200 35 6MB
German Pages 80 Year 1962
D E U T S C H E A K A D E M I E D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N SCHRIFTEN DER SEKTION FÜR ALTERTUMSWISSENSCHAFT 29
MINOICA UND HOMER E I N E AUFSATZSAMMLUNG
H E R A U S G E G E B E N VON V L A D I M I R G E O R G I E V UND J O H A N N E S
AKADEMIE-VERLAG 1961
IRMSCHER
- BERLIN
Johannes Irmscher ist Mitglied der Sektion für Altertumswissenschaft
Redaktor der Reihe: Johannes Irmscher Redaktor dieses Bandes: Helga Reusch
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1961 by Akademie-Verlag GmbH, Berlin Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W8, Leipziger Str. 3 — 4 Lizenz-Nr. 202. 100/94/61 Satz, Druck und Einband: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: 2067/29 Printed in Germany ES 7 U
Vorwort Das Komitee zur Förderung der klassischen Studien in den sozialistischen Ländern, das sein Entstehen der Initiative der tschechoslowakischen Fachgenossen und insbesondere der unermüdlichen Energie Antonin Salaös verdankt, trat im Spätherbst 1958 mit einer wissenschaftlichen Konferenz, welche in der alten Humanistenstadt Erfurt abgehalten wurde, zum ersten Male vor die breitere Öffentlichkeit. Altertumsforscher aus den in dem Komitee zusammengeschlossenen Staaten befaßten sich mit Schwerpunkten ihrer Wissenschaft, die man bald unter linguistischem und philologischem, bald unter historischem oder archäologischem Aspekt zu begreifen suchte. Als besonders aktuell im Hinblick auf die internationale Diskussion erwies sich der Themenkreis „Minoica und Homer", dessen Beiträge wir in dem vorliegenden Band der kritischen Aufmerksamkeit der Fachwelt unterbreiten. Wir hoffen, daß diese Aufsatzsammlung Zeugnis ablegt von der sich immer mehr erweiternden und vertiefenden Kooperation der Altertumswissenschaftler des sozialistischen Lagers. Die Herausgeber
Inhalt Antonin Bartonëk (Brno) Zur Frage derÄolismen und Achäismen in der homerischen Sprache
1
Vladimir Georgiev (Sofia) Das Problem der homerischen Sprache im Lichte der kretischmykenischen Texte
10
Alexandra Graur (Bukarest) «Être» et «avoir» chez Homère
20
Kâroly Marôt (Budapest) Autolykos
24
Helga Reusch (Berlin) Zum Problem des Thronraumes in Knossos
31
Margarete Riemschneider (Leipzig) Das homerische Gleichnis als literarisches Genus
40
Antonin SalaÈ (Prag) Der Zeusadler und Homer
45
Heinrich Alexander Stoll (Thyrow/Mark) Schliemann und die Ausgrabung von Knossos
51
Zur Frage der Äolismen und Achäismen in der homerischen Sprache seit der Ventrisschen Entzifferung der Linear-B-Schrift Antonin Bartonek
Die traditionelle Auffassung der mundartlichen Bestandteile, aus denen die homerische Sprache zusammengesetzt ist, erkannte im allgemeinen bis vor kurzem nur zwei Hauptelemente an: ein älteres äolisches und ein jüngeres ionisches1). Dabei wurde gewöhnlich alles, was nicht erweislich als eine Äußerung des ionischen Dialekts angesehen werden konnte — oder wenigstens als die Spur einer späteren attischen Redaktion der Gedichte Homers —, durchweg zu den Äolismen gezählt. Und doch wies schon A. Fick 2 ) in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf das Vorkommen kyprischer und arkadischer Wörter in der homerischen Sprache hin. Zum ersten Male jedoch nützte diese Feststellung zu einem weitgehenden Schluß über die Existenzmöglichkeit der voräolischen, 'achäischen' epischen Dichtung erst A. Meillet3) im Jahre 1913 aus. Der häufige Einwand, die homerischen Wörter im Arkadisch-Kyprischen könnten für bloße Lehnwörter aus Homer gehalten werden, wurde dann nachdrücklich in den 30er Jahren von C. M. Bowra4) widerlegt. Und ungefähr zu derselben Zeit sprach auch M. Parry 6 ) auf Grund der Theorie A. MeiUets6) von den in der epischen Dichtung unmittelbar von Sänger zu Sänger übernommenen dichterischen Formeln schon bestimmter die Hypothese von drei nacheinanderfolgenden Dialektstadien in der epischen Sprache aus, 1)
Vgl. z. B. E. Schwyzer, Griechische Grammatik I, München 1939, 105 ff.
2)
Die homerische Odyssee in der ursprünglichen Sprachform wiederhergestellt, Göttingen 1883, 324f.; ders., Die homerische Ilias in der ursprünglichen Sprachform wiederhergestellt, Göttingen 1886, 548 u. a. 3 ) Aperçu d'une histoire de la langue grecque, Paris 1913 (s. die deutsche Ü b e r setzung von H . Meitzer, Geschichte des Griechischen, Heidelberg 1920, 184f.). 4 ) Homeric words in Arcadian inscriptions, Classical Quarterly 20, 1926,168—176; ders., Homeric words in Cyprus, Journal of Hellenic Studies 54, 1934, 54—74. 5 ) Studies in the epic technique of oral verse-making I I : The Homeric language as the language of an oral poetry, H a r v a r d Studies in Classical Philology 43, 1932, 1—50 (bes. 25—27); aus den anderen Schriften Parrys vgl. vor allem die folgenden: L'épithète traditionelle dans Homère, Paris 1928; Les formules et la métrique d'Homère, Paris 1928; Studies in the epic technique of oral verse-making I : Homer and Homeric style, H a r v a r d Studies in Classical Philology 41, 1930, 73—147. 6)
1
Les origines indo-européennes des mètres grecs, Paris 1923, 61.
Minoica
2
Antonin Bartonëk
nämlich von der achäischen, äolischen und ionischen Periode. Diese Hypothese begann um die Zeit des zweiten Weltkrieges an Boden zu gewinnen und fand unter anderem auch bei dem großen Kenner der homerischen Sprache, Pierre Chantraine, Widerhall. Bereits in der ersten Ausgabe seiner Grammaire homérique1) wird insgesamt an sieben Stellen mit größerer oder geringerer Sicherheit ausdrücklich das achäische oder arkadisch-kyprische Element in der homerischen Sprache erwähnt. Beachtenswert dabei ist, daß sich Chantraine nicht nur auf die Wortparallelen beschränkt2), sondern daß er in drei Fällen auch auf einige auffallende Übereinstimmungen in der Laut- und Formenlehre hinweist (so auf das homerische xavavnoôa mit dem Diphthong [au] statt des vorausgesetzten [ao]3), und besonders auf das anlautende pt- in nroXefioç und môfaç1) und auf die homerischen Infinitive auf -vai oder -svai5). Sonst erschien allerdings auch Chantraine im angeführten Werk als ein Verteidiger der Äolismen-Theorie in der homerischen Sprache und erkannte manchmal den Charakter der Äolismen auch solchen Erscheinungen zu, deren Vorkommen für das Äolische nicht ganz positiv belegt war6). Die Hauptstütze der Konzeption von Meillet und Parry über das alte achäische Element in der homerischen Sprache, nämlich das Vorkommen der ursprünglichen arkadisch-kyprischen Wörter im homerischen Griechisch, wurde im Jahre 1950 von M. Leumann7) von neuem angegriffen. Bevor jedoch endgültig zwischen den beiden strittigen Ansichten entschieden werden konnte, griff im Jahre 1953 in die Lösung dieser Fragen ein gänzlich unerwarteter Faktor ein, nämlich der Ventrissche Entzifferungsversuch der Linear-B-Schrift8). Eine eingehende Sprachanalyse der Linear-B-Texte wies gleich am Anfang auf die Existenz wichtiger Parallelen zwischen der Sprache Homers und dem protoarkadisch-kyprischen Dialekt dieser Dokumente hin 9 ). Bei ihrer Aufzählung wird es vielleicht nicht unangebracht sein, sich im wesentlichen an die Schlußfolgerungen Chantraines in der dritten Auflage seiner 1
) Grammaire homérique I, Paris 1942. ) Ibd. 293 (ôéaro), 374 (ëxQavaa), 494 (îôé, avrdq), 496 (äv). ») Ibd. 33. 4 ) Ibd. 110. 5 ) Ibd. 488 f. 6 ) Vgl. z. B. ibd. 234 (über das Suffix -i). 7 ) Homerische Wörter, Basel 1950, bes. 262-297. 8 ) M. Ventris — J. Chadwick, Evidence for Greek dialect in the Mycenaean archives, Journal of Hellenic Studies 73, 1953, 84—103. 9 ) Ibd. 101 f. (doch trennen Ventris und Chadwick hier noch nicht das Mykenische, und zugleich auch das Arkadisch-Kyprische, vom Äolischen). Jetzt vgl. auch M. Ventris — J. Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Cambridge 1956, bes. 7 6 - 9 1 und 103-105. 2
Zur Frage der Äolismen und Achäismen in der homerischen Sprache
3
Grammaire homérique zu halten 1 ). Aus der Lautlehre kann man als verhältnismäßig sichere Parallelen nur das Vorkommen des Digamma, das Schwanken zwischen der Qualität von [a] und [o] als Ersatz für die Sonanten und das Vorkommen des anlautenden pt- für p- bei den obengenannten Ausdrücken anführen 2 ); die Linear-B-Schrift war nämlich bei weitem nicht imstande, alle Feinheiten des griechischen Vokalismus und den Reichtum der griechischen Konsonantengruppen zu erfassen. In der Formenlehre liegen schon günstigere Verhältnisse vor; bei den Nomina sind folgende sichere homerisch-mykenische Parallelen anzuführen: Gen. Plur. der männlichen und weiblichen a-Stämme auf -amv (myk. -a-o), Gen. Sing, der männlichen a-Stämme auf -ao (myk. -a-o), Gen. Sing, der o-Stämme auf -oio (myk. -o-jo), Dat. Plur. der o- und a-Stämme auf -oiat, -aiai3) (myk. -o-i, -a-i), Dat. Sing, der konsonantischen Stämme auf -ei (myk. -e)4), und schließlich auch das eigentümliche - contre 13 exemples de è/ioL èaxi. Maintenant la différence est éloquente. Pour pouvoir, toutefois, y croire entièrement, il faut compléter la statistique, en dépouillant les poèmes entiers. C'est ce que je me propose de faire sous peu. Et, si l'on accepte ma conclusion, constatant le progrès du verbe E%OJ aux dépens de la formule ¿fioi êan, ce sera aussi un argument de plus en faveur de la théorie qui admet un assez long intervalle entre les dates où les deux poèmes ont été rédigés.
Autolykos Karoly Maröt
Aus einer Reihe von Stellen, durch die wir den Einfluß von vorhomerischen Zauberliedern auf die Entstehung der Epen nachzuweisen versuchen 1 ), sei hier als das vielleicht frappanteste Beispiel die lange, eingeschobene Erzählung (r 386—466) von der Verwundung des edlen Dulders Odysseus durch einen Keiler und von seiner durch eine Besprechungsformel (enaoidrj) bewirkten Genesung hervorgehoben. Ein Prachtstück, das bisher m. W. vorzüglich nur im Hinblick auf seine Rolle im Aufbau der Epen und auf die Frage der homerischen Ethik geprüft wurde! So sagte Leopold V. Schmidt 2 ): „Die auf Autolykos bezüglichen Verse . . . machen gerade . . . den Eindruck eines in das Gedicht eingeflochtenen Scherzes." Auch K . F . v. Naegelsbach 3 ) nahm an dieser Stelle Anstoß, und bereits A. Kirchhoff war geneigt — freilich ad r 593 ff. sich auf andere Gründe berufend —, die ganze Episode als eine der homerischen Auffassung widersprechende zu verwerfen 4 ). J a , am auffallendsten ist, daß selbst der Ethnologe Ernst Samter 5 ) über die Naegelsbachsche Interpretation von xXenroavvr] xai ogxog als „Gaunerkunst" (Diebessinn) und „falsches Schwören", nicht hinausgekommen ist. Auch für ihn sollte nämlich OQXOQ an dieser Stelle — wie fast allgemein angenommen wird — einfach 'Meineid, falscher Schwur' bedeuten, d. h., auch er will die ethische Frage in den Vordergrund rücken („wie kann Hermes jemandem die Kunst des Meineides schenken?") und stellt sich die Sache so vor, daß Hermes' Geschenk etwa die Kunst gewesen sein mußte, Eide abzufassen, ohne den Fluchgeistern (?) zu verfallen 8 ). 1 ) Vgl. jetzt auch mein soeben erschienenes Buch: Die Anfänge der griechischen Literatur, Vorfragen, Budapest 1960. Vorliegender Autolykos-Aufsatz gibt fast wörtlich das im Jahre 1958 zu Erfurt Vorgetragene wieder. Für die ganz unwesentlichen Ergänzungen und stilistischen Änderungen sei auf das Register des genannten Buches, s. v. Autolykos, verwiesen. 2 ) Die Ethik der alten Griechen I, Berlin 1882, 232f. 3 ) Die homerische Theologie, 3. Aufl., Nürnberg 1884, 35. 214. 443. 4 ) Die homerische Odyssee, 2. Aufl., Berlin 1879, 523. 5 ) Volkskunde im altsprachlichen Unterricht I, Berlin 1923, 35ff. 6 ) In modernerer Abfassung, aber im wesentlichen dasselbe, s. bei Dümmler, R E II 2600, über die Gabe des „abschwörenden Meineids".
Autolykos
25
All dem gegenüber aber: ÔQXOÇ bedeutet auch, hier nicht einen Meineid. Es handelt sich offenbar bloß um einen ëoxoç — Eid ; wie ich diese Bedeutung von ÔQXOÇ schon in einer Jugendarbeit erwiesen habe 1 ), und sie auch in Baillys Wörterbuch 2 ) richtig verzeichnet steht: „ce qui enferme ou contraint." So scheinen uns alle die erwähnten Gewaltlösungen nur Ausflüchte zu sein* und die Ohnmacht einer überholten philologischen Richtung bloßzustellen. Es liegt eben ein offener Widerspruch darin, daß einerseits die Art und Weise der Einschiebung r 386—466 unzweifelhaft an die Episode vom Bogen des Pandaros und ähnliches, d. h. an einen echt homerischen Kunstgriff erinnert, anderseits aber die Erwähnung, ja Schilderung der hiaoibr] notwendigerweise als etwas ganz und gar Unhomerisches zu erkennen und zu beanstanden ist. Auch das geht aber heute gar nicht mehr an, unbequemen oder schwierig erscheinenden Stellen einfach mit einer Athetese abzuhelfen. So scheint uns einzig ein Weg gangbar zu sein, den wir näher mit dem Hinweis beleuchten wollen, daß selbst ein erhabener Epiker auch traditionell-volkstümliche Besprechungsformeln nach einer gewissen zweckdienlichen Umarbeitung zur Förderung seiner gehobeneren Dichtung gelegentlich verwenden kann. Mit anderen Worten: Eine entsprechend abgestumpfte Verwendung selbst von beschwörenden 'magischen Worten' kann — zurechtgestutzt — auch in der geklärtesten Dichtungsart Platz finden. So sind eben auch in Homer noch des öfteren deutliche Spuren davon zu finden, daß auch Seamy-side-Überlieferung 3 ), wie erzählende (beschreibende) Zaubergedichte, als Ziegelsteine zur Gestaltung der hochtrabenden Epik sich eigneten. Und so fällt auch in der Autolykos-Szene u. a. sogleich auf, daß 1. e t w a die W e n d u n g AvxôXvxôç
xe xal viéeç Avxokvxoio
( r 414) i n d i e s e m
verhältnismäßig kurzen Einschub, gleichsam wie ein lyrischer Kehrreim, auf verschiedene Weise mit versbedingten Abänderungen sieben- bis achtmal wiederkehrt 4 ) und daß 2. die Geschichte der Verwundung und der anknüpfenden Beschwörung (r 4 2 9 — 4 3 1 ) : ßdv g ï/uev êç &rjgr]v, v\fih> xvvsç r/ôè xal avtol / viéeç Avxohôxov fiexà roïai ôè ôïoç 'Oôvaoevç rjiev ä h n l i c h e i n g e f ü h r t w i r d w i e d e r b e k a n n t e
altgermanische zweite Merseburger Zauberspruch, der folgendermaßen an1
) Der Eid als Tat, Acta Litt, ac Sc. r. Univ. Franc. Joseph., Sectio Phil.-hist. I 1, Szeged 1924. 2 ) A. Baüly, Dictionnaire Grec-Français, 11. édition, Paris (o. J.), s. v. ÔQXOÇ. 3 ) Vgl. Maröt, Zur religionsgeschichtlichen Wertung Homers, Ârsbok 5, Yearbook of the new society of letters at Lund, Lund 1924, 149ff. 4 ) 394 AvrôÂvxov TE xal vlaç; 414 AvxôXvxôç xe xal viéeç AvxoAvxoio; 418 AVTÔÀVXOÇ ô' violai êxéxXero; 430. 437 viéeç AVTOÄVXOV, fitià xoïai ôè ôïoç 'Oôvaaevç; 455 rov fièv &Q' Avxokvxov naïÔBç tpiXoi âft