigung Die Funktion der Einsamkeitskompensation kann auch kombiniert sein mit Kontingenz- und Lebenshilfemotiven. Dabei steht die Talkshow im Vordergrund. Patricks Erfahrung ist hier besonders eindrucksvoll. Er berichtet von einer Sendung der Talkshow Fliege, dem Talk des evangelischen Pfarrers Jürgen Fliege, über Straßenkinder: „Es ging um die Frage, warum man abhaut.“ Es sei deutlich geworden, dass Eltern die Probleme ihrer Kinder oft gar nicht wahrgenommen hätten, dass ihnen die Kinder gleichgültig gewesen seien. In solchen Eltern erkennt Patrick auch seinen Vater wieder. Er zählt ihn zu den Eltern, die ihre Kinder zwar ernährt hätten, aber nicht wirklich hätten wahrnehmen können: „sie haben die inneren Bedürfnisse der Kinder ignoriert und Gefühle nicht beachtet. Einfach neben ihren Kindern her gelebt. Und darin sehe ich meinen Vater.“ Talkrunden mit solchen Themen zu sehen, ist hilfreich für Patrick, weil er sich dann mit seinem Problem „nicht alleine (fühlt)“. Auch interessiert ihn, wie sich die Situation weiter entwickelt hat, ob zum Beispiel die Eltern in den vorgestellten Fällen nachdenklich geworden sind. Patricks Talkshowerfahrung ist im Kontext der geführten Interviews einmalig. Der Blick in die Forschungsliteratur zeigt jedoch, dass sie für einen Typ der Fernsehnutzung steht. Sabine Trepte, Sina Zapfe und Wiebke Sudhoff kommen aufgrund empirischer Studien zu dem Ergebnis, „dass vor allem problembelastete Personen Talksshows einschalten, um sich Hilfe und Rat zu holen. Dabei wählen sie ganz konkret Sendungen aus, die sich 41 Dies bestätigt bisherige Ergebnisse der Fernsehrezeptionsforschung, vgl. Hackl, Fernsehen, 341–346.

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mit Problemen befassen, die auch im eigenen Leben aktuell und relevant sind. Bei der Suche nach Orientierung steht der Moderator als wichtige Bezugsperson zur Verfügung. Gerade Menschen, die in den Talkshows nach lebenspraktischen Hinweisen für eigene Krisen suchen, bauen eine intensive Beziehung zu ihren Lieblingsmoderatoren auf und sehen sie als Vorbild. Weil die Themen der Sendungen den Nerv des eigenen Lebens treffen und die Moderatoren als Vorbilder fungieren, avanciert die Talkshow für die orientierungssuchenden Zuschauer zu einer Art Kommunikationsforum.“42 Talkshows bieten Lebenshilfe, die von den besonders Hilfebedürftigen auch besonders gesucht wird. c) Moralische Orientierungsfunktion Talkshows und Soaps haben demgegenüber noch eine weitere wichtige Funktion, die in den Interviews auch an einigen Stellen deutlich wird: die Funktion der ethisch-moralischen Orientierung. So berichtet Esther von der Kinderserie Sesamstraße: Also, ich finde zum Beispiel die Sesamstraße, [...] ich finde schon, dass sie ’n Stück weit Toleranz irgendwie auch den Kindern vermitteln wollte, so, dass jeder halt auch anders is und anders aussieht, und dass man sich trotzdem halt lieb haben kann, so, also, das war so unterschwellig. Also, bei Ernie und Bert, ich bin zum Beispiel ein absoluter Ernie- und Bert-Fan, heute auch immer noch, und die sind ja auch völlig unterschiedlich, die beiden, und, irgendwie, haben sich halt trotzdem total lieb und, und streiten sich immer wieder und kommen aber auch immer wieder zusammen.

Toleranzfragen werden auch in der Serie Ally McBeal behandelt, die zu Tanjas Lieblingssendungen gehört, die sie mit ritueller Regelmäßigkeit verfolgt. Bieten die Soaps je alterspezifische Konfliktlösungen, so steht im Mittelpunkt der Talks die Frage nach den moralischen Grenzen: Es geht darum, zu bestimmen, wie Felix sagt, „was nun wirklich nicht akzeptabel“ ist.43 Felix bezieht sich bei dieser Einschätzung auf seine gelegentlich Ausflüge in die Welt der Nachmittagstalkshows, die sich in erster Linie an Jugendliche richten. Er betrachtet seine Ausflüge als interessante Einblicke in jugendliche Lebenswelten und Moraldiskurse, weniger als für ihn selbst relevante ethisch-moralische Orientierungserfahrungen. Die in der Literatur beschriebene diesbezügliche Orientierungsfunktion tritt in den geführten Interviews nicht so deutlich hervor, jedenfalls nicht als zentrales Motiv der Fernsehnutzung. Am deutlichsten wird diese Funktion der ethischen Verhaltensorientierung noch in Utes Äußerungen über ihre Erfahrungen mit 42 Trepte/Zapfe/Sudhoff, Orientierung, 81. 43 Felix bestätigt ein Ergebnis der Fernsehforschung, die darauf hinweist, dass eine zentrale Thematik und Funktion von Daily Talks die moralische Konsensversicherung ist, vgl. Mikos, Verpflichtung.

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der Sendung Big Brother, die sie mit ihrem Freund zusammen gesehen hat und die ihr Anlass zur Diskussion mit ihm über angemessenes Verhalten in Konfliktsituationen gegeben hat. d) Mimetische Wirkung von Fernsehvorbildern Davon, dass das Medium Fernsehen insbesondere in der Kindheit und im Jugendalter eine starke mimetische Wirkung haben kann, war schon mit Blick auf die Erfahrungen von Klaus die Rede. Sie konvergieren mit den Beobachtungen von Constanze Bausch und Stephan Sting, die Medieninszenierungen in Peergroups von Grundschülern untersucht haben und beobachten konnten, wie stark spontane theatrale Inszenierungen von Fernseherfahrungen geprägt sind.44 Ein eindrucksvolles Beispiel für das mimetische Potential des Fernsehens im Blick auf die Entwicklung individueller Religiosität findet sich im Interview mit Hans. Ausgangspunkt seiner ZenReligiosität war seine jugendlichen Fernseherfahrungen mit der Serie Kung Fu und ihrem Hauptdarsteller David Carradine. Hans wollte „eben so gut [...] sein wie David Carradine im Film und damit stark und unangreifbar“. Dieser Wunsch führte zur Lektüre einschlägiger Bücher, die mimetische Wirkung der Fernsehbilder löste einen Prozess der Selbstbildung aus. Die Bilder stießen eine Bewegung an, die bis in die Gegenwart reicht. Ihr Ausgangspunkt waren Fernsehbilder von nachhaltiger Wirkung, Bilder, an die sich Hans auch heute noch gut erinnern kann: „Das waren immer Zeitlupenaufnahmen, die ja auch fantastisch aussahen, David Carradine hat das ja wunderbar gemacht. Ich sehe ihn noch vor mit, mit dieser Umhängetasche und diesen Klamotten, er war ein Huckleberry Fin.“ Heute ist das Fernsehen für Hans vor allem wichtig, um zu erfahren, „was da passiert“. 2.2.2.4 Gender-Dimensionen Die Frage der Gender-Spezifik von Medienerfahrungen ist ein umfassendes Thema, das hier nicht im Mittelpunkt steht. Auf zwei augenfällige Gesichtspunkte sei gleichwohl hingewiesen. So lässt sich auf der Basis des Materials beobachten, dass das Fernsehen in der Gruppe der Frauen ohne Abitur die größte Bedeutung hat. In der Gruppe der Frauen mit Abitur hat hingegen das Lesen deutlich Priorität. Diese Beobachtungen bestätigen bisherige Ergebnisse der Medienrezeptionsforschung, die gezeigt haben, dass Frauen mit geringer Bildung die intensivsten Fernsehnutzerinnen sind und Frauen generell die intensivsten Leserinnen.

44 Bausch/Sting, Rituelle Medieninszenierungen.

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2.2.3 Medienbiographische Muster Ganz allgemein zeichnet sich als typisches medienbiographisches Muster ab, dass Bücher und/oder das Fernsehen die Kindheit bestimmen und das Kino erst im Verlauf des Jugendalters und des frühen Erwachsenenalters wichtiger wird. In funktionaler Hinsicht fällt auf, dass bei der jugendlichen Kinofilmrezeption mimetische Aspekte und Vorbildfunktionen im Vordergrund stehen. Mit zunehmendem Alter – ab der Adoleszenz etwa – wird der Kinofilm dann als Kontingenzbewältigungsmodell interessanter, realistische Problemfilme finden ein verstärktes Interesse, Filme, die von Lebenskrisen und deren Bewältigung erzählen.45 Diese Bewältigungen geschehen allerdings in der Regel ohne Bezugnahmen auf große Transzendenzen. Die Lebenssinnfragen werden im Kontext des gelebten Lebens bearbeitet. Das genannte Grundmuster soll an jeweils drei besonders prägnanten Beispielen im Blick auf eine Prävalenz des Fernsehens (Klaus, Lukas, Lena) beziehungsweise des Lesens (Lisa, Hans, Anna) in der Kindheit noch einmal genauer beschrieben werden. a) Lesekindheit/Kinojugend Zunächst sei die von einer Lesekindheit ausgehende Variante etwas näher betrachtet. Ein prägnantes Beispiel für dieses Muster liefert das Interview mit Lisa. Bücher waren die Leitmedien ihrer Kindheit. Sie nennt unter anderem Michael Endes Die unendliche Geschichte als ein Schlüsselbuch. In der Jugend kam das Kino hinzu und wurde zunehmend wichtiger. Die Filme seien als Bilder „von einem gelungenen Leben“ und „als Visionen vom Glück“ in Zeiten pubertärer Verwirrtheit bedeutsam gewesen. Sie hatten eine wichtige Orientierungs- und Vorbildfunktion. Bei den dann später im Erwachsenenalter wichtigen Filmen (About Schmidt, American Beauty, Magnolia, Birdy, Elling) zeigt sich als roter Faden das Interesse an „verlorenen Biographien“, an Menschen, die mit Lebenskrisen umgehen müssen, die mit Gesellschaftsstrukturen nicht zurecht kommen, die scheitern, „die letzten Endes unrund sind“. Lisa interessiert, wie diese Filme von der Bewältigung der Kontingenzerfahrungen ihrer Protagonisten erzählen. Auch bei Anna wird das beschriebene Muster deutlich: In der Kindheit dominieren die Bücher. Nach einer vorübergehenden Konjunktur des Fernsehens (Serien) erhält der Film gegen Ende der Schulzeit und am Anfang des Studiums eine größere Bedeutung für Anna. War die Jugend von Hollywood-Produktionen bestimmt, so interessiert sie sich in dieser späteren Phase vor allem für das europäische Kunstkino und seine Klassiker. Die 45 Generell sind die 16– bis 29-jährigen die intensivsten Kinogänger, vgl. Prommer, Kinobesuch, 16.

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Darstellung von Konflikten und Krisen findet ihr bevorzugtes Interesse, „Tiefe“ lautet dabei ein zentrales Qualitätskriterium. Generell hat Anna etwas gegen „klare Messages“. Filme stehen für ein Empfinden und Erhellen auf einer sinnlichen Ebene, für – so könnte man vielleicht sagen – szenische Wahrnehmungserweiterungen. Hans, ebenfalls ein ‚Lesekind‘, hat seine intensivsten ersten Lektüreerfahrungen mit Mark Twain gemacht (Tom Sawyer usw.). Die Jugendzeit ist von der Erfahrung mit der Serie Kung Fu markiert, die spätere Jugendphase von einer zentralen Stellung der Rockmusik. Das Kino wurde dann erst mit dem Beginn des Studiums wichtig. In diesem Zusammenhang fällt das starke ästhetische und filmkulturell-historische Interesse am Film auf: Hans war in dieser Zeit bis zu drei Mal in der Woche im Kino, vor allem im Münchner Filmmuseum, um Klassiker der Filmgeschichte sehen zu können. In inhaltlicher Hinsicht war das existenzialistische Motiv des auf sich allein gestellten Mannes, der mit ethischen Problemen konfrontiert wird, in dieser Phase besonders bedeutsam. b) Fernsehkindheit/Kinojugend, Lesejugend Für die Fernsehdominanz in der Kindheit sind Klaus, Lukas und Lena prägnante Beispiele. Eine besonders deutliche Phasenspezifik fällt bei Klaus auf: in der Kindheit und frühen Jugend war eindeutig das Fernsehen das wichtigste Medium, dann kam die Zeit des Kinofilms mit einem von Klaus deutlich benennbaren Schwerpunkt im Alter zwischen 20 und 24, später holen die Bücher auf, so dass Klaus heute von Filmen und Büchern als ihn etwa gleichwertig interessierenden Medien spricht. An der Fernsehnutzung von Klaus werden zwei Aspekte besonders deutlich sichtbar: zum einen ihre Funktion als Ressource kindlicher und jugendlicher Identitätsarbeit – zunächst in Form von Kinderserien, später von Musiksendungen, zum anderen ihr mimetisches Potential. Dass die mimetische Wirkung ästhetisch vermittelt ist, zeigen nicht zuletzt die Äußerungen von Klaus über seine Jugenderfahrungen mit dem Musikfernsehen. Als das Kino dann in der Vordergrund tritt, sind es vor allem realistische Filme ohne Happy End, die Klaus am meisten interessieren, Filme, „wo man auch sich dran aufreiben kann, oder wo sich die Protagonisten dran aufreiben“. Im Mittelpunkt seines Interesse steht die Auseinandersetzung mit Lebenskrisen und dem Scheitern. Bei Lukas ist die Erinnerung an die intensive Fernsehnutzung in seiner Kindheit in erster Linie emotional konnotiert. „Fernsehen“, so Lukas, „bedeutete Gemütlichkeit“. Wichtig für diese „Gemütlichkeit“ war der Wiederholungscharakter von Serien und der Rezeptionskontext in einer anderen Familie. Die Bedeutung des Kinos wuchs dann in der Jugend und war zunächst eng mit dem Thema „Mädchen-Rumkriegen“ verbunden. Seine 295

ersten erotischen Erfahrungen hat Lukas im Dunkel des Kinosaals bei einer Vorführung von Pretty Woman gemacht. In der frühen Jugend hat er ansonsten, motiviert durch eine Clique („was ist gerade angesagt“, „MitredenKönnen“), zumeist Action-Filme gesehen. „Und die anspruchsvollen Filme kamen, denk ich erst später, so mit sechzehn, siebzehn“. Filme sind zum Zeitpunkt des Interviews, zusammen mit Theateraufführungen, die bedeutsamsten Medien für Lukas. Das hat in der Gegenwart auf ganz basale Weise mit seiner soziokulturellen Positionalität zu tun: mit seinem Wohnort. Lukas: „Berlin hat die Bücher verdrängt.“ Lena hat bis zum Alter von zehn Jahren viel ferngesehen. „Filme haben später zunehmend mehr Gewichtung bekommen, wo ich vom Ende der Schulzeit an viel gezielter und häufiger ins Kino gegangen bin und vorher eher eben selten.“ Dennoch habe das Kino dem Buch nicht den Rang ablaufen können. Im Blick auf die Lesepraxis von Lena fällt eine starke Entwicklung vom emotionalen Lesen zum reflektierteren Lesen auf. c) Zunehmende Reflexivität Diese letzte Beobachtung anhand der Entwicklung der Lesepraxis von Lena lässt sich generalisieren: Alle Interviews zeigen eine Zunahme der Reflexivität der Mediennutzung. Eine weitere generelle Beobachtung ist die Steuerung der Mediennutzung durch die jeweils biographisch aktuellen Lebensthemen. Bedenkenswert sind meines Erachtens insbesondere zwei spezifischere Beobachtungen, die die Resümierung der Interviews unter der Kategorie medienbiographischer Muster machen lässt. Zum einen fällt auf, wie stark das Interesse von Hans und Anna ist, sich im Zuge ihrer stärkeren Zuwendung zum Film am Anfang ihres Studiums auch ein Wissen über Filmgeschichte und Filmästhetik anzueignen. Sie haben ein deutliches Bedürfnis, sich den Film auch als kulturellen und ästhetischen Gegenstand anzueignen. Medialität und Ästhetik sind hier offenbar keine untergeordneten Dimensionen. Das Verstehenwollen richtet sich nicht nur auf Inhalte, auch das Wie des Gemachtseins und die historischen Kontexte sind von Bedeutung. Die zweite, eher kleine Beobachtung, knüpft an die Äußerung von Lukas an, Berlin habe die Bücher in seinem aktuellen Medienalltag verdrängt. Diese Bemerkung weist darauf hin, dass Zeit ein wesentlicher Faktor der Mediennutzung ist. Insbesondere im urbanen Kontext einer digitalisierten und globalisierten Multioptionsgesellschaft wächst der Zeitdruck auf das Prozessieren von Informationen, zum Nachteil des zeitintensiven Lesens von Büchern. Werden bald nur diejenigen lesen, die dafür eigens bezahlt werden? 296

2.2.4 Medienpraktiken Bei Medienpraktiken sind Praktiken der Produktion und der Rezeption zu unterscheiden. Im Blick auf die Rezeption, die hier im Mittelpunkt steht, kann in Aufnahme der Konzepte der Medienrezeptionsforschung zwischen einer präkommunikativen Phase, einer kommunikativen Phase und einer postkommunikativen Phase unterschieden werden.46 Die einzelnen Phasen sind vielfach strukturell gerahmt und in soziokulturelle und situative Kontexte eingebunden. Darauf weist der schon skizzierte strukturanalytische Ansatz in der Rezeptionsforschung besonders hin.47 Auch an die Anregung von Lothar Mikos ist in diesem Zusammenhang zu erinnern, in der kommunikativen und vor allem in der postkommunikativen Phase der Rezeption noch einmal zwischen Rezeption und Aneignung zu unterscheiden, um den Grad der aktiven Aufnahme des rezipierten Medienproduktes noch genauer beschreiben zu können.48 Aneignung meint hier eine handelnde Reproduktion und kann als eine Vorstufe der Medienproduktion angesehen werden. a) Präkommunikative Phase Im Folgenden werden die Praktiken des Medienumgangs von der Rezeption ausgehend beschrieben, zunächst die präkommunikative Phase. Hier fällt auf den ersten Blick auf, dass die Interviews ganz deutlich zwei zentrale Ergebnisse der bisherigen Rezeptionsforschung bestätigen: die These von der sozialen Steuerung von medialen Erfahrungen und die These der thematischen Voreingenommenheit der Rezipienten.49 Die Prävalenz sozialer Erfahrungen kommt am prägnantesten im Interview mit Lisa zum Ausdruck, wenn sie ihre Medienerfahrungen ohne zu zögern ihren sozialen Erfahrungen nachordnet: Wichtigste Faktoren ihrer religiösen und ethischen Bildung seien ihre Eltern gewesen, danach kämen die Freunde und erst nach diesen die Medien.50 Ganz deutlich wird die Vorrangigkeit des Sozialen vor dem Medialen und dementsprechend die Steuerung von Medienerfahrungen durch soziale Erfahrungen auch bei Ute: sie nimmt an der von ihrer Mutter propagierten Jugendweihe teil und findet die ihr von den Eltern vermittelte kritische Sichtweise der Kirche auch in den Medien bestätigt. Auch der Befund der thematischen Voreingenommenheit, des Sachverhaltes, dass die aktuell bestimmenden Lebensthemen die Auswahl und Rezeption der Medien und ihrer Inhalte nachhaltig prägen, findet in den 46 Charlton/Schneider, Vorwort, in: dies. (Hg.), Rezeptionsforschung, 18f. 47 Vgl. dies., Rezeptionsforschung, 23f. 48 Mikos, Rezeption, 69f. 49 Vgl. oben 3.5. 50 Vgl. Lisa; diese Selbstbeschreibung entspricht exakt den diesbezüglichen Ergebnissen der zitierten Münchner Jugendstudie von Sanders und Barthelmes.

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geführten Interviews seine Bestätigung. Ein besonders deutliches Beispiel für diesen Zusammenhang ist das Interview mit Patrick. Er leidet unter einer psychischen Erkrankung, die zur alles bestimmenden Wirklichkeit seines Lebens und damit auch seiner Medienerfahrungen geworden ist. Bei der Wahl der Medien und ihrer Inhalte zeigt sich eine grundlegende Alternative, die darin besteht, entweder durch etwas Lustiges oder durch Spannung Distanz zu den eigenen Problemen zu suchen oder aber mit Hilfe realistischer Filme, TV-Talkshows über Lebensprobleme und – wie Patrick formuliert – „Wahrheitsbüchern“ die Auseinandersetzung mit seiner Situation zu suchen. Er benennt seine Krankheit auch als die prägendste Erfahrung im Blick auf Ethik und Religion. Die Krankheitserfahrung habe seine Wahrnehmung für die menschliche Destruktivität sensibilisiert – insbesondere gegenüber der nichtmenschlichen Natur – und religiöse Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott, nach dem Tod und dem Jenseits des Todes ausgelöst. Diese Fragen trägt Patrick auch an die Medien heran. Dass die thematische Voreingenommenheit in gleicher Weise für Mediennutzer ohne besondere und wie im Fall von Patrick durch eine Erkrankung bedingte Dispositionen gilt, zeigt sich unter anderem an dem Interview mit Christoph, der im Alter von 33 mit den Fragen von Familiengründung und Heirat beschäftigt ist und sich bei seiner Medienauswahl deutlich an diesen Themen orientiert. Auch Lukas betont: „Ich glaube, dass, dann wird ’n Buch erst interessant, wenn man sein eigenes Leben darin wieder findet, oft, also. Oder zumindest Dinge, die man beobachtet hat.“ Und Stefan äußert: „Ich glaube, alle Sachen, alle Kulturprodukte, die mich bewegen und beeindrucken, die haben ganz viel mit mir zu tun. So funktioniert meine Rezeption und das andere lässt mich dann auch kalt und das kann ich auch nicht lesen und das will ich auch nicht.“ Inwiefern die thematische Voreingenommenheit nicht nur durch die individuell-biographische, sondern auch durch die soziokulturelle und zeitgeschichtliche Positionalität der Rezipienten beeinflusst und gerahmt wird, zeigt das Interview mit Lena, deren Medienauswahl phasenweise wesentlich durch die Welle rassistischer Gewalttaten in den 90er Jahren mitbestimmt war. Es lassen sich also Voreingenommenheiten beobachten, die durch die spezifischen Rezeptionsstrukturen bedingt sind. In einer gewissen Spannung zu dieser Beobachtung steht die andere, dass die konkrete Auswahl von Medien stark von zufälligen Faktoren abzuhängen scheint. Sowohl einige pointierte Äußerungen zur Auswahl (Stefan, Felix, Lena genießt es, „einfach mal das zu lesen, was mir in die Hände fällt“) als auch ein Blick auf die Umstände des Zustandekommens der konkreten Medienerfahrungen deuten darauf hin. Auch der schulische Rahmen bietet nur selten Anregungen für die Frage, mit welchen Medien sich die eigenen Lebensthemen verfolgen lassen könnten. 298

Diese Erfahrung findet ihren prägnantesten Ausdruck im Interview mit Stefan. Er sagt über seine jugendlichen Lektüren: Ich hatte dann meine eigenen harten Kameraden, so Männer, schreibende Männer, die viel tranken dabei. Das stand auch ein bisschen konträr zu dem, was wir in der Schule gemacht haben zu der Zeit. Zu dem Kanon, das fand ich völlig belanglos, das hat mich nicht ausgedrückt.

Schön wird in dieser Formulierung noch einmal das Ineinander von Eindruck und Ausdruck verdeutlicht, ein Zusammenhang, der Rezeption und Produktion nahe aneinander rückt und eher in ein Aktivitätsspektrum einzeichnet als grundlegend unterscheidet. b) Kommunikative Phase So ist denn – in Anknüpfung an den Stand der Rezeptionsforschung – zu sehen, dass Medienrezeption auch in der eigentlichen Rezeptionsphase (kommunikative Phase) kein durch Passivität gekennzeichnetes Geschehen ist. Zuschauer sind vielmehr beständig aktiv: sie synthetisieren, rekonstruieren und interpretieren permanent, was sie sehen und hören. Und sie benutzen die Medien für ihre Zwecke. Am deutlichsten wird dies in den Rezeptionspraktiken, die man als rituelle Videopraktiken bezeichnen könnte. Die prägnantesten Beispiele für diese Praktiken finden sich bei Patrick, Johanna und Henrik. Patrick hat die Verfilmung des Musicals Linie eins zeitweise zwei Mal am Tag gesehen, manchmal nur bis zu dem Lied eines Mädchens, das darin von seinem schweren Leben erzählt. Der in diesem Lied zum Ausdruck gebrachte Mut dieses Mädchens habe ihm immer wieder „ein bisschen Hoffnung gegeben“. Auch Johanna hat so einen Film, der aufgrund seines starken Bezuges zu ihrer eigenen Lebenssituation gleichsam seelsorgerliche Funktionen hat und den sie immer wieder hervornimmt, wenn „es irgendwo schwierig war“. Dann habe sie sich hingesetzt und den Film angesehen, sei dadurch auf neue Ideen gekommen und habe sich durch die Wahrnehmung, „dass es anderen auch so geht“ getröstet gefühlt. Henrik nennt keinen bestimmten Film, berichtet aber, dass er sich in Krisensituationen oftmals mit Videos und Pizza zurückgezogen habe und sich so „über den Tag gerettet habe“. Neben der Videopraxis ist die Fernsehpraxis eine weitere Option der Krisenkompensation, die in den Äußerungen der Interviewten zum Ausdruck kommt. „Ich gucke Fernsehen eigentlich nur, wenn es mir schlecht, wenn ich so keine Energie habe, was anderes zu machen“, berichtet Anna. Für Ute war das Fernsehen eine Zeit lang ein wichtiges Mittel, um die Einsamkeitsgefühle nach ihrem Umzug in eine erste eigene Wohnung zu kompensieren. In den anderen Interviews kommt diese Funktion des Fernsehens 299

nicht so deutlich zum Ausdruck. Insgesamt zeigt sich auch in dieser Perspektive der Medienpraktiken, dass das Fernsehen bei denen, die es nutzen – Ausnahmen wie Lena und Christoph bestätigen die Regel –, als ein Tagesbegleiter fungiert, der zum einen aufgrund seiner rituellen Strukturierungsfunktionen (etwa von Tanja) und als Hintergrundgeräusch (etwa von Ute) geschätzt wird und zum anderen immer dann dazugeschaltet wird, wenn es gerade passt. Ein typisches Beispiel für diese situativ gesteuerte Praxis liefert Lisa. Ihre Fernsehpraxis ist ungeplant und es wäre für sie „undenkbar“, sich einen Abend für das Fernsehen freizuhalten. Serien seien im Übrigen die einzigen Formate, die sie von Anfang bis Ende sehe, weil sie wissen wolle, „wie’s ausgeht“. Sonst bleibe sie fast nie bei einem Programm. Im Vordergrund der Fernsehpraxis im Erwachsenenalter stehen generell die Bedürfnisse nach entspannender Unterhaltung und Information, Angeschlossensein an das Zeitgeschehen, eher im Hintergrund die Bedürfnisse nach Sinn- und Wertorientierung, nach Lebenshilfe. Eine besondere Art der Fernsehpraxis findet sich bei Henrik, der berichtet, dass er sich neue Fernsehformate, Serien wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Daily Talks auch darum ansehe, weil ihn interessiere, wie diese Sendungen auf seine Klienten wirkten, auf die Kinder und Jugendlichen, mit denen er als Sozialarbeiter und Berater zu tun hat. Faszinierend sei für ihn gewesen zu beobachten „wie wichtig das für Kinder und Jugendliche ist, als Orientierungshilfe in ihrem Dasein“. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen sehe er es geradezu als seine berufliche Verpflichtung an, solche Sendungen zu sehen und führt aus: „Also mir hat es die Arbeit immer leicht gemacht, wenn ich Anknüpfungspunkte hatte.“ Fernsehen erfordert, so lässt sich resümierend sagen, die vergleichsweise wenigsten Rezeptionsaktivitäten. Fernsehpraxis ist darum eine Praxis, die mitläuft, die die Lücken der Aktivität füllt und in den Übergängen und Regenerationsphasen des Alltags zum Zuge kommt. Die Kinopraxis hingegen verlangt weit mehr Initiative, unterbricht die Alltagsroutinen als ein besonderes Event und ist vor allem eine soziale Praxis: Man geht mit Freunden ins Kino, selten allein. Zum Kinobesuch gehört der anschließende Besuch in einem Lokal, bei dem die Filmerfahrung oftmals noch ausgiebig besprochen wird. Dieses Setting ist ein in der Kinorezeptionsforschung hinlänglich bekannter Sachverhalt, der auch durch die geführten Interviews wieder bestätigt wird. Die Rezeption selbst kann dabei durchaus kontemplative Züge haben und die kontemplative Leseerfahrung ersetzen. Lukas berichtet: „Also dieses Phänomen, sich mit sich selbst zu verabreden, um auf ’m Bett zu liegen und zu lesen, das mach ich schon lange nicht mehr.“ Kino und Theater seien an die Stelle der Bücher getreten. „Und das sind dann auch so Zeitinseln, wo ich mit mir selbst im Kino sitze.“ Die Formulierung „Zeitinsel“ signalisiert, 300

dass es sich um eine besondere Zeit handelt, eine Zeit der intensivierten Erfahrung und Selbsterfahrung. Lukas sitzt mit sich selbst im Kino, erlebt eine Intensivierung des Selbstbezuges, ein Sichspüren, die Präsenz des eigenen Existierens. Dies sind Merkmale der ästhetischen Erfahrung, die auch für die religiöse Erfahrung mystischen Typs charakteristisch sind: Gegenwartsorientierung, Einheitsorientierung.51 Das Beispiel von Lukas deutet darauf hin, dass die dominant sozial konnotierte Kinopraxis auch kontemplative Züge tragen kann. Die Lesepraxis ist im Unterschied zur Kinopraxis eine im Kern einsame Praxis. Sie findet im „privaten Raum“ statt, wie Felix sagt. Es geht darum, so Hans, „sich mit einem Buch zurückzuziehen und dann in eine ganz andere Welt einzutauchen“. Dieses Eintauchen erfordert deutliche Investitionen an Zeit und Aufmerksamkeit. Lesen ist darum nur im ‚ausgeschlafenen Zustand‘ möglich, erfordert ein gewisses Energieniveau und unterscheidet sich dadurch eminent von der Fernsehpraxis. Auffällig ist, welch hohen Stellenwert die Zeitungslektüre im Rahmen der Lesepraxis der Befragten einnimmt.52 Die Zeitungslektüre hat dabei unter anderem, das wird bei Hans deutlich, auch eine die Auswahl von Büchern und Kinofilmen steuernde Funktionen. c) Postrezeptive Phase Zu den Praktiken der postrezeptiven Phase gehört, dass sie bei Kinofilmen und beim Fernsehen von sozialen Kommunikationen geprägt sind. Beim Fernsehen wird oftmals unmittelbar während des Zuschauens über das Gesehene gesprochen (Ute), beim Kino finden die Gespräche im Anschluss – etwa im Rahmen sich anschließender Kneipenbesuche – statt (Hans). Gespräche über Bücher schließen sich hingegen nicht unmittelbar an die Lektüre an und sind zumeist privaterer Natur. Deutlich wird dies unter anderem in dem Interview mit Anna, die feststellt, dass sie in größeren Gruppen nicht zuletzt aufgrund der gemeinsamen Gegenstandskenntnis eher über Filme spricht, während sie sich in intimeren Situationen stärker auf Bücher bezieht. Praktiken der Medienproduktion im Sinne der Herstellung von Texten oder Bildern, die über das für den Alltag notwendige Maß hinausgehen (Briefe, Mails usw.) finden sich immerhin bei neun der sechzehn Befragten. Im Zentrum steht das Schreiben. Dabei zeigt sich, dass es vor allem die Rezeption von ansprechenden Texten ist, die den schreibenden Selbstaus51 Vgl. dazu die Charakterisierung der mystischen Erfahrung in: Jörg Herrmann, „Wir sind Bildhauern gleich.“ Von der Verwandlung mystischer in ästhetische Erfahrung, in: ders./Andreas Mertin/Eveline Faltink (Hg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, 87–105. 52 Sechs von 16 Befragten erwähnen die Zeitungslektüre ausdrücklich als wichtiges Element ihrer alltäglichen Mediennutzung.

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druck anregt und auslöst. Am deutlichsten wird dies bei Stefan, den seine Hemingway-Lektüre zum Schreiben angeregt hat. Die Praxis des Schreibens, die damals begonnen habe, sei auch eine Form gewesen, die damaligen Erfahrungen des „Leidens am Nichts, an der Welt“ zu bearbeiten. Diese therapeutischen Funktion des Schreibens lässt sich auch bei Patrick, Lena, Esther, Johanna und Anna beobachten. Bei Stefan hat das Schreiben darüber hinaus auch eine stark hermeneutische Funktion, die religiöse Züge hat. Er berichtet, dass er „Selbsterkundungsaufsätze“ schreibe. Stefan habe dabei „Mini-Hierophanien“ gehabt: „Weil ich wirklich viele dieser Erlebnisse gehabt habe, dass sich mir da etwas erschlossen hat, also so Mini-Hierophanien, also nicht nur im Wald und am Meer. Und ich habe die immer als Momente der Transparenz erlebt. Transparenz des Existierens.“ Eine mehr ausdrucksorientierte Schreibpraxis findet sich bei Hans. Das Schreiben sei für ihn ein „Grundwunsch“. Felix, für den das wissenschaftliche Schreiben Bestandteil seines Arbeitsalltages ist, verspürt einen „Restwunsch“ nach einem mehr künstlerischen Ausdruck. Er würde gerne Dokumentarfilme drehen. Im Rückblick auf diese Skizzierung der beobachteten Medienpraktiken lässt sich sagen, dass Medienpraktiken einen großen Anteil an der Alltagspraxis der Befragten haben. Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich die oben genannte durchschnittliche Mediennutzungsdauer von 600 Minuten am Tag (s.o. 3.1) in Erinnerung ruft. Die Beschreibungen von Praktiken anhand von Einzelbeispielen kann aber zeigen, wie sich diese umfangreiche Mediennutzung konkret zusammensetzt und dass sie so umgreifend sein kann, weil sich die Medien aufgrund ihrer Vielfalt und ihrer unterschiedlichen Technologien gleichsam mimetisch und ununterbrochen an den Alltag ihrer Nutzer anzuschmiegen vermögen. Es gilt also ein vieldimensionales und wechselseitig mimetisches Verhältnis: Die Medien bilden den Fluss des Lebens mimetisch ab und nach und schmiegen sich zugleich dem Prozess des Lebens an, bilden Schnittstellen für alle seine Phasen und Zustände aus. Die Rezipienten lassen sich zur Mimesis anregen oder nutzen die Medienanbote, um den mimetischen Prozess reflexiv zu unterbrechen. Zugleich wirken die medial vorgegebenen Sinnhorizonte als Katalysatoren der Modernisierungsanpassung. Die Gesellschaft produziert diejenigen medialen Sinnorientierungen, deren Mimesis sie für ihr Funktionieren benötigt. 2.2.5 Das Konzept der Medienreligion in empirischer Perspektive Die bisherigen Analysen konnten zeigen, dass das Konzept der Medienreligion auch empirisch valide ist. Die Interviews konnten die These bewahr302

heiten und konkretisieren, dass Medien wichtige Funktionen der Sinndeutung und der Lebensstrukturierung erfüllen. Medienprodukte werden genutzt, um das eigene und das fremde Leben zu verstehen und zu deuten, zu strukturieren und zu entwerfen, sich von ihm vorübergehend zu distanzieren und es im Zusammenhang eines größeren Sinnkontextes zu betrachten, es zu bewältigen, zu steigern und zu perspektivieren. Die in theologischen, kulturwissenschaftlichen, medienwissenschaftlichen und philosophischen Diskursen vertretene These von der Übernahme von Sinndeutungsfunktionen aus dem Bereicht der kirchlich vermittelten christlichen Religionskultur durch die aktuelle Medienkultur und hier insbesondere durch Literatur (Sölle, Rorty, Huizing), Kinofilm (Blothner, Gräb, Herrmann) und Fernsehen (Hickethier, Reichertz, Thomas) konnte für alle untersuchten Einzelmedien empirisch bestätigt und konkretisiert werden.53 Dabei zeigte sich erneut, dass Medienreligion eine im Kern implizite bzw. unsichtbare Religion ist: Sie versteht sich nicht selbst als Religion, sondern erscheint nur in der funktionalen Interpretation als solche. Die Medienreligion kommt zumeist ohne explizit religiöse Semantik aus. Weiterhin ist die in den geführten Interviews beobachtete und sich aus Büchern, Filmen und Fernsehsendungen speisende Medienreligion bzw. Medienreligiosität zumeist eine Diesseitsreligion: Explizite Bezugnahmen auf große Transzendenzen fehlen in der Regel, ein Merkmal, aufgrund dessen die Medienwissenschaftlerin Angela Keppler den Terminus Medienreligion ablehnt (vgl. 2.5.2). Dass die Medienreligion zumeist ohne religiöse Semantik und (damit zusammenhängend) auch ohne große Transzendenzen auskommt, beinhaltet zugleich den Ausfall der religionsphilosophischen Unbedingtheitsdimension. Ulrich Barth hatte sie als Unterscheidungsmerkmal von Religion qualifiziert.54 Von Religion könne nur die Rede sein, wenn die Unbedingtheitsdimension von Sinn berührt sei. Sinndeutung unterhalb dieser Schwelle könne nicht als Religion gelten. Medienreligion im hier verwendeten Sinne würde also, so scheint es mir, nicht nur nach Keppler, sondern auch vor dem Hintergrund der Barthschen Bestimmungen nicht als Religion gelten können. Denn die subjektive Bedeutsamkeit, die lebensorientierende Qualität, das „individuelle System letzter Relevanzen“ (Luckmann) vermag das Kriterium religionsphilosophischer Unbedingtheit noch nicht einzulösen. Das subjektiv Bedeutsame und die Idee des Unbedingten unterscheiden sich hinsichtlich der Radikalität des Transzendenzgedankens: die Idee des Unbedingten führt das Differenzmoment der großen Transzendenz mit sich, das subjektiv Bedeutsame kann auch in mittlerer Reichweite liegen. 53 Vgl. die entsprechenden Ausführungen unter 2.5.2, 3.5.1.2, 3.5.2.2 und 3.5.3.2. 54 Barth, Dimensionen, 83.

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Die Diesseitsreligion der Medien ist weithin eine Religion ohne Gott, ohne religiöse Semantik. Sie ist in der Regel eine Religion, die sich nicht selbst als religiös versteht. Mit diesem Sachverhalt kommt wiederholt die Frage in den Blick, ob Phänomene als religiös beschrieben werden können, die selbst keine expliziten Anhaltspunkte für eine religiöse Deutung liefern.55 Die Empirie erschließt im Blick auf diese Frage nach der religionstheoretischen Plausibilität des Begriffes der Medienreligion als unsichtbarer Religion keine grundlegend neuen Gesichtspunkte. Es wird nur anschaulich, dass, wie und in welchem Ausmaß Medien tatsächlich das zentrale Bezugsproblem der Religion bearbeiten: die Kontingenz- und Sinnproblematik. Die Plausibilität des Begriffes der Medienreligion bleibt also im Kern eine Frage der religionstheoretischen Orientierung. Allenfalls ließe sich sagen: Die im qualitativen Teil der vorliegenden Untersuchung zur Evidenz gebrachte zentrale Bedeutung von Medienerfahrungen für die Ausbildung individueller Sinnhorizonte von lebensorientierender Relevanz bei einer Gruppe von Erwachsenen mit einer für die Bevölkerungsmehrheit heute typischen (distanzierten) Kirchenbindung lässt den Terminus Medienreligion einmal mehr als plausibel erscheinen, weil er anzeigt, dass die moderne Medienkultur in funktionaler Hinsicht vielfach an die Stelle der kirchlichen Religionskultur getreten ist. Die Sinnressourcen des traditionellen Christentums sind demgegenüber von marginaler Bedeutung. Die eigentliche Leistung der Empirie ist es, neben der grundsätzlichen Verifikation der vor allem medienkulturhermeneutisch basierten Thesen des medienreligiösen Diskurses, die konkrete Beschreibung von Medienerfahrungen und ihrer sinnorientierenden und lebensstrukturierenden Bedeutung in ihrer ganzen Vielfalt und Spezifik. Diese Vielfalt und Spezifik lässt sich zusammenfassend im Blick auf die drei untersuchten Medien Buch, Film und Fernsehen so beschreiben: Mit unterschiedlichen biographischen Schwerpunkten dienen die Medien der individuellen Lebensdeutung (dem Selbst- und Fremdverstehen), Lebensbewältigung, Lebenssteigerung, Lebensperspektvierung und Lebensgestaltung. Medien erweitern das Feld der Symbolisierungen um selbst- und welterschließende Perspektiven, die über die jeweilige Lebenswelt der Subjekte hinausgehen und deren Horizonte erweitern. Sie sind Ressourcen der Artikulation von Erfahrungen, der imaginativen Stimulation und Anläs55 Ulrich Barth problematisiert solche Fremdzuschreibungen: „Wo aber das religiöse Bewusstsein nur noch kraft Fremdidentifizierung von sich wissen kann, entfallen genau diejenigen Momente, die es als eine Form von Subjektivität qualifizieren. Die Entschränkung des Religionsbegriffs wird sonach erkauft durch eine neue Unterscheidung von selbstbewusster und selbstreferentiell opaker Religion, die religionspsychologisch ein mindestens ebenso tiefgreifendes Problem darstellt wie die religionssoziologische Unterscheidung von sakral und profan“, ders., Art. „Säkularisierung“, in: TRE 29, 603–664, 622.

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se mimetischen Begehrens. Sie helfen bei der Alltagsstrukturierung, der Lebensbewältigung, der ethisch-moralischen Orientierung, der Kontingenzbewältigung, der Sinnorientierung und der Selbstgestaltung. Charakteristisch für das Lesen ist der private Raum, die hohe Rezeptionsinvestition, die starke Stimulation der Imagination und die Komplexität der Erfahrung. Typisch für die Kinoerfahrung ist ihre soziale Einbettung, ihr präsentativer Alteritätscharakter und ihr mimetisches Stimulationspotential. Bezeichnend für die Fernsehnutzung ist ihr alltagsbegleitender Charakter, ihre rituelle Strukturierungsfunktion, ihre Unterhaltungs-, Informations-, Lebensbewältigungs- und ethisch-moralische Orientierungsfunktion. 2.2.5.1 Lebensbewältigung/Kontingenzbewältigung Als ein thematischer Interessensfokus der im Vergleich mit dem Fernsehen nachhaltigeren Erfahrungen mit Büchern und Filmen hatte sich die Bearbeitung sinnverwirrender Kontingenzen erwiesen. Wie Menschen Krisen und Schicksalsschläge bewältigen, wie sie mit dem Scheitern und mit prekären Situation umgehen, das erwies sich in allen Interviews als eine zentrale Thematik, an der ein gesteigertes Interesse bestand. Dabei ging es in den Äußerungen über bedeutsame Medienerfahrungen nicht um durch Bezugnahmen auf Motive der christlichen Religionskultur qualifizierte Formen der Kontingenzbewältigung, sondern um das schlichte Beispiel, die konkrete Erzählung, die bestimmte Erfahrung. Der Einspruch gegen die Sinnkrise ist ihre konkrete Bewältigung durch die Figuren der medienkulturellen Narrationen. Gewinn bringt das Durchspielen eines Beispiels, das Gefühl, mit den eigenen Problemen nicht allein zu sein und das Aufgehobensein der eigenen Erfahrungen in einem größeren Zusammenhang ästhetischsemantischer Dichte. Ich hatte diesen Typus von Medienreligiosität mit jeweils etwas anderen Akzenten anhand der Interviews mit Klaus und Johanna genauer zu erläutern versucht. Zur Kategorien der Lebensbewältigung gehören weiterhin die rituellalltagsstrukturierenden, alltagsbegleitenden und orientierenden Funktionen des Fernsehens. Hier bestätigte das Interviewmaterial weitgehend die bisherigen Ergebnisse und Thesen der (theologischen) Fernsehforschung: Rituell-alltagsstrukturierend fungieren vor allem Serien und Nachrichtensendungen (Tanja), Alltagsdistanzierungsfunktionen können unterschiedliche vor allem aber unterhaltende Programmangebote erfüllen (Ute), Einsamkeitskompensationsfunktionen erfüllt der Fernseher als Medium unabhängig von Inhalten (Ute), inhaltlich qualifizierte Kontingenz- und Lebensbewältigungsfunktionen ließen sich in Verbindung mit Talkshows beobachten (Patrick), moralische Orientierungsfunktionen im Zusammenhang mit Serien (Esther, Ute), Talkshows (Felix) und Big Brother (Ute). Mimetische Wirkungen zeigten Kinder- und Jugendserien (Klaus, Hans). 305

2.2.5.2 Ästhetische Lebenssteigerung In Anlehnung an klassische theologische Topoi hatte ich interpretiert: An die Stelle der präsentischen Eschatologie ist in medienreligiöser Hinsicht eine medienvermittelte ästhetische Intensivierung der Selbst- und Weltwahrnehmung getreten: das vollzugsorientierte Innewerden der Transzendenzbezogenheit menschlichen Existierens als einer mir zukommenden Gabe, deren allem Handeln zuvorkommender und unverfügbarer Alteritätscharakter ich in Momenten der medienvermittelten aisthetischen Kontemplation oder in Augenblicken des imaginativen Aufgehens und Mitschwingens im Kontext einer ästhetischen Form erfahren kann. Es handelt sich um die Erfahrung immanenter Transzendenz, nicht großer Transzendenz, sondern um das Phänomen einer Partizipation an einer ästhetisch gestalteten Welt, die durch Selbstvergessenheit und Selbstüberschreitung gekennzeichnet ist. Besonders intensiv kann die Erfahrung der selbstvergessenen Partizipation, der Unterbrechung des Alltagsbewusstseins, im Kino sein. Henrik hatte von seiner Erfahrung mit dem Film Billy Elliot gesagt: „Also man hat vergessen, dass es eine Fiktion ist. Man hat sich wirklich da hineinbegeben, als wenn man teilhaben würde an seinem Leben.“ Die Rede vom Vergessen, dass man ‚nur‘ einen Film sieht, bringt zugleich eine Selbstvergessenheit zum Ausdruck: das Vergessen der Medialität des Mediums als Wissensinhalt der Reflexionssubjektivität basiert auf Selbstvergessenheit. Diese ästhetische Dimension der Medienreligiosität konvergiert mit Hans-Günter Heimbrocks generellen Überlegungen zum Begriff impliziter Religiosität. Heimbrock spricht von „Suchbewegungen von Subjekten nach gesteigertem Leben“ und von einem „Gewahrwerden der Transzendenz in der Immanenz“.56 Dass dieses Gewahrwerden eine Domäne ästhetischer Erfahrung ist, wird durch die Interviews einmal mehr deutlich. Sie bestätigen damit, was im Diskurs über ästhetische Erfahrung theoretisch beschrieben worden ist: dass die vollzugsorientierte Rückwendung der Reflexionssubjektivität auf ihre sinnlichen Wahrnehmungen eine Transzendenzerfahrung in einem basalen und noch nicht näher qualifizierten Sinn beinhaltet. Ich hatte diese Dimension der Medienreligiosität anhand der Interviews mit Lukas und Stefan genauer erläutert und auf die korrespondierenden theoretischen Beschreibungen im Kontext des Ästhetik-Diskurses hingewiesen.57 Wie schon angedeutet kann man innerhalb der Funktion der ästhetischen Lebenssteigerung durch Mediengebrauch mit Martin Seel zwischen kontemplativ, korresponsiv und imaginativ akzentuierten ästhetischen Erfahrungen mit Medien unterscheiden. 56 Heimbrock, Wahrnehmung, 84, 90. 57 Auf den Kontext der ästhetischen Theorie komme ich im Schlusskapitel noch einmal systematisch zurück.

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Diese Akzentuierungen liegen zumeist nicht in Reinform vor, sondern mischen und durchdringen einander. So finden sich in den zitierten Filmerfahrungen von Lukas und Stefan kontemplative, korresponsive und imaginative Aspekte. Eine stärker korresponsiv auf die eigene Lebenssituation bezogene Komponente wird in den Äußerungen von Hans über die Steigerung des „Auflösungsvermögens“ der Selbst- und Weltwahrnehmung durch Romane und Filme und auf andere Weise in den Äußerungen von Stefan über die Entwicklung eines „Instrumentarium(s) des Fühlens“ deutlich. Das imaginative Sichverlieren in den Welten medienästhetischer Narrationen war an der Erfahrung von Henrik mit dem Film Billy Elliot besonders deutlich geworden. Dass diese Erfahrung des Eintauchens in eine mediale Welt auch durch Lesen möglich ist, zeigt unter anderem das Interview mit Felix. Die Kategorie der ästhetischen Lebenssteigerung betont dabei das Gegenwartsmoment: das jetzt stattfindende „Lesevergnügen“ (Lena), die aktuelle Faszination durch den Stil (Felix), die jetzt berührende und in ihren Bann ziehende Bildererzählung (Henrik), die jetzt statthabende Intensivierung von ästhetischer Fremd- und Selbstwahrnehmung (Stefan). Diese Erfahrungen der ästhetischen Lebenssteigerung sind dabei auf der einen Seite Erfahrungen von Unterbrechung und Weltdistanzierung („Abtauchen“), auf der anderen Seite aber zugleich Sinnerfahrungen, die ihren Sinn in sich tragen und ihn weder diskursiv erarbeiten noch durch die Bezugnahme auf außerhalb der Erfahrung liegende Sinnquellen herstellen müssen. 2.2.5.3 Lebensperspektivierung: Das Ideal des authentischen Lebens An die Stelle der futurischen Eschatologie sind die medialen Vorbilder getreten, in einer Pluralität und auch geschlechterspezifischen Differenzierung im Jugendalter und mit einer gewissen Schwerpunktbildung beim Bild eines authentischen und eigenen Lebens im Erwachsenenalter, eines Lebens, in dem ich mich unter Zuhilfenahme medialer Welten selbstbestimmt als derjenige entwerfe, der ich wirklich sein möchte. Ethik ist dabei nicht ausgeschlossen, will aber ebenso selbstbestimmt angeeignet sein wie alles andere. Das ausdrückliche Bedürfnis, dieses Konzept eines eigenen Lebens noch einmal in einen größeren das Ganze von Welt und Selbst nach der Art der alten Metaphysik umfassenden Sinnzusammenhang einzuordnen, findet sich nur im Ausnahmefall, so etwa bei Stefan, der nicht zuletzt als studierter Philosoph ein starkes Bedürfnis hat, seine Erfahrungen in einen größeren auch philosophisch durchdachten Rahmen einzuordnen. In der Regel bewegen sich die gemeinten Sinnperspektiven jedoch im Feld mittlerer Transzendenzen. Ich hatte diese Dimension der Medienreligiosität an den Interviews mit Christoph und Felix genauer beschrieben und erläutert. Das Ideal des authentischen Lebens findet sich jedoch explizit oder implizit auch in 307

den meisten anderen Interviews wieder: Es findet sich bei Anna, wenn sie im Zusammenhang ihrer Äußerungen über ihre Lektüre von Der Meister und Margarita betont, dass es wichtig ist, „einen selbstbestimmten Weg“ zu gehen, bei Henrik, wenn er davon spricht, dass Filme ihm Orientierung im Blick auf die Frage geben würden, „wie du wirklich leben willst“, bei Johanna im Kontext ihrer Äußerungen über ihre Lektüre von Mutter Courage, wenn sie bekennt, dass sie Menschen bewundert, die sich auch in prekären Situationen selbst treu bleiben und darin sogar „über sich hinauswachsen“ können, es findet sich ebenso bei Lena, die anlässlich des Romans Sabbaths Theater darüber klagt, wie oft Frauen es nicht wagen, ihr eigenes Leben zu leben und unfähig sind, mit Situationen der Unfreiheit zu brechen. Insbesondere die Äußerungen von Christoph (u.a.: „Wenn jemand schöne Gefühle und Gedanken hat und die dann lebt, auch alles mögliche zulässt, das ist für mich Authentizität.“) und von Stefan über seine Hemingway- und Jonas-Lektüren („Aber ich hatte auch das Gefühl, dass da irgendetwas auf den Punkt getroffen wird, dass ich da irgendwie drin bin.“) weisen darauf hin, dass dem Gefühl eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung des Ideals des Authentischen zukommt. Es muss im Dialog mit den Medienprodukten zu einer gefühlten Resonanz zwischen Selbst und Medienangebot kommen: zu gefühlter Stimmigkeit. Das Ideal des Authentischen hat insofern auch eine ästhetische Dimension. Man könnte deuten: das Ideal des Authentischen kombiniert die ästhetische Resonanzerfahrung mit inhaltlichen Perspektiven. Diese Beobachtungen konvergieren mit Analysen Charles Taylors, der das Ideal der Authentizität als zentrales Leitbild der modernen Kultur beschrieben hat.58 Drei Aspekte scheinen mir für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse: zunächst Taylors Vorstellung vom Finden des authentischen Lebens. Taylor verweist hier auf die Artikulation.59 Diese ist angewiesen auf den Dialog mit den anderen und dem Anderen der Kultur. Die Interviews haben diese Sichtweise an vielen Stellen bestätigt: Nicht durch das Hineinhören in mich selbst komme ich zu einem eigenen Leben, sondern durch die artikulierte Auseinandersetzung mit Beispielen und Deutungen im Kontext medialer und sozialer Kommunikationen. Der zweite mit den eigenen Beobachtungen konvergierende Aspekt der Analysen Taylors ist die Betonung der Bedeutung des Gefühls durch Taylor. Was zu mir passt, kann nicht allein theoretisch bestimmt werden: es muss gefühlt werden. So resümiert Stefan seine Lektüre der theoretischen Biologie von Hans Jonas mit den Worten: „Also ich habe wirklich das Gefühl, dass das 58 Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M. 1995; ders., Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1996. 59 Ders., Unbehagen, 39.

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seitdem irgendwie okay ist“, dass, so ist erläuternd hinzuzufügen, seine weltanschaulich-religiösen Probleme eine akzeptable Lösung gefunden haben. Dieses Gefühl des Stimmigen kann durchaus eine religiöse Dimension im traditionellen Sinne haben. Das ist der dritte Aspekt von Taylors Analysen, der mit den Beobachtungen auf der Basis der Interviews konvergiert und mir diese Beobachtungen zugleich in religionstheoretischer Perspektive zu deuten scheint. Taylor schreibt: „Wenn Authentizität soviel heißt wie Treue zu sich selbst und Wiedergewinnung des eigenen ‚Gefühls des Daseins‘, dann können wir sie zur Gänze vielleicht nur in dem Fall erreichen, in dem wir erkennen, dass wir durch dieses Gefühl mit einem umfassenderen Ganzen in Verbindung gebracht werden.“60 Taylor deutet das in der Romantik erstmals stärker aufkommende Bedürfnis nach Selbsterfahrung und Naturerfahrung dabei als Reaktion auf den Verlust öffentlicher Ordnungen. Gesellschaftskulturell wegbrechende Zugehörigkeiten müssten durch subjektiv gefühlte Zugehörigkeiten kompensiert werden.61 Das Gefühl eines umfassenderen Ganzen wird allerdings im vorliegenden empirischen Material nur von Stefan ausdrücklich thematisiert und auf große Transzendenzen bezogen. Die Resonanzerfahrung des Authentischen hat in den übrigen Fällen keinen explizit religiösen Horizont. In der Perspektive des Lebensbegriffs können die drei genannten zentralen Funktionen der Mediennutzung auch beschrieben werden als Lebensbewältigungsfunktion (Kontingenzbewältigung, Alltagstrukturierung, Konfliktlösung, Selbst- und Weltverstehen), Lebenssteigerungsfunktion (ästhetische Perspektive, Unterhaltung) und Lebensperspektivierungsfunktion (Vorbilder, Ideal des authentischen Lebens, Horizonterweiterung, imaginative Variation). Sie korrespondieren mit den Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und den entsprechenden heilsgeschichtlichen und zugleich dogmatischen Kategorien Schöpfung, Erlösung und Erneuerung. Diese grundlegenden Strukturen lassen sich anhand der Interviews hervorheben. Darüber hinaus sind kaum Generalisierungen möglich. Die individuellen Sinnhorizonte sind tatsächlich individuell. Und sie sind ständig im Umbau begriffen. Die Medienreligion lebt zwar von Schlüsselerlebnissen vor allem mit Büchern und Filmen, verwertet diese jedoch nicht im Sinne einer beständigen Addition von Perspektiven und Semantiken, sondern befindet sich beständig im Fluss. Die Sinnhorizonte der Medienreligion zeigen darum nur phasenweise Kontinuität. Eine große Bedeutung im Blick auf die Nachhaltigkeit von bedeutsamen Medienerfahrungen kommt der ästhetischen Gestalt der Medienprodukte zu. Ich hatte diesen Aspekt besonders im Durchgang durch das Interview 60 Ders., Unbehagen, 104. 61 Vgl. ders., Unbehagen, 104.

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mit Hans zu erläutern gesucht. Es war deutlich geworden: Ob ein Film berührt, hat wesentlich mit seiner Ästhetik zu tun: mit seiner ästhetischsemantischen Dichte. Die Rede von anrührenden, berührenden oder nahegehenden Erfahrungen mit Filmen macht weiterhin deutlich, dass Bedeutsamkeit vor allem eine Frage der (existenziellen) Emotionalität ist. Dieser Zusammenhang verweist auf schon angedeutete Defizite einer an Textualität orientierten Religionstheorie, auf die noch einzugehen sein wird. 2.2.6 Dimensionen individueller Religiosität Individuelle Religiosität ist vieldimensional. Sie besteht, so zeigen die Interviews, aus einem Patchwork expliziter und impliziter Religionselemente, das medienreligiöse, traditionell-christliche, esoterische und asiatische Versatzstücke beinhalten kann. Strukturen und Typen dieser Vieldimensionalität sollen in diesem Abschnitt skizziert werden. Grundlegend sind dabei zwei Beobachtungen: zunächst die schon mehrfach erwähnte und in der empirischen Religionsforschung hinlänglich bekannte Beobachtung des Auseinanderfallens von individueller Religiosität und kirchlicher Religionskultur. Individuelle Religiosität kann sich auf kirchliche Angebote oder traditionelle Symbolisierungen beziehen, tut dies aber immer seltener und baut sich in der Regel im freien Feld der außerkirchlichen Religionskultur auf. Die zweite Beobachtung betrifft den Aspekt des beschriebenen Auseinanderfallens, den die Studie vor allem in den Blick nimmt: das Verhältnis von Medienreligiosität und traditioneller Religiosität, das zu einem Teil mit dem Verhältnis von impliziter und expliziter Religiosität identisch ist. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Semantiken dieser Bereiche deutlich geschieden sind. Medienerfahrungen, die in der Perspektive eines funktionalen Religionsverständnisses religiös gedeutet werden können, werden in aller Regel von den sie artikulierenden Individuen nicht als religiös verstanden. Umgekehrt werden religiöse Erfahrungen nicht als Medienerfahrungen wahrgenommen. Ein prägnantes Beispiel für den zuletzt genannten Sachverhalt liefert das Interview mit Lukas, der von dem für seine spirituelle Entwicklung im Jugendalter wichtigen Buch Das dritte Auge erst berichtet, als der Interviewer das religiöse Thema explizit anspricht. Im Abschnitt über bedeutsame Lektüren der Jugendzeit hatte der Titel keine Erwähnung gefunden. Lukas erklärt sich dieses Phänomen selbst mit der Metapher von verschiedenen „Schubladen“ im Gehirn, die sich nur bei ganz bestimmten Stichworten öffneten. Das Beispiel zeigt, dass und wie stark Semantiken Sinnhorizonte abgrenzen. Es weist einmal mehr auf die Bedeutung der Spezifik von symboli310

schen Artikulationen hin. Erfahrungen werden erst durch ihre Artikulationsformen zu dem, was sie sind und als was sie schließlich kommuniziert werden.62 Darin kann noch einmal eine Anfrage an das Konzept der impliziten Religion gesehen werden, weil seine Perspektive die Religion ja gerade von der konkreten Gestalt ihrer Artikulationsformen unterscheiden will. Ich halte das Konzept der impliziten Religion bzw. Religiosität jedoch auch vor dem Hintergrund der Anfrage durch die Bedeutsamkeit der Spezifik von Artikulationen und ihrer erfahrungsformenden Wirkung nach wie vor für sinnvoll. Zwei Argumente scheinen mir vor allem für die Idee der impliziten Religion/Religiosität zu sprechen: an erster Stelle das Argument der funktionalen Äquivalenz und an zweiter Stelle das Argument der strukturellen Parallelen. Man würde die theoretische Beschreibung des Phänomens Religion zu sehr verengen, wenn man sie nur auf bestimmte Semantiken beschränken würde. Transformationsprozesse würden so nicht in den Blick kommen, funktionale und strukturelle Kontinuitäten zwischen der kirchlichen Religionskultur und anderen Sinnquellen würden nicht deutlich werden. Die kirchliche Religionskultur wäre kommunikativ kaum mehr anschlussfähig zu machen, weil zwischen differenten Semantiken unüberbrückbare Gräben bestünden. Das Konzept der impliziten Religion nutzt hingegen funktionale Äquivalenzen und strukturelle Parallelen als Brücken und Schnittstellen. Auf diese beiden Momente von Funktion und Struktur bezieht sich auch Tatjana Schnell im Zusammenhang ihrer empirischen Studie über implizite Religiosität.63 Im Blick auf die Funktion der Sinnvermittlung konstatiert Schnell: „Der Weg zum Lebenssinn führt heute zu vielfältigen Quellen, die, was ihr Potential an Sinnstiftung angeht, als expliziter Religiosität ähnlich angesehen werden können. Aufgrund dieses Potentials werden diese alternativen Quellen des Sinns auch als Implizite Religiosität bezeichnet.“64 Schnell knüpft bei ihrer weiteren Konzeptionierung des Begriffes der impliziten Religiosität bei Edward Bailey an und unterscheidet drei Strukturen, in denen das Sinnangebot der impliziten Religiosität Gestalt gewinnen kann: „Mythos, Ritual und Transzendierungserlebnis.“65 In psychologischer Perspektive ordnet sie die drei Aspekte den Dimensionen Kognition, Verhalten und Erleben zu. „Der Mythos kann als kognitives Muster bezeichnet werden, das Ritual als Verhaltensmuster und Transzendierungserlebnisse als ein bestimmtes Erlebensmuster.“66 62 Vgl. dazu auch Jung, Erfahrung, 272, 302f, 314. 63 Tatjana Schnell, Wege zum Sinn. Sinnfindung mit oder ohne Religion – Empirische Psychologie der Impliziten Religiosität, in: Wege zum Menschen 56., Göttingen 2004, 3–20, 5f. 64 Dies., Wege, 3. 65 Dies., Wege, 5. 66 Dies., Wege, 5.

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Diese Systematisierung leuchtet nicht zuletzt aufgrund ihrer pychologisch-anthropologischen Fundierung (man könnte auch von Kognition, Emotion und Interaktion/Handeln/Verhalten sprechen) ein. Sie korrespondiert darüber hinaus sowohl mit den oben entwickelten religionstheoretischen Perspektiven und Orientierungen als auch mit den empirischen Beobachtungen und regt Weiterentwicklungen in beiden Hinsichten an, die helfen können, das Phänomen der individuellen Religiosität noch differenzierter zu beschreiben und zugleich die Ergebnisse der qualitativen Befragungen noch einmal etwas anders zu ordnen. Um dahin zu kommen, muss der Vorschlag von Tatjana Schnell genauer erläutert und zum Teil auch hinterfragt werden. Erklärungsbedürftig und diskussionswürdig scheint mir insbesondere der Begriff des Mythos. Schnell spricht zumeist vom „persönlichen Mythos“ und greift damit Überlegungen von Dan McAdams auf.67 Von einer beliebigen Geschichte unterscheide sich der persönliche Mythos durch seine hermeneutische und orientierende Funktion, man könnte auch sagen: durch seine letztinstanzliche Sinnhaftigkeit. Der persönliche Mythos antwortet mithin auf die Fragen, wer wir sind und wer wir sein möchten. Es lassen sich vier Elemente unterscheiden: ein narrativer Ton, eine begrenzte Anzahl von Lebensthemen, ein Ensemble von Vorbildern/Archetypen und eine Lebensaufgabe. Es scheint mit deutlich, dass Schnells Konzept des persönlichen Mythos weitgehend mit Luckmanns „individuelle(m) System letzter Relevanzen“ übereinstimmt, Luckmanns Definition für individuelle Religiosität.68 In der Perspektive kultureller Objektivationen schließen sich die oben dargestellten Religionsverständnisse (2.2) an: Religion als Weltdeutung im Horizont der Idee des Unbedingten (Barth), als Betrachtung des Immanenten unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz (Luhmann), als Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte (Gräb). Es geht jeweils um Deutungsvollzüge. Kritisch gegenüber Schnell/McAdams könnte man von diesen Bestimmungen ausgehend fragen, ob der Begriff des persönlichen Mythos so glücklich gewählt ist oder ob nicht eine neutralere und weniger semantisch vorbelastete Begrifflichkeit vorzuziehen ist, etwa eine Formulierung wie „individuelle Sinnhorizonte von lebensorientierender Bedeutung“. In umgekehrter Richtung ist (erneut) kritisch gegenüber dem Mainstream des religionstheoretischen Diskurses anzumerken, dass er das Religionsverständnis kognitivistisch engführt. Dieser Tendenz gegenüber erinnert Schnells Vorschlag daran, dass auch Emotion, Interaktion und Praxis in einer umfassenden theoretischen Beschreibung religiöser Phänomene Berücksichtigung finden 67 Dies., Wege, 7ff; Dan McAdams, The Person, San Diego 2001; ders., The Stories We Live by: Personal Myths and the Making of the Self, New York 1993. 68 Luckmann, Religion, 118.

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sollten und damit auch der Erlebensanteil von Erfahrung stärker integriert werden könnte. Versucht man einmal von Schnells Vorschlag ausgehend die empirischen Ergebnisse zu ordnen und zuzuordnen, so liegt es nahe, die Fernseherfahrungen in erster Linie dem Element des Rituellen zuschlagen, die Kinoerfahrungen dem Aspekt des Erlebens bzw. der Transzendierungserlebnisse (Emotionen) und die Leseerfahrungen dem Aspekt der Kognition bzw. der Symbolisierung. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Zwischenüberlegungen sollen im Folgenden noch einmal typische Strukturen individueller Religiosität anhand des Interviewmaterials beschrieben werden. 2.2.6.1 Die Genese individueller Religiosität Zunächst soll die Genese individueller Religiosität in den Blick genommen werden. Nach Einschätzung der Mehrheit der Interviewten wurde die eigene Religiosität am stärksten durch die Eltern geprägt. Gefolgt wird das Elternhaus in negativer wie positiver Hinsicht von den Instanzen Kindergottesdienst, Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht, den Freunden oder anderen Erfahrungen mit der Kirche (Zivildienst in einer Kirchengemeinde, Klosterschule). Medien kommen als Antworten auf die Frage nach den nach eigener Einschätzung ethisch-religiös prägendsten Erfahrungen nicht vor. Sie stehen deutlich an zweiter Stelle. Aber hier nehmen sie einen wichtigen Platz ein. Man könnte sagen: Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der individuellen Grundstrukturen, deren Ausbildung stark von sozialen Interaktionen bestimmt ist. Zwei Aspekte scheinen mir die mit zunehmendem Eintritt in die symbolischen Welten der Medienkultur sich vollziehende religiöse Medienbildung besonders zu charakterisieren. Zum einen der durchaus ambivalent empfundene Selbstbildungscharakter der weiteren Ausbildung bedeutsamer Sinnhorizonte. So konstatiert Lena: „Jeder muss sich sein eigenes Lebenskonzept irgendwie zurechtbasteln“, und erinnert mit dieser Formulierung an den von Anne Honer und Ronald Hitzler zur Beschreibung der subjektiven Konsequenzen der Individualisierung gebrauchten Ausdruck „Bastelexistenz“.69 Auch Stefan verwendet in dem selben sachlichen Zusammenhang das Wort ‚basteln‘. Seine Schilderungen fällt jedoch ambivalenter aus. Er beschreibt „die auch nicht so schön(e)“ Erfahrung, „zu diesen Selbststrickbaukastengläubigen“ zu gehören, jemand zu sein, „der selber irgendwie an so einer Metaphysik rumbastelt“. 69 Hitzler/Honer, Bastelexistenz.

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Dieses ‚Rumbasteln‘ wird auch als eine Last erfahren. Und es geschieht unter kontingenten Zufallsbedingungen. Das ist das zweite markante Merkmal der Genese individueller Religiosität, das im Verlauf der bisherigen Analysen schon an mehreren Stellen deutlich geworden ist. Mit Glück findet man Anregungen für die eigene Sinnarbeit oder gar Antworten auf drängende Fragen. Eine „säkularen Glückstreffer“ nennt Stefan seine JonasLektüre. „Man findet schon Antworten in den Filmen und Büchern“, sagt Lukas, „aber nicht, wenn man sie sucht, man kriegt sie dann irgendwann so“. Ähnlich sieht es Christoph: Ich glaube, dass sie immer hilfreich sind, wenn man das große Glück hat, einen Film zu sehen, der einem nahe geht. Oder ein Buch zu lesen, was einen fasziniert. Allein diese Möglichkeit, in diese Welt abzutauchen, das ist schon viel wert. Ich kann das nicht so zeitlich einordnen, da hatte ich eine Krise und ich habe das Buch gelesen und plötzlich hatte ich wieder Hoffnung. So habe ich das eher nicht empfunden, aber das sind schon Wegbegleiter. Egal, ob es einem gut oder schlecht geht [...] Bei Funny Bones ging es mir ganz gut und ich fand es toll. Es hätte mir immer sehr gut gefallen! Es ist beides sehr kontinuierlich, Gefühl und Lebensgefühl. Es ist schon Glück, ein gutes Buch wieder einmal in der Hand zu haben. Ich finde viele Bücher ganz gut. Das ist zeitlich abhängig von diesem Glück, wenn man es findet.

Die im Zusammenhang der Beschreibung von Medienpraktiken schon hervorgehobene thematische Voreingenommenheit, die Orientierung der Mediennutzung an den jeweils aktuellen Lebensthemen ist im Hintergrund wirksam. Die konkrete Auswahl und die Erfahrung des Passens und Findens von Sinnangeboten ist hingegen wesentlich vom Zufall und damit im besten Fall vom Glücksfall bestimmt. Diese Beobachtungen zur Genese von Medienreligiosität fordern mit Nachdruck dazu heraus, die entsprechenden Prozesse im Kontext schulischer und gemeindlicher Bildungsbemühungen systematisch zu begleiten. Es wäre schon erstaunlich und streng genommen ein skandalöser Zustand, wenn die genannten Beobachtungen ein Indiz dafür wären, dass die Heranwachsenden in einer Mediengesellschaft bei einer täglichen Mediennutzung von im Durchschnitt zehn Stunden in ihrer medienbezogene Sinn- und Wertorientierungspraxis scheinbar weitgehend auf sich allein gestellt sind. 2.2.6.2 Dimensionen impliziter Religiosität Es kann im Folgenden nicht darum gehen, die Beschreibungen der bisherigen Analysen noch einmal zu wiederholen, es soll vielmehr die Spezifik der unterschiedlichen Dimensionen und ihr Verhältnis zueinander beschrieben werden. Betrachten wir zunächst die implizite Religiosität und orientieren uns an dem im Prinzip für sinnvoll erachteten Vorschlag von Tatjana Schnell, zwischen kognitiven, rituell-verhaltensbezogenen und emotionalen Dimensi314

onen zu unterscheiden. Hatten wir die Medienreligiosität oben in ihrer Korrespondenz zu den heilsgeschichtlichen Topoi und den Zeitmodi des Existierens beschrieben, so geht es im Folgenden noch einmal in Anlehnung an die Vorschläge von Tanja Schnell um ihre Betrachtung in der Zuordnung zu den menschlichen Vermögen Kognition/Sinnbildung, Emotion/Erleben und Handeln/rituelle Praxis. Diese Drehung des Kaleidoskops kann die Beschreibung der medienreligiösen Phänomene noch ergänzen und konturieren. Aus den schon genannten Gründen scheint es mir dabei angebracht, den Begriff des persönlichen Mythos durch den neutraleren Begriff der individuellen Sinnhorizonte zu ersetzen. Auch der Begriff „Transzendierungserlebnis“ scheint mir schon zu spezifisch. Darum soll diese emotionale Dimension im Folgenden zunächst den schlichteren Titel ‚Erlebnis‘ tragen. Wie angedeutet ergeben sich schon auf den ersten Blick plausible Korrespondenzen zwischen einer solchen Auffächerung des Begriffes der impliziten Religiosität und dem zentralen Untersuchungsgegenstand der Studie, dem Phänomen der Medienreligiosität: rituelle Praktiken waren am deutlichsten im Zusammenhang mit Film und Fernsehen zu beobachten, die Dimension der Sinnhorizonte war am stärksten in den Leseerfahrungen präsent und die Dimension des Erlebens am intensivsten in den Kinoerfahrungen der Befragten. a) Erleben Nicht von ungefähr ist also die Rede vom Kinoerlebnis. Der im Kino rezipierte Film vermag starken Eindruck zu machen. Ein Buch kann faszinieren, wie Christoph ausführt, ein Film jedoch „geht nahe“. Der Film kommt auf den Betrachter zu. Er kann zärtlich berühren wie Lisa es im Blick auf den Film Elling beschreibt oder Lena im Blick auf Italienisch für Anfänger, er kann ästhetische Transzendierungserlebnisse vermitteln wie Lukas es im Zusammenhang seiner Erfahrung mit Il Postino beschreibt oder Stefan unter Bezugnahme auf The Thin Red Line, es geht hier um eine Intensivierung der Wahrnehmung, die zugleich den Charakter der unverfügbaren Gabe und des sich zeigenden Ereignisses („das Leuchten des Seins“, Stefan) hat, der Film kann mimetische Wirkungen entfalten wie Hans, Klaus und Henrik es beschreiben oder er kann schließlich auch gewaltsam in die Welt seiner Rezipienten einbrechen und körperliche Abwehrreaktionen auslösen, wie Henrik sie mit Blick auf einen Besuch der Vorstellung von Geboren am 4. Juli berichtet, oder das Weltbild erschüttern, wie Lena es im Blick auf Filme zum Thema des Nationalsozialismus schildert. Der Film bringt im Vergleich zum Buch in stärkerem Maße Alteritäten ins Spiel. Diese können irritieren und erschüttern oder anrühren und anziehen. Unwillkürlich assoziiert man die ästhetischen Kategorien des Schönen und des Erhabenen. Wollte man diese Kategorien auf die Filmerfahrungen der Be315

fragten anwenden, müsste man innerhalb der Kategorie des Schönen noch einmal zwischen einem mehr augenblicksorientierten Angerührtsein und einem mimetischen Angeregtsein durch Vorbilder unterscheiden. Die auf den Augenblick konzentrierte Erfahrung korrespondiert dabei strukturell stark mit den theoretischen Beschreibungen mystischer Erfahrungen, die die zentralen Merkmale Gegenwartsorientierung, Einheitserfahrung, Schönheitserfahrung und Unsagbarkeit hervorheben.70 Für diesen Erfahrungsmodus ist typisch, dass es im Kern um ein Fühlen und Spüren geht, welches sich nicht ohne weiteres in Sprache übersetzten lässt. Dieses Spüren ist zugleich eine Selbsterfahrung und eine Alteritätserfahrung. Saskia Wendel drückt es so aus: „Mystik ist eine besondere Form der Erkenntnis meiner selbst und darin zugleich des Anderen meiner selbst, insbesondere des absolut Anderen meiner selbst. Dieses absolut Andere meiner selbst wird jedoch zugleich als das Innerste meiner selbst und damit als das NichtAndere meiner selbst erlebt. Jenes ‚nicht-andere Andere‘ bzw. ‚andere Nicht-Andere‘ trägt im monotheistischen Kontext den Namen ‚Gott‘.“71 Dieser theoretischen Beschreibung korrespondiert unter anderem Stefans Beschreibung seiner Erfahrung mit dem Film The Thin Red Line. Der Filme habe es geschafft, „eine Form von sinnlicher Gewahrwerdung seiner selbst, aber auch der umgebenden organischen Natur“ zu vermitteln. Dass es sich hier insgesamt um die Schilderung einer filmisch vermittelten naturmystischen Erfahrung handelt, zeigt der in der Einzelanalyse der Interviews schon beschriebene Zusammenhang. Das Kino kann zu einem Ort mystischer Erfahrung werden, zu einem Ort der „unio mystica [...] zwischen dir und der Leinwand“, wie es Willi Winkler ausdrückt,72 zu einem Ort also, dessen Erfahrung stark emotional geprägt ist. b) Sinnbildung Gleichwohl hat Filmrezeption auch eine kognitive Ebene, ist nicht reine Emotion, reines Erlebnis. Auf dieser Ebene der Sinndeutung ließen sich vor allem zwei thematische Überschneidungen mit den Lektüreerfahrungen der Befragten feststellen. Diese Konvergenzen betrafen das Thema der Kontingenzbewältigung und das Ideal eines authentischen Lebens. Beide Themen bilden wiederkehrende Motive sowohl in den bedeutsamen Filmerfahrungen der Befragten als auch in ihren Lektüreerfahrungen. Prägnant und auf Literatur bezogen beschreiben Esther und Patrick die Bedeutung von Lektüren für ihre kontingenzbezogene Sinnbildung. Patrick berichtet von den ermutigenden Schilderungen verwandter Schicksale in 70 Vgl. Herrmann, Verwandlung. 71 Saskia Wendel, Christliche Mystik. Eine Einführung, Kevelaer 2004, 14. 72 Winkler, Kino, 52.

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von ihm so genannten „Wahrheitsbüchern“, die ihm helfen, die Kontingenz seiner eigenen Erkrankung zu bewältigen. Esther erzählt von der Lektüre eines Buches, das ihr half, „die Ungerechtigkeit der Welt“ zu verarbeiten. Aber die literarische Medienreligiosität geht nicht in den Themen Kontingenz und Authentizität auf, wenngleich hier Schwerpunkte zu verzeichnen sind. Der Beitrag der Lektüren zum Selbstverstehen und zur Selbstgestaltung ist weitaus vielfältiger. Er bezieht sich hinsichtlich des Selbstverstehens auch auf die grundsätzliche Funktion der Artikulation von Erfahrungen, deren doppelter Charakter zwischen Expression von Erlebtem und der Formung desselben vermittels der jeweiligen Artikulationsformen durch Stefans Metapher des Friseurbesuches besonders eindrucksvoll und treffend beschrieben worden war. Der Unterschied zum Friseurbesuch (und zum Kino im Übrigen auch) ist nur, dass alle Aktivitäten vom Rezipienten ausgehen müssen. Das Buch kommt einem nicht entgegen, mit keiner Seite, keinem Buchstaben. Man muss in seine Welt eintreten und dafür Zeit und Energie aufbringen. Im besten Fall entwickelt sie einen gewissen Sog, muss man sich ‚nur‘ faszinieren lassen. Als Lohn winkt die spezifische Erfahrung des Lesens, die sich dadurch auszeichnet, dass der Leser die beschriebene Welt in seinem Kopf lebendig werden lässt. Lesen stimuliert die Imagination. Und insbesondere die Lektüre belletristischer Text erweitert den Horizont, zeigt: „es gibt tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst“ (Felix). In der Perspektive von Martin Seels Vorschlag, innerhalb der ästhetischen Erfahrung noch einmal kontemplativ, korresponsiv und imaginativ akzentuierte Modi73 zu unterscheiden, erscheint die Leseerfahrung als die am stärksten imaginativ konnotierte Erfahrung, während die Kinoerfahrung im Vergleich als stärker korresponsiv und kontemplativ akzentuiert erscheint. Beide treffen sich im mittleren Bereich derjenigen Rezeptionserfahrungen, die am stärksten in einem Spiegelungsverhältnis zur Erfahrungswelt der Rezipienten stehen. All dies kann auch vom Fernsehen geleistet werden. Das Fernsehen hat, das scheint mit von Günter Thomas treffend beschrieben, eine kosmisierende Funktion: es produziert einen Sinndeutungshorizont nach dem Vorbild religiöser Kosmologien, der die ganze Vielfalt der Welterfahrungen aufnimmt und sinndeutend und wertevermittelnd bearbeitet.74 Auf der Basis der geführten Interviews scheint mir sein Beitrag zur individuellen Sinnorientierung vor allem ein Beitrag zur alltäglichen Lebensbewältigung und zur Wertorientierung zu sein. Prägnante Beispiele liefern die Interviews mit Patrick, der Lebenshilfe in einer Talkshow findet, und Ute, die ausgehend von dem TV-Format „Big Brother“ mit ihrem Freund über angemessenes Verhalten diskutiert. 73 Vgl. Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M. 1991, 51. 74 Vgl. Thomas, Liturgie.

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c) Rituelle Praxis Darüber hinaus und daneben scheint mir die rituell-alltagsbegleitende und alltagsstrukturierende Funktion des Fernsehens im Vordergrund zu stehen. Ich denke dabei sowohl an Tanjas rituelle Nachrichtenrezeption wie auch an Utes alltagsbegleitende Nutzung des Fernsehens als „Geräusch im Hintergrund“. Besonders deutlich prägt sich die rituelle Dimension impliziter Religiosität jedoch in der rituellen Videopraxis aus, von der vor allem Patrick und Johanna berichten, die bestimmte Filme nutzen (Patrick: „Linie eins“; Johanna: „Seite an Seite“), um sich Trost und Ermutigung in ihren persönlichen Problemlagen zu suchen. Solche medienreligiösen Rituale sind natürlich leicht greifbar. Schwieriger ist es, die praktischen Handlungsfolgen der medienvermittelten Sinnhorizonte zu ermitteln. In einem Fall lassen sich diese jedoch zum Teil rekonstruieren. Dieser Fall, das Interview mit Hans, markiert zugleich den Bereich des Übergangs zwischen impliziter und expliziter Religiosität. 2.2.6.3 Übergänge zwischen impliziter und expliziter Religiosität Die in den Interviews zur Darstellung kommende Medienreligiosität ist zumeist implizit. Nur in wenigen Fällen werden Übergänge zur expliziten Religiosität sichtbar. Explizite Religiosität meint hier eine Form von Religiosität, deren Artikulationsformen mit religiöser Semantik arbeiten. Drei prägnante Beispiele seien in Erinnerung gerufen: das Beispiel von Hans, das zeigt, wie der mimetische Impuls einer Fernsehserie (Kung Fu) Lektüren und soziale Erfahrungen nach sich ziehen kann, die schließlich in eine buddhistische Meditationspraxis münden; das Beispiel von Lukas, der zur Beschreibung seiner Erfahrung mit dem Dokumentarfilm Rivers and Tides über den Landart-Künstler Andy Goldsworthy ein religionsaffines Vokabular heranzieht; das Beispiel von Stefan, der seine Erfahrungen mit dem Film The Thin Red Line mit einem religiös konnotierten Vokabular beschreibt und dem schließlich die Lektüre von Schriften des Biologen und Philosophen Hans Jonas eine neue religiöse und religionsphilosophische Perspektive eröffnet. Stefan bezeichnet seine religiöse Orientierung als „meine Privatreligion“, mit der er zunächst „seelisch obdachlos“ gewesen sei und für die er erst durch die Entdeckung von Jonas eine kulturelle Ausdrucksform gefunden habe, die seinem Bedürfnis nach einer auch philosophisch befriedigenden Lösung genügte. „Privatreligion“ ist das vorherrschende Phänomen auch im Übergang zur expliziten Religiosität, im Anschluss an die religiösen Semantiken. Doch wie steht es um die Religiosität, die sich in kirchlichen Kontexten gebildet hat und explizit auf die kirchlich vermittelte christliche Religionskultur bezogen ist?

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2.2.6.4 Explizite Religiosität Kirchliche Religionskultur und individuelle Religiosität fallen zunehmend auseinander. Diese Beobachtung gilt auch für den Bereich expliziter Religion. Auch hier versuchen die Befragten, Abstand zu halten, unterscheiden deutlich zwischen ihrer subjektiven religiösen Sphäre und der Sphäre der kirchlichen Religionskultur. Beobachten lässt sich dieser Sachverhalt unter anderem in dem Interview mit Lena, die begeistert von ihrer Religionslehrerin erzählt, die anstelle des aufgrund mangelnder Beteiligung entfallenen schulischen Religionsunterrichts privaten Unterricht in ihrer Wohnung anbot. Wir hatten wirklich unheimlich tolle Diskussionen und Gespräche. Zum Beispiel: Was ist Gott? Ich habe dann halt zu dem Zeitpunkt gesagt: Er ist für mich eine Kraft. Ich fand das unheimlich eindrucksvoll, wie sie verschiedene Sachen so stehen gelassen hat. Wir haben uns auch andere Religionen angeguckt, was weiß ich die Indianer, über Gandhi geredet. Das hat unheimlich viel zu Denkanstößen beigetragen. Als das dann nicht mehr weiterging, war ich auch unheimlich traurig.

So sehr Lena von den „tollen Diskussionen“ und der Toleranz der Lehrerin schwärmt, von der Möglichkeit, überhaupt einen Raum zu haben, um über solche Fragen sprechen zu können, so stark betont sie jedoch im gleichen Atemzug, dass der geschilderte Gesprächszusammenhang und die Institution Kirche für sie zwei getrennte Welten seien. Das Beispiel von Lenas Religionsunterricht bewegt sich auf der Grenze: es zeigt den Übergang vom Institutionellen ins Private, das Auswandern der Religion aus den Gebäuden der Institutionen in die Privatwohnungen. Deutlich werden auch die Kontinuitäten: vor allem das Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mit religiösen Sinnfragen. Was das Verhältnis zur kirchlichen Religionskultur betrifft, so mischen sich bei den Befragten positive, negative und ambivalente Positionen. Durchweg positiv ist allein Henrik eingestellt. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit dem Zivildienst in einer Kirchengemeinde hat sich Henrik zu einem Studium der Sozialpädagogik entschlossen. Im Blick auf seine Erfahrungen mit der Kirche führt er aus: Also ich habe das, ich habe mich dem immer zugehörig gefühlt, immer mit so einer gewissen Distanz, so dass das nicht wirklich, wirklich zu meinem Mittelpunkt, oder was weiß ich was, wurde, also ich habe da immer eine – vielleicht nennt man das Affinität oder weiß nicht was dazu gehabt, also das hat mich immer wieder angezogen. Also jetzt fahre ich zum Beispiel auch zum Kirchentag nach Berlin. Da freue ich mich richtig drauf. Weil das, ja das hat mir auch neue Horizonte eröffnet, also das kirchliche Umfeld.

Verdeutlichend setzt Henrik hinzu, dass er sich immer „sehr personenbezogen“ entwickelt habe, dass der Pastor seiner Zivildienstgemeinde eine wichtige Rolle gespielt habe und dann die Erfahrung, die Jugendarbeit und die 319

Kindergottesdienste mitzugestalten, „die Idee, die hinter dem Glauben steckt, zu vertreten, ohne dabei wirklich jetzt mich als religiös zu empfinden. Diese Idee, die dahinter steckt, das war für mich immer das Wesentliche dabei“. Diese Idee ist für Henrik in erster Linie eine soziale Idee. Er umschreibt sie mit den Stichworten Respekt, Gebote, Gemeinschaft. Ähnlich gelagert ist das Kirchenverhältnis von Felix. Er sagt, die kirchlichen Angebote seien „für andere sicherlich oft sinnvoll“, kann jedoch selbst mit den religiösen Inhalten nichts anfangen und ist schon im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Hans Küngs Buch Existiert Gott? aus Anlass seiner Konfirmation zu dem Schluss gekommen: „das ist dir einfach unplausibel und letzten Endes kannst du nicht diesen Weg gehen.“ Ambivalenter stellen sich die Erfahrungen von Anna, Johanna und Christoph dar. Die früheren Erfahrungen sind dabei durchweg sehr positiv. Die Ambivalenzen gewinnen erst mit der Zeit an Gewicht. So berichtet Christoph zunächst von einem begeisternden Konfirmandenunterricht bei einem „super Typ“, später kritisiert er: Ich mag keine, ich kann es nicht besser sagen, heilige Atmosphäre. Wenn Menschen so tun, als gäbe es das Schlechte nicht auf der Welt und das irgendwie ausklammern wollen und so benennen, dass es in ihrem Leben keine Rolle spielen darf. Ich finde, es gibt Menschen in der Kirche, die total saftlos und verstaubt auf mich wirken. Mit denen kann ich nichts anfangen.

Auch Anna berichtet von guten Erfahrungen mit dem Kindergottesdienst und einem sehr anregenden Religionsunterricht. Den Unterricht des geschätzten Lehrers beschreibt Anna mit den Worten: Der hat eben das Feld Religion erweitert um solche Fragen nach Transzendenz und Sinn und Suchen und ist quasi erst auf Umwegen auf das Christentum wieder zurück gekommen. Er hat also erst später mit uns über die Dinge gesprochen, wie Bergpredigt oder so. Wir haben relativ wenig mit der Bibel gearbeitet, aber eben in so einem weiten Sinn uns mit Religion auseinandergesetzt, auf eine Weise, die mir zum ersten Mal das Gefühl gegeben hat, dass ich tatsächlich mich damit auseinandersetzen möchte. Den haben wir eigentlich alle ziemlich vergöttert.

Dieser Lehrer war dann auch Annas Klassenlehrer bis zum Abitur. Er hat auf Klassenfahrten gruppendynamische Spiele mit den Schülerinnen und Schülern veranstaltet. Im Blick auf ihre Selbstreflexion haben diese Erfahrungen für Anna eine eröffnende Wirkung gehabt. Einen problematischen Kontrast zu dieser offenen Art, mit Religion umzugehen, findet Anna heute bei ihrer Mutter, die „inzwischen total auf dem Bibel-Trip“ sei. Dennoch interessiert sich Anna im Grundsatz für religiöse Fragen, allerdings nicht auf der Ebene der Kirche oder ihrer ethisch-politischen Stellungnahmen. Die Kirche hat für sie bis heute keine Rolle gespielt. Nur einmal, in einem katholischen Gottes320

dienst, hat sie der rituelle Ablauf gefesselt, hatte sie das Gefühl: „Ich fühle mich in so einer Kirche oder so einer Gemeinschaft ergriffen oder richtig. Sonst haben mich Kirchenerlebnisse immer eher abgeturnt.“ Ausgangspunkt von Johannas Kirchenerfahrungen ist ebenfalls der Kindergottesdienst. Sie habe immer gern Geschichten gehört und kann sich sogar an die allererste Geschichte erinnern, die ihr in diesem Zusammenhang erzählt worden ist: die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Ein „tolle(r) Bibelkreis“ und später eine gute Erfahrung mit einem sozialen Jahr in einer Kirchengemeinde motivierten Johanna schließlich sogar, Theologie zu studieren. Auf die praktische Ausbildungsphase wollte sie sich jedoch nicht mehr einlassen: Also, ich bin deshalb nicht ins Vikariat gegangen, weil ich wusste, das halte ich da nicht durch. Ich hatte Angst, daran irgendwie zu zerbrechen. Dieser Spagat zwischen dem, was ich so denke, was Kirche oder Religion ist, und dem, was die Institution so von sich gibt. Heute sehe ich das ein bisschen lockerer. Damals war ich sehr streng und habe das alles sehr auf die Goldwaage gelegt.

Der befürchtete Widerspruch zwischen ihrer individuellen Religiosität und der als starr empfundenen Institution Kirche erzeugte so große Ängste und Widerstände, dass Johanna den eingeschlagenen Weg nicht fortsetzen konnte. Die bis zu diesem Punkt geschilderten Kirchenerfahrungen zeigen am Material ablesbare typische Verläufe von Beziehungen zur kirchlichen Religionskultur auf, die mehrheitlich durch eine anfängliche Nähe und eine dann zunehmende Distanzierung ausgezeichnet sind. Motive der Distanzierungsbewegungen sind: die Erkenntnis der mangelnden Plausibilität der religiösen Inhalte (Felix), die Kritik an der Ausgrenzung von Negativität (Christoph), ein ästhetisch-emotionales Missfallen (Anna), die Angst vor der Starrheit der Institution (Johanna). Zum Schluss sollen die beiden Interviewpartner der Studie in den Blick genommen werden, deren Beziehung zur Kirche sich am deutlichsten negativ entwickelt hat. Diese beiden Beispiele können die erfahrenen Defizite der kirchlichen Religionskultur noch einmal pointieren. Für Klaus begann die zunehmende Distanzierung von der Kirche mit negativen Erfahrungen im Konfirmandenunterricht. Weitere negative Erfahrungen schlossen sich an, Kirchenvertreter hätten ihm Schuldbewusstsein suggeriert, ihn von oben herab behandelt und die Werte des Christentums nicht vermitteln können. Besonders deutlich kritisiert Klaus die mangelnde Professionalität pastoraler Arbeit (das Wiederholen alter Predigten) und die fehlende religiöse Authentizität. Klaus: Und das is, nee, da bin ich nich so, das fehlt mir wirklich so die Wärme, die man so oft irgendwie aus diesem Psalmen hört, und die man auch wirklich selber empfindet, nur, wenn man die nicht spürt von demjenigen, der sie vorträgt, so verliert das unwahrscheinlich viel, und das mag ich eigentlich gar nich.

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Was Klaus im Kern fehlt, ist das Vorbild einer zur Mimesis anreizenden gelebten Religion. Diese kritische Haltung gegenüber der Kirche ändert jedoch nichts daran, dass Klaus sich zu seinem Gottesglauben bekennt, zu einem Glauben, für den er die Kirche jedoch nicht braucht. Ähnlich liegen die Dinge bei Lukas. Mit dem Unterschied, dass seine ersten Erfahrungen mit der Kirche sehr positiv und intensiv waren und so weit gingen, dass Lukas sogar eine Zeit lang Diakon werden wollte. Er wollte ganz im Glauben aufgehen, hat seine Tagebücher Gott gewidmet und regelmäßig gebetet. Lukas: „Als Teenager war ich schon sehr auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.“ Die Abkehr von dem Wunsch, Diakon zu werden, wurde durch ein enttäuschendes Gemeindepraktikum ausgelöst: der Superintendent konnte die religiösen Fragen von Lukas nicht beantworten, die Predigten waren langweilig, die religiöse Praxis nicht von der Intensität, die Lukas suchte. Lukas bilanziert: „Ich hab vielleicht eher so’n Meister gesucht oder so was, aber da nicht gefunden.“ Der Konfirmandenunterricht sei „wie Mathe“ gewesen, ohne Emotionen, die Predigten langweilig, „keen Feuer drin“. Lukas hat in der Kirche Menschen vermisst, „die überzeugen, [...] die Glauben ausstrahlen und leben“, sich in der Folge esoterischen Kursen und Büchern zugewandt und in diesem Bereich mehr von dem Gesuchten gefunden. Lukas vermisst in der Kirche – wie Klaus – Erfahrungen mit authentisch gelebter Religion, die Vorbildfunktionen hätte erfüllen können und der mimetischen Praxis Anreize hätte geben können. Die Rede von einem Meister erinnert an eine Äußerung von Stefan: Ich habe ja auch diese Biologie studiert im verzweifelten Bemühen, nicht Schriftsteller werden zu müssen oder so und das war alles so schrecklich, weil das alles so, weil all das, was offensichtlich bedeutsam war, das war irgendwie alles nur Elektrotechnik. Ich war auch blöd. Also wir haben in entscheidenden Zeiten, das hat mich wirklich um Jahre zurückgeworfen, das möchte ich wirklich, dass das meinen Kindern anders geht. In den entscheidenden Zeiten habe ich niemanden gehabt, der mir irgendwie sagte, was ich brauche.

Es habe ein Mentor gefehlt und die Eltern hätten diese Aufgabe auch nicht erfüllen können. Diese Äußerung deutet noch einmal auf darauf hin, dass es bei der religiös-weltanschaulichen Orientierung nicht nur um Texte und Symbolisierungen geht, sondern auch um die von konkreten Menschen authentisch gelebte und darum lebendige und befragbare Religion.

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2.2.7 Resümee „Eine nicht explizit christliche Religiosität wird häufig als sinnvoller erlebt als explizit christliche Religiosität“, resümiert Tatjana Schnell ihre empirische Studie zur impliziten Religiosität.75 Diese Schlussfolgerung scheint mir auch für die vorliegende Untersuchung zu gelten. Außer einigen positiven sozialen Erfahrungen hat die kirchliche Religionskultur den in der vorliegenden Studie Befragten wenige Ressourcen für ihre weltanschaulichreligiöse Selbstbildung anbieten können. Ihre individuelle Religiosität speist sich weitgehend aus außerkirchlichen Quellen: in der rituellen Dimension erscheinen das Fernsehen, das Video und die Zen-Meditation als kulturelle Bezugssysteme, im Blick auf Transzendierungserfahrungen erscheinen Kino, Esoterik und Meditation als bedeutsam und im Blick auf die Ausbildung individueller Sinnhorizonte von letzter Relevanz, sei es zur Kontingenzbearbeitung oder zur Zukunftsorientierung, erscheinen vor allem Filme und Bücher als bedeutsam.

75 Schnell, Wege, 19.

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III. Praktisch-theologische Konsequenzen 1. Konsequenzen für die Praktische Theologie

Welche Bedeutung haben die erarbeiteten Analysen und Interpretationen für die Praktische Theologie als Theorie der Religionspraxis in Kirche und Gesellschaft? Anhand von sechs zentralen Theoriefeldern der Praktischen Theologie sollen im Folgenden einige Schlussfolgerungen und Fragestellungen skizziert werden, die aus den empirischen Analysen abgeleitet werden können. Da es sich um qualitative Ergebnisse handelt, von denen dabei ausgegangen wird, können die in kurzen Essays entwickelten bzw. angedeuteten Perspektiven nur Anregungen sein, deren Plausibilität und Praktikabilität in weiteren theoretischen und praktischen Diskursen erst noch zu erkunden sind. Ein zentrales Ergebnis der Fallstudien, das in allen Feldern Konsequenzen anregt, soll an dieser Stelle schon hervorgehoben werden: die Beobachtung, dass 16 junge Erwachsene im Jahr 2003 und mit einer für die Bevölkerungsmehrheit heute typischen distanzierten Kirchenbindung ihre Sinnfragen in hohem Maße in der Auseinandersetzung mit der modernen Medienkultur bearbeiten. Die Sinnperspektiven des traditionellen Christentums sind demgegenüber von marginaler Bedeutung.1 Dieser Befund legt eine noch wesentlich stärkere praktisch-theologische Aufmerksamkeit für die Medienkultur und darüber hinaus für die außerkirchliche Religionskultur insgesamt nahe, sowohl in empirisch-kulturhermeneutischer Hinsicht als auch im Blick auf die Konzeptionierung religiös-kirchlicher Praxis. Nur auf diesem Wege wird die Praktische Theologie einen Beitrag zur kritischen Reflexion der heute faktisch gelebten Religion leisten können. Und nur so wird sie auch die Sinnperspektiven des traditionellen Christentums im Gespräch halten können und als ihre spezifische Deutungskultur in die religiösen Diskurse der Gegenwart einbringen können.

1 Dieser Befund konvergiert mit den Ergebnissen anderer empirischer Studien, u.a. denen von Bernhard Porzelt und Tatjana Schnell. Porzelt kommt in seiner Untersuchung „jugendlicher Intensiverfahrungen“ zu dem Ergebnis, „dass kein einziger der Probanden, die in den Schlüsselpassagen zu Wort kamen, auf Einzelvokabeln, Wendungen oder Vorstellungen zurückgreift, die sich einer religiösen Sprach- und Erfahrungstradition zuordnen lassen“, Bernhard Porzelt, Jugendliche Intensiverfahrungen. Qualitativ-empirischer Zugang und religionspädagogische Relevanz, Graz 1999, 256. Tatjana Schnell resümiert in ihrer Studie zur impliziten Religiosität: „Eine nicht explizit christliche Religiosität wird häufig als sinnvoller erlebt als explizit christliche Religiosität“, Schnell, Wege, 19.

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1.1 Für die Theorie der Religionspraxis Eine allgemeine Theorie der Religionspraxis bildet die allgemeinste Perspektive und zugleich das theoretische Herzstück einer Praktischen Theologie, die die Vielfalt kirchlicher und außerkirchlicher Religionskultur und Religionspraxis zum Gegenstand hat. Vor dem Hintergrund eines solchen empirisch-kulturhermeneutisch erweiterten Verständnisses der Praktischen Theologie ist die Frage nach den Konsequenzen der empirischen Analysen für eine allgemeine Theorie der Religionspraxis der Frage nach Schlussfolgerungen für die Kirche und ihre Religionspraxis systematisch vorgelagert. In religionstheoretischer Hinsicht fallen zunächst drei Gesichtspunkte im Überblick auf die Ergebnisse der Fallstudien besonders auf: die Bedeutung des Ästhetischen, des Leiblich-Emotionalen und des Mimetischen. Alle drei Aspekte verweisen auf ein im Rahmen der Analysen schon mehrfach beobachtetes Defizit gegenwärtiger Religionstheorie: auf ihre einseitige Orientierung am Paradigma von Deutung und Textualität. Man könnte auch von einer kognitivistischen Engführung eines Religionsbegriffes sprechen, der Religion als Lebensdeutung fasst. Die Dimensionen der ästhetischen Anmutung, der Emotionalität, des Performativen und der Leiblichkeit bleiben dabei unberücksichtigt.2 Die Religionstheorie ist mithin zu einer stärkeren Integration ästhetischer und performativer Dimensionen herausgefordert. Wenn die ästhetische Dimension einen ganz wesentlichen Anteil daran hat, ob ein Buch fasziniert und ein Film berührt oder Eindruck macht, wenn die existenzielle Bedeutsamkeit einer Medienerfahrung von der ästhetisch-semantischen Dichte eines Medienproduktes abhängt und damit auch die Wirkung von Medienreligion von ihrer ästhetischen Gestalt, so sollte die Dimension des Ästhetischen auch in den theoretischen Beschreibungen von Religion eine größere Rolle spielen. Dabei ist zu konzedieren, dass Religion – jedenfalls im jüdisch-christlichen Kontext – ein Phänomen ist, welches einen kognitiven Kern hat, dessen Spezifik auf den Möglichkeiten menschlicher Reflexionssubjektivität basiert. Denn Transzendenz bewusst zu spüren und zu denken, ist eine spezifische Fähigkeit menschlicher Reflexionssubjektivität. Von daher hat die Deutungsorientierung des aktuellen religionstheoretischen 2 Ähnlich Michael Moxter in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Gräb: „Religion geht nicht darin auf, ein Deutungsphänomen zu sein. Man hat es in ihr stets auch mit spezifischen Ausdruckscharakteren der Wirklichkeit im Sinne Cassirers zu tun, mit Räumen und Zeiten, mit Gesten und Riten, mit der Art und Weise, wie und woraufhin man angesprochen wird, kurz mit Bestimmtheiten, die sich sperrig zur interpretationistischen Generalthesis Gräbs verhalten. M. E. blendet eine Definition der Religion als ‚Sinndeutung im Unbedingtheitshorizont‘ zu viele dieser Phänomene aus, weshalb sie zugleich zu elastisch gerät“, Michael Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie, in: ZThK 101, 2004, 465–488, 481.

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Diskurses ihre guten Gründe. Gleichwohl lässt sich das Unendliche nur im Endlichen wahrnehmen, das Unbedingte nur im Bedingten und das Transzendente nur bezogen auf Immanenz. Die andere Seite des Religiösen, seine konkrete sinnliche Seite sollte darum in seiner theoretischen Beschreibung ebenfalls Berücksichtigung finden. Es soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, eine theoretische Beschreibung des Phänomens Religion zu formulieren, die die in den aktuellen Diskursen eher unterrepräsentierten Dimensionen des Religiösen stärker aufzunehmen versucht. Diese Beschreibung soll die Religion des Individuums als zentralen Ort heutiger Religionspraxis in den Mittelpunkt stellen, diese individuelle Religiosität jedoch in ihre Kontexte einzeichnen. Das in religionstheoretischer Hinsicht umfassendste Konzept scheint mir gegenwärtig der Begriff der gelebten Religion zu sein. Er beinhaltet sowohl die religiöse Erfahrung als auch die religiöse Praxis, sowohl individuelle wie soziale und kulturelle Dimensionen des Religiösen. In seinem Zentrum steht das Individuum, das seine Religiosität in der Bezogenheit auf Gesellschaft und Kultur lebt, in Sozialformen zum Zweck der religiösen Kommunikation und in der Verwendung religiöser Symbolisierungen und Texte, in der religiösen Erfahrung und in der individuellen und sozialen religiösen Praxis. Grundlegend ist dabei die Bezogenheit von Subjekt und Symbolisierung, von religionskulturellen Objektivationen und subjektiven Rezeptionen und Praktiken. Diese Bezogenheit bildet auch die Grundstruktur von Erfahrung und damit auch von religiöser Erfahrung: ich erfahre etwas als etwas, ein Erleben wird mit explizit oder implizit religiösen Symbolisierungen interpretiert.3 Obwohl das Subjekt im Vollzug der Erfahrung ohne Zweifel aktiv und interpretierend tätig ist, eignet dem Erfahrungsbegriff doch eine rezeptive Konnotation, eine passive Akzentuierung: mir widerfährt etwas. Darin liegt eine Fremdheit, die nach Deutung verlangt, ein widerständiges Alteritätsmoment, das durch die Wahrnehmung von etwas ins Spiel kommt. Es lässt sich als die aisthetische Dimension von Erfahrung bezeichnen. Sie wird durch Interpretation komplimentiert: durch eine Sinndimension. Die Polarität von aisthetischer Dimension und Sinndimension bildet die Grundstruktur von Erfahrung. Es ist deutlich, dass Unterscheidbarkeit von Erfahrungen nur durch die Formen ihrer symbolischen Interpretation und Artikulation möglich wird. Der Wahrnehmung von etwas eignet zunächst ein Moment der Unbestimmtheit, das erst durch Interpretation bzw. Deutung in die Bestimmtheit symbolischer Prägnanz überführt wird und auf diese Weise kommunikabel gemacht wird. Ist der Begriff der religiösen Erfahrung passiv konnotiert, so betont der Begriff der religiösen Praxis das Moment des Handelns. Dieses Handeln 3 Vgl. u.a. Jung, Erfahrung, 262ff.

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kann sich, ebenso wie das Interpretieren, explizit religiöser Formen bedienen (Gottesdienst), es kann aber auch nur strukturelle oder funktionale Bezüge zum Religiösen haben (rituelle Praxis ohne religiöse Semantik). Individuelle Religiosität umfasst beides: die religiöse Erfahrung als stärker die Eindrucksseite des Religiösen bezeichnendes Konzept und die religiöse Praxis als ein seine performative Ausdrucksseite hervorhebendes Konzept. Die bisherigen Ausführungen gelten auch für Erfahrung und Praxis im Allgemeinen. Das Religiöse an der religiösen Erfahrung und der religiösen Praxis wird, so war schon deutlich geworden, durch die Spezifik der jeweiligen Ausdrucksformen kenntlich. Spezifisch religiöse Symbolisierungen und Artikulationsschemata zeichnen sich dadurch aus, dass sie „Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet(en)“4. Diese Formulierung von Luhmann hat den Vorteil, dass sie das Religiöse auf eine noch sehr allgemeine Weise näher bestimmt, eine Weise, die offen ist für weitere Differenzierungen. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten lässt sich die folgende Beschreibung individueller Religiosität formulieren: Die gelebte Religion des Individuums, die individuelle Religiosität, ist die ganzheitliche Wahrnehmung und interpretierende Gestaltung des menschlichen Transzendenzbezuges am Ort des Individuums. Ganzheitliche Wahrnehmung und interpretierende Gestaltung meint: sinnliches Wahrnehmen, bewusstes Symbolisieren und körperliches Handeln. Transzendenzbezug meint: den Sachverhalt des Eingebundenseins menschlicher Subjektivität in kleine, mittlere und große Transzendenzen. Diese Definition umfasst die Aspekte der impliziten und der expliziten Religiosität. Ihre Differenz wird durch die jeweiligen Semantiken ihrer Artikulation markiert. Die Bestimmung beinhaltet auch die von Tatjana Schnell in Anlehnung an die basalen psychologischen Kategorien von Emotion, Kognition und Handeln beschriebenen Dimensionen impliziter Religiosität: die Dimensionen der individuellen Sinnhorizonte von letzter Bedeutung („bewusstes Symbolisieren“), der rituellen Praxis („körperliches Handeln“) und des Erlebnisses („sinnliches Wahrnehmen“). Auch der ästhetische Aspekte ist in seiner aisthetischen und ästhetischen Dimensionalität berücksichtigt und mit der Formulierung „ganzheitliche Wahrnehmung und interpretierende Gestaltung“ zum Ausdruck gebracht. Das Phänomen der Medienreligiosität ist vor allem der Dimension der impliziten Religiosität zuzurechnen. Seine Abgrenzung bleibt nach wie vor schwierig. Zur Seite der Medien hin war der Begriff der Medienreligion bisher in der Regel auf Film und Fernsehen bezogen worden. Im theoretischen Teil der Studie hatte ich das Konzept über die gängige Verwendung im Kontext von Film und Fernsehen hinaus erweitert und auch die religiösen Sinnperspektiven der Literatur zur Kategorie der Medienreligion 4 Luhmann, Religion, 77.

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gerechnet. Sachlich ist diese Erweiterung m. E. plausibel: Romane sind schließlich ebenso Teil der modernen Medienkultur wie Filme und Fernsehsendungen. Ob eine solche Erweiterung des Begriffs Chancen auf Resonanz innerhalb der einschlägigen Diskurse hat, ist jedoch fraglich. Bisher ist der Begriff der Medienreligion jedenfalls deutlich auf die technischen Medien des 20. Jahrhunderts fokussiert. Seine engere oder weitere Fassung ist aber eine Nebenfrage. Wichtiger für eine empirisch-kulturhermeneutisch orientierte Praktische Theologie sind die grundsätzlichen religionstheoretischen Weichenstellungen: das Konzept der impliziten oder unsichtbaren Religion und die stärkere Berücksichtigung der ästhetischen und performativen Dimensionen innerhalb der Religionstheorie. Dass ausgerechnet diese zuletzt genannten Dimensionen im Kontext einer Studie über Medienerfahrungen ins Blickfeld geraten, mag erstaunen, muten insbesondere elektronische Medien auf den ersten Blick als flüchtig, immateriell und schwebend an. Hält man sich jedoch das Interviewmaterial vor Augen, so wird schnell deutlich, dass es sich bei den rezipierten Medieninhalten nicht um Abstrakta handelt, sondern um ästhetisch gestaltete Sinnsequenzen, die auf mimetische Wiederverkörperungen drängen. 1.1.1 Ästhetische und religiöse Erfahrung Die große Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung im Kontext von Medienerfahrungen, die im Rahmen der Auswertung deutlich geworden ist, lässt noch einmal nach einer noch genaueren Beschreibung ihrer jeweiligen Spezifik und ihres Verhältnisses fragen: nach Identitäten und Differenzen religiöser und ästhetischer Erfahrung. Die Empirie gibt Anlass zu Rückfragen an die einschlägige Theorie. 1.1.1.1 Erfahrung Erfahrung, so war deutlich geworden, konstituiert sich im Wechselspiel von Wahrnehmung und Symbolisierung, von Erlebnisqualitäten und Artikulationsschemata. Ohne die Artikulation mit Hilfe kultureller Symbolisierungen bliebe die Erfahrung stumm, würde der Anschluss der ersten Person Singular an die erste Person Plural nicht vollzogen werden können. Die Artikulationsformen prägen dabei wiederum die Erfahrung von etwas eben als etwas Bestimmtes. Subjektivität und Sprache spielen hier ineinander und formen sich wechselseitig. Dabei kann der Pol der sinnlichen Wahrnehmung oder der deutenden Symbolisierung betont sein, die aisthetische Dimension oder die Sinndimension. Erfahrung als Synthese von Wahrnehmung und Interpretation zeigt dabei an, dass Weltverhältnis und Selbstverhältnis, Weltdeutung und Selbstdeutung ineinander liegen, dass Erfahrung gerade darin besteht, das 329

Selbst an die Welt anzuschließen. Man kann aufgrund dieser basalen Struktur innerhalb von Erfahrung einen Subjektpol und einen Objektpol unterscheiden. Erfahrungen können dementsprechend unterschiedlich akzentuiert sein: eben mehr subjektbezogen oder mehr objektbezogen, sie können stärker den Charakter von Selbsterfahrungen oder von Welterfahrungen haben. Dies hatte sich auch bei den Medienerfahrungen wiederholt gezeigt: kann ein Autor wie Hesse in erster Linie zum Selbstverstehen beitragen, so hilft ein Text von Foucault zunächst vor allem dabei, die Gesellschaft besser und anders zu verstehen – wobei die jeweiligen Verstehenshorizonte sich aufgrund der beschriebenen Grundstruktur wechselseitig durchdringen. Die Unterscheidung der beiden Pole von Wahrnehmung und Deutung im Aufbau von Erfahrungen korrespondiert der Unterscheidung von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Ästhetische Erfahrung betont Wahrnehmung und Form, religiöse Erfahrung in ihrer expliziten Form Deutung und Inhalt. Deutlich ist, dass auch religiöse Erfahrung nicht ohne Wahrnehmung und Form auskommt: irgendeine Form von Konkretion muss auch diese haben. Daraus lässt sich folgern, dass ästhetische Erfahrung potentiell in der religiösen Erfahrung enthalten ist. Dies leuchtet sofort ein, wenn man etwa daran denkt, dass man einen Gottesdienst ohne weiteres auch ästhetisch wahrnehmen kann. Umgekehrt ist es ebenfalls möglich, eine ästhetische Erfahrung religiös zu lesen. Der Bau der Rothko Chapel, die abstrakte Bilder von Marc Rothko in einen religiösen Kontext stellt, wäre ein Beispiel dafür, die angeführte ausdrücklich religiöse Lektüre des Films American Beauty ein weiteres. Diese Beispiele weisen einmal mehr auf das Überschneidungsfeld zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung, innerhalb dessen ästhetische und religiöse Sichtweisen unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Phänomen zu sein scheinen. 1.1.1.2 Ästhetische Erfahrung Der Begriff der ästhetischen Erfahrung ist auch nach den intensiven Debatten der letzten Jahrzehnte vieldeutig geblieben, die Abgrenzung des Ästhetischen ist nach wie vor strittig. Einige Grundlinien, die eine gewisse Verbindlichkeit beanspruchen können, lassen sich gleichwohl benennen. Wegweisend für das neue ästhetische Denken der Gegenwart waren die Überlegungen von Rüdiger Bubner. Bubner bestimmt die ästhetische Erfahrung im Anschluss an Kant als sich in der „Spannung zwischen sinnlichem Angerührtsein und schöpferischem Leisten“ konstituierend.5 In dieser Spannung kommt ästhetische Erfahrung als Prozess eines unabschließbaren Wechselspiels zwischen Reflexion und Sinnlichkeit zustande. 5 Rüdiger Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, 9–51, 38.

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a) Unsagbarkeit Dieses Spiel kommt an kein Ende, weil die konkrete Sinnlichkeit der Kunst oder der Natur auf keinen Begriff zu bringen ist, weil ihr Besonderes in keinem Allgemeinen aufgeht. Das Bedürfnis nach Einordnung stößt immer wieder an die Grenze der sinnlichen Präsenz des Besonderen. Bubner: „Suche nach Totalität kommt nicht in einem Begriff zur Ruhe, der wohl bestimmt und endgültig sagte, was die Anschauung verheißt. Flüchtete sich die Reflexion zum Begriff, so gäbe sie die Basis der ästhetischen Erfahrung auf und tauschte das Reich der Kunst gegen die Selbstgewissheit des Denkens. Zwar tendiert die Reflexion dazu, in die Form des Begriffs zu überführen, was die höchst eigentümlich und unwiederholbar geprägte Anschauung des Werks an Totalität vorgaukelt. Dennoch muss jede Bemühung scheitern, klar und in einem Wort auszusprechen, was es in Wahrheit ist, was die ästhetische Erfahrung erfährt. Die begriffliche Aussage verfremdet die Lebendigkeit der Begegnung mit Kunst, so dass die Reflexion von der Leere des abstrakten Begriffs wieder zur Unmittelbarkeit der Anschauung zurückkehrt.“6 Diese strukturelle Unabgeschlossenheit, sprachliche Unübersetzbarkeit, ja, Unsagbarkeit und Unbestimmbarkeit scheint mir ein zentrales Merkmal ästhetischer Erfahrung zu sein. Sie kommt in den vorliegenden Interviews am stärksten im Zusammenhang mit Filmerlebnissen zum Ausdruck, etwa, wenn Anna erläutert, dass beim Kino für sie nicht eindeutige Botschaften im Vordergrund stünden, sondern etwas Schwebendes wichtig sei (Anna). b) Gegenwart: Unterbrechung, Zweckfreiheit, Selbstwahrnehmung Ein weiteres zentrales Merkmal der ästhetischen Erfahrung ist ihre Gegenwartsorientierung. Dieser Aspekt ist unter anderem von Martin Seel immer wieder betont worden.7 In Abgrenzung zum theoretischen Weltzugang formuliert Seel: „Das ästhetische Verhalten verfolgt ein anderes Telos als das theoretische. Es will nicht eine Verfassung der Welt eruieren, es will sich ihrer Gegenwart aussetzen.“8 Seel bestimmt die Ästhetik als Teilgebiet der Aisthetik, deren Thema die Wahrnehmung im Allgemeinen ist. Ästhetische Wahrnehmungen unterscheiden sich durch spezifische Merkmale des Wahrnehmungsvorgangs selbst von anderen Wahrnehmungen, nicht aber durch ihren Gegenstandsbereich. Man kann Autos, rote Ampeln und Mülltonnen ebenso ästhetisch wahrnehmen wie Bäume, Gesichter oder Kunstwerke. In seiner Naturästhetik formuliert Seel als Bestimmung des Ästhetischen: „Ästhetisch ist eine Wahrnehmung, die sich in vollzugsorientierter Aufmerksamkeit an die sinnliche und/oder 6 Bubner, Bedingungen, 64f. 7 Zuletzt in: Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2003, 38f, 41, 56, 62. 8 Ders., Ästhetik, 97.

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sinnhafte Präsenz und Prägnanz ihrer Gegenstände hält.“9 Diese Wahrnehmung kann kontemplativ, korresponsiv oder imaginativ geprägt sein. Sie ist am reinsten vollzugsorientiert, also gegenwartsbezogen in der Wahrnehmung selbst verweilend, und sinnlich bestimmt in der Kontemplation. Seel definiert diese als „interesselose sinnliche Wahrnehmung“, die von allen Absichten, Affekten und Sinnzuschreibungen absieht.10 Sie hält sich allein an die Besonderheit der augenblicklichen Erscheinung der Dinge. Diese Konzentration auf den „Zeit-Raum“ der Wahrnehmung kann uns in „einen Zustand erfüllter Freiheit gegenüber unseren pragmatischen Orientierungen“ versetzen.11 Ihr Gewinn ist Unterbrechung der chronischen Instrumentalität durch Selbstzweckhaftigkeit.12 Ästhetische Erfahrung bildet so einen Gegenpol zur ubiquitären Zweckhaftigkeit einer durchökonomisierten Lebenswelt, in der keine zweckfreien Räume mehr existieren. Ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung ist mithin durch eine Modifikation der Raum-Zeit-Struktur von Wahrnehmung überhaupt gekennzeichnet: durch ein Verweilen im Hier und Jetzt der Wahrnehmung selbst. Diese Gegenwartsorientierung zieht drei weitere Merkmale der ästhetischen Erfahrung nach sich: Unterbrechung, Zweckfreiheit und Aufmerksamkeit für uns selbst. Seel beschreibt den Zusammenhang folgendermaßen: „In dieser Aufmerksamkeit für das momentane Spiel der Erscheinungen entsteht ein anschauendes Bewusstsein von Gegenwart – ein Bewusstsein eines Hier und Jetzt, das zugleich ein Bewusstsein meines Hier und Jetzt umfasst. Besinnung auf Gegenwart ist – wie vor allem Karl Heinz Bohrer nicht müde geworden ist zu betonen – ein basales Motiv aller ästhetischen Anschauung. Es geht den Subjekten der ästhetischen Wahrnehmung um ein Verspüren der eigenen Gegenwart im Vernehmen der Gegenwart von etwas anderem. In der sinnlichen Präsenz des Gegenstandes werden wir eines Augenblicks unserer eigenen Gegenwart inne. In diesem Innehalten liegt zugleich eine Enthaltung – ein Abstand von allen Vollzügen, in denen wir in einer Orientierung an Zuständen aufgehen, die wir in der Zukunft herbeiführen oder erreichen wollen; ein Abstand auch von allen Vollzügen, in denen wir etwas ein für allemal gedanklich festhalten wollen. Dieses ausschließliche Bestimmen und Bewirken lassen wir in der ästhetischen Anschauung sein. Wir machen uns von den Fixierungen frei. Wir enthalten uns zur Gegenwart. Wir lassen uns zur Gegenwart entführen. Ästhetische Anschauung ist eine radikale Form des Aufenthalts im Hier und Jetzt.“13 9 Ders., Natur, 35. 10 Ders., Natur, 51. 11 Ders., Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung, in: Birgit Recki/Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion, München 1997, 17–38, 38. 12 Ders., Natur, 197. 13 Ders., Ästhetik, 62.

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Im Interview mit Stefan gibt es eine schon mehrfach zitierte Passage, die diesen Zusammenhang von gegenwartsorientierter Aufmerksamt für das Spiel der Erscheinungen, die zugleich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für sich selbst ist, treffend illustriert. Stefan spricht über seine Erfahrung mit dem Film The Thin Red Line: Aus meiner Perspektive war es sicherlich so, das was dieser Film geschafft hat, war eine Form von sinnlicher Gewahrwerdung seiner selbst, aber auch der umgebenden organischen Natur, das herauszustellen und dass also gewissermaßen Slow motionmäßig langsam zu vergrößern. Also Zeitlupe auch so richtig als Lupe. Ich weiß nicht, ich kann das nicht nachvollziehen, das ist, glaube ich, auch eine poetische Verklärung. [...] Und die Kunst erschließt gewissermaßen, den Alltagsschleier zerreißend, und dahinter war dann auch ein Leuchten. Das ist auch so in diesen BackgroundRomanen, es war so dieses: all things shining. Also das war irgendwie eine Form poetischer Emanation, die so stark war in diesem Film.

c) Transzendenz Mit der Rede vom Zerreißen des Alltagsschleiers und einem „Leuchten“ dahinter verweist Stefans Erfahrung auf eine weiteres Merkmal ästhetischer Erfahrung: auf ihren Transzendierungscharakter. Dieser Aspekt wird auch in den aktuellen Theorien ästhetischer Erfahrung gesehen. Dieter Mersch spricht von der „Transzendenz eines Zuvorkommenden, das begegnet“14. Martin Seel betont dabei, dass „dieses Transzendieren nicht als ein Hinausgehen über die Welt der Erscheinungen, sondern vielmehr als ein Sichverlieren in diese Welt zu verstehen ist“.15 Gernot Böhme schließlich geht in seiner Atmosphärenästhetik davon aus, dass Atmosphären „für die Ästhetik die erste und entscheidende Wirklichkeit [sind]. Sie sind die spürbare KoPräsenz von Subjekt und Objekt, ihre aktuelle Einheit, aus der sich ihr unterschiedenes Sein erst durch Analyse gewinnen lässt“.16 Seel schlägt eine Brücke zum Religiösen, wenn er dieses Transzendieren in der ästhetischen Erfahrung eine „mystische Erfahrung [...] in einem rein formalen Sinn“ nennt,17 die im Blick auf den Film unter anderem darin bestehen könne, „Teil der Bewegungsenergie eines Werkes zu sein“.18 In den Interviews war dieser Aspekt der ästhetischen Erfahrung vielfach begegnet: in der Leseerfahrung von Hans, der von der Möglichkeit spricht, „in eine ganz andere Welt einzutauchen“ (Hans), in dem Filmerlebnis von Ute, die berichtet: „man denkt, man sitzt mittendrin,“ (Ute). Die Momente 14 Mersch, Materialität, 37. 15 Seel, Ästhetik, 227. 16 Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, 57. 17 Seel, Ästhetik, 236. 18 Ders., Ästhetik, 246,

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von Transzendenz und Einheit in der ästhetischen Erfahrung verweisen auf das Mystische innerhalb des Religiösen. Auf diese Verwandtschaft war schon angespielt worden. d) Widerfahrende Alterität Eine weiteres Merkmal, das mit dem Transzendenzmoment in Zusammenhang steht und auf das vor allem Dieter Mersch hinweist, ist der Aspekt des Widerfahrnisses und der Alterität.19 Dieses unverfügbare Andere kann eine schon geformte Bestimmtheit haben, es kann aber auch noch ganz unbestimmt sein: als das der Sprache zuvorkommende sich zeigende Ereignis, als das Mysterium der sinnlichen Präsenz des „Dass“, das jedem Sinn oder jeder Symbolisierung vorausgeht. Henriks Erfahrungen mit dem Film Geboren am 4. Juli, der durch seine drastische Darstellung der Gewalt des Krieges selbst zu einer Gewalterfahrung wurde, zeigen, wie ein Film zu einem unerwarteten Widerfahrnis werden kann – hier in einem bestimmten Sinne. e) Schönheit als Stimmigkeit und Sinnerfahrung/Sinnerfüllung „Sinnliche Erkenntnis“, schreibt Gernot Böhme, „hat ihre eigene Form von Vollkommenheit. Sie besteht nicht in analytischer Durchsichtigkeit – ihr Name ist Schönheit“.20 Schönheit ist, das hat die Entwicklung der modernen Ästhetik gezeigt, ein subjektives Empfinden, sie geht, so Thomas Lehnerer, „aus der Lebendigkeit und Freiheit eines inneren Spiels“ hervor, sie ist das Spüren „freier Lebendigkeit“,21 ermöglicht durch das freie Spiel der Reflexionssubjektivität. Dass das Empfinden von Schönheit eine sinnliche Sinnerfahrung ist, die das Religiöse berührt, wird deutlich, wenn Lehnerer konstatiert, Schönheit sei „das Wertvollste, das wir für uns als Subjekte wünschen können: unbedingter und positiver Wert des Subjektiven. Sie ist höchstes, nämlich freies Glücklichsein, theologisch gesprochen: unmittelbar gegenwärtiger Gott“.22 Interpretiert Lehnerer die Schönheitserfahrung theologisch, so findet sich bei Andrea Kern eine Deutung, die „die Lust am Schönen“ als „eine Lust an uns selbst“ interpretiert.23 Schönheitserfahrung ist wohl beides: Erfahrung des freien Zusammenstimmens mit der Welt und mit sich selbst und darin eine sinnliche – nicht diskursive – Sinnerfahrung. Im Rahmen der geführten Interviews findet sich in Henriks Erfahrung mit dem Film Billy Elliot eine solche als sinnerfüllend empfundene Schönheitserfahrung. Der Film Billy Elliot habe ihn zu Tränen gerührt. Er be19 Mersch, Materialität, 403ff. 20 Böhme, Aisthetik, 15. 21 Thomas Lehnerer, Methode der Kunst, Würzburg 1994, 76. 22 Ders., Methode, 75f. 23 Andrea Kern, Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt a.M. 2000, 302.

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schreibt ihn als „tiefgehend“ und „schön“ und erläutert seine Wirkung mit den Worten: „Das ist wahrscheinlich eher die Macht der Bilder, nicht so sehr das Inhaltliche.“ Wesentliche Merkmale der ästhetischen Erfahrung, wie sie in ihren aktuellen theoretischen Beschreibungen vorliegen, sind damit genannt: Unsagbarkeit, Gegenwart, Zweckfreiheit, Unterbrechung, Selbstwahrnehmung, Transzendenz, Alterität, Widerfahrnis, Schönheit, Sinnerfüllung. Innerhalb der ästhetischen Erfahrung lassen sich mit Martin Seel zudem mehr korresponsive, kontemplative oder imaginative Modi unterscheiden.24 1.1.1.3 Religiöse Erfahrung Religiöse Erfahrung liegt auf jeden Fall dann vor, wenn Erlebtes mit Hilfe religiöser Semantik interpretiert wird. Die Spezifik der religiösen Erfahrung scheint vor allem durch die Spezifik ihrer Deutungskategorien gekennzeichnet. Im Blick auf die Differenzen von ästhetischer und religiöser Erfahrung formuliert Wilhelm Gräb: „Die Empfindungszustände, auf die die ästhetischen oder religiösen Deutungskategorien angewandt werden, sind immer vorsprachlicher Natur. Sie sind nur subjektiv zugänglich, individuell, nicht mitteilbar. Erst die Anwendung der Deutungskategorien lässt ästhetische und religiöse Erfahrung als allgemeine, mitteilbare Erfahrung zustande kommen. Insofern kann man auch sagen: was als ästhetische oder religiöse Erfahrung gilt, ist wesentlich das Resultat ästhetischer und religiöser Kommunikation, des Austauschs entsprechender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster.“25 Charakteristisch für religiöse Deutungsmuster im engeren Sinne ist ihr Transzendenzbezug. Geht es in der ästhetischen Erfahrung um die Aufmerksamkeit für die sinnliche Wahrnehmung des Anwesenden, so in der religiösen Erfahrung gerade für die Dimension des zugleich Abwesenden, des Transzendenten. Auch die religiöse Erfahrung kennt darum das Moment der Unsagbarkeit, der Undarstellbarkeit. Aber aus anderen Gründen als die ästhetische Erfahrung, jedenfalls auf den ersten Blick. Ist es im Ästhetischen die Besonderheit des Bedingten, die sich nicht auf den Begriff bringen lässt, so in der religiösen Erfahrung die Unbedingtheit des Unbedingten, die Transzendenz des Transzendenten. Gott ist unsagbar, weil das Unendliche in keinem Endlichen aufgeht, weil das Unbedingte in keinem Bedingten zur Darstellung kommen kann. Die Sprache bewegt sich am besten im Zwischenraum: zwischen der Unsagbarkeit der amorphen Präsenz von sinnlicher Besonderheit und der Unsagbarkeit der abstrakten Abwesenheit von transzendenter Unbedingtheit. 24 Vgl. auch Seel, Ästhetik, 150ff. 25 Wilhelm Gräb, Kunst und Religion in der Moderne. Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung, in: Herrmann/Mertin/Valtink (Hg.), Gegenwart, 57–72, 67.

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Hinsichtlich der Spezifik des Transzendenzbezuges zeigen sich allerdings innerhalb der aktuellen Religionstheorien deutliche Differenzen. Drei Positionen lassen sich unterscheiden: 1. Der Transzendenzbezug muss in traditioneller religiöser Semantik ausgesagt sein und eine transzendente Wirklichkeit meinen. 2. Der Transzendenzbezug wird als Bezugnahme auf die Idee des Unbedingten verstanden. 3. Der Transzendenzbezug ist subjektiv bestimmt als das, was je subjektiv unbedingt angeht und einen letzten Sinn verkörpert. Die erste Position vertritt Matthias Jung, wenn er schreibt: „Anonyme religiöse Erfahrung kann es jedoch prinzipiell nicht geben, weil Identifizierung in den Symbolen einer religiösen Tradition zu ihren begrifflichen Merkmalen zählt.“26 Jung bestimmt die religiöse Erfahrung weiterhin „durch einen Modus der Ausdrucksbildung [...], in dem die Bezugnahme auf das Ganze der Wirklichkeit eine entscheidende Rolle spielt. Wo religiöse Erfahrung vollzogen wird, entscheiden sich Subjekte durch interpretative Wahlen für solche symbolischen Transformationen ihres zuständlichen Bewusstseins, in denen eine das Subjekt übergreifende Realität und damit dessen eigene Endlichkeit anerkannt wird. Was sich formal als eine Erzeugung von Prägnanz durch Wahl konkreter symbolischer Formen darstellt, muss inhaltlich als Anerkennung einer nicht erzeugten, sondern vorgefundenen Realität verstanden werden. Ein religiöser Modus von Erfahrung liegt demnach immer dann vor, wenn Subjekte in reflexiver Distanzierung vom Vollzug ihres eigenen Lebens diejenigen Ausdrucksgestalten als gültig präferieren, die dieses Leben durch Bezugnahmen auf eine letzte Realität interpretieren. Während sich die totalisierende Kraft ästhetischer Erfahrung, wie ich in Anlehnung an Dilthey sagen möchte, den imaginativen Synthesen der produktiven oder rezeptiven Einbildungskraft verdankt, sind religiöse Erfahrungen totalisierend, weil sich ihr Subjekt in ihnen als Teil einer transsubjektiven, unüberbietbaren Realität deutet und anerkennt.“27 Eine deutlich differente Position vertritt Ulrich Barth, wenn er formuliert: „Religion – ihrem allgemeinsten Wesen nach – ist Deutung der Welt im Horizont der Idee des Unbedingten.“28 Man könnte hier von einer Subjektivierung sprechen: das Unbedingte wird nicht mehr als „transsubjektive, unüberbietbare Realität“ gedacht, sondern eben als Idee von Subjekten. Die dritte Position wird von Thomas Luckmann und den funktionalen Religionstheoretikern eingenommen. Wichtig ist hier allein die subjektive Bedeutsamkeit. Die Letztinstanzlichkeit von Sinnhorizonten wird weder 26 Jung, Erfahrung, 396. 27 Ders., Erfahrung, 387. 28 Barth, Dimensionen, 77.

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daran gemessen, ob ihnen eine letzte Realität außerhalb des Subjektes entspricht, noch daran, ob die religionsphilosophischen Unbedingtheitskriterien für die Idee des Unbedingten erfüllt sind. Kriterium ist allein, was für das Subjekt von lebensorientierender und darum letzter Relevanz ist. Es geht um seine letzten Gedanken. Luckmann kann individuelle Religiosität darum auch als „individuelles System ‚letzter‘ Relevanzen“ fassen, das die „Grundlage der persönlichen Identität bildet“.29 Die funktionale Betrachtungsweise Luckmanns stellt ganz auf die Erfüllung der subjektiven Sinnbedürfnisse ab, kommt ohne Bezüge zur kirchlichen Religionskultur aus und beinhaltet darum das Konzept der unsichtbaren oder impliziten Religion. Von impliziter religiöser Erfahrung lässt sich also dann sprechen, wenn Sinnperspektiven zur Debatte stehen, die lebensorientierende Funktionen erfüllen. Die funktionale Betrachtungsweise sieht dabei vollständig von der Frage der Referenzialisierbarkeit religiöser Sinnperspektiven ab. Darauf, dass existenzielle Betroffenheit durch Deutungen nicht von ihrer Referenz abhängt, weist im Übrigen auch die Erfahrung von Medienrezipienten hin, die sich einerseits im Modus des „Als ob“ ganz auf eine Medienerzählung einlassen können, darin mitfühlen und mitfiebern können als folgten sie einer ‚wahren‘ Geschichte, auf der anderen Seite aber zugleich wissen, dass es sich ‚nur‘ um eine Medienerzählung handelt. Die existenzielle Tiefe der Erfahrung wird durch das Wissen um die Konstruiertheit der Erzählung offenbar nicht gemindert. Die von Martin Seel vorgeschlagene Unterscheidung von mehr korresponsiven, kontemplativen oder imaginativen Modi ästhetischer Erfahrung scheint mir nun wie weiter oben schon angedeutet auch auf die religiöse Erfahrung anwendbar, geht es doch dabei ebenfalls um Akzentuierungen hinsichtlich der Zeitstruktur menschlichen Existierens, die für jede Art von Erfahrung Gültigkeit besitzt: im kontemplativen Modus ist die Aufmerksamkeit ganz auf die Gegenwart des Hier und Jetzt ausgerichtet, im korresponsiven auf die Korrespondenzen zwischen dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden und seiner Geschichte, im imaginativen Modus auf die noch offene Zukunft. Im Blick auf die christliche Tradition lässt sich dementsprechend zuordnen: korresponsiv auf die Lebenserfahrung bezogen ist das Evangelium mit seiner Erzählung von der erlösenden Transformation einer entfremdeten Schöpfung, als imaginativ orientiert können Gleichnisse und Visionen vom kommenden Gottesreich gelten, als kontemplativ die auf die Gegenwart des Göttlichen konzentrierte Mystik. Im Folgenden wird eine Dimension der religiösen Erfahrung genauer betrachtet: die mystische Erfahrung. Sie scheint mir der ästhetischen Erfah29 Luckmann, Religion, 118.

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rung in vielerlei Hinsicht am nächsten, obwohl sie in der Regel mit einer Innenorientierung verbunden ist. Darauf verweist schon das Wort Mystik. Es hat griechische Wurzeln und geht auf das Verb „myein“ zurück, was so viel bedeutet wie: ‚die Augen schließen‘.30 Innenschau statt Außenschau. Was zeichnet die mystische Erfahrung im Kontext der religiösen Traditionen weiterhin aus? Mystik ist zunächst ein vielfältiges Phänomen. Gershom Scholem konstatiert: „Es gibt keine Mystik an sich, sondern nur Mystik von etwas, Mystik einer bestimmten religiösen Form: Mystik des Christentums, Mystik des Islam, Mystik des Judentums und dergleichen.“31 Gleichwohl lassen sich einige Grundstrukturen skizzieren, die sich in den verschiedenen religionskulturellen Kontexten identifizieren lassen. a) Einheit/Transzendenz/Sinn/Schönheit Das vielleicht zentralste Merkmal der mystischen Erfahrung ist ihr Einheitsaspekt.32 In der „Unio mystica“ verschmilzt der Mystiker mit dem Göttlichen. Die mystische Einheitserfahrung selbst ist ihrerseits eingebettet in einen Prozess der Vorbereitung, der durch Übungen der Selbstentäußerung und Askese auf die durch vollkommene Passivität gekennzeichnete Gottesbegegnung zuläuft. Die Einheitserfahrung der Unio ist zugleich eine Erfahrung von Gotteserkenntnis, von Sinnerfüllung und Schönheit.33 b) Selbstwahrnehmung Die Einheit mit dem Göttlichen wird in der Mystik zugleich als die Einheit mit sich selbst erfahren. Saskia Wendel hat versucht, diese auch in der ästhetischen Erfahrung beobachtete Gleichzeitigkeit von gesteigerter Alteritätserfahrung und Selbsterfahrung in einer Definition des Mystischen zum Ausdruck zu bringen. Sie schreibt: Mystik ist eine besondere Form der Erkenntnis meiner selbst und darin zugleich des Anderen meiner selbst, insbesondere des absolut Anderen meiner selbst. Dieses absolut Andere meiner selbst wird jedoch zugleich als das Innerste meiner selbst und damit als das Nicht-Andere meiner selbst erlebt. Jenes ‚nicht-andere Andere‘ bzw. ‚andere Nicht-Andere‘ trägt im monotheistischen Kontext den Namen ‚Gott‘.34

30 Vgl. Louis Bouyer (1949): ‚Mystisch‘ – Zur Geschichte eines Wortes. In: Das Mysterium und die Mystik. Beiträge zur Theologie der christlichen Gotteserfahrung, hg. v. Josef Sudbrack, Würzburg 1974, 57–75. 31 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1957, 6. 32 Vgl. Alois M. Haas, Was ist Mystik? In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg.v. Kurt Ruh, Stuttgart 1986. 319–341, 319f. 33 Wendel, Mystik, 27ff. 34 Dies., Mystik, 14.

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c) Reinigung Reinigung und Selbstentäußerung sind eine notwendige Bedingung für die mystische Unio. Dionysius Areopagita, der um das Jahr 500 verortete Vater der mystischen Theologie des Christentums, rät Timotheus, dem Adressaten seines Traktates „Über die mystische Theologie“: Lass nicht ab, Dich den geheimnisvollen Betrachtungen hinzugeben. Den Sinneswahrnehmungen gib (auf diese Weise) ebenso den Abschied wie den Regungen Deines Verstandes; was die Sinne empfinden, dem (entsage) ebenso wie dem, was das Denken erfasst, dem Nichtseienden ebenso wie dem Seienden. Statt dessen spanne Dich auf nicht-erkenntnismäßigem Wege, soweit es irgend möglich ist, zur Einung mit demjenigen hinauf, der alles Sein und Erkennen übersteigt. Denn nur wenn Du Dich bedingungslos und uneingeschränkt Deiner selbst wie aller Dinge entäußerst, wirst Du in Reinheit zum überseienden Strahl des göttlichen Dunkels emporgetragen, alles loslassend und von allem losgelöst.35

Seine Vorstellung vom Weg der Entäußerung erläutert Dionysius am Beispiel des Mose. Er schildert ihn als idealen Mystiker, der sich auf seine Gottesbegegnung auf dem Berg Sinai durch Reinigung vorbereiten muss, ehe er die Stätte Gottes schauen und schließlich mit ihm vereint werden kann. Diese bei Origines schon angedeutete Dreistufigkeit des mystischen Weges von Reinigung, Erleuchtung und Einung bildet seit Dionysius eine Grundfigur mystischer Theologie.36 Dem Aspekt der Reinigung und Selbstentäußerung als Voraussetzung für das mystische Erkennen hat, fast ein Jahrtausend später, Meister Eckhart besondere Aufmerksamkeit gewidmet. „Abgeschiedenheit“ ist sein Schlüsselwort für den Zustand der Distanznahme und Entleerung, der die Gotteserfahrung allererst ermöglicht.37 „Erleiden“ ist auf dem Weg zur Eckhartschen „Gottesgeburt“ in der Seele „höchstes Wirken“: „Und so, in dieser Weise, musst du dich aller deiner Betätigungen entschlagen und alle deine Kräfte zum Schweigen bringen, wenn du wirklich diese Geburt in dir erfahren willst.“38 Die Selbstentäußerung ist dabei zwar Voraussetzung, nicht aber Garantie für das Gottfinden. Es gibt nach Eckhart kein Rezept für die mystische Gotteserfahrung.39

35 Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die mystische Theologie und Briefe, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994, Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 40, 74–89, 74. 36 Vgl. Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Freiburg/Basel/Wien 1994, 255f. 37 Vgl. Meister Eckhart, Die deutschen Werke, hg. von Josef Quint, Bd. V., Stuttgart 1958ff, 400, 2–401, Bd. 10, 412, 4 (hinfort: DW mit Band-, Seiten- und Zeilenzahl). 38 Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. von Josef Quint, München 1963, 431, 26–30. 39 Vgl. Haas, Mystik, 353.

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Um die Notwendigkeit der Passivität und des Loslassens zu veranschaulichen, bedient sich Eckhart auch ästhetischer Kategorien. Er formuliert: Soll mein Auge die Farbe sehen, so muss es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht, dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge, und ein Sehen und Erkennen und ein Leben.40

c) Gegenwart Eine weitere zentrale Kategorie der mystischen Erfahrung ist Gegenwart. Der Mystikforscher Bernard McGinn hält Gegenwart sogar für die gegenüber Einheit „zentralere und angemessenere Kategorie, um den gemeinsamen Nenner in der Vielfalt christlicher Mystik zu erfassen.“41 Texte christlicher Mystik zeugten von einem unmittelbaren Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Diese Gegenwart wird auch als Einbruch der Ewigkeit in die Zeit beschrieben. Paradoxe Formeln wie Eckharts Rede vom „ewigen Nun“42 versuchen, diesen Sachverhalt in Worte zu fassen. d) Zweckfreiheit Eng verknüpft mit dem Gegenwartsaspekt ist die Zweckfreiheit der mystischen Erfahrung. Sie ist Selbstzweck und damit höchster Wert. Sie befreit dadurch von der „Kaufmannschaft“ weltlichen Denkens wie Eckhart es ausdrückte.43 e) Unsagbarkeit Einig sind sich die Mystiker darin, dass sich die mystische Erfahrung nicht vollständig in Sprache übersetzen lässt.44 „Denn je mehr wir zum Höheren hinstreben, um so mehr ersterben uns die Worte“, stellt Dionysius fest und führt aus: „Ist das Ende jeden Aufstiegs erreicht, wird unsere Rede vollends verstummen und mit dem ganz eins werden, der unaussprechlich ist“.45 Schweigen ist die letzte Konsequenz dieser Vereinigung, negative Theologie für Dionysius die Darstellungsform, die ihr am nächsten kommt. Unsagbarkeit, Zweckfreiheit, Gegenwart, Reinigung, Selbstwahrnehmung, Schönheit, Sinnerfüllung und Einheit sind die wichtigsten Strukturmerkmale der mystischen Erfahrung.

40 DW I, 201, 2–5. 41 McGinn, Mystik, 16. 42 DW I, 34, 2. 43 Zit. n. Kurt Ruh, Meister Eckhart, Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, 191f. 44 Vgl. McGinn, Mystik, 16f. 45 Dionysius Areopagita, Theologie, 78.

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1.1.1.4 Gemeinsamkeiten ästhetischer und religiöser Erfahrung Insbesondere der Vergleich der Skizzierungen zentraler Merkmale ästhetischer und mystischer Erfahrung unterstreicht die schon durch die empirischen Analysen deutliche gewordene Verwandtschaft der Erfahrungsformen: Ästhetische wie religiöse Erfahrungen sind durch Momente von Unsagbarkeit, Gegenwart, Zweckfreiheit, Unterbrechung, gesteigerte Selbstwahrnehmung, Transzendenz und Sinnerfüllung gekennzeichnet. Die Nähe der Erfahrungsformen ist wiederholt schon beobachtet worden. In zusammenfassender Weise hat sie unlängst Ulrich Barth dargestellt.46 Barth führt aus: „Alle an der ästhetischen Erfahrung aufgewiesenen Erlebnisstrukturen, ihr Sinnerfüllungs-, Unterbrechungs-, Transzendierungs- und Widerfahrnischarakter haben eine Entsprechung im Bereich der expliziten Religion. Dies ist auch kaum anders zu erwarten, denn es hatte sich gezeigt, dass sie bereits innerhalb der ästhetischen Sphäre durchweg religiöse Konnotationen mit sich führen, wenn auch in unterschiedlichem Maß.“47 Barth spricht auch von „tiefgreifenden Strukturisomorphien [...], die in Form wechselseitiger Funktionsäquivalenzen zur Geltung kommen“.48 Diese Beschreibung verdeutlicht, dass religiöse und ästhetische Erfahrung aus der Sicht eines funktionalen Religionsverständnisses kaum unterscheidbar sind, ja, dass man sie als unterschiedlich akzentuierte Theoretisierungen identischer Phänomene betrachten kann. Ästhetische Erfahrungen können religiöse Funktionen der Unterbrechung, Sinnvermittlung und Transzendierung erfüllen. Deutlich ist auch, dass ein solcher funktionaler Begriff von impliziter Religiosität auf ganz bestimmten Religionszuschreibungspraktiken beruht, die wiederum von „bestimmten Diskursräumen, von bestimmten Aussage- und Verstehensgewohnheiten“ abhängen.49 Begriffsbestimmungen sind grundsätzlich, darauf weist Rolf Schieder im Anschluss an Foucaults Diskurstheorie hin, immer auch Positionierungen in Diskursräumen und durch diese bestimmte Perspektiven der Betrachtung. So kann man statt von impliziter Religiosität auch von individueller Weltsicht oder eben auch von ästhetischer Erfahrung sprechen. Man verschiebt damit die Positionierung im Kosmos der Diskursräume und entfernt sich von dem Interesse und der Perspektive, Kontinuitäten zwischen der kirchlich-traditionellen und der außerkirchlichen Religionskultur aufzuzeigen, gemeinsame Fragestellungen und strukturell ähnliche Antworten: äquivalente Funktionen. 46 Ulrich Barth, Religion und ästhetische Erfahrung, in: Klaus-M. Kodalle/Anne M. Steinmeier, Subjektiver Geist. Reflexion und Erfahrung im Glauben. FS zum 65. Geburtstag von Traugott Koch, Würzburg 2002, 103–126. 47 Barth, Erfahrung, 120. 48 Ders., Erfahrung, 125. 49 Rolf Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a.M. 2001, 80.

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1.1.1.5 Differenzen ästhetischer und religiöser Erfahrungen Differenzen scheinen mir vor allem in zwei Bereichen vorzuliegen: im ethischen Anspruch des Religiösen und in seiner Tendenz, Erfahrungen im Horizont großer Transzendenzen zu interpretieren. Insbesondere den letzten Gesichtspunkt stellt Ulrich Barth als zentrale Differenz im Rahmen seiner Verhältnisbestimmungen der beiden Erfahrungsformen heraus: „Die ästhetische Erfahrung ist grundsätzlich an das Sehen und Hören und damit an sinnliche Medien gebunden. Die Bedeutungswelten der Kunst verkörpern gleichsam eine Transzendenz in der Immanenz. Demgegenüber sind die Symbole und Repräsentationsformen der Religion zwar auch nicht frei von sinnlichen Momenten, jedoch ist das religiöse Bewusstsein sich dieser Inadäquatheit voll und ganz bewusst. Es weiß, dass es hier nur durch einen Spiegel schaut, dass es seinen Schatz nur in irdischen Gefäßen besitzt, dass es mit Dingen befasst ist, die kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat. Gegenüber der ästhetischen Erfahrung pocht das religiöse Bewusstsein zu Recht auf die eigene konsequente Fassung des Transzendenzgedankens. In der Religion ist das der menschlichen Vernunft eigentümliche Vermögen der Selbsttranszendierung gleichsam zu sich selbst gelangt.“50 Barth kann auch sagen, dass die zentralen Merkmale ästhetischer Erfahrung „innerhalb der expliziten Religion in gesteigerter Form wiederkehren“.51 Es geht nicht nur um Transzendierung, sondern um große Transzendenzen. Da, wie Barth angemerkt hatte, auch Religion nicht ohne Sinnlichkeit auskommt, sind beide Erfahrungsdimensionen verschränkt: Die sinnliche Erfahrung von immanenter Transzendenz eröffnet die Möglichkeit, große Transzendenz zu denken. Man könnte religiöse Erfahrung im engeren expliziten Sinne insofern als mit Hilfe religiöser Semantik gedeutete ästhetische Erfahrung interpretieren. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass die in der ästhetischen Erfahrung enthaltene Erfahrung immanenter Transzendenz eine Voraussetzung für das Verständnis religiöser Erfahrung im engeren expliziten Sinne darstellt. In der Perspektive eines weiten funktionalen Begriffes von Religion ist eine Abgrenzung beider Erfahrungsformen kaum möglich: Sofern ästhetische Erfahrungen existenzielle Sinnbedürfnisse erfüllen, lässt sich von Religion sprechen. Ästhetische und religiöse Erfahrungen gehen, so wird einmal mehr deutlich, ineinander über und ihre Qualifizierung ist eine Frage der Lesart. Dass die Übergänge fließend sind, solange man die Erfahrungsformen nicht durch die Bezugnahme auf konkrete religiöse Traditionen abgrenzt, haben auch die empirischen Analysen gezeigt. Denn im Blick auf die drei hervorgehobenen thematischen Schwerpunkte der Medienreligiosität der 50 Barth, Erfahrung, 124f. 51 Ders., Erfahrung, 125.

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befragten Personen – Kontingenzbewältigung (sowohl im negativen als Verarbeitung anhand von Beispielen wie auch im positiven Sinne als imaginative Stimulation), ästhetische Lebenssteigerung („nichttheologische Transzendenz“), authentisches Leben – lässt sich sagen, dass sie Dimensionen von Medienerfahrungen benennen, die sich sowohl im Rahmen der Kategorie ästhetischer Erfahrung wie auch im Kontext von religiöser Erfahrung beschreiben lassen. Differenzen werden vor allem im Hinblick auf die entsprechenden Topoi der christlichen Religionskultur deutlich. Denn wenn man, wie oben schon angedeutet, diese drei Motive den inhaltlich korrespondierenden traditionellen Topoi zuordnet – die Kontingenz vorrangig der Schöpfungs- und Sündenthematik, die ästhetische Lebenssteigerung der präsentischen Eschatologie und der Mystik und das authentische Leben dem Reich Gottes – so wird noch einmal deutlich, dass in der Medienreligiosität eine radikale Verdiesseitigung stattgefunden hat. Die orientierenden Sinnhorizonte sind auf das hier und jetzt gelebte Leben und seine realistischen Möglichkeitshorizonte fokussiert. Man könnte interpretieren: In der Medienreligion hat eine Schwerpunktverlagerung der vorherrschenden Transzendenzspannweiten von den großen Transzendenzen auf mittlere Transzendenzen stattgefunden. Auf Schicksalsschläge antwortet die Medienreligion nicht unter Bezugnahme auf Gott, sondern mit Talkshows und Filmen, die von Menschen erzählen, die Schicksalsschläge zu bewältigen hatten. Auf die Frage nach der Zukunft seines Lebens antwortet die Medienkultur einem Jugendlichen nicht mit der Rede vom kommenden Reich Gottes, sondern mit Filmen, deren vorbildhafte Figuren sein mimetisches Begehren anreizen, oder mit Büchern, die seine Einbildungskraft für die vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten menschlichen Lebens öffnen. Auf die Frage nach dem im Hier und Jetzt möglichen Glück antwortet die Medienreligion nicht mit der Antizipation eines jetzt schon anbrechenden Gottesreiches, sondern mit der ästhetischen Intensivierung der Wahrnehmung für die Gegenwart des mir gegebenen Lebens. Es würde den Rahmen dieser Studie sprengen, das Verhältnis von Medienreligion und traditionellem Christentum im Einzelnen näher bestimmen zu wollen. Grundsätzlich müsste es sich wohl um ein wechselseitig kritisches Verhältnis handeln. Wichtig zu sehen ist dabei, dass Verdiesseitigung nicht eine Annullierung des Transzendenzbezuges meint, sondern nur eine Verlagerung seiner Wahrnehmung auf mittlere Spannweiten. Die Frage ist also, wie der Transzendenzbezug wahrgenommen wird. Der Sachverhalt der Transzendenzbezogenheit menschlicher Existenz selbst ist unstrittig. Er gehört zu den anthropologischen Grundstrukturen menschlichen Daseins. Und um deren Wahrnehmung geht es nach wie vor nicht zuletzt in der Medienreligion: um das Verhältnis zum Transzendenten und Unverfügbaren, zu dem mir transzendenten Ereignis Leben, seiner sinnlichen Präsenz, seiner Schöpfungsmacht und seinen Destruktionskräften, seinen potentiellen 343

Möglichkeiten und seinen unverrückbaren Grenzen. Die Spannweite des Horizontes der Wahrnehmung dieser Bezüge ist in der heutigen Medienkultur nur weitaus stärker als früher von mittleren Reichweiten bestimmt. Es sind die „Wahrheitsbücher“, die von ähnlichen Schicksalen wie dem eigenen handeln, die Patrick helfen, die negative Kontingenz seiner Erkrankung zu bewältigen. Und Felix träumt bei seinen Romanlektüren lieber von den 1000 Möglichkeiten des Lebens als von einem jenseitigen Gottesreich. Kontingenzbewältigung vollzieht sich hier unter Bezugnahme auf mittlere Transzendenzen. Ich denke, dass Rortys Charakterisierung des Bedürfnisses von Romanlesern als vorrangigem Streben nach Form und weniger nach Transzendenz die Frage des Verhältnisses von ästhetischer und religiöser Erfahrung darum zu einseitig auflöst. Denn die Romanleser wollen sich ja gerade in der Form des Romans selbst transzendieren, wollen ihr Leben im Spiegel eines Romans reflektieren können, im Kontext einer transsubjektiven Form, eines größeren Sinnzusammenhanges, der die menschlichen Probleme von Gelingen und Scheitern in einer Weise reflektiert, die ästhetisch fasziniert, die spannend ist, die die Imagination anzuregen, aber auch dem eigenen Scheitern einen Ort zu geben vermag, eingebettet in einen Kontext grundsätzlicher Anerkennung bzw. theologisch gesprochen Rechtfertigung. Vermutlich ist der Aspekt der Form für einen Romanleser bedeutsamer als für einen Leser religiöser Erbauungsliteratur. Aber es handelt sich hier um Akzente. Ein schlecht geschriebenes Erbauungsbuch wird ebenso wenig geschätzt wie ein Roman, der als bloß formale Spielerei daherkommt. Das selbstvergessene Eintauchen in die Welt eines Romans oder eines Erbauungsbuches hat in beiden Fällen religiöse wie ästhetische Züge. Resümierend lässt sich sagen: aus der Sicht eines funktionalen Religionsbegriffes verhalten sich ästhetische Erfahrung und explizite religiöse Erfahrung wie implizite und explizite religiöse Erfahrung zueinander. Darum trifft es zu, wenn Ulrich Barth bemerkt, dass das Kunsterleben „das Gespür für das Religiöse wieder zu wecken“ vermöge.52 Möglicherweise ist dieser Zusammenhang nicht nur als Option, sondern vielmehr als Notwendigkeit zu verstehen: ästhetische Transzendierungserfahrungen als Voraussetzung für einen Zugang zum religiösen Transzendenzgedanken. Ästhetische Erfahrungen haben dabei den Vorteil, dass sie das Gespür für Religion aufgrund ihrer Sinnlichkeit erfahrungsnah zu wecken vermögen. Und sie enthalten darüber hinaus eine spezifische Erfahrungskomponente, die es erlaubt, an den Plausibilitätsproblemen expliziter Religion zu arbeiten: die Erfahrung der Grenze von Sprachlichkeit. Diese Erfahrung, die auf der Unsagbarkeit der ästhetischen Erfahrung von sinnlicher Besonderheit beruht, lässt sich auf die traditionelle religiöse Semantik anwenden: 52 Barth, Erfahrung, 125.

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auch explizit religiöse Sprache ist nur ein Versuch, etwas zur Sprache zu bringen, was im Letzten unsagbar ist.

1.2 Für die Theorie der Kirche Die Überlegungen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung hatten ergeben, dass ein wesentliches Differenzmoment in der konsequenteren Fassung des Transzendenzgedankens im explizit ChristlichReligiösen besteht. Vor diesem Hintergrund und im Blick auf die unsichtbare Religion der Medien lässt sich grundsätzlich sagen: Die religiöse Kommunikation der Kirche als Gemeinschaft der in ihrer Religionspraxis auf die christliche Religionskultur in bestimmten konfessionellen Ausprägungen bezogenen Subjekte kann medienreligiösen Erfahrungen einen Deutungshorizont eröffnen, der die Transzendenzdimension der unsichtbaren Medienreligion in spezifisch christlicher Weise ausdrücklich macht und auf den Begriff bringt. Unsichtbare Medienreligiosität und christliche Religiosität im kirchlich-traditionellen Sinne wären also wie implizite und explizite Religiosität aufeinander bezogen. Aus dieser Verhältnisbestimmung lässt sich schon eine wesentliche Schlussfolgerung der Untersuchung für die Kirche und die von ihr gepflegte Religionspraxis ableiten: Medienreligion und kirchliches Christentum sind aufeinander verwiesen. Diese Verwiesenheit kann analog zur wechselseitigen Angewiesenheit von Wahrnehmung/Erleben und Deutung/Artikulation innerhalb von Erfahrung verstanden werden: Die Spezifik christlich-kirchlicher Kommunikation kann Dimensionen medienästhetischen Erlebens auf einen explizit religiösen Begriff bringen. Die individuelle medienreligiöse Erfahrung kann dadurch an spezifischer und gesellschaftsöffentlicher Prägnanz und kritischer Bewusstheit der Artikulation gewinnen. Der Gewinn aus der Perspektive der Kirche besteht in ihrer Bezogenheit auf die vielfältige Phänomenalität medienkulturell vermittelter Religiosität: auf die gelebte Religion der Zeitgenossen in ihrer ganzen phänomenalen Breite. Und dass medienkulturell vermittelte Religiosität nicht nur ein theoretisches Postulat darstellt, sondern ein empirisch nachweisbares Phänomen ist, haben die Analysen der vorliegenden Studie deutlich machen können. Sie unterstreichen damit einmal mehr die auch in der praktischtheologischen Kirchentheorie der letzten Jahre angemahnte Notwendigkeit einer stärkeren Bezugnahme kirchlicher Praxis auf die gelebte Religion der Subjekte innerhalb und außerhalb der Institution Kirche.53 Die solcherma53 Vgl. u.a. Drehsen, Volkskirche; Gräb, Lebensgeschichten, 79–99; Hans-Georg Ziebertz, Religion, Christentum und Moderne. Veränderte Religionspräsenz als Herausforderung, Stuttgart/

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ßen auf den religionskulturellen Wandel reagierende praktisch-theologische Kirchentheorie kann sich nicht mehr auf die innerkirchliche Religionspraxis beschränken. Sie ist herausgefordert, ihr Blickfeld für das gesamte Spektrum der individuellen wie der gesellschaftsöffentlichen Religionspraxis zu öffnen bzw. zu erweitern.54 Ausgangspunkt für den Aufbau der Praktischen Theologie kann darum in dieser Perspektive nicht die Kirchentheorie sein, sondern nur eine allgemeine Theorie der Religionspraxis. Aufgrund des eingangs beschriebenen religionskulturellen Wandelns rückt die individuelle Religionspraxis ins Zentrum einer so verstandenen Praktischen Theologie. Vor dem Hintergrund dogmatisch-ekklesiologischer Ausrichtungen innerhalb der Praktischen Theologie bedeutet dies eine Verschiebung der Perspektive: Im Mittelpunkt steht nun das religiöse Subjekt und seine Praxis, nicht das System Kirche. Man könnte von einem Wechsel von einer deduktiven von dogmatisch-ekklesiologischen Bestimmungen ausgehenden Perspektive zu einer induktiven am Individuum orientierten Perspektive in der praktisch-theologischen Kirchentheorie sprechen.55 Eine zentrale mit dieser Verschiebung der Perspektive einhergehende Problemstellung ist die Frage nach dem Verhältnis von kirchlicher und außerkirchlicher Religionspraxis.56 Martin Kumlehn hat überzeugend dargelegt, dass diese Verhältnisbestimmung nicht durch den einfachen Rückgriff auf ein dogmatisches Kirchenverständnis erfolgen kann, sondern dadurch, dass dogmatischekklesiologische und religionsempirische Vorstellungen von Kirche und christlicher Religionspraxis durch die Orientierung an einer Wesensbestimmung des Christlichen miteinander vermittelt werden.57 Diese Wesensbestimmung des Christlichen müsse, so Kumlehn, das Christliche im Rahmen einer allgemeinen Religionstheorie beschreiben können und dabei sowohl das allgemein Religiöse als auch das spezifisch Christliche deutlich werden lassen.58 Das spezifisch Christliche komme in solchen Überlegungen durch die christliche Tradition und die auf sie bezogenen Deutungskategorien der christlichen Dogmatik ins Spiel. Sein strukturelles Hauptmerkmal sieht Kumlehn in der ausdrücklich gemachten „Dialektik von Berlin/Köln 1999; Martin Kumlehn, Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Kirchentheorie, Gütersloh 2000, 11ff. 54 Vgl. Rössler, Grundriss, 89ff; Gert Otto, Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986, 21f. 55 Von einem Perspektivenwechsel spricht auch Henning Luther: „Anstatt dass die einzelnen Subjekte aus der Perspektive des Ganzen (der Kirche) betrachtet werden, soll Praktische Theologie das Ganze (Religion, Kirche) aus der Perspektive der (betreffenden) Subjekte wahrnehmen“, vgl. ders., Religion, Subjekt, Erziehung. Grundbegriffe der Erwachsenenbildung am Beispiel der Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls, München 1984, 295. 56 Diese Fragestellung hat Martin Kumlehn prägnant formuliert und bearbeitet, vgl. ders., Kirche, 32. 57 Ders., Kirche, 33–49. 58 Ders., Kirche, 219ff.

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Darstellen und Transzendieren“, in einer religionskulturellen Praxis also, die ihre Symbolisierungen im ausdrücklichen Wissen um deren Vorläufigkeit gebraucht.59 Die kirchentheoretischen Ausführungen von Martin Kumlehn konvergieren mit den oben formulierten Überlegungen zum Verhältnis von Medienreligiosität und explizit christlicher Religiosität. Dieses Verhältnis kann ein Blick auf das Interview mit Lukas weiter erläutern. Lukas spricht im Zusammenhang seiner Äußerungen über den Roman Naokos Lächeln davon, dass der besagte Roman ein schönes Buch gewesen sei, „weil es mich motiviert hat, auch einfach so ja zu sagen, auch wenn, ich entscheid mich halt für ’s Leben“. Ich hatte diese Einstimmung in eine lebensbejahende Haltung durch den Roman von Haruki Murakami in der empirischen Analyse als eine implizite Rechtfertigungserfahrung gedeutet. Mit anderen Worten: Im Kontext kirchlicher Kommunikation lässt sich diese Erfahrung im Horizont reformatorischer Rechtfertigungstheologie interpretieren. Diese Interpretation stellt zum einen die Erfahrung der Lebensbejahung in einen spezifisch christlichen Kontext und situiert sie im Horizont großer Transzendenz (das Unbedingte als Quelle des Bejahtseins), zum anderen vermag sie aber auch erst verständlich zu machen, welche Art von Erfahrung Wort und Sakrament im Raum der Kirche mit spezifisch christlicher Prägnanz artikulieren und zugleich eröffnen können. Das strukturelle Ineinandergreifen von Erleben und Artikulation, das Erfahrung als je spezifische konstituiert, weist dabei darauf hin, dass Dimensionen des Erlebens durch Artikulation verstärkt, eröffnet oder auch verschlossen werden können, dass darum der Deutung von medienreligiösen Erfahrungen im Kontext des traditionellen Christentums eine erschließende Kraft zukommen kann. Vorausgesetzt ist bei dieser Betrachtungsweise immer eine Religionstheorie, die Medienreligion und kirchliche Religion in einem grundsätzlichen Kontinuitätsverhältnis sieht und die Differenzmomente beider Sphären in der Spezifik ihrer symbolischen Artikulationen erblickt. Die vorliegende Untersuchung betont erneut die Notwendigkeit der Vernetzung beider Sphären im Kontext kirchlicher Praxis. Denn sie hat deutlich werden lassen, dass eine durchschnittliche Stichprobe junger Erwachsener mit einer vorwiegend distanzierten Kirchenbindung ihre lebensorientierenden Sinnperspektiven an erster Stelle aus der Auseinandersetzung mit den symbolischen Welten heutiger Medienkultur beziehen. In loser Anknüpfung an eine bekannte Formulierung Kants ließe sich zugespitzt sagen: Ohne Rekurs auf die Lebensanschauungen heutiger Medienkultur bleiben die religiösen Begriffe der kirchlichen Religionskultur leer.60 Ohne diese Begriffe, so 59 Ders., Kirche, 234. 60 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg.v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1963, 98.

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wäre umgekehrt zu formulieren, bleibt die medienreligiöse Anschauung wiederum in bestimmter Hinsicht oftmals (nicht immer) blind – blind vor allem für die transzendente Dimension des Unbedingten und ihres kritischen Potentials gegenüber allen Versuchen der Aufladung von Bedingtem mit Unbedingtheit. Die Kirche hat mithin die Funktion, ein gesellschaftsöffentlicher Ort zu sein, an dem die Thematik des Religiösen in christlicher Spezifik paradigmatisch Gestalt gewinnt. Die Kirche bildet insofern einen kritischen Leitfaden für die religiöse Orientierung und eine notwendige kulturelle Ressource und Umwelt für die religiöse Selbstbildung der Individuen. Sie deutet die unsichtbare Religion der Medien im Horizont großer Transzendenz und verweist dabei zugleich kritisch auf die Vorläufigkeit aller religiösen Deutungsvollzüge und Symbolisierungen. Die Spezifik der Symbolbestände des Christentums protestantischer Prägung, seine Traditionen und sein Kirchenverständniss bringen darüber hinaus weitere Differenzierungen und Konkretionen mit sich, die mit den Stichworten Sozialität, Öffentlichkeit und Politik angedeutet werden können. Die real existierende Kirche ist eben nicht nur Ort religiöser Kommunikation und Gemeinschaft in der Erfahrung des Gottesdienstes, in der Teilhabe am Sakrament und in der Hoffnung auf das Reich Gottes, sie ist zugleich Institution unter Institutionen und steht damit im Kontext von Sozialität, Öffentlichkeit und Politik. In diesem Kontext hat sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen eklatanten Bedeutungsverlust erfahren und ihre vormalige Monopolstellung auf dem Markt der Sinnanbieter verloren. Der schon eingangs (2.1.1) beschriebene Verlust dieser Stellung wird sich kaum revidieren lassen. Er steht, so hatte ich dargelegt, im Kontext einer spätmodernen soziokulturellen Entwicklung, die durch Traditionsabbruch, Pluralisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist und die keinen Raum mehr für religiöse Deutungsmonopole lässt. Gleichwohl hängt es von der zukünftigen Gestaltung kirchlicher Praxis ab, ob die Kirche ein bedeutsamer Ort der religiösen Orientierung und Praxis bleiben oder wieder werden kann. Eine wesentliche Herausforderung, auf die die vorliegende Untersuchung erneut und mit Nachdruck hinweist, ist die Offenheit und Zuständigkeit kirchlicher Religionspraxis für die gelebte Religion der Individuen, die nicht an letzter Stelle gelebte Medienreligion ist. In der Sprache der Ökonomie hat eine Kirche, die diese Zuständigkeit wahrnimmt, Ähnlichkeit mit einem Dienstleistungsunternehmen in Sachen Religion.61 Und in der Tat ist die Kirche in ökonomischer Perspektive auch nur eine Akteurin auf den Religionsmärkten der Gegenwart. Der Unterschied zu einem rein ökonomisch ausgerichteten Dienstleistungsunternehmen liegt in der ideellen Zielbestimmung: Die Kirche will Lebenshilfe geben und durch die 61 Vgl. Gräb, Sinn, 252ff.

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Kommunikation des Evangeliums befreiende Sinnperspektiven eröffnen, will, in klassischer Terminologie ausgedrückt, durch ihre Diakonie und ihre Verkündigung im Privaten wie im Gesellschaftlichen Not lindern, religiöse Erfahrungen ermöglichen, Freiheitsspielräume erschließen und Hoffnungsperspektiven eröffnen. Damit sie mit diesen Anliegen eine vernehmbare Stimme im Konzert der Sinnanbieter auf den Religionsmärkten pluraler Demokratien sein kann, muss sich ihre Religionsfähigkeit im Blick auf das Individuum mit einem glaubwürdigen diakonischen Engagement und einer prägnanten Präsenz in der gesellschaftskulturellen Öffentlichkeit verbinden. In einer Mediengesellschaft bedeutet das vor allem, dass die Kirche herausgefordert ist, als offensive Akteurin an der medienkulturellen Öffentlichkeit teilzunehmen. Das personale Zugehen und Eingehen auf das Individuum ist zu ergänzen um eine engagierte Teilnahme an der Konstruktion der medienvermittelten Öffentlichkeit. Nur so kann die christliche Religionskultur als ein in der medienkulturellen Öffentlichkeit präsenter Beitrag zur ethischreligiösen Orientierung von Individuen und Gesellschaften wahrgenommen werden. Dieses öffentliche Engagement der Kirche kann in der Form einer Gottesdienstübertragung wie anlässlich des Seebebens im Dezember 2004 geschehen, in der Form öffentlicher Kommentierungen gegenwartskultureller Phänomene oder auch in der Form öffentlicher Interventionen zu gesellschaftspolitischen Fragen.62 Hier ist Professionalisierung gefordert, aber vor allem auch inhaltliche Kompetenz und Substanz. Technik stößt an Grenzen. Wesentlich ist und bleibt dabei: Medienöffentliche, kirchenöffentliche, schulische oder seelsorgerliche religiöse Kommunikation ist immer durch Personen und deren Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft vermittelt. Rainer Preul konstatiert mit Recht, „dass das eigentliche und ursprüngliche Medium religiöser Kommunikation die menschliche Person in ihrer Leibhaftigkeit ist“.63 Um dieses Medium geht es in der Theorie des religiösen Berufes. 62 Vgl. dazu Rolf Schieder, der die Bedeutung des kirchlichen Beitrags für die Bildung eines zivilreligiösen Werthorizontes von Gesellschaften hervorhebt, ders., Religion, 201ff; über die gesellschaftspolitische Dimension der Kirche gäbe es viel zu sagen, im Rahmen dieser Arbeit muss es bei Andeutungen bleiben, vgl. zum Thema vor allem die einschlägigen an Dietrich Bonhoeffer („Kirche für andere“) und Ernst Lange (Kirche als „Sprachschule für die Freiheit“) anknüpfenden Überlegungen und Publikationen von Wolfgang Huber: ders., Kirche, Stuttgart 1979; ders., Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998. Aus der Perspektive individueller Religiosität wäre ein gesellschaftspolitisches Engagement der Kirche und ihrer Mitglieder auch darum wichtig, weil sich individuelle Religiosität nur unter den Systembedingungen pluralistischer Demokratien frei entwickeln und entfalten kann. Darüber hinaus zielt das christliche Kirchenverständnis natürlich generell und im Interesse aller Menschen auf eine gesellschaftliche Verwirklichung von Solidarität und Freiheit. Die Kirche sieht sich insofern immer auch vor der Aufgabe, zur Humanisierung ihrer gesellschaftspolitischen Umwelt beizutragen. 63 Reiner Preul, Kommunikation des Evangeliums unter den Bedingungen der Mediengesellschaft, in: ders. (Hg.), Kirche und Medien, Gütersloh 2000, 9–50, 11f.

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1.3 Für die Theorie des religiösen Berufs Die Analyse der Medienerfahrungen hat beständig deutlich werden lassen, dass nicht losgelöste Sinnmuster oder freischwebende Gefühle Eindruck auf Rezipienten machen, sondern die sinnliche Anmutung von Subjekten bzw. Figuren und die sich darin vermittelnden Sinnperspektiven und Emotionen. Diese Beobachtung erinnert daran, dass im Sozialen Gleiches gilt und dass darum auch die Gestaltung religiöser Prozesse entscheidend von dem Gesamteindruck bestimmt wird, den die professionellen Religionsvermittler hinterlassen: die pfarramtlich oder religionspädagogisch tätigen Individuen. Es scheint darum sinnvoll, zunächst nach möglichen Konsequenzen der empirischen Befunde für die Theorie des religiösen Berufs zu fragen, bevor einzelne Arbeitsfelder kirchlicher Praxis in den Blick genommen werden. In die angedeutete Richtung weisen im Übrigen auch die Ergebnisse der bisherigen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD, die wiederholt gezeigt haben, wie stark das Verhältnis zur kirchlichen Religionskultur durch Pfarrerinnen und Pfarrer geprägt wird.64 Ihre exponierte Rolle hat dabei einen spezifischen religionskulturellen und religionshistorischen Hintergrund: die fortschreitende Entkirchlichung der Gesellschaft und die protestantische Individualisierung des Religiösen. Beide Entwicklungen arbeiten Hand in Hand: das Amtsverständnis des Protestantismus und der religionskulturelle Wandel. Was im Protestantismus zählt, ist nicht die institutionell verliehene Amtsautorität, sondern die Überzeugungskraft religiöser Subjektivität. Das Amt will ausgefüllt sein: von Personen.65 Dieses Konzept wurde durch den Bedeutungsverlust des institutionellen Christentums noch akzentuiert. Volker Drehsen konstatiert: „Mit wachsender Entkirchlichung verlagerte sich die Ausstrahlung des Christentums auf die personale Präsenz derer, die Religion zum Beruf haben.“66 Dieser Personalisierungstendenz in der Praxis steht ein pastoraltheologischer Diskurs gegenüber, der in den letzten Jahrzehnten ganz unterschiedliche Berufsrollen64 Schon 1974 wurde im Rahmen der ersten EKD-Mitgliedschaftsstudie von Helmut Hild beobachtet: „Die Präsenz von Kirche am Ort reduziert sich immer mehr auf das Pfarramt und sein Handeln. Nur in ihm ist die Kirche vor Ort real erfahrbar. Die Organisation, die hinter dem Pfarramt steht, die Gesamtkirche bleibt abstrakt [...]. In der Erfahrung (sind) [...] Kirche und Pfarrer fast identisch“, Helmut Hild in: ders. (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsumfrage, Gelnhausen, Berlin 1974, 276; vgl. auch die weiteren Untersuchungen: Johannes Hanselmann/Helmut Hild/Eduard Lohse, Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1984; Klaus Engelhardt/Hermann von Loewenich/Peter Steinacker, Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997. 65 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 327ff. 66 Volker Drehsen, Vom Amt zur Person: Wandlungen in der Amtsstruktur der protestantischen Volkskirche. Eine Standortbestimmung des Pfarrberufs aus praktisch-theologischer Sicht, in: IJPT 2, 1998, 263–280.

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konzepte hervorgebracht hat: Sah die Dialektische Theologie den Pfarrer als Zeugen, so wurde er im Zuge der empirischen Neuorientierung der Praktischen Theologie seit den 60er Jahren als Helfer und Kommunikator konzipiert, in Aufnahme der Spiritualitätskonjunkturen konnte er später auch als Mystagoge (Manfred Josuttis) verstanden werden oder im Kontext des Postmodernediskurses als Interpret der Tradition (Albrecht Grözinger) gesehen werden.67 In welchem Licht lassen die Ergebnisse der vorliegenden Analysen seine Rolle erscheinen? Es sind vor allem zwei Ergebniskomplexe der Studie, aus denen sich Konsequenzen für den religiösen Beruf ergeben: zum einen aus den Beobachtungen zur zentralen Bedeutung medienreligiöser Sinnperspektiven im Kontext individueller Religiosität, zum anderen aus den Wahrnehmungen der Erfahrungen mit kirchlichem Christentum. Aus der Tatsache, dass die aktuelle Medienkultur eine zentrale Ressource für die Arbeit an den individuellen Sinnhorizonten 16 junger Erwachsener im Jahr 2003 darstellt, folgt: Wer mit diesen Zeitgenossen in ein Gespräch über existenzielle Sinnfragen eintreten will, sollte nach Möglichkeit über ein Wissen um die Bücher, Filme und Fernsehsendungen verfügen, die ihren Sinnkosmos prägen. Dies gilt auch für die stärker an den Vorgaben der Tradition orientierten pastoraltheologischen Konzepte. Denn auch die Sinnperspektiven der biblischen Tradition werden sich nur im Anschluss an die aktuellen Sinndiskurse der Zeitgenossen verständlich machen und erschließen lassen. Gefordert ist also eine medienkulturelle Zeitgenossenschaft. Eine grundsätzliche Bereitschaft, ein prinzipielles Interesse, am medienkulturellen Zeitgeschehen teilzunehmen, muss als eine Grundvoraussetzung des religiösen Berufes gelten. Eine zusätzliche Bereitschaft, sich dabei jedenfalls zum Teil auch von den Interessen und Vorlieben der jeweiligen Zielgruppen leiten zu lassen, ist wünschenswert. Ein schönes Beispiel dafür, was das konkret bedeuten kann, findet sich in dem Interview mit Henrik. Er konnte im Rahmen seiner Tätigkeit als Sozialarbeiter beobachten, wie bedeutsam bestimmte Fernsehformate wie zum Beispiel die Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten für die Lebensorientierung der von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen sind. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen betrachtet er es als seine berufliche Verpflichtung, solche Sendungen zu verfolgen. Diese Praxis habe ihm die Kommunikation mit seinen Klienten oft erleichtert. Henrik: „Also mir hat es die Arbeit immer leicht gemacht, wenn ich Anknüpfungspunkte hatte.“ Dass diese Erfahrung ohne Weiteres auf das Pfarramt übertragbar ist, liegt auf der Hand. 67 Vgl. Michael Meyer-Blanck/Birgit Weyel, Arbeitsbuch Praktische Theologie. Ein Begleitbuch zu Studium und Examen in 25 Einheiten, Gütersloh 1999, 60ff.

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Einen zweiten in diesem Zusammenhang relevanten Ergebniskomplex bilden die Äußerungen über Erfahrungen mit der kirchlichen Religionskultur, die in den Antworten auf die Frage nach den ethisch und religiös prägendsten biographischen Erfahrungen zur Sprache kamen. Hier sind es vor allem die in der Auswertungskategorie der expliziten Religiosität gesammelten negativen Erfahrungen und kritischen Äußerungen, die zu denken geben. Als typisches grobes Verlaufsmuster der Kirchenbindung war eine anfängliche positive Nähe und eine zunehmende kritische Distanzierung aufgrund negativer Erfahrungen beobachtet worden. Zu den hervorstechendsten Kritikpunkten gehörten dabei: die mangelnde intellektuelle Plausibilität der Inhalte (Felix), die Ausgrenzung von Negativität (Christoph), eine ästhetische Abstoßung (Anna) und die (gefürchtete) Starrheit der Institution (Johanna). Diese nach wie vor sehr ernst zu nehmenden Kritiken am kirchlichen Christentum sind schon häufiger geäußert worden. Weniger geläufig sind zwei Kritiken, die von Klaus und Lukas vorgebracht worden sind. Es geht dabei um die mangelnde Professionalität pastoraler Arbeit und vor allem aber um fehlende religiöse Authentizität, etwa darum, dass die bei der Lektüre empfundene „Wärme“ der Psalmtexte im Gottesdienst nicht spürbar wurde (Klaus), dass der Konfirmandenunterricht emotionslos „wie Mathe“ gewesen sei (Lukas), der Superintendent nicht in der Lage war, religiöse Fragen zu beantworten, die Predigten langweilig waren und generell Menschen gefehlt hätten, „die überzeugen, [...] die Glauben ausstrahlen und leben“ (Lukas). Es wurden Erfahrungen mit authentisch gelebter Religion vermisst, die zur Mimesis hätten Anreiz geben können; es fehlten Vorbilder, die Lust darauf hätten wecken können, ähnlich zu leben und zu sein. Es geht dabei um die religiöse, ethische und nicht zuletzt ästhetische Attraktivität protestantischer Religiosität. Hier zeigt sich noch einmal sehr deutlich, dass Botschaften allein nicht wirklich zu überzeugen vermögen. Vom Pfarrer, von der Pfarrerin wird zu recht mehr erwartet als Traditionskenntniss und religionshermeneutische Kompetenz. Man erwartet die exemplarische Realisierung individueller Religiosität: mimetisch stimulierende gelebte Religion. Wilhelm Gräb formuliert es so: „Der Pfarrer, die Pfarrerin, sie überzeugen um so mehr, je stärker sie ihr Amt individuell so wahrnehmen, dass ein christlich-religiöser Lebensstil, eine gelebte Lebensdeutung, erkennbar wird, denen dann auch seine eigene Lebenspraxis in exemplarischen Situationen entspricht.“68 Das ist natürlich eine Forderung, die weder durch eine bessere Theorie noch durch einzelne Ausbildungsmaßnahmen eingelöst werden kann. Die Praktische Theologie als Theorie der Religionspraxis kann jedoch die 68 Gräb, Lebensgeschichten, 330.

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Wahrnehmung für diese ganzheitliche Dimension des Religiösen schärfen, indem sie noch stärker als bisher die existenziellen, praktischen, leiblichen, performativen und ästhetischen Dimensionen in ihre Theoriearbeit zu integrieren sucht und dadurch auf die Bedeutung der religiösen Selbstgestaltungsarbeit im Blick auf die Ganzheitlichkeit gelebter Religion aufmerksam macht. Gelebte Religion ist mehr als gedachte Religion, auch mehr als gefühlte Religion. Sie verlangt nach ganzheitlicher Realisierung, Ethik und Ästhetik eingeschlossen. Der religiöse Beruf ist mithin weit mehr als ein Job, den man nach dem Feierabend vergessen kann. Er bedeutet eine existenzielle Herausforderung, er beinhaltet einen Anspruch an die religiöse Selbstbildung und ihren exemplarischen Ausdruck. Bezieht man diese Überlegungen noch einmal auf die medienspezifischen Ergebnisse der Fallstudien, so wäre auch die medienreligiöse Dimension in diesen Anspruch an Bildung und Ausdruck einzubeziehen. Man kann wohl vermuten, dass auch die individuelle Religiosität professioneller Religionsvermittler medienreligiöse Anteile hat, dass also mehrheitlich gilt, was Johann Hinrich Claussen im Zusammenhang seiner Ausführungen über Literaturgottesdienste äußert: „Das Lesen von Literatur (ist) immer noch ein Teil meines Glaubenslebens.“69 Das insbesondere an den Pfarrberuf herangetragene Bedürfnis nach dem Beispiel authentisch gelebter Religion würde dann über die medienkulturelle Zeitgenossenschaft hinaus auch das Bedürfnis nach exemplarischem Ausdruck dieser Dimensionen individueller Religiosität einschließen. Pfarrerinnen und Pfarrer könnten hier mutiger sein. Über die eigene medienreligiöse Erfahrung mit einem Roman oder einem Film zu sprechen, bedeutet ja keineswegs, das christliche Bekenntnis aufzugeben. Es ginge vielmehr gerade darum, dass der exemplarische Ausdruck des gesamten Spektrums protestantisch grundierter individueller Religiosität auch exemplarische Verhältnisbestimmungen von kirchlich-konfessioneller Religionskultur und aktueller Medienreligion enthält. Solche zum Ausdruck gebrachten exemplarischen Dialoge zwischen traditionellem Christentum und aktueller Medienreligion könnten unter anderem Predigthörern helfen, in beiden kulturellen Feldern Erschließungserfahrungen zu machen und Kontinuitäten und Transformationsprozesse wahrzunehmen.

69 Johann Claussen, Mit Büchern predigen. Literaturgottesdienste, in: Uta Pohl-Patalong/ Frank Muchlinsky, Predigen im Plural. Homiletische Aspekte, Hamburg 2001, 239–246, 240.

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1.4 Für die Theorie der Predigt Im Blick auf die Predigt legen die Ergebnisse der Fallstudien vor allem zwei Konsequenzen nahe, die an die empirischen und ästhetischen Neuorientierungen der Homiletik seit den 60er bzw. 80er Jahren anknüpfen können. Zum einen ginge es darum, religiös valente Medienerfahrungen in Gottesdienst und Predigt aufzugreifen, zum anderen darum, in produktionsästhetischer Hinsicht von der Ästhetik der Medien zu lernen und das Predigtmachen noch stärker unter ästhetischen Gesichtspunkten zu reflektieren. Der erste Aspekt kann vor allem bei Überlegungen Ernst Langes und seiner Neuorientierung der Predigtaufgabe am Hörer der Predigt im Kontext der empirischen Neuausrichtung der Praktischen Theologie seit den späten 60er Jahren anknüpfen. Ernst Langes 1968 erstmals erschienener Text Zur Aufgabe christlicher Rede gab der damaligen Wende von der Textorientierung der Homiletik unter dem Einfluss der Wort-Gottes-Theologie hin zur Hörerorientierung prägnant Ausdruck. Lange formulierte: „Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrungen und Anschauungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Erfolge und sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal. Ich rede mit ihm über seine Welt und seine Verantwortung in dieser Welt, über die Bedrohungen und Chancen seines Daseins.“70 Relevante Predigt hänge also am Gespräch mit dem Hörer, an der Wahrnehmung seiner Situation, seiner „alltäglichen Wirklichkeit“.71 Diese alltägliche Wirklichkeit wird heutzutage in weitaus stärkerem Maße als noch Ende der 60er Jahre (als zum Beispiel noch längst nicht jeder bundesdeutsche Haushalt über ein Fernsehgerät verfügte!) von Medien bestimmt und durchdrungen. Ihre Sinnperspektiven, so die Fallstudien, bestimmen in starkem Maße die religiös-weltanschauliche Sinnarbeit junger Erwachsener zu Beginn des dritten Jahrtausends. Eine Predigt, die für heutige Hörer relevant sein will, steht darum vor der Aufgabe, die Sinnperspektiven biblischer Texte im Horizont der Sinndiskurse der Gegenwartskultur und damit nicht zuletzt der aktuellen Medienkultur zu entwickeln. Sie muss bei der medienvermittelten Selbstdeutungsarbeit ihrer Rezipienten anknüpfen – und das heißt nicht zuletzt: bei ihren Medienerfahrungen – und die Deutungsperspektiven der christlichen Tradition mehr oder weniger ausdrücklich in diesem Diskursraum zur Sprache bringen. Wichtig ist dabei, dass medienreligiöse und biblische Sinnperspektiven dialogisch und nicht illustrativ oder hierarchisch aufeinander bezogen werden.

70 Ernst Lange, Zur Aufgabe christlicher Rede, in: ders., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgik und Predigtamt, München 1982, 52–67, 58; vgl. zur Aktualität Langes auch Gräb, Lebensgeschichten, 147–169. 71 Ders., Lebensgeschichten, 147ff.

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Was kann das konkret heißen? Zunächst einmal ist es wichtig, dass der Prediger bzw. die Predigerin wahrnimmt, welche Medienwelten die Hörerinnen und Hörer bevorzugen, mit welchen Medien sie leben. Dabei ist es vom sozialen Milieu abhängig, ob die Gespräche eher um den neuen Science Fiction-Film oder um den neuen Roman von Jonathan Franzen kreisen. Der Pfarrer hat es einfacher, wenn das Gemeindemilieu seinem eigenen Milieu entspricht und damit auch seine eigenen Medienvorlieben schon weitgehend auf der Linie seiner Hörer liegen. Im anderen Fall ist mehr ausdrückliches Engagement gefordert, Recherchen in Medienwelten, in die man sich von selbst nicht begeben würde, die aber von denen bewohnt werden, die die sonntägliche Gottesdienstgemeinde bilden. Ist die Voraussetzung einer guten Wahrnehmung der Lebens- und damit auch Medienwelten der Hörerinnen und Hörer gegeben, geht es in einem nächsten Schritt um die Frage, wie diese Welten und Erfahrungen im Kontext von Gottesdienst und Predigt aufgegriffen werden können. Ich denke, man kann grundsätzlich zwei Modelle der Aufnahme von Medienerfahrungen unterscheiden. Naheliegend ist zunächst die Praxis, erzählte Medienerfahrungen an unterschiedlichen Stellen in die Predigt zu integrieren. Szenen und Gedanken aus Romanen, Filmen und Fernsehsendungen können dabei als Einstiege, Vertiefungen, Kontrastierungen, Beispiele oder auch als zentrale Bezugstexte fungieren. Exponierter sind Predigtformen, wie sie im Rahmen von Film- oder Literaturgottesdiensten praktiziert werden. Filme oder Bücher werden dabei noch weitaus stärker als eigenständige Kunstwerke wahrgenommen und inszeniert. Erste Erfahrungen mit Filmgottesdiensten hat Thies Gundlach in Hamburg gesammelt und publiziert. Er hat populäre Filme wie Das Schweigen der Lämmer oder Blade Runner in Ausschnitten auf einer Leinwand oder einem Fernsehmonitor im Gottesdienst gezeigt, dabei jeweils den Zusammenhang des gesamten Films erläutert und im Anschluss an die Präsentationen eine auf den jeweiligen Film bezogene Predigt gehalten.72 Die Predigt sollte keine christliche Vereinnahmung des Films sein, sondern eine Deutung aus christlich-theologischer Sicht, die die religiösen Dimensionen des Films ebenso erschließt wie die Sinnperspektiven der christlichen Tradition. „In der Aufnahme von Hollywoodfilmen in einem Filmgottesdienst steckt“, so Gundlach, „daher die Chance, an die Erfahrungs- und Vorstellungswelt unserer Zeitgenossen anzuknüpfen“.73 72 Thies Gundlach, Bilder, Mythen, Movies. Gottesdienste zu Unterhaltungsfilmen der Gegenwart, in: Pastoraltheologie 83, 1994, 550–563; aktuellere Erfahrungen berichtet: Inge Kirsner, Kino + Kirche = Kathedrale? Filmgottesdienste: Theorie und Praxismodelle, in: Manfred L. Pirner/Thomas Breuer (Hg.), Medien – Bildung – Religion. Zum Verhältnis von Medienpädagogik und Religionspädagogik in Theorie, Empirie und Praxis, München 2004, 230–240. 73 Gundlach, Movies, 557.

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Ähnlich beurteilt Johann Claussen die Möglichkeiten von Literaturgottesdiensten: sie könnten „für einen heilsamen Einbruch von Wirklichkeit in den Gottesdienst sorgen“.74 Claussens Interesse für Literaturgottesdienste wurzelt in eigenen Leseerfahrungen. Seine Äußerungen über diese Erfahrungen können die Bedeutung der religiösen Valenz von Literatur noch einmal pointieren und unterstreichen. Claussen: Für mich waren es – neben anderen Erlebnissen – Leseerfahrungen, die mir die Tür zum Glauben öffneten. Das Lesen gab mir den nötigen Abstand und die erforderliche Einsamkeit für mein religiöses Nachdenken. Als ich als Jugendlicher begann, die ererbte Religion bewusst wahr- und anzunehmen, da trat mir das Christentum als Bücherreligion entgegen. Es waren Bücher, die mich zum Buch der Bücher führten. Romane und Gedichte führten mich in fremde Welten und eröffneten mir unbekannte Horizonte. [...] Ich hatte den Eindruck, dass ich, indem ich in großen Romanen versank, zu mir selbst kam und eine Ahnung davon gewann, was der Grund und das Ziel meines eigenen Lebens sein könnte. [...] Erst über den Umweg dieser Lektüren stieß ich auf die Bibel.75

Claussen benennt diese Erfahrungen als seine Motivation für seine eigenen Experimente mit Literatur im Gottesdienst. Angeregt von der Praxis der Literaturgottesdienste in der Hamburger St. Katharinenkirche hat er ein Modell entwickelt, dass sich durch den Versuch auszeichnet, der Literatur möglichst viel eigenen Raum im Gottesdienst zu geben.76 Der literarische Text soll nicht nur in der Predigt zitiert werden, sondern er soll durch eine ausführliche Lesung einen eigenen Platz in der gottesdienstlichen Gesamtinszenierung erhalten und so gewissermaßen mit eigener Stimme sprechen. Biblische Texte werden ihm gegenübergestellt. Das Modell des Verhältnisses von Literatur und Bibel ist konfrontativ bzw. dialogisch, nicht illustrativ. Der Charakter der jeweiligen Konfrontationen kann dabei sehr unterschiedlich sein: er kann von Dissonanzen und Widersprüchen bestimmt sein, ebenso von Einverständnis und Zusammenklang. Als wichtigste Auswahlkriterien für geeignete Texte nennt Claussen ihre ästhetische und existenzielle Qualität und den persönlichen Bezug des Predigers. Die besonderen Möglichkeiten des Literaturgottesdienstes erblickt Claussen neben dem möglichen Gewinn an Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitsdeutungskompetenz, neben der Auseinandersetzung mit der Pluralität von Weltsichten nicht zuletzt in der Chance, der ästhetischen Dimension der Sprache wieder mehr Raum in Gottesdienst und Predigt zu geben.77 In theologiehistorischer Perspektive sieht Claussen den Literatur74 Claussen, Mit Büchern, 243, vgl. auch ders./Thies Gundlach/Peter Stolt, Den Himmel auf die Erde holen. Literaturgottesdienste, Stuttgart 2001. 75 Claussen, Mit Büchern, 239. 76 Claussen, Mit Büchern, 240ff. 77 Ders., Mit Büchern, 243.

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gottesdienst im Kontext eines aktuellen Interesses am Kulturprotestantismus, einem Trend, der das spannungsvolle Verhältnis von Kultur und Religion erneut auf die Agenda der theologischen Reflexionsarbeit gesetzt hat. Beide hier genannten exponierten Gottesdienstformen, der Literatur- wie der Filmgottesdienst sich sicher kein Modell für den Alltagsgebrauch. Es sind besondere Formen für besondere Gelegenheiten, die zudem eine besonders intensive Vorbereitung erfordern. Der Normalfall einer medienreligiös und medienkulturell aufgeklärten Predigtpraxis wird das begrenztere Aufgreifen von Romanen, Filmen und Fernsehsendungen im Kontext der Predigt sein. Wichtig für beide Formen scheint mir das auch von Claussen betonte dialogische Verhältnis von gegenwartskulturellen und traditionellchristlichen Perspektiven. Dialogisch meint dabei, dass Romane, Filme oder Fernsehsendungen den biblischen Texten nicht untergeordnet werden und nur illustrative oder einführende Funktionen haben – von berechtigten Ausnahmen einmal abgesehen. Die gegenwartskulturellen Medien sollen vielmehr als gleichberechtigte Sinnressourcen wahrgenommen werden, in denen es nicht weniger ernsthaft als in der Bibel um letzte Lebensfragen und deren Reflexion bzw. Beantwortung geht. Zwei Argumentationslinien lassen sich m. E. für diese dialogische Konzeptionierung des Verhältnisses von religiöser Gegenwartskultur und christlicher Tradition neben den schon genannten Argumenten anführen und in Anspruch nehmen. Zum einen kann auf Paul Tillichs Kulturtheologie und ihre praktisch-theologischen Weiterentwicklungen im Rahmen einer empirisch-kulturhermeneutischen Erweiterung der Praktischen Theologie verwiesen werden.78 Zum anderen können die Beobachtungen der vorliegenden Studie ins Feld geführt werden, die gezeigt haben, dass Medienerfahrungen vor allem mit Büchern und Kinofilmen eine ganz zentrale Rolle in der religiösen Sinnorientierungspraxis der befragten jungen Erwachsenen spielen, dass sie in funktionaler Hinsicht den Lebensdeutungen der kirchlich vermittelten christlichen Religionskultur keineswegs nachgeordnet sind. Man würde die religiöse Selbstdeutung der Zeitgenossen nicht ernst nehmen, nicht in ihrer je subjektiven Bedeutsamkeit respektieren, wenn diese Dimensionen individueller Religiosität in der Predigt als nachrangig behandelt würden. Der zweite Impuls, der sich für die Homiletik aus den Fallstudien ableiten lässt, betrifft die ästhetische Dimension der Predigt. Die Beobachtung, dass die Eindrücklichkeit und Nachhaltigkeit von Medienwirkungen ganz wesentlich von der ästhetisch-semantischen Dichte der jeweiligen Medienprodukte abhängt, seien es Filme, Romane oder Fernsehsendungen, ver78 Vgl. Jörg Herrmann, Religion als Substanz der Medienkultur? Anmerkungen zu Tillichs kulturtheologischen Überlegungen, in: Magazin für Ästhetik und Theologie 28, 4/2004, http:// www.theomag.de/28/jh8.htm (30. September 2004).

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weist auf die Bedeutung eben dieser Dimension auch für das ‚Medienprodukt‘ Predigt. Dieser (erneute) Hinweis auf das Ästhetische korrespondiert mit einer verstärkten Wahrnehmung der Bedeutung des Ästhetischen innerhalb der homiletischen Diskussionen seit den 80er Jahren. Man spricht auch von einer „ästhetischen Wende“.79 Einen wichtigen Auftaktimpuls gab ein Beitrag von Gerhard Marcel Martin, der die Predigt 1984 unter Aufnahme rezeptionsästhetischer Überlegungen von Umberto Eco als offenes Kunstwerk interpretierte.80 Die dadurch angestoßene Diskussion der Rezeptionsästhetik innerhalb der Praktischen Theologie bewirkte eine Vertiefung und Erweiterung des Verständnisses der Predigt und ihrer Rezeption, eröffnete der konkreten Predigtpraxis jedoch wenig neue Perspektiven. Dies geschah in stärkerem Maße erst mit einer intensiveren Zuwendung zu den produktionsästhetischen Fragen der Predigt, wie sie unter anderem von Gert Otto im Blick auf die Rhetorik und vor allem von Martin Nicol im Blick auf die Künste in den letzten Jahren vollzogen wurde.81 Nicol plädiert in Anknüpfung an amerikanische Neuansätze in der Homiletik in seiner dramaturgischen Homiletik für ein Verständnis des Predigens als Kunst unter Künsten.82 Nicol konstatiert zunächst: „Weltweit ist der Wechsel zu einem ästhetischen Paradigma zu beobachten“, und fährt fort: „Es wird legitim, der Predigt Einsichten aus dem Bereich der Künste zugute kommen zu lassen. Ich darf Musik hören, Literatur verschlingen, ins Theater gehen, im Kinosessel versinken – und ans Predigen denken. In den USA spricht Walter Brueggemann vom Poeten – und meint die Predigerin oder den Prediger.“83 Wesentliche Einsichten von Nicols Rezeption und Weiterentwicklung der US-amerikanischen Diskussion lassen sich mit den Stichworten Erfahrung, Ästhetik, gestaltete Bewegung und Predigt-Ereignis umschreiben. Zentral ist die Orientierung am Film-Paradigma. Nicol: „Als Predigtparadigma hat der Film die Vorlesung abgelöst.“84 Zwei Aspekte des Films stehen dabei im Zentrum: seine durchkomponierte Dramaturgie und seine sinnliche Bildlichkeit. Von beidem sei für die Gestaltungsaufgabe der Predigt zu lernen. So sei viel mehr Aufmerksamkeit auf den dramaturgischen Aufbau der Predigt zu verwenden und seine Struktur in Analogie zum 79 Vgl. u.a. Frank Thomas Brinkmann, Predig(t)en nach der Wende. Beobachtungen an neuerer Literatur zur homiletischen Theorie und Praxis, in: Pastoraltheologie 90, 2001, 260–271, 261ff. 80 Gerhard Marcel Martin, Predigt als ‚offenes Kunstwerk‘? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: Evangelische Theologie 44, 1984, 46–58. 81 Vgl. Gert Otto, Rhetorische Predigtlehre. Ein Grundriß, Mainz 1999; Martin Nicol, PredigtKunst. Ästhetische Überlegungen zur homiletischen Praxis, Praktische Theologie 35, 2000, 19–24; ders., Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2002. 82 Nicol, Bild. 83 Ders., Bild, 15. 84 Ders., To Make Things Happen. Homiletische Praxisimpulse aus den USA, in: Pohl-Patalong/ Muchlinsky, Predigen, 46–54.

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Filmaufbau als Muster aus „Moves“, „bewegten Einheiten“, zu denken.85 Zur Bildlichkeit sieht Nicol die Predigt außer durch das Film-Paradigma und die kulturelle Dominanz des Visuellen auch durch die Bildlichkeit der biblischen Tradition herausgefordert. Beide Bilderwelten die biblischen wie die gegenwartskulturellen müssten miteinander vernetzt werden, aufeinander bezogen werden, damit die biblische Bilderwelt lebendig, bedeutsam und wirksam werden könne: „Die Sprache des Glaubens verkümmert ohne die Sprache der Welt, und die Texte der Bibel bleiben verschlossen, wenn sie sich nicht vernetzen mit den Bildern, die wir mitbringen. Im Kontext unserer Bilder geraten die Texte der Bibel in Bewegung. Und umgekehrt.“86 Dabei macht es einen Unterschied, wie die verwendeten Bilder im Prozess des Predigens zur Aufführung gebracht werden. Darauf weisen die Erfahrungen mit biblischen Erzählungen hin, von denen Johanna im Interview der vorliegenden Studie berichtet (Johanna). Sie zeigen, dass die Wirkung und Präsenz der Bilder im Kopf der Rezipienten stark von der Qualität ihrer performativen Vermittlung abhängen. Predigt wäre also auch als ein Inkarnationsgeschehen zu reflektieren, bei dem zur Debatte steht, wie gut es gelingt, bestimmte Inhalte nicht nur auszusagen, sondern eben auch in ihrer szenenhaften Ganzheitlichkeit zur ästhetisch gelungenen Aufführung zu bringen: zu ihrer mimetischen Wiederverkörperung, die eine Fortschreibung des mimetischen Prozesses anzustoßen vermag. Das Kriterium der ästhetisch-semantischen Dichte weist auf der Ebene der Medialität von Medienprodukten ebenfalls in diese Richtung. In Aufnahme dieses Kriteriums wird man im Blick auf das Medienprodukt Predigt sagen können, dass es eben nicht zuletzt das enge Aufeinanderbezogensein von Form und Inhalt, von sinnlicher Darstellung und Sinnperspektive ist, das einer Predigt Wirkung verleiht. Vielleicht muss vor diesem Hintergrund noch stärker als bisher danach gefragt werden, ob Allgemeinaussagen auch sinnlich gedeckt sind, ob sie deutend auf Erfahrungen bezogen sind. Diese Überlegungen berühren sich mit den im Theorieteil der Studie schon aufgegriffenen Perspektiven der „Ästhetischen Theologie“ von Klaas Huizing.87 Gegenüber Huizings hoher Meinung von der mimetischen Kraft von Leseerfahrungen („Wiedergeburt durch die Lektüre“),88 wären die Interviewäußerungen von Johanna ein Hinweis auf die Abhängigkeit mimetischer Wirkungen vom Grad der sinnlichen Inszenierung von Erzählungen, Bildern, Figuren und Szenen. Im Rahmen der Predigt ist der Prediger, die Predigerin Darstellerin und Darsteller dieser Inszenierung. Sie erfordert mehr oder weniger schauspielerische Fähigkeiten von ihm oder ihr. Orientiert sich also die Erarbei85 Nicol, Bild, 108ff. 86 Ders., Bild, 67. 87 Huizing, Mensch. 88 Ders., Mensch, 23.

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tung der Predigt mit guten Argumenten am Film-Paradigma, so ist die Theorie ihrer konkreten Aufführung an das Theater-Paradigma verwiesen. Dieser Bezug und seine Bedeutung für die Homiletik wird von Nicol und anderen Homiletikern ebenfalls reflektiert. Er könnte aber noch weit stärker erkundet und ausgearbeitet werden. Hier wäre von den Theaterwissenschaften und den Überlegungen zu einer Ästhetik des Performativen noch einiges für die Predigt zu lernen.89

1.5 Für die Theorie des Religionsunterrichtes Bei den im Zusammenhang der Homiletik schon angesprochenen empirischen und religiös-ästhetischen Neuorientierungen handelt es sich um generelle Trends des praktisch-theologischen Diskurses, die auch für die Religionspädagogik gelten und deren Plausibilität von den Ergebnissen der vorliegenden Fallstudien auch im Blick auf religionspädagogische Fragestellungen unterstrichen wird.90 Ein aktuelles Thema, das im Unterschied zur homiletischen Diskussion in den religionspädagogischen Diskursen der letzten Jahre im Fokus der Aufmerksamkeit stand, ist die Problematik der Multireligiosität. Dabei ging es zunächst um die religiöse Pluralisierung im traditionellen Sinne des explizit Religiösen, vor allem um die durch Migration und Globalisierung zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule.91 Die die Prozesse von Pluralisierung, Individualisierung und Privatisierung begleitende Verflüssigung der Religion ins Religiöse, das Unsichtbarwerden von Religion in medienreligiösen und kulturellen Transformationsprozessen wird dabei erst in letzter Zeit in die Überlegungen aufgenommen. Hans-Georg Ziebertz beschreibt die damit verbundenen Herausforderungen und Aufgaben für die Religionspädagogik: 89 Vgl. dazu unter anderem Doris Kolesch, Die Spur der Stimme. Überlegungen zu einer performativen Ästhetik, in: Cornelia Epping-Jäger u.a. (Hg.), Medien/Stimmen, Köln 2003, 263–277; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. 90 Vgl. zur empirischen Wende: Klaus Wegenast, Die empirische Wendung in der Religionspädagogik, in: Der Evangelische Erzieher, Heft 20, 1968, 111–125; zur ästhetischen Wende: Peter Biehl, Religionspädagogik und Ästhetik, Jahrbuch für Religionspädagogik 5, 1988, 3–44; die neueren Entwicklungen der Ästhetik des Performativen einbeziehend: Thomas Klie, Performativer Religionsunterricht. Von der Notwendigkeit des Gestaltens und Handelns im Religionsunterricht, URL: http://www.rpi-loccum.de (12. August 2004); zur Ästhetik als generellem Trend: Albrecht Grözinger, Wahrnehmung als theologische Aufgabe. Die Bedeutung der Ästhetik für Theologie und Kirche, in: Herrmann/Mertin/Valtink, Gegenwart, 307–319. 91 Vgl. u.a. Friedrich Schweitzer, Rudolf Englert, Ulrich Schwab und Hans-Georg Ziebertz, Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik. Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, Bd. 1, Gütersloh, Freiburg 2002; Johannes Lähnemann, Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive, Göttingen 1998; Karl Ernst, Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2, Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998.

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Es wird zunehmend darum gehen, ‚strukturbildend‘ zu arbeiten, das heißt, solche Kommunikationsmilieus zu stiften, in denen lebenspraktische Fragen und Sinnsuche mit substanzieller Religion zusammenkommen können [...]. Der Rekurs auf substanzielle Religion allein reicht dazu heute nicht mehr hin. Dies verlangt von Theologinnen und Theologen eine hermeneutische Kompetenz, die sie befähigt, ‚Grenzgänger‘ zu sein. Es geht um die Kompetenz, zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘, zwischen christlichen Traditionsbeständen, individualisierten Religionsstilen und allgemeinen Mustern von Kulturreligiosität zu oszillieren und Zusammenhänge herzustellen mit dem Ziel, zu religiöser Wahrnehmung, zu religiösem Sprechen und Urteilen und – unter günstigen Bedingungen – zu einer Glaubensentscheidung zu kommen.92

Dieses ‚Oszillieren‘ wird in der Regel als Dialog verstanden.93 Im evangelischen Religionsunterricht geht es dabei um einen Dialog zwischen dem evangelischen Verständnis traditionellen Christentums und dem breiten Spektrum religiöser Orientierungen vom Buddhismus bis hin zur Medienreligion. Zur theoretischen Reflexion dieser Wechselgespräche gehört auch der erst begonnene Dialog mit der Medienpädagogik.94 Erste Schritte einer stärkeren Medienorientierung innerhalb der Religionspädagogik sind seit den späten 90er Jahren zu verzeichnen.95 Die Ergebnisse der vorliegenden Fallstudien geben Anlass, diesem Bereich generell noch weit mehr Aufmerksamkeit zu widmen: Mediensozialisation, so haben die Fallstudien gezeigt, ist heute zugleich religiöse, ethische und weltanschauliche Sozialisation, sie erreicht die Subjekte auch dort noch, wo Institutionen längst keinen Einfluss mehr haben. Zu berücksichtigen wäre dabei auch die Literatur, die im Kontext der aktuellen Mediendebatten gern vernachlässigt wird, 92 Hans-Georg Ziebertz, Grenzen des Säkularisierungstheorems, in: Schweitzer/Englert/ Schwab/Ziebertz, Entwurf, 51–74, 74. 93 Wolfram Weiße, „Dialogischer Religionsunterricht.“ Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Vom Monolog zum Dialog. Ansätze einer dialogischen Religionspädagogik, Münster/New York/ München/ Berlin ²1999, 5–32. 94 Vgl. auch die Einschätzung von Manfred L. Pirner, Medienpädagogik und ethisch-religiöse Bildung, in: Theo-Web-Wissenschaft. Zeitschrift für Theorie der Religionspädagogik, 2. Jg. 2003, Heft 1, www.user.gwdg.de/~theo-web/Theo-Web/wissenschaft_03-1.htm, 16, (6. August 2004); ders./ Thomas Breuer (Hg.), Medien – Bildung – Religion. Zum Verhältnis von Medienpädagogik und Religionspädagogik in Theorie, Empirie und Praxis, München 2004. 95 Vgl. u.a. Inge Kirsner/Michael Wermke (Hg.), Gewalt – Filmanalysen für den Religionsunterricht, Göttingen 2004; Ingo Reuter, Medienethik im Religionsunterricht. Überlegungen zur Hermeneutik religiöser Bildung im Spiegel einer Unterrichtsreihe in der Oberstufe, in: Evangelische Theologie 63, Heft 6, 449–467; Manfred Tiemann, Jesus comes from Hollywood. Religionspädagogisches Arbeiten mit Jesus-Filmen, Göttingen 2002; Manfred L. Pirner, Fernsehmythen und religiöse Bildung. Grundlegung einer medienerfahrungsorientierten Religionspädagogik am Beispiel fiktionaler Fernsehunterhaltung, Frankfurt a.M. 2001; Andreas Mertin/Hartmut Futterlieb, Werbung als Thema des Religionsunterrichts, Göttingen 2001; Inge Kirsner/Michael Wermke (Hg.), Religion im Kino. Religionspädagogisches Arbeiten mit Filmen, Göttingen 2000; Andreas Mertin, Internet im Religionsunterricht, Göttingen 2000; ders., Videoclips im Religionsunterricht. Eine praktische Anleitung zur Arbeit mit Musikvideos, Göttingen 1999.

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die aber, so zeigen die empirischen Analysen, in den Medienbiographien junger Erwachsener zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine weitaus bedeutendere Rolle spielt, als es die gängigen Abgesänge auf die Gutenberg-Galaxis und gleichzeitigen Beschwörungen des Visuellen glauben machen. Zur religionspädagogischen Arbeit mit Literatur ist schon lange nichts Überzeugendes mehr publiziert worden.96 Fernsehen und Internet sind, wenn auch noch zu wenig, auf der religionspädagogischen Agenda. Zum Film existieren mittlerweile sogar schon einige Titel. Man beginnt dem Sachverhalt, dass Spielfilme insbesondere in der Jugendphase und im frühen Erwachsenenalter, so das Ergebnis der Fallstudien, eine zentrale Rolle als Ressourcen individueller Sinnarbeit spielen, auch in der Religionspädagogik Rechnung zu tragen. Der Film eignet sich dabei in besonderer Weise für den religionspädagogischen Kontext: seine mimetische Wirkung ist im Jugendalter – das hat die Empirie erneut deutlich gemacht – besonders stark und Spielfilme sind zugleich und vermutlich nicht zuletzt deshalb bevorzugte Medien Jugendlicher.97 Ich will mich darum im Folgenden auf einige Bemerkungen zur Arbeit mit Filmen im Kontext religiöser Bildung beschränken. Was kann und soll die religionspädagogische Arbeit mit Filmen bringen? Zunächst einmal lässt sich mit Filmen kritisch-begleitend an die medienreligiöse Sozialisation Jugendlicher anknüpfen, an ihre Erfahrungshorizonte, ihre Sinnsuche. Dass nur auf diesem Weg das wirkliche Interesse der Schülerinnen und Schüler geweckt werden kann, belegt auf pointierte Weise eine Äußerung von Anna über ihren Religionslehrer im Gymnasium: Der hat eben das Feld Religion erweitert um solche Fragen nach Transzendenz und Sinn und Suchen und ist quasi erst auf Umwegen auf das Christentum wieder zurück gekommen. Er hat also erst später mit uns über die Dinge gesprochen, wie Bergpredigt oder so. Wir haben relativ wenig mit der Bibel gearbeitet, aber eben in so einem weiten Sinn uns mit Religion auseinander gesetzt, auf eine Weise, die mir zum ersten Mal das Gefühl gegeben hat, dass ich tatsächlich mich damit auseinander setzen möchte. Den haben wir eigentlich alle ziemlich vergöttert.

Ein solcher Unterricht, der, ohne sich anzubiedern, „das Feld der Religion erweitert um solche Fragen nach Transzendenz und Sinn“ nicht zuletzt im Kontext der Medienerfahrungen von Schülerinnen und Schüler, wird die Defizite vermeiden können, die Stefan im Rückblick auf seinen Deutsch96 Von einigen Aufsätzen anlässlich des Booms der Harry Potter-Bücher einmal abgesehen, vgl. u.a. Martin Morgenroth, Der Harry-Potter-Zauber. Ein Bestseller als Spiegel gegenwärtiger Privatreligiosität, in: Pastoraltheologie 90, Heft 3, 2001, 66–77; Corinna Dahlgrün, Harry Potters Trivialreligiosität. Kritische religionspädagogische Anmerkungen zu einem Bestseller, in: Pastoraltheologie, 90, Heft 3, 2001, 78–87. 97 Barthelmes/Sander, Freunde, 111ff, 140ff.

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unterricht in die Worte fasst: „Das fand ich völlig belanglos, das hat mich nicht ausgedrückt.“ Ein konfessionell gebundener Unterricht wird, am besten offenbar auf Umwegen, dann aber auch wieder auf den Kontext des traditionellen Christentums zurückkommen. Wenn das generelle Ziel des evangelischen Religionsunterrichts dabei in der religiösen Selbstbestimmung und Selbstbildung aufgrund einer aus evangelischer Perspektive geschulten religiösen Kommunikations- und Urteilsfähigkeit besteht, in der Förderung religiöser Kompetenz also, ginge es im Blick auf den Film um ein Oszillieren zwischen christlicher Religionskultur und moderner Filmkultur, um die wechselseitig kritische Wahrnehmung traditionell-christlicher und filmkulturellmedienreligiöser Sinnperspektiven zur Förderung der erstrebten Urteilsfähigkeit.98 Erfahrungs- und Dialogorientierung würde auch hinsichtlich der Arbeit mit Filmen im Unterricht bedeuten, dass sie nicht nur eine illustrative Rolle spielen dürften, sondern dass an und mit ihnen mindestens ebenso intensiv gearbeitet werden sollte wie an biblischen Texten. Hier geht es um die schon im Zusammenhang der Ausführungen über Film- und Literaturgottesdienste erörtere Frage der Verhältnisbestimmung von christlicher Religionskultur und aktueller Medienkultur. Wie in Gottesdienst und Predigt wäre dem Film auch in religionspädagogischen Verwendungszusammenhängen genug Raum und Stimme zu geben: ein gleichberechtigter Platz als Medium religiösen Ausdrucks unter anderen. Diese Überlegungen konvergieren mit den Entwicklungen der einschlägigen religionspädagogischen Fachdiskussion. Auch hier hat eine Akzentverschiebung von der Mediendidaktik im Sinne eines instrumentellen Medieneinsatzes im Interesse bestimmter Lernziele hin zu einer medien- und religionspädagogischen Thematisierung von Medieninhalten und Medienerfahrungen stattgefunden.99 Medien sollten in diesem Sinne nicht nur Mittel der Vermittlung sein, sondern selbst Gegenstand des Unterrichtes. Der Unterricht bekäme schon allein dadurch, dass man dem Film wirklich Raum gibt, eine große Erfahrungs- und Gegenwartsnähe und eine ästhetische Qualität, deren Fehlen so oft beklagt wird. Die Auswahl der Filme sollte sich an der Zielgruppe des Unterrichts orientieren, Ziel ist schließlich die religiöse Bildung der Subjekte, die Förderung ihrer religiösen Kompetenz und damit die Unterstützung ihrer religiösen Selbstbildung. Zur religionspädagogischen Praxis gehört darum wie zur homiletischen Praxis eine medienkulturelle Zeitgenossenschaft, die in diesem Fall über die eigenen Horizonte der Unterrichtenden hinausreichen muss.

98 Vgl. Pirner, Fernsehmythen, 342f. 99 Vgl. ders., Religiöse Mediensozialisation?, 11, 21.

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Die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler zu stärken, kann allerdings auf der anderen Seite auch nicht bedeuten, ausschließlich ihren Interessen zu folgen und nur solche Filme zu zeigen und zu besprechen, die sie selbst sehen wollen. Unterricht bedeutet immer auch: Vorgaben, Konfrontationen, Auseinandersetzungen mit Anderen und Anderem, Bildung am anderen Bild, Faszination oder Erschütterung durch bisher ungesehene Bilder. Religionspädagogik bewegt sich insofern in der Spannung zwischen dem Aufgreifen von Schülererfahrungen und der Erschließung von Neuem, von Horizonterweiterungen, zwischen der Hermeneutik des schon Bekannten und der Irritation und Inspiration durch das Neue. Dieses konfrontative Moment, man könnte auch von einem Alteritätsmoment sprechen, bezieht sich dabei auf beide hier zur Debatte stehenden Bereiche: auf den Film ebenso wie auf die christliche Religionskultur. Mit dem beständigen Abspielen der jeweiligen Lieblingsfilme wäre zu wenig zu gewinnen. Horizonterweiterung, mimetische Stimulation durch Vorbilder, die sich in der eigenen Lebens- und Medienwelt zunächst einmal nicht finden, Eröffnung von neuen Einsichten, lebt auch vom Fremden, vom nicht schon Gekannten und zur Genüge Erforschten. Der Film eignet sich gerade dafür, so war in den Fallstudien deutlich geworden, besonders gut: aufgrund seines präsentativen Charakters mutet er Weltausschnitte in konkreter sinnlicher Gestalt zu, Weltverdichtungen, die in ihrer gegenständlichen Konkretheit immer Momente des Nichtidentischen behalten. Im Blick auf das filmkulturelle Spektrum würde das bedeutet, dass auch solche Filme in den Unterricht integriert und in ihm zugänglich gemacht werden sollten, die nicht den jeweiligen Mainstream repräsentieren. Ein differenziertes Sensorium für filmische und religiöse Qualität lässt sich schließlich nur entwickeln, wenn das zugängliche Spektrum über die dominierenden populären Titel hinaus erweitert wird, wenn auch andere Filme gezeigt und bearbeitet werden, als die, die gerade mit großformatigen Anzeigen beworben werden, Filme etwa aus dem Bereich des sogenannten Arthouse-Kinos, aber auch Klassiker und Meisterwerke der Filmgeschichte. Damit würde ein ästhetisches und religionskulturelles Gegengewicht gegen die Komplexitätsreduktionen des populären Films geschaffen und die Wahrnehmung im Blick auf Komplexitäten, Ambivalenzen und Zwischentöne erweitert. Dies scheint mir gerade in einer Zeit wichtig, in der die Gefahr der Wahrnehmungsverengung größer geworden ist, weil kein Kanon mehr eingefordert wird und den Sinnorientierungsschwierigkeiten in pluralen Kontexten zugleich oftmals durch Rückzug begegnet wird. Die Fallstudien von Hans und Anna lassen vermuten, dass hier zum Teil auch auf ein ästhetisches Interesse am Medium gesetzt werden kann, ein Interesse, dass vielfältig erweitert und religiös, ethisch und weltanschaulich vertieft werden kann. 364

Grundsätzlich lässt sich auch im Blick auf den Film zwischen expliziter und impliziter Religion unterscheiden, zwischen Filmen also, die religiöse Motive und Traditionen aufgreifen und gestalten und Filmen, die von letzten Lebensfragen handeln, ohne sich dabei auf religiöse Traditionen zu beziehen. Das Medium Film kann darum gewissermaßen auf beiden Seiten stehen, auf der Seite der Schüler, ebenso aber auch auf der Seite der Tradition: Jesusfilme wie Pasolinis Das Evangelium nach Matthäus, Denys Arcands Jesus von Montreal oder auch Mel Gibsons Die Passion Christi können dazu dienen, die Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition zu inszenieren, Filme wie Cast Away – Verschollen, Titanic oder Terminator 2 können helfen, die kritische Reflexion der unsichtbaren Religion des Kinos und seiner Gemeinde zu betreiben. Eine an der Begleitung religiöser Selbstbildungsprozesse orientierte Religionspädagogik wird im einen wie im anderen Fall die Interpretationen der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellen und von ihnen ausgehend weitere Horizonte erarbeiten und die Erörterung von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen moderner Filmkultur und christlicher Tradition so für die individuelle Sinnorientierung fruchtbar machen. Im schulischen Kontext stellt sich dabei das Problem der Präsentation. Aufgrund ihrer Länge sind Spielfilme kaum unterzubringen, erfordern mindestens eine Doppelstunde, oftmals sogar noch mehr Zeit. Es muss also immer wieder auch mit Ausschnitten und Kurzfilmen gearbeitet werden. Leichter lassen sich Filme in der außerschulischen Erwachsenenbildungsund Gemeindearbeit im Rahmen von Filmabenden, Filmgesprächen, Filmseminaren und Filmreihen einsetzen.100 Eine gute Möglichkeit besteht auch in der Kooperation mit lokalen Kinos. Hier lassen sich Brücken zwischen der kulturellen Öffentlichkeit und der Kirche bauen.

1.6 Für die Theorie der Seelsorge Im Bereich der Seelsorge hat in den letzten Jahrzehnten eine erhebliche Ausdifferenzierung stattgefunden. Die katholische Theologin Doris Nauer kommt in ihrer Übersicht über gegenwärtige Seelsorgekonzepte auf 29 Ansätze und fügt diesen selbst noch einen 30. hinzu.101 Zu Recht also der

100 Vgl. dazu die eigenen Erfahrungen der Zusammenarbeit mit einem Kino: Jörg Herrmann, „Götter auf der Durchreise“ – Hamburger Dialoge zwischen Kirche und Kino, in: epd Film, Heft 5, 1998, 6f; außerdem: Stefan Wolf, ‚Dialog‘ als Leitbild evangelischer Filmarbeit in der Gemeinde, in: Pastoraltheologie 90, Heft 3, 2001, 103–117. 101 Doris Nauer, Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart 2001.

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Titel einer anderen neueren Publikation: „Seelsorge im Plural.“102 Lassen sich in dieser Vielfalt gemeinsame Trends erkennen? Gibt es Entwicklungen, an die anzuknüpfen die Ergebnisse der vorliegenden Analysen in besonderer Weise nahe legen? Zunächst gilt im Vergleich mit den bisher erörterten Feldern: auch in der Theorie der Seelsorge hat es eine empirische Wende gegeben. Sie ist mit der Rezeption der amerikanischen Seelsorgebewegung Ende der 60er Jahre verbunden.103 Eine dem homiletischen und religionspädagogischen Diskurs vergleichbare Neuorientierung an der Ästhetik hat in der Seelsorgetheorie bisher jedoch nicht stattgefunden. Dieses Faktum hat sicher unter anderem damit zu tun, dass die Gestaltungsanteile in der seelsorgerlichen Praxis weniger greifbar und konkret sind und dass die seelsorgerliche Haltung – jedenfalls eine therapeutisch orientierte – durch ein zuhörendes Zurückgenommensein gekennzeichnet ist. Im Vergleich mit der Predigt und dem Unterricht findet in der Seelsorge die stärkste Orientierung am Subjekt des Ratsuchenden statt. Seine Probleme und Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt. Ihn möglichst genau und umfassend wahrzunehmen, hat Priorität. Vor diesem Hintergrund wird allerdings auch schnell deutlich, dass mindestens ein Aspekt der Ästhetik auch in der Seelsorge von unmittelbarer Relevanz ist: der Aspekt des Aisthetischen, der sinnlichen Wahrnehmung. Dieser Aspekt ist denn auch, wenngleich nicht in erster Linie im Kontext ästhetischer Reflexionskategorien, in jüngerer Zeit verstärkt aufgegriffen worden, etwa von Elisabeth Naurath in ihrer Dissertation Seelsorge als Leibsorge.104 Wahrnehmung ist sinnliche Wahrnehmung und hat darum eine primäre ästhetische Qualität. Dass die Gesprächsführung des Seelsorgers diese Qualität in produktionsästhetischer Hinsicht ebenfalls hat, dass das Verstehen von menschlichen Problemlagen und das Führen eines Seelsorgegespräches eine kreative Aufgabe von hoher Komplexität ist, ist hingegen ein in der Seelsorgetheorie noch wenig beachtetes Thema. Die heutige Diskussion wird nach wie vor hauptsächlich von therapeutischen an der Psychotherapiekultur orientierten Ansätzen und von einigen wenigen stärker am Religiösen oder Traditionell-Christlichen orientierten Entwürfen bestimmt.105 Man könnte also sagen, dass die empirische Orientierung, die mit der Rezeption der amerikanischen Seelsorgebewegung begann und in der Grün102 Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky (Hg.), Seelsorge im Plural. Perspektiven für ein neues Jahrhundert, Hamburg 1999. 103 Vgl. Dietrich Stollberg, Therapeutische Seelsorge. Die amerikanische Seelsorgebewegung. Darstellung und Kritik, München 1970. 104 Elisabeth Naurath, Seelsorge als Leibsorge. Perspektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge, Stuttgart/Berlin 2000. 105 Eine neuere Gegenposition zum therapeutischen Haupttrend formulierte: Manfred Josuttis, Segenskräfte. Potentiale energetischer Seelsorge, Gütersloh 2000.

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dung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) Anfang der 70er Jahre bald auch einen institutionellen Niederschlag fand, immer noch anhält. Die Bedeutung der Seelsorge im Konzert der kirchlichen Angebote hat dabei in den letzten Jahrzehnten eher zugenommen. Umfragen zeigen, dass die Seelsorge eine größere Akzeptanz hat als andere kirchliche Angebote.106 Zudem ist die Seelsorge im Kontext der Kasualpraxis in Zeiten rückläufigen Gottesdienstbesuchs zunehmend zu einer zentralen kommunikativen Schnittstelle pastoraler Arbeit zwischen der Kerngemeinde und ihrem Umfeld geworden. Dabei erwartet man vom Seelsorgegespräch keine biblische Unterweisung. Vielmehr gilt, was Karl-Wilhelm Dahm schon 1971 als Resümee empirischer Untersuchungen formulierte: „Nach neueren kirchensoziologischen Erhebungen richten sich Interesse und Erwartungen der Kirchenmitglieder [...] nicht so sehr auf theologische Fragen im engeren Sinne [...]; theologische Fragestellungen interessieren vielmehr im Zusammenhang eigener Lebensprobleme, sogenannter Sinnfragen und persönlicher Daseinsorientierung.“107 Generell sei dem Funktionsbereich der helfenden Begleitung in Krisensituationen und an Knotenpunkten des Lebens mehr Bedeutung zugewachsen.108 Vor allem der Seelsorge also. Ihr Grundverständnis hat sich seit der Rezeption der Seelsorgebewegung in den therapeutisch orientierten Diskursen wenig verändert. Michael Klessmann formuliert es für die Gegenwart folgendermaßen: „Ich verstehe Seelsorge als Angebot zur Begleitung, zur Begegnung und zur Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens.“109 Wie vollzieht sich solche Begleitung? Welche Voraussetzungen hat sie? Zunächst geht es darum, Menschen zu verstehen. In Anlehnung an die dem Theologen vertraute Texthermeneutik sprach Anton Boisen, der Gründervater der amerikanischen Seelsorgebewegung, auch von den „living human documents“, die es zu verstehen gelte.110 Wenn diese „lebenden Dokumente“ nun aber, wie die Fallstudien gezeigt haben, in ihren Selbstdeutungsvollzügen stark von Medienerfahrungen bestimmt sind, gehört zur hermeneutischen Kompetenz einer zeitgemäßen Seelsorge nicht zuletzt eine medienkulturelle Zeitgenossenschaft. Seelsorger, die nicht wissen, auf welche Fernsehinhalte und auf welche Kinofilme sich Jugendliche in ihrer Sinnarbeit beziehen, die keine Romane kennen und keine der großen auch religiös-existenziell 106 Vgl. Christoph Schneider-Harpprecht (Hg.), Zukunftsperspektiven für Seelsorge und Beratung, Neukirchen 2000, 132. 107 Karl-Wilhelm Dahm, Beruf: Pfarrer. Empirische Aspekte, München 1971, 304. 108 Ders., Beruf, 306. 109 Michael Klessmann, Qualitätsmerkmale in der Seelsorge oder: Was wirkt in der Seelsorge? in: WzM 54, 2002, 155–160, 148. 110 Zit. n. Stollberg, Seelsorge, 163ff u. 186f.

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bedeutsamen Filmkunstwerke gesehen haben, werden es schwerer haben, verstehenden Zugang zur Welt ihrer Klienten zu finden. Und sie werden auch im Blick auf ihr deutendes Handeln weniger Ressourcen zur Verfügung haben, werden weniger leicht anknüpfen können an Gesprächsangebote, die in Bezugnahmen auf Medienerfahrungen verschlüsselt sind, werden sich also weniger frei bewegen können im Raum des Symbolischen, der dem Ausdruckshandeln von Subjekten dient, man könnte auch sagen: sie werden weniger sprachfähig sein. Es versteht sich zugleich von selbst, dass eine medienkulturelle Kompetenz, dass das Leben medienkultureller Zeitgenossenschaft die basale Kompetenz des Seelsorgers nicht ersetzen kann: eine Persönlichkeitsbildung, die eine Selbstaufklärung und Durcharbeitung der eigenen Problemlagen ebenso einschließt wie eine grundsätzliche Wahrnehmungsfähigkeit für den Anderen.111 Auf diesen Voraussetzungen baut Weiteres auf: die wertschätzende Zuwendung ebenso wie die deutende Intervention. Die eingeforderte medienkulturelle Zeitgenossenschaft ist vor allem im Blick auf die Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz des Seelsorger, der Seelsorgerin von Relevanz. In zweifacher Hinsicht: zum einen im Blick auf eine generelle Vorbildung und Sensibilisierung des Seelsorgers, der Seelsorgerin für die Vielfalt heutigen Lebens, zum anderen in der schon genannten Weise im Blick auf die Medienerfahrungen der Klienten. Kenntnisse von Büchern, Kinofilmen und Fernsehsendungen können zum einen die Wahrnehmung für Lebenslagen und Problemkonstellationen schärfen, die dem Seelsorger in seiner sozialen Lebenswelt noch nicht begegnet sind, wohl aber im Medium des Romans oder des Films vorkommen. Die Praxis medienkultureller Zeitgenossenschaft kann dem Seelsorger oder der Seelsorgerin darüber hinaus helfen, Medienerfahrungen, auf die der Klient selbst anspielt, aufzugreifen und sie im Rahmen seiner hermeneutischen oder deutenden Auseinandersetzung mit dem Klienten einzubeziehen. Die deutenden Interventionen des Seelsorgers haben dabei eine doppelte Funktion: sie wollen dem Klienten helfen, sich und seine Lage besser zu verstehen, und sie wollen ihm darüber hinaus neue Perspektiven eröffnen.112 Man könnte also auch im Hinblick auf die Seelsorger von „living human documents“ sprechen, von solchen „lebenden Dokumenten“, in deren Medium sich Ratsuchende besser verstehen und entwerfen können. Oder mit Hilfe derer sie das Unabänderliche in einem größeren Zusammenhang sehen und darin Zuspruch und Trost finden können. Die Textmetapher erinnert daran, dass Texte auf der Ebene kultureller Symbolisierungen eben 111 Vgl. Klessmann, Qualitätsmerkmale, 150. 112 Vgl. ders., Qualitätsmerkmale, 151.

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diese beschriebenen Funktionen in begrenzterem Umfang auch haben. Literatur, so hatten wir in den Fallstudien gesehen, dient dem Selbstverstehen und der Horizonterweiterung, der Selbsterkenntnis und der Erschließung der „1000 Möglichkeiten, in die du gehen kannst“ (Felix). Ricoeur hatte von „imaginativen Variationen“ des Selbst gesprochen, die durch Lektüren stimuliert werden könnten.113 Lektürepraxis wie Seelsorgepraxis haben funktionale Gemeinsamkeiten: Beide Praktiken dienen dem Selbstverstehen, der Horizonterweiterung, der Kontingenzbewältigung. Der besondere Fokus der Seelsorge liegt dabei auf der Begleitung in Krisensituationen und an Wendepunkten des Lebens. In diesen Situationen geht es in der Regel um Kontingenzbewältigung, im positiven wie im negativen Sinne. Ein Verhältnis zum Tod eines nahestehenden Menschen muss gefunden werden, die Geburt eines Kindes ist zu feiern. Die Fallstudien hatten gezeigt, dass die Verarbeitung und Reflexion von Kontingenzerfahrungen auch einen Schwerpunkt im Feld der Medienreligiosität bilden. Die medienreligiösen Kontingenzbearbeitungen zeichnen sich dabei dadurch aus, dass sie sich ganz am konkreten Beispiel orientieren, an konkreten Erzählungen, die von Erfahrungen der Kontingenzbewältigung berichten oder durch ihre Weltentwürfe konkrete Vorschläge für die Bewältigung der Kontingenz des Entscheidenmüssens liefern. Seelsorgerinnen und Seelsorger, die Menschen in Lebenskrisen und an biographischen Wendepunkten begleiten wollen, werden dieser Aufgabe kompetenter nachkommen können, wenn sie sich auch mit medienreligiösen Kontingenzbewältigungstexten auskennen und deren oftmals implizite religiöse Dimension unter den entsprechenden Umständen im seelsorgerlichen Gespräch erschließen können. Seelsorge kann also hier über das Vermitteln von Angenommensein und Verständnis deutend hinausgehen, indem sie, anknüpfend an von den Klienten ins Spiel gebrachte Medienerfahrungen, im Vollzug der Deutung zur Erschließung, Klärung und Ausarbeitung der religiösen Dimensionen von Medienerfahrungen beiträgt. Ein Gesprächsgang über einen Film, der sich während eines Taufgespräches ergibt, kann so zu einem religionshermeneutischen Diskurs mit religiösen Orientierungsqualitäten werden. Wenn Michael Klessmann in seiner Seelsorgedefinition von „Seelsorge als Angebot zur Begleitung, zur Begegnung und zur Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens“ spricht, dann ist dieser Horizont vor dem Hintergrund der vorliegenden Fallstudien um das breite Spektrum von Religion und Religiosität in der Gegenwartskultur und damit nicht zuletzt in der Medienkultur zu erweitern. Nur so können Seelsorgerinnen und Seelsorger deutungskompetent im Blick auf die faktische Religiosität ihrer Klienten sein, zumeist einer Patchwork-Religiosität, die 113 Ricoeur, Identität, 63ff.

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unter anderem medienreligiöse, traditionell-christliche und esoterische Elemente enthalten kann. Wer die „living documents“ von heute verstehen will und sie in ihren Krisen mit Zuspruch und Deutung begleiten will, sie dergestalt im Prozess ihres Selbstverstehens und ihrer Selbstgestaltung unterstützen will, im Verarbeiten von Schmerz und im Eröffnen neuer Perspektiven, der muss etwas wissen von den „documents“ der Gegenwartskultur, derer sich die Klienten, die „lebenden Dokumente“, beim Weben ihrer individuellen Lebenstexte bedienen.

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2. Ausblick

Es hat sich gezeigt, dass die Erörterung von Konsequenzen, die die Ergebnisse der Fallstudien nahe legen, mehr oder weniger mit den aktuellen Entwicklungen in den jeweiligen Feldern der Praktischen Theologie konvergieren, dass sie also als Bestätigung aktueller Trends und als Herausforderung zu deren Weiterentwicklung gelesen werden können. Bezogen auf das gesamte Feld der Praktischen Theologie sind diese Trends mit den Stichworten Empirie, religionstheologische Kulturhermeneutik und Ästhetik benannt. Ich will die folgenden kurzen Ausblicke unter diese drei Stichworte stellen.

2.1 Empirie Empirie ist, so hatten wir festgestellt, nicht ohne Theorie möglich. Empirische Forschung ist vielmehr als ein Wechselspiel von Fragestellungen und Beobachtungen, von Konzepten und empirischen Daten zu denken. Empirische Religionsforschung wird darum weiterhin immer auch eine Arbeit am Begriff der Religion sein. Denn was Religion ist, was als solche gelten soll, steht keineswegs ein für allemal fest. Theorie und Praxis der Religion sind vielmehr beständig im Fluss. Dabei erscheint die Religion, so war zunächst schon bei der Rekapitulation der religionssoziologischen und praktischtheologischen Forschungsstände, dann aber auch in der Analyse der geführten Interviews deutlich geworden, heute vor allem als Individuenreligion, als individuelle Religiosität, die sich aus einem breiten Spektrum kultureller Ausdrucksformen speist. Ihre Erforschung ist somit eine Domäne qualitativer Methoden. Die qualitative Religionsforschung wird darum einen Schwerpunkt zukünftiger empirischer Religionsforschung bilden. Das gilt auch für die weitere Erforschung der Medienreligiosität. Die vorliegende Studie ist nicht mehr als ein erster Versuch der Erschließung dieses Bereiches. Auch in methodischer Hinsicht stehen noch vielfältige Erweiterungen und Differenzierungen aus. Dazu zählt die Kombination qualitativer und quantitativer Methoden, aber auch die Einbeziehung von Bildaufzeichnungen. Videoaufzeichnungen von familiären Weihnachtsfeiern etwa oder kirchlichen oder nichtkirchlichen Trauerfeiern könnten der qualitativen Erforschung von Ritualen und Festen neue Perspektiven eröffnen. Wie wichtig es für die Kulturanalyse ist, über die Texthermeneutik hinauszugehen, ist dabei nicht zuletzt durch die neue Aufmerksamkeit für das Perfor371

mative in den Kulturwissenschaften deutlich geworden. Der performative turn hat daran erinnert, dass auch Religion ein Kulturphänomen ist, das in vielfältiger Weise zur Aufführung gebracht wird und von und in Aufführungen lebt. Dies gilt ebenfalls von der Medienreligiosität. Auch das Bewusstsein, ihr primärer Aufführungsort, fungiert als Bühne. Und was hier durchgespielt wird, wirkt sich auf Handlungen aus und bestimmt die Bewegung der Körper im Raum. Bildaufzeichnungen von dieser inneren Bühne des Bewusstseins sind, wie man weiß, noch nicht möglich, jedenfalls nicht in einer religionshermeneutisch verwertbaren Form. Qualitative Interviews sind also weiterhin notwendig. Nur so können auch die Zusammenhänge von innen und außen erhellt werden, etwa der Zusammenhang von Religion, Ethik und Leben. Ein in diesem Kontext und vor dem Hintergrund aktueller sozialwissenschaftlicher Debatten zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Moral und der Globalisierung besonders interessantes Desiderat dürfte die Erforschung der Genese individueller Moral mit qualitativen Methoden sein. Wie bildet sich die individuelle Moral, welche Rolle spielt die Religion dabei, welche die Ästhetik?

2.2 Ästhetik Die zentrale Bedeutung des Ästhetischen ist durch die vorliegenden Analysen wiederholt deutlich geworden. Ästhetische Wahrnehmungen steuern mimetische Prozesse, die ästhetische Gestaltung von Medienprodukten bestimmt ihre Wirkung. Ich hatte diese Beobachtungen als Verweis auf produktionsästhetische Defizite gelesen. Das rezeptionsästhetische Wissen um die Vieldeutigkeit von Kunstwerken und Medienprodukten führt hier nicht weiter. Es gilt vielmehr an der Frage zu arbeiten, was eine gute Predigt ausmacht und wie man dazu kommt. Es stellt sich die Frage, wie der Religionsunterricht etwa durch den Einsatz von Spielfilmen religiös auf der Höhe der Zeit und zugleich sinnlich ansprechend gestaltet werden kann. Deutlich war aber auch geworden, dass das Erlernen von Techniken Grenzen hat. Ein Mangel an Persönlichkeit lässt sich durch keine seelsorgerliche Technik kompensieren. Das Fehlen authentischer Religiosität kann weder durch Predigtrhetorik noch durch eine schöne Stimme ausgeglichen werden. Die Herausforderung eines zur Mimesis Anreiz gebenden sinnlichen Beispiels gelebter Religion ist mehr als eine Formübung. Form und Inhalt müssen zusammenkommen, müssen eine stimmige Beziehung eingehen, um Wirkung entfalten zu können. Vor dem Hintergrund der Fallstudien hatte ich die semantisch-ästhetische Dichte als Kriterium der Eindruckswirkung von Medienprodukten bestimmt. Ähnliches lässt sich von der Ein372

druckswirkung von Personen sagen, die Experten für Religion sein wollen: Ihre Eindruckswirkung hängt an der Verkörperung einer in irgendeiner Weise sinnlich ansprechenden Einheit von Lehre und Leben. Diese sich zu erarbeiten, ist eine existenzielle Herausforderung, die über das hinaus geht, was Ausbildungen leisten können. Gleichwohl können Ausbildungen die Wahrnehmung und Gestaltung dieser Herausforderung erheblich unterstützen oder massiv desavouieren.

2.3 Kulturhermeneutik Die Ergebnisse der Fallstudien haben einmal mehr auf die Bedeutung einer religionstheologischen Kulturhermeneutik hingewiesen. Individuelle Religiositäten und Weltsichten bauen sich heute weitaus stärker in der Auseinandersetzung mit medienkulturellen Sinnwelten als in der Beschäftigung mit der kirchlich vermittelten christlichen Religionskultur auf. Das Feld der Gegenwartskultur wird damit zu einem Hauptgegenstand der religionstheologischen Kulturhermeneutik. Hier sind noch erhebliche Lücken zu schließen. Ich denke dabei an die Literatur, an das Theater und die bildende Kunst, aber auch an das Internet, das Fernsehen, das Videospiel und das Kino. Dabei ist es nicht damit getan, dass einmalig in Publikationen auf die religiösen Sinnstrukturen der jeweiligen Medien hingewiesen wird. Der Kulturprozess erfordert vielmehr eine kontinuierliche religionshermeneutische Auseinandersetzung mit dem gesamten Spektrum gegenwärtiger Kulturund Medienkultur. Dies gehört zu den Kernaufgaben einer Praktischen Theologie, die sich als Theorie der Religionspraxis in Kirche und Gesellschaft versteht. Die Hermeneutik der außerkirchlichen Religionskultur ist dabei auch darum von Bedeutung für die Praktische Theologie, weil sich Zugänge zur kirchlichen Religionskultur für nicht in ihrem Feld sozialisierte Subjekte nur vermittelt über die gegenwartskulturellen Transformationsgestalten ihrer Fragestellungen und Antworten erschließen lassen. Ein Zugang zu den Symbolisierungen großer Transzendenz wird auf jeden Fall wesentlich leichter möglich sein, wenn von reflektierten Transzendenzerfahrungen im kulturellen Feld ausgegangen werden kann. Das Plädoyer für eine weitere Intensivierung dieser kulturhermeneutischen Orientierung innerhalb der Praktischen Theologie wirft aber zugleich auch Fragen der Normativität auf. Soll alles bejaht werden, was der Fall ist? Ist Praktische Theologie als Praxistheorie der gelebten Religion nur affirmativ zu denken? Welche Rolle spielt die Kritik der Religion? Läge hier nicht ebenfalls eine zentrale Aufgabe der Praktischen Theologie im Sinne religiöser Qualitätssicherung? Wie die Kulturkritik beständig zwischen guten und schlechten Büchern, Theaterstücken, Filmen und Opernaufführungen 373

unterscheidet, wäre doch wohl von Seiten der Praktischen Theologie ebenfalls zwischen konstruktiver und destruktiver Religiosität zu unterscheiden, zwischen verengendem Fundamentalismus etwa und befreienden Lebensdeutungen. Evangelische Theologie wird die Kriterien für eine solche Scheidung und Unterscheidung der Geister unter Bezugnahme auf ihre spezifische Tradition zu entwickeln suchen – und hat dies ja auch immer wieder so gehalten. Wichtig scheint mir jedoch, sich bewusst zu machen, dass man sich bei dieser Aufgabe beständig in einem hermeneutischen Zirkel der Interpretation bewegt, es also keineswegs feststeht und vielmehr immer wieder neu diskursiv zu ermitteln ist, was heute als christlich gelten soll. Die in diesem Prozess formulierten Deutungen sind Synthesen von Gegenwart und Tradition, sind Ergebnisse von Lektüren der Tradition aus heutiger Sicht, Lektüren, die beide Sinnsphären beständig interpretieren und damit umformen: die Sinnsphäre der Tradition ebenso wie die Sinnmuster der Gegenwart. Eine empirisch-kulturhermeneutisch orientierte Praktische Theologie ist aufgrund ihrer intensiven Gegenwartsbezogenheit stärker als andere theologische Disziplinen in diese Interpretations- und Umformungsprozesse hineingezogen. Um die Fragestellung auf Ergebnisse der vorliegenden Studie zu beziehen: Wie verhalten sich die drei Schwerpunkte der Medienreligion, die sich aus den Interviewäußerungen ablesen ließen, zu den klassischen Topoi der christlichen Tradition? Religionstheoretisch betrachtet wäre dies unter anderem die Frage nach dem Verhältnis mittlerer und großer Transzendenzen, die Frage also, wie die Kontingenzbewältigung am Beispiel konkreter Geschichten, wie die ästhetische Lebenssteigerung und wie das Ideal des authentischen Lebens im Licht des Gottesgedankens erscheinen und umgekehrt. Der Anspruch, beides zu vermitteln müsste jedenfalls auf beiden Seiten Konsequenzen haben: Medienreligion und traditionelles Christentum würden sich wechselseitig neu interpretieren. Die ‚Diesseitsreligion‘ der Medien erhielte einen Horizont qualifizierter Unbedingtheit, der sie erweitert und zugleich kritisch kontextualisiert. Umgekehrt könnte die medienreligiöse Zurückhaltung gegenüber der großen Transzendenz ‚Gott‘ als eine Kritik an allzu einfachen Antworten und allzu anthropomorphen Gottesbildern gelesen werden.1 Dieser wechselseitig kritische Interpretationsprozess wäre also unter anderem darauf gerichtet, medienreligiöse wie auch traditionell-religiöse Fundamentalismen zu durchbrechen und entsprechende Tendenzen immer wieder für den Prozess der Interpretation, der Differenzierung und der Suche nach dem Guten und Lebensdienlichen und seiner Quelle zu öffnen: nach Gott. 1 Vgl. zur Notwendigkeit der Umformung traditioneller Gehalte des Christentums: Falk Wagner, Geht die Umformungskrise des deutschsprachig-modernen Protestantismus weiter? In: ZThG Heft 2, 1995, 225–254.

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Anhang

Kurzfragebogen zu biographischen Daten, religiöser Orientierung und Mediengebrauch 1. Name und Alter 2. Geburttag und Ort 3. Wohnort 4. Bitte geben Sie Ihren Schul-, Studien- oder Berufsabschluss sowie Ihre gegenwärtige berufliche Tätigkeit an. 5. Sind Sie Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, wenn ja, welcher? 6. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Kirche/Religionsgemeinschaft beschreiben? 7. Würden Sie sich selbst als religiös bezeichnen? Wie würden Sie diesen Begriff umschreiben? 8. Haben Sie Medienvorlieben (Filme, Bücher, Fernsehen), welche? 9. Wie oft (ungefähr) gehen Sie im Jahr ins Kino? 10. Wie viel Zeit (ungefähr) verbringen Sie täglich mit dem Fernsehen? 11. Lesen Sie lieber Sachbücher oder lieber Romane? 12. Wie viel Zeit verbringen Sie am Tag mit Büchern?

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Interviewleitfaden zur Bedeutung von Büchern, Kinofilmen und Fernsehsendungen für die individuelle Sinnorientierung Die aktuelle Situation 1. Wann waren Sie das letzte Mal im Kino? Wie fanden Sie den Film? Können Sie sich erinnern? Hat der Film Sie an eigene Erfahrungen erinnert? Hat der Film Denkanstöße für Sie enthalten? Hat der Film etwas mit Ihrer Lebensphilosophie zu tun? Weitere Filme der letzten Zeit? 2. Welches Buch hat Sie zuletzt stärker beeindruckt und beschäftigt? Warum? Hat das Buch Sie an eigene Erfahrungen erinnert? Haben Sie durch das Buch Denkanstöße erhalten? Hat das Buch etwas mit Ihrer Lebensphilosophie zu tun? Weitere Bücher der letzten Zeit? 3. Welche Fernsehsendung hat Sie zuletzt stärker beeindruckt und beschäftigt? Hat die Sendung Sie an eigene Erfahrungen erinnert? Haben Sie durch die Sendung Denkanstöße erhalten? Hat die Sendung etwas mit Ihrer Lebensphilosophie zu tun? Weitere Fernsehsendungen der letzten Zeit? Medien-Biographie 1. Wann und wo sind Sie geboren? Wo haben Sie Ihre Kindheit verbracht? 2. Wissen Sie noch, wann Sie zum ersten Mal im Kino waren? Können Sie sich an den Film erinnern? 3. Können Sie sich an andere Filme in Ihrer Kindheit (bis zur 4. Klasse bzw. zum Alter von zehn Jahren) erinnern, die Sie besonders beeindruckt haben? Warum? Was war das Besondere, das Sie beschäftigt hat? 4. Was haben Sie in Ihrer Kindheit gelesen? Können Sie sich erinnern? 5. Gab es Bücher, die Sie in Ihrer Kindheit besonders beeindruckt haben? Warum? 394

6. Welche Rolle spielte das Fernsehen in Ihrer Kindheit? Wie war es in Ihren Familienalltag integriert? 7. Gab es Sendungen, die Sie in Ihrer Kindheit besonders beeindruckt haben? Können Sie sich erinnern? Wie haben diese Sendungen auf Ihr Verständnis der Welt und des Lebens gewirkt? 8. Wie haben sich Ihre Fernsehgewohnheiten in Ihrer Jugendzeit (Ende der Schulzeit als Orientierungsmarke) entwickelt? Welche Sendungen waren da wichtig für Sie? Warum? Haben Sie durch diese Sendung/en Denkanstöße erhalten? Hat/haben diese Sendung/en Ihre Sicht des Lebens und der Welt beeinflusst? 9. Welche Bücher waren in Ihrer Jugendzeit wichtig für Sie? Was sticht hervor? Warum? In welcher Hinsicht hat Ihnen diese/s Buch/mehrere Bücher zu denken gegeben? Haben/hat diese/s Buch/Bücher Ihre Sicht des Lebens und der Welt beeinflusst? 10. Waren Sie oft im Kino in Ihrer Jugend? Gab es Filme, die Sie in dieser Zeit besonders beeindruckt haben, die wichtig für Sie waren? Warum hat dieser Film Sie besonders interessiert und berührt? Haben Sie durch diesen Film Denkanstöße erhalten? Hat dieser Film Ihre Sicht des Lebens und der Welt verändert? 11. Gehen wir einen Schritt weiter. Wie hat sich Ihr Verhältnis zum Kino in der Zeit des Erwachsenseins und der Berufstätigkeit bis heute entwickelt? Welche Filme aus diesem Zeitraum fallen Ihnen ein, die Sie über den Tag hinaus beeindruckt haben? Warum? Haben Sie durch diese/n Film/e Denkanstöße erhalten? Hat/haben diese/r Film/e Ihre Sicht des Lebens und der Welt beeinflusst, verändert? 12. Welche Bücher waren in Ihrem Leben als Erwachsener bisher wichtig für Sie? Was sticht hervor? Warum? In welcher Hinsicht hat Ihnen diese/s Buch/mehrere Bücher zu denken gegeben? Haben/hat diese/s Buch/Bücher Ihre Sicht des Lebens und der Welt beeinflusst? 395

13. Wie hat sich Ihre Fernsehnutzung seit dem Ende der Schulzeit bis heute entwickelt? Welche Sendungen fallen Ihnen ein, die Sie über den Tag hinaus beeindruckt haben? Warum hat diese Sendung Sie besonders interessiert und berührt? Haben Sie durch diese Sendung Denkanstöße erhalten? Hat diese Sendung Ihre Sicht des Lebens und der Welt verändert? Hatten diese Sendungen andere Auswirkungen auf Ihr Leben? Rückblick/Überblick 1. Gab es generell Dominanzen bestimmter Medien in bestimmten Phasen Ihrer Biographie? 2. Wie würden Sie die Intensität des biographischen Einflusses der Medien Buch, Kino und Fernsehen im Vergleich beurteilen? 3. Gab es Ereignisse oder Phasen in Ihrem Leben, in denen Bücher, Filme oder Fernsehsendungen Ihnen in besonderer Weise geholfen haben? Erinnern Sie sich an Medien, die für Sie in einer bestimmten Lebenssituation Ihres erwachsenen Lebens besonders wichtig waren? 4. Welche Rolle spielen die genannten Medien gegenwärtig in ihrem Alltag? Wie leben Sie mit Medien (Buch, Film, Fernsehen)? 5. Auf welche Medien beziehen Sie sich am stärksten in Ihrer Kommunikation über ethische, religiöse und lebensphilosophische Fragen? 6. Wie wichtig ist es Ihnen, sich selbst mit Hilfe von Medien öffentlich auszudrücken? Welche Medien bevorzugen Sie dabei und warum? 7. Welche biographischen Erfahrungen haben Ihre religiösen und ethischen Einstellungen und Ihre lebensphilosophischen Ansichten Ihrer Meinung nach am stärksten geprägt?

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Personenregister

Abarbanell, Stephan 129 Adorno, Theodor W. 141 Albrecht, Horst 26 Ammon, Martin 82 Anders, Günter 141, 144 Ardenne, Manfred von 143 Arnheim, Rudolf 131 Assmann, Aleida 62 Assmann, Jan 120, 121 Aufenanger, Stefan 111, 115 Baake, Dieter 106 Bailey, Edward 311 Bainbridge, William 55 Barth, Ulrich 36, 37, 47f, 54, 303, 304, 312, 337, 341, 342, 344, 345 Barthelmes, Jürgen 89, 107, 108, 155, 197, 362 Barthes, Roland 85 Barz, Heiner 33 Bausch, Constanze 153, 293 Beck, Ulrich 32, 57, 64, 85, 186, 285 Beck-Gernsheim, Elisabeth 57, 85 Beinert, Wolfgang 27 Beinzger, Dagmar 106 Benedict, Hans-Jürgen 26, 146 Benjamin, Walter 121, 160 Berger, Peter L. 37, 64 Bergesen, Albert J. 82 Berghaus, Margot 111, 112, 113, 114 Bialas, Wolfgang 70 Biehl, Peter 360 Bloom, Harold 124, 127 Blothner, Dirk 101, 136, 137, 138, 155, 281, 303 Böhm, Andreas 169 Böhme, Gernot 333, 334 Bohrer, Karl Heinz 332 Boisen, Anton 367 Bonfadelli, Heinz 111, 112, 113, 165 Bonhoeffer, Dietrich 349 Bourdieu, Pierre 20, 25, 26 Bouyer, Louis 338 Breuer, Franz 167 Breuer, Thomas 356, 361 Brinkmann, Frank Thomas 358 Bruckman, Amy 66

Brueggemann, Walter 358 Bubner, Rüdiger 330, 331 Bucher, Anton A. 14 Cassirer, Ernst 19, 21, 326 Charlton, Michael 81, 109, 110, 111, 112, 115, 116, 117, 119, 121, 129, 151, 155, 173, 231, 297 Claussen, Johann Hinrich 353, 356, 360 Corbin, Juliet 169, 170 Dahlgrün, Corinna 362 Dahm, Karl-Wilhelm 367 Daiber, Karl-Fritz 26, 28, 54 Dawson, Robert 138, 139 Deleuze, Gilles 279 Dinter, Astrid 12 Dionysius Areopagita 339, 340, 341 Dorn, Margit 130 Drehsen, Volker 25, 29, 30, 58, 60, 346, 351 Dressler, Bernhard 72, 74 Düwell, Marcus 122, 270 Eberlein, Undine 67, 68, 70, 237, 285 Ebertz, Michael N. 28, 29, 30, 33, 34 Eckhart, Meister 341, 342 Eco, Umberto 358 Eimeren, Birgit von 11, 99, 100, 101 Eisenstein, Elisabeth L. 14, 75 EKD 21, 28, 29, 33, 93, 94, 95, 164, 167, 170, 350 Engel, Bernhard 99, 100, 142, 150 Engelhardt, Klaus 93, 94, 95, 350 Englert, Rudolf 361 Ennemoser, Marco 120 Failing, Wolf-Eckard 46, 48–50, 55 Faßler, Manfred 120 Faulstich, Werner 102, 104, 119, 120 Fechtner, Kristian 17 Feige, Andreas 29, 93, 95 Feil, Ernst 36 Fermor, Gotthard 78 Fischer-Lichte, Erika 360 Fischer-Rosenthal, Wolfram 64 Fiske, John 115, 138, 139, 244 Flick, Uwe 18, 114, 157, 158, 159, 161, 166, 168, 169 Foucault, Michel 20, 67, 272, 330, 341

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Fowler, James F. 59 Fraas, Hans-Jürgen 59, 74 Franzen, Jonathan 122, 123, 126, 243, 355 Franzmann, Bodo 127 Freud, Sigmund 241, 253 Friedrichs, Lutz 125,126 Friese, Heidrun 62 Fritsch, Matthias 81 Fuchs, Walter 171 Gabriel, Karl 25, 29, 30, 31, 32 Gast, Wolfgang 132 Gebauer, Gunter 154, 185 Geertz, Clifford 20, 21, 52, 53, 86 Gephart, Werner 61 Gerbner, George 112, 114 Gerhardt, Volker 63 Giesecke, Michael 120 Glaser, Barney G. 158, 159, 169, 170, 171 Glock, Charles 55 Gmünder, Paul 59 Goffmann, Erving 20 Goldsworthy, Andy 216, 320 Göttlich, Udo 88, 89, 149, 152, 155 Gottwald, Eckart 82 Gräb, Wilhelm 11, 17, 18, 21, 22, 26, 30, 34, 35, 36, 47, 52f, 54, 55, 58, 60, 72, 73, 78, 88, 146, 303, 312, 326, 335, 346, 349, 351, 353, 354 Greeley, Andrew M. 82 Gregor, Ulrich 131 Grieshop, Herbert 81 Groebel, Jo 99, 100, 110 Groeben, Norbert 128 Gross, Larry 112 Grözinger, Albrecht 45, 46, 58, 60, 351, 360 Gundlach, Thies 355, 356 Gutmann, Hans-Martin 78 Haas, Alois M. 338, 340 Hackl, Christiane 106, 164, 291 Hanselmann, Johannes 93, 350 Hasebrink, Uwe 88, 89, 149, 152, 157 Hasenberg, Peter 82 Haspel, Michael 17 Hauschildt, Eberhard 93, 94 Heimbrock, Hans-Günter 46, 48–50, 55, 305 Heinrichs, Gesa 71 Henrich, Dieter 63 Hepp, Andreas 23, 85, 87, 114, 140, 141, 144, 155 Herrmann, Jörg 11, 24, 26, 78, 80, 81, 82, 83, 91, 129, 254, 301, 303, 316, 357, 365 Hickethier, Knut 82, 88, 101, 142, 143, 144, 148, 149, 304

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Hild, Helmut 93, 350 Hirsch, Emmanuel 36 Hirzinger, Maria 105 Hitzler, Ronald 57, 68, 69, 73, 110, 313 Höfer, Renate 64 Höhmann, Peter 93 Holly, Werner 104 Honer, Anne 57, 68, 69, 73, 110, 313 Hopf, Christel 18 Hörisch, Jochen 77, 91, 104, 121, 122, 143, 144, 270 Horton, Donald 116 Huber, Wolfgang 349 Huizing, Klaas 82, 126, 127, 129, 133, 134, 237, 303, 360 Hurrelmann, Bettina 119 Iser, Wolfgang 125, 126 James, William 123, 124 Janowski, Hans Norbert 11, 80 Jarren, Otfried 102 Jauß, Hans Robert 125 Jörns, Klaus-Peter 95 Josuttis, Manfred 351, 367 Jung, Matthias 269, 271, 272, 311, 327, 336 Kant, Immanuel 36, 332, 337, 350 Kaufmann, Franz-Xaver 29, 34, 235 Kelle, Udo 159 Keppler, Angela 79, 90, 91, 147, 151, 155, 303 Kern, Andrea 334, 335 Keupp, Heiner 63, 64, 65, 69, 70, 203 Kiefer, Marie Luise 100, 142, 150 Kirsner, Inge 81, 355, 361, 362 Klein Stephanie 57, 93 Klemm, Michael 151 Klessmann, Michael 367, 368, 369 Klie, Thomas 78, 360 Klimmt, Christoph 120, 128 Kloock, Daniela 120 Knoblauch, Hubert 15, 25, 28, 29, 30, 31, 32, 76, 77, 95, 96 Köhler, Andrea 133, 134 Kohli, Martin 57 Kolesch, Doris 358 Kombüchen, Stefan 102, 103 Korsch, Dietrich 37 Kracauer, Siegfried 130, 131, 132 Krämer, Sybille 66 Krech, Volkhard 93 Kretschmar, Gerald 94 Krotz, Friedrich 103, 117, 149, 152, 257 Krüger, Michael 142 Kübler, Hans-Dietrich 140

Küenzlen, Gottfried 31, 32 Kumlehn, Martin 346, 347 Kunczik, Michael 150, 151 Kunstmann, Joachim 11 Lähnemann, Johannes 361 Lakatos, Imre 159 Lange, Ernst 349, 354 Langer, Susanne 21, 278 Lehnerer, Thomas 334 Levi-Strauss, Claude 20 Lindwedel, Martin 81 Loewenich, Hermann von 93, 350 Lohse, Eduard 93, 350 Luca, Renate 85 Luckmann, Thomas 24, 30, 31, 35, 37, 38– 40, 54, 74, 78, 79, 89, 96, 174, 303, 312, 337 Ludwig, Johannes 14, 75, 76 Luhmann, Niklas 37, 40–42, 54, 105, 114, 312, 328 Lukács, Georg 121, 126 Lukatis, Ingrid 95 Luther, Henning 48, 58, 72, 73, 346 Martin, Gerhard Marcel 358 Matthes, Joachim 24, 38, 43f, 50, 55, 93, 95 McAdams, Dan 312 McGinn, Bernard 339, 340 McLuhan, Marshall 102 Meinefeld, Werner 159 Merkens, Hans 164 Mersch, Dieter 201, 286, 333, 334 Merten, Klaus 102, 114 Mertin, Andreas 13, 35, 91, 223, 362 Metz, Christian 132 Meyer, Thomas 26, 27 Meyer-Blanck, Michael 92, 351 Meyrowitz, Joshua 98, 114, 145 Mikos, Lothar 89, 110, 117, 118, 149, 152, 154, 292, 297 Monaco, James 131 Morgenroth, Martin 362 Moxter, Michael 326 Nassehi, Armin 58, 162, 167, 169, 172, 174 Nauer, Doris 366 Naurath, Elisabeth 366 Neckermann, Gerhard 101, 136 Neumann-Braun, Klaus 81, 106, 109, 110, 115, 116, 121 Nicol, Martin 358, 359, 360 Nieland, Jörg-Uwe 89, 152 Nipkow, Karl Ernst 21, 58, 361 Oelmüller, Willi 31 Oevermann, Ulrich 20, 158

Oser, Fritz 59 Osmer, Richard R. 17 Osterland, Martin 60 Otto, Gert 346, 358 Paus-Haase, Ingrid 149, 152, 153, 289 Pette, Corinna 129, 155 Pfleiderer Georg 45, 46 Pickel, Gert 28, 33, 34, 35 Pirner, Manfred L. 11, 88, 96, 146, 360, 362 Pohl-Patalong, Uta 366 Pollack, Detlev 28, 31, 33, 34, 35, 36, 37, 41, 42f, 197 Porzelt, Bernhard 325 Postman, Neil 141 Preul, Rainer 349 Prommer, Elizabeth 106, 136, 138, 140, 141, 294 Raschzok, Klaus 58 Reckwitz, Andreas 19, 20, 62, 64, 183 Reichertz, Jo 89, 92, 93, 150, 155, 305 Reiser, Helmut 71 Reuter, Ingo 81, 134, 361 Ricoeur, Paul 203, 214, 243, 246, 269, 270, 369 Ridder, Christa Maria 11, 99, 100, 101, 142, 150 Rorty, Richard 123, 124, 271, 303, 344 Rössler, Dietrich 17, 21, 46, 55, 346 Rupp, Gerhard 119, 128, 129 Sander, Ekkehard 89, 107, 155, 297, 362 Sander, Uwe 106 Saxer, Ulrich 22 Schärtl, Thomas 81 Schieder, Rolf 341, 349 Schiffer, Kathrin 120 Schilson, Arno 26, 78, 79 Schlaffer, Heinz 122 Schleiermacher, Friedrich D.E. 36, 52, 73 Schmidt, Christiane 169 Schmidt, Siegfried J. 60, 98, 102, 103, 105 Schmidt, Wolf Rüdiger 11, 80 Schneider, Silvia 106, 111, 112, 297 Schneider, Wolfgang 120 Schneider-Harpprecht, Christoph 367 Schnell, Tatjana 311, 312, 314, 315, 323, 325, 328 Scholem, Gershom 338 Schöll, Albrecht 93 Schöttker, Detlev 98 Schreier, Margit 119, 128, 129 Schröder, Bernd 17 Schulze, Gerhard 52, 55, 67, 94, 103, 133, 158, 166

399

Schütz, Alfred 20 Schütze, Fritz 158, 160, 169, 171, 172, 174 Schwab, Ulrich 93, 361 Schwarze, Bernd 78 Schweitzer, Friedrich 21, 58, 59, 361 Seel, Martin 199, 269, 285, 306, 317, 331, 332, 333, 334, 335, 337 Seeßlen, Georg 134 Smith, David L. 81, 134 Sölle, Dorothee 124, 125, 126, 303 Sommer, Regina 93 Stark, Rodney 55 Steck, Wolfgang 25, 50f, 55 Steinacker, Peter 93, 350 Sting, Stephan 153, 293 Stollberg, Dietrich 366, 367 Straub, Jürgen 63 Strauss, Anselm L. 158, 159, 169, 170, 171 Sudhoff, Wiebke 90, 152, 292 Taylor, Charles 20, 33, 308, 309 Thomas, Günther 26, 78, 80, 88, 91, 101, 146, 147, 148, 303, 317 Tillich, Paul 45, 124, 125, 217, 357 Trepte, Sabine 90, 152, 155, 292 Troeltsch, Ernst 30, 36 Tugendhat, Ernst 63 Turkle, Sherry 65, 66, 69, 109 Updike, John 81 Utsch, Michael 74

400

Visarius, Karsten 129 Vogelgesang, Waldemar 85, 87, 88, 141, 155, 156 Vollbrecht, Ralf 106 Vorderer, Peter 117, 120, 128, 151 Wagner, Falk 36, 37, 374 Watzlawick, Paul 114 Weber, Max 21 Wegenast, Klaus 92, 360 Weiler, Stefan 108, 109, 165 Weiß, Ralph 145 Weiße, Wolfgang 361 Wendel, Saskia 316, 338 Wermke, Michael 81, 361, 362 Wersig, Gernot 155, 156 Weyel, Birgit 351 Willems, Herbert 64 Winkler, Willi 135, 136, 316 Winter, Rainer 18, 114, 139 Wippermann, Carsten 74 Witzel, Andreas 160, 168, 169, 170 Wohlrab-Sahr, Monika 58 Wolf, Stefan 365 Wulf, Christoph 154, 185 Zapfe, Sina 90, 152, 292 Ziebertz, Hans-Georg 21, 346, 361 Zimmermann, Petra 93 Zipfel, Astrid 150, 151 Zurstiege, Guido 105