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German Pages 254 [256] Year 1970
FAUSTO CODINO
EINFÜHRUNG IN H O M E R
W A L T E R DE
GRUYTER&CO.
B E R L I N 1970
D i e deutsche Ausgabe ist eine vom Verfasser autorisierte Übersetzung von R a g n a Enking. Die Originalfassung erschien 1 9 6 5 unter dem Titel „Introduzione a O m e r o " im Verlag Giulio Einaudi, Torino/Italien.
M i t einem Geleitwort von Bruno Snell
Archiv - Nr. 3026701 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. © 1970 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Yugoslavia Satz und Druck: Casopisno in grafiino podjetje Delo, Ljubljana
Für die Großeltern von Giorgio und Alessandra
GELEITWORT Über die Ilias und die Odyssee ist in der Forschung der letzten Jahrzehnte so viel Neues entdeckt worden, daß selbst ein Fachmann die Übersicht verlieren kann. Da ist es hochwillkommen, daß ein gründlicher Kenner Homers und der Homer-Literatur eine Einführung in die Lektüre Homers vorlegt, die auch den Laien vermittelt, was man heute über die verschiedensten Gebiete zu wissen meint: Uber die Entstehung der Epen und ihr Verhältnis zur mykenischen Zeit und zur Gegenwart der Dichter und Rhapsoden, über die Geschichte der Homer-Kritik von ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag, über die religiösen Vorstellungen in den Gedichten und die politischen, sozialen, rechtlichen Beziehungen, über die psychologische Deutung des Menschen usw. All das wird nicht dogmatisch, sondern anschaulich an Einzelheiten, oft in eingehender Interpretation entwickelt, ist nicht nur Referat über Meinungen anderer, sondern selbständiges und aufgeschlossenes Weiterdenken. Der ansprechend - lebendige Stil macht es vollends zu einer Freude, dem Verfasser zu folgen. Bruno Snell
VORWORT In dieser kurzen Einführung in die Lektüre Homers, die auch für den bestimmt ist, der kein Griechisch kann und kein spezielles Interesse an den Studien über das antike Griechenland hat, ist versucht worden, so viel zuverlässige Auskünfte wie möglich über die Kultur zu geben, in der die Epen entstanden sind, und über die Umstände, unter denen sie sich geformt haben. Mein größtes Bestreben war, mich klar auszudrücken, unwichtige Diskussionen zu übergehen; doch durfte man hierbei nicht zu sehr vereinfachen: der Stoff selbst, in allen Punkten Gegenstand von Kontroversen, verlangte, daß man sich auf dem Mittelweg zwischen gelehrter Interpretation und handbuchmäßiger Darlegung hielt. Über das Aufkommen der vielen gegensätzlichen Theorien über die Entstehung der Gedichte, die noch immer die Kritik spalten, also über die Geschichte der „homerischen Frage", habe ich einen summarischen Überblick im einleitenden Teil für genügend gehalten. Aber auch in der Folge habe ich oft darauf hinweisen müssen, daß die Kritik sich über diesen oder jenen Punkt keineswegs einig ist, und habe Stellung nehmen müssen. Außerdem habe ich über Fragen nicht nur zweiten Ranges persönliche Ansichten geäußert, die die Gelehrten beurteilen mögen: vor allem über die homerische Monarchie und über die Gesellschaftsform auf Ithaka, über den Aufbau der heldischen Charaktere, über die Mythologie. Für die vorliegende deutsche Ausgabe habe ich einige Änderungen im Text vorgenommen und bibliographische Hinweise am Fuß der Seiten beigefügt. Es schien mir auch nützlich, eine allgemeine - sehr summarische - Bibliographie für den Leser beizugeben, der ein vertieftes Studium der homerischen Gedichte beginnen möchte. Die Zitate aus der Ilias sind der Übersetzung von Hans Rupe entnommen (Vlg. Heimeran, Tusculum-Bücherei, Photomechanischer Nachdruck 1968 der 2. Auflage von 1961). Die Zitate aus der Odyssee stammen aus der Übersetzung von Anton Weiher (Tusculum-Bücherei, 3. Auflage 1967). F. q
INHALTSVERZEICHNIS Geleitwort Vorwort Kurze Bibliographie Zeitalter und Nachwirkung Homers Historische Notizen Die Homerkritik bis zum 18. Jahrhundert Die philologische Analyse und die homerische Frage Einige Beispiele und einige Hypothesen
VII VIII X ι ι 16 33 44
Die Welt Homers Vergangenheit und Gegenwart Materielle Objekte und menschliche Beziehungen Die Machtbefugnisse des Agamemnon Kollektive Verantwortung: Der Pfeilschuß des Pandaros Persönliche Verantwortung: Die „Versöhnung" Ein Richter in der Ilias Odyssee: Die Beweggründe der Freier Die andere Seite: Odysseus und das Volk
63 63 73 83 97 106 115 126 135
Die Personen Die epische Charakterdarstellung Das Berufsleben und der Zorn Die Entstehung des privaten Empfindens Epische Dichtung und Freiheit
143 143 151 159 170
Religion und Mythologie Die Beziehungen zwischen dem Olymp und der Erde Die Götter unter sich Die Götter im Kampfe Das Schicksal
178 178 188 196 209
Z u r Komposition der Epen Tradition und Neuerung Elemente des Aufbaues
216 216 226
Register Sachverzeichnis Namensverzeichnis
236 236 238
KURZE
BIBLIOGRAPHIE
Uber die mykenischen Dokumente in Linear Β lese man vor allem: M. Ventris-J. Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Cambridge 1956; J. Chadwick, The Decipherment of Linear Β (1958), 2. Aufl. Cambridge 1967. Von den vielen Arbeiten, die nach der Entzifferung der Linear Β über die mykenische Sprache und Kultur erschienen sind, wird es genügen, an die in „Atti e Memorie del l Congresso internazionale dt micenologia" (pro manuscriptis), Roma 1967, gesammelten zu nennen. Über die Stadt Troia haben wir die Grabungsberichte des Archäologen, der nach Schliemann und Dörpfeld dort lange Kampagnen geleitet hat: C. W. Biegen (und andere), Troy, 4 Bde., Princeton 1950-54; C. W. Biegen, Troy and the Trojans, London 1963. Die archäologischen Belege für den Übergang von der mykenischen zur protogeometrischen Zeit sind systematisch untersucht worden von V. R. d'A. Desborough, The Last Mycenaeans and their Successors, Oxford 1964. Eine Gesamtübersicht über die Probleme der mykenischen Kultur: L. A. Stella, La civiltä micenea nei documenti contemporanei, Roma 1965. Die „altertumswissenschaftlichen" Daten über das materielle Leben, die aus den homerischen Epen gewonnen werden können, sind in zwei älteren Werken gesammelt und klassifiziert: E. Buchholz, Die homerischen Realien, Leipzig 1871-85; T. D. Seymour, Life in the Homeric Age, New York 1907 (Neudruck 1963). Unter den neueren allgemeinen Darstellungen der Beziehungen zwischen den homerischen Gedichten und den Ereignissen der griechischen Geschichte sind die folgenden besonders tiefschürfend und maßgebend: W. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk (1944), 3. Aufl. Stuttgart 1959; Μ. I. Finley, The World of Odysseus (New York 1954), durchgesehene Neuauflage London 1956, Harmondsworth 1957; T. B. L. Webster, From Mycenae to Homer, London 1958; D. Page, History and the Homeric lltad, Berkeley und Los Angeles 1959; C. G. Starr, The Origins of Greek Civilisation, London 1962. Ausführliche und umfassende Behandlungen des homerischen Werkes: G. S. Kirk, The Songs of Homer, Cambridge 1962; A Companion to Homer, herausg. von A. J. B. Wace und F. H. Stubbings, London 1962. Diese neueren Studien setzen die ganze Arbeit der homerischen Philologie des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts voraus. Für eine eingehende Information muß immer noch vor allem auf den Kommentar von K. F. Ameis-C. Hentze (und P. Cauer), Odyssee, Leipzig 1856; Ilias, 1868, mit
Kurze Bibliographie
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verschiedenen Ausgaben und einander bis 1964 folgenden Neudrucken zurückgegriffen werden. Unter den noch immer grundlegenden Werken nennen wir wenigstens: U. von Wilamowitz-Moellendorff, Die Ilias und Homer, Berlin 1920; P. Cauer, Grundfragen der Homerkritik (1895), 3. Aufl. Leipzig 1921-23; G. Finsler, Homer (1908), 3. Aufl. Leipzig 1924; W. Schadewaldt, lliasstudien, Leipzig 1938; P. Mazon, Introduction α l'lliade, unter Mitarbeit von P. Chantraine, P. Collart und R. Langumier, Paris 1948. In jüngerer Zeit ist die anti-unitarische philologische Kritik unter anderen besonders vorangetrieben worden von: G. Jachmann, Homerische Einzellieder, m „Symbola Coloniensia", Köln 1949, und Der homerische Schiffskatalog und die llias, Köln und Opladen 1958; P. von der Mühll, Kritisches Hypomnema zur Ilias, Basel 1952; D. Page, The Homeric Odyssey, Oxford 1955. Wesentliche Hilfsmittel für das Studium der homerischen Sprache: H. Ebeling, Lexicon Homericum (1880-85); A. Gehring, Index Homericus (1891); in Vorbereitung und im Erscheinen begriffen das große Lexikon des frühgriechischen Epos, herausg. von B. Snell, U. Fleischer, H. J. Mette, Göttingen 1955 ss.; P. Chantraine, Grammaire homerique: I. Phonetique et morphologie (1948), 3. Aufl. Paris 1958 (Neudruck 1965); II. Syntaxe, 1953 (Neudruck 1963). Wichtige Aspekte der homerischen Sprache als Mittel des poetischen Stiles sind studiert worden von: K. Meister, Die homerische Kunstsprache, Leipzig 1921; H. Frankel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums» 2. Aufl. München 1962; M. Leumann, Homerische Wörter, Basel 1950. Die Auffassung von den epischen Formeln als Dokumenten einer mündlichen Uberlieferung mit weit zurückliegenden Ursprüngen wurde erarbeitet von M. Parry, L'epithete traditionelle dans Homere, Paris 1928, und Les formules et la metrique d'Homere, Paris 1928; Parrys Theorie ist später von Α. B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge, Alass., i960 weiterentwickelt worden. Die traditionellen Elemente sind, unter einem anderen Gesichtspunkt, von W. Arend, Die typischen Szenen bei Homer, Marburg 1933, untersucht worden, der den Anstoß zu zahlreichen Spezialstudien über die feststehenden, immer wiederkehrenden Komponenten der epischen Erzählung gegeben hat. Zum ethisch-religiösen Gehalt der homerischen Welt lese man vor allem: B. Snell, Die Entdeckung des Geistes (1946), 3. Aufl. Hamburg 1955; E. R. Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951. Zum Problem der menschlichen Verantwortung: A. W. H. Adkins, Merit and Responsibility, Oxford i960; A. Lesky, Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos, in „Sitz.ber. Heidelb. Akad. d. Wiss. phil.-hist. Kl." 1961,4. Nachwirkung Homers und Geschichte der Homerkritik: G. Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis GoetheLeipzig-Berlin 1912; das nachgelassene Werk von J. L. Myres, Homer and his Critics, London 1958, ist für die neuesten Ergebnisse der homerischen Studien von Dorothea Gray vervollständigt worden.
ZEITALTER UND NACHWIRKUNG HOMERS Historische
Notizen
Das Thema, das uns in der Hauptsache hier beschäftigen wird, ist „die homerische Welt", das heißt, wir möchten die in der Ilias und der Odyssee dargestellten Umweltverhältnisse in einigen Punkten beleuchten, um eine nutzbringende Lektüre der Gedichte zu erleichtern. Wir werden einiges zu den verschiedensten Gebieten sagen müssen, zu der Psychologie der Personen wie zu ihrer Bewaffnung, zur epischen Technik wie zur Mythologie. Wir werden es aber nach Möglichkeit vermeiden, über den poetischen Wert der untersuchten Texte zu urteilen, denn, außer daß wir dazu gar nicht in der Lage wären, muß ein solches Urteil notwendigerweise noch zurückgestellt werden. Jeder weiß, daß die Urheberschaft der Epen unbekannt ist und daß, falls sie aus der Kettenarbeit von Handwerker-Sängern entstanden sind, ihr künstlerischer Wert sich den üblichen Kriterien unserer ästhetischen Betrachtungsweisen entzieht, die heute weit von denen der romantischen Theoretiker der Volks- und Gemeinschaftsdichtung entfernt sind. Wir müssen uns also bescheiden und ehrlich zugeben, daß seit mehr als anderthalb Jahrhunderten - seit es die „homerische Frage" gibt - Homer im Limbus (oder vielleicht im Purgatorium) der Dichter schwebt, wo die literarische Kritik kein Recht hat einzutreten, und aus dem bisher noch kein Philologe ihn hat hervorholen können. Wäre es möglich, so würden wir das klassische Schema jeder Voruntersuchung über ein Dichtwerk anwenden: geschichtliche Umwelt, Quellen, Lebenslauf und Persönlichkeit des Verfassers. Aber die Umstände wollen, daß das für uns drei Unbekannte sind. Es ist schon viel, wenn es gelingt, etwas Licht auf das eine oder das andere fallen zu lassen. Wenn wir uns hauptsächlich auf die ι
Codino, Homer
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Zeitalter und Nachwirkung Homers
Betrachtung der historischen Umwelt beschränken, so folgen wir damit nur einer Tendenz, die heute in der Homerkritik große Bedeutung gewonnen hat. Früher hatte die Frage nach der Urheberschaft der Epen den Vorrang, also die philologische Analyse im eigentlichen Sinne, als Untersuchung über die Einheit und die innere Geschlossenheit der Gedichte. Im vorigen Jahrhundert wurden die Texte sozusagen auf der ganzen Front mit allen nur verfügbaren philologisch-linguistischen Waffen angegriffen, aber meistens mit einem begrenzten Ziel: freizulegen, was den Prozeß ihrer Entstehung klären konnte. Die Studien im 19. Jahrhundert haben Teilergebnisse von unschätzbarem Wert gezeitigt, doch fast immer im Rahmen der „homerischen Frage", die in der Hauptsache als ein - vorbereitendes Problem für die Textanalyse angesehen wurde. 1 Heute werden die Epen einer nach Interessen und Methoden viel differenzierteren Kritik unterworfen, die sie von verschiedenen, letztlich aber zusammenfallenden Blickpunkten aus betrachtet, und die darauf abzielt, das Problem des inneren Aufbaues der Gedichte mit dem ihres historischen Standortes in Verbindung zu bringen. Neue Funde, Fortschritte in den technischen Wissenschaften und eine engere Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen, die sich mit den frühesten Zeiten der griechischen Geschichte beschäftigen, erlauben es, die homerischen Gedichte in einem viel größeren Zusammenhang zu betrachten. Die homerische Frage hat nicht an Interesse verloren, aber sie ist zu einem Teil eines weitverzweigten Systems von Untersuchungen geworden. Das Sichhäufen von archäologischen, sprachlichen und anderen Fakten läßt uns einen Homer erkennen, der nicht mehr völlig einsam und in Schatten gehüllt ist, sondern der an einem immer besser bestimmbaren ι Das bedeutet nicht, daß sie ihren Wert verloren hätten; für eine kritische Lektüre Homers ist es immer noch unerläßlich, dauernd auf den großen Kommentar von K. F. Ameis-C. Hentze (und P. Cauer) zurückzugreifen: Odyssee, Leipzig 1 8 5 6 ; Ilias, 1868; verschiedene Ausgaben und Neudrucke bis 1964. Das Gleiche gilt für den Kommentar von W . Leaf zur Ilias, 1 . Aufl., London 1886.
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Historische Notizen
Punkte des Weges steht, den Griechenland von der mykenischen bis zur sogenannten archaischen Zeit zurückgelegt hat. In den Studien über Homer - auch in den vor allem philologisch orientierten - gibt man den allgemein geschichtlichen Fragen mehr Raum; auch Teilstudien oder ganz spezielle Forschungen zielen immer direkter darauf hin. Eine systematische Bibliographie über die homerischen Studien wie die von H. J. Mette für die Jahre 1930-1956 (Lustrum I, 1956 [1957]) besorgte2 kann einen falschen und womöglich entmutigenden Eindruck machen: von den 700-800 angeführten Titeln stehen nur 13 unter der Rubrik „Soziologie", nur 2 unter „Recht", während 51 Arbeiten von sprachlich-grammatikalischen Fragen handeln und weitere 289 von semasiologischen Untersuchungen zum homerischen Wortschatz. Aber es versteht sich, daß diese letzteren zum guten Teil die Geschichte von Dingen oder Begriffen berücksichtigen, die für die Kenntnis der homerischen Welt nützlich sind; außerdem kann man über die Auswahl und die Einreihung der Titel verschiedener Meinung sein. Viele der bedeutsamsten neueren Veröffentlichungen über Homer tragen Titel wie Homer and the Monuments (Hilda L. Lorimer), The World of Odysseus (Moses I. Finley), From Mycenae to Homer (Thomas Β. L. Webster), History and the Homeric Iliad (Denys Page) und so fort. Wenn es auch wahr ist, daß in den letzten Jahrzehnten die archäologischen Funde und die Publikationen von neuen orientalischen literarischen und religiösen Texten viel Licht auf die Entwicklung Griechenlands von der Prähistorie bis zur homerischen Zeit und insbesondere auf die Beziehungen der minoischen und mykenischen Kultur zur orientalischen Welt geworfen haben, so wäre es doch heute noch verfrüht zu behaupten, man könne von jenen Jahrhunderten ein klares und überzeugendes Bild entwerfen. Die neuen, zwar zahlreichen aber verstreuten Daten über das materielle, wirtschaftliche und kulturelle Leben während der Bronze- und der frühen Eisenzeit in Griechenland raten den Historikern bei dem ζ Nachträge für die Jahre 1 9 5 6 - 1 9 6 6 in: Lustrum 1 1 , 1*
1966 [1967]
pp. 3 3 - 7 0 .
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Zeitalter und Nachwirkung Homers
Wagnis von verallgemeinernden Rekonstruktionen mehr zur Vorsicht, als daß sie ihnen Sicherheit gäben - gerade jetzt, wo die Einstellungen und Methoden der Geschichtsschreibung überprüft und diskutiert werden. Vor allem für die Zeit, die uns hier beschäftigt, gilt „daß das Übergewicht der Archäologie in den modernen Studien zur antiken Geschichte zu einer gewissen Richtungslosigkeit, einer Zufälligkeit und Willkürlichkeit der Beiträge führt. Vergleicht man die historische Forschung der letzten Jahrzehnte mit jener, sagen wir, zwischen 1870 und 1890, so wird klar, daß sie weniger einheitlich, aber reicher an neuen Tatsachen geworden ist, daß sie sich mehr der Gefahr bewußt ist, die im Verallgemeinern liegt, wenn in jedem Augenblick andere, neue Faktoren auftauchen können". 3 Aber wir haben nicht die Absicht, der Lektüre der Gedichte eine eigene, ins Einzelne gehende Schilderung jener Jahrhunderte voranzuschicken, sondern wollen im Gegenteil aus dieser Lektüre der Texte selbst einige Hinweise auf die Umwelt gewinnen, in der sich die homerischen Helden bewegen. Dabei setzen wir nur einige Hauptpunkte als anerkannt in der langen Periode voraus, die von der kretisch-mykenischen Zeit, in die großenteils die in den Epen erzählten Sagen zurückgehen, bis in die Zeit reicht, in der die Gedichte ihre endgültige Form fanden (zwischen dem Ende des 8. und dem Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr.). Fassen wir kurz zusammen. In der mittleren Bronzezeit, seit dem Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr., entwickelt sich auf Kreta die Kultur der großen Paläste, die kein ausschließlich kretisches Phänomen waren, sondern die in anderen Formen auch in Ägypten, in Mesopotamien, in Syrien und Kleinasien vorkommen. Die Pa3 A . Momigliano, Relazione del X Congresso Internazionale di Scienze Storiche (Roma, 4 - 1 1 novembre 1955), vol. VI: Relazioni generali e supplementary ρ. 4 (= „Secondo contributo alia storia degli studi classici", Roma i960, p. 320). Dieses Urteil findet sich bestätigt nach dem Primo Congresso Internazionale di Micenologia (Roma, 27 settembre - 3 ottobre 1967), der aber eine sehr nützliche Bilanz der archäologischen und linguistischen Studien über die geschichtlichen Voraussetzungen der „homerischen" Kultur gebracht hat.
Historische Notizen
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läste setzen ein entwickeltes Wirtschaftsleben voraus, eine klare Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Gruppen von Handwerkern und Künstlern, eine politische Rangordnung mit einem Fürsten an der Spitze. Außer daß sie die Residenzen der Herren waren, dienten sie auch ganz entscheidend als Umschlageplätze für die Erzeugnisse der Gemeinde; und damit begünstigten sie die Steigerung der Produktion ebenso wie die Handelsbeziehungen in die Ferne. Berühmt sind die prächtigen Paläste von Knossos und Phaistos, die größten Zentren eines Kreta, das schon in den ersten Jahrhunderten dieses Jahrtausends anfing, das Meer zu beherrschen und in regelmäßigem Austausch mit den Kulturvölkern des östlichen Mittelmeergebietes stand, und das um die Mitte des Jahrtausends seinen höchsten Glanz erreichte, wobei es in enge-freundschaftliche oder feindliche - Beziehungen zu den mächtigen Städten des mykenischen Griechenland trat, die inzwischen entstanden waren. Von den politischen Formen der kretischen oder minoischen Kultur wissen wir wenig, aber das erreichte hohe Lebensniveau wird durch den weiten Strahlungskreis der auswärtigen Beziehungen bezeugt, von der Vielfalt und Vortrefflichkeit der handwerklichen und künstlerischen Erzeugnisse, von der Architektur, die im Bau von Straßen, Brücken, Wasserleitungen ebenso Beträchtliches leistete wie im Bau von Wohnhäusern mit ihren Einrichtungen, die den raffiniertesten Anforderungen genügen konnten. Am Beginn des z. Jahrtausends v. Chr. waren Stämme indoeuropäischer Sprache in Griechenland eingebrochen, die aus Osteuropa kamen, ausschließlich oder vorwiegend Viehzucht trieben und sich nun über eine zum Teil schon städtisch gewordene Kultur lagerten (früh-helladische Kultur; „helladisch" bezeichnet in der Archäologie die Bronzezeit in Griechenland). Wir können diese Einwanderer, die jene Sprache mitbrachten, die sich schließlich auf der Halbinsel behaupten sollte, „Protogriechen" nennen, aber wir müssen uns hüten, dem Namen allzuviel Gewicht beizulegen und die Bezeichnung „Indoeuropäer" mißzuverstehen, die nur zu sehr dazu beigetragen hat, den zweifelhaften Mythos von dem unvergleichlichen „griechischen Menschen" zu nähren und viele Darstel-
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Zeitalter und Nachwirkung Homers
lungen der griechischen Geschichte zu trüben. Die Bezeichnung indoeuropäisch (oder indogermanisch) bezieht sich ausschließlich auf die Sprache, nicht auf ethnische Merkmale. Die eingewanderten Protogriechen müssen zahlreich gewesen sein. Während ein Teil von ihnen in den Berggegenden des nördlichen Griechenland Halt machte und seine Gewohnheiten als Viehzüchter beibehielt, besetzten die anderen den Rest der Halbinsel und vermischten sich mit den Ureinwohnern. Ihre Sprache wurde vorherrschend, und auch ihre Religion verankerte sich fest in den neuen Sitzen, ließ aber doch den alten Gottheiten und ihren Kulten viel Spielraum. Für das Übrige hatten die Einwanderer viel zu lernen: bei dem Übergang zur Seßhafligkeit in städtischen Siedlungen nahmen sie natürlich viel Alt-helladisches an. Rasch bevölkerten sich die alten Ortschaften wieder, die zerstörten wurden wieder aufgebaut. So entstand eine Mischkultur, die sich in zwei oder drei Jahrhunderten beträchtlich entwickelte, und die gegen 1600 v. Chr. - besonders in Mykene - durch reiche Fürstensitze und eine stark von der ägyptischen und kretischen beeinflußten Lebensweise gekennzeichnet war. In den beiden folgenden Jahrhunderten bekamen die Fürsten des Festlandes das Übergewicht über die von Kreta und beherrschten schließlich sogar die Insel; nach der endgültigen Zerstörung von Knossos (etwa 1400 v. Chr.) erreichte Mykene den Gipfel seines Reichtums, umgeben von anderen Machtzentren, darunter das nahe Tiryns, Pylos, Athen und die zahlreichen, von Lakonien bis nach Thessalien verstreuten Siedlungen. Wir wissen nicht, ob die Herren dieser festen Plätze ganz autonom waren, oder ob sie eine Art Bundesgenossenschaft oder ein Feudalsystem unter einem oder mehreren Herrschern bildeten. Sicher aber ist, daß sie mit ihren Kriegs- und Handelsschiffen, mit ihren Kriegswagen in weiten Teilen des Mittelmeergebietes anzutreffen waren, und von ihren Streifzügen nach Kleinasien brachten sie Luxuswaren und reiche Beute heim. In den - auch diplomatischen - Beziehungen zum Ausland (ζ. B. zu den Hethitern, der kleinasiatischen Großmacht) scheinen sie als eine ziemlich geeinte Macht aufgetreten zu sein. Andererseits sind die materiellen Reste
Historische Notizen
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ihrer Kultur - die Häuser mit dem großen rechteckigen Raum (dem Megaron), die Waffen, die raffinierte Ornamentik, die Kultobjekte, die Gräber, vor allem die schöne Keramik in dem ganzen von ihnen besetzten Raum sehr einheitlich; nie wieder in der griechischen Geschichte sollte eine solche Einheit in den Erzeugnissen von Kunst und Handwerk auf einem so ausgedehnten Gebiet erreicht werden. Es scheint also, daß wir auf eine gewisse vorhandene politische Einheit schließen müssen, und daß Mykene die Hauptstadt war. Zur gleichen Zeit blühte an der nord-westlichen Küste Kleinasiens die alte Stadt Troia, stark dank ihrer geographischen Lage und ihren Mauern, reich vor allem durch Viehzucht und Weberei; sie stand in engen Beziehungen zu den Mykenern (oder „Achaiern") und wurde durch Brand in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts v. Chr. zerstört. Es ist demnach gut möglich, daß ein mykenisches Bundesheer Troia belagert und erobert habe, wie Homer es erzählt, auch wenn wir nicht erwarten dürfen, daß unser Dichter so lange Zeit danach die Einzelheiten des Unternehmens einigermaßen genau beschreiben könne. Aber wir müssen darauf hinweisen, daß es sich nach unseren heutigen Kenntnissen dabei nur um eine Möglichkeit handelt. Es ist nicht einmal sicher, ob der Brand von Troia VII a (die Schicht in den troianischen Grabungen, die mit der homerischen Stadt identifiziert werden kann) durch kriegerische Ereignisse verursacht worden sei. Wenn Troia wirklich erobert und zerstört wurde, so ist damit noch nicht gesagt, daß die Sieger vom griechischen Festlande gekommene Achaier waren. Man könnte auch an eine Expedition von Achaiern denken, die sich schon irgendwo in Kleinasien festgesetzt hatten, oder an einen Einbruch jener wenig bekannten Stämme aus dem Norden, die die Ägypter „Seevölker" nannten. Diese letzteren hätten durch ein Kontingent von Achaiern unterstützt sein können, deren Nachfahren dann den Krieg auf ihre Weise, als ein rein „national-achaiisches" Unternehmen dargestellt hätten.4 Alles dies sind erlaubte Hypothesen, 4 Die Gründe für und gegen Homers Glaubwürdigkeit über den troianischen Krieg sind gesammelt in der Diskussion zwischen Μ . I. Finley, J . L. Caskey, G. S. Kirk, D. L. Page in: Journ. Hell. St. L X X X I V , 1964, pp. 1 - 2 0 .
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Zeitalter und Nachwirkung Homers
auch wenn man im allgemeinen weiterhin glaubt, daß die homerische Erzählung einen Kern historischer Wahrheit enthalte. Die mykenische Kultur fand ihr Ende im 12. Jahrhundert v. Chr., als die Dorer und die anderen griechischen Stämme, die seinerzeit im Nord-Westen Halt gemacht hatten, die Halbinsel bis hinunter zu den südlichen Inseln überfluteten; die Achaier wanderten nach Kleinasien und in die Randgebiete aus, oder sie blieben an Ort und Stelle, um das primitive Leben der Neu-Ankömmlinge zu teilen. So geht es wenigstens aus dem traditionellen Bericht über die Ereignisse hervor, wie die Griechen der klassischen Zeit sie erzählten; sie glaubten auch zu wissen, daß die dorische Wanderung wenige Jahrzehnte nach dem troianischen Kriege stattgefunden habe, und daß die von ihr verursachten Verschiebungen nach Osten dazu führten, daß die drei Hauptstämme ihre historischen Sitze am jenseitigen Ufer des Ägäischen Meeres einnahmen: die Äoler im Norden der anatolischen Westküste, die Ionier in der Mitte, die Dorer im Süden. Die Verteilung der griechischen Dialekte bestätigt im Großen und Ganzen diese Lesart. Allerdings hat man schon längst bemerkt, daß Homer eine dorische Invasion, die die Reiche auf dem Peloponnes zerstört hätte, überhaupt nicht zu kennen scheint, und die heutigen Archäologen sind sehr vorsichtig im Auswerten der ihnen bekannten Tatsachen. So scheint ζ. B. die Überlagerung der alten mykenischen Schicht durch eine vermutlich dorische Lebensform mindestens ein Jahrhundert später zu sein als der erste zerstörende Angriff von außen her, der gegen 1200 v. Chr. erfolgte.5 Selbstverständlich haben Erzählungen, die jahrhundertelang mündlich weitergegeben wurden, so verwickelte Ereignisse immer mehr vereinfacht. 5 Die archäologischen Zeugnisse sind gesammelt und ausgewertet von V. R. d'A. Desborough, „The Last Mycenaeans and their Successors", Oxford 1964. Wenn sie auch von vielen Gelehrten mit Mißtrauen aufgenommen wurde, kann man nicht von vornherein die Hypothese von R. Carpenter, „Discontinuity in Greek Civilisation", Cambridge 1966, zurückweisen, nach der eine verderbenbringende Klimaänderung das Ende der mykenischen Kultur und die Zerstreuung der Bewohner des Peloponnes herbeigeführt hat; die Dorer seien friedlich in ein schon entvölkertes Gebiet eingedrungen.
Historische Notizen
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Man erinnere sich, daß Griechenland ein halbes Jahrtausend lang ohne den Gebrauch der Schrift blieb. Wir Heutigen - glücklicher als die Zeitgenossen Homers - lesen auch mykenische Texte. Kreta hatte mindestens seit dem Anfang des z. Jahrtausends eine Schrift besessen, zunächst eine ideographische, dann eine syllabische Schrift, die in einer abgewandelten Form von den Mykenern übernommen wurde, um damit ihr Griechisch zu schreiben. Diese Schrift (die „Linear B") ist, wie allgemein bekannt, 1952 von dem genialen englischen Gelehrten Michael Ventris entziffert worden. Die Dokumente, die wir jetzt lesen können, sind Tontafeln, gefunden in Kreta, Pylos und Mykene, auf denen Inventare, Warenposten, Personenverzeichnisse stehen. Sie dienten zu Augenblickszwecken, deshalb wurden sie nicht einmal gebrannt (die uns erhaltenen sind in den Feuersbrünsten gebrannt worden, die die Gebäude zerstörten; so wurden uns die Schriften erhalten), und leider sagen sie uns wenig etwa über politische und rechtliche Verhältnisse der mykenischen Kultur und über die schwere Krise, in der sie zu Grunde ging. Aber wir wollten mit diesen wenigen Hinweisen nur daran erinnern, daß die Mykener einen ungemein hohen Lebensstandard erreicht hatten, daß sie den großen Reichen des Orients gleichstanden, daß sie enge Handelsbeziehungen zu den Ländern des zentralen und östlichen Mittelmeergebietes pflegten, daß sie über militärische Kräfte verfügten, die Unternehmungen nach außen im großen Stil durchführen konnten, daß sie Bauten errichteten - monumentaler als die kretischen Paläste. Wenn uns die Dokumente in Linear Β auch nicht so viele Kunde geben können, wie wir wünschten, so bestätigen sie uns wenigstens, daß die Gesellschaft stark differenziert war: die Bevölkerung kannte einen komplizierten hierarchischen Aufbau und war in viele Wirtschaftsgruppen von Spezialisten unterteilt. Es war eine gut durchorganisierte Welt: „Die Paläste wurden schon mehr vom Schreibstift als vom Schwert regiert."6 6 F. Schachermeyr, „Ursprung und Hintergrund der griechischen Geschichte" in: Propyläen-Weltgeschichte, Bd. III, Berlin-Frankfurt-Wien 196z, p. 62.
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Zeitalter und Nachwirkung Homers
Die homerischen Epen erzählen von mykenischen Dingen und Ereignissen, aber die homerische Welt kann sich ohne Hilfe der Schrift verwalten. Wenn vor etwa einem Jahrhundert die ersten wichtigen archäologischen Funde die Zuverlässigkeit Homers als Zeugen für die mykenische Kultur zu bestätigen schienen, so kommen heute mehr die Verschiedenheiten als die Ähnlichkeiten zwischen dem historischen und dem homerischen Mykene zu Tage. Die Epen haben ihre endgültige Form Jahrhunderte nach den erzählten Ereignissen gewonnen, sie sind in jenem „griechischen Mittelalter" entstanden, von dem wir so wenig wissen (dem n . bis 8. Jahrhundert; sein Beginn fällt mit der technischen Revolution zusammen, die der Gebrauch des Eisens herbeiführte). In diesen „dunklen Jahrhunderten" machte Griechenland verwickelte Begebnisse durch: es kam zu mannigfachen Mischungen zwischen den alten und den jungen Stämmen, zu Verschiebungen in Massen oder in kleinen Gruppen; es entstanden beträchtliche Kulturunterschiede zwischen den ausschließlich von den Neu-Ankömmlingen bewohnten Ortschaften, den von den Ereignissen weniger berührten Gegenden wie Attika mit Athen, und den Volksteilen, die sich in Kleinasien im Kontakt mit verschiedenen Völkern ganz neuen Lebensbedingungen gegenüber sahen. Wir können sagen, daß Griechenland ganz von vorne anfing, oder auch, daß die eigentliche griechische Geschichte gegen das Jahr iooo v. Chr. beginnt. Wenn man sagt, daß die klassischen Griechen die Abkömmlinge der Mykener seien, so erweist man damit nur einem Mythos Ehre, den sie selbst geschaffen haben. Auf diesem Punkt muß bestanden werden, weil zur Ausbildung dieses Mythos gerade die epische Dichtung entschieden beigetragen hat, die, obwohl ein Erzeugnis des griechischen Mittelalters, von Generation zu Generation lebhafte und augenscheinlich echte Überlieferungen von der mykenischen Kultur so weitergab, als seien es Erinnerungen an gestern. Dabei überging sie ihren völligen Untergang mit Stillschweigen, so daß im 8.-7. Jahrh. der aufkommende Adel sich schmeicheln konnte, in der heroischen Welt der Epen seinen direkten Vorgänger und überdies sein Vorbild zu finden.
Historische Notizen
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Der moderne Historiker muß kühler zwischen Illusion und Wirklichkeit unterscheiden, auch wenn es ihm schwerfällt, auf die alte klassizistische Vorstellung von einer geraden und harmonischen Entwicklung des hellenischen Volkes zu verzichten. So kommt es, daß auch heute noch viele die Gründlichkeit der am Ende des 2. Jahrtausends stattgehabten Umwälzungen abzuschwächen suchen. Oder auch - ausgehend von der üblichen vorgefaßten Meinung, das griechische Volk habe seit der Schöpfung eine ganz besondere Mission vom Lieben Gott bekommen - interpretiert man den Rückfall in die Barbarei als eine heilsame und von der Vorsehung gesandte Rückkehr zu den Ursprüngen, dank der Ankunft eines Schwesternstammes, der Dorer, der nach höherem Ratschluß in Reserve gehalten worden war und schließlich herbeigerufen wurde, um das Wesen des Griechentums wiederherzustellen. Nach dieser Deutung hätte die kretisch-mykenische Frühreife die Zeiten in einem nicht-griechischen Rhythmus zu sehr beschleunigt, und so hätte sie ihren Zusammenbruch verdient, damit die Griechen ihre historische Sendung hätten erfüllen können. Aber besser läßt man das beiseite, was ein Volk während seiner Lebensdauer tun „sollte"; d. h.: man darf nicht über das hellenische Mittelalter urteilen, wenn man schon die klassische Polis als notwendigen Ankunftspunkt vor sich sieht. Zwar kann man nicht leugnen, daß es zwischen der mykenischen Vergangenheit und dem hellenischen Mittelalter eine beachtliche Kontinuität gibt, aber sie gehört hauptsächlich der mythologisch-dichterischen und religiösen Sphäre an, vor allem ihrem Äußeren, und es ist leicht, sie zu überschätzen. Unter den gewichtigen Verfechtern dieser Kontinuität finden sich eben gerade Literatur- und Religionshistoriker, auch bedeutende (wie Martin P. Nilsson), während die Archäologen zurückhaltender sind. Diese ideologischen Elemente könnten dem, der es will, dazu dienen, das Vorhandensein eines Nationalgefühles und womöglich ein aufkommendes Geschichtsbewußtsein in dem damaligen Griechenland zu beweisen, aber über die wirklichen Lebensbedingungen sagen sie wenig aus.
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Im sozialen Leben kehrte das festländische Griechenland nach der dorischen Invasion zu Zuständen zurück, die wir der Einfachheit halber ruhig als barbarisch bezeichnen können. An die Stelle des verschwundenen komplizierten und entwickelten politischen Systems trat wieder die Stammesordnung, ohne eigentliche Städte und ohne Staatsgefüge. Man hat „mit verstärkter Zersplitterung neues und weithin siegreiches Vordringen primitiver Zustände und damit entsprechender politischer Gestaltung". „Nach dem äußeren wie inneren Untergang der mykenischen Zeit und ihres Königtums trat jetzt die Stammesordnung wieder in ihr Recht." „Jedenfalls ist das Griechentum des 11.-9. Jahrh. durch seine kulturelle und wirtschaftliche Primitivität vom mykenischen Griechentum deutlich unterschieden; es bedeutet einen neuen Beginn."7 In dem nachmykenischen Griechenland ist das Grundelement der Gesellschaft die primitive demokratische Gemeinschaft, die in Verwandtschaftsgruppen verschiedenen Umfanges von der engbegrenzten Familie bis zum Stamm aufgegliedert ist. Wir sind gezwungen, nur ganz allgemein über diese Gruppen zu sprechen (Phratrien, Geschlechter, Clans, Stämme oder wie man sie einordnen und benennen will), weil, wenn ihr Vorhandensein auch in späterer Zeit, als sie schon viel von ihrer ursprünglichen Bedeutung verloren hatten, gut belegt ist, wir für die uns angehende Periode keine direkten Zeugnisse haben; außerdem werden zwischen den verschiedenen Gegenden und den verschiedenen größeren Stämmen Unterschiede bestanden haben. Hier ist auch nicht der Ort, um die gefährlichen Vergleiche mit anderen, uns besser bekannten „primitiven" oder „wilden" Völkern anzuwenden, die eine ähnliche Phase durchmachen. Man wird sagen können, daß der Zusammenhalt in einer Gemeinde mehr auf der wirklichen oder ange7 V. Ehrenberg, „Der Staat der Griechen", 2. Auflage von „Der griechische und hellenistische Staat" (Gercke-Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft, 3. Aufl., Bd. III/3, 193z), I, Leipzig 1 9 5 7 , pp. 8, 1 5 . Die Stellen sind unverändert in den folg. Ausgaben Oxford i960 und Zürich 1965. Derselbe Ehrenberg zeichnet schnell und präzis die Entwicklung des griechischen Mittelalters in: „Epochs of Greek History", Greece and Rome, VII, i960, z, p. 105.
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nommenen Verwandtschaft beruht, als auf dem Umstand, daß man an demselben Orte wohnt, daß die einfachen wirtschaftlichen Verhältnisse keine Ämter oder politisch-staatlichen Mächte als Vertreter der Gemeinde oder von Teilen derselben erfordern, daß jede Gruppe in der Versammlung ihren Häuptling, den „König" wählt, dem während der Wanderungen, im Kriege, bei Raub- und Eroberungszügen von der Versammlung militärische Befugnisse als zeitlich begrenzte und widerrufbare Gewalt übertragen werden. Doch die Bezeichnung „König", die wir benutzen müssen, darf nur - es sei ein- für allemal gesagt - mit großem Vorbehalt verwendet werden: das Wort basileus, das im klassischen Griechisch auch in etwa unserem „König" entsprechen kann, schillert bei Homer in seiner Bedeutung, indem es ebensogut den Führer eines Bundesheeres wie den Lenker einer wirklichen „politischen" Gemeinde wie auch das Haupt einer Familie oder eines Adelsgeschlechtes bezeichnet, wenn die Aristokratie sich schon im Schosse der ursprünglichen Gemeinde gebildet hat. So muß in der Ilias, wo alle Führer des achaiischen Heeres auch „Könige" sind, Agamemnon manchmal als „mehr König" als die anderen oder „am meisten König" bezeichnet werden (so wörtlich im griechischen Text: IL IX, 160, 392.; cfr. Od. XV, 533; IL IX, 69). Grundlage des Wirtschaftslebens ist zunächst die Viehzucht, dann für lange Zeit der Ackerbau, der auf Gelände betrieben wird, das allen gemeinsam gehört und auf Zeit an Familien oder größere Verwandtengruppen zur Benutzung vergeben wird. Arbeitsteilung kennt man nur in ganz geringem Maße. Trotzdem führen die Kriege und Beutezüge zu gewissen Ungleichheiten: auf der einen Seite versucht das militärische Oberhaupt, seine Stellung zu festigen, sie dauernd und wenn möglich erblich zu machen; auf der anderen Seite entstehen bevorrechtete Familien und Gruppen, die sich der Kontrolle durch den König (von jetzt ab schreiben wir das Wort ohne Anführungszeichen) zu entziehen suchen. Aus dieser Verschiedenheit von Macht und Mitteln kommt es zur Aneignung des Bodens, der zum Privatbesitz der stärksten Familien wird. Es entsteht der Zwiespalt zwischen der Stammes- oder Militärmonar-
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chie und der aufkommenden Aristokratie, die die Basis des Staates und der „politischen" Ordnung im eigentlichen Sinne ist. Dieser Prozeß, den wir hier auf ein einfaches Schema gebracht haben, wiederholte sich bestimmt mit unendlichen Abweichungen in der ganzen griechischen nach-mykenischen Welt und führte zu einem Überwiegen der Aristokratie. Indem diese die wirtschaftliche Macht an sich riß und die alte demokratische Stammesordnung um ihres eigenen Vorteils willen sprengte, begünstigte sie, von Kleinasien ausgehend, die Bildung der Polis und schuf jene Einrichtungen, die - nach Homer - aus der griechischen Kultur das uns bekannte einmalige und unverkennbare Phänomen machten. Alles das ist sehr undeutlich, und wir haben nicht gesagt, an welchem Punkte man das homerische Zeitalter unterbringen solle, aber wir wiederholen es - es ist besser, unsere Texte zu prüfen, ohne mehr als diese allgemeinen Kenntnisse vorauszusetzen. Da die historische Dokumentation so gering ist, während Homer ein sprechender, wenn auch sibyllinischer Zeuge ist, so möchten wir einen Überblick über die Gedichte ohne vorgefaßte Meinungen geben, möchten wir sie zu lesen versuchen, ohne uns von dieser oder jener herkömmlichen Auslegung beeinflussen zu lassen. Es handelt sich darum, bis zum Letzten jenem so einfachen und doch so schwierig anzuwendenden Prinzip zu folgen, das die alexandrinische Kritik zur Interpretierung der homerischen Sprache anzuwenden versucht hatte: Homer durch Homer zu erklären, also den Sinn der Wörter durch den Text allein zu finden ohne irgendetwas vorauszusetzen, seine Sprache zu verstehen, indem sie versuchte, sich dem Einfluß der Bedeutungen zu entziehen, die die Wörter später bekommen hatten. Dieses Prinzip ist heute, bei stärkerem historischem Gewissen, von den besten Kritikern von neuem zu Ehren gebracht worden: „Homer nur aus ihm selbst erklären, verspricht, daß man die Dichtung selbst lebendiger und ursprünglicher versteht, daß man homerischen Wörtern, wenn man ihren Sinn genauer faßt, in ihrem Zusammenhang plötzlich ihren alten Glanz wiedergibt. Der Philologe kann da auch heute noch an vielen Stellen wie der Restaurator eines alten Bildes die
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dunkle Schicht von Staub und Firnis entfernen, die die Zeiten darüber gezogen haben, und so den Farben die Leuchtkraft ihrer Schöpferstunde zurückgeben."8 Natürlich geht man von den Worten aus, um Situationen und Anschauungen zu rekonstruieren, und diese Art von vorurteilsloser Lektüre hat für die Erforschung der homerischen Gesellschaft, Ethik und Religion schon beachtliche Erfolge erzielt und vielen klassizistischen Fälschungen den Garaus gemacht. Wenn wir diese schon freigelegte Straße zu verfolgen suchen, so erklären wir uns sofort Schuldner bei anderen für einen großen Teil dessen, was wir sagen werden. Wenn wir darauf verzichten, alle benutzten bibliographischen Quellen in Anmerkungen zu zitieren, so tun wir das aus mancherlei Gründen, vor allem aus rein praktischen Erwägungen, indem wir berücksichtigen, daß auf dem so vorzüglich organisierten Felde der klassischen Studien jeder, der etwas sucht, es immer leicht finden kann; aber auch aus List, weil ein Anmerkungsapparat nicht nur unsere Schuldenlast anderen gegenüber sondern auch die Mängel unserer Kenntnisse enthüllen würde; und auch um eines ruhigen Daseins willen, weil wir - außer die gebührenden Ehrenbezeugungen und Anerkennungen zu verteilen - auch unsere abweichenden Meinungen begründen müßten, mit dem Risiko, nicht immer „jene Geduld und jene gute Laune zu bewahren, die man so leicht beim Lesen von Büchern über die homerische Frage verliert". 9 Bei unserer Lektüre werden wir also einfach versuchen, den Sinn dessen, was Homer sagen will, zu erfassen, und manchmal auch den Sinn dessen, was er sagt, ohne es zu wollen. Die vorsichtigste Methode ist die, bestimmte Stellen näher zu betrachten und, falls man zu einem Ergebnis kommt, nicht übereilt zu verallgemeinern. Denn auch wenn wir den Namen Homer ohne Anführungsstriche schreiben, so glauben wir doch keineswegs, daß alle Verse der 48 Gesänge von einer einzigen Person geschrieben seien, auch nicht von zwei Personen, und deshalb lassen sich aus 8 B. Snell, „Die Entdeckung des Geistes", 3. Aufl., Hamburg 1 9 5 5 , p. 1 7 . 9 D. Page, „ T h e Homeric Odyssey", Oxford 1 9 5 5 , p. 52.
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einer einzigen Stelle keine Schlüsse ziehen, die für den ganzen Homer gültig wären. Von diesem Gesichtspunkt aus ist unsere Methode, Homer durch Homer zu erklären, von der alexandrinischen sehr verschieden. Man kann nie sicher sein, daß zwei homerische Stellen von derselben Hand und aus derselben Zeit stammen. Deshalb ist es unerläßlich, wenigstens in großen Zügen eine Übersicht über die Geschichte der Homer-Interpretation zu geben und die in der Diskussion über die homerische Frage erreichten Ergebnisse anzudeuten - wenigstens so weit, wie es von der Art Lektüre erfordert wird, wie wir sie machen wollen.
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Es wird nicht überflüssig sein, einige Worte über das Schicksal der Epen im antiken Griechenland zu sagen. Nicht als ob die griechischen Kritiker der klassischen und nachklassischen Zeit in irgend einer Form die homerische Frage, so wie wir sie verstehen, vorausgenommen hätten (wenn nicht in seltenen Fällen, die für uns nur ein rein äußerliches Interesse haben): die homerische Frage konnte erst von der kritisch-philologischen Methode und der modernen Sprachwissenschaft gestellt werden. In der antiken Kritik dürfen wir belangreiche Vorwegnahmen in diesem Sinne nicht suchen (wir wollen auch nicht ihre „Irrtümer" und Naivitäten aufzählen). Es genügt uns, die griechische Art, die Epen zu betrachten, mit der unseren zu konfrontieren, nicht so sehr, um aufzuzeigen, was die Griechen „noch nicht" von Homer wußten, als vielmehr um darauf hinzuweisen, daß sie bei ihm vieles fanden, was unsere Philologie uns nicht wieder verschaffen kann. Wir sagten, daß wir keine bestimmten Angaben haben über die historische Umwelt, in der die Gedichte entstanden sind, über ihre Quellen, über die Lebensgeschichte und die Persönlichkeit des Verfassers oder der Verfasser. Die Griechen der klassischen Zeit wußten davon nicht mehr als wir, aber sie grämten sich nicht darüber: für sie war das einzig Wichtige der Besitz der Gedichte. Was
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deren buchstäbliche Form anging, so wußten einige oder glaubten zu wissen, daß im 6. Jahrhundert v. Chr. Peisistratos, der Tyrann von Athen, oder irgend jemand für ihn, dem Text die endgültige Fassung gegeben habe; aber die meisten hatten keine philologischen Skrupel. Unser Text geht in der Hauptsache auf den zurück, den die Gelehrten im ägyptischen Alexandria im 3.-2. Jahrhundert v. Chr. festgelegt haben. Vor den alexandrinischen Ausgaben waren verschiedene Fassungen im Umlauf, von Städten oder einzelnen Herausgebern besorgt, die auf irgend ein altes, von Rhapsodenzünften gehütetes „Original" zurückgingen. Das Vorhandensein eines solchen Originales ist völlig unbeweisbar, doch ist anzunehmen, daß man für Gedichte solchen Umfanges wie die homerischen so bald wie möglich von jenem für ihre Erhaltung unersetzlichen Instrument Gebrauch gemacht hat: von der Schrift. Andererseits aber verhinderte die schriftliche Aufzeichnung keineswegs Änderungen. Erstens blieb die Weitergabe der Gedichte noch für lange Zeit der mündlichen Überlieferung mit all ihren unvermeidlichen Gefahren anvertraut. Von einem Zirkulieren von Büchern kann man nicht vor dem 5. Jahrhundert v. Chr. sprechen, und auch dann war die Gewohnheit zu lesen ganz beschränkt. Für die klassischen Griechen hatte es keinen Sinn, ein Epos, eine Tragödie, ein lyrisches Gedicht zu lesen, die zum Vortrag, zur Aufführung oder für den Gesang bestimmt waren. Zweitens kannten die Griechen nicht unseren Begriff vom literarischen Eigentum; wenn auch später der sich sofort verbreitende Ruhm eines Dichtwerkes und seines Verfassers genügend Garantie für seine Unversehrtheit bot, so war in der archaischen Zeit ein Text allen Arten von Zusätzen und Eingriffen ausgesetzt. Besonders ausgesetzt waren ihnen die epischen Gedichte, Fortsetzungen einer fließenden und unpersönlichen poetischen Überlieferung, mit ihrem gleichförmigen und am leichtesten nachzuahmenden Stil. Bei etwaigen Zusätzen zum homerischen Werk dürfte man nicht von Fälschung oder Plagiat sprechen: den Interpolator trieb der Geist der Nacheiferung, er huldigte der Größe 2
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des Dichters, den er nachahmte, und er hätte sich sehr gewundert, Gegenstand moralischen Tadels zu werden. Welche Vorstellung man auch von dem homerischen „Original" haben mag, so wird man doch als sicher annehmen können, daß andere nacheinander Hand daran gelegt haben. Man bedenke, daß von den drei Werken, die unter dem Namen des Hesiod - des ersten und originellen Dichters, der in erster Person spricht und seine Gesänge sozusagen unterschreibt - überliefert sind, die Werke und Tage einen langen, ganz sicher unechten Zusatz enthalten (die Tage), die Theogonie von späteren Dichtern sehr überarbeitet und erweitert und der Schild eine nicht-hesiodische Nachahmung Homers ist. Das alles ist für den modernen Kritiker sehr entmutigend. Aber wir haben Gründe genug, um anzunehmen, daß nach einer nicht allzu langen Anfangszeit verhältnismäßigen Fließens das homerische Werk bis zum Hellenismus ohne wesentliche Änderungen überliefert worden ist. Die alexandrinischen Kritiker fanden die Texte nicht etwa in chaotischem Zustande vor; die früheren Herausgeber und Hüter hatten viel zu ihrem Schutze beigetragen. Und aus den Zeugnissen, die wir über die vor-alexandrinischen Ausgaben haben (homerische Stellen, die von klassischen Autoren zitiert werden oder in Papyri gefunden wurden), sehen wir, daß die durch den Wandel der Zeiten und die Tätigkeit der Rhapsoden bedingten Veränderungen hauptsächlich in einer Ausweitung des Textes bestanden, in einem Hinzufügen von Versen, die aus denselben homerischen Gedichten genommen waren, die dem Aufbau der Episoden keinen allzu großen Schaden zufügten und ihren Sinn nicht veränderten. Die Griechen haben bald begonnen, die Epen mit Hochachtung zu betrachten. Deren eigener früher Ruhm hat sie vor radikalen Änderungen bewahrt. Außerdem haben sie beizeiten eine solche Sonderstellung in der griechischen Kultur eingenommen, daß niemand es mehr gewagt hätte, sie zu überarbeiten. Homer war die Bibel der Griechen, wie man oft sagt. Aber es war weder ein heiliges, noch erst recht nicht ein offenbartes Buch; die Griechen haben nie eine Heilige Schrift besessen. Homer war für sie ein Künstler,
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außerordentlich begabt, aber kein Visionär. Der Text wurde hochgehalten, aber als Ausfluß der Dichtkunst und menschlichen Weisheit, und als solcher wurde er gehütet. Da die Verehrung für den buchstäblichen Ausdruck fehlte, war es unnötig, eigennützig Änderungen vorzunehmen. Es gab keine offiziellen Ausleger priesterlicher Art. Der Gedanke, einen Text zu kanonisieren, setzt einen parteilichen, polemischen und intoleranten Geist voraus, den die Griechen nicht nötig hatten. Niemand war gezwungen zu bekennen, er glaube an das Wort Homers. Trotzdem betrachteten alle sein Lied außer als Meisterwerk der Dichtkunst auch als Quelle zur Belehrung über Geschichte und Wissenschaft, über Politik, Religion und Moral. Genauer gesagt: ein Grieche hätte eine Unterscheidung zwischen der Dichtung und den realen und ideologischen Inhalten nicht verstanden. Und noch weniger hätte er bei Homer eine Trennung in ewig künstlerische Werte und „historisch bedingte" und überwundene Gesichtspunkte zugestanden. Die allgemeine Anerkennung Homers als Lehrmeisters war das Ergebnis einer überlegten Wahl. Homer war nicht der einzige epische Dichter gewesen. Zu seiner Zeit waren viele andere Gedichte entstanden, die zum Teil noch in der klassischen Zeit und später vorlagen. Einige dieser Gesänge des sogenannten „Epischen Zyklus" hatten zum Stoff den troianischen Krieg: die Kyprischen Gesänge (oder Kyprien) die Ursachen und den Anfang des Krieges; die Aithiopis die letzten Taten des Achill; die Zerstörung von llion und die Kleine Ilias das Ende des Krieges; die Rückkehr die Abenteuer der von Troia heimkehrenden Helden, eine Parallel-Erzählung zur Odyssee; die Telegonie das Ende des Odysseus. Eine Zeitlang waren die Griechen geneigt, die gesamte epische Produktion Homer zuzuschreiben, später wurden dann andere als Verfasser der „kleineren" Epen genannt, und damit war das Schicksal des Zyklus besiegelt. Er ging verloren, weil er weniger geschätzt wurde. Wir können keine Vergleiche anstellen, aber die Tatsache ist jedenfalls tröstlich, daß die Verdammung des Zyklus weder von einer Akademie, noch von einer politischen Autorität oder einer kirchlichen Stelle ausgesprochen wurde. Und ernstzunehmende Zeugen
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sagen uns, daß der Zyklus bedeutend weniger wert war als Ilias und Odyssee. In seiner Poetik (XXIII) sagt Aristoteles, als er von der Einheit der Handlung im epischen Gedicht handelt: „Über die erzählende und im Versmaß gebundene Darstellung ist schon soviel klar, daß sie ihre Gehalte aufbauen soll wie in den Trauerspielen, um eine ganze und abgeschlossene Handlung herum, die Anfang, Mitte und Ende hat, damit sie wie ein einziges und ganzes Geschöpf den Genuß gewährt, den sie gewähren soll, und nicht Gewohnheiten aus der Geschichtsschreibung annimmt, die nicht über eine einheitliche Handlung zu berichten hat, sondern über eine bestimmte Zeit und was in ihr mit einem oder mehreren sich zugetragen hat, wobei die Einzelheiten ganz beliebig zusammenhängen . . . So verfahren in der Regel die meisten Dichter. Daher erscheint uns, wie schon einmal gesagt wurde, Homer neben den anderen als gewaltiger Dichter, weil er nicht versucht hatte, den ganzen Krieg, obwohl er Anfang und Ende hatte, zu besingen (das wäre ja ein zu großer und unübersehbarer Vorwurf geworden), und auch nicht einen Gegenstand, der, im äußeren Umfang beschränkt, durch seine Buntheit zu verwickelt war. So aber nimmt er sich nur einen Abschnitt vor, in den er das andere als Beiwerk hineinstellt, ζ. B. den Schiffskatalog und andere Abschweifungen, die ihm seine Dichtung gliedern müssen. Die andern haben nur einen und denselben Helden oder eine und dieselbe Zeit mit einer vielverzweigten Handlung, wie der Dichter der Kyprien oder der Kleinen Ilias" (üb. P. Gohlke). Aristoteles fügt noch eine wichtige Bemerkung hinzu: „So kommt es, daß aus der Ilias und Odyssee je ein, höchstens zwei Trauerspiele hervorgegangen sind, aus den Kyprien dagegen viele, aus der Kleinen Ilias mehr als acht, ζ. B. Das Urteil über die Waffen Achills, Philoktetes, Neoptolemos, Eurypylos, Bettler, Lakonierinnen, Ilions Untergang, Abfahrt, Sinon, Troerinnen" Wenn die späteren Dichter bei Homer keine Stoffe für ihre Werke finden konnten, so wird das nach Aristoteles in erster Linie dem hervorragenden epischen Aufbau verdankt, in dem keine Episode derartig isoliert steht, daß sie für sich allein weiterentwickelt werden könnte; die
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zyklischen Gedichte dagegen dürften einen einfachen, chronikartigen Ablauf gehabt haben. Und man berücksichtige auch, daß sie viel kürzer als die homerischen Epen waren (die Kyprien hatten elf Gesänge, die Kleine Ilias vielleicht vier); die in ihnen zusammengedrängten Episoden müssen in sehr knapper Form behandelt worden sein. Es ist interessant, in diesem Zusammenhang im Vorübergehen daran zu erinnern, daß gerade viele der bekanntesten Episoden aus dem troianischen Krieg, die von der späteren Dichtung bevorzugt und dann sehr populär geworden waren, im Zyklus gestanden haben, bei Homer aber nicht einmal indirekt erwähnt werden: das Urteil des Paris (nur im letzten Gesang der Ilias angedeutet), das Opfer der Iphigenie, der Mord an Palamedes, die Geschichte von Philoktet (bei Homer zwei- oder dreimal flüchtig berührt), der Raub des Palladions, die Prophezeiungen der Kassandra, die Tötung der Polyxena usw. Aber die späteren Dichter hatten einen anderen Grund, es zu vermeiden, homerische Motive in ihren "Werken umzuschmelzen: so groß war die Autorität der homerischen Version der Geschehnisse, daß sie sie sozusagen als endgültig ansehen mußten. Von den 32 uns überkommenen Tragödien zum Beispiel behandelt nur eine, der pseudo-euripideische Rhesos, eine Episode aus der Ilias und ausgerechnet jene, die schon der antiken Kritik ein fremdes und aus dem Gefüge des Gedichtes herausfallendes Einschiebsel zu sein schien (die Geschichte von Dolon im X. Gesang). Man versteht, daß Aischylos versicherte, seine poetischen Stoffe seien nur die Brocken von dem großen homerischen Gastmahl. Die Art von Bewunderung, die die Griechen für Homer hegten, ist verschieden von der, die wir, auch für einen modernen Dichter, hegen können. Ehe wir zum ästhetischen Urteil, sei es auch das allergünstigste, kommen, gehen wir von Vorbehalt zu Vorbehalt und scheiden ideell aus dem Werk das aus, was es uns an Aktualität und Wert verloren zu haben scheint. Homer mußte als geschlossenes Ganzes angenommen oder abgelehnt werden. Die meisten nahmen ihn an. Allerhöchstens konnte man eine kleine Einschränkung machen, wenn etwa ein von Homer beschriebener
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Brauch in der Gegenwart nicht mehr geübt wurde, und wenn eine seiner Behauptungen der historischen Kritik anfechtbar erschien. Thukydides (I, ίο) ζ. B. sagt, als er vom troianischen Krieg spricht: „Man muß daher auch glauben, daß jener Feldzug der bis dahin größte gewesen ist, jedoch die Bedeutung der jetzigen Kriege nicht erreicht. Wenn man dem Gedichte Homers auch hierin Glauben schenken will, der doch als Dichter den Krieg möglichst ausgeschmückt hat, so erscheint er auch bei ihm ziemlich unbedeutend" (übers. A. Horneffer). Aber die Geschichtlichkeit des bezweifelt. In allen Fällen ging Wahrhaftigkeit, nicht um Fragen sich, die als solche nicht in Frage
troianischen Krieges hat man nie es bei der Einschätzung um die des künstlerischen Verdienstes an kamen.
Wir können annehmen, daß die Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. das homerische Vorbild als ganz besonders anachronistisch auf dem Gebiet der Religion und der Sittenlehre empfunden haben. Aber gerade auf diesen Gebieten blieb sein Einfluß ungeheuer. Für Herodot (II, 53) waren Homer und Hesiod als erste „es gewesen, die den Griechen die Sagen von der Abstammung ihrer Götter geschaffen haben, die den Göttern Namen gegeben, ihnen Ehren und Künste zugewiesen und ihre Gestalt beschrieben haben" (übers. Th. Braun). Diese Feststellung ist umso bemerkenswerter, als Homer, da er wenig eigentlich Religiöses enthält und keine zusammenhängenden Angaben über den Kult gibt, im Gegensatz zu Hesiod gewiß nicht ein theologischer Systematiker genannt werden kann. Seine Götter, die weder die Schöpfer noch die Herren der Welt sind, greifen nur in die Geschehnisse ein, ohne sich allzusehr von den Helden zu unterscheiden - außer daß sie die Stärkeren sind und ihr moralisches Verhalten besonders beklagenswert ist. Die Griechen selbst sahen das, aber auch hier war eine Scheidung unmöglich: die Dichtung zu retten und die homerische Götterwelt für heruntergekommen zu erklären. Die Unversöhnlichsten mußten also die Gedichte in Bausch und Bogen verurteilen, so wie es der Philosoph Xenophanes im 6. Jahrhundert v. Chr. tat: „Homer und Hesiod haben
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den Göttern alles zugeschrieben, was bei den Menschen Schande und Schmach ist: Rauben, Ehebrechen und gegenseitiges Betrügen." Um 500 v. Chr. war Heraklit noch radikaler: „Homer verdient es, von den Wettspielen fortgejagt und gegeißelt zu werden." Aber das war nicht die herrschende Meinung. Wenn man schon nicht daran dachte, aus den Gedichten das auszumerzen oder in ihnen das zu verbessern, was dem Gewissen des klassischen Griechenland widerstrebte, so versuchte man noch weniger, jene inneren Widersprüche zu erklären, auf die sich die Aufmerksamkeit der modernen Kritik konzentriert hat. Nur in hellenistischer Zeit, in einem abseitigen kulturellen Milieu, das dem Bücherstudium ergeben war, das die Dichtkunst schon als ein intellektuelles Spiel ansah - streng in der Form, aber nicht allzu verpflichtend für den Verfasser und sein Publikum wurden die Epen einer nüchternen historischen und philologischen Kritik unterzogen. Im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. stellten die Gelehrten Zenodotos von Ephesos, Aristophanes von Byzanz und Aristarchos von Samothrake über die homerischen Gesänge weitgreifende und ins Einzelne gehende Forschungen an, die in den von ihnen besorgten Ausgaben gipfelten. Aber nichts veranlaßte sie, an der Einheit der Gedichte und ihrer Urheberschaft zu zweifeln. Die Theorie einiger „Separatisten", die die Ilias und die Odyssee zwei verschiedenen Verfassern zuwiesen, fand wenig Gefolgschaft; es war eine kühne Theorie, aber zu sagen, sie hätten die homerische Frage vorausgenommen, hieße ihnen zu viel Ehre antun. Die Geschichte des Ruhmes Homers von der alexandrinischen Zeit bis zur Renaissance, die ein interessantes Kapitel in den Wechselfällen der europäischen Kultur darstellt, kann hier nicht berührt werden. Im Vertrauen auf das Zeugnis der damals bekannten lateinischen Autoren konnte Homer im Mittelalter mit Sicherheit für den „Fürsten der Dichter" (Dante) auch von denen gehalten werden, die seine Werke nie gesehen hatten. Der erste Italiener, der einen Originaltext von Homer besaß, war Petrarca; er hütete ihn wie einen Schatz, kam aber nie dazu, ihn zu lesen, da er kein Griechisch konnte. Dieses Erlebnis aber wurde Boccaccio zuteil.
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Der westlichen Kultur zurückgegeben fand Homer sich in einer merkwürdigen Lage: der Lehrmeister der meist bewunderten antiken Dichter wurde nach den Regeln beurteilt, die man aus diesen Klassikern gezogen hatte, und das konnte für ihn nicht günstig sein. Seit dem Ausgang der Spätrenaissance hatte er Schmäher in zwei entgegengesetzten Lagern: auf der einen Seite die Befürworter einer strengen klassizistischen Stillehre, Anhänger des Iulius Caesar Scaliger, der in seiner Poetica von 1561 die Ungeschliffenheit Homers der Vollkommenheit Vergils gegenüberstellte und damit ein Muster für seine Beurteilung während des ganzen folgenden Klassizismus aufstellte. Auf der anderen Seite aber standen die Neuerer unter den Literaten, die Modernisten und Nationalisten; diese hatten in ihrer Polemik gegen die Regeln und die literarischen Autoritäten leichtes Spiel, wenn sie als Vertreter der antiken Dichtkunst gerade das Werk Homers, das am meisten barbarische, am weitesten von den modernen Ideen entfernte, wählten. Im 17. Jahrhundert wurde die offen zur Schau getragene Respektlosigkeit gegen Homer ein Zeichen von gutem Geschmack und Intelligenz. Ein Vorläufer des Angriffs auf die Autoritäten war Alessandro Tassoni, der, außer in seiner Secchia rapita (1622) eine Parodie der Epen zu geben, im X. Buch der Pensieri diversi (1620) Homer ganz offenkundig lächerlich machte und die Überlegenheit der Modernen ausrief. Hier kündeten sich die Leitmotive der berühmten Querelle des anciens et des modernes an, die im Barock ausbrach und deren Kosten zum großen Teil Homer tragen mußte. In der Academie Fran^aise erklärte sich die Mehrheit seit dem T a g ihrer Gründung (1635) gegen Homer und die Alten. Die gebildete Gesellschaft im Paris des 17. Jahrhunderts konnte keinen Dichter ertragen, der in der Form nicht „natürlich" war, schal in seinen Ideen, vulgär im Inhalt, mit seiner plebejischen Sprache, seinen Helden, die mühselige Handarbeit leisteten; einen Dichter, der die vor dem Eingang zu des Odysseus Palast aufgehäuften „Mengen von Mist" beschrieb (Od. XVII, 297). Einer der Wütendsten unter den Modernisten war Charles Perrault {Parallele des anciens et des modernes, 1688-97), der Verfasser der bekannten
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Fabeln; sein Bruder Pierre übersetzte das Gedicht des Tassoni und veröffentlichte es mit einem Vorwort, das ein weiteres Dokument der quereile ist. Unter den wenigen Verteidigern Homers (Racine, Boileau) sei Madame Anne Dacier erwähnt, die den nützlichsten Beitrag zur Verteidigung der guten Sache lieferte, indem sie eine getreue Übersetzung der Ilias vorbereitete (i699). Ein Modernist, A. Houdar de la Motte, schmolz die Übersetzung um und verkürzte sie (1714), sie so dem Zeitgeschmack anpassend. Daraus entstand eine Polemik mit Madame Dacier, die ihm sofort mit der Abhandlung Des causes de la corruption du goüt antwortete. Wenn die Geschicke Homers von Philosophen, Literatur-Theoretikern und Essayisten gelenkt wurden, die oft wenig oder gar kein Griechisch konnten (wie ζ. B. Perrault), so war das Vorhandensein von guten modernen Ubersetzungen eine unerläßliche Voraussetzung für jede vernünftige Diskussion. Hierin war England viel fortgeschrittener als Frankreich: die erste vollständige Übersetzung Homers in eine moderne Sprache war die von George Chapman, die zwischen 1598 und 1616 erschien. Das Werk war den gebildeten Engländern schon geläufig, als 1715-17ZO die klassische Ubersetzung der Ilias durch Alexander Pope herauskam, der in seiner Vorrede unter anderem den Leser aufforderte, sich die verschiedenen historischen Bedingungen vor Augen zu halten, unter denen der Dichter gelebt hatte: „Wenn wir Homer lesen, so müssen wir bedenken, daß wir den ältesten Autor der heidnischen Welt lesen; und wer ihn in diesem Lichte betrachtet, wird doppeltes Vergnügen an seiner Lektüre finden." Das 18. Jahrhundert begann, vor allem dank seinem neuen Geschichtsbewußtsein, unter den besten Vorzeichen für eine Revanche der Alten und Homers im besonderen. Aber inzwischen fing der philosophisch-literarische Streit an, sich zu komplizieren mit dem Auftreten eines neuen Störenfriedes: des Philologen. Es bildete sich der Gegensatz zwischen dem Dilettanten in dem negativen Sinne, den das Wort heute hat, und dem Pedanten heraus. Ein erstes denkwürdiges Ergebnis dieser Gegensätzlichkeit stammt gerade
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aus der englischen Phase des Streites um Antike und Moderne, der sogenannten Bücherschlacht. 1690 hatte der Diplomat und Schriftsteller Sir William Temple einen Aufsatz über die absolute Überlegenheit der antiken Dichter veröffentlicht (An Essay upon the Ancient and Modern Learning), der eine vernünftige Entgegnung durch William Wotton hervorrief (Reflections upon Ancient and Modern Learning, 1694). In der Polemik fand jeder der beiden Kämpfer einen tüchtigen Verbündeten an seiner Seite. Temples Sekretär war Jonathan Swift, der 1704 mit zwei, seiner würdigen Satiren eingriff: A Tale of a Tub und The Battle of the Books. Wotton war mit einem bedeutenden Philologen, Richard Bentley, befreundet, dem der Streit Gelegenheit bot, eine Probe seines Talentes zu geben. Weil Temple unter den ältesten und genialsten Prosastücken der Antike die Briefe des Phalaris, die dem Tyrannen von Agrigent aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben wurden, erwähnt hatte, unterzog Bentley diesen Text einer scharfen historischen, sprachlichen und literarischen Prüfung, und in einer berühmten Abhandlung vom Jahre 1699, einer Vorläuferin der modernen kritischen Methode, wies er nach, daß die Briefe eine Fälschung und außerdem von mittelmäßigem Niveau seien. Wir haben auf diese Episode, die polemische Händel auch wegen der schroffen Art Bentleys nachsichzog, hingewiesen, weil sie eine Zeit ankündigt, in der die Diskussion über die antiken Klassiker und über Homer im besonderen immer mehr auf den Kreis der Philologen beschränkt bleiben sollte. Aber Bentley hat seinen Namen gerade mit der Homerkritik verbunden. Das Lesen des homerischen Verses bot mannigfache Schwierigkeiten wegen der Metrik. Bentley entdeckte, daß ein großer Teil dieser Schwierigkeiten hinfällig wurde, sobald man annahm, daß es in der ursprünglichen Form vieler Wörter einen Buchstaben mehr gegeben habe, das Digamma (F, Lautwert w), das später in der Aussprache und Schreibung des ionischen und attischen Dialektes verschwunden sei. Tatsächlich wurde das Vorhandensein des Digamma weitgehend durch Inschriften oder Glossen bestätigt, und die Etymo-
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logie hilft uns festzustellen, welche Wörter diesen Laut besessen haben müssen: ζ. Β. οίνος (Wein), das dem lateinischen vinum entspricht. Diese Entdeckung war sehr wichtig, denn sie erlaubte es, die Sprache Homers besser zu verstehen, als es selbst den Griechen der klassischen und alexandrinischen Zeit möglich gewesen war. Damit eröffnete sich der Weg zu einem historischen Studium der in ihrer Entwicklung betrachteten Sprache und zu der vergleichenden Sprachwissenschaft, die später, nach der Entzifferung des Sanskrit am Ende des 18. Jahrhunderts, dem Griechischen seinen Platz innerhalb der Familie der indoeuropäischen Sprachen zuweisen sollte. Auch dies gab einen Anstoß zur historischen Wertung der Texte. Aber Bentley hatte auch wenig orthodoxe Ansichten über die Entstehung der Epen. Die sprachlichen Beweise zeigten ihm, daß viel Zeit, etwa fünfhundert Jahre, zwischen dem Zeitalter Homers und dem Augenblick, in dem sein Werk in der vermuteten Redaktion durch Peisistratos festgelegt worden war, vergangen sein müsse. Außerdem habe Homer nicht zwei Epen im eigentlichen Sinn geschrieben, sondern nur ein Folge von einzelnen Gesängen, die die Herausgeber später in der Ilias und der Odyssee miteinander verknüpften. Diese Theorien wurden von Bentley nicht zu Ende gedacht, aber schon mit dem, was er darüber sagte, brachte er es fertig, die berühmtesten zeitgenössischen Interpreten zu beleidigen. Pope, dessen Übersetzung übrigens von Bentley offen kritisiert worden war, zeichnete in dem satirischen Gedicht The Dunciad (IV, 2 1 1 ) als Musterbeispiel der Pedanterie den „Großen Scholiasten" mit seinem Digamma. Ein anderer Vorläufer der großen Wende in der Homerkritik wurde dazu getrieben, die Epen aus geschmacklichen Gründen zu zerlegen, wobei auch er sich auf jene unbestimmten antiken Angaben über die Redaktion des Peisistratos stützte „der, wie man sagt, als Erster die Gesänge Homers, die bisher in einem Durcheinander waren, in der Weise ordnete, wie wir sie heute besitzen" (Cicero, De oratore, III, 34, 137). Der französische Schriftsteller Francois Hedelin, Abbe d'Aubignac, der die Schönheiten Homers
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bewunderte, aber auch die Ansicht seiner Zeitgenossen teilte, die Epen seien ohne inneren Zusammenhang und ohne Einheitlichkeit, fand die scharfsinnige Lösung, um die Dichtung zu retten und die Schwächen zu erklären. Am Anfang der Gedichte, die von Peisistratos (aber auch von Lykurgos zwei Jahrhunderte früher) redigiert worden waren, standen zahlreiche kleine und unabhängige Gedichte, deren jedes auf die erwünschte Einheitlichkeit hielt. Diese Ur-Gedichtchen waren die Werke verschiedener, durchweg mit Talent begabter Verfasser, während die Mängel der Gesamtausgabe auf das Konto der Herausgeber kamen. Der 1664 geschriebene Aufsatz des Abbe d'Aubignac, Conjectures academiques ou dissertation sur l'lliade, wurde 1715 nach seinem Tode veröffentlicht. Eine ähnliche Theorie, aber viel radikaler in den Schlußfolgerungen und vor allem in eine tiefe historische Schau eingebettet, wurde mehrfach von Giambattista Vico geäußert und ausführlich im III. Buch der Scienza nuova seconda (1730) unter dem Titel „Deila discoverta del vero Omero" vorgelegt. Als Erster wollte Vico die Seiten der homerischen Dichtung erklären, die den Geschmack verletzten, ohne sie nach dem Maßstab der Moralphilosophie und der modernen Ästhetik zu verdammen oder zu entschuldigen. Er untersucht „ob Homer je ein Philosoph gewesen sei". Homer war der Dichter eines barbarischen Zeitalters, kein Philosoph („die Philosophen haben in den homerischen Erzählungen keine Philosophie gefunden, sondern haben die ihre in sie hineingetragen"). Deshalb sei es Homer gestattet, „gemäß den vulgären Sitten des zu seiner Zeit barbarischen Griechenland zu schreiben, denn solche unfeinen Empfindungen und solche rohen Sitten liefern den Dichtern den Stoff". Es sei ihm gestattet, „die Götter nach ihrer Stärke abzuschätzen . . . Es sei ihm gestattet, die schrecklichen Sitten (deren Gegenteil die Verfechter des Naturrechtes der Völker als ewig unter den Nationen herrschen lassen wollen), die damals unter den zutiefst barbarischen griechischen Stämmen im Schwange waren (von denen man glaubte, sie hätten die Menschlichkeit in der Welt verbreitet), die Pfeile zu vergiften... und die im Kampf getöteten Feinde nicht zu begraben, sondern sie
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unbeerdigt den Raben und Hunden zum Fräße zu l a s s e n . . . " „Nicht aus einem Geiste, der durch irgend welche Philosophie humanisiert und mitleidig gestimmt worden wäre, könnte jener gräßliche und wilde Stil kommen, mit der er so viele Schlachten beschreibt, so verschiedenartig und blutig, so viele Arten zu töten, so mannigfaltig und alle in ihrer Grausamkeit ungewöhnlich, die die besondere Erhabenheit der Ilias ausmachen." Auf der weiteren Suche nach dem wirklichen Homer sah Vico, daß - da die äußeren antiken Zeugnisse unverwertbar sind - es nötig ist, „die Wahrheit sowohl über seine Zeit wie sein Vaterland aus Homer selbst zu gewinnen". Die Beschreibungen der untereinander kontrastierenden guten oder rohen Sitten beweisen, daß die Epen „zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Händen bearbeitet und weitergeführt worden sind". Sie gehen auf das Ende der heroischen Zeit zurück, und vor ihnen gab es Lieder, die im Gedächtnis des ganzen Volkes überliefert worden waren. Einen Dichter Homer hat es nie gegeben: „Die griechischen Stämme selbst waren dieser Homer"; die nicht aufgezeichneten Lieder blieben für lange Zeit dem Gedächtnis der Rhapsoden anvertraut, die insofern ihre Verfasser waren, als sie „ein Teil jener Stämme waren, die in ihnen ihre Geschichte niedergelegt hatten". 10 Mit dieser Entdeckung werden die „Unziemlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten" des bisher vorgestellten Homer zu „Schicklichkeiten und Notwendigkeiten". „So reinigt sich Homer, verloren unter der Menge der griechischen Stämme, von all den Anklagen, die ihm die Kritiker entgegengehalten haben und vor allem: von den gemeinen Ansichten, von den rohen Sitten, den groben Vergleichen, den Idiotismen, den metrischen Ungenauigkeiten, von dem beständigen Dialektwechsel und ganz besonders davon, die Menschen zu Göttern und die Götter zu Menschen gemacht zu haben." Aber über diese Rechtfertigungen hinaus erscheint jetzt die unvergleichliche Größe Homers erklärt, gerade „in jenen wilden 10 G. Vico, „ L a scienza nuova seconda", IV ed., Bari 1 9 5 3 , II, pp. 3, 39, 4, 6, 8, 1 3 , 34 ss.
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und brutalen Vergleichen, in jenen rohen und schrecklichen Beschreibungen von Kämpfen und Toten, in jenen verstreuten Ausbrüchen erhabener Leidenschaften, in seiner anschaulichen und glänzenden Redeweise. Alles dies waren Eigentümlichkeiten des heroischen Zeitalters der Griechen, während dessen und durch das Homer der unvergleichliche Dichter war: in der Tat, in dem Zeitalter des kraftvollen Gedächtnisses, der robusten Einbildungskraft und der hohen Klugheit war er keineswegs ein Philosoph. Deshalb konnten die Philosophen und die poetischen und kritischen Künste, die später kamen, keinen Dichter hervorbringen, der an die Größe Homers heranreichen könnte". 11 Besonders scharf sieht Vico die „unendliche Verschiedenheit" des Stiles,12 die dazu zwingt, die Ilias und die Odyssee verschiedenen Zeiten zuzuschreiben, eine Verschiedenheit, die erst eine tiefschürfende sprachliche Analyse als über jeden Zweifel erhaben hat erweisen können. Vicos Auslegung fand kein Echo, aber mit ihm war die Homerkritik den Vorurteilen des Klassizismus entronnen. Von jetzt an suchten die scharfsinnigsten Interpreten Homer unter einer historischen Perspektive zu sehen, ihn sozusagen in die richtige Entfernung zu stellen, um ihn besser zu betrachten und zu verstehen. Das wurde je nach den wechselnden humanistischen Strömungen auf verschiedene Art versucht. Auch aus dieser Eroberung der historischen Perspektive können wir nur einige uns besonders kennzeichnend erscheinende Punkte herausgreifen. Selbst wenn man weiterhin an die Einheit und Originalität der homerischen Werke glaubte, konnte man eine Rekonstruktion der Umwelt und der Umstände, unter denen sie entstanden waren, versuchen, um damit die Gestalt des antiken Dichters seiner idealen und abstrakten Einsamkeit zu entreißen. Der englische Philologe Thomas Blackwell (Enquiry into the Life and Writing of Homer, 1735) zeichnete das Bild eines Homer, der in einer Periode der 1 1 Ibid., pp. 34, 36, 38. 12 Ibid., p. 2.7.
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"Wirren, der Gewaltsamkeiten, der Wanderungen gelebt habe, der aus den Werken früherer Dichter geschöpft habe, und dessen Werk seinerseits wieder von späteren Dichtern überarbeitet worden sei. So wurde das Problem der vorangehenden und folgenden historisch-kulturellen Phasen gestellt, die sicherlich ihre Spuren im Text hinterlassen haben werden. Eine andere Art, die Epen jenes geheimnisvollen Schimmers zu entkleiden, der das historische und ästhetische Urteil behinderte, war ein Besuch der Stätten ihres Ursprungs. Diese Neugier wurde von dem erwachenden Interesse an der griechischen Kunst unterstützt, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts, einer Zeit lebhafter archäologischer Tätigkeit, viele Reisende nach Griechenland und in den Orient trieb. Robert Wood, der die Ruinen von Palmyra und Baalbek besuchte und beschrieb, wollte auch „die Ilias und die Odyssee in den Gegenden lesen, wo Achill kämpfte, wo Odysseus umherwanderte, und wo Homer sang" (Art Essay of the Original Genius of Homer, 1769). Der Vergleich der homerischen Stellen mit den beschriebenen Orten überzeugte ihn von der Vortrefflichkeit Homers als „Maler". War aber die Naturwahrheit der homerischen Geographie festgestellt, so konnte man vertrauensvoll auch eine Rekonstruktion der menschlichen Welt der Epen wagen, die wahrscheinlich mit gleicher Treue dargestellt war. Für Wood stand die große historische Entfernung, welche die homerische Welt von der klassischen trennt, außer Zweifel. Um jene zu beschreiben, bezog er sich mit einem für seine Zeit kühnen Vergleich auf seine unter den Beduinen von Palmyra gemachten Erfahrungen. Was den Ursprung der Gedichte anging, so glaubte er natürlich, daß Homer, dieser präzise Zeuge, nicht lange nach dem troianischen Kriege, im 12. Jahrhundert, gelebt habe, und daß seine Werke jahrhundertelang mündlich überliefert worden seien, weil die Schrift - falls es sie zu seinen Lebzeiten schon gab - sicher nur selten benutzt wurde. Um die homerische Dichtung zu verstehen, so versicherte er, muß man all das vergessen, was sich für uns mit dem Gebrauch der Schrift verbindet, damit wir uns in eine Zeit zurückversetzen können, in der die
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Sprache der Dichter auch aus musikalischen Tonansätzen und Gesten bestand. Woods Gedanken (dessen "Werk zusammen mit dem Blackwells so viel dazu beitrug, die homerische Dichtung in Goethes Geist aufzuhellen) zeichnen verschiedene Straßen vor, denen die Kritik später folgen sollte: den Rückgriff auf Homer als eine in gewissem Masse glaubwürdige historische Quelle; die Nachforschungen on the spot, die für die homerische Welt von der Archäologie erst gut ein Jahrhundert später einsetzten; die Methode der vergleichenden Völkerkunde. Diese Methode hat - wenn sie auch im allgemeinen nur einige nützliche Anregungen geben konnte, ohne direktes Licht auf eine so einmalige Epoche, wie die homerische es war, werfen zu können - in jüngerer Zeit doch Sonderstudien über die mündlich verfasste und überlieferte Poesie veranlaßt, die uns Woods frühzeitiges Ahnen besser würdigen lassen: die Kriterien der geschriebenen Dichtung haben keine Gültigkeit bei der Beurteilung der mündlich überlieferten Dichtung, die davon nach Sprache und Aufbau wesenhaft verschieden ist. Wenn die von Wood und auch von Vico gewiesenen Wege von der Kritik dann nicht immer schnell begangen wurden, so lag das an der Einengung der philologischen Interessen am Anfang des 19. Jahrhunderts und ihrem übertriebenen Skeptizismus. Das ging so weit, daß sie zum guten Teil dem Problem einer möglichen Geschichtlichkeit der homerischen Erzählungen auswich und von den Denkmälern keinen rechten Gebrauch machte, bis schließlich die homerische Archäologie durch Schliemanns Ausgrabungen einen ebenso kräftigen wie unheilvollen Antrieb bekommen sollte. Die damals vorherrschende deutsche Philologie folgte dem Beispiele Bentleys. Über den Wert dieser Wahl können wir gerade einen deutschen Philologen sprechen lassen: „Schon zum wirklichen Verständnis eines Gedichtes und eines Dichters reicht der Verstand, mit dem Bentley allein wirtschaftet, nicht h i n . . . Die Dissertation [über die Briefe des Phalaris] stellt historische Tatsachen fest, aber das ist nur Mittel zum Zweck. Die Kunst dieser Philologie reinigt die Schriftwerke; gewiß etwas Großes, Vorbedingung für alles,
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aber lebendig werden sie damit noch nicht, und daß sie im Sinne ihrer Verfasser lebendig werden, dazu muß die geschichtliche Forschung das ganze Leben ihrer Umgebung für unsere Phantasie wachrufen. Die Entdeckung des Vau ist auch etwas Großes, aber daß R. Wood in der Meerenge zwischen Chios und dem Mimas die Wahrheit der Homerischen Naturschilderung gewahr ward und daraufhin das Originalgenie Homers preisen konnte, hat für das Aufblühen unserer Altertumswissenschaft wohl größere Bedeutung gehabt." 13 In der Tat hat die Altertumswissenschaft es für lange Zeit riskiert, das Beispiel von Forschern vom Schlage Woods aus den Augen zu verlieren, und zwar nicht so sehr aus Mangel an Phantasie - die hier besser nicht dem Verstand gegenübergestellt wird als wegen der Grenzen, die sie sich, wie erwähnt, selbst steckte. Auf alle Fälle: am Ende des 18. Jahrhunderts tritt die homerische Frage in ein neues Stadium ein und gehört ausschließlich in das Aufgabenbereich der Philologie oder, wenn man so will, sie wird, wenigstens nach der Meinung der Philologen, jetzt überhaupt erst gestellt. Die philologische Analyse und die homerische Frage Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts schickte sich der junge Hallenser Professor Friedrich August Wolf an, eine Ausgabe Homers zu machen, die dann 1804 erschien; aber schon 1795 veröffentlichte er seine berühmten Prolegomena ad Homerum, die Grundlage für alle späteren Diskussionen. Seine Ideen waren in Kürze folgende. Im archaischen Griechenland gab es nicht einen unveränderlichen Text der homerischen Epen, sondern viele, untereinander sehr verschiedene Versionen. Je weiter wir in der Textgeschichte zurückzugehen versuchen, desto geringer wird die Möglichkeit, einen Dichter Homer und zwei poetische Einheiten zu 13 U. von Wilamowitz-Moellendorff, „Geschichte der Philologie" in: GerckeNorden, Einleitung in die Altertumswissenschaft Bd. V i , 3. Aufl., Leipzig 1927 (Neudruck 1959), p. 37. 3
Codino, Homer
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finden, vor allem, weil zur Zeit ihrer Abfassung die Schrift unbekannt war. Ohne Schrift aber konnte ein Epos wie die Ilias weder ersonnen noch verfaßt noch überliefert werden. Es gab aber voneinander unabhängige, ziemlich kurze Gedichte aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Verfassern (wie die Unvereinbarkeiten zwischen ihnen beweisen), die die Rhapsoden auswendig wußten und an den Festen sangen. Sie behandelten dieselben Stoffe, konnten aber erst zur Zeit des Peisistratos, im Athen des 6. Jahrhunderts v. Chr., miteinander verschmolzen werden. Heute wissen wir, aber auch Wolfs Zeitgenossen konnten es merken, daß seine wichtigsten Argumente - das Fehlen der Schrift, die Unmöglichkeit, lange Dichtungen gedächtnismäßig zu überliefern, die geschichtliche Wahrheit der Redaktion durch Peisistratos — abgesehen von ihrem Mangel an Neuheit auch unbegründet oder nicht entscheidend waren. Aber diesmal war das kulturelle Klima so, daß die Auflösung der Einheit der Gedichte, wenn auch nicht ganz widerspruchslos, so doch mit Interesse und Neugier auch vom großen Publikum aufgenommen werden konnte. Seit kurzem war Homer in den kulturellen Besitz der deutschen Nicht-Spezialisten durch die elegante Ubersetzung in Hexametern von Johann Heinrich Voss eingegangen. Das Interesse für die klassische Kultur, das so einflußreiche Vorkämpfer wie Johann Joachim Winckelmann (Geschichte der Kunst des Altertums, 1764) und Gotthold Ephraim Lessing (Laokoon, 1766) gehabt hatte, war allgemein. Außer den Klassizisten aber gab es auch noch die romantischen Bewunderer primitiver Poesie - von ihnen als Ausdruck des nationalen Volksgeistes verstanden - , die Homer den Volksliedern und insbesondere Ossian, einem der Idole dieser Zeit, an die Seite stellten; Macpherson, der Herausgeber Ossians, mochte vielleicht als Beispiel gelten, um die Rolle aufzuzeigen, die Peisistratos bei der Redaktion der homerischen Gedichte gespielt hatte. Gerade der größte Förderer dieser Studien, Johann Gottfried von Herder, griff sofort Wolf an, weil dieser ihm seine Theorie über die Volksballaden gestohlen und den künstlerischen Wert der Epen nicht berücksichtigt habe,
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die für Herder trotz ihrer Nähe zur Volksdichtung das Werk eines großen Dichters, nicht eine redigierte Sammlung waren. Tatsächlich hatte sich ein ernsthaftes Problem gestellt: es war schwer, die Einheit der Epen aufzulösen und doch fortzufahren, in ihnen bedeutende Werke der Dichtkunst zu sehen. Ein unerschütterlicher Philologe konnte dieses Problem beiseiteschieben oder es völlig zum Schaden der Poesie lösen. Ein sensibler Dichter konnte die Bedenken nicht zum Schweigen bringen. Goethe begrüßte als einer der Ersten Wolfs Theorie als eine Befreiung, weil sie ihm erlaubte, sich Homer weniger scheu zu nähern; und in seiner Elegie Hermann und Dorothea (1796) trank er „Erst die Gesundheit des Mannes, der, endlich vom Namen kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn.
Homeros
Denn wer wagte mit Göttern den Kampf? und wer mit dem Einen? Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön."
Aber später kehrte derselbe Goethe zu seinem Glauben an einen einzigen Homer zurück. Unter den Philologen bekam schließlich die separatistische oder analytische Theorie (so genannt im Gegensatz zur Einheitstheorie) die Oberhand, triumphierte sie über die Gegner. Sie wurde endlich auf eine strenge Textkritik gegründet, zu der als Erster Gottfried Hermann (1772-1848) beitrug mit seinen Arbeiten über die Sprache Homers, die ein ionischer Dialekt mit vielen äolischen Elementen ist, über die Metrik, über den Stil mit seinen immer wiederholten Formeln, über den Aufbau der Episoden. Im Großen und Ganzen rettete er viel von der Einheit der beiden Epen, war aber auch davon überzeugt, daß sich um den ursprünglichen Kern spätere Zutaten gelagert hätten. Ein anderer großer Philologe, Karl Lachmann (1793-1851), der zunächst neutestamentliche Exegese getrieben und das Nibelungenlied der analytischen Zergliederung unterworfen hatte, teilte die Ilias auf Grund der Widersprüche, die ihm einen einzigen Verfasser auszuschließen schienen, in zahlreiche selbständige Lieder auf; von der Einheit des Werkes blieb keine Spur zurück. 3*
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Indem er konsequent eine ähnliche Auffassung wie Hermann verfolgte, machte der englische Historiker George Grote (1794 bis 1871) einen sehr annehmbaren Versuch, den Entstehungsgang der Ilias zu rekonstruieren. Zunächst hätte es ein Lied über den Zorn des Achilleus geben müssen, das die jetzigen Gesänge I, VI, vielleicht VIII, und die Hauptschlacht mit allem Folgenden bis zum Tode Hektors (XI-XXII) umfaßte. Die Gesänge II-VI, die nichts mit Achill zu tun haben, und IX, der nicht mit dem übrigen Epos zusammengeht, wären später angefügt worden. Späteste Zusätze seien der X. Gesang und die beiden letzten Gesänge. Das ist eine nicht-mechanische Interpretation der Entstehung der Ilias, beruhend auf einer tiefschürfenden Textanalyse, die auch heute ein großer Teil der Kritiker keineswegs ablehnt. Für die Odyssee nahm ein Schüler Lachmanns, Adolf Kirchhoff (1826-1908), an, daß sie von einem ziemlich späten Dichter stamme, der zwei ältere und voneinander unabhängige Lieder eines über die Irrfahrten des Helden und eines über die Rache an den Freiern — aufgegriffen und ihnen die Gesänge I-IV mit der Geschichte des Telemachos vorangeschickt habe. Kirchhoffs Buch (Die Homerische Odyssee, 1. Aufl., 1859) verdient noch viel Beachtung. Wir können der unendlichen Arbeit der Kritiker im vorigen Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des unsrigen nicht bis in alle Mäanderwindungen und alle Verzweigungen folgen, umso weniger, als das vorliegende Buch nicht den Anspruch erhebt, sich der langen Reihe von Beiträgen über die homerische Frage anzuschließen. Es wird genügen, ihre ersten Phasen und die wichtigsten Ergebnisse erwähnt zu haben, die wir demnach folgendermassen zusammenfassen können: 1. die Epen sind aus einer Aneinanderreihung von verstreuten und selbständigen Liedern entstanden; 2. die Epen sind entstanden durch einander folgende Zusätze um einen Kern, um ein kurzes originales Gedicht; 3. verschiedene epische Gesänge sind von einem Dichter oder einem Redaktor in der Ilias und der Odyssee verschmolzen worden.
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Mit anderen Worten: einen wirklichen Verfasser gibt es entweder nicht, oder er wird an den Anfang des Formungsprozesses der Epen gesetzt oder an das Ende. Im letzten Falle kann er ein Dichter oder ein einfacher Kompilator sein. Wir können hinzufügen, daß, sieht man von gar zu zerstörerischem Eifer, von abwegigen Komplikationen, die gewiß nicht gefehlt haben, ab, die analytische Kritik sich Schritt für Schritt der Anerkennung einer gewissen strukturellen Ordnung oder eines wohlbedachten „Planes" im Gefüge der Epen genähert hat. Wenn auch ein Autor Homer im modernen Sinne des Wortes ausgeschlossen ist, so bleiben doch in Ilias und Odyssee große und festgefügte poetische Blöcke übrig, die sich nicht zerstückeln lassen, und einige Linien im Aufbau, die nicht zufällig sein dürften. Es gibt in den Epen ein unleugbares Ordnungsprinzip und dementsprechend eine relative Einheit, die wir erklären müssen, wie andererseits die berechtigten Gründe des Zweifels nicht zu vergessen sind, die am Beginn der separatistischen Zergliederung standen. Im Ganzen überwiegt die dritte der oben genannten Lösungen. In den Jahren um den ersten Weltkrieg erschienen einige maßgebende und noch heute grundlegende Studien (aus ihnen heben sich die Arbeiten von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erich Bethe, Eduard Schwartz heraus), in denen die analytische Kritik die Ergebnisse zusammenfaßte und wenigstens einige feste Punkte für eine relative Chronologie der einzelnen Kompositionsteile der Epen zu setzen schien, indem sie in Stil und Sprache das Ältere vom Jüngeren, die redaktionellen Teile von den ehemals unabhängigen Liedern und kleinen Gedichten schied. Jetzt verfügte die Kritik auch über Daten, die ihr die archäologischen Forschungen geliefert hatten, die, wie schon erwähnt, für die homerische Zeit dank den erfolgreichen Grabungen Heinrich Schliemanns nach 1870 einen entscheidenden Aufschwung genommen hatten, und die es erlaubten, historiographische Probleme schärfer zu sehen, die nun von der Textkritik nicht mehr übergangen werden konnten. Wir Heutigen lernen in der Schule das minoische und mykenische Zeitalter kennen, dessen Denkmäler, die Paläste, die Festungen, die
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Goldmasken, die Schwerter, die Vasen in jedem Handbuch abgebildet sind. Aber man vergesse nicht, daß man sich noch vor einem Jahrhundert fragte, wo das antike Troia gelegen habe, ob die Stadt überhaupt existiert habe, und daß man praktisch nichts von einer „mykenischen" Kultur wußte. Erst später blickte man nach Kreta, wo die Ausgrabungen in großem Stile durch Sir Arthur J. Evans am Ende des Jahrhunderts einsetzten. Und erst dann begann man sich davon zu überzeugen, daß die Achaier Homers so verschieden von den Hellenen des klassischen Griechenland seien, daß sie wirklich die Vertreter jener so alten und offensichtlich nicht „hellenischen", aber so hochentwickelten Kultur waren, die ihr Zentrum in Mykene gehabt hatte. Bald nach dem Kriege konnte man schon eine erfreuliche Bilanz ziehen und zuversichtliche Vermutungen äußern: „Die Schranken, die Europas geschichtliche Erinnerung von Asien und Ägypten trennten, sind gefallen: selbst wenn wir die europäische Geschichte mit Homer anfangen lassen, müssen wir unsere Blicke bis auf Menes und weiter hinauf erstrecken. In Kreta ist das Zentrum einer hochentwickelten Kultur entdeckt, die im zweiten Jahrtausend v. Chr. nach allen Seiten hin ausgestrahlt h a t . . . Die Hethiter und andere allmählich hellenisierte Stämme Kleinasiens sind soweit bekannt, daß die Zukunft mit dem Verständnis der Sprache auch die alte Kultur Kretas und damit die Zeit der hellenischen Heroen und Wikinger aufhellen wird, wenn diese Zeit vorerst auch wesentlich durch ihre Kunst zu uns spricht. Daß die Kluft zwischen der heroischen und homerischen Zeit mit ihrem geometrischen Stil unverkennbar geworden ist, hat das Epos erst historisch faßbar gemacht." 14 Die Voraussagen waren gerechtfertigt, wie wir wissen, auch wenn das historische Begreifen der Epen noch nicht zur Tatsache geworden ist. Was die homerische Frage im strengen Sinne angeht, so ist in den letzten Jahrzehnten die früher vorherrschende, verhältnismäßig große Einstimmigkeit sogar verschwunden. Teilweise 14 U. von Wilamowitz-Moellendorff, op. cit., p. 7z.
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ist man, auch dank einigen Philologen, zu der Ansicht zurückgekehrt, ein Dichter habe die ganze Ilias, ein anderer die ganze Odyssee geschrieben. Die Rückkehr zu einer radikalen Einheitstheorie oder zumindest ihre günstige Aufnahme bei einem Teil des Publikums ist in erster Linie von den gelegentlichen Auswüchsen der analytischen Zerstückelung ausgelöst worden. In zweiter Linie sind Gründe zur Unschlüssigkeit gerade durch die Vervollkommnung der sprachgeschichtlichen Kritik aufgetaucht, die in den homerischen Texten immer eines ihrer bevorzugten Betätigungsfelder gefunden hat, und die ein unbedingt sicheres Instrument für eine unangreifbare Analyse der Epen zu liefern schien. Man hat Statistiken und Grammatiken zu Homer verfaßt, in dem Versuch, eine Ordnung in der offenkundigen Schichtenfolge - was Entwicklung und Dialekt angeht - der homerischen Sprache zu finden. Aber man hat selbst in anscheinend günstigen Fällen nur wenige sichere Folgerungen ziehen können. Um ein typisches Beispiel heranzuziehen: bei Homer sieht man das allmähliche Verschwinden des Digamma, des von Bentley wiederentdeckten Buchstabens, der in den Gedichten nie geschrieben wird, aber häufig, nicht immer, sein phonetisches Vorhandensein noch merkbar macht (wie in den Worten mit anlautendem Vokal, dem ursprünglich ein Digamma vorausging, und die metrisch so viel Wert haben, als besässen sie noch den Anfangskonsonanten). Dies schiene ein kostbares Element zur Unterscheidung von mehr oder weniger alten Stellen und infolgedessen von verschiedenen Händen zu sein, aber die Statistiken zeigen, daß auch hier Altes und Neues sich hoffnungslos vermischen, und daß das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Spuren des Digamma keinerlei Beweiskraft für die relative Chronologie der Stellen hat. Und im allgemeinen gibt das Auftreten einer besonders „alten" oder „jungen" sprachlichen Form nichts für die Datierung der Stelle aus, wo sie steht, wie man in den modernen Grammatiken zu Homer feststellen muß. So sagt ζ. B. Pierre Chantraine: „Wenn ich zu einem Beispiel die Angabe ,jung' mache, so will ich damit nicht sagen, daß die Stelle tatsächlich jung ist, sondern ich weise darauf hin, daß jene Form, die mir nicht
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archaisch scheint, in einem Vers vorkommt, den die Herausgeber nicht für ,alt' halten. Aber meistens sind die sprachlichen Züge verschiedener Epochen eng miteinander vermischt." 15 Alles, was man auf Grund der sprachlichen Tatsachen sagen kann, ist, daß die Odyssee als Ganzes um einige Jahrzehnte jünger als die Ilias sein muß, und daß es in jedem der beiden Epen Teile gibt, in denen sich die verhältnismäßig späten Formen beträchtlich häufen, so in den Gesängen II, Χ, XXIII, X X I V der Ilias und I-IV, VIII und X X I V der Odyssee. (Man erinnere sich aber daran, daß die Einteilung der Epen in 24 Gesänge nicht ursprünglich ist, und strenggenommen müßte man von Episoden sprechen, die mit den heutigen Gesängen zusammenfallen oder auch nicht zusammenfallen können.) Wenn so viele Jahrzehnte von Forschungen keine endgültigen Lösungen gebracht hatten, so rechtfertigte das höchstens ein abwartendes Verhalten oder einen gemäßigten Skeptizismus. Man konnte, und viele tun es, das Problem offen lassen und inzwischen die Gedichte im Ganzen als ein Dokument der Geschichte und künstlerischen Kultur betrachten, das mit der nötigen Vorsicht benutzt werden mußte und mit dem Bewußtsein, man habe noch nicht die letzte Erklärung für ihre Entstehung. Aber inzwischen blieb das im übrigen völlig gerechtfertigte Verlangen unbefriedigt, diese Epen, die einen so wichtigen Platz in der europäischen Literatur einnehmen, endlich einmal als wirkliche Kunstwerke genießen zu können. Und da beim Studium der griechischen Kultur jede Krise ein Wiederaufflammen der alten klassizistischen Krankheit bewirkt, einen Rückfall in die Betrachtung der antiken Kultur als einem außer-historischen Ideal, so war es unvermeidlich, daß, da die homerischen Gesänge poetische Vorbilder für die Griechen gewesen waren, man dazu zurückkehren wollte, in ihnen die reinste Verkörperung der poetischen Ideale des heutigen Menschen zu finden; dabei mußte man von der ebenso unvermeidlichen Voraussetzung ausgehen, sie stammten wie ein modernes Werk von einem 1 5 P. Chantraine, „Grammaire homerique", I, Paris 1948, p. 2.
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einzigen Verfasser. Andernfalls hätte die literarische Kritik kein Objekt, mit dem sie sich befassen könne. Wie um 1870, in einer anderen kritischen Phase der Philologie (und der europäischen Kultur im allgemeinen), die Neigung, den Schöpfungen des sogenannten griechischen Geistes vorbildliche Bedeutung zuzuschreiben, neue Befürworter fand, so wollte man jetzt, zwischen den beiden Weltkriegen, den poetischen und sogar ethischen Richtlinien, die Homer dem aristokratischen Griechenland gegeben hatte, einen ewiggültigen, verpflichtenden Wert beimessen. Statt auf der durch die historische Betrachtung der epischen Dichtung mühsam eröffneten Straße fortzuschreiten, fingen einige wieder an, in Homer die objektiven Normen des Schönen und des Wahren zu suchen. Ein starker Anstoß zur Idealisierung des ethischen Gehaltes der Gedichte ging von Werner Jaeger aus, der in Homer „das höchste Vorbild souveräner dichterischer Gestaltungskraft" sah. „Er treibt das bloß Historische aus, er entmaterialisiert das Geschehen und läßt sich das Problem ganz aus der ihm innewohnenden inneren Notwendigkeit entfalten." 18 Die Rückkehr zur Einheitstheorie ist vor allem durch die Schule von Wolfgang Schadewaldt 17 vollzogen worden, die einen starken Einfluß gehabt hat und noch hat, weil sie die Methoden und Schlußfolgerungen der analytischen Kritik berücksichtigt und sich ihr auf dem gleichen Boden der hohen Philologie entgegenstellt. Das Fundament für Schadewaldts Deutungen ist die Anerkennung eines hohen poetischen Wertes in dem homerischen Werk, davon abgeleitet die Überzeugung, es sei das einheitliche künstlerische Erzeugnis einer einzelnen Persönlichkeit. Der Ausgangspunkt ist dieser18: „Die homerische F r a g e . . . ringt im Grunde um ein ganz 16 W. Jaeger, „Paideia", I, 3. Aufl., Berlin 1954, p. 77. 1 7 Es wird genügen, unter seinen zahlreichen Schriften an die von 1938 zu erinnern, die für die Homerkritik so wichtig waren: der Vortrag über „Homer und die homerische Frage", Berlin 1938 (später in: „Von Homers Welt und Werk", 1944, 3. Aufl., 1959) und „Iliasstudien", Abh. Akad. Leipzig 1938. 18 „Homer und die homerische Frage" op. cit., p. 2..
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einfaches Problem: um das Wesen des dichterischen Schöpfers und des dichterischen Werks." Aber das führt uns jenseits des philologischen Studiums im strengen Sinne, das damit von ästhetischen Vorurteilen bedingt erscheint, über die die Uneinigkeit heute grösser denn je sein dürfte. Die einzelnen Untersuchungen Schadewaldts über die Struktur der Gedichte haben grundlegenden Wert; aber nicht alle mögen ihm folgen, wenn er mit formalistischen Begriffen wie „Vorbereitung", „Retardation", „Parallele", „Reziprozität" u. a. arbeitet, oder wenn er als Argumente Bilder benutzt, die aus der Malerei, aus der Architektur und der Musik genommen sind. Ein solcher ästhetischer Klassizismus kann leider nicht mit der Vision von Welt und Dichtkunst verglichen werden, die Goethe hinderte, Wolfs Ansichten bis zum Letzten zu teilen. Wer diesen Weg nicht weiterverfolgt, sucht die Entstehung der Gedichte zu erklären nicht nur, indem er mit traditionellen philologischen und linguistischen Kriterien in ihrem Gehalt zu unterscheiden sucht, was aus einer langen anonymen Überlieferung stammt und was sicherlich auf eine letzte Hand oder mehrere verschiedene letzte Hände zurückgeführt werden kann, sondern auch, indem er den Kreis der Untersuchungen erweitert und so - womöglich mit Hilfe der Anregungen, die die vergleichende Methode bieten kann - so weit als möglich die allgemeinen Züge der heroischen Dichtung, die Eigenart ihrer Formen und ihrer Inhalte, die Kennzeichen ihres Stiles zu rekonstruieren sucht. Neue Erkenntnisse zeichnen sich ab. Die mündlich verfasste und überlieferte Dichtung ist ein Phänomen, das wir erst heute anfangen zu verstehen. Schon Wood ζ. B. und später die romantische Kritik hatten viel Richtiges auf diesem Gebiet erahnt. Aber erst die statistischen Untersuchungen über die Sprache der Epen, verbunden mit dem vergleichenden Studium der Volksepik anderer Zeiten und Völker, haben uns in die Praxis Einblick gegeben, in der diese Poesie wurzelt mit ihren festen Epitheta, mit ihren immer wiederkehrenden Formeln und ihren „typischen Szenen", mit ihrer Sprache, die im wesentlichen aus metrisch brauchbaren Sätzen oder Lautgruppen besteht, nicht aus einzelnen Worten.
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An diesen Untersuchungen hat der Amerikaner Milman Parry, der Erforscher der südslawischen Volksepik, zusammen mit seinem Schüler und Mitarbeiter Albert B. Lord, großen Anteil gehabt. Nach Parry unterscheidet der analphabetische Sänger nicht zwischen Komposition und Vortrag seines Liedes: er schafft es während des Vortrages. Das ist ihm, außer durch die lange Lehrzeit bei anderen erfahrenen Sängern und die lange Übung dadurch ermöglicht, daß er über traditionelle Elemente verfügt: die Formeln und die Stoffe, die die Gesänge bilden. Die Formel ist „eine Gruppe von Worten, die regelmäßig unter den gleichen metrischen Voraussetzungen benutzt wird, um einen gegebenen wichtigen Gedanken auszudrükken" 19 ; das Formelsystem bildet eine eigene Grammatik, ähnlich jener der Umgangssprache, aber ihre Einheit ist nicht das einzelne Wort: der Sänger denkt und spricht in Formeln, die Verse oder Teile von Versen sind. Das Thema ist ein beschreibendes, für typische Augenblicke der Erzählung immer wiederholtes Schema (eine Versammlung oder ein Heer, das sich versammelt, ein sich wappnender Held, ein Wechsel von Fragen und Antworten usw.). Die Schemen wiederholen sich unaufhörlich, werden aber variiert, verlängert, in verschiedener Weise kombiniert, sie sind keine statischen Einheiten. Auch der Gesang wiederholt sich, indem er einer in den Hauptpunkten unveränderlichen Linie folgt, aber er hat die Möglichkeit zu Teil-Variationen. Der Sänger hat also innerhalb der Grenzen der Sprache und des traditionellen Repertoirs einen recht weiten Spielraum; er wiederholt nie aus dem Gedächtnis und wörtlich Lieder, die von ihm oder anderen als Ganzes verfaßt worden sind, sondern er schafft in gewissem Sinne bei jedem Vortrag etwas Originales, so daß er nie imstande wäre, ein Lied zum zweiten Male genau in der gleichen Form zu singen. Man kann deshalb schwer von einem Urheber oder einer Originalfassung eines Gesanges sprechen: bei jedem Vortrag ist der Sänger auf seine Weise Autor, sein Lied immer ein Original, aber im Rahmen einer Kollektiv-Tradition. 1 9 M . Parry, Harvard Studies in Classical Philology X L I , 1930, p. 80.
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Zeitalter und Nachwirkung Homers
Diese aus den unmittelbaren Beobachtungen an einer noch lebenden Volksdichtung gewonnenen Ergebnisse, die an und für sich dazu benutzt werden können, einander widersprechende Lösungen der homerischen Frage zu bestätigen, können nicht ohne weiteres auf die Ilias und die Odyssee angewandt werden; aber wenigstens helfen sie uns, einige sonst unbegreifliche Seiten der homerischen Gedichte zu erklären. In diesen aber kann man nicht umhin, Spuren einer bewußteren, beinahe literarischen Arbeit und die wohldurchdachte Benutzung von „Quellen" im eigentlichen Sinne zu entdecken. Die Kritik muß deshalb berücksichtigen, daß mehr oder minder mechanische Tradierung und literarischer Eingriff an jedem beliebigen Punkte der Epen am Werke sein können.
Einige Beispiele und einige
Hypothesen
Es wird nützlich sein, einige charakteristische Fälle zu betrachten - ohne den Anspruch zu erheben, viel Neues zu sagen - , um zu zeigen, wie die Kritik arbeitet und um vor allem festzulegen, was wir im Folgenden darunter verstehen, wenn wir von Vorbildern oder Quellen, von „älteren" und „jüngeren" Stücken sprechen müssen. Im VIII. Gesang der Ilias (vv. 80 ss.) steht eine kurze, wenig klare und wenig bedeutsame Episode, in der Nestor, als Paris ihm mit dem Pfeil ein Pferd tötet, in die Gefahr kommt, von Hektors Hand zu fallen, während er den verstrickten Wagen freizumachen versucht; aber Diomedes ruft Odysseus zu Hilfe, und da dieser ihn nicht hört, rettet er allein Nestor und nimmt ihn auf seinen Wagen. Die Erzählung hat einige dunkle Punkte, die sich schlecht mit dem epischen Stil und dem besonderen Zusammenhang vereinigen lassen: es wird vage von einem Beipferd („Nebenroß") gesprochen, von dem man bisher nichts wußte, das an den Wagen des Nestor gespannt ist, von einem Eingreifen des Paris, der jedoch in dieser Schlacht gar nicht auftritt, von diesem Odysseus, der merkwürdigerweise den Hilferuf nicht hört, von Hektor, der sich drohend
Einige Beispiele und einige Hypothesen
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naht und dann die von ihm zu erwartende Tat nicht ausführt. Eine sehr ähnliche Episode stand in der ιAithiopis, dem verlorenen Gedicht aus dem Zyklus, dessen Inhalt wir durch einen Auszug bei Proklos, durch Andeutungen bei Pindar und aus Vasenbildern kennen: auch hier wurde dem Nestor ein Pferd durch Paris verwundet; er wurde von Memnon, dem Sohne der Eos, bedroht und rief seinen Sohn Antilochos zu Hilfe, der ihn um den Preis des eigenen Lebens rettete. In der Aithiopis hatte die Szene viel mehr Gewicht und war gut in den Zusammenhang eingefügt: die Wut über den Verlust des Antilochos ließ Achill den Memnon töten und damit seinen eigenen Tod durch die Hand des Paris beschleunigen. Die Szene in der Ilias stammt sicher von jener in der Aithiopis her, und da die Gedichte des Epischen Zyklus auch in ihren Inhalten traditionsgemäß für jünger als Homer gehalten wurden, so schrieb früher die analytische Kritik die Stelle im VIII. Gesang einem sehr späten Bearbeiter der Ilias zu, während die Unitarier gezwungen waren, jene Herkunft zu leugnen. Es ist aber gezeigt worden20, daß nicht nur die kurze Szene im VIII. Gesang, sondern mehrere wichtige Episoden in der Ilias dem Teil der Aithiopis nachgebildet sind, der die letzte Heldentat des Achill behandelte: seinen Sieg über Memnon, den König der Aithiopen. Aus dieser Beobachtung können verschiedene Schlüsse gezogen werden, aber auf alle Fälle ergibt sich als sicher, daß die zyklischen Gedichte, statt ohne Weiteres eine dekadente Phase der epischen Dichtkunst darzustellen, wenigstens inhaltlich viel Vor-homerisches bewahren konnten, und daß sie uns folglich über Homers Quellen Aufschluß geben können. Diese Suche nach den Quellen hat schon interessante Ergebnisse erbracht und wird sie bringen - vor allem jetzt, wo wir Kenntnis haben von jenem reichen Sagenschatz, den das mykenische Griechenland mit den Völkern Ägyptens, Mesopotamiens und Kleinasiens gemeinsam hatte. Auch wenn man genau die verschiedenen Situationen untersucht, in denen eine bestimmte Persönlichkeit er20 Siehe H. Pestalozzi, „Die Achilleis als Quelle der Ilias", Erlenbach-Zürich
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scheint, kann man häufig einen Hinweis auf ihre mythologische und poetische Vergangenheit finden und den Sinn der homerischen Umformungen werten. Der uns bekannte Odysseus ζ. Β. ist eine komplexe Persönlichkeit. Er ist der Protagonist verschiedener Abenteuer geworden, die nichts mit dem troianischen Zyklus zu tun haben: er ist mit den Helden von Sagen aus dem festländischen Griechenland und dem Alten Orient identifiziert worden, mit Gestalten aus dem Volksmärchen. In das Gefüge des Hauptthemas der Odyssee, die volkstümliche Erzählung von der „Rückkehr des Helden", sind „sicher andere Volksmärchen eingebettet worden, die vor ihrer Einfügung in die Geschichte des Odysseus nichts mit dem Thema zu tun hatten. Die Erzählungen von Kirke und Polyphemos ζ. B. sind ihrerseits (wie die von dem Zurückkehrenden Helden) Weltmärchen, überall vorkommende Volkserzählungen, von einander und vom Thema der Odyssee unabhängig. Noch bemerkenswerter ist unter diesem Gesichtspunkt die Übertragung auf Odysseus eines ganzen Zyklus von Abenteuern, die bisher nicht zu einem mehr oder weniger unidentifizierten Helden eines Volksmärchens, sondern zu einer halblegendarischen Person gehörten; Abenteuer, die nicht nur das Thema einfacher Erzählungen waren, sondern schon in einem den Hörern der Odyssee bekannten Epos festgelegt und verherrlicht worden waren. Ich meine die Abenteuer der Argonauten, die im Zehnten und Zwölften Gesang erzählt werden." Dies ist das Urteil eines Gelehrten, Denys Page 21 , der vortreffliche Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Odyssee durchgeführt hat. Er spielt hier auf die Episoden in dem Gedicht an, die, wie übrigens auch andere schon gezeigt hatten, von Szenen aus den berühmten Taten der Argonauten stammen. Odysseus fährt von der im äußersten Westen gelegenen Insel des Aiolos ab, und unvermutet taucht er im fernen Osten, zwischen Personen aus dem Kreis des Iason, auf. Kirke ist die Schwester des Aietes, des Königs von Kolchis, der ein Sohn des Helios und der Hüter des Goldenen 2 i „ T h e Homeric Odyssey", op. cit., pp. 1 - 2 .
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Vlieses ist; sie selbst lebt auf der Insel Aiaia, „ w o Eos', der Göttin der Frühe, / Haus und Tanzplatz liegen, die Insel, w o Helios aufsteigt" (Od. XII, 3 s.). In derselben Episode wird von den Irrenden Felsen gesprochen, die im Schwarzen Meer aufragten und auch ihrerseits zur Geschichte von Iason gehörten. Hier sagt der Dichter geradezu, daß die Irrenden Felsen jene aus der Argonautenfahrt sind, die allen bekannt ist (πδσι μέλουσα; XII, 69-72): Einem meerestüchtigen Schiff nur gelang die Vorbeifahrt, Jener A r g o , von der sie noch alle singen und sagen. Diese kam von Aietes und w u r d e von Hera geleitet, Jason zuliebe; sonst w a r f es sie schnell an die riesigen Felsen.
Die Quelle Artakia bei den Laistrygonen (X, 108) bringt uns wieder in die Nähe des Schwarzen Meeres und auf die Route der Argonauten: eine Quelle gleichen Namens fand sich in Kyzikos an der Propontis. Auf der Insel Thrinakia zieht sich Odysseus - als ob ihm die Feindschaft des Poseidon noch nicht genüge - auch die Rache des Helios zu, eines Gottes, der in der Erzählung von Iason eine große Rolle spielt, aber mit Odysseus gar nichts zu tun hat. Diomedes, einer der großen Heroen der Ilias, sieht aus, als sei er im letzten Augenblick in die Geschichte vom troianischen Krieg eingefügt worden, w o er ein Eindringling scheint. Außer in „seinem" Gesang, dem V. der Ilias (mit dem, was ihm unmittelbar vorausgeht und folgt), in der Dolonie und bei der Totenfeier f ü r Patroklos (X. und X X I I I . Gesang, die auf Grund zahlreicher Argumente allgemein zu den spätesten des Epos gerechnet werden) erscheint Diomedes nur hie und da in jenen redaktionellen Teilen, die als Übergang von einer großen Episode zur anderen dienen: VIII. Gesang, Anfang und Ende des IX., erster Teil des X I V . Gesanges. Nach den großen Taten im V. Gesang wird er nur noch einmal wieder in der Schlacht gesehen (XI, 3 1 0 ss.), aber gerade recht, um verwundet und endgültig aus dem Krieg ausgeschaltet zu werden. In der Folge gibt es nur seltene und kurze Hinweise auf ihn, nur um daran zu erinnern, daß er eben verwundet worden ist (XI, 660=XVI, Z5, 74 s.; X I X , 48): das könnten alles rasche und summarische Recht-
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fertigungen sein, eingefügt, um irgendwie das Publikum zufriedenzustellen, das über das Verschwinden dieses Helden enttäuscht war, der sich nur einmal kämpfend ins Licht gestellt hatte; und doch heilen die Wunden in der Ilias schnell, auf mehr oder minder wunderbare Weise, und Diomedes ist der Schützling der Athena. Diomedes wird auch noch in der Götterschlacht erwähnt (XXI, 396), als Ares ihres Zusammenstoßes im V. Gesang gedenkt. Aber er ist nicht genannt in den Gesängen I, II (außer natürlich im Katalog, w o er - vv. 559 ss. - als Herr von Argos bezeichnet wird, einer Stadt, die nach der übrigen Ilias zu urteilen, Agamemnon gehören müßte), III, XII, XIII, X V , X V I I , X X , X X I I , X X I V , w o es ihm manchmal nicht an Gelegenheit fehlen würde, sich in der Schlacht oder in der Versammlung sehen zu lassen. Wir unsererseits glauben, daß es möglich wäre, zu beweisen, daß die Ereignisse im V., dem einzigen wirklich von der Gestalt des Diomedes beherrschten Gesanges, aus einer vom troianischen Krieg unabhängigen Erzählung übernommen worden sind. Auch die Gestalt des Diomedes bestätigt also eine allgemeine Tendenz der epischen Dichtung: Heroen und Geschehnisse, die einst verschiedenen Zyklen angehörten, streben danach, sich von dem Zyklus aufsaugen zu lassen, der weiter verbreitet und volkstümlicher wird. Eine Persönlichkeit, die Aufmerksamkeit verdient, ist Helena; sie ist tatsächlich von der Erzählung vom Zuge der Achaier nicht zu trennen, obgleich sie eine lange, von der troianischen Sage unabhängige mythologische und religiöse Vergangenheit hat. Und in der vor-iliadischen Zeit des Krieges gibt es jenes in der Ilias nur einmal erwähnte Urteil des Paris (XXIV, 25-30), als es heißt, alle Götter hätten Mitleid mit dem von Achill verstümmelten Körper Hektors, während Hera, Poseidon und Athena bei ihrem Haß gegen die Troer bleiben nur wegen der Frevel des Paris, Weil er die Göttinnen kränkte, als diese im Hof ihn besuchten, Sie aber pries, die zu Willen ihm war in verderblicher Wollust,
das heißt: Aphrodite. Diese Stelle, Gegenstand heftiger Diskussionen unter den Kritikern, wird oft als eine späte Interpolation
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angesehen, sowohl aus sprachlichen Gründen (der ganze letzte Gesang ist aber in einem „jungen" Stil geschrieben), als hauptsächlich, weil Homer die Sage nicht gekannt habe, sonst hätte er sie auch bei anderen Gelegenheiten erwähnt. Diese Hypothese beruht auf dem doppelten Vorurteil, daß alle im Epischen Zyklus erzählten Geschichten nach-homerisch seien (das Parisurteil stand in den Kyprien), und daß jeder Bestandteil, der bei Homer nur einmal vorkommt - die Anspielung auf ein Ereignis oder eine sprachliche Form - zum mindesten verdächtig sei. Dagegen kann man, ohne daraus ein Prinzip zu machen, sagen, daß eine vereinzelte Anspielung voraussetzt, die Tatsache sei dem Publikum wohlbekannt. Auch kann die Gestalt des fürstlichen Hirten nicht späten Ursprungs sein. Das teilweise Schweigen der Ilias über diese Sage mag von der Neigung Homers herrühren, sich nicht mit den weit zurückliegenden „Ursachen" der erzählten Geschehnisse zu befassen. Was aber Helena betrifft, so sind die Anspielungen darauf, wie sie Menelaos betrogen hat, viel interessanter: es scheint uns, daß die Ilias hie und da eine Version einzuführen sucht, welche die traditionelle Lesart verändert und vielleicht eine neue, moralisierende Befangenheit verrät. In der uns durch Proklos überkommenen Inhaltsangabe der Kyprien heißt es, daß, als Paris Gast in Sparta war, Menelaos nach Kreta fuhr und den Gast Helena anvertraute. Hier bei ist nicht so sehr das Vertrauen des Menelaos bemerkenswert, als die Freiheit und das Ansehen Helenas, die den Gatten in einer Angelegenheit des „öffentlichen Interesses", wie es die Pflege von fernhergekommenen Gästen war, vertreten konnte; sie mußte demnach eine Stellung einnehmen, die die Frauen bei Homer fast völlig verloren haben. Während Menelaos verreist ist, so fährt der Inhaltsbericht22 fort „läßt Aphrodite Helena und Alexandras sich vereinigen; nach ihrer Vereinigung tragen sie heimlich viele Schätze fort, und in der Nacht segeln sie aufs Meer hinaus". Trotz des göttlichen Eingreifens ist dies die Geschichte eines ganz gemeinen Ehebruches, bei dem die flüchtenden Liebenden Sorge tragen, die Kasse 22 In: T. W . Allen, „Homeri Opera", V, Oxford 1 9 1 2 , p. 1 0 3 . 4
Codino, Homer
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Zeitalter und N a c h w i r k u n g Homers
nicht zu vergessen (die Schätze sind auch der Ilias wohlbekannt: VII, 350, 363, 389, 400; XII, 6z6; XXII, 114). Helena stimmt dem allem bei, wie nur natürlich, wenn sie unter dem Willen der unwiderstehlichen Göttin handelt, die sie dem Paris versprochen hat, und sie zögert keinen Augenblick, sich dem neuen Gatten hinzugeben. Auch an verschiedenen Stellen der Ilias erscheint Helena als die, die freiwillig Paris „gefolgt ist". Einmal erinnert sie selbst Priamos an den Tag, an dem sie seinem „Sohne gefolgt" war (Ii. III, 174). Mit ironischer Anspielung darauf sagt Athena zu Zeus: „Sicherlich wollte nun Kypris ein Weib der Achaier verleiten / Auch mit den Troern zu g e h e n . . ( I I . V, 422. s.). Es ist also unangebracht, von einem „Raub der Helena" zu sprechen. Die Inhaltsangabe ist klar, leider aber liefert sie uns keine Einzelheiten über die Taktik, die Paris bei seiner Eroberung anwandte, und über die Rolle der Aphrodite. Wie sich die Dinge in Sparta abgespielt haben, das scheint, wie man schon früher bemerkt hat 23 , in der Szene Ilias III, 383 ss. durchzuschimmern, wo Aphrodite neuerdings Helena „sich mit Paris vereinigen" läßt. Dieser ist von der Göttin der Wut des Menelaos entzogen und in sein Gemach getragen worden. Dann nimmt Aphrodite die Gestalt einer alten Spinnerin an, die Helena teuer war „als sie in Lakedaimon [Sparta] lebten"; sie trifft Helena auf den Mauern, und mit der Hand zupft sie sie am Saume des Schleiers, um mit ihr zu sprechen. Sie fordert sie auf, zu Paris zu gehen, Helena weigert sich, obgleich sie die Göttin erkannt hat, aber dann gibt sie deren Drohungen nach und macht sich auf. In der Kammer stellt Aphrodite einen Stuhl Paris gegenüber; Helena setzt sich, mit niedergeschlagenen Augen macht sie dem Feigling Vorwürfe, der sich im Zweikampf hat besiegen lassen, aber dann gibt sie auch seinen Worten nach und folgt ihm. Sieht man von den direkten Reden ab, so lassen hier alle Einzelheiten an das erste Stelldichein in Sparta denken. Vor allem die
2.3 Siehe ζ. Β. K. Reinhardt, „ D a s Parisurteil" (1938), jetzt in: „Tradition und Geist", Göttingen i960, pp. 1 6 - 3 6 . C f r . auch W . Kullmann, „ D a s Wirken der Götter in der Ilias", Berlin 1 9 5 6 , pp. 45 ss., 1 1 2 ss.
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Rolle der Aphrodite, die das Aussehen einer alten Dienerin annimmt, die aber augenscheinlich Helena nicht nach Troia gefolgt ist, also die am wenigsten geeignete Gestalt, um sowohl vor Helena - wenn Aphrodite sich ihr nicht enthüllen will (aber nachher wird sie auf den ersten Blick erkannt) - als auch vor den sie umgebenden Troerinnen aufzutreten. In Sparta dagegen war die Gestalt der alten ergebenen Dienerin die beste, die die Göttin wählen konnte, um die Zusammenkunft herbeizuführen. Die Art, am Schleier zu zupfen, könnte mehr als eine Erklärung finden, wäre aber am besten geeignet, eine Frau aufzufordern, sich zum ersten Male mit einem Manne im Geheimen zu treffen, der ihr — aber nicht mehr für lange - noch fremd ist; hier aber ist schließlich Paris schon seit langem ihr neuer Gemahl. Die Bewegung wird von den einladenden Worten begleitet (vv. 390-92): „Komm! dich ruft Alexandros, du wollest nach Hause doch kehren. Denn er liegt im Gemach auf schöngedrechseltem Lager, Schimmernd in Reizen und Feiergewand . .
aber die Aufforderung des Alexandros ist hier reine Erfindung der Göttin. Die Geste der Aphrodite, die einen Sessel vor Paris rückt, um die beiden einander gegenüber zu setzen, erschien Zenodotos unpassend, und man kann dem antiken Kritiker nicht Unrecht geben, wenn man bedenkt, daß diesmal die Göttin erkannt war. Alles wäre indessen in Ordnung, wenn die Verkleidung als Spinnerin bis zum Letzten stichgehalten hätte, wie es logischer wäre. Auch Helenas Scham und Sprödigkeit dürften jetzt der Vergangenheit angehören, obgleich sie hier durch die Anzeichen ihrer Sinnesänderung motiviert werden. Und was tut schließlich Aphrodite, von der nicht mehr die Rede ist? Bleibt sie im Zimmer? In der Ilias wird nie verfehlt, den Weggang oder das Auftreten der Götter zu vermerken, und hier wäre eine Andeutung mehr denn je nötig, um den Anstand des Terzettes zu wahren. Der Dichter wird es verabsäumt haben, diese Einzelheit wieder aufzugreifen, die sich bestimmt - aber in einer ihm nicht zusagenden Form — in seinem Vorbild fand. Die ganze Szene scheint demnach die Überarbeitung 4*
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eines Gedichtes zu sein, in dem das erste Beisammensein von Helena und Paris in Sparta erzählt wurde, wie es in den Kyprien stand. Aber die offensichtlich für die Ilias geschriebenen letzten "Worte des Paris setzen eine andere Version voraus (vv. 442-45): „nie habe ich dich so begehrt," sagt er, „Auch nicht damals, als ich dich fand und heimlich entführte, Fort aus der lieblichen Flur Lakedaimon im segelnden Schiffe, Und auf der Kranae-Insel mich dir in Liebe gesellte."
Diese Version schließt also die Zustimmung der Helena aus, die dagegen geraubt wurde und erst nach einer Strecke Fahrt Paris nachgab. Von Raub, nicht von Flucht, wird auch anderwärts gesprochen (IL II, 356 = 590), in einem Stück, das sicher nicht zu den ältesten der Ilias gehört. Möglicherweise hat in der vor-homerischen Dichtung die Erzählung von der Flucht zu einer Verurteilung Helenas geführt, die noch in einem Ausruf Achills nachklingt (XIX, 32.5: „Der wegen der grausigen Helena kämpft mit den Männern von Troja"), in dem Urteil der öffentlichen Meinung (III, 242: „Weil die Schande sie schreckt und die große Schmach, die mich zeichnet"; XXIV, 775: „sie meiden mich alle vor Abscheu") und in den Selbstanklagen der Helena (VI, 356, 344: „hündisches Weib", „hündisches, unheilstiftendes Weib"; XXIV, 764: „o, wär' ich zuvor doch gestorben!"); während andere, wie Priamos, sie entschuldigen (III, 164: „Schuldlos bist du gewiß; die Götter sind es gewesen", cfr. XXIV, 770) und auch Hektor (XXIV, 767). In der Ilias, wo das Problem der persönlichen Verantwortung ernstlich beginnt angegangen zu werden, wie wir später sehen werden, hat man es also vorgezogen, ganz diskret die für Helena günstigere Lesart vpm Raub einzuführen und die Heldin als von Bedauern und Gewissensbissen gepeinigt hinzustellen. Die Helena der Odyssee dagegen zieht sich mit einem bequemen Kompromiß aus der Verlegenheit: zwar ist sie schuldig geworden (sie sagt es selbst: IV, 261 ss.), aber nach ihrem Aufenthalt bei den Troern kommt sie gegen Ende des Krieges zur Einsicht und stellt sich wieder auf die Seite der Achaier.
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Diese Art von Quellenstudium ist nützlich, um unsere Epen, im Ganzen genommen, mit früheren Sagen und Gedichten zu vergleichen, aber für die Einheit oder Nicht-Einheit der Epen lassen sich damit keine sicheren Schlüsse ziehen. Tatsächlich trägt zu diesen Studien viel auch die unitarische Kritik bei. Ein und derselbe Verfasser konnte sich wirklich einmal mehr, einmal weniger streng an die Vorbilder gehalten und in einer Episode oder in den Schicksalen einer Person Widersprüche haben stehen lassen. Man sieht jedenfalls, daß der Dichter nicht in völliger Freiheit schafft und in gewissen Grenzen immer Versionen berücksichtigen muß, die sich von den dem Publikum bekannten Sagen schon durchgesetzt hatten. Der günstigste und ideale Fall, um unangreifbare analytische Ergebnisse vorzulegen, ist gegeben, wenn sich aufzeigen läßt, daß Vorlage und Überarbeitung, Vorbild und Nachahmung beide in unseren Epen erhalten sind. In einigen Fällen ist das möglich. In den Versen 5 1 1 ss. des II. Gesanges der Ilias steht ein sonderbarer Passus, wenn von Askalaphos und Ialmenos, Führern der Achaier, gesagt wird, daß „im Palaste des Aktor Azeides, im oberen Stockwerk, Astioche, die ehrenwerte Jungfrau, dem starken Ares gebar; der lag ihr heimlich bei". Werden die Verse so gelesen, so begreift man nicht, warum dem Dichter so viel daran lag, wissen zu lassen, daß das Mädchen um zu gebären in das obere Stockwerk, also in seine Kammer gestiegen ist. Man kann nicht interpretieren: „nachdem sie nach oben gestiegen war, um den starken Ares [zu treffen]", den Satz damit auf die Zusammenkunft beziehend, denn das lassen grammatikalische Schwierigkeiten nicht zu, und man muß vorziehen, nicht an einen Ares zu denken, der oben wartet. Oder und das wäre besser — das Verbum (τέκεν) könnte bedeuten „sie empfing" von dem starken Ares (nachdem sie in ihre Kammer hinaufgestiegen war), aber auch dann müßte der Satz anders konstruiert sein. Diesem Autor ist es, (wie Günther Jachmann gezeigt hat24) nicht gelungen, in klarer Form wiederzugeben, oder er hat
24 „ D e r homerische Schiffskatalog und die Ilias", Köln und Opladen pp. 1 5 9 - 1 6 3 .
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nicht begriffen, was anderwärts (XVI, 1 8 1 ss.) von dem Myrmidonen Eudoros, dem Sohne der Jungfrau Polymele und des Hermes gesagt wird: der mächtige Argostöter Liebte sie, als er beim Tanzen sie unter den Mädchen gewahrte, Artemis ehrend, die rauschende Göttin der goldenen Pfeile; Eilend stieg er zum Söller empor und liebte sie heimlich, Hermes, der heilende Gott; sie gebar als Sohn ihm Eudoros.
Der Verfasser der Verse im Schiffskatalog hat auf seine Weise die Stelle aus dem XVI. Gesang, das Werk eines älteren Dichters, nachgeahmt. In Fällen wie diesem, wenn die Nachahmung klar und eine Identität der Verfasser ausgeschlossen ist, könnte man auch noch die Einheit des Epos retten: entweder denkt man an eine kurze Interpolation, oder man nimmt an, der gleiche Verfasser habe die Verse eines anderen sich angeeignet und in seine Dichtung eingefügt und sie später achtlos in einem anderen Gesänge wiederholt. Aber diese Hypothesen gelten nicht für die recht langen Stellen, die von Anfang bis Ende nach Kompilation aussehen, wie gerade große Stücke aus dem Schiffskatalog oder wie die Dolonie (X. Gesang der Ilias), deren Verfasser sich nicht frei an den traditionellen Formelschatz oder an gewisse ältere Vorbilder halten, sondern gut bestimmbare Stellen aus der Ilias und der Odyssee nachahmen. Und jedenfalls sind falsche Interpretationen der besprochenen Art häufig genug, um zweifelsfrei zu zeigen, daß die Epen viele geschlossene Blöcke verschiedener Herkunft enthalten. Die Dolonie ist eigentlich ein Fall für sich, weil sie sicher später als die ganze Ilias ist, in der sie unbedingt einen Fremdkörper darstellt, und vielleicht auch später als der größere Teil der Odyssee. Nehmen wir nur ein Beispiel unter den vielen, die man nennen könnte. Als Diomedes sich anschickt, in das troianische Lager einzubrechen, da rät ihm Agamemnon, sich einen Gefährten zu wählen. Diomedes antwortet (X, 2.43), daß die Wahl klar sei: „Wie nur könnt ich des göttergleichen Odysseus vergessen . . . " Der Vers findet sich genau so im I. Gesang der Odyssee (v. 65), am Anfang
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der Rede des Zeus, als er Athena antwortet, die ihm vorgeworfen hatte, er lasse Odysseus in seinem fernen Exil. Da es keine Versformel aus dem Repertoir ist, so muß er an der einen Stelle Original, an der anderen Wiederholung sein; das bestätigt auch die Ähnlichkeit zwischen den an beiden Stellen folgenden Versen. Ist man nicht von vornherein davon überzeugt, daß die ganze Odyssee später als die ganze Ilias sein müsse, so wird es sofort natürlich scheinen anzunehmen, daß der Vers ursprünglich für Zeus geschrieben sei: in der Odyssee steht er sehr betont in der Götterversammlung, die das ganze Geschehen zum Anlaufen bringt, er gehört also zu einem jener denkwürdigen Stücke, die leicht zu erinnern und nachzuahmen sind. Und sehen wir besser zu, so ist im Text der Dolonie die Emphase unberechtigt, mit der Diomedes, der sich nur einen Genossen wählen soll, versichert, keinesfalls könne er des Odysseus vergessen (man halte sich auch gegenwärtig, daß in der Ilias Odysseus und Diomedes noch kein typisches, durch enge Waffenbrüderschaft verbundenes Paar sind, wie in der späteren Dichtung), und das Gewicht, daß er im griechischen Text dem Worte „ich" gibt. In der Odyssee dagegen hat Zeus alles Recht, die Vorwürfe Athenas energisch zurückzuweisen, und er erklärt, daß am Anfang der Mißgeschicke des Odysseus nicht sein Wille, sondern der eines anderen Gottes stehe: „Wie nur könnt ich . . . aber Poseidon kocht die Galle . . . " Die epische Sprache wurde von Generation zu Generation überliefert, und es konnte vorkommen, daß gewisse Worte in Stücken, die als Ganzes gedächtnismäßig weitergegeben waren, von den Dichtern nicht mehr verstanden wurden. Da konnte dann ein Dichter, der etwas Neues schaffen wollte, beim Benutzen des traditionellen Wortschatzes sich sehr versehen. Wählen wir eines von den vielen durch Manu Leumann 25 ermittelten aus. Leumann wendet die linguistische Analyse nicht auf die festen Formeln an, sondern gerade auf die Sprachgeschichte „auf kurze Distanz", das heißt: auf die willkürlichen Neuerungen, die von einer falschen Interpre2.5 „Homerische "Wörter", Basel 1950, pp. 2 2 2 - 2 3 1 .
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tation bestimmter Stellen mit seltenen und veralteten Ausdrücken kommen. Das Wort παρήορος kommt bei Homer in gar zu verschiedenen Bedeutungen vor, darunter in der etymologisch gerechtfertigten von Handpferd, Beipferd („Nebenroß", das seitwärts von dem normalen Gespann angebunden ist) und der anderen, adjektivischen - vielleicht „langhingestreckt" oder „ungeheuer groß" mit Beziehung auf einen Körper, der auf der Erde liegt. Jene erste Bedeutung hat das Wort (II. XVI, 152, 471, 474) wenn Patroklos zu den beiden unsterblichen Rossen des Achill, Xanthos und Balios, den sterblichen Pedasos anschirrt; dieser wird in der Schlacht getötet und bringt die beiden anderen in Schwierigkeiten. Der Ausdruck κεΐτο παρήορος έν κονίησι „das Beipferd lag im Staube" aus dieser Episode muß als isolierte Phrase einem anderen Dichter im Ohr geblieben sein, dem Verfasser der Stelle (VII, 124 ss.), in der Nestor seinen Sieg als Jüngling über den starken Ereuthalion schildert, der, von ihm zu Tode getroffen „lag παρήορος" (ν. 156). Indem er den ganz klaren Zusammenhang der Pedasos-Episode völlig vergaß, hat dieser Dichter sich zu erinnern geglaubt, der Ausdruck bedeute „er lag riesengroß" (oder „langhingestreckt", oder „in seiner ganzen Länge", oder „zuckend" - es ist schwer genau zu sagen), und damit schuf er einen sonderbaren Neologismus. Um die Möglichkeit dieses Mißverständnisses besser zu verstehen, muß man berücksichtigen, daß in dem oben zitierten griechischen Satz kein Artikel vor dem Nomen steht. In einer alten lateinischen Übersetzung ζ. B. heißt die Stelle „jacebat extrajugalis in pulveribus"; hier könnte das ungewöhnliche Wort extrajugalis leicht von jemandem mißverstanden werden, der sich nicht an den Zusammenhang erinnert. So kann man den einzelnen Dichter ertappen, der aus dem Gedächtnis mit schon vorhandenem Material arbeitet, vieles genau wiederholend, aber auch nach eigenem Belieben ändernd, und so kann man einige der verschiedenen Hände unterscheiden, die die einzelnen Episoden in den Epen geschrieben haben. Aber noch immer kann man nicht sagen, wie die Epen schließlich ihre endgültige Gestalt gewonnen hätten, und vor allem ist es schwer, zu
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einer Schlußfolgerung zu kommen, wenn man die Geschmacksurteile beiseite läßt. Aus den wenigen betrachteten Beispielen geht klar genug hervor, daß die Kritik in ihren analytischen Hypothesen immer von einer Inkongruenz im Text ausgeht, von einem störenden Element, das zu erklären ist. Das ist nur natürlich, aber um der Darlegung mehr Gewicht zu verleihen, greift man oft auf Geschmacksurteile zu Lasten des unbekannten Autors zurück, der für die Inkongruenz verantwortlich ist; auf Urteile, die rationalistisch, ästhetisch oder moralistisch mit verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten sein können. Kehren wir zu einigen der besprochenen Beispiele zurück. Der Verfasser der Episode von Nestor und dem Pferd (VIII. Gesang) hat eine Szene aus der Aithiopis kopiert und verdorben. Der Verfasser verschiedener Stellen in der Odyssee hat gegen die geographische Glaubwürdigkeit verstoßen, um hinter Iason und den Argonauten herzulaufen. Derjenige, der Diomedes in die Ilias eingeführt hat, hat nicht vermocht, daß sein Held sich im griechischen Lager vor Troia wirklich wohl fühlt. Wer die Zusammenkunft von Helena und Paris arrangiert hat, hat bestimmt eine gute Episode aufgebaut, aber er hat die Logik, die Schicklichkeit und die Gottheit verletzt (Aphrodite, die den Stuhl herbeiträgt). Der Dichter von Askalaphos und Ialmenos hat nicht das geringste von einer sonnenklaren Stelle begriffen, und er findet einen würdigen Genossen in dem Dichter von Ereuthalion. Von dem Plagiator, der die Dolonie zusammengestückelt hat, spricht man besser gar nicht. Die Unstimmigkeiten sind vorhanden, und sie bieten der Kritik die einzig möglichen Stützpunkte, um das Vorbild und die Nachahmung, die ältere und die jüngere Hand festzustellen. Aber man kann deswegen nicht sagen, die homerischen Epen seien zum größten Teile Plagiate, Kompilationen, redaktionelles Pfuschwerk, obwohl auch wir nicht ein- für allemal die „Unziemlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten" beschönigen wollen, indem wir sie im Gegenteil für „Schicklichkeiten und Notwendigkeiten" erklären. Man kann, wenigstens vorläufig, nur sagen, daß Ilias wie Odyssee der mündlich konzipierten und überlieferten Dichtung noch sehr
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nahe stehen. Das beweisen die aus immer wiederkehrenden Formeln bestehende Sprache (die die geschriebene Dichtung sehr bald aufzugeben sucht) und das Vorhandensein zahlreicher in sich abgeschlossener Episoden, die nur wenige hundert Verse zählen, die im Rahmen der Epen verhältnismäßig selbständig sind, die der durchschnittlichen kompositioneilen Einheit der gesungenen oder rezitierten Dichtung entsprechen, und die wir leicht in den Liedern der Aöden Phemios und Demodokos in der Odyssee wiedererkennen. Das lang ausgesponnene Epos war demnach eine Neuheit, und dem muß Rechnung getragen werden. Es ist wahr, daß die mehr vom Glück begünstigten Lieder ganz natürlicherweise danach strebten, sich in größeren festen Einheiten zusammenzuschließen, aber eine rein mechanische Aneinanderreihung mußte Gedichte oder vielmehr Repertorien hervorbringen, die als Serie von kurzen Liedern oder in katalogartiger Aufzählung nach dem einfachsten zeitlichen Ablauf geordnet waren. Beide Formen finden sich tatsächlich in der pseudo-homerischen und der hesiodischen Dichtung. Die Ilias und die Odyssee dagegen sind nach einem Plan aufgebaut, der nicht das Aneinanderreihen der Tatsachen will, sondern ihre Konzentrierung um eine zeitlich begrenzte Episode (den „Zorn des Achill" und die „Rache des Odysseus") durch reichlichen Gebrauch von Ringkompositionen, von Parenthesen, von rückschauenden Exkursen - nach einem Plan also, der schwerlich das Ergebnis eines natürlichen Niederschlages sein kann als vielmehr das Ergebnis gestaltender, schöpferischer Überlegung sein muß. Es bleiben noch die Grenzen dieser Schöpferkraft zu prüfen. Klar ist, daß die Epen kurze, auch zerstückelte oder überarbeitete Lieder verschiedenen Ursprungs enthalten, die aus dem troianischen Zyklus stammen oder aus anderen Zyklen übernommen worden sind. Es gibt große Unterschiede im Stil, in den ethischen und religiösen Anschauungen, in der Darstellung von Tatsachen und Personen. Aber wenn gerade die Verschiedenheit und die Nicht-Übereinstimmungen einerseits die Vielfalt von Verfassern oder Quellen beweisen, so beweisen sie andererseits, daß zur Zeit der Entstehung
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der Epen die schöpferische Kraft der mündlichen Dichtung erloschen war. Der wirkliche Aöde ist weder ein Philologe noch ein Herausgeber oder Redaktor: er benutzt eine Sprache — archaisch oder ständisch so viel man will - , aber einheitlich und in gewisser Weise persönlich; er wiederholt nicht Stücke aus einer Anthologie, indem er Wortschatz und Stil jedes von ihm ausgewählten Stückes unverändert läßt. In den homerischen Gedichten sehen wir dagegen, daß einige epische Texte in einer bestimmten Fassung festgelegt sind und nicht mehr von neuen Aöden in einem neuen gleichförmigen Stil und nach modernerem Geschmack „wieder- oder umgesungen" und durchweg erneuert werden, das heißt, daß sie von jemandem wiederaufgenommen werden, der Respekt vor der ursprünglichen Form hat, selbst um den Preis, in dem größeren Epos Widersprüche und nicht mehr verstandene Ausdrücke stehen zu lassen oder, besser gesagt, von jemandem, der nicht mehr fähig ist, das gesammelte Material selbständig nach der alten Sängertechnik völlig umzugestalten. Außer dem durchgehenden Plan zeigen auch die redaktionellen Nähte, die aus dieser Blütenlese wirkliche Epen machen, daß ihre Formung kein mechanischer Prozeß gewesen sein kann: es ist wahr, daß diese Nähte oft mit einer bei einem modernen Dichter undenkbaren Nachlässigkeit ausgeführt sind, aber sie bestehen nicht nur in kurzen, eilig hingeworfenen Versgrüppchen zwischen der einen Episode und der nächsten; häufig weiten sie sich zu so langen Stellen aus, daß sie nur von jemand geschrieben sein können, der, sei es auch großenteils mit dem Material anderer, Werke von dem Umfang unserer Epen aufzubauen verstand. Niemand ζ. B. kann den VIII. Gesang der Ilias verfaßt haben, um ihn als Einzelstück dem Publikum anzubieten: er hat einen ausgesprochen redaktionellen Charakter und interessiert nur als Teil des Epos; sein Verlauf ist unzusammenhängend und sprunghaft, aber im Gefüge der Ilias ist er notwendig. Viele Episoden der Ilias können herausgenommen und wie kleine Epen angehört werden - als Unterhaltung für eine Stunde: der Zweikampf zwischen Paris und Menelaos, die Taten des Diomedes, das Zwiegespräch zwischen Hektor und An-
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dromache, die Gesandtschaft zu Achilleus und so fort; aber der VIII. Gesang hat für sich genommen keinen Sinn. An einem gewissen Punkte des Formungsprozesses der Epen muß man unweigerlich irgendeinen Homer auftreten lassen, wenigstens zwei, einen für die Ilias und einen für die Odyssee. An den Anfang kann man ihn nicht setzen, weil es nie gelingen wird, in den Epen jenen originalen Kern zu finden, der sich dann durch aufeinanderfolgende Hinzufügungen vergrößert habe. Man wird die Verfasser gegen das Ende dieser Entwicklung setzen müssen, wobei man noch Raum für einige späte Zusätze und Interpolationen läßt, und man wird ihnen den „Plan", die Gesamtkonzeption der Epen, wie wir sie besitzen, zuschreiben. Allzu oft ist die Kritik gegen diese Autoren wenig großmütig. Um zu beweisen, daß es einen Dichter Homer nie gegeben habe, muß die am meisten sektiererhafte analytische Kritik auf die erwähnten geschmacklichen Urteile zurückgreifen, muß sie die Unstimmigkeiten und "Widersprüche streng behandeln, die von dem Redaktor (oder den Redaktoren) stehengelassen oder eingeführt worden sind; der Redaktor wird regelmäßig der „Stümper", „Wirrkopf" genannt, der mit seinen Eingriffen so viele schöne Erzeugnisse der archaischen Poesie verdorben habe. Auch wir glauben, daß die Physiognomie derer, die die Epen schufen, in den Teilen zu suchen sei, die eine strukturelle Funktion oder, wie man zu sagen pflegt, eine redaktionelle Aufgabe haben - aber die erwähnten Bezeichnungen sind wenig respektvoll gegenüber jemandem, der vielleicht als erster die Form des großen Epos geschaffen hat, oder der in dem für ihn ungünstigsten Falle immer noch das Verdienst hat, den Wert jener alten Texte begriffen und sie bewahrt zu haben, indem er sie, wenn auch mit grobem Faden, zu Werken zusammennähte, die der Zeit widerstehen konnten, bis die Griechen der klassischen Periode sie in ihre Obhut nahmen. Auf der anderen Seite erweist die unitarische Kritik strenger Observanz Homer auch keinen besseren Dienst, wenn sie ihn als jenen auserlesenen Berechner von Symmetrien und Parallelismen, als Schöpfer fast vollkommener Architekturen, raffinierter musikalischer Varia-
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tionen, glänzender Gemälde darstellt, den man in jener guten alten Zeit wirklich nicht erwarten würde. In dem Streit spielen auch die üblichen, von der entwicklungsgeschichtlichen Auffassung der Kunst geprägten Vorurteile mit: die archaische Poesie, so sagt man, ist rein, unverfälscht, bezaubernd, und sie geht zu Grunde, wenn der Kompilator an die Stelle des naiven Dichters tritt; oder auch: sie ist roh und anmutlos, und ganz allmählich verfeinert sie sich. Niemand kann das ästhetische Brevier noch einmal schreiben, das die Ilias und die Odyssee inspiriert hat. Sie sind aber ein typisches Erzeugnis aus dem Übergang zwischen zwei Kunstepochen, zwischen der mündlich überlieferten Dichtung, die sich auf Gedächtnis und Improvisation stützt, die einen Vorrat an festgefügten Formeln besitzt, deren normales Maß die selbständige Episode von wenigen hundert Versen ist, und zwischen der am Schreibtisch verfaßten Dichtung, die auch nach stilistischer Originalität strebt, in der die Episode auch in ihrer Beziehung auf weit auseinander liegende Stellen eines lang ausgesponnenen Zusammenhanges ihre Bedeutung hat. Die Autoren der Ilias und der Odyssee besaßen nicht mehr die Technik des Auswendiglernens, die es den Aöden erlaubte, zu improvisieren oder ein beliebiges Stück aus einem großen Repertoir zu wiederholen, sie dachten aber noch nicht daran, daß ein Dichter mit jedem seiner Verse einen niegehörten und persönlichen Ausdruck schaffen könne (sonst hätten sie lyrische Gedichte geschrieben). Die jüngsten Teile sind zugegebenermaßen in einem verfallenen, schon fast gekünstelten Stil geschrieben, aber sie sind nötig, um die Epen zusammenzuhalten. Diese stehen also zwischen der Anthologie und der originalen Dichtung im modernen Sinne. Was die Verfasser anlangt, so möchten wir sie lieber Dichter als Redaktoren nennen. Aber im Folgenden, wenn wir einen Blick auf den Inhalt von Ilias und Odyssee werfen, werden wir diese nur als Zeugnisse für die Ubergangszeit zwischen mündlicher Überlieferung und geschriebener Dichtung ansehen, indem wir in Rechnung ziehen, daß sie „älteres" und „jüngeres" Material enthalten, und erst am Ende unserer Untersuchung der Texte werden wir einige Bemerkungen über ihre innere Struktur anfügen. Wir werden
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also so viel wie möglich die homerische Frage in der Schwebe lassen und, selbst wenn wir der Bequemlichkeit halber den Namen Homer gebrauchen, werden wir seine Gestalt in dem Dämmerlicht seiner Jahrhunderte und seine künstlerische Individualität in dem Limbus lassen, wo wir ihn gefunden hatten.
DIE WELT HOMERS Vergangenheit und Gegenwart Die in den homerischen Epen beschriebene soziale Umwelt scheint auf den ersten Blick recht einheitlich und geschlossen zu sein, vor allem für den Leser, der sich vom Zauber der Sage fortreißen und ablenken läßt und sich damit begnügt, sie sich als eine in vager Weise feudale Welt vorzustellen, mit einem König, mit Vasallen, Rittern und ein wenig Volk im Hintergrund. In Wirklichkeit aber findet man jedes Mal, das man versucht, Ordnung in all die aus den Epen zu schöpfenden Hinweise auf Autorität und Eigentum, auf öffentliche Einrichtungen usw. zu bringen, daß das Bild hoffnungslos widersprüchlich ist. Homer verhehlt nicht, daß er von Dingen spricht, die in längst vergangenen Zeiten geschehen sind, aber er gibt uns keine Anzeichen an die Hand, in der Erzählung die historische Überlieferung oder - falls es sie gibt die historische Rekonstruktion von der Erfindung oder der Angleichung an das zeitgenössische Leben zu unterscheiden. Ein erstes Ordnen des episch-mythologischen Materiales auf chronologischer Basis findet sich bei Hesiod, dem ältesten griechischen Dichter, der uns auch als Person bekannt ist, und der nicht lange nach der endgültigen Redaktion von Ilias und Odyssee, aber in den andersgearteten ländlichen Kreisen Böotiens, also im griechischen Mutterlande, lebte. Hesiod umreißt, wenn auch mit Unklarheiten und Widersprüchen, die nicht überraschen können, eine Geschichte der göttlichen und der menschlichen Welt von den Anfängen bis auf seine Zeit. Jene ist, wie er ausführlich in der Theogonie erzählt, von ursprünglichen Phasen voller Gräuel und Grausamkeiten zu einer von Zeus geschaffenen Ordnung übergegangen, die eine gewisse Gerechtigkeit im Himmel und auf Erden verbürgen sollte. Das Menschengeschlecht dagegen (er setzt das in seinem an-
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deren Gedicht, den Werken,
auseinander) ist durch fünf Zeitalter
gegangen: durch das goldene, das silberne, das bronzene, das heroische und das eiserne Zeitalter, die v o n der ursprünglichen Glückseligkeit zum Reich der Schmerzen und der Ungerechtigkeit geführt haben; in diesem letzten nun lebt der Dichter, und er beschreibt es mit den W o r t e n (vv. 1 7 4 - z o i ) : Wäre ich doch nicht selbst ein Mitgenosse der fünften Männer und stürbe zuvor oder wäre später geboren! Jetzt ist ja das Geschlecht ein eisernes, niemals bei Tage Ruhen sie von Mühsal und Leid, nicht einmal die Nächte, Ο die Verderbten! da senden die Götter drückende Sorgen. Dennoch wird auch diesen zu Bösem Gutes gemischt sein. Zeus wird auch dies Geschlecht der redenden Menschen vertilgen, Wenn sie bei der Geburt schon graue Schläfen besitzen. Nicht ist der Vater dem Kind, das Kind dem Vater gewogen, Nicht dem Wirte der Gast, Gefährte nicht dem Gefährten, Nicht ist der Bruder lieb, wie er doch früher gewesen; Bald versagen sie selbst den greisen Eltern die Ehrfurcht, Schmähen sie noch und schwatzen mit ihnen häßliche Worte. Frevler! sie wissen nichts von Götteraufsicht, sie geben Nicht den greisen Eltern zurück die Pflege der Kindheit. Faustrecht gilt, der eine verheert des anderen Wohnsitz. Keiner wird mehr geschätzt, der wahr geschworen, und keiner, Der gerecht und gut. Den Übeltäter, den Frevler Ehrt man weit höher, es herrscht das Recht der Fäuste und keine Ehrfurcht und Scham. Der Schlimme verletzt mit betrüglichen Worten Einen edleren Mann und bekräftigt es noch mit dem Eide. Mißgunst folgt den Menschen, den unglückseligen, allen Zankend und schadenfroh mit scheelen, boshaften Augen. Nun zum Himmel hinauf von der pfadüberzogenen Erde Beide, die schöne Gestalt in lichte Gewänder verhüllend, Eilen hinweg von den Menschen hinauf zur Sippe der Götter Scham und gerechte Vergeltung; was bleibt, ist trauriges Elend Bei den sterblichen Herrschern. Da hilft nichts gegen das Unheil. (übers. Th. v. Scheffer) Die hier f ü r die Z u k u n f t vorausgesagten schlechten Sitten dürften zum großen Teil schon Wirklichkeit sein. Götter und Menschen sind jetzt klar voneinander geschieden, weil sie in ihrer Entwicklung
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auseinanderlaufende, sogar entgegengesetzte Wege eingeschlagen haben. Man versteht, wie Hesiod zu dieser Auffassung kam: das tägliche Leben war so unglücklich, daß er den Ursprung der Übel in der Welt erklären und ihm eine vorbildliche, ideale Existenz gegenüberstellen mußte als unentbehrlichen Bezugspunkt, um das wenige Gute zu retten, das es noch auf Erden geben konnte; um auf irgend etwas zu hoffen, um wenigstens die Gewähr für eine übernatürliche Ordnung zu haben; um gegen die herrschende ungerechte Gesellschaftsordnung zu Felde zu ziehen. Für Hesiod ist der fortschreitende Prozeß der Sittenverderbnis des Menschengeschlechtes nur einmal unterbrochen worden: durch das Geschlecht der Heroen, das für sich allein steht, weil nicht unter einem Metall dargestellt, eingeschaltet zwischen Bronze- und Eisenzeit, und weil es das einzige der fünf Zeitalter ist, das zu einem vorübergehenden Wiederaufleben der Gerechtigkeit geführt habe. Die Heroen oder Halbgötter, sagt Hesiod {Werke 161-68), gingen in grimmigen Kriegen und Schlachten zugrunde, teils vor Theben für die Herden des Oidipous kämpfend - der thebanische Zyklus bildete einen anderen großen Zweig der heroischen Dichtung - , teils vor Troia, wohin sie mit der Flotte wegen des Raubes der Helena gekommen waren. Ihr Zeitalter ist also das in den homerischen Gesängen beschriebene und dürfte an sich mit dem bronzenen Zeitalter zusammenfallen; bei Hesiod nimmt es einen Platz für sich ein, weil er eine alte Geschichte von der unaufhaltsamen Sittenverderbnis der Menschen durch diese Phase ergänzt haben wird, die zu bekannt war, um übergangen zu werden, und die mit Merkmalen bekannt war, die es nicht erlaubten, sie mit einem der Metall-Zeitalter gleichzusetzen. Deshalb erscheint das Zeitalter der Heroen in einem eigenen Lichte: einerseits scheint es wie ein einmaliges Phänomen außerhalb der menschlichen Entwicklung zu stehen oder, besser gesagt, in einer Sphäre zwischen der irdischen, zum Zusammenbruch verurteilten Welt und dem Götterhimmel, der im Gegensatz dazu der Ordnung und Gerechtigkeit entgegenschreitet (die überlebenden Helden, so sagt Hesiod noch, wurden von Zeus auf die Inseln der Seligen gesandt, um dort in Ewigkeit j
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weiterzuleben); andererseits ist dies das einzige hesiodische Zeitalter, das an historische Ereignisse und Stätten gebunden erscheint: an die Kämpfe um Theben und Troia. Zweifellos hielt Hesiod beide Mythen für gleich authentisch und wahr - jenen allgemeinen von der Verderbnis der Menschen und jenen von den Heroen aber der Text zeigt klar, daß zu seiner Zeit die Erzählungen mykenischer Herkunft dank ihren historischen Ursprüngen und der Kontinuität der epischen Überlieferung eine besondere Selbständigkeit und Dichte bewahrten. Diese Oberlieferung - wenigstens so, wie sie von Homer vertreten wird - strebt zwar danach, sich nach einem gewissen Ordnungsgesetz auszuweiten, ohne daß sie es aber dazu bringt, die Mythen in ein chronologisch-genealogisches System zu bringen, das die Grenzen des fest umrissenen „Zeitalters der Heroen" überschritte. Im Gegenteil: wenn es auch vor Homer oder unabhängig von Homer vollständige epische Zyklen über den troianischen Krieg und die Rückkehr der Helden mit lang ausgesponnenen Geschichten von Städten und Dynastien geben konnte, so haben wir in den uns gebliebenen Epen nur eine Episode aus dem Krieg und die Rückkehr nur eines Helden. Aus der Ilias wissen wir, genau genommen, nicht einmal, wie der Krieg begonnen hat und wie er enden wird; die Odyssee sagt uns nichts darüber, was der Hauptheld getan hat, ehe er nach Troia kam, und wie er den Rest seines Lebens verbringen wird. Und noch weniger erzählen uns die Epen etwas von der Vorgeschichte des heroischen Zeitalters einerseits und von den folgenden Generationen andererseits. Die homerische Welt erscheint dadurch wie eine ideale Welt, vielleicht ewig in ihrer Isoliertheit: die einzelnen Helden sterben, gewiß, aber sie hinterlassen Erben; trotzdem wird nicht von ihren bekannten Nachkommen gesprochen, und wir könnten nicht sagen, ob Homer glaube, daß ihre Geschlechter ausgestorben seien, und wann und wie, während Hesiod sich bemüht, ihren Untergang zu begründen. Dies dürfte das Ergebnis einer mehr oder minder überlegten künstlerischen Wahl sein; in der Tat fehlen bei Homer Spuren oder Ansätze von chronologisch-genealogischen Ausblicken im hesio-
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dischen Sinne nicht, aber sie werden absichtlich beiseite gelassen. Auch Homer weiß, daß es in alten Zeiten zwischen den Göttern wütende Kämpfe um die Macht gegeben hat, aber über dieses Thema ist er sehr zurückhaltend; er weiß genau wie Hesiod, daß den Heroen viel gewalttätigere und wildere Wesen wie die Kentauren und Lapithen vorangegangen waren, an die sich der alte Nestor noch erinnert (IL I, 262-68; cfr. II, 742-45); aber all das erscheint nur in flüchtigen Andeutungen, die bei einem unmittelbaren poetischen Anlaß fallen. Auf das Ende des heroischen Zeitalters und auf das gegenwärtige wird nicht direkt Bezug genommen. Hesiod sagt wenigstens, daß die Helden im Kampf untergingen; bei Homer würde man vergebens eine Anspielung auf das Ende der mykenischen Kultur finden, zumindest wenn man nicht das einsame Echo einer historischen Katastrophe, also eine Vorhersage post eventum aus den bitteren Worten der Hera heraushören will, die dem Zorn des Zeus ihre liebsten Städte, Argos, Sparta und Mykene, preisgeben will (IL IV, 51-53): „Unter den Städten, fürwahr, sind drei mir bei weitem die liebsten Argos und Sparta, dazu die weitgebaute Mykene: Diese magst du verderben, sobald sie das Herz dir v e r b i t t e r n . . . "
Einige Ausblicke auf das zeitgenössische Leben öffnen sich sicher in den berühmten Gleichnissen mit ihren aus der Wirklichkeit gegriffenen Bildern, aber ansonsten will das homerische Epos zeigen, daß es nur eine Vergangenheit kennt, die nunmehr außerhalb der Zeiten zu liegen scheint: es läßt uns nicht verstehen, ob es zu dem gegenwärtigen Zustand durch einen allmählichen Verfallsprozeß oder eine unerwartete plötzliche Krise, einen scharfen Bruch gekommen ist. Hesiods Polemik gegen die minderwertige Menschheit seiner Tage schrumpft hier zu einigen Gemeinplätzen über die Überlegenheit der Alten zusammen. Wenn etwa Diomedes einen ungeheuren Stein aufhebt, um Aineias zu erschlagen, so bemerkt der Dichter dazu, heute könnten nicht einmal zwei Männer ein solches Gewicht tragen (IL V, 302-304). Das ist alles. 5*
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Die epischen Gedichte waren also von Generation auf Generation überliefert worden, ohne daß ausdrückliche Bezugnahmen auf neue Wirklichkeiten in sie eindrangen. Unzweifelhaft gehen unsere Gedichte inhaltlich zum guten Teil auf ferne Anfänge vom 16. bis zum 12. Jahrhundert v. Chr. zurück: Themen, Personen, Mythen in ihnen sind mykenisch. Das bedeutet aber nicht, daß sie die dichterische Fortsetzung einer mykenischen Epik in Hexametern seien, deren Vorhandensein bisher unbeweisbar ist. 1 Es hat aber doch eine mykenische Dichtung der einen oder der anderen Art geben müssen, die wenigstens die „literarischen" Erinnerungen aus dem Schiffbruch retten konnte, nachdem die Lebensbedingungen sich so grundlegend geändert hatten. Hat man diese Grenzen abgesteckt, so bleibt noch zu sehen, bis zu welchem Grade letzten Endes die Epen als Dokumente für das mykenische Leben angesprochen werden können, oder bis zu welchem Punkt ihr Inhalt im Verlauf ihres langen Formungsprozesses sich unmerklich dem Vorbild des zeitgenössischen Daseins angeglichen haben. Von den mykenischen Dichtungen - wenn es sie gab und welcher Art auch immer sie gewesen wären - weiß man natürlich nicht, ob sie schriftlich aufgezeichnet waren; sicherlich nicht, aber das hat auch wenig Bedeutung, weil die Schrift mit der dorischen Besetzung verschwand und erst gegen die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. unter Verwendung des phönikischen Alphabetes (desselben, das wir mit den nötig gewordenen Anpassungen noch heute benutzen) wieder eingeführt wurde. Es ist wahr, daß es für Familien oder ι „Zusammenfassend sind die benutzbaren Zeugnisse über das Vorhandensein einer mykenischen erzählenden Literatur nicht maßgebend, obgleich es gewisse Anzeichen gibt, die dafür sprechen. Wir wissen zurzeit nichts, um zu behaupten, daß sie weit verbreitet gewesen oder daß viel von ihr wörtlich in die epische Tradition der Eisenzeit übergegangen sei, die ihren Höhepunkt in Homer hatte": G. S. Kirk, „ T h e Song of Homer", Cambridge 1 9 6 2 , p . 1 2 0 , w o das ganze Kapitel „ T h e Evidence for Mycenaean Epic" durchzusehen ist. Viele Gründe, die davon abraten, zu übereilt die Fortsetzung zwischen einer mykenischen Dichtkunst und Homer zu behaupten, sind angeführt von C. Gallavotti, „Tradizione micenea e poesia arcaica" in: Atti e memorie del Primo Congresso Internazionale di Micenologia, vol. preparatorio, parte I, pp. 1 5 8 - 1 8 2 .
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Gilden von Aöden wenigstens grundsätzlich nicht unmöglich wäre, auch noch längere Texte als Ilias und Odyssee unverändert aus dem Gedächtnis weiterzugeben: die neuen Untersuchungen haben gezeigt, daß analphabetische Volkssänger mnemotechnische, während einer langen Lehrzeit entwickelte Fähigkeiten haben, die uns ein Wunder erscheinen. Aber wir haben auch gesehen, daß in der Praxis es niemals die Aufgabe dieser Sänger ist, die überlieferten Texte in endgültiger Fassung zu wiederholen: jeder verändert den Text bei jedem Vortrag, er verlängert oder verkürzt ihn, er fügt Abschweifungen oder Einschaltungen ein, wie es Gelegenheit und Publikum heischen. Nicht einmal der gleiche Sänger wiederholt zweimal genau den gleichen Text - er wäre dazu nicht imstande. In der mündlich überlieferten Dichtung ist der Stoff keine statische Größe, sondern „eine lebendige, wechselnde, anpassungsfähige künstlerische Schöpfung". 2 Hier gibt es nicht einmal ein „Original", das unverändert oder abgewandelt weitergegeben werden könnte: jede Rezitation ein und desselben Textes ist sowohl Wiederholung als auch Neuschöpfung, „eine lebende, sich wechselnde, veränderbare künstlerische Schöpfung" . . . „Unsere Vorstellung von dem ,Original', dem ,Lied' ist bei der mündlichen Überlieferung einfach sinnlos. Uns scheint sie so fundamental, so logisch, weil wir in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der die Schrift die Norm für eine erste, dauerhafte künstlerische Schöpfung gegeben hat, daß wir meinen, es müsse für alles ein ,Original' g e b e n . . . Bei mündlicher Uberlieferung ist die Vorstellung von einem Original unlogisch." 2 Auch die in der Odyssee auftretenden Sänger wiederholen bekannte Geschichten, schaffen sie aber zugleich neu und werden wegen ihrer künstlerischen Fähigkeiten gepriesen, nicht nur weil sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben. Im I. Gesang der Odyssee steht eine sonderbare Bemerkung. Der Sänger Phemios singt auf ζ Α. Β. Lord, „ T h e Singer of Tales", Cambridge, Mass., i960, pp. 94, 1 0 1 . Diese Auffassung über die mündliche Überlieferung kann die Vorläufer der homerischen Poesie erhellen, kann aber nicht auf die homerischen Gedichte selbst angewendet werden.
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Ithaka von dem Unheil, das die von Troia zurückkehrenden Achaier traf, und Penelope bittet ihn, eine für sie so peinvolle Weise abzubrechen; doch Telemach verteidigt Phemios, indem er sagt, das erwünschteste Lied sei das über die jüngsten, aktuellen Geschehnisse (Od. I, 351 s.)· Und an anderer Stelle singt Demodokos, der Aöde von Scheria, vom Streit zwischen Achill und Odysseus (VIII, 73 ss.) und vom Hölzernen Pferd (VIII, 492. ss.), also von jüngstvergangenen Ereignissen, in Gegenwart des Helden selbst. In diesen Fällen dient die Rezitation von Geschichten aus ihrer eigenen Zeit durch die Sänger dazu, meisterhafte poetische Entwicklungen anzubahnen: im I. Gesang, um die Wechselreden zwischen Penelope und Telemach und alles Folgende einzuführen, im VIII. Gesang, um mit den Tränen des Odysseus sein Erkanntwerden durch die Phaiaken vorzubereiten. Aber sowohl die ganz allgemein gehaltene Äußerung Telemachs wie das Verfahren der Sänger in der Odyssee stimmen nicht mit der Dichtung Homers überein, der sich streng in den Grenzen einer abgeschlossenen und weit zurückliegenden Vergangenheit hält. Umgekehrt sagt Hesiod, der doch ein Dichter des zeitgenössischen Lebens ist, daß der Aöde t Wie ein Diener der Musen, ein Sänger, frührer Geschlechter Rühmliche „Taten besingt und die seligen Götter im Himmel. (Theogonie
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In gewisser Weise haben trotz dieses Widerspruches sowohl Homer wie Hesiod recht. Hesiods Urteil betrifft die Sänger, die zu seiner Zeit die Sagen von Herakles, von Theben und Troia vortrugen - die Stoffe, die das dichterische Repertoir auch weiterhin beherrschten, selbst wenn Hesiod persönlich die neue Straße der Aktualität und Polemik gewählt hat. Er scheint diese seine Originalität in einem herausfordernden Ton in der Einleitung zur Theogonie anzukündigen, w o er von seiner Dichterweihe spricht; die Musen haben ihm gesagt (vv. 2,7 s.): „Seht, wir reden viel Trug, auch wenn es wie Wirklichkeit klänge, Seht aber, wenn wir gewillt, verkünden wir lautere Wahrheit."
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In der Anspielung auf die Lügen soll man vielleicht nicht eine aufklärerische Verurteilung aller Dichtung homerischen Stiles sehen; aber es ist klar, daß Hesiod sein belehrendes Vorhaben energisch einer Epik gegenüberstellt, die ihm nur auf Unterhaltung abzuzielen schien. Homer, der doch nie von der Gegenwart spricht, zeigt uns Sänger als Berichterstatter von Tagesneuigkeiten, und durch den Mund des Telemachos verkündet er geradezu das Programm einer aktuellen Dichtkunst. In diesem Falle könnte er uns tatsächlich ein authentisches Zeugnis über mykenische Bräuche bewahrt haben. Wenn an den Uranfängen der homerischen Dichtung mykenische Lieder stehen, die durch wirkliche Vorkommnisse jener Tage angeregt waren, so haben die damaligen Sänger - gerade wie Phemios und Demodokos in der Odyssee - sie sofort danach komponieren und in Gegenwart der Protagonisten und ihrer Zeugen oder zumindest ihrer Söhne vortragen müssen. In solchem Falle kann die Schärfe der historischen Erinnerung noch nach so langer Zeit nicht überraschen: wenn die my kenischen Stoffe ohne Unterbrechung überliefert worden sind, so mußte sich der Beruf des Aöden über die Familie oder die Korporation vererben, und dadurch können die Sänger ungemein getreue Erinnerungsbilder festhalten, weil sie von ihren Vorgängern sprechen, und weil es ihnen vielleicht Genugtuung bereitet, daran zu erinnern, daß jene in den Palästen bewundert wurden. Aber an das Übrige waren die Erinnerungen nicht so präzis. Als sich die Verhältnisse geändert hatten, die Familien der Herren mit ihren Höfen und Residenzen untergegangen waren, da hatten die Nachkommen der mykenischen Sänger, ihre Sagen mit sich tragend, den Ort gewechselt - über eine Zeitspanne von Jahrhunderten, an deren Ende wir sie in Kleinasien wiederfinden. Was unverständlich wurde, mußte abgestossen oder, wenn auch vielleicht unbewußt, geändert oder der Gegenwart angepaßt werden, mußte die neue Realität, die die Sänger vor Augen hatten, und ihr Publikum berücksichtigen. Es blieb nur noch das Bewußtsein lebendig, von weit zurückliegenden Ereignissen zu singen.
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Man sieht also, in welch begrenztem Sinne wir sagen können, daß die Epen die mykenische Welt widerspiegeln: sie bewahren so viel, wie es von einer im übrigen untergegangenen und vergessenen Gesellschaft durch mündliche Uberlieferung erhalten werden konnte, das also, was dank der formelhaften Sprache und der metrischen Bindung (seien sie nun ein Erzeugnis des mykenischen Zeitalters oder der frühesten Periode des hellenischen Mittelalters) unverändert beibehalten werden konnte: einzelne Taten der Helden, die (zum Teil schon unverständlich gewordenen) Epitheta, die Benennungen und Beschreibungen einiger materieller Objekte. Dagegen muß in den Epen die Beschreibung der menschlichen Beziehungen zueinander sowohl in ihren Handlungen wie in der entsprechenden Denkungsweise radikal erneuert worden sein; diese konnte nicht in einem anderen Milieu und nach so langer Zeit tradiert werden. Manchmal hat man angenommen, daß in den homerischen Gedichten auch in dieser Hinsicht ein bewußter Archaismus herrsche, aber es ist unmöglich, daß in einer Epoche, die keine, sagen wir nicht Geschichtsschreibung, aber auch nicht einmal ungeschliffene Dokumente über die Vergangenheit besaß, in der der Sinn für die Geschichte sich erst noch bilden mußte - daß in einer solchen Epoche Rekonstruktionen der Umwelt glücken konnten ähnlich denen, die (immer nur teilweise mit Erfolg) in modernen historischen Romanen angestrebt werden. Schließlich waren zwischen dem mykenischen Zeitalter und unserem Homer ebensoviele Jahrhunderte verstrichen wie sie uns vom späten Mittelalter trennen. Und man denke an die Vorstellung, die das Mittelalter von dem Leben der Römer hatte, und ebenso an die Schwierigkeiten, auf die wir selbst - bei all unserem Historizismus und mit guten verfügbaren Dokumenten - treffen, wenn wir uns wirklich bildhaft Lebensbedingungen vorstellen wollen, die von den unseren verschieden sind. Wenn die Griechen der archaischen und klassischen Zeit den homerischen Helden ihre eigenen Sitten beilegten, so ist die moderne Kritik erst seit wenigen Jahrzehnten auf den Verdacht gekommen, daß diese Darstellungen ausgesprochen anachronistisch seien, wenigstens für den Teil, der mit dem archäolo-
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gischen Material nachgeprüft werden kann: Gewandung, Waffen und Architektur. Viel schwieriger ist für uns die Rekonstruktion der menschlichen Umgangsformen, über die uns die Archäologie nichts sagen kann.
Materielle Objekte und menschliche Beziehungen Bei Homer wird es also einerseits ein antiquarisches, mechanisch weitergegebenes Erinnern an die äußeren Aspekte der mykenischen Vergangenheit geben, andererseits eine ganz entschiedene Annäherung an die Lebensweise des „griechischen Mittelalters" und zwar an seine jüngste Periode. Bestimmter ausgedrückt: wenn wir Homer als historische Quelle betrachten, so können wir drei Arten von Zeugnissen unterscheiden: 1 . Die Zeugnisse über materielle Objekte (Waffen, Wagen, Gewänder, Wohnstätten) können sehr weit zurückliegende Zustände widerspiegeln, weil in diesem Falle die epische Sprache mit Leichtigkeit bewahrend wirkt, weil das Objekt, ob es aus Metall oder Stein war, sich tatsächlich erhalten konnte, oder schließlich auch, weil sein Abbild auf dauerhaftem Material überkommen sein konnte; hier lassen sich mit Hilfe der Archäologie ein zeitlicher Ablauf festlegen und auch absolute Daten aufstellen. 2. Bestimmte einzelne Akte oder Gebräuche des sozialen Lebens (Hochzeitsbräuche, Riten, Trauersitten usw.) können sehr wohl in Beschreibungen festgehalten worden sein, die die Dichter auch dann wiederholten, nachdem man sie aufgegeben oder verändert hatte. 3. Für das Gesamtbild der lebendigen sozialen Beziehungen, für das Funktionieren der öffentlichen Einrichtungen, für die damit zusammenhängenden moralischen Anschauungen, die, im Laufe der geschichtlichen Entwicklung einmal überwunden, weder sichtbare Spuren noch klare Erinnerungen hinterlassen - dafür hatten die Dichter keinen anderen Anhaltspunkt als das gegenwärtige Leben. In diesem letzten Falle also können wir trotz der Schwierig-
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keit der Nachforschungen hoffen, die sichersten Zeugnisse über die Welt zu finden, in der Homer lebte. Das zentrale Motiv der Ilias ist im Grunde ein Konflikt, der für die Stammesgemeinschaften in den „dunklen Jahrhunderten" typisch gewesen sein dürfte: die Auflehnung eines durch persönlichen Wert hervorragenden Einzelnen (Achilleus) gegen den militärischen Führer, der von der Versammlung unterstützt oder nicht gehemmt wird (Agamemnon); aber der Zwiespalt erwächst vor dem Hintergrund eines kriegerischen Unternehmens, das wegen seiner scheinbaren Ausmaße, wegen der Personen- und Ortsnamen, wegen verschiedener beschreibender Einzelheiten noch als ein echt mykenisches Ereignis erscheinen kann. Inszenierung und Dekoration sind so grandios, daß die Kritik noch heute versucht ist, in den Epen sogar zu viele Zeugnisse für die mykenische Kultur zu finden. Und schließlich wurde Schliemann gut von Homer geleitet, um die Reste von Troia zu entdecken und nach Monumenten in den anderen mykenischen Städten zu suchen. Ein Ding aber ist die Identifizierung der Orte, deren Namen und geographische Lage leicht überliefert werden konnten, ein anderes ist das Erkennen und das Rekonstruieren einer bestimmten Gesellschaftsform. Das bekannteste Beispiel für archäologisch-antiquarische Erinnerungen ist die an den charakteristischen Becher des Nestor, der in der Ilias beschrieben wird, als Hekamede darin ihren merkwürdigen Kräftigungstrank bereitet (XI, 633-35). Der große Becher war Reich mit goldenen Buckeln geschmückt; es waren der Henkel Vier am Becher, ein Paar von goldenen pickenden Tauben Rings um jeden und zwei der tragenden Stützen darunter.
Die Ähnlichkeiten zwischen dem hier beschriebenen Gegenstand und einem Goldbecher aus Mykene beweisen trotz der Zweifel einiger Gelehrter, daß der Becher des Nestor mykenisch ist. Ein solches Objekt konnte sich in der Tat am Tageslicht erhalten haben. Nicht dasselbe aber läßt sich von dem seltsamen Helm sagen, den Meriones dem Odysseus in der Dolonie gibt (Ii. X ,
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261-65): er ist aus Leder, also einem vergänglichen Material, ist mit den Hauern eines Ebers geschmückt und innen mit Riemen fest bespannt und hat ein Futter aus Filz. Wir wissen, daß Helme dieses Typus im 16. und 15. Jahrh. in Gebrauch waren, aber vielleicht waren sie schon lange vor dem Ende der mykenischen Zeit verschwunden. Dieses Beispiel ist besonders lehrreich, weil nach unserer Kenntnis die Dolonie eine der jüngsten Episoden der Ilias ist; es kann demnach vorkommen, daß die am weitesten zurückliegenden Erinnerungen in den spätesten Teilen der Epen auftauchen. Die homerischen Paläste stimmen gut zu denen aus der mykenischen Periode, die von den Grabungen in Griechenland und in Kleinasien ans Licht gebracht worden sind; dagegen haben die Archäologen bisher noch nicht mit Sicherheit beweisen können, daß es so komplizierte Paläste und von solcher Anlage noch in der nach-mykenischen Zeit gegeben habe. Die Sänger und die Hörer wußten sich also sozusagen mit der Phantasie in Gebäuden zu bewegen, die sie nie gesehen hatten. Und nichts hindert uns, daran zu glauben. Es versteht sich, daß auch in der Beschreibung der Gegenstände die Dichter nicht immer konsequent sein können, und daß auch hier das Neue sich Bahn brechen will. Zur Zeit des troianischen Krieges war das Eisen ein noch wenig verbreitetes Metall, fast eine Kostbarkeit, schwierig zu bearbeiten; Waffen und Gebrauchsgegenstände waren aus Bronze. Als Athena sich Telemach in der Gestalt des Mentes, des Fürsten der Taphier, zeigt, da sagt sie ihm, sie ginge nach Temesa und trüge Eisen bei sich, um Bronze im Tausch zu erhalten (Od. I, 184). Auch in den Epen sind die Waffen fast immer aus Bronze, mit wenigen Ausnahmen: die eiserne Keule des Areithoos (Ii. VII, 141), die Pfeilspitze des Pandaros (IL IV, 12,3), die Äxte, die beim Bogenkampf benutzt werden (Od. XXI, 1 1 ) und zum Königsschatz gehören. Unter den wertvollen Preisen, die Achill für die Totenspiele zu Ehren des Patroklos gestiftet hat, ist auch das graue Eisen (Ii. XXIII, 261, 850, in einer Textstelle, die sicher ziemlich spät in die Ilias eingefügt worden ist), unter anderem ein massiver Diskos, der dem Sieger als Reserve für fünf Jahre
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dienen kann (vv. 82.6 ss.). Aber es gibt verschiedene Anzeichen dafür, daß unsere Texte lange nach dem Ende der Bronzezeit entstanden sind: man hat beobachtet, daß in bestimmten Beschreibungen (ζ. B. des Schmiedehandwerkes) an die Bearbeitung des Eisens gedacht wird, auch wenn von anderen Materialien gesprochen wird. Eine anachronistische Vermengung von Metallen und verschiedenen Techniken findet sich in den Beschreibungen von Waffen, ζ. B. in jener berühmten Beschreibung des Schildes des Achill im XVIII. Gesang der Ilias und der Rüstung des Agamemnon im XI. Gesang. Und das Eisen erscheint fortwährend in sprichwörtlichen Redensarten: ein Herz von Eisen haben (II. X X I V , 205, 521); „Männer holt sich das Eisen von selber" (Od. XVI, 294; X I X , 13) das heißt: schon der Anblick der Waffen verleitet zu ihrem Gebrauch. Wenn auch die Beschreibungen der Waffen recht getreu überliefert werden konnten, so bestätigt die allzu große Mannigfaltigkeit der in den Kämpfen benutzten Typen, die auf verschiedene mykenische und nach-mykenische Generationen zurückgehen, daß die Dichter sich nicht an eine bestimmte Entwicklungsphase der Militärtechnik zu halten wußten und es zuließen, daß Erinnerungen unterschiedlichen Ursprunges sich übereinander lagerten. Das Ergebnis sind Szenen und Schaustellungen, die einem allzu anspruchsvollen Leser sonderbar und pittoresk, aber nicht geradezu absurd vorkommen mögen; das Absurde beginnt, wenn man nicht auf die Beschreibung der Waffen sieht, sondern auf ihren Gebrauch und vor allem auf die in der Ilias angewendeten militärischen Taktiken. Die Griechen betrachteten Homer unter anderem als einen Meister der Kriegsführung, wie Aischylos in den Fröschen des Aristophanes sagt (v. 1036); man erinnere sich auch an den platonischen Ion, der, nur weil er ein vorzüglicher Homerkenner ist, sich als den besten Feldherrn der Griechen rühmt (Ion 541 B). Und doch ist die Ilias als Kriegsbericht das Konfuseste und Unwahrscheinlichste, das man sich vorstellen kann: die Schlachten möchten sich nach der Taktik der Hopliten abspielen, die sich in Griechenland seit dem Ende des 8. Jahrhunderts verbreitete, aber das ent-
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scheidende Element mußte der Zweikampf bleiben. Vor allem gelingt es nicht, uns eine Vorstellung von der Ausweitung der Schlachten zu machen, in denen manchmal die Heere sich ausdehnen so weit das Auge reicht und der Führer nicht weiß, was an den einzelnen Stellen vorgeht: Aias ζ. B. kann unter den Troern wüten, ohne daß Hektor es bemerkt, „denn er kämpfte am linken Flügel des Treffens" (IL XI, 498; cfr. XIII, 675); andere Male verschwinden die Massen, um nur einige Kämpen zurückzulassen, deren Stimmen und Blicke das ganze Feld beherrschen. Eine nicht ausmerzbare Waffe war der mykenische Wagen, an den aber die Ilias nur eine vage Erinnerung hat. In der Ilias wird immerfort von Kriegswagen gesprochen. Einmal erläutert Nestor vor der Schlacht die beste Art, mit den Wagen zu kämpfen und versichert, daß es so „die Ahnen" machten (Ii. IV, 308) 3 ; Agamemnon schärft ein, daß die Pferde zu fressen bekommen sollen, ehe sie aufs Schlachtfeld gehen (II, 383), und Hektor fordert dazu auf, die Wagen den Achaiern entgegenzuwerfen (XI, 289). Ist aber die Schlacht entbrannt, so kann der Dichter nicht sehen, wie man auf dem Wagen kämpft, der praktisch den Helden nur dazu dient, größere Strecken zurückzulegen; dann beeilen sie sich abzusteigen, um zu Fuß zu kämpfen. Umso mehr als, wie man bemerkt hat, beim Zusammentreffen eines Kriegers zu Fuß und eines zu Wagen, meistens dieser den Kürzeren zieht.4 Häufig vergißt dann der 3 Z u m Thema siehe unter anderen G. S. Kirk, op. cit., p. 1 2 4 : „Nestor ist berühmt für seine unkonventionellen und oft bizarren taktischen Anweisungen, aber das ist ausgesprochen ein historischer Archaismus; wenigstens einer der Dichter der entwickelten mündlichen Tradition wußte, daß Wagen in früheren Zeiten wirkliche Kampfmittel gewesen waren und nicht nur die rein zur Bequemlichkeit des Adels benutzten Objekte, die sie in der geometrischen Zeit geworden waren. Die vielen in den Palästen von Knossos und Pylos benutzten Wagen können kaum für den immer, außer in diesen Passagen der Ilias - die eine Ausnahme sind - beschriebenen Gebrauch vorhanden gewesen sein; mit anderen Worten: ihre wirkliche historische Funktion in der mykenischen Zeit ist allgemein mißverstanden worden." 4 E. Delebecque, „ L e cheval dans l'Iliade", Paris 1 9 5 1 , p. 94: „Wenn der W a genkämpfer flüchten muß oder dem Tode geweiht ist - täte er dann nicht besser, den Fuß auf die Erde zu setzen, um sich zu schlagen?"
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Dichter uns zu sagen, wenn der Wagen entlassen oder wieder herbeigerufen wird, so daß wir nicht wissen, ob wir uns den Kämpfer zu Fuß oder nicht vorzustellen haben: das gilt oft für Hektor im X V . und für Patroklos im XVI. Gesang. Dank den archäologischen Funden wissen wir, daß in mykenischer Zeit der Bogen weithin in Gebrauch war, gut vertreten in den Beständen der Paläste, und daß es eine eigene Klasse von spezialisierten Bogenmachern gab; Bogenschützen erscheinen auf den Darstellungen belagerter Städte. In der Folgezeit scheint der Gebrauch des Bogens seltener geworden zu sein. Bei Homer werden Bogen und Pfeil mit ganz bestimmten Ausdrücken benannt, mit sich wiederholenden Formeln, die das Alter des Gegenstandes bezeugen. Ziemlich viel Bogenschützen werden erwähnt: Herakles, Eurytos, Iphitos, Odysseus, Meriones, Teukros, Philoktetes, Pandaros, Paris; außerdem alle Lokrer. Diese Personen waren mykenischer Herkunft, wie man aus ihren Namen und Sagen entnehmen kann. Aber bei Homer erscheint der Gebrauch des Bogens schon als etwas Außergewöhnliches, er wird nur zugelassen, wenn der Dichter wirklich nicht anders kann. Diese charakteristische Waffe war nicht wegzulassen, wenn sie zu sehr an das traditionelle Bild gewisser Heroen, wie Herakles oder Philoktet, gebunden war, oder an kanonische und unveränderliche Versionen einiger Hauptepisoden, wie den Wettkampf in der Odyssee, dessen Ursprung unendlich weit zurücklag; wie den Verrat des Pandaros (Ii. IV, 88 ss.), den Tod des Achill usf. Hie und da sieht man, daß diese Waffe jetzt als wenig vornehm oder wenig nützlich gilt. Die mit Bogen und Schleudern bewaffneten Lokrer werden einmal als Halbwilde und äußerst minderwertige Krieger hingestellt, die in einer geschlossenen Schlacht nicht standhalten können (Ii. XIII, 712.-18); in diesen Versen ist ihr Führer Aias Oiliades, der aber im Schiffskatalog (II, 530) als ganz besonders tüchtig in der Handhabung der Lanze genannt wird. Derselbe Pandaros, der von weitem Menelaos unter Bruch des Waffenstillstandes verwundet hat. spricht in der Schlacht (Ii. V, 192-217) von der geringen Wirkung des Bogens, klagt darüber, daß er nicht seinen
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Kriegswagen mitgebracht habe und möchte diese unnütze Waffe ins Feuer werfen. Und einmal fährt Diomedes mit folgenden Worten Paris an, der ihn von ferne verwundet hat (II. XI, 385-87): „Pfeilheld, Frechling mit prangendem Horn, du Mädchenbegaffer! Wenn du mir einmal nur zum Kampf mit den Waffen dich stelltest, Nichts wohl frommte der Bogen dir dann und die hagelnden Pfeile."
Der Dichter läßt also den Bogen in seiner Erzählung noch vorkommen, er behält sich aber vor, seine Ansicht und die seiner Zeitgenossen über diese nicht mehr gebräuchliche Waffe zu äußern. Mögen die in den Epen vorkommenden Waffen und die Gegenstände verschiedener Herkunft ein bizarres Gemisch vorstellen, bunt wie der Katalog eines Historischen Museums, so können sie doch wenigstens mit Hilfe der Archäologie großenteils datiert werden. Um aber die Hinweise auf die menschlichen Beziehungen zu verstehen, die die homerische Gesellschaft regeln, dafür gibt es gar keine Anhaltspunkte. Die beiden Epen handeln letzten Endes von Kämpfen um die Macht: auf der einen Seite steht ein König, Agamemnon, dessen Autorität von einem der anderen Führer bestritten wird; auf der anderen ein König, Odysseus, der seine Stellung wiedergewinnen muß, die durch eine Gruppe von Bewerbern um den Thron und um die Hand der vermeintlichen Witwe bedroht wird. Versucht man aber, die zahlreichen Einzelbemerkungen, die von den Befugnissen dieser Könige sprechen, in Ubereinstimmung zu bringen, um ein geschlossenes politisches System aufzustellen, so sind die Ergebnisse immer fragwürdig. Nimmt man alle diese Andeutungen als tauglich an, so kann man mit gleich haltbaren Argumenten je nach der gewählten These schließen, daß bei Homer eine große mykenische Monarchie beschrieben sei oder daß dort eine hochentwickelte Aristokratie herrsche wie in der späteren, uns bekannten hellenischen Zeit. Doch nicht einmal, wenn man sich darüber im Klaren ist, daß die Epen verschiedene Kulturschichten widerspiegeln, kann man der Schwierigkeiten mühelos Herr werden. Die Aufgabe wäre
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wahrscheinlich leichter, wenn es in den „dunklen Jahrhunderten" eine geradlinige Entwicklung von einfachen zu höheren Lebensformen gegeben hätte. Statt dessen war die Entwicklung keineswegs gleichförmig, und sie begann mit der Zerstörung einer Kultur; in den Epen ist es nicht eine zurückgebliebene Gesellschaft, mit zivilisierten Augen angesehen, sondern eine entwickelte Gesellschaft, von einem sozusagen niedrigeren Niveau aus betrachtet (nach dem „normalen" Schema des geschichtlichen Fortschrittes). Und in zweiter Linie: nicht einmal in der Entstehungszeit unserer Epen hatten sich wirklich klare Ordnungen durchgesetzt; es war eine Zeit, reich an Gärungsstoffen und Gegensätzen, in rascher Verwandlung begriffen, nicht eine Periode, die, da sie selbst eine gewisse Stabilität besaß, der Darstellung ihrer sagenhaften Vergangenheit ein wirklich entschiedenes, einheitliches Gepräge gemäß ihrer eigenen Art geben konnte. Man darf nicht sagen, daß sich bei Homer schon „der Standeskodex des ritterlichen Adels" ausgebildet fand, daß „die Ilias Zeuge des hohen erzieherischen Bewußtseins in der frühgriechischen Adelswelt" sei (Werner Jaeger); um das mit solcher Sicherheit zu behaupten, muß man von der Voraussetzung ausgehen, Geschichte sei identisch mit Kulturgeschichte, Kultur sei immer aristokratisch („Bildung ist nichts anderes als die sich fortschreitend vergeistigende Adelsform einer Kultur" 5 ), und deshalb müsse der Adel dort an der Macht sein, wo Kulturgüter erzeugt werden. Endlich: wenn wir eine historisch-politische Entwicklung zu rekonstruieren versuchen, indem wir die wenigen Andeutungen aus den Epen in irgend eine überzeugende zeitliche Reihenfolge bringen, so müssen wir wieder einmal zugeben, daß die wenigen sicheren Ergebnisse der philologischen Kritik uns dazu eine Hilfe bieten, die fragwürdig sein kann: so wie die Beschreibung des mykenischen Lederhelmes sich in der späten Dolonie findet, so kann es auch vorkommen, daß die Hinweise auf augenscheinlich viel frühere Lebensbedingungen sich an Stellen finden, die für die 5 W . Jaeger, „Paideia", op. cit. I, pp. 28, 30, 2.5.
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linguistisch-philologische Forschung verhältnismäßig jung sind. Als etwa Agamemnon versucht, Achill mit dem Angebot reicher Geschenke zu besänftigen, da verspricht er ihm unter anderem sieben Städte im westlichen Peloponnes (Ii. IX, 149 ss.). Das Angebot ist in verschiedener Hinsicht merkwürdig. Zunächst liegen die Städte oder Dörfer, was sie nun seien, in einer Gegend, die nach der übrigen Ilias keineswegs Agamemnon untersteht. Aber als sicher kann man sagen: wenn jemals jemand in Griechenland Städte oder Dörfer verschenken konnte, so mögen solche Großzügigkeit und solche Macht wohl nur in der mykenischen Zeit denkbar gewesen sein; in den Epen aber - von diesem Einzelfall abgesehen - verschenkt nie jemand auch nur ein Landgut, weil kein Privatmann eines besitzt: nur die Volksversammlung kann dem Führer die Nutznießung eines Grundstückes zuwenden. Wenn ζ. B. der König von Lykien den großen Bellerophon ehren und bei sich behalten will, so gibt er ihm seine Tochter zur Frau; aber es sind die Lykier, die ihm Grundbesitz zuweisen (Ii. VI, 191-95). Nun gut: für die Philologen steht es fest, daß die Episode im IX. Gesang in ihrer jetzigen Form zu den „jüngsten" der Ilias gehört. Bei einer kritischen Lektüre der Epen merken wir zum Schluß, daß es sogar schwierig ist, immer den Sinn der allergewöhnlichsten Ausdrücke zu begreifen, mit Einschluß derer, die Tatsachen und Dinge des täglichen Lebens betreffen und die uns eigentlich helfen müßten, Verhältnisse und Einrichtungen in der homerischen Welt zu fassen. Gibt es einen König, so sollte man auf eine Monarchie schließen. Das Wort aber, das wir mit „König" (basileus) übersetzen, war in mykenischer Zeit der Titel von Persönlichkeiten von einer gewissen Bedeutung, die aber für uns noch nicht näher bestimmbar ist; schließlich blieb es, wie wir schon sagten, in Gebrauch, um Männer von großer oder höchster Autorität zu bezeichnen, wie auch von Fall zu Fall das Wesen oder die Ausdehnung ihre „Herrschaft" sein mochte. Bei Homer kann basileus den König oder den Stammeshäuptling, den Patriarchen oder den Fürsten oder Herzog meinen. Ein „Krieg" (polemos) kann ein weltweiter Konflikt, ein Familienzwist, ein Waffengang zwischen 6
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zwei Einzelkämpfern sein. Eine „Stadt" (polis) kann auch ein Dorf oder eine kleine offene Siedlung sein. Die beste Art, die überlieferten Elemente und die Zeugnisse für das zeitgenössische Leben voneinander zu scheiden, das heißt festzustellen, im Schöße welcher Art von Zivilisation die Epen in der uns vorliegenden Form geschrieben worden sind, ist vor allem das, was nur behauptet wird, von dem zu trennen, was wirklich beschrieben wird. Dann wird man sehen, daß Agamemnon, dem an nebensächlichen und dekorativen Stellen ein mächtiges peloponnesisches oder auch panhellenisches Königtum zugeschrieben wird, in seinen tatsächlichen Beziehungen zu den anderen Helden ein primus inter pares ist, ein militärischer Führer mit Rechten, die durch kein Gesetz bestätigt und weder dauernd noch erst recht erblich sind. Zieht man die gelegentlichen mykenischen Reminiszenzen ab, so wird man sehen, daß die Ilias uns in eine Periode voller Gärung, von Versprechungen und Bedrohungen für die Zukunft führt, daß sie uns in die absinkende und abschließende Phase einer primitiven Demokratie versetzt, die in sich die Elemente einer Adelsschicht trägt, die schon zur Machtergreifung bereit ist. In den von der Ilias erzählten Geschehnissen erscheint die beteuerte autokratische Souveränität des Agamemnon als so gehaltlos, daß, wenn man heute darauf verzichtet, in seiner Stellung einen unmittelbaren Widerschein der mykenischen Zeit zu sehen, es auch andere gibt, die nun übertreibend zu dem Schluß kommen, alle die Randbemerkungen, die aus ihm den Herrscher über ausgedehnte griechische Gebiete machen, seien die Frucht reiner Erfindung, entstanden aus dichterischer Übersteigerung. Die große hellenische Monarchie Agamemnons sei „ein reines Poesiegewächs, welches denn auch keinerlei Rückschluß auf ein historisches Vorbild gestattet, das ihm vorausläge oder hinter ihm stünde" und ihre progressive Erfindung sei kurzweg „ein inner-iliadischer Prozeß".6 6 G. Jachmann, „Der homerische Schiffskatalog", op. cit., p. 8p. folgerungen, die für uns zu radikal sind, stammen aus einer Wertung der menschlichen Beziehungen in der Ilias: die Agamemnons bleibt „in ihrer Daseinsart gleichsam nominell
Diese Schlußsehr richtigen Machtstellung und schatten-
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Zwar ist das Phänomen der poetischen Übertreibung bei Homer genau so wie in jeder Art heroischer Dichtung greifbar (die 1 1 8 6 im Schiffskatalog des II. Gesanges der Ilias durchgemusterten Schiffe bilden eine nicht weniger absurde Menge als die 400.000 Sarazenen von Ronceval), aber nur durch einen einfachen quantitativen Ausdehnungsprozeß konnte man den militärischen Anführer eines Stammesverbandes nicht in den absoluten Herrscher über einen unermeßlichen monarchischen Staat verwandeln, den es in der zeitgenössischen Wirklichkeit nicht gab. Die schmückenden Beiwörter, die in der Ilias aus Agamemnon einen Autokraten machen, und die nicht von den beschriebenen sozialen Zuständen bestätigt werden, dürften tatsächlich mykenisches Erinnerungsgut sein.
Die Machtbefugnisse des Agamemnon Um die wirkliche Macht des Agamemnon zu erkennen, muß man deshalb die vereinzelten Titel, die ehrenvollen Bezeichnungen beiseite lassen und aufmerksam einige Episoden lesen. Am geeignetsten ist die „Prüfung des Heeres", die die erste Hälfte des II. Gesanges bis zum Schiffskatalog einnimmt. Zu allererst wird es nützlich sein zu sehen, ob auf Grund philologischer Urteile die „Prüfung" ein Fremdkörper im Epos zu sein scheint, das heißt, ob sie unverändert aus einem anderen Zusammenhang in das Gefüge des Gedichtes verpflanzt ist (in diesem Falle hätte sie nur bedingten Zeugniswert), oder ob sie gerade als ein Teil der Ilias konzipiert wurde und deshalb als Ganzes für ein repräsentatives Muster der Art zu leben und zu denken jener Zeit gelten kann, in der die Ilias ihre endgültige Form fand. Auf diese problematische Episode, die klare Spuren von Überarbeitung zeigt, hat die Kritik haft, ohne rechte Auswirkung und ohne wahrhaft bestimmenden Einfluß auf die Handlung; sie lebt vornehmlich in Wort und Rede, um nicht zu sagen, in schwärmerischen Floskeln, das Geschehen selbst bewegt sich gutteils auf sehr anderen Bahnen, und zwar solchen, die einer herrscherlichen Allgewalt schnurstracks zuwider laufen": ibid., p. 88 s. 6*
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viel Scharfsinn verwendet. Bringen wir kurz unsere Erklärung vor, die nicht zu den kompliziertesten gehört. In unserer Ilias dient die „Prüfung" deutlich als Verbindungsglied zwischen dem Anlaufen des Geschehens im I. Gesang und der Reihe von Ereignissen, die bis zum XI. Gesang die Handlung von der Entwicklung ablenken (die Niederlage der Achaier), die durch den Streit der Führer und das Sich-Zurückziehen des Achill ausgelöst werden müßte. Diese Funktion genügt allein schon, um uns zu versichern, daß die Episode ausgearbeitet wurde, um ihren Zweck für den Aufbau der Ilias zu erfüllen. Aber sie ist nicht in einem Wurf von dem Verfasser der Ilias geschrieben worden. Der II. Gesang, der direkt an das Ende des I. Gesanges anschließt, beginnt mit dem Traum, den Zeus mit einem Versprechen unmittelbar bevorstehenden Sieges, in Wirklichkeit aber, um ihn irrezuführen, dem Agamemnon schickt. Agamemnon müßte jetzt das Heer zur Versammlung zusammenrufen und es für die Endschlacht aufstellen. Soviel erwarten wir von einem Heerführer, der seiner selbst sicher und durch Zeus' persönliche Zusicherungen gestärkt ist. Das Heer wird tatsächlich zusammengerufen (vv. 50-52), aber vorher (v. 53) versammelt Agamemnon die Führer, erzählt ihnen den Traum und erklärt eben, daß er jetzt gleich die Männer zum Kampf aufstellen werde. Am Ende seiner Rede — ohne seine Beweggründe und Absichten darzulegen - kündigt er an, er wolle trotzdem vorher7 die Soldaten auf die Probe stellen, indem er sie 7 Die beiden „aber vorher" (Βουλήν δέ π ρ ώ τ ο ν . . . ; Πρώτα δ'έγών) in den Versen 53 und 73 können ein Zeichen dafür sein, daß die ursprüngliche Erzählung unterbrochen worden ist, um eine Abschweifung oder eine Parenthese einzufügen. Im ersten Falle ist das Heer schon nach den Regeln vereinigt (v. 52.), als Agamemnon die Führer zusammenruft, um ihnen zu sagen - das Heer müsse zusammengerufen werden. Auf v. 52. („Tönend riefen sie [die Herolde] aus, und flugs war die Menge versammelt") könnten sehr gut vv. 87 ss. folgen: „Heran jetzt brausten die Völker, / Gleichwie Schwärme von Bienen in dichtem Gewimmel sich nahen." Im zweiten Falle hat Agamemnon schon den Traum erzählt und den Schlachtplan angekündigt, als er den neuen Einfall vorbringt, der den Plan selbst fraglich macht. In beiden Fällen durchkreuzt Agamemnon mit unvorhergesehenen Einfällen eine Handlung, die sich für ihn zufriedenstellend entwickelte.
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zur Heimkehr auffordere, und die Führer sollten sich bereitmachen, sie zurückzuhalten, falls das Heer allzu eifrig den falschen Vorschlag zur Abrüstung annehmen würde. Der Vorschlag wird dem versammelten Heere dann in einer Rede gemacht (vv. 1 1 0 - 4 1 ) , die seit langem bei den Kritikern gerechtfertigten Verdacht ausgelöst hat. Sie ist scharf in drei Teile geteilt, in denen sich in sonderbarer Weise flaumachende und ermutigende Argumente abwechseln. Agamemnon sagt im Wesentlichen: 1. Zeus hat mich betrogen; er hatte mir versprochen, daß er mich Troia zerstören lassen wolle, und jetzt, nach dem Verlust so vieler Männer, will er mich zwingen, ruhmlos nach Argos zurückzukehren (vv. 1 1 1 - 1 5 ) ; 2. nach dem Willen des Zeus, des Städtezerstörers . . . kann dieses Unternehmen nicht unvollendet bleiben: wir sind ja so zahlreich im Vergleich zu den Troern, deren Mannschaften noch nicht ein Zehntel der unsrigen ausmachen (vv. 1 1 6 - 2 9 ) ; 3. aber da sind ihre Verbündeten, zahlreich und tapfer; schon neun Jahre sind verstrichen, und wir haben das Ziel nicht erreicht: auf denn, kehren wir ins Vaterland zurück! (vv. 130-41.) Die Ansprache lebt zum Teil von dem durch den Traum vermittelten Optimismus, zum Teil sucht sie das Heer zu entmutigen. Nun: wenn der Gedanke an die „Prüfung" ohne Begründung eingeführt worden ist, so sind die Teile der Rede des Agamemnon, die ihr dienen sollen, also der erste und der dritte, mit einem sichtlichen Aufwand an Kompilationsarbeit verfaßt; sie enthalten zahlreiche Verse, die aus anderen Stellen des Epos stammen. Man muß daraus schließen, daß der Dichter, der die Episode eingefügt hat, eine Ansprache des Agamemnon, in der dieser seine Männer ernstlich ermahnte, sich voll einzusetzen, in eine doppeldeutige Rede umgewandelt habe, die die Aufforderung zur Flucht enthielt. Stehen die Dinge so, dann dürfte das Motiv der trügerischen „Prüfung" nachträglich dazugekommen sein, und die Worte, die sich darauf beziehen, wären von einer letzten Hand einem fertigen Text zugefügt worden, der eine normale Heeresversammlung vor
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der Schlacht enthielt. Sieht man genau zu, so wird das Motiv der „Prüfung" kurz und unerwartet mit wenigen Worten eingeführt, mit den letzten, die Agamemnon an die versammelten Führer richtet (vv. 74 s.) und dann - nimmt man den flaumacherischen Teil der Ansprache an das Heer weg - wird es fallen gelassen. Agamemnon hat den Heerführern gesagt, daß der Augenblick gekommen sei, um die Männer für den letzten und bestimmt siegreichen Angriff aufzustellen; aber vorher, schließt er (vv. 73-75), „versuche ich selbst sie mit Worten, wie es Gebrauch ist, Und ermahne zur Flucht mit den rudergerüsteten Schiffen; Ihr dann sucht sie zu halten, ein jeder an anderem Orte."
Der erste Vers ist nicht recht klar. Das von Agamemnon gebrauchte Verbum (πειρήσομαι) erklärt nicht näher, ob er die Soldaten wirklich „auf die Probe stellen" will aus einer simplen Tyrannentücke heraus, um die Treuen von den Ungetreuen zu unterscheiden, oder sogar, um mit ihren Gefühlen zu spielen, oder ob er „versuchen will, sie zu überzeugen", oder ob er sie nur „befragen" will. Die erste und gebräuchlichste Lesart scheint nur dann richtig, wenn man als gesichert annimmt, daß Agamemnon ein Fürst mit unbegrenzter Macht und seiner selbst sicher sei, während für uns dies aber die Frage ist, die noch geklärt werden muß. Der Satz „wie es Gebrauch ist" - der das Wort tbemis enthält, das in der Geschichte der griechischen Sprache eine weite und wechselnde Bedeutung hat - kann meinen „wie es recht ist", „ordnungsgemäß", „nach dem Gebrauch". In allen Fällen drückt er die pflichtgemäße Beachtung einer Gewohnheit, einer Norm, aus. Nach der naheliegendsten Interpretierung des Verses will Agamemnon also die Soldaten befragen, ihre Gefühle ergründen oder versuchen, sie zum Kampf zu überreden. Dasselbe Verbum wird ζ. B. von Achill gebraucht (Ii. IX, 345), wenn er Agamemnon sagen läßt: „Mag er mich nimmer versuchen; ich kenn' ihn und glaube kein Wort mehr!", das heißt: versuche nicht, mich mit Worten und Geschenken zu überreden! Bis hierher hat Agamemnon ein normales Zusammenrufen der
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bewaffneten Heeresversammlung im Sinne. Aber dann schließt er in zwei Versen, daß er den Befehl zum Abbruch des Krieges geben werde, und daß die Führer ihm helfen sollten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. In diesem II., an direkten Reden so reichen Gesänge wird mit Worten nicht gespart; hier aber ist Agamemnon von einer unerhörten Knappheit, und er erklärt nicht, wie ihm der Gedanke gekommen sei, einen so riskanten Versuch zu machen, wenn der Sieg zum Greifen nahe ist. Und der sonst so geschwätzige Nestor antwortet ihm mit fünf Versen, die dem ersten Teil von Agamemnons Ankündigung zustimmen, aber überraschenderweise auf den Schlußpunkt, die „Prüfung" nicht eingehen. Abgesehen von jenen verdächtigen Versen in der Ansprache an das Heer (und zwei flüchtigen Anspielungen in den Versen 143 und 194, die sehr wahrscheinlich unecht sind), verläuft im Folgenden alles so, als wäre nie von einer Aufforderung zur Flucht gesprochen worden. In Vers 75 hat Agamemnon den Führern aufgetragen, sich für das Schlimmste bereitzuhalten, aber als das Heer die Reihen durchbricht, da erinnert sich niemand von den Führern daran: der Auftrag bleibt unbeachtet, und das will sagen, daß er in der ursprünglichen Fassung nicht vorkam. Nur Odysseus hemmt die Flucht, aber auf eine plötzliche Eingebung durch Hera und Athena hin. Alles läßt demnach glauben, daß hier mit ein paar kurzen Zufügungen oder Änderungen eine Episode wiederbenutzt worden ist, in der Agamemnon genau in dem Augenblicke, als er zum Kampfe rief, von dem Heer im Stich gelassen wurde. Und derartige Meutereien fehlten, wie wir wissen, nicht im troianischen Zyklus. In den Kyprien „hält Achill die Achaier zurück, die sich aufmachen, um nach Hause zurückzukehren"8; auch in der Ilias taucht gelegentlich das sonst nicht weiterentwickelte Motiv der Mißstimmung des Heeres gegen Agamemnon auf (XIII, 107 ss.; XIV, 49 ss.). Der Verfasser der Ilias hat wahrscheinlich nicht gewollt, daß ausgerechnet am Anfang des Gedichtes eine richtige Meuterei aus8 In: T . W . Allen, „Homeri Opera", V , op. cit., p. 105.
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bräche. Man nimmt an, daß an diesem Punkte - als sich eine Reihe von Episoden vorbereitet, in denen Agamemnon den Krieg unter persönlichem Einsatz zu einem glücklichen Ende zu bringen sucht - auch in Abwesenheit des Achill, indem er so die endgültige Abrechnung mit dem Gegner auf später verschiebt - , der Dichter ihn nicht zu sehr habe demütigen wollen. Aber das wäre ihm nur zum Teil geglückt. Hypothese gegen Hypothese: man könnte ebensogut sagen, daß man in der endgültigen Fassung einen Agamemnon zeigen wollte, der nach der Präpotenz zum Schaden des Achill seine Macht wiederum mißbraucht - auf Kosten des Heeres. In dem Vorbild des ersten Teiles des II. Gesanges steht demnach eine Episode, die nicht unmittelbar mit dem Streit zwischen Achill und Agamemnon zu tun hatte. Außer in den eben betrachteten Punkten dürfte sie wenigstens an den Stellen retouchiert sein, die auf den Zorn des Achilleus (vv. 239-42, 377-80) und auf den Plan des Zeus gegen die Achaier anspielen. Nimmt man diese Folgerungen an, so können wir bestimmen, in wieweit und in welchem Sinne die „Prüfung" Zeugniswert für die Frage nach den Machtbefugnissen Agamemnons hat. Auch wenn diese Episode - obgleich nach dem Muster irgend einer älteren Dichtung verfaßt - im Hinblick auf die Rolle, die sie für den Aufbau der Ilias spielen mußte, verändert worden ist, so kann man doch erwarten, daß sie letzten Endes die Gedanken des Dichters enthüllt, der sie gewählt, umgemodelt und dorthin versetzt hat, wo sie jetzt steht. Das gilt im Grunde auch für die Teile, die so geblieben sein mögen, wie sie sich in der Vorlage fanden; wenn dieser Neuerer sie unverändert ließ, so will das sagen, daß sie nicht gegen seine Art zu denken verstießen. Am Anfang des Gesanges will Zeus, wie wir gesehen haben, sein der Thetis gegebenes Versprechen halten und läßt durch den täuschenden Traumgott Agamemnon wissen, es sei Zeit, das Heer zum letzten Angriff zu sammeln: Troia wird bald fallen, weil alle Götter, durch Hera überzeugt, sich jetzt einig seien. Die Stelle ist unmißverständlich geschrieben, um den Begebenheiten des I. Gesanges, an den sie mit „einer beinahe ungeschickten Eindringlich-
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keit" 9 gebunden ist, eine unmittelbare Fortsetzung zu geben. Kaum erwacht, kleidet Agamemnon sich an und ergreift „das Zepter, vom Vater ererbt und ewiger Dauer", um sich zur Versammlung zu begeben. Später (vv. 1 0 1 ss.), wenn er sich erhebt, um zu sprechen, erzählt der Dichter ausführlich die Geschichte dieses Szepters: von Hephaistos geschaffen, war es Zeus gegeben worden, der es durch Hermes an Pelops geschenkt hatte; von Pelops war es dann an Atreus gekommen und schließlich an Agamemnon, der „viele Inseln und Argos ganz" damit regieren sollte. Agamemnon ist also der Herrscher in einer Monarchie göttlichen Ursprunges (wie auch anderwärts oftmals gesagt wird: Ii. I, 175, 279 usw.); sie ist erblich und ungeheuer weit ausgedehnt. Wir können diese Ausdehnung nicht bestimmen: es genügt zu sagen, daß bei Homer der vage Name Argos nur die Stadt oder die Argolis oder den ganzen Peloponnes oder auch ganz Griechenland bezeichnen kann, und daß im Schiffskatalog (Ii. II, 559) die Stadt Argos unerwarteterweise Diomedes, nicht Agamemnon zugeschrieben wird. Sicher ist, daß er hier wie einer der großen orientalischen Monarchen des 2. Jahrtausends v. Chr. erscheint, die dank göttlicher Investitur regierten und als Halbgötter verehrt wurden. Sein Szepter ist „a pedigree Mycenaean object." 10 Aber diese königlichen Attribute zählen wenig bei der Interpretierung des Ilias, denn sie können jahrhundertelang vererbt worden sein, auch nachdem die Monarchie in das Reich der Fabel eingegangen war. Auch in den Märchen einer, von uns aus gesehen fernen Zukunft wird es noch Könige geben, die immer als große Herren, als allmächtige Gebieter mit Hermelin, Szepter und Krone werden dargestellt werden. In den beschriebenen Ereignissen, die nicht reine Fabel sind, ist Agamemnon kein allmächtiger Gebieter. Schon die Schlinge, die Zeus ihm legt, zeigt, daß seine Autorität nur fragwürdig sein dürfte: in einer mehr oder minder theokratischen Monarchie konnte man schwerlich annehmen oder in einem Liede singen, daß 9 P. Mazon, in: „Introduction a l'Iliade", Paris 1948, p. 146. 1 0 Τ . B. L. Webster, „From Mycenae to Homer", London 1958, p. ι ζ ι .
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der göttliche Träger der dynastischen Macht in so unrühmlicher Weise den wechselnden Stimmungen des Gottes ausgesetzt sei, auf den seine Einsetzung und sein Szepter zurückgingen. Um seinen Kriegsplan auszuführen, muß dann Agamemnon vor allem die Heeresversammlung zusammenrufen: wie man auch das Motiv der „Prüfung" und die Gründe für ihre Einfügung betrachten mag unleugbar wohnt man im II. Gesang einer tumultuosen Versammlung, nicht einer Truppenschau bei. Wenigstens der Form nach hat die Versammlung das Recht, Agamemnons Vorschläge anzunehmen oder abzulehnen. Als das Heer gegen den Willen des unvorsichtigen Königs und der anderen Führer, die seiner Meinung sind, heimzukehren beschließt, da greifen diese in keiner Weise ein, bis nicht eine Gottheit und als deren Vertreter der einzige Odysseus vorsorgt. Und der Erfolg des Odysseus bei seinem Überredungswerk hat etwas von einem Wunder an sich. Es ist richtig, daß die Epik sich nie pedantisch in den Grenzen des Möglichen hält, aber dieser Dichter zeigt bei der Beschreibung der Versammlung einen bemerkenswert realistischen Sinn, und es ist klar, daß Agamemnon außer der Pflicht sie einzuberufen in der Praxis auch nicht die elementarsten Machtmittel hat, um seine Stellung und sein Vorhaben zu behaupten und durchzusetzen. Die Geschichte hat nie einen wirklichen König ohne den unvermeidlichen Apparat von Ordnungs- und Unterdrückungskräften gesehen. Aber Agamemnon hat hier weder ein Korps von untergebenen Offizieren noch eine Wache: die lärmende Versammlung wird durch die Rufe von neun Herolden im Zaume gehalten. Will die Versammlung sich auflehnen, so kann sie gebändigt oder überzeugt werden nur „mit Worten", „mit freundlichen Worten", wie mehrfach Agamemnon (v. 75), später Hera (v. 164) und Athena (ν. i8o) sagen und wie Odysseus (ν. 189) es tatsächlich tut. Der Dichter ist nicht fähig, sich eine richtige, gut funktionierende Monarchie mit ihren Heeres- und Polizeikadern, die den Gehorsam der Untertanen sichern, vorzustellen. Die „Prüfung" ist also als eine formelle, wenn auch mit Hintergedanken geführte Beratung ersonnen; wenn der moderne Leser sie für den Zeitvertreib eines
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Autokraten hält, der es sich erlaubt, seinen Untertanen einen bösen Streich zu spielen, so kommt das daher, daß wir uns nur allzu leicht eine despotische Gewalt in ihrer Machtausübung vorstellen können. Wie es gut gesagt worden ist (von Roland Hampe 1 1 , der allerdings die ganze Episode in einer von der unseren abweichenden Art betrachtet): „Eine der Hauptursachen für die Verkennung dieser Partie liegt wohl darin, daß man die Stellung Agamemnons zu sehr an der eines modernen Oberkommandierenden mißt, moderne Heeresdisziplin auf das Achaier-Heer anwendet, während doch eher die Verhältnisse im vorstaatlichen germanischen Heerwesen zum Vergleich herangezogen werden sollten." Und wenn Odysseus, der hin- und herlaufend ganz allein alle die Flüchtigen zum Stehen bringt, sich nicht auf bloße Worte beschränkt, sondern in einigen Fällen handgreiflich wird und mit dem Szepter die Männer „aus dem Volke" schlägt, denen er begegnet, so enthüllt diese Einzelheit nicht ohne eine gewisse ungewollte Komik den Gegensatz zwischen dem, was der Dichter aus der Sage entnommen hat und dem, was er wirklich beschreiben will. Das Szepter ist gerade das „vom Vater ererbte und von ewiger Dauer" des Agamemnon, das sich Odysseus zu diesem Zwecke ausgeliehen hat (vv. 185 ss.). Der mächtige Herrscher ist also sofort mattgesetzt und beschränkt sich auf die Rolle des Zuschauers, die anderen Führer schreiten nicht ein; der einzige Helfer, der durch Zufall und göttliche Eingebung etwas tut, hat keine anderen Hilfsmittel als die „freundlichen Worte" und das Szepter „von ewiger Dauer", das sich in nichts weniger als einen armseligen einsamen Prügel verwandelt. Wir sind weit entfernt von der mykenischen Monarchie - trotz des Glanzes der Epitheta und Redeblumen, die den Leser irreführen können. Eine andere merkwürdige Einzelheit führt uns in die Welt des Dichters zurück. Als Odysseus die Männer „aus dem Volke" anfährt, da warnt er weise: „Nie bringt Segen die Herrschaft vieler; 1 1 „Die Gleichnisse Homers und die Bildkunst seiner Zeit", Tübingen 1 9 5 2 , p. 42.
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einer sei Herrscher, / Einer König allein, dem der Sohn des verschlagenen Kronos usw." Der Herrscher und König ist natürlich Agamemnon, aber auf die Worte des Odysseus folgt: „Also durchherrschte er ordnend das Heer". Die Wiederholung des gleichen Wortes für „Herrschaft", „Herrscher", „durchherrschen" (πολυκοιρανίη, κοίρανος, κοιρανέων) unterstreicht die Ersetzung des völlig seiner Macht beraubten „Königs" durch einen der anderen Führer. Der Dichter hat eine Situation im Sinne, in der der höchste militärische Führer sich in einer wankenden Stellung findet, eingeschlossen zwischen der wenigstens formal noch souveränen Gemeinschaft und anderen Führern, die ihm zur Seite stehen oder sich ihm widersetzen können, und er hat viel Mühe damit, allen den hier von Odysseus geäußerten Grundsatz annehmbar zu machen. Derselbe Odysseus übrigens, der hier für einen Augenblick die Führung im Namen des Agamemnon übernimmt, zeigt sich bei einer anderen Gelegenheit nicht weniger unabhängig als Achill, wenn er (Ii. XIV, 83 ss.) Agamemnon nach Gebühr schlecht behandelt, der diesmal im Ernst vorgeschlagen hat, das Unternehmen aufzugeben. Noch energischer ist in einer ähnlichen Situation (IX, 32 ss.) Diomedes, der Agamemnon einen Feigling nennt und ihn davon in Kenntnis setzt, daß er jedenfalls vor Troia zu bleiben gedenke, seinetwegen auch mit Sthenelos allein. Auch die Genauigkeit, mit der die tobende und undisziplinierte Versammlung geschildert ist und ein einzelner Vertreter der Masse, Thersites, eingeführt wird, zeigt, daß der Dichter das Vorbild vor Augen hatte. Thersites ist nicht der Untertan eines mykenischen Königs, sondern er ist Glied einer primitiven Demokratie, die noch lebendig ist, wenn sie auch schon differenziert geworden ist. Er hat Redefreiheit, ist theoretisch den anderen Mitgliedern der Versammlung gleichgestellt, auch wenn seine persönliche Minderwertigkeit ihm eine Tracht Prügel eintragen kann (wenn nur die Versammlung sie zu billigen und darüber zu lachen bereit ist). Aber er befindet sich nicht in einer Stellung endgültiger sozialer Minderwertigkeit, die von bestimmten Einrichtungen und von öffentlichen Gewalten verhängt und dauernd gemacht worden
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wäre, und in jeder Versammlung kann er immer seine Meinung äußern. Der Text sagt, er habe die Gewohnheit, „schlecht von den Königen zu sprechen", nicht nur von Agamemnon, sondern von allen Führern, die - als Gruppe - über ihm stehen und zwischen denen er nicht viel Unterschiede macht (vv. 220-22): Widerlich war er zumal den Herrschern Achill und Odysseus; Beide schmähte er stets. Doch jetzt mit schrillem Gekreische Schalt er den edlen Herrn A g a m e m n o n , . . .
Die Übergriffe, die Thersites dem Agamemnon vorwirft (genau dieselben, gegen die Achill im I. Gesang protestiert hat, aber zu seinem Unglück ist Thersites kein Achilleus), waren sicher nichts Ungewöhnliches in einer Zeit, als die Sitten der primitiven Demokratie nun nicht mehr auf eine Gesellschaft paßten, die schon merkliche Unterschiede in Reichtum und Macht kannte. Die Fabel der Ilias dreht sich ja gerade um einen Übergriff zum Schaden des Achill durch Agamemnon, der allerdings am Ende dafür Buße leistet. Die Darstellung des Konfliktes und seiner Ursachen im I. Gesang ist völlig klar: Chryses will seine Tochter von Agamemnon zurückhaben, wendet sich mit seiner Bitte aber an die ganze Versammlung (vv. 1 5 ss.); diese entscheidet zustimmend, doch Agamemnon jagt den Priester fort, und damit beginnen die Verletzungen der ungeschriebenen Gesetze, die das Leben der Gemeinschaft regeln. Während der Pest beruft Achill die Versammlung ein (die also, wie die Stelle in Ii. X I X , 40 ss. bestätigt, von jedem beliebigen Führer zusammenberufen werden kann); Kalchas verlangt, ehe er den Grund für den Zorn des Apollon enthüllt, von Achill Schutz gegen den Stärkeren, denn der Groll eines Königs ist immer gefährlich (vv. 74 ss.). Achill verspricht, ihn auch gegen Agamemnon zu verteidigen, „Der sich erhaben rühmt vor allem Volk der Achaier". Agamemnon unterwirft sich dem Spruch des Sehers, gibt Chrysei's zurück, fordert aber von der Versammlung einen Ersatz. Dagegen verwahrt sich Achill, Agamemnon antwortet zornig, und
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während des Wortwechsels kommen die wahren Gründe des Streites zutage, die sie von Mann zu Mann diskutieren und lösen müssen, ohne daß sie ein geschriebenes Gesetz oder ein höheres ethisches Prinzip heranziehen könnten: Agamemnon ist beutegierig (vv. 122, 149, 230 usw.), er versucht, bei der Teilung den Löwenanteil zu bekommen (vv. 163 ss.), er ist provozierend in seinem Verhalten den anderen gegenüber (vv. 146, 173 ss.). Unter solchen Umständen kann ein anderer Heerführer, der ihm aus freien Stükken gefolgt ist, nicht etwa, weil er durch seine Stellung als Vasall dazu gezwungen war, und der, da er stärker als jener ist, sich gedemütigt fühlt, wenn er keine seinen Verdiensten entsprechende materiellen Gewinne (das heißt „Ehren") empfängt, sich nach Belieben von dem Unternehmen zurückziehen. Die Versammlung billigt durch ihr Schweigen für den Augenblick das Vorgehen des Agamemnon; Achill steht allein. Aber eine Parteinahme der Versammlung gegen Agamemnon ist jederzeit möglich. Auch wenn der oberste Heerführer sich leicht bei ihr durchsetzen oder hinter ihrem Rücken handeln kann, so muß sie doch in den entscheidenden Augenblicken immer zusammentreten; es ist die Versammlung ζ. B., die die Beute verteilt und auch Agamemnon seinen Teil zuweist (vv. 123, 1 2 7 , 1 3 5 , 162, 163, 276, 299, 368, 392). Das wird natürlich ein besonderer Anteil sein, und Agamemnon wird alles tun, um ihn zu vergrößern. Man wird sich fragen können, welches die Aufgaben des Führeroder Altenrates (boule) seien. Weil dieser später in Griechenland als feste politische Einrichtung auftritt, wird oft versichert, daß er bei Homer schon mit geregelten Funktionen aufträte. In Wahrheit aber ist er, so wie wir ihn aus späteren Zeiten kennen, eine typisch aristokratische Einrichtung, die wir nicht ohne weiteres auch mit der homerischen Gesellschaftsordnung in Verbindung bringen können. Seine Entwicklung dürfte in großen Zügen folgende sein: „Den Stamm selbst bildeten die Mannen (λαοί), d. h. die waffenfähigen freien Männer, die in der Heeres- oder Volksversammlung (αγορά) zusammentraten, deren Zuruf den Heerkönig wählte und deren Zustimmung mindestens bei allen friedlichen Akten von
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Bedeutung nötig war. Zwischen beide schob sich schon sehr früh, so daß für griechische Verhältnisse davon nie abzusehen ist, der Rat der Alten (γέροντες), den man in diesem Stadium gut mit den römischen patres vergleichen kann; ursprünglich war er wohl vom König selbst als Beirat in wichtigen Fragen aus den Häuptern der großen Familien berufen. Dieser Rat wurde selbständig und bedeutete eine Machteinschränkung des Königtums, war zugleich Exponent einer aus den Gemeinfreien sich heraushebenden Schicht, des Adels." 12 Wenn er auch in der Odyssee eine gewisse Bedeutung gewinnt, so läßt der Dichter dagegen in der Ilias, im Kriege, wo er bei wichtigen Entscheidungen in der Hauptsache die Funktion eines Generalstabes übernehmen müßte, die Heeresversammlung zusammentreten, auch wenn in ihr natürlich nur die Einflußreichsten sprechen und handeln. Außer im I. Gesang sehen wir die (troianischej Heeresversammlung zusammentreten, als Menelaos und Odysseus als Gesandte nach Troia kommen (III, 205 ss.; XI, 138 ss.), als die Troer darüber debattieren, ob sie Helena und die Schätze zurückgeben sollen (VII, 345) usf. Die wenigen nur den Führern vorbehaltenen Zusammenkünfte scheinen einer besonderen Begründung zu bedürfen: wie in dem besprochenen Falle aus dem II. Gesang oder unter dem Vorwand eines Gastmahls (VII, 3 1 3 ss.; IX, 69 ss.) oder infolge eines zufälligen Zusammentreffens der Führer (XIV, 27 ss.) oder in jener singulären nächtlichen Einberufung mit persönlicher Einladung am Anfang der Dolonie (X, 53 ss.). Es versteht sich, daß in jeder Gemeinschaft ein beschränkter Kreis von Männern, die dank ihrem Alter oder ihren persönlichen Verdiensten Einfluß hatten, sich abhob, und daß in den komplexen Gemeinschaften (Stämme, die in kleinere Geschlechtergruppen, Bundesgenossenschaften usw. aufgeteilt waren) jede Gruppe durch ihr Haupt oder ihren Wortführer vertreten sein und sich äußern mußte. Aber die einzige souveräne Einrichtung ist hier noch die Versammlung. Daß die Versammlung (hier in einem Heer und umso mehr in friedlichen Gemeinschaften) souverän und solidarisch sei, wird 1 2 V. Ehrenberg, „Der Staat der Griechen", op. cit., p. 1 1 .
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indirekt aber eindrücklich von der Tatsache bestätigt, daß sie geschlossen für jede von ihr gebilligte oder nicht verhinderte Aktion verantwortlich ist, selbst im Falle es dem Führer gelungen sei, seinen Willen gegen den Willen aller anderen durchzusetzen. Agamemnon schmäht Chryses entgegen der von der Versammlung geäußerten Ansicht, aber für Chryses ist es ganz natürlich, von Apollon die Bestrafung aller Griechen zu erflehen (Ii. I, 42: „Räche mit deinem Geschoß meine Tränen an Danaos' Söhnen!"), und Apollon wütet unter dem Heer, und später wird die Buße im Namen des ganzen Heeres geleistet (vv. 444 s., 454 ss.). Der Raub der Brisei's, der uns eine private Gewalttat scheinen könnte, aber in der Versammlung beschlossen worden war, schließt für Achill natürlich die Zustimmung und die Verantwortlichkeit der Versammelten selbst ein, die dazu geschwiegen haben. Am Ende des Wortstreits (vv. 299 ss.) erklärt Achill: „Niemals heb' ich die Hand, um wegen des Mädchens zu kämpfen, Weder mit dir, noch mit andern; ihr schenktet und raubtet sie wieder.'12a Aber was sonst ich besitze beim schnellen, schwärzlichen Schiffe, Davon nimmst du mir schwerlich das mindeste wider mein Wollen. Oder wohlan, versuch es, damit hier alle mit ansehn, Wie alsbald an der Lanze dein schwarzes Blut mir herabtrieft!"
Das ist eine sehr klare und interessante Erklärung. Achill erkennt hier der Heeresversammlung das Recht zu, die Rückgabe schon verteilter Güter zu verlangen, wenigstens wenn ein so besonderer und heikler Fall vorliegt wie jener, der den Streit verursacht hat: durch höhere Gewalt gezwungen hat Agamemnon sich seiner Gefangenen, seines Beuteanteils, begeben müssen, und er fordert Ersatz (vv. 118-20). Dann wird Achill von seiner Mutter die Hilfe des Zeus gegen die Achaier erbitten „ . . . daß sich alle sättigen ihres Gebieters" (v. 410). Thetis ermahnt ihn ihrerseits, im Zorn gegen die Achaier zu verharren: „Zürnen dem Danaervolk" (v.422). Er nimmt also die Entscheidung an, aber unter starken Vorbehali 2 a Wörtlich sagt der griechische Text: „nachdem ihr mir sie nahmt, die ihr sie mir gabt".
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ten: zunächst versucht er diplomatisch, den erwähnten heiklen Fall zu lösen, indem er bemerkt, daß mangels unverteilter Beute Agamemnon die erste Gelegenheit abwarten könne, um mit Zinseszinsen entschädigt zu werden (vv. 124-29); dann will er Agamemnon umbringen, bezwingt sich aber noch rechtzeitig (vv. 190 ss.). Zuletzt beschließt er - wenn auch mit formeller Rücksicht auf die Befugnisse der Versammlung - eine gewisse passive Resistenz zu üben, deren Folgen natürlich über die ganze Gemeinschaft kommen müssen. Von höchstem Interesse ist dann die zweite Hälfte seiner oben zitierten Erklärung. Er trennt scharf zwischen dem, was er als Anteil an der Kriegsbeute bekommen hat, und seinen anderen Gütern, die niemand anrühren kann, die wohl in persönlichen Unternehmungen erworben und als privater Besitz gehalten sind: wenn irgend jemand, und sei es auch Agamemnon, versuchen würde, sich ihrer zu bemächtigen, so nähme der Konflikt einen privaten Charakter an und ginge die Versammlung nichts mehr an. Das Drama des Achill entsteht aus dieser seiner doppelten Existenz: er unterwirft sich noch den Gewohnheiten der primitiven demokratischen Gemeinschaft, 13 zu der er gehört, aber er fühlt sich ihr fremd und über sie erhaben, weil er durch persönliche Tüchtigkeit und privaten Besitz über sie emporragt.
Kollektive
Verantwortung:
Der Pfeilschuß des
Pandaros
Die kollektive Verantwortung können wir auch in einer anderen Episode der Ilias wirken sehen. Ein ganzes Volk - die Troer - muß für die Folgen eines galanten Abenteuers des Paris, der nicht einmal der König ist, büßen; aber bis hierher noch nichts Sonderbares: 1 3 Der von uns benutzte Ausdruck „primitive Demokratie" ist natürlich nur approximativ und hinweisend; wir ziehen ihn aber jenem, vielleicht richtigeren „demokratische Monarchie" vor, weil der Ausdruck Monarchie, mit all den modernen damit verknüpften Begriffen, leicht zu Mißverständnissen führen kann. 7
Codino, Homer
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Derartiges kann man zu allen Zeiten finden, oder zumindest ist es in den Sagen möglich. Schon Herodot jedoch hielt die übliche Version für historisch absurd: Helena ging nicht nach Troia, so sagt er (II, 120), denn dann hätten die Troer sich beeilt, sie zurückzugeben, um die unheilvollen Folgen zu vermeiden; Priamos wäre auch nie so weit gegangen, für sie seine Söhne und sein Volk zu opfern, und schließlich hatte Paris bei seinem jugendlichen Alter kein Recht, seinen Willen durchzusetzen. Und wenn er an anderer Stelle (I, 4) die Ansicht gewisser gelehrter Perser wiedergibt, so erklärt Herodot, wieso zu seiner Zeit der Raub einer Frau keinen triftigen Grund für einen Krieg abgeben könne: „Weiber zu entführen sei ihrer Meinung nach zwar unrecht, töricht aber, deswegen auf Rache zu sinnen, jedenfalls sei es das klügste, sich um solche entführte Weiber nicht zu kümmern, denn sicherlich wären sie nicht entführt worden, wenn sie es nicht selbst gewollt hätten. Sie in Asien, sagen die Perser, hätten sich auch nie etwas daraus gemacht, wenn Weiber entführt worden wären, die Griechen aber hätten eines lakedaimonischen Weibes wegen gleich ein großes Heer aufgeboten und in Asien das Reich des Priamos zerstört". Wir können weniger skeptisch als Herodot und weniger boshaft als seine gelehrten Perser sein. Trotzdem sieht man sogar hier und da in der Ilias (und wir werden es sofort weiter unten sehen), daß selbst der antike Dichter, immer ohne das Prinzip der kollektiven Verantwortung in Frage zu stellen, die traditionelle „wirkende Ursache" des Raubes der Helena als den Ereignissen unangemessen betrachtet - er versucht nach Möglichkeit, darüber hinwegzugehen, oder mindestens fügt er zu dem Motiv des Raubes noch andere Motive. Er verbreitet sich ζ. B. über die Frage der Schätze: einerseits über die aus Sparta entführten Schätze, andererseits über die, welche die Griechen in dem eroberten Troia werden finden können. Spuren von rationalistischer Kritik an den Mythen sind im ganzen Homer zu finden, und es überrascht nicht, daß an Stelle des „sucht die Frau" sich das „sucht das Geld" anfängt durchzusetzen. Für die Schätze Troias können recht wohl auch die Verbündeten des Agamemnon kämpfen; außer allerdings Achilleus, der letzten Endes
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das Unternehmen für unzweckmäßig hält und damit in gewissem Sinne Herodot mit seinem nüchternen Abwägen der Kriegsgründe vorausnimmt (1,152-60): „Nicht um der Troer willen, der lanzenschwingenden, kam ich Mit hierher in den Streit; sie haben ja nichts mir verschuldet. Niemals haben sie mir die Rosse geraubt noch die Rinder, Nie in Phthias scholligen, männernährenden Fluren Mir die Früchte verletzt, indem uns waldige Berge Trennen im weiten Raum und des Meeres tönende Brandung. Dir nur, Unverschämtester, folgten wir, dir zu Gefallen; Nur Menelaos zu rächen und dich, du hündischer Frechling, An den T r o e r n ! . . . "
Wir wissen aber, daß Achill abseits steht, und daß er die Hauptfigur der Ilias gerade deshalb geworden ist, weil er die Gebräuche der primitiven Demokratie in Frage stellt; und zweitens darf nicht vergessen werden, daß das achaiische Heer noch als eine geschlossene Einheit erscheint, wenn es sich in der Versammlung trifft, daß es aber gleichzeitig auch als eine Schar von Verbündeten auftreten kann. Auch anderwärts hat man den Eindruck, daß der Dichter es vermeidet, dem Raub (oder der Flucht) der Helena allzu viel moralisches Gewicht als Kriegsgrund oder Kollektivschuld der Troer beizumessen, der trotzdem ein unausmerzbares Sagenmotiv war. Wir sahen schon, daß in der Darstellung von Helenas Gestalt sich augenscheinlich Spuren einer kritischen Beurteilung der üblichen Version über die Geschehnisse von Sparta finden. Und auch die Gestalt des Paris erscheint unter wechselnden Zügen: manchmal ist er ein tapferer Krieger und moralisch neutral, manchmal wird er zu einem „negativen Helden". Der Verfasser der Ilias wußte, daß die Dinge so gelaufen waren, und außerdem war er überzeugt, daß im Falle eines Raubes der ganze Stamm des Räubers der Rache verfallen war. Aber für ein Ereignis von so unerhörten Dimensionen wie den troianischen Krieg, in den so märchenhaft große Verbände verwickelt waren, mußte der Raub als „Ursache" unangemessen erscheinen. Deshalb läßt der Dichter das ursprüngliche Objekt des Streites soviel wie möglich am Rande der Erzählung, bringt Hilfs7*
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gründe bei, um diesen nicht endenwollenden Krieg weiterführen zu können, und an einem bestimmten Punkte fügt er sogar ein ganz neues Faktum ein, das als „Ersatzgrund" für die Zerstörung Troias dienen muß. Die Episode, die wir jetzt betrachten werden, dürfte recht alt sein, ist aber in der Ilias ganz bewußt zum Hauptmotiv entwickelt worden. Im III. Gesang faßt Paris Mut und erbietet sich, Menelaos im Zweikampf zu begegnen, um dem Krieg ohne weiteres Blutvergießen ein Ende zu machen und mit den Achaiern einen Freundschaftspakt zu schließen. Hektor empfindet große Freude über diesen Vorschlag (III, 76) und bringt die Heere zum Stehen, um alle davon zu benachrichtigen; „ . . . da freuten sich sehr die Achaier und Troer, / Hoffend in Kürze zu lassen vom unglückseligen Kriege." (vv. 1 1 1 s.). Iris teilt Helena in begeisterten Worten mit, daß die beiden Heere die Waffen niedergelegt haben und der Krieg beendet ist (vv. 1 3 0 - 3 8 ) . Helena scheint ihren Fehler eingesehen zu haben und wieder zur Vernunft gekommen zu sein, sie empfindet Sehnsucht nach dem ersten Gemahl und eilt auf die Mauern, um ihn zu sehen. Dort trifft sie die Alten von Troia, die zwar ihre Schönheit bewundern, aber eindeutig die Hoffnung aussprechen, daß sie so bald wie möglich fortginge (also auch sie, wie alle anderen - Hektor Inbegriffen - nehmen den Krieg, in den Paris sie verwickelt hat, als ein notwendiges Übel hin, indem sie aus Pflicht, aber gegen ihren Willen, mit Paris „gemeinsame Sache" machen). Vor dem Zweikampf flehen beide Heere zu Zeus, er möge den sterben lassen, der die Ursache des Krieges gewesen ist, „Uns aber werde zuteil der Freundschaft heiliges Bündnis!" (v. 323). An eine Frage nach der persönlichen Verantwortlichkeit, die zu einer diplomatischen Beilegung des Konfliktes führen könnte, denkt niemand: es braucht eine Art von Gottesurteil. Jedenfalls sind alle für den Frieden, der demnach greifbar nahe sein müßte. Dann zieht Paris den Kürzeren, doch Aphrodite entführt ihn und bringt ihn heil und gesund in sein Gemach; diese Rettung ändert aber nichts an den Dingen, und der Krieg dürfte nun zur Befriedigung des Menelaos und aller zu Ende sein.
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Man weiß, daß der Krieg bis zur Zerstörung Troias weitergehen muß, aber der Dichter ist sich bewußt, daß an diesem Punkte das alte Motiv des Zwistes zwischen Paris und Menelaos überholt ist: der mit allen religiösen Formalitäten vor sich gegangene Zweikampf ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit, und außerdem hat er den einhelligen Willen der Troer und Achaier, den Krieg zu beenden, zu sehr betont, um ihn unter einem beliebigen Vorwand wieder aufzunehmen. Ein neuer und schwerwiegender Grund ist jetzt nötig, nicht minder schwerwiegend als der erste. Das neue Motiv ist das der Verletzung des Waffenstillstandes durch Pandaros, der verräterischerweise Menelaos mit einem Pfeil verwundet. Dieser Vorfall ist so ernst zu nehmen, daß der Bericht darüber einen großen Teil des IV. Gesanges einnimmt, und späterhin wird er mehrfach als der „neue" Kriegsgrund erwähnt. Der Kampf beginnt sofort von neuem, ohne weitere Versuche, ihn beizulegen. Es mag natürlich sein, daß die Achaier zunächst Menelaos ganz fraglos als Sieger ansehen, auch wenn der Zweikampf - wenigstens von unserem Standpunkt aus - wegen des wundersamen Verschwindens des Gegners einen etwas unklaren Ausgang genommen hat, und daß sie dann die Schuld an der Verletzung des Waffenstillstandes in Bausch und Bogen den Troern zuschieben. Aber die Troer, die aufs dringendste wünschen, sich Helenas und Paris' zu entledigen, um nur endlich Frieden zu bekommen, müßten die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten verhindern. Niemand bezweifelt, daß Paris nach allen Regeln besiegt worden sei: er selbst gibt es zu (III, 439), Helena sagt es (III, 403 s.), Zeus in eigener Person bestätigt es (IV, 13). Die Troer könnten sich entschließen, die Verträge trotz des Ausganges des Zweikampfes nur dann nicht innezuhalten, wenn sie eine ganz besondere Zuneigung zu Paris hätten. Aber sie lieben ihn keineswegs, wie wir wissen. Hektor hat gesagt, sie würden ihn schon für seine Tat gesteinigt haben, wenn sie nicht zu ängstlich wären (III, 56 s.); die Alten sind mehr oder weniger derselben Ansicht. Als der Zweikampf wegen des Verschwindens des Paris beendet oder eingestellt ist und Menelaos „ . . . durchstürmte das Heer indes wie ein Raub-
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tier", ihn sucht, um ihn umzubringen, da bricht die Wut der Troer und der Verbündeten gegen Paris hemmungslos aus: wenn sie könnten, würden sie ihn herzlich gerne dem Gegner ausliefern, denn „Niemand hätte ihn dort aus Freundschaft wahrlich verborgen; / Denn verhaßt war er allen gesamt, wie das schwarze Verhängnis" (III, 453 s.). Auch später, als der troianische Herold Idaios den Griechen den Vorschlag des Paris überbringt, kommentiert er von sich aus dessen Namen mit den Worten „ - ο war er zuvor doch gestorben!-" (VII, 390). Nach dem Zweikampf müßte der Krieg ohne weiteres zur Befriedigung der Troer ebenso wie der Achaier beendet sein. Umso mehr, als auch die letzteren gesagt haben, sie wollten den Frieden. Nicht einmal die Verwundung des Menelaos rührt sie sehr; tatsächlich denkt Agamemnon sofort besorgt daran, daß im Falle des Todes seines Bruders das Heer werde unverzüglich nach Hause zurückkehren wollen, anstatt zu seiner Rache vorwärtszustürmen: „Denn die Achaier würden sich gleich der Heimat erinnern" (IV, 172). Warum bestrafen dann die Troer nicht den Pandaros oder überliefern ihn den Achaiern-im übrigen die Verträge zu beiderseitigem Vorteil beachtend? Weil die Verträge, die sie vorher ermächtigten oder zwangen, den besiegten Paris auszuliefern, sie jetzt, nachdem sie gebrochen worden sind, zwingen, Pandaros nicht auszuliefern, sondern sich kollektiv die Schuld an seiner Tat aufzubürden. Weil sie sich in ihrer Gesamtheit von den bestimmten Bedingungen des Waffenstillstandes gebunden fühlen, und deshalb sind sie alle an seiner Verletzung schuldig. Nicht nur sagt das sofort und feierlich Agamemnon: die Troer „furchtbar büßten sie solches / Dann mit eigenem Haupt, mitsamt den Weibern und Kindern" (IV, 161 s.), sondern wird es auch klipp und klar der weise Antenor in einer Versammlung der Troer sagen: wir kämpfen jetzt, weil wir einen gerechten Vertrag verletzt haben (VII 351-53). Auf den ersten Blick schien es, als ob die Troer sich einfältigerweise eine gute Gelegenheit entgehen ließen, leichten Kaufes davonzukommen. Wenn es uns aber gelingt, diese besondere Art und Weise, soziale Verantwortlichkeit und Pflichten zu fühlen, uns an-
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zueignen, so zeigt uns eine etwas aufmerksame Untersuchung, daß sie gar nicht anders handeln konnten, und daß auch der Dichter davon überzeugt ist. Die ganze Episode entwickelt sich also folgerichtig. Man kann sagen, daß das neue, für die Zerstörung Troias bestimmende Motiv - die unüberlegte Handlung eines Kriegers nach unserer Art zu sehen und im Lichte rein menschlicher Erfahrungen etwas dünn erscheint. Wir würden mildernde Umstände wegen Schwachsinnes für Pandaros beantragen, der später einer der ersten sein wird, mit dem Leben für seinen Verrat zu bezahlen. Der Dichter tut auf seine Weise etwas Ähnliches, doch ohne daß die Motivierung irgendwie die moralischen Folgen der Untat änderte: am Beginn des IV. Gesanges hat er uns hinter die Kulissen des Olympos geführt und uns erzählt, daß die Götter in ihren unerfindlichen Ratschlüssen oder vielmehr wegen des Eigensinnes der Hera beschlossen haben, daß die Verträge gebrochen werden würden, und daß der Kampf von neuem begänne. Athena steigt auf die Erde hinab, nimmt die Gestalt des Laodokos, des Sohnes des Antenor, an und reizt Pandaros auf, Menelaos zu verwunden. Auf diese Götterversammlung sind wir nicht eingegangen, weil wir die Folgen und nicht die Ursachen des Verrates betrachteten, und weil sie Begründungen einführt, die uns augenblicklich nicht interessierten, da sie mehr die Poesie oder die Theologie angehen. Die künstlerischen Gründe für den durch den Vertragsbruch herbeigeführten Umschwung sind klar: 14 „Die Abmachung zwischen den beiden Heeren ist vernünftig, und sie sollte, wenn es weiterhin vernünftig zuginge, einen Ausgang herbeiführen, der im bürgerlichen Sinne erfreulich ist. Aber ein guter Ausgang ist unmöglich. Er ist nicht wirklich, denn die Überlieferung weiß, daß Troia fiel; und zweitens ist das ältere Epos unbürgerlich und tragisch. Der Dichter unsrer Partie hat sich darüber Gedanken gemacht, daß es sachlich richtig aber künstlerisch falsch wäre, wenn nach dem riesigen Aufwand eines allgriechischen Heereszuges über See ein unblutiger 1 4 H. Fränkel, „Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums", 2. Aufl., München 196z, p. 73.
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Zweikampf beiden Parteien behaglichen Frieden brächte." All das ist absolut wahr; mehr noch: der Dichter hatte in der Tat nicht die Möglichkeit, an ein anderes Kriegsende zu denken als an jenes, das alle kannten. Aber uns interessierte es, aus der Analyse des Inhaltes zu entnehmen, wie der Dichter einen richtigen und vernünftigen, aber künstlerisch unmöglichen Ausgang durch einen anderen ersetzt hat, der für ihn ebenso richtig und vernünftig, nicht etwa eine ungezwungene Bequemlichkeitslösung war: den Tatsachen gemäß ist es undenkbar, daß die Solidarität der Troer mit Pandaros von ihnen in Frage gestellt werde, auch wenn sie nach unseren Begriffen beste Gründe und guten Anlaß hätten, die Verantwortlichkeit aufzuteilen. Wir betonen diesen Gedanken der kollektiven Verantwortung, weil der Begriff in dieser Form unserem Denken fremd ist. Er ist den primitiven Gemeinschaften eigen, die anderen Gemeinschaften und den Göttern gegenüber geschlossen für die Taten jedes einzelnen ihrer Mitglieder eintreten in der Voraussetzung, daß alle Handlungen von öffentlichem Interesse die Zustimmung der Gemeinschaft gefunden hätten. Es versteht sich von selbst, daß unter solchen Bedingungen die Feststellung der persönlichen Beweggründe, auch wenn die daraus entstehende Tat Folgen von öffentlicher Tragweite hat, nicht so interessant ist wie für uns: der Einzelne hat nicht viel Anlaß, über die Ursachen seiner Handlungen nachzudenken, um den anderen oder sich selber darüber Rechenschaft abzulegen, wenn er doch unter Umständen für Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, die die seinen nur insoweit sind, als die Gemeinschaft sie begangen hat, der er angehört. Er hat aber auch wenig Anlaß, über die Motive der anderen nachzudenken, wenn eine genauere Kenntnis davon an den Folgen doch nichts ändern würde. Ist es unbedingt nötig, das Unerklärliche zu erklären, so muß man an den Anfang jeder Tat oder jedes Geschehens das Eingreifen einer Gottheit setzen. „Bei den meisten Handlungen seines Lebens fühlte der homerische Mensch kein Bedürfnis, über Gründe und Folgen zu philosophieren. Nur ausnahmsweise, und besonders dann, wenn die
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Dinge schiefgingen, erhob sich die Frage nach der Verantwortung; und die Frage wurde in ungewöhnlich klarer und konsistenter Form beantwortet" 15 : die Antwort fand sich in übernatürlichen Ursachen. Es „ . . . wird alles, was hier unten geschieht, bestimmt durch das, was die Götter untereinander verhandeln. Denn menschliches Handeln hat keinen wirklichen und eigenständigen Anfang; was geplant und getan wird, ist Plan und Tat der G ö t t e r . . . fühlt sich der Mensch noch nicht als Urheber seiner eigenen Entscheidung . . ." 1 β Dies ist die Schlußfolgerung nach einer vertieften Analyse der homerischen Texte; und man muß sich hüten, die Ausdrücke einer wirklich ernsthaften und tiefen religiösen Überzeugung für bequeme mythologische und literarische Erklärungen zu halten. Aber auch hier darf man, wie immer bei Homer, nicht zu sehr verallgemeinern. Wenn es auch wahr ist, daß häufig alles nach dem Ratschluß der Götter zu geschehen scheint, so müssen wir doch gleich sagen, daß in bestimmten Fällen, besonders wenn etwas schiefgeht, auch Fragen nach der persönlichen Verantwortung aufgeworfen werden. Gerade in der eben besprochenen Episode, in der die Dinge schrecklich schiefgehen, denken die Troer nicht im geringsten darüber nach, welchen Grund Pandaros gehabt habe, nun alles zu ruinieren, und man sieht auch nicht ein, warum sie mit dieser Frage Zeit verlieren sollten: göttliche Eingebung oder eine unbestimmte Unbesonnenheit - es lohnt nicht, darüber hin- und herzureden, weil es an den Tatsachen nichts ändern würde. Aber der Dichter, der die Götterversammlung eingefügt hat, hat Sorge getragen, die törichte olympische Debatte und das folgende verrückte Tun des Pandaros mit einem rationalen Übergang zu verbinden. Athena nimmt die Gestalt des Laodokos an und sagt zu Pandaros (IV, 94-99): „Und getraust dich, mit schnellem Pfeil Menelaos zu treffen? Preis gewännst du und Dank von allem Volke der Troer, Doch von allen andern zumeist vom fürstlichen Paris,
1 5 D. Page, „History and the Homeric Iliad", Berkeley-Los Angeles 1959, p. 3 0 1 . 1 6 Β. Snell, „Die Entdeckung des Geistes", op. cit. p. 50 s.
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Die Welt Homers Der dich sicher zuerst mit glänzenden Gaben belohnte, Sähe er jetzt den streitbaren Atreussohn Menelaos, Stumm von deinem Geschosse, der traurigen Flamme verfallen."
Die Troer werden wenig Freude an dem Verrat haben, aber, denkt man an den Ausgang des Zweikampfes, der sich im vorhergehenden Gesang abgespielt hat, so ist die Aussicht, von Paris einen Lohn zu empfangen, kein Hirngespinst. Auch in dieser ganz durch Götter-Ratschluß vorangetriebenen Episode wird also für die Tat der Hauptperson wenigstens als mögliche Alternative ein Grund angegeben, der zwar wenig lobenswert, ihm aber voll bewußt und von einem ganz rationalen Gesichtspunkt aus annehmbar ist. Die Möglichkeit einer bewußten und berechneten Unternehmung zum Schaden der Gemeinschaft und folglich von ihr zu verdammen, zeigt, daß man hier schon an eine persönliche Verantwortung denken kann. Alles zusammengenommen können wir nach unserem Dafürhalten sagen, daß Pandaros objektiv das passive und unbewußte Instrument der Gottheit ist, daß aber die ihn treibende bewußte Absicht ist, dem faßbaren und schuldigen Eigennutz des Paris zu dienen. In diesem bestimmten Falle des Pandaros haben die Troer (und der Dichter) weder Gelegenheit noch Interesse, den Gründen nachzuspüren. Doch hier tauchen schon Probleme auf, auf welche die homerischen Menschen bei anderer Gelegenheit werden eingehen müssen.17
Persönliche Verantwortung: Die „Versöhnung" Man kann demnach nicht so weit gehen, den homerischen Helden völlig die Freiheit der Entscheidung oder besser: das Wissen um diese Freiheit und damit eine wirkliche individuelle Verantwortlichkeit abzusprechen, die von dem Kollektivwillen getrennt und unabhängig von den Ratschlüssen der Götter ist. Wenn wir 1 7 Z u all dem siehe A . Lesky, „Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos", Sitzb. Heidelb. Akad. Wiss. 1 9 6 1 , IV.
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sagen, daß Paris und Helena in unserem Sinne des Wortes schuldig sind, so sind wir nicht allzu weit von der richtigen Interpretierung entfernt. Im I. Gesang verlangt Achilleus Rache gegen alle Achaier, und wir können meinen, daß sein Antrag einer „normalen" Denkungsart entspräche (wie das vorhergehende unterschiedslose Gemetzel durch Apollon), nicht einem übertriebenen Ressentiment. Aber in demselben Gesang ist es derselbe Achill, der widerwillig die Beschlüsse der Gemeinschaft annimmt (ungerechte, erzwungene oder passiv gewährte, aber deswegen nicht weniger verbindliche Beschlüsse, wie wir gesehen haben), der einen Augenblick lang daran denkt, das Schwert zu ziehen und sich mitten in der Versammlung selbst sein Recht zu verschaffen, der während des Wortstreites behauptet, auf dem Schiff noch anderes, privates Eigentum zu haben - dieser Achill also, der für uns unter vielen Aspekten die entstehende Aristokratie mit ihrem Individualismus gegenüber der primitiven demokratischen Ordnung verkörpert, der begrüßt die ängstlichen und zögernden Herolde, die Brisei's fortführen sollen, mit den Worten: „Heil euch, Herolde, ihr Gesandte des Zeus und der Menschen! / Kommet näher! nicht ihr seid schuldig, nein, Agamemnon, . . . " (vv. 334 s.) Es wäre leicht, irgend eine isolierte Stelle auszuwählen, in der die persönliche Handlungsfreiheit ausdrücklich und unzweideutig betont wird, und in erster Linie die berühmten Verse am Anfang der Odyssee, in denen Zeus sich gegen die Ansicht der Menschen verwahrt, die die Götter für alles verantwortlich macht (I, 32-34): „ W a s nicht gar! Wie die Menschen uns Götter nun wieder verklagen! Wir seien Spender des Unheils, sagen sie, w o sie doch selber Leiden empfangen durch eigene Torheit und mehr als vom Schicksal."
Zeus bezieht sich auf den bestimmten unter Mißachtung des Schicksals und der Agamemnon tötete, nachdem er ihm sein Damit zieht er, ausschließlich durch seine
Fall des Aigisthos, der Warnungen der Götter Weib genommen hatte. Schuld, die unvermeid-
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liehe Strafe auf sich herab. Aber eine Stelle wie diese, die in der Tat immer zitiert wird, um die Existenz des Freien Willens in der homerischen Welt zu bezeugen, kann nicht als repräsentativ für den ganzen Homer genommen werden. Schon der polemische Ton des Zeus zeigt, daß die von ihm behauptete Wahrheit nichts weniger als allgemein anerkannt ist. Es ist unmöglich, die homerische Art und Weise, das Vorgehen seiner Helden und ihre Beweggründe zu erklären, in ein System zu bringen. Zahlreiche Episoden in den Epen zeigen indessen, daß bei Homer ein und dieselbe Handlung durch einen persönlichen Impuls und einen göttlichen Impuls entweder nacheinander oder gleichzeitig begründet werden kann. Wir wollen nur an die typische Stelle erinnern (Ii. XVI, 684-91), in der Patroklos sich zu der letzten und schicksalhaften Verfolgung der Lykier und Troer aufmacht: und lief ins Verderben, Ach, der Tor! Denn hätt er das Wort des Peliden beherzigt, W a r er gewiß dem Verhängnis entronnen des finsteren Todes. Denn der Wille des Zeus ist mächtiger stets als die Menschen.
Man sieht hier „das, was im Menschen vorgeht, und das, was der Gott will und verfügt, in einer Weise in eins gesetzt, die jeder rationalen Aufteilung widerstrebt, wohl aber, wie wir meinen, einen ganz wesentlichen Zug des homerischen Weltbildes bezeichnet". 18 Diese doppelte Begründung erklärt die Handlungen von Einzelpersonen, die als nicht-autonome Teile eines geschlossenen sozialen Organismus leben, von dem noch angenommen wird, daß er als Kollektiv-Willen handelt, und die sich in gewissem Maße von magisch-religiösen Kräften abhängig fühlen. Doch die Herrschaft dieser Kräfte ist ihrerseits in einer Weise begrenzt und bedingt, die einen Determinismus ausschließt. Die Götter greifen von Fall zu Fall ein, sie veranlassen einzelne Handlungen und bringen sie in Gang, aber sie bestimmen nicht die menschlichen Angelegenheiten 1 8 A . Lesky, op. cit., p. 22.
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auf lange Sicht hinaus. Deshalb treten sie oft auf, wobei sie manchmal auch widersprüchlich handeln. Außerdem kann man sagen, daß die Ansätze zu einer überlegten Suche nach der persönlichen Verantwortlichkeit, zu einer Unterscheidung zwischen menschlichen und göttlichen Beweggründen, sich natürlich bei gewissen Handlungen finden, die zu weitertragenden Folgen auf sozialem Gebiet geführt haben. Für den Verrat des Pandaros gab es viele verschiedene Motivierungen, die Frage nach der Verantwortlichkeit war sozusagen in der Schwebe gelassen worden, aber das Proömium der Ilias legt mit aller Deutlichkeit dar, daß die Ereignisse in dem Gedicht von einem bewußten Entschluß des Agamemnon hervorgerufen sind: „der Plan" oder „der Rat" des Zeus sind nur eine Folge davon. Im Falle Agamemnon also scheint es trotz der stillschweigenden Zustimmung der Heeresversammlung erlaubt, regelrecht von persönlicher Schuld zu sprechen, wenn man das Proömium, die wiederholten Behauptungen des Achill, die direkte Anklage durch Nestor („Doch übermütigen Geistes, / Hast du den tapfersten M a n n , . . . / Schmählich entehrt." (IX, 109 ss.) und das Bekenntnis desselben Agamemnon: „Aber nachdem ich in leidigem Eigensinn mich vergangen . . . " (φρεσί λευγαλέησι πιθήσας; IX, 119) wörtlich nimmt. Das alles reicht, um befriedigt zu sein und um sich zu überzeugen, daß in der Ilias Agamemnon mit vollem Bewußtsein die Rolle des „Bösewichtes", des vollendeten vilain spielt. Aber wir sind daran gewöhnt, literarische Figuren einem moralischen Urteil ohne Berufungsmöglichkeit zu unterwerfen, das für die homerischen Helden nur selten begründet ist. Erinnern wir uns daran, daß bei Homer eine Handlung für gewöhnlich nach ihren Folgen beurteilt wird, unabhängig von den psychologischen oder übernatürlichen Impulsen, die den Täter dazu getrieben haben könnten, und die fast immer nur ein höchstens zweitrangiges Interesse erwecken. Eine verkehrte, also schädliche Handlung - wenn sie nicht so unheilbar schlimm wie die des Pandaros ist (die die Beziehungen zwischen zwei einander fremden Gemeinschaften stört und einen Vertrag und einen feierlichen Eidschwur verletzt) - verlangt ganz ein-
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fach nach einer angemessenen materiellen Entschädigung: man sieht nicht darauf, ob der Täter sich ihrer bewußt war, ob er außer sich oder von den Göttern wie ein Automat geführt worden war. Deshalb scheint bei Homer die Frage nach der menschlichen Verantwortung, auf die wir so viel Wert legen, mit Gleichgültigkeit und Widersprüchlichkeit behandelt zu sein. Auch die oben angeführten Stellen über die Schuld des Agamemnon scheinen in einer großen Episode des Epos, in der „Versöhnung" im XIX. Gesänge Lügen gestraft zu werden. Vor Achill und dem ganzen Volke erklärt Agamemnon in seiner langen Verteidigungsrede sich für unschuldig (vv. 78-144): Zeus, Moira und Erinys haben ihm Ate, die Verblendung, in die Seele gegossen: „Oftmals haben dasselbe bereits mir gesagt die Achaier Und mich gescholten darum; doch ich bin sicher nicht schuldig, Sondern das Schicksal und Zeus und Erinys, die wandelt im Dunkel, Welche das Herz mir im Rat erfüllten mit arger Betörung, Jenes Tags, als ich selbst dem Achill entwand seine Gabe. Aber was konnte ich tun? Vollbrachte doch alles die G o t t h e i t . . . "
Die böse Ate ist unwiderstehlich, und einmal hat sie sogar Zeus fortgerissen. Nachdem er diese allegorische Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählt hat, schließt Agamemnon (vv. 1 3 7 s.): „Aber nachdem ich gefehlt, des Verstandes beraubt vom Kroniden, / Will ich es wieder vergüten mit unermeßlicher Buße". Hier scheint Agamemnons Unschuld bewiesen, der einfach von feindlichen magischen Gewalten zu seinem Fehlgriff getrieben worden ist. Es ist wahr, daß dies eine apologetische Darstellung der Tatsachen ist, die ihrem Ablauf im I. Gesänge widerspricht; aber uns liegt nichts daran, ein endgültiges Urteil über Agamemnons Verhalten zu fällen. In einer so feierlichen Szene muß seine Rede - so scheint es uns - ernstgenommen werden, und jedenfalls können wir ihn ruhig freisprechen, tut es doch sogar Achilleus. Obgleich dieser noch kurz vorher (XVI, 52-59) für den Gegner keine mildernden Umstände gelten ließ, geht er jetzt mit ihm darin einig,
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daß das ganze Geschehen allein dem "Willen des Zeus zuzuschieben
sei (XIX, Z70-74):
„Vater Zeus, wie stürzt du die Menschen doch tief in Verblendung! Niemals hätte wohl sonst das Herz in der Brust der Atride Durch und durch mir empört und niemals wider mein Wollen Mir das Mädchen entführt, unbeugsam, doch hatte wahrscheinlich Zeus für viele den Tod bestimmt im Volk der Achaier."
Uns genügt es zu sehen, daß die Vorstellung von persönlicher Verantwortung mehr als anderswo gerade in dieser Stelle lebt, die sie für den vorliegenden Fall leugnen will. Gerade das ausdrückliche Leugnen, die streitsüchtige, beharrliche Rechtfertigung setzt die Behauptung des Gegenteils voraus. „Deutlicher als in anderen Fällen finden sich hier Anklage und Verteidigung gegenübergestellt; auf die Vorwürfe hin leugnet der Angeklagte die Verantwortlichkeit für seine Tat, indem er den Göttern die Entscheidung über seine Willenshaltung zuschreibt. Doch die Tatsache, daß die Verteidigung der Anklage antwortet, ist ein Beweis dafür, daß sich der vom Angeklagten behaupteten Nicht-Verantwortung gegenüber bei anderen schon die These von der Verantwortlichkeit des Handelnden durchgesetzt hat." 19 Die wirksame, von seinem Gegner anerkannte Selbstverteidigung des Agamemnon schützt ihn aber doch nicht davor, einen hohen Preis zur Wiedergutmachung seines Fehlers zu zahlen. Dies ist für uns der interessanteste Punkt. Was die Vorgänge in der Seele des Protagonisten angeht, so haben allzu rationalistische Kritiker den Widerspruch zwischen dem von seiner Schuld überzeugten und dem seiner Unschuld sicheren Agamemnon unerträglich gefunden, und nur deswegen haben sie die Szenen im IX. und X I X . Gesänge zwei verschiedenen Verfassern zugeteilt. Andere haben dagegen nach einem Ausgleich gesucht: entweder seien sie ganz voneinander unabhängig, oder die eine sei frei und inkonsequent in der anderen weiterentwickelt worden, oder die Widersprüchlichkeit (die in 19 R. Mondolfo, „Moralist! greci", Milano-Napoli i960, p. 45.
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diesem Falle nur scheinbar wäre) rühre von einer seelischen Wandlung Agamemnons her, oder schließlich, sie sei künstlerisch durch die neue Situation gerechtfertigt: während Agamemnon im IX. Gesang niedergeschlagen, entmutigt und bereit war, sich für alles anzuklagen, hat er im XIX. Gesang seine Sicherheit, seine königliche Würde wiedergefunden und nicht mehr die Absicht, sich Asche aufs Haupt zu streuen (so Albin Lesky20). Diese letzte Deutung trägt sicher am meisten dem möglichen Abwechseln in der Motivierung für die Handlungen der homerischen Helden Rechnung, und sie schließt mit Recht aus, daß zwei ethisch verschiedene Haltungen ein und derselben Person ohne weiteres der Arbeit zweier verschiedener Dichter zuzuschreiben seien. Unter diesem Gesichtspunkt steht demnach die „Versöhnung" nicht unbedingt im Widerspruch zu den anderen Stellen in der Ilias, und sie zeigt gut, wie hier die Beweggründe für menschliches Tun nicht grundsätzlich systematischen, rationalistischen Erklärungen unterworfen werden. Solche sind nur dann nötig, wenn eine Handlung einem unabhängigen moralischen Urteil unterworfen werden muß, sie sind dagegen belanglos, wenn die Handlung letztlich nur wegen der von ihr hervorgerufenen sozialen Folgen interessiert. Aus anderen Gründen glauben wir aber, daß die „Versöhnung" verhältnismäßig spät dem Gebäude der Ilias angefügt worden sei, und daß sie - trotz ihrer wesentlichen Übereinstimmung mit der typisch „homerischen" Denkungsart - Anzeichen für den Übergang zu einer neuen Phase aufweist. Wenn wir auch zugeben, daß die folgenden Überlegungen (die übrigens nicht alle neu sind) nach Pedanterie schmecken könnten, daß sie von subjektiven Eindrücken bestimmt werden können, von dem Verlangen, um jeden Preis alle Einzelheiten in einer poetischen Welt zu erklären, die gerade in ihrer Vielfältigkeit und Unberechenbarkeit schön ist, - wenn wir das alles zugeben, so müssen wir doch sagen, daß die ganze Episode, von ihren inneren Werten abgesehen, uns im allgemeinen Aufbau des Gedichtes unangebracht und fehl am Platze scheint. 2.0 Op. cit., p. 40 ss.
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Achill trauert über den Tod des Patroklos, er zürnt den Troern und ist ungeduldig, in den Kampf zurückzukehren. Kaum erhält er die neuen Waffen, die Hephaistos ihm geschmiedet hat, so erwarten wir, ihn zur Tat schreiten zu sehen. Statt dessen ruft er das ganze Heer zusammen, tut er den ersten Schritt zur Versöhnung mit Agamemnon, und dann folgt eine nicht endenwollende Reihe von Reden und Zeremonien. Weshalb tut er das? Der Dichter sagt es nicht. Nicht zum Zeichen des Vasallengehorsams, denn aus der Zusammenkunft geht er mit allen Ehren hervor. Nicht um sich die Unterstützung der restlichen Truppen zu sichern, die Agamemnon folgen, denn man kann annehmen, daß sie ihm nicht fehlen wird, und dann: hätte Achill diese Besorgnis, so wäre er nicht mehr er selbst. Nicht aus einem moralischen Erfordernis, das bei Homer keinen Platz haben kann. Nicht um stehenden Fußes den Preis für seine Rückkehr aufs Kampffeld einzuheimsen, weil er während der Diskussion von den Geschenken nicht einmal zu hören wünscht. Es könnte aussehen, als ob Achill auch in diesem Falle einer Art von irrationalem Antriebe folge, übermittelt oder verkörpert durch Thetis, die, nachdem sie ihm die Waffen übergeben hat, ihm ohne weitere Erklärungen sagt: „Du aber eile, zum Rate zu rufen die Helden Achaias. / Und entsage dem Zorn auf den Hirten des Volks Agamemnon" (XIX, 34 s.). Aber in diesem Falle wollen wir uns nicht mit einem einfachen Rückgriff auf die Sphäre des Irrationalen begnügen: die ganze Episode der „Versöhnung" ist in den Reden der Helden und in ihrem Ablauf sehr durchdacht, und wir möchten wissen, welchen unausgesprochenen Erfordernissen sie entspricht. Der Verfasser der „Versöhnung" kennt die Szene der Gesandtschaft im IX. Gesang: dort ist ein Versuch gemacht worden, den Streit beizulegen, und er ist mißglückt. Nichts hat sich in den Beziehungen zwischen Achill und Agamemnon geändert, und es ist nicht einzusehen, warum Achill ausgerechnet jetzt die früher zurückgewiesenen Angebote annehmen sollte. Das neue Faktum ist der Tod des Patroklos mit dem Entschluß des Achill, in den Kampf zurückzukehren, um ihn zu rächen. Agamemnon, der ihm seine Anerbietungen gerade gemacht 8
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hatte, um ihn zur Rückkehr zu bewegen, könnte jetzt zufrieden sein, daß er nicht mehr darum zu bitten oder dafür zu bezahlen habe. Statt dessen besteht er auf der sofortigen Übergabe der versprochenen Geschenke, während Achill seinerseits ihn ungeduldig auffordert, die Frage auf später zu verschieben (vv. 146-50). Man kann sagen, daß die neuerliche Entwicklung der Dinge die von Agamemnon im I. Gesänge gezeigte Anmaßung nicht ausgelöscht habe, und daß das Versprechen jedenfalls gehalten werden müßte. Aber das ist eine moralistische Überlegung, waren doch die im IX. Gesang versprochenen Gaben nur der Preis für eine sofortige Rückkehr des Achill; dessen Weigerung dürfte ohne weiteres das Zurückziehen des Angebotes entsprechen. Oder man kann sagen, daß der Verfasser der „Versöhnung" die künstlerische Notwendigkeit empfunden habe, das Thema vom Zorn des Achill fallenzulassen, „den Zwist zwischen Achill und Agamemnon im Verlaufe des Gedichtes und ihn zu dieser Zeit beizulegen, damit das Rampenlicht jetzt voll auf das fallen kann, was den Zorn des Achill als Hauptthema ablöst-den Tod des Hektor". 21 Diese Erklärung ist besser, doch man sollte eher sagen, daß der Dichter die Frage auf diese Weise hat lösen wollen, mit einer Versöhnung, weil das Thema des Zwistes mit der Gesandtschaft aufs beste als abgeschlossen betrachtet werden konnte, bei der der Antagonismus der beiden Führer unheilbar erschien: ein mehr als befriedigender Schluß, auch wenn der andächtige Leser es vorziehen kann, die beiden Gegner Arm in Arm zurückkommen zu sehen. Das Folgende mit dem Tod des Patroklos hat nichts mehr mit dem Zwist zu tun, es ist nur eine indirekte Folge, die ein Ersatzmotiv einführt, um nach dem Scheitern der Verhandlungen Achill aufs Kampffeld zurückzubringen und ihn Hektor töten zu lassen, wie die Sage es wollte. Wenn Achill den treuesten Freund verliert, so kann man meinen, daß ihm recht geschieht, weil er auf seinem Kopf bestanden hat, oder, falls man das vorzieht, daß auch dieses Unglück auf Agamemnons Konto gesetzt werde; unver2 1 D. Page, „History and the Homeric Iliad", op. cit., p. 3 1 2 .
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ständlich aber bleibt, warum es zu einer so späten Versöhnung zwingt. Das Überraschendste ist, daß Achill nach alldem das Recht auf die Ehrengeschenke behält, und daß Agamemnon es ihm nicht bestreitet. Es handelt sich nicht um von uns ersonnene Spitzfindigkeiten. Der homerische Text ist über diesen Punkt ganz deutlich. Gelegentlich der Gesandtschaft erzählt Phoinix dem Achill, um ihn zur Rückkehr auf das Schlachtfeld zu bewegen, die Geschichte Meleagers (IX, 527-605). Dieser weigerte sich wie Achill in einem Anfall von Zorn trotz aller Bitten und dem Versprechen reichen Lohnes, seine Stadt zu verteidigen; im letzten Augenblick gab Meleager dem Flehen seines Weibes nach und rettete die Stadt, aber jetzt hatte er das Recht auf den früher zurückgewiesenen Lohn verloren. Phoinix redet nicht zum Zeitvertreib, sondern um zu erklären, was Achill geschehen werde, wenn er das Angebot nicht annähme. Alles kommt schließlich, wie es der weise Phoinix gesagt hat, nur mit dem einen Unterschied, daß am Ende Achill, glücklicher als Meleager, die Geschenke trotzdem nach Hause trägt. Diesmal ist Homer wirklich kein guter Erzieher.
Ein Richter in der Ilias Lesen wir aber die „Versöhnung", ohne an das übrige Gedicht zu denken, nur mit der Vorstellung, daß zwei hervorragende Persönlichkeiten Streit miteinander gehabt hätten und jetzt zur Versöhnung bereit seien, so erscheint die Episode erbaulich und wert, in einem Buch über gute Lebensart zu figurieren. Achill - ausgerechnet er! - ergreift die Initiative und leistet als erster Abbitte: oder besser, er beklagt das Geschehene, ohne sich bei der Feststellung aufzuhalten, wer angefangen habe. Er sagt zu Agamemnon: was haben wir beide gemacht!; streiten um nichts, um ein Mädchen, das besser getan hätte zu sterben, kaum daß ich sie sah; aber das Geschehene ist geschehen, und ich bezwinge als erster meinen Zorn (vv. 56-67). Dieses an sich erbauliche Verlöschen des Zornes 8*
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des Achilleus ist enttäuschend, wenn man an den großen Streit denkt, der im I. Gesang gerade „wegen des Mädchens" (I, 298) entbrannt war, aber sich sofort wegen viel ernsterer Gründe ausgeweitet hatte; und dann Zeus, der „wegen eines Mädchens" Olymp und Erde um und umgekehrt hat. Audi Agamemnon beträgt sich als vollendeter Edelmann: er ist ohne weitere Diskussion einverstanden und will, daß man sogleich die Geschenke herbeibringe, die Achill gar nicht verlangt hat. Noch nicht genug: Achill hat auch nicht mit einem Schatten versucht, Agamemnon die Verantwortung zuzuschieben, aber dieser fühlt sich verpflichtet, die Umstehenden mit einer langen unverlangten Selbstverteidigung zu regalieren, die die Geschichte von Ate und Zeus enthält. Er erweist zwar seine Unschuld, und das mit Gründen, die, wie wir wissen, gut zu der Welt der Ilias passen - gerade sein Verhalten ist viel „iliadischer" als das des Achilleus. Ungewöhnlich dagegen ist die Tatsache, daß er die Notwendigkeit fühlt, sich so ausführlich zu rechtfertigen, ungewöhnlich sind der studierte, belehrende Aufbau seiner Verteidigungsrede und ihre allegorische Einkleidung: ein Typus von Aufbau und Einkleidung, der weit mehr hesiodisch als homerisch ist. In seiner kurzen Erwiderung versucht Achill, auf das Thema zurückzukommen, daß ihm am Herzen liegt, auf den Krieg, und er ermahnt ihn, keine Zeit zu verlieren. Aber die Unterhaltung hat noch kaum begonnen. Unerwarteterweise nimmt Odysseus das Wort, der dem Ungeduldigen vorhält, Folgendes sei noch nötig: 1. die Soldaten müßten vor der Schlacht essen, 2. Agamemnon müsse die Geschenke vor die Heeresversammlung bringen lassen, 3. er müsse schwören, Briseis nie berührt zu haben und 4. er müsse Achill zu einem Bankett einladen. Der gutwillige Agamemnon fügt von sich aus noch hinzu, daß der Schwur von einem Opfer begleitet werden solle (vv. 196 s.). Im ersten Teil seiner langen Rede erklärt Odysseus dem Achill ausführlich und wohlweise, daß es verkehrt sei, ins Feld zu ziehen, ohne den Soldaten Essen gegeben zu haben; auch später wird er sich auf diesen Punkt versteifen (vv. 221-33). I n diesem Bestehen
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auf der Ernährungsfrage sieht der eine eine unverzeihliche Unbeholfenheit, der andere dagegen, wie bei den zahlreichen Mahlzeiten in den homerischen Gedichten überhaupt, einen wesentlichen Faktor der epischen Größe mit ihrem alles umfassenden Realismus. "Wir ziehen es vor, für einen Augenblick die Frage in der Schwebe zu lassen, auch wenn wir zugeben, daß verschiedene Gründe den Verfasser der Episode dazu bewogen haben mögen, der Speisung des Heeres so viel Raum zu gewähren. Dieser Gesang hat einen ausgesprochen lehrhaften Ton, und möglicherweise hatte der Verfasser Vorschriften über Kriegskunst im Sinne, in denen die Heeresverpflegung eine große Rolle spielte.22 Vielleicht hat er aber auch Ansätze weiterentwickelt, die in der epischen Uberlieferung schon vorhanden waren: auch nach der Heeresversammlung im II. Gesang ζ. B. beeilt sich Agamemnon, die Soldaten vor der Schlacht zum Essen zu schicken (II, 381; ein Vers, der sich ebenso in XIX, 275 findet). Dann gibt es eine Stelle, in der Agamemnon ausgerechnet dem Odysseus vorhält, er sei saumselig, aufs Kampffeld zu gehen, aber immer bereit zu schmausen (IV, 343). Indem er so auf der Notwendigkeit besteht, die Bräuche und die Naturgesetze zu respektieren, hebt der Verfasser der „Versöhnung" auch die Askese des fastenden Achilleus hervor. Desselben Achill, der aber später, im letzten Gesang (XXIV, 6oz ss.) zeigt, daß er die Lehren des Odysseus beherzigt hat, als er dem gebrochenen Priamos auseinandersetzt, auch der betrübteste Mensch dürfe nicht fasten, und ihm die Geschichte von Niobe erzählt, die auch nach dem Verlust von zwölf Kindern an Nahrungsaufnahme dachte.
22 „Die Essensbeschaffung war vermutlich in den dunklen Jahrhunderten und später für die ionischen Krieger ein Grund zur Besorgnis; ohne Zweifel also für die im Ausland kämpfenden Heere in der mykenischen Zeit. Aber es war kein guter Gegenstand für die heroische Dichtung; und nirgendwo anders singt der Dichter so laut von ihr und spielt so lange damit. Es besteht für ihn kein besonderer Grund, weshalb er es auch in diesem Fall tun sollte: denn die Krisis in der Ilias rückt näher, und dies ist eine klägliche Einführung in sie, in einem neuen und untraditionellen Stil geschrieben": D. Page, op. cit., p. 315. Über die neuen und untraditionellen Elemente in der „Versöhnung": ibid., pp. 332.-35, Anm. 2.5.
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Bei Homer wird also die Essensfrage nie leicht genommen. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen - und wir bemerken es ausdrücklich daß in unserer Episode die Erörterungen dieses Themas weitschweifiger als nötig zu sein scheinen. Und die Reden des Odysseus sind sprichwortreich und lehrhaft wie die des Hesiod: „Könnte doch keiner den ganzen Tag bis zur sinkenden Sonne, / Ungekräftigt von Speisen, den Kampf mit dem Gegner bestehen" usw. (vv. 16z ss.); „Hat sich aber ein Mann mit Wein und Speisen gesättigt, / Dann vermag er den ganzen Tag mit den Feinden zu kämpfen" usw. (vv. 167 ss.). Und später (vv. 221 ss.): „Schnell doch werden die Menschen satt des Schlachtengetümmels, W o in Haufen das Erz zu Boden mähet die Halme. Kurz aber dauert die Mahd, denn bald schon zeigte die Waage Zeus, der über die Menschen regiert als Walter des Kampfes. Nicht mit Fasten kann der Achaier die Toten betrauern . . . "
Im Verlaufe seiner Rede ist Odysseus nicht weniger um die Formalitäten besorgt, die der Versöhnung Geltung geben sollen: Agamemnon soll die nötigen Geschenke herbeibringen „daß alle Achaier / Gleich mit den Augen sie s e h n . . e r soll den Schwur leisten „ S t e h e n d . . . vor den Männern von Argos", und schließlich soll er zum Bankett einladen; „ . . . daß nichts von den schuldigen Ehren dir fehle" (v. 180) sagt er zu Achill, das heißt: damit nichts dir mangle, was die Gerechtigkeit fordert. Und zu Agamemnon gewandt (vv. 181-83): „ D u aber, Atreus' Sohn, wirst künftig auch gegen die anderen Rechtlicher sein; denn es ist auch dem Könige nicht zu verargen, Wenn er sich wieder versöhnt mit dem Mann, den er früher beleidigt."
Dieser Odysseus, der sich in den Wortwechsel der beiden Gegner einschiebt, nimmt unvorhergesehenes Format an: er erhebt sich autoritativ über die Parteien, schafft Ordnung zwischen ihnen, indem er zeremonielle und rituelle Vorschriften gibt, redet in weisen Sprüchen. Nicht einmal der alte Nestor hat je so gesprochen. Folgen wir ihm für den Rest der Episode: Agamemnon nimmt hochzu-
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frieden seine Anordnungen entgegen („Deine Rede vernahm ich mit Freuden, du Sohn des Laertes; / Hast du so richtig doch alles uns dargestellt und bewiesen"; vv. 185 s.), während Achill wiederholt, er wolle sich sofort in den Kampf stürzen; da ruft ihn Odysseus, der die Geduld verliert, zur Ordnung, indem er sich auf die Rechte seines höheren Alters und seiner Erfahrung beruft (vv. 216-20): „ O Achilleus, Pelide, du Stärkster von allen Achaiern, Mächtiger bist du als ich und weit im Kampf mit der Lanze M i r überlegen, dafür kann ich dich an Geist überragen; H a b ich doch länger gelebt und mehr gesehn und erfahren. D r u m bezähme dein H e r z zur Geduld und hör meine R e d e . "
Zuletzt nimmt Odysseus einige junge und auserlesene Krieger mit sich (während oben, in v. 143, Agamemnon seine Sklaven dazu bestimmen wollte; die Szene wird immer feierlicher) und geht auch selbst, um die Geschenke zu holen, um die zehn Talente Goldes abzuwiegen; er kehrt an der Spitze der Gruppe zurück, läßt die Gaben allen sichtbar niederlegen, und endlich kommt es nun zum Opfer und zum Schwur. Wir sagten, daß nicht einmal Nestor je so viel Autorität gezeigt hat, nicht einmal in jener Episode des IX. Gesanges, die die Gesandtschaft bringt, und die unser Dichter im Sinne hat. Sehen wir gut zu, so haben die beiden Episoden manche Ähnlichkeit miteinander. Am Beginn des IX. Gesanges ist Agamemnon völlig verzweifelt, er will auf das Unternehmen verzichten und wird hart von Diomedes getadelt, der entschlossen ist, bis zum Ende zu kämpfen. Da erhebt sich Nestor um zu sprechen: als erstes zügelt er den Eifer des Diomedes, indem er sich auf sein höheres Alter und seine Erfahrung beruft, dann schlägt er (auch er) vor, zunächst zum Essen zu gehen; bei dem nun folgenden Mahl der Alten fordert er Agamemnon auf, Achill mit Geschenken und versöhnlichen Worten zu beruhigen (vv. 9 6 - 1 1 3 ) . Hier sind die Beziehungen zwischen den Führern so, wie wir sie kennen: Agamemnon, der „mehr König ist" als die anderen, aber nicht für sich allein handeln kann; Dio-
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medes, der, in geziemenden Formen, völlige Redefreiheit hat; Nestor, der Diomedes gegenüber die Rechte des Alters geltend machen kann, kann dem Heer Vorschriften machen, während er Agamemnon gegenüber ein Mittelding zwischen Untergebenem und ehrwürdigem Ratgeber ist. Sein Rat wird freimütig, aber sehr respektvoll gegeben und beginnt mit einer Anrede, die etwas von einer liturgischen Formel hat (IX, 96-99): „Atreus' mächtigster Sohn, du Völkerfürst Agamemnon, Schließen will ich bei dir und beginnen, weil du so vielen Völkern gebietest als Herr, und Zeus dir selber des Zepters Macht und Gerechtsame gab, auf daß du alle beratest."
Der Odysseus der „Versöhnung" dagegen ist seiner Autorität sicher und geht mit Agamemnon und Achill um, ohne einen Unterschied zwischen ihnen zu machen. M a n wird sagen, daß Achill, besonders in diesem Augenblick, außerhalb jedes hierarchischen Verhältnisses steht und sehr w o h l mit Agamemnon gleichgestellt werden kann. Aber Odysseus spricht zu den beiden nicht mit demselben Respekt, wie Nestor dem Agamemnon gegenüber, er hebt Achill nicht zu dem Range eines zweiten obersten Führers empor; im Gegenteil, er behandelt sie mit der gleichen Überlegenheit. Für ihn ist Achill ein Jüngling, der seine Weisungen entgegenzunehmen hat, und genau so muß Agamemnon sie entgegennehmen. Wenn Nestor Sorge trug, Diomedes und Agamemnon gegenüber verschiedene T ö n e anzuschlagen, so scheint Odysseus hier im Gegenteil bemüht, die beiden auf das gleiche Niveau zu bringen. Wir kommen zum Schluß. Der Odysseus der „Versöhnung", der sich über die beiden ehemaligen Gegner stellt, der sich ihre Erklärungen anhört, der verlangt, daß der Vertrag garantiert werde 1. durch das sofortige Begleichen der schwebenden Schuld mit der Übergabe der Geschenke, 2. durch die Anwesenheit des Volkes, 3. durch einen feierlichen Schwur mit einem Opfer - dieser Odysseus ist eine in der übrigen Ilias unbekannte Figur: er ist einer jener Richter-Könige, die wir aus Hesiod kennen, und sein Vorgehen enthüllt eine Privatisierung des ökonomisch-sozialen Lebens, die die
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Einrichtung der Volksversammlung als Organ der primitiven Demokratie außer Kraft setzt, das heißt, die das Aufkommen einer gefestigten Aristokratie voraussetzt. In der „Versöhnung" gibt es keinen eigentlichen „König" vom normalen homerischen Typus als Vorsitzenden einer Versammlung von (angeblich) Gleichgestellten, und es gibt nicht einmal eine Versammlung — es gibt nur eine Menge von Zeugen. Auch in der übrigen Ilias bleibt die Masse der Krieger im Hintergrunde, während die Führer debattieren, aber an dieser Stelle wäre es erstaunlich, wenn sich ein Diomedes oder auch ein Nestor erhöbe, um zu sprechen, so sehr hat Odysseus das Amt des obersten Richters über die Parteien übernommen, die ihn frei gewählt haben. Oder besser gesagt, um klar zu sein, in einem solchen Grade ist der Streit zwischen Achill und Agamemnon, der im I. Gesang am richtigen Orte, in der Versammlung, ausgebrochen war, hier zu einer Privatsacke geworden. Diese neue Situation läßt uns verschiedene eigentümliche Aspekte der Episode besser begreifen: die Nachgibigkeit Achills und Agamemnons, das versöhnliche Auftreten des Achill, der nichts mehr von Verschulden hören will, während Agamemnon gerade davon sprechen will, die schmerzvollen Hinweise auf die immer verderblichen Folgen, die den Menschen aus ihren Streitigkeiten entstehen (ein hesiodisches Thema), der Rat der Thetis am Anfang, der für die Ilias unbegründet erscheint, der aber in seinem Grundgehalt menschlich klug ist und in einer Welt gut begriffen werden mußte, in der die Frage der persönlichen Zwiste und der Möglichkeiten, sie beizulegen, schon zur Tagesordnung gehören durfte, nachdem jetzt die Ungleichheit der einzelnen die Versammlung außer Kraft gesetzt hatte. Und vielleicht können wir sogar das leidige Gerede über das Essen erklären, mit dem Odysseus den Achill schulmeistert. Die erste Pflicht eines Friedensrichters ist es, unparteilich zu sein oder zu scheinen. Hier gibt es nicht einen Schuldigen, der verurteilt werden und ein Opfer, das Ersatz bekommen soll, sondern zwei Personen, die einen Streit haben und bereit sind, einander entgegenzukommen. Das versichern die ersten Worte des Achill (vv. 56-68):
12,2.
Die Welt Homers „Sprich, Atride, wär' es für beide, für dich und mich selber, So nicht besser gewesen, als wir, in der Seele bekümmert, Wegen der Maid uns entzweiten in herzverzehrendem Hader? Hektor genoß den Gewinn mit den Troern; jedoch die Achaier Werden gewiß noch lang an unseren Streit sich erinnern. Lassen wir aber Geschehenes ruhen, so sehr es uns kränkte, Zähmen wir nun das Herz in der Brust, dem Zwange gehorsam. Also mach' ich ein Ende dem Zorn; es will mir nicht ziemen, Unabläßig weiter zu zürnen . .
Wenn Agamemnon auch als der erscheint, der bezahlen muß, wie es die ganze Fabel der Ilias wollte, so hat Achill doch nicht die Absicht, ihn zu demütigen. Odysseus muß als Besänftiger und Vermittler auftreten, indem er gleichmäßig dem einen wie dem anderen die Beschlüsse aufzwingt, die ihm nützlich scheinen. Agamemnon bringt die recht schweren Opfer, von denen wir wissen (der Dichter wird das Verzeichnis der Gaben benutzt haben, das ihm im IX. Gesänge schon vorlag): sie sind freiwillig, aber Odysseus gibt ihm genaue Vorschriften darüber. Was kann Achill tun, um auf diese Geste entsprechend zu antworten? Er braucht nichts zu geben oder zurückzuerstatten; der Brauch, um Entschuldigung zu bitten, ist noch nicht erfunden worden. So ergreift Odysseus den einzig möglichen Vorwand, den ihm das Ungestüm bietet, mit dem Achill sich in den Kampf stürzen will, ohne an anderes zu denken; dieser Vorwand ist ihm überdies schon von der Parallelstelle im IX. Gesang an die Hand gegeben, die wir betrachtet haben, in welcher Nestor alle zum Essen schickt. Außerdem war ein Mahl schon als notwendiger Bestandteil der Versöhnung vorgesehen: das Bankett, zu dem Agamemnon den Achill einladen muß, auch wenn dieser keine Lust hat anzunehmen. Odysseus hatte ihm gesagt (vv. 179 s.): „Endlich soll er dich dann im Zelte mit üppiger Mahlzeit / Wieder versöhnen, daß nichts von den schuldigen Ehren dir fehle." Die Einladung zum Mahle dürfte ein wesentliches Element in dem Ritual eines Friedensschlusses gewesen sein. Der Urteilsspruch für Achill, der im übrigen lernen muß, im Ganzen besonnener zu werden, lautet: er beherrsche sich und gebe
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den Soldaten zu essen (vv. 1 5 5 - 7 2 , 2 1 6 - 3 3 : sechsunddreißig Verse mit Anordnungen und Ermahnungen). Achill dürfte dankbar sein, so billig davonzukommen: statt dessen - während Agamemnon den ihn betreffenden Spruch sofort und gutwillig annimmt - weigert sich Achill zunächst, ihn anzunehmen, und am Ende antwortet er nicht auf die letzten Worte des Odysseus (ν. 237). Schlecht und recht ist es dem Dichter, indem er den einzigen sich ihm bietenden Vorwand heranzog, gelungen, das Gleichgewicht wiederherzustellen und uns einen unparteiischen Richter in seiner Strenge zu zeigen. Die Einführung der Gestalt des Richters in die Ilias dürfte großenteils unabsichtlich geschehen sein. Der Dichter wollte eine Versöhnung, um sie als gutes Beispiel seinem Publikum vorzuführen, und er hat sie in Szene gesetzt, indem er so weit wie möglich der Gesamtlage in der Ilias Rechnung trug. Aber, abgesehen von dem „poetischen" Widerspruch zwischen diesem Schluß und der ursprünglichen Entwicklung des Zwistes, hat er sich an die ihm geläufige Verfahrensart gehalten, hat er die gegenseitige Stellungnahme Achills und Agamemnons verändert, indem er sie in unerwartet versöhnlicher Haltung präsentiert, und hat er Odysseus Befugnisse zugeschrieben, die ihm in der Ilias nicht zukommen. Diese ganze Episode stellt sich der bekannten Szene auf dem Schild des Achill an die Seite (Ii. XVIII, 497-508), wo zwei Männer im Streit um den nach einem Mord zu bezahlenden Blutpreis sich vor dem versammelten Volk und den Alten an den Richter auf dem Marktplatz wenden. Wir sind hier in einer Welt, die nicht viel von der Welt Hesiods verschieden ist: dieser kennt keine staatlichen Einrichtungen, kennt aber auch nicht einmal die Volksversammlung, die bei Homer solch große Bedeutung hat (die Versammlung wird nur in Theogonie 430 erwähnt, an einer mehr als zweifelhaften Stelle). Seine ganze Welt wird dagegen von der Gestalt des aristokratischen Richters beherrscht (jetzt hat basileus diese Bedeutung), von dessen Gerechtigkeit Gedeihen oder Verderb der Gemeinschaft abhängt. Der von den Musen inspirierte Richter hat sanftmütige Rede, ist
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schnell und unfehlbar im Beilegen auch der schwersten Zwistigkeiten; alle sehen auf ihn, wenn er auf dem Markte mit milden Worten begangenem Unrecht mühelos abhilft (Theogonie 80-90). Im Gesamtbilde des Epos betrachtet, verblüfft die „Versöhnung", wie wir sagten, den Leser. Sie mag als happy end des Zornes des Achilleus befriedigen, aber wir müssen den Dichter preisen, der die Ilias in einer Tragödie hat enden lassen. Im I. Gesang haben wir gesehen, daß Agamemnon und Achill, wenn sie sich auch formal im Rahmen einer gewöhnlichen Heeresversammlung halten, nicht nur „eines Mädchens wegen" streiten: jener überschreitet die Grenzen der ihm zugestandenen Befugnisse, dieser will sich nicht als den anderen gleichgestellt bekennen und erst recht nicht als dem Oberbefehlshaber untergeordnet. Hier gibt es keinen königlichen Richter, der die Wogen besänftigen könnte, sondern nur eine Versammlung, die wenig ausrichten kann; eine Vermittlung versucht der arme Nestor, der wie gewöhnlich mit seinen Ermahnungen kein Glück hat (vielleicht hat deshalb der Verfasser der „Versöhnung" es vermieden, Nestor als Richter aufzurufen und den weniger kompromittierten Odysseus gewählt). Das mit der „Versöhnung" wiederhergestellte Gleichgewicht ist sehr labil, und tatsächlich verhandelt Achill im letzten Gesang, der folgerichtig die Voraussetzungen der ursprünglichen Version von der Geschichte des Zornes des Achill wieder aufnimmt, mit Priamos, ohne sich um Agamemnon und die Heeresversammlung zu kümmern, indem er ganz bewußt hinter ihrem Rücken vorgeht (XXIV, 650-55): „Bette dich draußen, mein Alter; es könnte vielleicht ein Achaier Hierher kommen, ein Fürst vom Rate; sie pflegen gewöhnlich Rat zu halten bei mir im Zelte: so ist es gebräuchlich. Sähe dich einer davon im Dunkel der Nacht, der geschwinden, Sicher verriet' er dich gleich dem Hirten des Volks Agamemnon, Und verzögert würde dann wohl die Entlassung des T o t e n . . . "
Hier hat Achill endgültig seine unabhängige und einsame Stellung gefunden - zwischen seiner bewaffneten Volksgemeinschaft und dem König seiner Feinde. Es ist unerfindlich, wie dieses stolze,
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rebellische Betragen sich mit der erbaulichen Nachgibigkeit des Achilleus aus der „Versöhnung" vereinbaren ließe. Der letzte Gesang mag spät an das Epos angefügt sein, aber er führt zu einem Schluß, der - so melancholisch er auch ist - der beste und folgerichtigste ist, den man sich denken kann. Wir sind uns wohl bewußt, daß wir jetzt eines jener beklagenswerten Geschmacksurteile aussprechen, die die Kritik vorläufig vermeiden sollte, aber wir müssen trotzdem sagen, daß für uns der homerische Achill der des letzten Gesangs ist, während der gesittete Achill aus der „Versöhnung" schon einer anderen Welt angehört - der ordnungswilligen Welt des hesiodischen Ideals. Um zusammenzufassen: die Ilias, die schließlich nur von einem begrenzten und kurzandauernden Kriegsereignis berichtet, hat Teile, die in verschiedenen sozialen Lebenskreisen entstanden zu sein scheinen, doch im Wesentlichen zeigt sie uns eine Welt, die in ihren Hauptzügen bestimmt werden kann, wenn sie auch sehr vielschichtig ist: eine Volksgemeinschaft, die von primitiven demokratischen Ordnungen beherrscht wird, die von mykenischen Erinnerungen verschönt ist, und die schon aus dem Gleichgewicht gebracht ist durch das Emporkommen von Persönlichkeiten, die dank eigener Verdienste privates Gut anhäufen und entsprechende soziale Vorrechte beanspruchen - von Persönlichkeiten, die als Gruppe danach streben, sich zwischen König und Versammlung als eine Art aristokratischen Rates einzuschieben, während der von der Allgemeinheit anerkannte Führer, jener, der „mehr König" ist als die anderen, versucht, eine Befugnis, die ihm die Versammlung vorübergehend erteilt hat, in eine dauerhafte Macht umzuwandeln. Hier haben wir im Keim den Konflikt zwischen Adelsherrschaft und Monarchie, der die folgende Zeit charakterisieren und fast überall die Aristokratie zur Herrschaft bringen sollte. Eine primitivdemokratische Form von Monarchie lebte noch bis ans Ende der klassischen Zeit nur in den Randgebieten der griechischen Welt fort, ζ. B. bei den Molossern in Epirus; anderswo hielt sich der Königstitel, um Beamte mit zeitlich beschränkter Gewalt, die verschiedenen Kontrollen unterworfen waren, zu bezeichnen, oder
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Häupter der noch übriggebliebenen Familienverbände, dort, wo diese fortfahren, im Rahmen der neuen politischen Ordnungen mehr oder weniger eine Scheinexistenz zu führen, oder auch einfache Kultdiener. Odyssee: Die Beweggründe der Freier In der Odyssee erweitert sich der soziale Rahmen, und hier und da tauchen modernere Elemente auf.23 Sie beschreibt auch menschliche Gemeinschaften, die in Frieden leben, doch bietet sie deshalb nicht etwa ein schärferes Bild. Während in der Ilias der Kern der Verwicklung verhältnismäßig klar ist und schon der Kriegszustand selbst den Konflikt zwischen Agamemnon und Achill sich überstürzen läßt und ihn sofort auf seine Grundsubstanz zurückführt, spiegelt sich in der Odyssee die Verschiedenheit der beschriebenen Lebenskreise und der in der Geschichte von der Heimkehr des Odysseus zusammengeflossenen Quellen in einem mehr als komplizierten und widerspruchsvollen Bilde der menschlichen Beziehungen. Das Schlachtfeld vor Troia war ein begrenztes, allen gemeinsames Gelände, auf dem die verschiedenen Helden, sei es in der Versammlung oder im Kampf einander unmittelbar gegenübergestellt wurden; die Geschehnisse der Odyssee dagegen spielen sich auf verschiedenen Niveaus der menschlichen Gesellschaft ab, und die Irrfahrten des Protagonisten führen uns sogar in geheimnisvolle Bereiche der Fabel und der Folklore. Auch das zentrale Thema der Odyssee entwickelt sich aus einer ungewöhnlichen „politischen" Situation, die mit großem Realismus beschrieben wird, obschon es sich von dem häufig vorkommenden Motiv des totgeglaubten Heimkehrers herleitet, der sich an denen rächt, die seine Güter und die treue Gattin bedroht haben. In den langen Jahren der Abwesenheit des Odysseus (im Ganzen dürften es zwanzig sein) vertritt ihn niemand in seinem Amt. Die Freier der 23 Über die Gesellschaft in der Odyssee siehe vor allem Μ. I. Finley, „The World of Odysseus", New York 1954; neue durchgesehene Auflage, London 1956; Neudruck (mit Revision) Harmondsworth 1967.
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Penelope können trotz ihrer Zahl, und obgleich sie auf keinen organisierten Widerstand treffen, ihren Willen nicht durchsetzen: die ungeschriebenen Gesetze des primitiven demokratischen Zusammenlebens werden also noch respektiert, und zwar so sehr, daß der fortziehende „König" nicht einmal einen Stellvertreter oder Hüter der Ordnung zurückzulassen braucht. (Dem Freund Mentor hat er nur die Aufsicht über das Haus und die Familie übertragen: II, 225-27.) Auch wenn wir den Anforderungen der Sage reichlich Spielraum lassen, müssen wir zugeben, daß diese Gemeinde beträchtliche Fähigkeiten zur Selbstverwaltung hat, und daß der „König" nicht viele Befugnisse haben dürfte, die nicht reine Ehrentitel sind, wenn die Dinge reibungslos auch während einer so langen Abwesenheit weiterlaufen. Unannehmlichkeiten entstehen nur in seinem Hause, wo die Freier sich einnisten und mit den vorgefundenen Gütern sich gute Tage machen können: wenn sie das aber können, so will das heißen, daß die Gemeinschaft oder ihr priviligierter Teil den Königspalast mit seinen Vorratskammern als ihr Eigentum betrachtet. Den Freiern wird nur vorgeworfen, sie seien unhöflich und lästig. Sie bilden eine Art von Adel, aber es ist noch ein Adel, der nicht als Klasse nach Macht strebt, der nicht die herkömmlichen Ordnungen durch eine wirkliche Revolution umstürzen will; die Freier verlangen ja nur, daß einer von ihnen der Nachfolger des Odysseus werde und das Amt seines verschollenen Vorgängers übernehme. Die primitive Monarchie ist vorläufig nicht in Frage gestellt. Ihr größter Fehler ist, daß sie glauben, Odysseus sei für immer verschwunden, daß sie nicht das Ahnungsvermögen der Penelope haben, und daß sie nicht deren Hoffnungen hegen. Die Stellung Penelopeias ist nicht zu erklären und zeigt, daß ihre Geschichte verschiedene Phasen durchgemacht hat. Nach dem, was an einigen Stellen gesagt wird, hängt alles nur von ihr ab: augenscheinlich würde ihre Zustimmung oder ihre Wahl genügen, um Ithaka einen neuen König zu geben, oder es würde die List mit ihrem Gewebe genügen, um dem Drängen der Freier standzuhalten; in all dem haben einige Gelehrte Spuren des Matriarchates finden wollen.
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Oder-wie es noch häufiger heißt-Penelope wird zu ihrer Familie zurückkehren oder zurückgesandt werden, die für eine neue Vermählung sorgen wird (Od. I, 276 ss.; II, 53 s., 1 1 4 ; XIX, 533). "Wenn die Freier durch den Mund des Eurymachos (II, 194 ss.) gerade diese Lösung vorschlagen, die Telemach nicht annehmen will, so möchte man meinen, daß Penelopes Vater - entweder nach seinem Willen oder nach ihren Wünschen - über die Nachfolge und die „Krongüter" bestimmen könne. Aber das ist in der Odyssee unmöglich. Während Telemach sich in Sparta aufhält, eilt Athena gerade zu ihm, um ihn zu benachrichtigen, daß Vater und Brüder Penelope zwingen oder überreden wollen, Eurymachos zu heiraten (XV, 1 5 ss.). An anderer Stelle aber liegt die Entscheidung bei Telemach. Einmal ζ. Β. (XX, 334-37), als der Prätendent Ahelaos ihn auffordert, die Mutter zu einer neuen Heirat zu überreden, da antwortet Telemachos, er wolle sie nicht zwingen oder aus dem Hause jagen. Das er es tun könnte, geht aus der autoritären Stellung hervor, die er im Epos sichtlich seiner Mutter gegenüber einnimmt. Sicher wissen wir, daß die Frage der Nachfolgerschaft als offen angesehen wird, und daß es keine verfassungsmäßigen Vorschriften über die Benennung und die Wahl des Nachfolgers gibt. Bei einer Bestätigung des Todes des Odysseus dürfte die Entscheidung im Prinzip bei der Volksversammlung liegen, wahrscheinlicher aber von einer Einigung der Prätendenten oder einem Kampf unter ihnen abhängen: auf alle Fälle würde sie sich praktisch innerhalb der priviligierten Gruppe abspielen. Wäre dagegen Odysseus nicht abwesend, so hätte sicherlich Telemach die meiste Aussicht auf die Nachfolge; augenblicklich aber ist das Streben nach Erblichkeit unwirksam. Daß die Weitergabe eines Amtes im Erbgang aus Gewohnheit, nicht aber aus Prinzip geschieht, ist im I. Gesang klar gesagt. Nachdem Telemach sein steigendes Mißbehagen an der Lage der Dinge ausgedrückt hat, sagt Antinoos zu ihm: „Trotzdem soll der Kronide zum König auf Ithakas Insel / Nicht grade dich erheben, obschon du vom Vater es erbtest" (I, 386 s.). Telemach antwortet ihm, er möchte König werden, falls Zeus es ihm gewähre (vv. 392-98):
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„Herrschen als König ist wirklich kein Übel; da häufen gar rasch sich Güter im Haus und er selbst steigt höher an Ehre und Würde. Freilich viele und andre achaiische Könige gibt es, Junge und alte, die mitten im Meere auf Ithaka herrschen, Mancher wohl kann es erreichen, es starb ja der hehre Odysseus. Ich aber herrsche in unserem Haus, über unsere Diener, Die mir der hehre Odysseus erbeutet, und bleibe der Herrscher."
Hier wird das Wort „Könige", βασιλήες, an ein und derselben Stelle in dem doppelten Sinne als Regent einer großen Gemeinschaft und als Haupt eines vornehmen oder adligen Hauses gebraucht. Interessant ist in den Worten Telemachs die Unterscheidung zwischen den Reichtümern, die ihm als Nachfolger des Odysseus zustehen würden und denen, die er auf alle Fälle behalten wird, weil der Vater sie sich in persönlichen Waffentaten oder Geschäften erworben hat. An diese letzteren will ihm niemand rühren. Eurymachos antwortet dem Telemach (vv. 402-04): „ D u doch behältst, was du hast, und herrschst im eigenen Palaste. Komme doch keiner hierher, solang noch ein Ithaka da ist, Daß er zum Trotz und gewaltsam dir Güter und Habe entreiße."
Dies ist das Vermögen, das auf Zügen gegen nahebei wohnende Stämme erworben worden ist; es entspricht den Gütern, die in der Ilias Achill auf seinem Schiffe hat, und über die weder die Heeresversammlung noch Agamemnon irgendwelche Kontrolle haben. Diese Unterscheidung kehrt genau in den Worten des Odysseus am Ende des Epos wieder, wenn er mit Penelope über die Wiederbeschaffung seines Eigentums spricht (XXIII, 355-57): „Aber die Schafe, die übermütige Freier verringert, Werde ich selber durch Raub mir reichlich ergänzen; die andern Geben mir dann die Achaier, bis alle Gehöfte gefüllt sind."
Z u den vom Volke bewilligten „Krongütern" gehört außer den Herden, den für die Gastmähler und Opfer notwendigen Dingen und besonderen Stücken aus der Kriegsbeute auch ein eigenes, zum persönlichen Gebrauche bestimmtes Grundstück (temenos), 9
Codino, Homer
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das beim Tode oder bei der Entsetzung des Königs auf seinen Nachfolger übergeht. Der persönliche Genuß eines Landgutes war ein so ungewöhnliches Vorrecht, daß er als das eigentliche Symbol des königlichen Ranges angesehen wurde. In der Ilias sagt Sarpedon (XII, 3 1 0 - 1 4 ) , um diese Stellung zu umreißen und Glaukos daran zu erinnern, daß sie dazu verpflichtet seien, sich im Kampfe hervorzutun: „Glaukos, warum doch ehrte man uns besonders vor andern Immer durch Sitz und Fleisch und vollgegossene Becher Unter dem Lykiervolk, auf uns wie Himmlische blickend? Auch bebauen wir weites Land [temenos] am Ufer des Xanthos, Reich mit Bäumen bestellt und weizentragenden Äckern."
Und als Odysseus in der Unterwelt seine Mutter trifft und sie fragt, ob schon jemand seine Stelle eingenommen und Penelope geheiratet habe, da beruhigt ihn Antikleia mit diesen Worten (XI, 184 -86): „Doch deine herrliche Würde hat keiner noch angetastet. Ruhig zehrt von den Gütern [temenea] Telemachos, geht zu Gelagen, Wie sichs gebührt..."
Solange man keinen Nachfolger ernennt, verbleibt die Familie des abwesenden Königs im Genuß des „Krongutes". Hier scheint es, als dächte Odysseus nicht einmal an Telemach als seinen möglichen Nachfolger, und er hat allen Grund anzunehmen, daß die Dinge einen bösen Verlauf genommen hätten. Auch in der Odyssee ist demnach die königliche Macht nicht erblich und alles andere als absolut: sie beruht auf einem jetzt bedrohten Gleichgewicht der Kräfte. Wir haben gesehen, daß die Prätendenten im Grunde noch keine Usurpatoren sind und die alten Spielregeln nicht umstoßen. Als aber Odysseus zurückkehrt, da kommt er nicht automatisch wieder in den Besitz seiner Macht: er greift zu Gewalt, handelt für sich allein, ohne Hilfe von außen. Es ist wahr, daß wir gegen den Schluß des Epos ins Reich der Fabel kommen. Ein gar zu anspruchsvoller Leser könnte sich fragen, ob
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es unbedingt nötig sei, den Freiern ein so grausames Ende zu bereiten. Schließlich haben sie sich doch als Ehrenmänner betragen und geduldig so lange Zeit gewartet, ohne die Nachfolgerschaft zu erzwingen, wenn sie auch mit den halb-öffentlichen Gütern in Saus und Braus gelebt haben (diese dürften aber doch großenteils für die Bankette bestimmt gewesen sein, die der König den angesehensten Gemeindegliedern gab). Wäre es aber zu einer Usurpation gekommen, so hätte sich unter denselben in der Odyssee beschriebenen Verhältnissen in einem realeren Ithaka Odysseus sicherlich stärkere Verbündete als einen Sauhirten und einen Viehhüter verschafft, anstatt seine erstaunliche Rache fast alleine durchzuführen. Die Wahl dieser bescheidenen Figuren ist aber durchaus begründet. Der natürliche Verbündete eines Königs gegen den Adel dürfte gerade das Volk sein, die Masse der Besitzlosen, die das Gros der jetzt entmachteten Versammlung bildet, und das in der Odyssee beginnt, sein Gewicht als selbständige Klasse zu bekommen. Lassen wir aber die hypothetischen Konstruktionen beiseite und betrachten wir die Tatsachen. In dem Gespräch, das dem Erkennen des Odysseus durch Telemachos vorausgeht, fragt der falsche Bettler seinen Sohn, wie er den Freiern nicht habe widerstehen können (XVI, 95-98): „Sage mir, läßt du dich willig so knechten? oder verachten, Weil eines Gottes Stimme sie folgen, im Volk dich die Leute? Hast du vielleicht deine Brüder zu tadeln, auf die doch im Kampfe Fest ein Mann sich verläßt, und gäb es ein mächtiges Streiten."
Das ist eine ganz natürliche Frage, die auch Nestor an Telemach gerichtet hat (III, 214 s.). Theoretisch wird die Königswürde vom Volke verliehen, und wenn auf Ithaka ein wirklich primitiv-demokratisches Regiment herrschte, so müßte die Volksversammlung für oder gegen Telemach entscheiden. In diesem besonderen Falle müßte die Versammlung sich über den vermeintlichen T o d des Odysseus beraten und seinen Nachfolger ernennen - entweder Telemachos oder einen anderen Kandidaten. Sie trifft keine Entscheidung, vor allem, weil die Fabel ihren Verlauf nehmen muß. 9*
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Aber die Beziehungen zwischen den auf Ithaka herrschenden Kräften sind mit bemerkenswertem Realismus beschrieben, und man kann mit wünschenswerter Klarheit den Stand der Dinge so sehen, wie der Dichter sie im Sinne hat. Die in den zitierten Worten des Odysseus enthaltene Alternative ist sehr aufschlußreich. Das Volk haßt Telemach nicht, unternimmt aber auch nichts, weil es im Grunde neutral bleibt oder weil es, wenn es den Freiern feindlich gesinnt ist, sie doch schließlich nicht verurteilen kann, denn sie bilden eine zu starke Gruppe und fügen wir hinzu - sie haben noch nichts „Ungesetzliches" begangen, wie wir schon sagten. Ein Eingreifen des Volkes zu Gunsten Telemachs könnte geradezu als Anmaßung erscheinen. Die Freier sind vielleicht zu einem „illegalen Akt" versucht, aber diese einfache Versuchung ist weniger umstürzlerisch als der Gedanke, der Odysseus die letzten Worte der oben zitierten Stelle aussprechen läßt: Telemach hat keine Brüder, hätte er aber welche und könnte er auf ihre Hilfe rechnen, so wäre er Herr der Situation. Odysseus denkt also an die Aufrechterhaltung der Macht mit privaten und gewaltsamen Mitteln, das heißt: er denkt, daß dies der Ausweg sei, falls die Unterstützung durch das Volk ausbleibt. Es ist verständlich, daß die Freier in der ganzen Odyssee als die Opfer erscheinen müssen, die einer gerechten Rache verfallen werden: so verlangte es die Sage. Aber in seiner Beschreibung der auf Ithaka bestehenden Kräfteverhältnisse gelingt es dem Dichter nicht zu beweisen, daß sie völlig im Unrecht seien: mehr als alles andere beschränkt er sich darauf, die widerwärtigen Seiten ihres Betragens und ihre schlechten Manieren ins Licht zu rücken; und er kommt zu diesen moralistischen Urteilen, die in der Ilias so selten waren. In dem Gespräch mit Telemach, das wir hier untersuchen, zählt Odysseus folgendermaßen die Verfehlungen der Freier, vielmehr „das schurkische Treiben", mit dem sie sich beflecken, auf (108-10): „Wie sie die Fremden mißhandeln und wie sie die dienenden Weiber Ohne Gefühl für Anstand zerren im schönen Palaste; Wie sie den Wein da verschütten, die Speisen verzehren nur so drauf Los . .
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Die gleichen Worte werden von Telemach X X . Gesang vv. 318 s. wiederholt. Lassen wir die Mägde beiseite, von deren Moral Odysseus sich überzeugen kann, als er in der Vorhalle schläft und einem munteren nächtlichen Hin und Her beiwohnen muß (XX, 5-13). Es ist wahr, daß am Ende Eurykleia dem Odysseus berichtet, die Bilanz sei einigermaßen beruhigend: auf fünfzig Mägde kommen zwölf „schamlose", die mit dem Tode bestraft werden müssen, aber gerade diese Unterscheidung und die Bestrafung der Schamlosen zeigen, daß die Freier sich nicht wirklichen Ausschweifungen hingegeben haben. Brot und Wein kamen, wie gesagt, von der Gemeinde und waren für die üblichen repräsentativen Bankette bestimmt, die in erster Linie hervorragenden Bürgern gegeben wurden: es mag eine Taktlosigkeit sein, wenn diese sich zur Tafel setzen, während der Platz des Königs leer bleibt, doch letzten Endes ziehen sie nur aus einer Gewohnheit Nutzen. Die Mißhandlungen der Gäste - wenn sie wirklich stattgefunden haben - sind dagegen eine schwere Schuld, schwer vor allem, weil sie das Haus des Königs gerade als öffentliche Stätte befleckt und deshalb auf die ganze Gemeinde zurückfallen müßte. Hier verlassen wir das problematische Gebiet eines allgemeinen Moralismus und kommen in die Sphäre jener sozialen Pflichten, die in der Odyssee genau so wie in der Ilias unbedingte Gültigkeit haben: in einer Gesellschaft, in der man keine geschriebenen Gesetze anrufen kann, und w o der Einzelne nur auf den Schutz durch seine Stammesgenossen zählen kann, ist die Ehrfurcht vor dem wehrlosen Gast eine heilige Pflicht. Homer weiß das sehr wohl, so sehr, daß er nach dem Mord in dem Bewußtsein, dies sei das einzig angemessene Motiv für so viel Blutvergießen, Odysseus sagen läßt, die Freier hätten ein solches Ende genommen, weil sie die Gäste nicht respektierten. Eurykleia will mit Jauchzen die Freude bezeugen, die sie beim Anblick der Körper der Niedergemetzelten empfindet, aber Odysseus heißt sie schweigen (XXII, 4 1 1 - 1 6 ; denselben Gedanken äußert später Penelope: XXIII, 65 s.):
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Die Welt Homers „Alte Frau, nicht jauchzen! halt ein, sei froh im Gemüte! Nicht ist es heiliger Brauch vor den Leichen Gefallner zu prahlen. Diesen da brachte ihr dauerndes Treiben und göttliches Schicksal Endlich Vernichtung. Keinem irdischen Menschen, der herkam, Mochte er gut oder schlecht sein, pflegten sie Ehre zu zollen. Darum folgte dem törichten Frevel das häßliche Schicksal."
Diese Worte werden in einem feierlichen Augenblick ausgesprochen und stellen den höchsten Grad der moralischen Anschauungen Homers dar. Uber den Getöteten darf man nicht frohlocken, nicht einmal, wenn ihre Niedermetzelung ein Akt der Gerechtigkeit war der göttlichen Gerechtigkeit, als deren bloßes Werkzeug Odysseus sich betrachtet. Hier hat Odysseus das Brot und den Wein, die Mägde und auch die versuchte oder anzunehmende Usurpierung seiner Herrschaft vergessen. Wie man sieht, wechseln die Begründungen für das Blutbad. Es taucht auch die Idee von der göttlichen Gerechtigkeit auf, durch schuldhafte Taten herbeigerufen, die nicht unmittelbar den „politischen" Konflikt betreffen; aber sie erscheint nur wie ein gelegentliches Stichwort, das sicher nicht als ein Hauptmotiv im Epos angesehen werden kann. In einer anderen Episode sieht es sogar so aus, als wollten die Götter über das individuelle Schicksal der Freier entscheiden, je nach den guten Werken, die zu vollbringen sie bereit sind. Athena veranlaßt den Bettler Odysseus, sie um die Reste ihres Brotes zu bitten: „Damit möge er prüfen, wer ordentlich sei und wer zuchtlos" (XVII, 363); trotzdem wird die Möglichkeit zur Rettung, die sich einigen von ihnen zu bieten scheint, von dem folgenden Vers aufgehoben: „Aber sie wollte auch so nicht einen erretten vom Unheil." Im nächsten Gesang behandelt Amphinomos den Odysseus höflich; dieser lobt ihn und wünscht ihm, ein Gott möge ihm erlauben, wie er es verdient, dem Tode zu entgehen, wenn der Augenblick der Rache gekommen sein wird: „Trotzdem verfiel er dem tötlichen Schicksal: gestellt von Athene / Traf ihn vernichtend der kraftvolle Speer aus Telemachos Händen" (XVIII, 155 s.: die Tötung des Amphinomos wird später im XXII. Gesang vv. 89-98 er-
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zählt). Niemand rettet sich, denn das Volksmärchen von der Rache des Heimkehrers sah keine Unterscheidung zwischen Guten und Bösen vor; interessant sind aber jene vereinzelten Ansätze zu der neuen Vorstellung von einer göttlichen Gerechtigkeit, die sorgfältig die Verantwortung des Einzelnen prüft und Gnade nicht ausschließt. Wir sahen, daß beim Entwerfen des Racheplanes der Dichter (oder die Dichter) einige Unsicherheit zeigt, wenn er von den Übeltaten der Prätendenten sprechen muß. Das „politische" Motiv genügte nicht, und so sind die Ersatz-Motivierungen eingeführt worden, von denen wir sprachen. Zu diesen werden noch hinzugefügt der Versuch der Freier, Telemach zu töten, die Mißhandlungen des Odysseus, des unbekannten Bettlers, selbst und der Wahnsinn, der zuletzt ihren Verstand trübt und sie in das magische und halluzinierende Gelächter ausbrechen läßt (XX, 345-49). Alles Dinge, die genügen, um sie in schlechtes Licht zu setzen und den Mord zu rechtfertigen, die aber erst geschehen, als die Rache schon beschlossen war. Die andere Seite: Odysseus und das Volk Nachdem wir so diese armen Freier von fast all den Übeltaten freigesprochen haben, die ihnen zur Last gelegt werden, kehren wir zu der Lage des Odysseus zurück, der die Herrschaft mit privaten und gewaltsamen Mitteln zurückerobern will oder muß. Der Konflikt hätte keinen privaten Charakter, wenn das einzige vorhandene öffentliche Machtmittel funktionieren würde - die Volksversammlung. Die Versammlung ist auch auf Ithaka eine geregelte Einrichtung; man kann sich fragen, warum Odysseus, dem sicherlich alle wohlwollen, bei seiner Rückkehr ins Vaterland nicht als erstes die Versammlung zusammenruft und sich nicht gegen die Prätendenten an die Spitze der Mehrheit setzt. Bei seiner Kriegserfahrung hätte er leichtes Spiel mit einigen adligen Taugenichtsen. Das sagen wir natürlich im Scherz: der Reiz der Geschichte besteht in der Tat des Einzelnen mit der Erkennung des Helden am Schluß.
Die Welt Homers
Trotzdem sehen wir, daß i . ein Bündnis zwischen dem König und dem Volke prinzipiell möglich ist und daß andererseits 2. die Volksversammlung von Ithaka, wenn sie zusammentritt, nur noch als manövrierbare Masse dient. Im II. Gesang hält sie ihre erste Zusammenkunft nach der Abfahrt des Odysseus ab. Telemach beruft sie ein; doch auch hier kann, wie in der Ilias, jeder beliebige sie einberufen; tatsächlich fragt Aigyptios: „Wer hat geladen?" (v. 28). Telemach hält eine jugendlich impulsive, doch wohlüberlegte Rede. Er sagt: ich würde die Freier davonjagen, „wenn die eigenen Kräfte genügten" (v. 60). Dann wendet er sich an die Gemeinde (vv. 64-79): zürnt euch endlich selber, tut etwas, sei es aus Scham vor den Nachbarn, sei es aus Angst vor einer göttlichen Strafe, die audi euch treffen würde - jedenfalls wenn ihr nicht etwa durch meinen Vater Unrecht erlitten habt und mit den Freiern gemeinsame Sache macht. Ich würde es vorziehen, so schließt Telemach, daß ihr Leute aus dem Volke meine Güter und meine Herden aufzehrtet: in diesem Falle würdet ihr sie mir wiedererstatten. „Für mich wär es immer noch Vorteil, Wollet dafür ihr mein liegendes Gut und die Herden verzehren. Äßet ihr selber sie auf, dann fände wohl auch die Vergeltung Irgend ein Ende: Wir könnten die Stadt als Bettler durchziehen, Geld uns mit werbenden Worten verschaffen, bis alles bezahlt ist."
Das bedeutet: alles, was im Königspalast von irgend jemandem, Einheimischen oder Fremden, verzehrt wird, ist vom Volke geliefert worden. Einmal sagt das auch Alkinoos, der Herr der Phaiaken, der dem Odysseus die reichen Geschenke aufzählt, die er ihm geben wird, und dann, in Gegenwart des Gastes, seine Rede ruhig mit diesen an die anderen Fürsten gerichteten Worten beschließt (XIII, 1 3 - 1 5 ) : „Also wohlan! Einen stattlichen Dreifuß nebst einem Becken Spende jeder dazu. Wir sammeln Ersatz uns im Volke. Bitter wäre es doch, wenn Einer umsonst ihn beschenkte."
Auch die von den Freiern verzehrten Güter stammen von der Gemeinde, die die Lücken in den Vorratskammern auffüllen müßte,
Die andere Seite: Odysseus und das Volk
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und so wird es zuletzt auch kommen, wie Odysseus zu Penelope in der schon erwähnten Stelle sagt (XXIII, 355-57). Aber Telemach ist sich hier einer neuen Situation bewußt, der verhältnismäßigen Privatisierung des Konfliktes zwischen Königshaus und Adel; es ist eine Zeit der „Sedisvakanz", während der die Prätendenten nach ihrem Belieben über die Habe des Odysseus, das heißt: über die halb-öffentlichen Güter verfügen, und das Volk läßt alles aus Trägheit oder aus Schwäche oder aus Solidarität mit ihnen geschehen. Wenn die Sage nicht dem ihr vorgeschriebenen Laufe bis zum Mord zu folgen hätte, so müßte diese neue Lage der Dinge am Ende genau in der Weise gelöst werden, die Eurymachos nach der Tötung des Antinoos anrät (XXII, 54-59): Odysseus müßte seinem Volke verzeihen, das ihn als Gesamtheit für die erlittenen Verluste entschädigen wird, und außerdem wird jeder der Freier von sich aus ihm als Strafgeld zwanzig Ochsen, Bronze und Gold geben. Eurymachos unterscheidet die Verantwortlichkeit des Antinoos, des Hauptes der Prätendenten, von der der übrigen Freier und von der des Volkes. Antinoos, so sagt er, „Jetzt erhielt er sein Teil, er ist tot: doch verschone die Leute! Wir aber bringen dir späte Vergütung aus allen Bezirken. Alles, was hier im Palast wir veraßen und was wir vertranken, Jeder zahlt dir für sich eine Buße, die zwanzig Rinder Wert ist; wir aber werden dir Erz und Gold dazu spenden; Warm soll dir werden ums Herz; deinen Groll jetzt verargt dir ja keiner!"
Der Vorschlag ist sehr vernünftig, trotzdem zieht Odysseus es vor, ihn nicht zu diskutieren und mit dem Gemetzel zu beginnen. Nachdem Telemach - immer in der Versammlung des II. Gesanges, die wir untersuchten - gesprochen hat, legen die Freier ihre Gründe dar, und alles bleibt, wie es war. Am Schluß der Versammlung sagt der gute Mentor in der Erkenntnis, daß der Konflikt ein Privatstreit geworden ist: ich zürne nicht den Freiern, die ihren Kopf aufs Spiel setzen in der Hoffnung, daß Odysseus nicht zurückkehre, und er fährt fort (II, 2,39-41):
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Die Welt Homers „Nein! Jetzt zürn ich dem anderen Volk! Wie sitzt ihr denn alle Hier und fehlt euch die Sprache und keiner packt mit der Rede Dieses Häuflein von Freiern und hemmt sie; ihr seid doch so viele."
Man beginnt über das Kräfteverhältnis zu diskutieren - ein schlechtes Zeichen; und Leiokritos kann als Realpolitiker entgegnen, daß bei der Passivität und Neutralität des Volkes das zahlenmäßige Ubergewicht in Wirklichkeit auf Seiten der Freier ist. So ist die Situation von allen Seiten her klargestellt. Die Möglichkeit, daß das Volk eingreift, scheint - zur Beunruhigung der Freier - greifbarer, nachdem der Anschlag auf Telemachos mißglückt ist. Jetzt ist es Antinoos, der die Tatsachen darlegt: Telemach hat angefangen, unerwartete Proben seiner Fähigkeiten zu geben, das Volk steht nicht mehr auf unserer Seite; wir müssen handeln, ehe Telemach die Versammlung zusammenruft, sonst wird das Volk uns schlimm zurichten und uns aus dem Lande jagen (XVI, 371-82). Trotz aller Eindringlichkeit, mit der der Dichter auf den Fehlern der Freier besteht, haben wir gesehen, daß die „politischen" Beweggründe des Odysseus diskutabel sind. Sein Handeln bleibt bis zuletzt ein schillerndes Mittelding zwischen der rechtmäßigen Wieder-Ubernahme der Macht und der privaten Rache. Wenn er auch sagt, er sei sicher, vom Volk ohne weiteres außer dem Amt auch die aufgezehrten Reichtümer zurückzuerhalten, so hütet er sich nach dem Freiermord doch sehr wohl, in der Öffentlichkeit zu erscheinen und den Justizvollzug zu verkünden; stattdessen trifft er seine Vorsichtsmaßregeln für den zu erwartenden Privatkonflikt mit den Familien der Getöteten und ermahnt Telemach (XXIII, 118-22): „ W e r auch immer im Volk einen einzigen Mann nur erschlagen, Obendrein, wenn nicht viele er hat, die ihm hinterher helfen Fliehen muß er und fort von Verwandten, vom Land seiner Heimat. Wir doch erschlugen von Ithakas Söhnen weitaus die Besten, Tragende Stützen der Stadt; ich heiße dich daran zu denken!"
Endlich wird sich Odysseus dessen bewußt, daß er sich große Unannehmlichkeiten verschafft hat, oder vielmehr: der Dichter, der in
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realistischer Weise nach den Begriffen seiner Zeit die wunderbare Rache des Heimkehrers aus der Sage begründet hat, merkt jetzt, daß sein Held mehr oder weniger zum Verbrecher geworden ist. Die Verwicklung kann nur noch durch einen im rechten Augenblick erscheinenden deus ex machina gelöst werden, und das hat so gut es geht der Verfasser des letzten Gesanges der Odyssee besorgt: Athena steigt zwischen die beiden Parteien herab und legt einen Friedensvertrag für die Zukunft fest. Dieser Schluß ist sehr zufriedenstellend für den zivilisierten Leser und Odysseus, nicht aber für die Familien der getöteten Jünglinge. In der Odyssee scheint das Volk, als Träger der „politischen" Gewalt, manchmal eine wirkliche Macht darzustellen, häufiger aber erscheint es als eine manövrierbare Masse zwischen König und Adel, die beide immer privatere Stellungen beziehen. Wenn es nicht als Versammlung gesehen ist, so erscheint das Volk hier differenzierter als in der Ilias (die aber, das muß man sich gegenwärtig halten, ein Heer mitten im Kriege darstellt). In der Odyssee tauchen aber auch traditionelle Motive auf, die sich auf eine vom königlichen Hirten regierte primitive Gesellschaft beziehen. Wie in der Ilias Paris in dem Passus von dem berühmten Schönheits-Wettbewerb mit dem Hüten der Herden beschäftigt ist (XXIV, 29), oder wie die Brüder der Andromache, die Söhne des Königs Eetion, neben den Rindern und Schafen getötet werden (VI, 424), so erscheint in der Odyssee der Protagonist stellenweise wie ein patriarchalischer Handwerker-Bauer, in allen Arbeiten beschlagen: aus Not zimmert er sich ein gutes Floß (V, 234 ss.), doch er tischlert sich auch selbst das Ehebett (XXIII, 189 ss.), und einmal erklärt er, daß er tüchtig und ohne zu ermüden mähen und pflügen könne (XVIII, 366 ss.), und er rühmt sich dessen. Hier scheint die soziale Arbeitsteilung erst am Anfang zu sein; wir sind noch weit von der durch Hesiod angekündigten neuen Epoche entfernt, der gezwungen ist, als eine durchaus nicht selbstverständliche Wahrheit zu verkünden: Arbeit bringt keine Schande, die Faulheit aber bringt Schande. {Werke
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Die Welt Homers
In der Odyssee finden sich noch Beispiele von primitiver oder „natürlicher" Spezialisierung der Berufstätigkeit, nicht durch Zweckmäßigkeit oder technische Notwendigkeit bestimmt, sondern durch persönliche Zwangslage: der erste uns bekannte Schmied, Hephaistos, ist lahm; so hatte er eine besondere Erfahrung in der Arbeit an der Esse gewonnen, weil er zu anderen Beschäftigungen nicht taugte. Der Sänger Demodokos ist blind ebenso wie der chiotische Sänger des homerischen Hymnos an Apollon und wie der Homer der Tradition: die Blinden spezialisieren sich auf das Üben des Gedächtnisses. Die in der Odyssee bekannten Handwerke werden von Eumaios aufgezählt als Antwort an Antinoos, der ihm vorgeworfen hat, er habe einen Bettler mit sich gebracht (XVII, 381 ss.): „ W e r geht wirklich selber daran und ruft einen Fremden, Irgendwoher einen anderen, es sei denn ein Mann des Gewerbes [δημιοεργοί]? Sei es ein Seher, ein Arzt für die Übel, ein Meister im Zimmern, Sei es ein göttlicher Sänger, daß singend er Freuden errege. Das sind Sterbliche, die man sich ruft auf der endlosen Erde."
Fügen wir noch den Schmied und den Herold hinzu, so haben wii das vollständige Verzeichnis der Spezialisten, wie sie sich recht wohl in einer noch wesenhaft undifferenzierten Gemeinschaft finden können. Die Odyssee kennt jedoch auch andere Gruppen, die tiefgreifende Veränderungen voraussetzen. Der Bettler ist schon eine typische Erscheinung. Raub und Piraterei sind nicht mehr gewöhnliche, gemeinsame Wirtschaftsunternehmungen, wie Nestor sie im Sinne hat, als er den noch nicht erkannten Gast Telemach höflich fragt, ob er und seine Begleiter Seeräuber seien (III, 72, ss.); jetzt sind Räuberei und Piratenwesen auch private Unternehmen, von Menschen ausgeübt, die aus der Gemeinde ausgestossen worden und deshalb getadelt sind. Die Verse mit der Frage Nestors an Telemach (dieselbe, die Polyphem an Odysseus richtet, IX, 253-55) waren von dem alexandrinischen Kritiker Aristarchos getilgt wor-
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den, weil er nicht zugeben wollte, daß Telemach für einen Seeräuber gehalten werden könne. Aber Thukydides (I, 5) Schloß aus dieser Stelle mit Recht, daß Seeräuberei in alten Zeiten ein ehrenhaftes Gewerbe gewesen sei, oder besser: „es war eine Ehre, es gut zu betreiben", weil es keine mehr oder minder ehrenhaften oder verachteten Gewerbe gab. Schon in der Odyssee sieht man, daß die Dinge sich rasch ändern, vor allem infolge des sich entwickelnden Gegensatzes zwischen Stadt und Land; zunächst gab es kein städtisches Leben, das dem ländlichen entgegengesetzt war, aber eine "Wendung in der Odyssee (XXI, 85): „Törichte Bauern, ihr denkt ja auf nichts als auf gestern und heute" zeigt vielleicht, daß die Abwertung der Bauern anfing sprichwörtlich zu werden. Unter der Landbevölkerung gibt es die Knechte (thetes), die für andere arbeiten und in ebenso unsicheren Verhältnissen wie die Diebe und die Bettler leben; sie stehen auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter. Um die Freier zum Lachen zu bringen, macht Eurymachos dem unerkannten Odysseus folgenden Vorschlag (XVIII, 350 ss.): „Fremdling, hättest du Lust als Knecht auf dem Feld mir zu dienen Draußen am äußersten Ende? Ich nähme dich, lohnte auch reichlich; Dornen wären zu sammeln und lange Bäume zu pflanzen. Nahrung könnte ich dort wohl beschaffen, als wär es für Jahre, Kleider zog ich dir an und Schuhzeug gäbs an die Füße."
Der Scherz des Eurymachos ist grausam: nach der Saisonarbeit konnten die thetes mit einem Almosen - wenn es gut ging - aber ebenso auch mit Stockschlägen entlohnt werden. Ein derartiges Mißgeschick war sogar Poseidon und Apollon widerfahren, die einmal - vielleicht weil sie sich gegen Zeus aufgelehnt hatten - dem Laomedon als thetes hatten dienen müssen, nachdem sie einen Lohn vereinbart hatten; aber am Ende der Saison hatte Laomedon sie einfach davongejagt und außerdem gedroht, ihnen die Ohren abzuschneiden (Ii. XXI, 441-57). Um seine Trauer um das Leben mit eindrucksvollem Nachdruck zu schildern sagt der tote Achill zu Odysseus, der ihm im Jenseits begegnet: ich möchte als thes arbeiten (θητευέμεν, Od. XI, 489):
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Die Welt Homers „ . . . und fronte Dort einem anderen Mann ohne Land und mit wenig Vermögen; Lieber tat' ichs als herrschen bei allen verstorbenen Toten."
„Ein thes, nicht ein Sklave war das geringste Geschöpf auf Erden, das Achilleus sich vorstellen konnte." 24 Die Worte des Achill, das Vorhandensein schon von Gruppen wie den Bettlern, die „für eigene Rechnung" arbeitenden Räuber und vor allem die thetes zeigen, daß die ursprünglichen Gesellschaftsordnungen überwunden sind (wenn sie auch formal noch in Kraft sind, mit den Einschränkungen, die wir in der zentralen Verwicklung der Odyssee gesehen haben), daß der private Besitz von Land, den die entstehende Aristokratie beansprucht, anfängt, von den Gütern und Feldern der Geschlechter große Gruppen von Personen zu vertreiben, die sich jetzt als Arbeitskräfte verdingen oder mit allen Behelfsmitteln von der Hand in den Mund leben oder, wenn möglich, auswandern müssen. Die Anhäufung von privatem Grundbesitz in den Händen der adligen Familien bezeichnet auch den Anfang der Polis und der „politischen" Satzungen im eigentlichen Sinne, mit dauernden repräsentativen Vertretungen und all den Verwaltungskörpern, die aus einer Gemeinde einen Staat machen. Auf der anderen Seite steht sie am Beginn der großen Diaspora, die Kolonien von griechischen Auswanderern bei der Suche nach Land in die entlegendsten Bereiche der mediterranen Küste führen sollte. Die antiken Historiker wußten sehr gut, daß die große Kolonisierung dem „Landmangel" zuhause entsprang. In neuer Zeit hat man in dem Phänomen romantischerweise auch eine Suche nach neuen geistigen Horizonten sehen wollen. Sicher ist jedoch, daß in der ersten Zeit alle ost- und westgriechischen Kolonien als Ackerbauzentren gegründet worden sind.
24 Μ . I. Finley, op. cit., Aufl. 1967, p. 66.
DIE P E R S O N E N Die epische Charakter dar Stellung Aus den knappen Notizen, die wir über die allgemeinen Linien der homerischen Umwelt gesammelt haben, geht, wenn nichts anderes, hervor, daß in einer solchen "Welt die Dichtkunst nicht nur ein anderes Objekt, sondern auch ein anderes Wesen und eine andere Aufgabe als unsere moderne Dichtkunst haben mußte, und daß sie nicht nach den uns geläufigen Kriterien beurteilt werden darf. Wir werden uns nicht bemühen, die letzten ästhetischen Gesetze der Epik zu entdecken, sondern nur einige Besonderheiten in den homerischen Gedichten zu untersuchen, wobei wir uns immer auf die Analyse des Inhaltes beschränken. Sehen wir jetzt einmal, wie die einzelnen Personen aufgebaut sind, wie sie sich in jener ihrer Umwelt bewegen, die wir zu erfassen versucht haben. In einer „naiven" ästhetischen Wertung der Epen werden die Personen ohne weiteres nach dem Maßstab der poetischen Figuren unserer Zeit beurteilt: man lobt die Lebendigkeit, die psychologische Feinheit, die Geschlossenheit des Charakters, alles mit der Folgerichtigkeit durchgeführt, die den Ruhm der großen modernen Dichtwerke ausmacht. Gerade in der Zeit, als die Philologen eifrigst dabei waren, das Gefüge der Epen zu zerstören, indem sie die unendlichen Nicht-Ubereinstimmungen und Widersprüche aufwiesen, schrieb ζ. B. Jacob Burckhardt: „Die Haltung der einzelnen Charaktere zeigt eine ganz untrügliche Sicherheit und wie selbstverständliche Wahrheit" und deshalb: „ W e r . . . den Achill und den Odysseus so zu halten und zu steigern wußte, der kann nur einer, und zwar ein Dichter höchsten Ranges gewesen sein. M a n möge sich freimachen von der Vorstellung eines aus einer Menge von Teilen zusammengesetzten Kunstwerkes. Von selbst und nach und nach ergibt sich eine solche Vollendung nicht, nach Analogie aller
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Die Personen
Jahrtausende braucht es dazu eines Individuums der gewaltigsten Art." 1 Dies ist das Urteil eines ernsthaften Wissenschaftlers, das allen Respekt verdient. Aber unter den Philologen wird jede Diskussion über die Einheit der Charaktere der homerischen Personen sofort vergiftet, weil die verschiedenen Ansichten zwangsläufig verschiedene Theorien über die Einheit der Gedichte, das heißt: über die homerische Frage widerspiegeln. Wir haben seinerzeit darauf hingewiesen, daß der Kontrast zwischen dem bereuenden Agamemnon des IX. Gesanges der Ilias und jenem, der eigenen Unschuld sicheren des XIX. Gesanges einigen zum Beweis gedient hat, daß die beiden Stellen verschiedene Verfasser hätten. Auch heute sucht man, je nach dem Standpunkt, jene psychologischen Ungereimtheiten, die nach unseren Anschauungen sich zweifellos in den Handlungen und den Gedanken der homerischen Personen finden, als unerträglich oder als unerheblich hinzustellen. In aller Erinnerung sind die Verse, die das Beisammensein Hektors und Andromaches beschließen (Ii. VI, 500-02): Hektor kehrt in die Schlacht zurück, die Gattin und die Mägde beweinten Lebend noch H e k t o r . . . in seinem Palaste. Denn sie glaubten, er würde schon nimmer zurück aus dem Kampfe Kehren und nimmer den Händen der starken Achaier entrinnen.
In Wahrheit hat Hektor noch eine gewisse Zeit zu leben, und er wird auch Gelegenheit haben, die Gattin wiederzusehen; lassen wir diese Einzelheit auch beiseite, die der Pathetik der Szene nichts nimmt, so müßten wir doch erwarten, daß Hektor sich in der Folge wie ein Mann betrüge, der schon in eine „Atmosphäre des Todes" eingehüllt ist. Ein Kritiker, der von der kompositioneilen Einheit des ganzen Epos überzeugt ist, wird versichern, daß von jetzt an die Seele Hektors von diesem Schatten überdeckt werde, während ein anderer, der die Zusammenkunft als durchaus selbständige Epii „Griechische Kulturgeschichte" Bd. III = Gesamtausgabe Leipzig 1 9 3 1 , Bd. X , pp. 77, 69.
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Die epische Charakterdarstellung
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sode betrachtet, energisch das Gegenteil behaupten wird. 2 Diese Erörterungen scheinen den Gedanken vorauszusetzen, daß man wie auch immer - in der griechischen Epik einen künstlerischen Aufbau und eine künstlerische Charakterisierung suchen könne, die derjenigen der modernen Dichtung ganz nahe stehen. Aber diese Vorstellung ist völlig unzulässig. Während sich aus einem modernen Werk, etwa aus einem Roman, die Porträts der Personen gewinnen lassen, die die Phantasie des Lesers zum Schluß als Personen von Fleisch unÜ Blut ansieht im Leben gekannt, jede mit ihren unverwechselbaren persönlichen Eigenschaften und ihren voraussagbaren Handlungen (und auch die Kritik hat das Recht, diese illusorische Umgestaltung ins Naturgetreue aufklärend zu gebrauchen) - kann man aus den homerischen Epen derartige Porträts nicht gewinnen. Wenn wir auch in unserem Geist eine typische Charakterisierung der größten homerischen Helden tragen, so stammt sie doch in Wirklichkeit nur aus einer vereinzelten Episode in den Epen oder, häufiger, aus der moralistischen und handbuchmäßigen Darstellung, die uns die späteren Schriftsteller geliefert haben: noch nicht und nicht so sehr die Tragiker als vielmehr die Mythographen und Kompilatoren mit starkem Einfluß der volkstümlichen Philosophie, die jene Personen in typische Musterbeispiele verwandelt hatte. Doch in den Epen erscheint die Persönlichkeit der Helden tatsächlich haltlos und widerspruchsvoll; unter ihnen „gibt es kaum einen, der sich nicht widerspräche" (Voltaire). Einige der Widersprüchlichkeiten, die dazu beitragen, daß uns die homerischen Charaktere so entschlüpfen, kommen sicher von der Vielzahl der Quellen, von der korporativen Natur des dichterischen Handwerks, von der natürlichen Weiterentwicklung der alten Sagen, und hier hat die „analytische" Kritik ihr gutes Recht. Wenn Achill im Ganzen genommen der Vorläufer einer zivilisierteren, aristokratischen Lebensauffassung ist, während er in einzelnen Zügen 2 So G. Jachmann, „Homerische Einzellieder", in: Symbola Coloniensia, Festschrift J. Kroll, Köln 1949, pp. 1 - 7 0 . 10
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der barbarischste von all den Helden ist, so werden die beiden Seiten seiner „Persönlichkeit" der Widerschein von einander folgenden Entwicklungsphasen seiner poetischen Geschichte sein. Um von Odysseus gar nicht zu reden, der, als Held der verschiedenartigsten Abenteuer genommen, wirklich zu allem fähig erscheint: er ist ein Muster an Aufrichtigkeit und kann Lügen ersinnen, wie kein anderer, er denkt immer nach Hause, geht aber auf Suche nach Unannehmlichkeiten in aller Welt, er ist klug und weise, drängt sich aber grundlos in die Höhle des Kyklopen und will die Skylla mit dem Schwert in der Faust angehen. Aber das Fehlen eines wirklichen, individuellen, den homerischen Personen eigenen Charakters kann nicht völlig aus der Verschiedenheit der Autoren oder aus der Schichtung des Sagenmaterials erklärt werden — es muß in erster Linie, vor dem technisch-poetischen, einen historischen Grund haben. Diese literarische Darstellung von Menschen, die man leicht oberflächlich nennen könnte, entspricht einer bestimmten geschichtlichen Situation des Menschen. Beim Untersuchen der homerischen Menschendarstellung ist die neuere Kritik von Sprache und Inhalt zu beachtlichen Ergebnissen gekommen (vor allem dank den bekannten Arbeiten von Bruno Snell). Man hat gesehen, daß, wie es bei Homer keine einheitliche und umfassende Anschauung vom menschlichen Körper und keinen Ausdruck für sie gibt, so auch eine synthetische Darstellung fehlt oder zu fehlen scheint, die die geistige Individualität, den Persönlichkeitsgehalt und damit den Charakter einer Figur wiedergeben würde. Schon die antiken Kritiker hatten bemerkt, daß das spätere griechische Wort für „Körper" (σώμα) bei Homer nur für „Leiche" gebraucht wird, und die modernen stimmen dem trotz einiger möglichen Vorbehalte bei: einmal (Ii. III, 23) könnte σώμα tatsächlich ein lebendes Tier meinen;3 und dann: außer σώμα benutzt Homer für lebende Wesen andere Ausdrücke, die „Körper" be3 H. Herter, „Σώμα bei Homer", in: Charites, Festschrift E. Langlotz, Bonn 1 9 5 7 , p. 2.06.
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deuten, wie δέμας, oder die durch Ausweitung genau diesen Sinn bekommen, wie etwa „Kopf" (κεφαλή). „Das homerische Wort für die Person ist „Haupt". Ähnlich wird in der Sprache des römischen Rechts caput und capitalis für „Person" und „persönlich" gebraucht, zum Unterschied von res für das Eigentum. Poena capitalis und deminutio capitis sind in diesem Sinne zu verstehen."4 Penelope z.B. sagt, als sie von Odysseus spricht (Od. I, 343): „ . . . die ich allzeit sehnend des männlichen Hauptes gedenke" usw. Trotzdem bleibt bestehen, daß in der Regel von einem lebenden Körper nur die einzelnen Teile und die einzelnen Organe genannt werden. Gleicherweise ist die Psyche, die „Seele" entweder der verschwommene Schatten, der sich beim Tode von dem Körper löst (mehr ein Phantom als eine Seele), oder die Grundlage jeglicher Lebensregung, während die verschiedenen Seiten spirituellen Lebens auf Körperteile zurückgeführt werden. Da ein organisatorisches geistiges Zentrum fehlt, wäre die menschliche Seele demnach „freies Feld" für alle äußeren Einflüsse, und bei dem homerischen Menschen könnte man noch nicht von einem inneren Leben sprechen, von Verantwortlichkeit (einem Problem, das wir oben schon behandelt haben), von Selbstbestimmung. Die homerische Dichtung hätte keine Vorstellung von der Tiefe des menschlichen Wesens, weil ihr alle Elemente mangeln, die für uns eine Persönlichkeit ausmachen. Diese Tendenz, die Grenzen des homerischen Begriffes vom Menschen festzulegen, oder besser gesagt, auf historischer Grundlage den genauen Wert von Ausdrücken und Phänomenen festzulegen, die für gewöhnlich nach durchaus modernen Kriterien verstanden werden - diese Neigung bedeutet einen positiven Schritt nach vorn in der Interpretation der Gedichte. Es sei aber nicht verschwiegen, daß bei ihrer Treue zu den sprachlichen Gegebenheiten diese Tendenz eine neue Gefahr im Sinne von Abstraktion in sich birgt. Es ist wahr, daß in der homerischen Sprache die Ausdrücke 4 H . Fränkel, „Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums", op. cit., p. 85, A n m . 3. 10*
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fehlen, die allgemeine, für uns wesentliche Seiten der menschlichen Persönlichkeit bezeichnen, aber damit ist noch nicht gesagt, daß — wenn auch die später erarbeitete begriffliche Synthese fehlt — damit notwendigerweise jede Kenntnis davon und ihre dichterische "Wiedergabe fehlen müßten. Für sich genommen endet die einfache Bestimmung und Aufzählung dessen, was dem homerischen Menschen „fehlt" - im Verhältnis zu unserer Vorstellung vom Menschen im allgemeinen, das heißt: des modernen Menschen, der als „vollständig", wenn nicht als vollkommen angesehen wird - damit, das Bild eines menschlichen Wesens zu geben, das in peinlicher Weise beschränkt oder verstümmelt ist und in dem dunklen Vorzimmer des wahren ethisch-rationalen Lebens herumtappt, noch auf der Suche nach dem „Geist", der zwar von Ewigkeit her existiere, aber noch auf seine Entdeckung warte. Diese, wenn auch unfreiwillige, immer wiederkehrende negative Beurteilung des „homerischen Menschen" kann der Geschichtsschreibung teleologischen Types verglichen werden, die in den antiken Einrichtungen, denen noch dieses oder jenes Organ fehlt, nichts anderes als einen kümmerlichen Embryo, als ein Rudiment moderner Einrichtungen sieht. Verständlich, daß von vielen Seiten - wenn nicht anders, so im Namen des gesunden Menschenverstandes - gegen eine solche schwerwiegende Herabsetzung einer Kultur und einer Dichtung protestiert wird, deren unvergänglichen, beispielhaften, maßgebenden Wert man weiterhin verkündet. Man wendet ζ. B. ein, daß die homerischen Gestalten nicht solchen Einfluß auf die spätere griechische Kultur und die europäische Literatur ausgeübt hätten, wenn sie nicht wirkliche Persönlichkeiten gewesen wären. Man kann antworten, daß jede Lesergeneration von Mal zu Mal in den homerischen Personen immer Menschen zu erkennen geglaubt hat, die denen ihrer eigenen Zeit verwandt waren. Sicher, die neue Art von Interpretation scheint die zu bloßen ungreifbaren Schatten zu reduzieren, die uns wirkliche Menschen zu sein schienen. „Nimmt man nun noch hinzu, d a ß . . . dem Griechen schlechthin das Gewissen, die Verantwortlichkeit, daß
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ihm schließlich bis zur Zeit des Aischylos hin die Tragik, die echte Wahl und Entscheidung, das Bewußtsein vom Zusammenhang der Persönlichkeit und dieses und jenes andere abgegangen sein soll, dann drängt sich die Frage auf: Was bleibt dann eigentlich übrig? Ist dieser griechische, dieser archaische, dieser homerische Mensch überhaupt noch Mensch? Und besteht zwischen ihm und uns noch die Möglichkeit einer Verständigung, oder besser: von uns zu ihm die Möglichkeit des Verstehens?" 5 Aber wenn die jüngsten historisch-linguistischen Untersuchungen auch gezeigt haben, daß viele der uns vertrauten Seiten des psychologischen und intellektuellen Lebens sich nicht bei Homer finden, so will das nicht heißen, daß der homerische Mensch geistig zurückgeblieben, ein Ausschuß der Menschheit sei. Er ist ganz einfach verschieden von den modernen Menschen, was im übrigen selbstverständlich war, und auch von den Griechen, die wir in literarischen Werken dargestellt finden, die kaum ein oder zwei Jahrhunderte jünger als die Epen sind. Dieser letzte Punkt ist nicht zu unterschätzen, wenn man bedenkt, wie widerstandsfähig immer noch der klassizistisch-rhetorische Begriff von der idealen Einheit der griechischen Kultur ist, deren wesentlicher Teil Homer sei. Es ist wahr, daß die Lyriker und die Tragiker immer aus Homer Themen und Ausdrucksweisen übernommen haben, aber man muß sich hüten, die spät-archaische und klassische Kultur als eine logische und notwendige Fortsetzung der Kultur in den Epen anzusehen. Es bleibt noch zu betrachten, woraus der Charakter der homerischen Persönlichkeit besteht, oder ob man verneinen muß, daß er überhaupt einen Charakter habe. Das griechische Wort „Charakter" 6 erscheint verhältnismäßig spät in dem traditionellen, übertragenen Sinne, aber das spielt keine Rolle: schon vorher gab es natürlich den Begriff und irgend ein etwa gleichwertiges Wort. Bei 5 O. Seel, „Zur Vorgeschichte des Gewissens-Begriffes im altgriechischen Denken", in: Festschrift F. Dornseiff, Leipzig 1953, p. 295. 6 Siehe W. Marg, „Der Charakter in der Sprache der frühgriechischen Dichtung (Semonides, Homer, Pindar)", Würzburg 1938, und die Besprechung durch H. Frankel, Amer. Journ. Phil. L X , 1939, pp. 4 7 5 - 7 9 .
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Homer gibt es keine analogen Ausdrücke, und auch da ist man so weit gekommen zu versichern, in dieser Dichtung fehle nicht nur das Wort sondern auch der Begriff, insofern er Tiefendimension usw. in sich schließe. Diese Folgerung ist offensichtlich übereilt. Wenn Achill sagt, Agamemnon habe die Augen eines Hundes und das Herz eines Hirsches, so drückt diese Gegenüberstellung von körperlichem Aussehen und feiger Seele ganz energisch eine innere, dauernde und auch wesentliche Eigenschaft eines militärischen Führers aus, der es nie wagt, persönlich in den Kampf zu gehen und es vorzieht, die Früchte von den Taten anderer einzuheimsen (Ii. I, 225 ss.). Dieselbe Gegenüberstellung findet sich in dem Urteil Hektors über Paris: schön aber feige (III, 39 ss.). Es wird auch eine Unterscheidung gemacht zwischen der angeborenen Natur („Nein, auch mich hat die Mutter nicht ganz als Schwächling geboren"; es spricht Paris, XIII, 777) und den erworbenen Eigenschaften („ . . . ich lernte, tapferen Mutes / Immer zu sein und unter den ersten der Troer zu kämpfen"; es spricht Hektor, VI, 444 s.). Man kann auch „schurkische Streiche" lernen (Od. XVII, 226 = XVIII, 362). Dem ihn tadelnden Hektor entgegnet Paris (II. III, 60 ss.): „Hart ist immer dein Herz und frisch wie die Schärfe des Beiles, Welche das Holz durchdringt, wenn der Zimmermann künstlich des Schiffes Balken behaut, und ihr Schwung ihm des Armes Kräfte verdoppelt: Also lebt unerschrockener M u t dir im innersten Herzen."
Man sieht, daß dem epischen Stile die Mittel nicht fehlen, um gewisse dauernde Eigenschaften zu beschreiben. Bei dem Mangel an synthetischen Ausdrücken greift man zu analytischen und metaphorischen Angaben: Identifizierung der ganzen Person mit einem seiner physisch-psychischen Organe (θυμός, νόος, κραδίη), quantitative Häufung, Wiederholung, die die Unveränderlichkeit einer bestimmten Haltung bezeichnet (der Gebrauch von αεί = „immer" ist dafür bei Homer ganz gebräuchlich: wer sich „immer" in einer bestimmten Weise beträgt, wird wenigstens eine charakteristische
Das Berufsleben und der Zorn
Angewohnheit oder Veranlagung haben), der Vergleich, der in dem zitierten Beispiel von der Axt ungewöhnlich wirkungsvoll ist, aber auch in gewöhnlicheren Redensarten vorkommt: ein Herz von Eisen, stark wie ein Löwe usw. Nach der Feststellung, daß es auch bei Homer eine gewisse Vorstellung vom individuellen Charakter gibt, bleibt immer noch ihre Ausdehnung und ihr Wesen zu ermitteln. Einerseits sind die absichtlichen charakterisierenden Aussagen recht selten, andererseits entstehen, wie gesagt, auch aus der unmittelbaren poetischen Zeichnung der Personen zum Schluß keine bestimmten und unverwechselbaren moralischen Porträts.
Das Berufsleben und der Zorn Die Seltenheit von ausdrücklichen Urteilen über Personen hat ihren technisch-literarischen Grund in der „Objektivität" des epischen Stiles, in dem eine Reflexion, eine Betrachtung des Dichters eine unzulässige Unterbrechung darstellen würden: die oben zitierten Wendungen stehen alle in direkten Reden und haben alle einen polemischen Sinn. Längeres Überlegen ist nötig, um den Gehalt der Charakterisierung zu fassen, das durchgehende Fehlen von Dichtigkeit oder von Gliederung oder individueller Tiefe in den homerischen Charakteren, wie sie sich in den von den Epen erzählten Geschehnissen zeigen. Es ist kein Zweifel, daß Achill, Agamemnon, Diomedes, Odysseus sich nicht viel voneinander unterscheiden, daß ein Abenteuer, das dem einen zugeschrieben wird, auch einen anderen zum Protagonisten haben könnte; und wir wissen, daß solcher Austausch tatsächlich vorkam. Von einem uns bekannten Menschen können wir sagen, er sei ein Pyrgopolinices, ein Hamlet, ein Don Quichote, er sei ein Tartüff, eine Bovary, ein Don Abbondio usf., aber nicht: er sei ein Achilleus, ein Diomedes, eine Helena. Das mag umso mehr überraschen, als die homerischen Gestalten wenigstens alle die bedeutendsten - seit langer Zeit in der epischen
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Die Personen
Dichtung als historische Figuren auftraten, die zu literarischen „Typen" geworden waren - in einem Prozeß, der unweigerlich zu einer Schematisierung und naturalistischen Spezialisierung der Charaktere führen mußte. Und so geschah es tatsächlich in der späteren Literatur. Odysseus und Diomedes ζ. B. wurden als Krieger zu einem typischen Paar von sich ergänzenden Helden: der eine denkt, und der andere handelt. In der Ilias dagegen sind sie zwar gelegentlich vereint, aber ohne Teilung ihrer Aufgaben; diese besteht dagegen schon klar in der Dolonie, die, wie wir wissen, späten Ursprungs ist.7 Die Figuren der modernen Literatur haben ein viel individuelleres Gepräge, sie unterscheiden sich voneinander auf den ersten Blick - nicht, weil die Schriftsteller über eine tiefere Kenntnis „des Menschen" verfügten als Homer, sondern weil das Individuum in einer aufgesplitterten und differenzierteren Welt immer eine einseitige Formung und Haltung hat. Mag sie in erschütternder oder komischer Weise durch die Last des Lebens entstellt sein, mag sie sich zu einer höchsten genialen und alles begreifenden Schau der Dinge aufschwingen: die moderne Person steht immer im Gegensatz zu einer Gemeinschaft (einer geliebten oder gehaßten, einer angenommenen oder zurückgewiesenen Gemeinschaft), die ihr weitgehend fremd ist. Vor eine Realität gestellt, die er nicht bis zum Grunde kennen und noch weniger mit seinen Kräften beherrschen kann, ist der moderne Mensch dazu bestimmt, sich Reflexionen und persönlichen Leidenschaften hinzugeben, und nur in ihnen - nicht in der unmittelbaren Gegenüberstellung zu seiner Umwelt - kann er zu einem allumfassenden Gefühl, zu der Möglichkeit einer indirekten Verständigung mit den anderen Menschen kommen. Die Dichtung wird aus dieser oder jener besonderen 7 Im ersten Teil der Dolonie werden die Personen einzeln, nacheinander, mit einem ins Einzelne gehenden „Porträt" eingeführt. Die Vorstellung jedes Helden geht um einige Verse seinem Eintritt in die Handlung voraus; jeder wird zunächst in einem Augenblick der Unbeweglichkeit und der Einsamkeit gesehen, und von ihm wird nicht nur sein augenblickliches Betragen beschrieben, sondern es werden auch seine dauernden Eigenschaften aufgezählt. Auch die Gewänder und die Waffen haben charakterisierenden Wert.
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Stimmung geboren (indignatio facit poetam); sie ist nicht das Werk der Aöden, die als „Demiurgen", als „Arbeiter für die Gemeinschaft" betrachtet werden, sondern die eines spezialisierten genus irritabile, und sie ist von Gefühlen überschwemmt, so daß in der landläufigen Vorstellung, und nicht nur in ihr, das Wort „poetisch" denselben Sinn wie „sentimental" oder „rührend" hat. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man in gewissem Maße jede nicht rein epische Dichtung, das heißt: jede nach-homerische Dichtung „modern" nennen. Seit Hesiod werden die Subjektivität des Dichters und das innere Leben seiner Personen in den literarischen Werken immer stärker vorherrschend. Dabei muß man sich aber vor Augen halten, daß wenigstens bis zum Ende der klassischen Zeit in Griechenland ein Dichter sich als Teil und Vertreter und Wortführer einer organischen Gemeinschaft fühlte, in der das private Leben nicht scharf vom öffentlichen Leben getrennt war, in der es keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Politik, Moral und Recht gab. Er schrieb unmittelbar für ein Publikum, das ihn kannte, und das er kannte, nicht für einen literarischen Markt. Jede folgende kulturelle Krise hat dann ihrer Weise nach dazu beigetragen, das innere Leben und die Singolarität der Charaktere zu „entdecken" (das heißt: von Mal zu Mal ist man sich bewußt geworden, daß die private Sphäre sich als autonomer Bereich ausdehnte), so daß die Vaterschaft dieser Entdeckung, wenn man so will, den Sophisten, dem Hellenismus, dem Christentum, der Renaissance, der Romantik oder jeder beliebigen anderen geistigen Bewegung zugeschrieben werden kann, die in einem kritischen Augenblick der Geschichte eingesetzt hat. In der homerischen Welt ist der Einzelne nicht von der übrigen Gesellschaft getrennt. Zwischen seinem Denken und der Wirklichkeit ist der Abstand gering, das Gemeinschaftsleben liegt ihm ganz klar vor Augen, in ihm selbst ist wenig Raum für Träume und unerfüllbaren, seinen Fähigkeiten nicht angemessenen Ehrgeiz, für Verzicht und Resignieren in Untätigkeit und Einsamkeit, für das Sich-Hingeben an persönliche Leidenschaften, für den Aufbau und die Betrachtung einer inneren oder ideellen Sphäre
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im Tausch gegen eine Welt verlorener Beziehungen. Wir wollen nicht etwa sagen, daß er im Goldenen Zeitalter lebe und die Befriedigung jedes Wunsches ihm in Reichweite sei, daß er sich an einem sorglosen Hirtenidyll inmitten gefälliger Freunde ergötze. Im Gegenteil, die homerischen Menschen leben in schonungslosem Wettstreit miteinander: der aufkommende Adel bahnt sich seinen Weg nur mit Gewalt. Aber wenigstens die Gesetze dieses Wettstreites sind einfach und klar für alle, die nicht in die Grenzbezirke des Daseins verbannt sind: die Personen der homerischen Epen bilden weder eine Gruppe von Herrschern, umgeben von Höflingen, noch erst recht nicht eine Masse von Unterlegenen und Unterdrückten. Der Bezirk der menschlichen Beziehungen, der sie ohne Einschränkung in Anspruch nimmt, hat keine düsteren Seiten, keine unerklärbaren Kräfte, die einen Schatten von Furcht über die ganze Existenz werfen würden. Die Götter handeln in unvorhergesehener Weise, haben aber ein der menschlichen Natur so nahestehendes Wesen, daß, wenn sie auch das praktische Leben der Menschen umstürzen können, sie doch nicht für immer ihren Sinn verwirren können. Eine merkwürdige Ausnahme kann erläutern, was wir sagen wollen, auch wenn die Sage, auf die wir jetzt anspielen werden, uns in ihrer Form und ihrem Inhalt, die sie bei ihrer Einfügung in die Ilias hatte, schwer rekonstruierbar erscheint. Im VI. Gesang erzählt Glaukos dem Diomedes die Geschichte seines Vorfahren Bellerophontes. Als ein Mann von ungewöhnlicher Schönheit und Tapferkeit wurde Bellerophon der Gegenstand des Verlangens der Anteia, der Gemahlin des Proitos, Königs von Ephyre [Korinth]; zurückgewiesen, beklagte sich die Frau bei Proitos, Bellerophon habe sie verführen wollen. Proitos sandte Bellerophon nach Lykien mit einer Botschaft, in welcher er den König von Lykien bat, ihn zu töten. Der König schickte Bellerophon aus, um mit der Chimaira, den Solymern und den Amazonen zu kämpfen, und zuletzt ließ er ihm einen Hinterhalt legen. Nachdem er alle Prüfungen bestanden hatte, erhielt Bellerophon schließlich die Tochter des Königs zur Frau und als Geschenk ein Stück Land. Doch später (VI, 200-02),
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„Als nun aber auch jener den Himmlischen allen verhaßt ward, Irrte er einsam umher, das Herz in Kummer verzehrend, Durch die aleische Flur und mied die Pfade der Menschen."
In der Erzählung des Glaukos wird das Flügelpferd Pegasos nicht erwähnt, mit dem Bellerophon seine Taten vollbrachte; es war seit Hesiod ein Hauptbestandteil der Geschichte und wohl auch Homer bekannt. Bei seinen irdischen Unternehmungen wurde Bellerophon durch die Götter unterstützt, die ihn dann bestraften, als er versuchte, auf dem Pegasos bis in den Himmel zu fliegen. Die ganze alte Sage, die vielleicht unter anderem den einzigen Hinweis auf den Gebrauch der Schrift enthält (vv. 168-70), ist vom Geiste Homers wegen des Vorkommens von Ungeheuern und magischen Elementen weit entfernt. Sie mußte aber zu einem gut bekannten Sagenschatz gehören, so daß Homer den Schluß in einer so abgekürzten Form erzählen konnte, daß er fast unverständlich geworden ist; vielleicht stammte sie schon aus einer Art Katalog von Beispielen über die Vergänglichkeit menschlichen Glückes oder für die Strafen, mit denen die Götter allzu große Vermessenheit belegen. Wie dem auch sei - das Abkürzen der Sage mit Auslassung des Pegasos und des Ansturmes auf den Himmel fügt sich der allgemeinen rationalisierenden Tendenz Homers ein, der so viel wie möglich magische und wunderbare Elemente abweist. Aber auch das, was übriggeblieben ist: die Gestalt des Wahnsinnigen, des Einsamen, der die Götter und sich selber haßt, der in der Wüste umherirrt (aleische Flur bedeutet etwa „Ebene der Umherirrenden"), das genügt, um uns in eine spirituelle Welt zu versetzen, die nichts mit der homerischen gemeinsam hat. Hier dagegen gibt es außerhalb des Gemeinschaftslebens, das den ganzen Einsatz der Person beansprucht, nichts anderes. Man kann sagen, daß die ganze Existenz dieser Menschen genau mit ihrer sozialen oder „professionellen" Tätigkeit zusammenfällt (das heißt: mit seiner wirtschaftlichen Betätigung - sei es im Krieg oder beim Ackerbau - , die vor der sozialen Aufteilung der Arbeit für alle gleichmäßige Pflicht ist). Die Helden in den Epen bilden noch eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen: wir stehen schon dicht vor
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dem Bruch, es gibt große Unterschiede im Reichtum und Ansehen, aber jeder kann diese Unterschiede zu seinem eigenen Vorteil überwinden, ohne juristische Konventionen oder höhere Moralprinzipien zu beachten. Achill wird von Agamemnon gedemütigt, kann ihm aber widerstehen, ohne eine höhere oder außenstehende Autorität fürchten oder anrufen zu müssen. Odysseus hat eine Rechnung mit den Freiern zu begleichen, aber wenn ihm nur Intelligenz und Körperkräfte genügen, so wird er sie noch ohne vermittelnde Hilfe besiegen können (Gesetze und öffentliche Gewalten). Das einzige Gesetz ist das der time: materieller Besitz, der durch persönliches Verdienst und greifbaren Erfolg erworben und vom sozialen Prestige begleitet ist. Alle Charakterbeschreibungen, die wir oben gehört haben, beziehen sich auf die mit Intelligenz gepaarte Kraft, die einzige anerkannte menschliche Tugend, und deshalb sind sie alle „Berufs-Qualifizierungen". Aus dieser einzigen Tugend, die in ihrem ganzen Gehalt mit dem Wort arete bezeichnet wird (das den Erfolg bedeutet, den guten Ausgang auf jeglichem Felde praktischer Betätigung), besteht die Persönlichkeit des Helden, mag er sie in mehr oder minder hohem Maße besitzen. Es wäre zwecklos, in diesen Gestalten nach Äußerungen einer ethisch-psychologischen Pathologie zu suchen, die von dem Gegensatz zwischen dem Individuum und dem feststehenden und differenzierten sozialen Gefüge kommt. Der „homerische Mensch" hat keine Gemütsverfassungen und Anlagen, die seine individuelle Gestalt für die Dauer prägen würden; er kann nur Gefühle und Leidenschaften und Augenblicksstimmungen hegen, die sich sofort, oft heftig, im sozialen Umkreis entladen, wo sie ihre unmittelbare Befriedigung suchen. In der gesamten Ilias ist Achill von Zorn erfüllt oder sollte so erscheinen; aber man kann bestimmt nicht sagen, daß der Zorn etwas mit einer ihn kennzeichnenden Naturanlage zu tun habe. Er erscheint zornig, weil die Konstellation, die das Thema des Epos bildet, ihm feindlich ist, aber es ist undenkbar, daß man seinen Namen von dem Adjektiv „zornig" als charakterisierendem Epitheton begleitet finden könnte. Und für gewöhnlich bezeichnen die feststehenden
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Epitheta die soziale Stellung oder die körperliche Beschaffenheit, nicht jedoch den Charakter. „Sehr wenige der alten stehenden Epitheta sagen uns viel über den Charakter: Achill ist ein gewandter Kämpfer, Aias ist ein starker Kämpfer. Es ist wahr, daß Odysseus ein sehr listiger Mann und Penelope sehr klug ist, aber auch dies sind vielleicht eher Berufsqualitäten als persönliche Charakteristika."8 Man denke an die Diskussionen in dem platonischen Hippias minor; ζ. B. (365 B) „Jetzt, ο Hippias, glaube ich zu begreifen, was du sagst: für πολύτροπος meinst du lügnerisch". Das Epitheton ist jenes, das Odysseus als den „viel Gewanderten" oder den „Wendigen" bezeichnet. Der Zorn des Achill ist ein vorübergehender Zustand, der im Epos danach strebt, überwunden zu werden; es ist eine Seelenverfassung, die so wenig mit dem Typus des Achill verknüpft ist, daß nicht einmal die spätere Dichtung aus ihm einen zornigen Menschen machte. Der Zorn als augenblickliche Reaktion auf ein Unrecht ist vielmehr ein immer wiederkehrendes und typisches Element unter diesen sozialen Zuständen: alle Personen haben ihren Zornesausbruch. Der „homerische Mensch" wird jedesmal sofort zornig, wo einer von uns sich schweigend in seine verzweifelte Einsamkeit flüchten würde, oder wo er Trost in der Religion suchen oder - praktischer - sich ans Gericht wenden oder eine Eingabe machen würde. Schon seit der Antike hat man, meistens mit Mißfallen, bemerkt, daß die Epen voll von Zornesausbrüchen und Zwistigkeiten sind. Der Zorn des Achilleus ist zum Hauptthema der Ilias erhoben worden, aber es fehlt nicht an anderen zornigen Menschen. Da gibt es den Zorn des Meleager im IX. Gesang, der sicher aus einer älteren Dichtung übernommen und im Auszug wiedergegeben ist; da gibt es den Zorn des Aineias gegen Priamos (XIII, 460 s.), der nicht erklärt wird, aber vielleicht auf eine dynastische Rivalität 8 Τ . B. L. Webster, „From Mycenae to Homer", op. cit., p. 2,56. Dies bezieht sich auf die alten Epitheta der epischen Tradition, während bei Homer es schon „eine folgerichtige und reiche Charakterisierung" gäbe, die im Falle des Patroklos sichtbar wird, von dem wir später sprechen werden.
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zurückgeht, woran einige homerische (IL X X , 1 7 9 ss., 302. ss.) und nach-homerische Zeugnisse denken lassen könnten, die die „politische" Oberhoheit über die Troas dem Geschlecht der Aineiaden zusprechen wollen. Da gibt es einen leichten Zornesausbruch des Diomedes, der, von Agamemnon während der Truppenschau wenig achtungsvoll behandelt (IV, 3 7 0 - 4 1 8 ) , auf den günstigen Augenblick wartet, die Schmähungen zurückzugeben (IX, 32-49). Da gibt es augenscheinlich sogar einen Zorn des Paris: als Hektor in die Stadt zurückkehrt und den Bruder friedlich zu Hause sitzend findet, während draußen die Schlacht tobt, da wirft er ihm vor, er ließe seine Mitbürger sterben, um seinen Zorn im Herzen zu hegen (VI, 326 ss.); dann aber wird das Thema fallengelassen. Die Andeutung mag sich auf einen verlorenen Zusammenhang beziehen, wie viele Interpreten es wollen, oder sie mag eine Augenblickserfindung des Dichters sein; in dem einen wie dem anderen Falle wird der Verfasser gedacht haben, ein Zornesausbruch mehr sei nie vom Übel. Die Beispiele des Götterzornes sind unzählbar; sie sind von Johannes Irmscher in einer eigenen Schrift behandelt worden, deren Schlußfolgerung lautet: „Die homerischen Götter waren den Herren der griechischen Frühzeit nachgebildet, in ihrer äußeren Erscheinung sowohl wie nach ihren seelischen Bestrebungen. Wie für jene machte auch für sie die Ehre, die Anerkennung in der Gemeinschaft der Standesgleichen, den höchsten Wert aus, an dem man das Leben orientierte. Wo diese Ehre angetastet wurde, waren alle Kräfte zur Abwehr aufgerufen. Als Zorn äußerte sich diese Art der Selbstbehauptung vor allem. Richtete dieser sich gegen andere Gottheiten, so kam er in den gleichen Formen zum Ausdruck wie der Zorn von Menschen gegen ihresgleichen. Dagegen traten verschiedene Entwicklungsstufen hervor, wo Menschen Objekt solchen Götterzorns wurden." 9 Der Zorn gehört zu der normalen Verhaltensweise der ganzen Gemeinschaft, er ist nicht ein besonderer Z u g im Betragen eines Einzelnen. Wollte man wie Jacob Burckhardt die Zornesausbrüche 9 J. Irmscher, „Götterzorn bei Homer", Leipzig 1950, p. 86.
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mit Tadel belegen („Bei ihrem vollendeten Sichgehenlassen schimpfen sich die homerischen Helden, daß es ein Elend ist, es anzuhören" 10 ), so müßte man diese ganze Gesellschaft verurteilen, weil alle homerischen Personen, sobald sie in eine bestimmte Situation kommen, sich in der gleichen Weise betragen. In der Ilias ist der Zorn des Achill in den Vordergrund gerückt, aber das Epos könnte sich im Grunde gleichbleiben, wenn es zum Protagonisten den Diomedes oder einen anderen der stärksten Helden hätte. Es gibt keinen Charakter, der schon vor der Tat bestünde und ihr seinen eigenen, individuellen Stempel aufdrückte und der Handlung die entsprechende Wendung gäbe. „Gerade die größten Persönlichkeiten", bemerkte Vico, „sind so tadelnswert in Bezug auf unsere zivilisierte menschliche Natur! Aber sie sind aufs höchste anzuerkennen in Bezug auf die heroische Natur - wie wir oben schon gesagt haben - der Halsstarrigen." 11
Die Entstehung des privaten Empfindens Unter den Leidenschaften, die zur Charakterisierung so vieler moderner literarischer Figuren dienen, gibt es die Liebe, die auch Homer bekannt ist. Aber Homer gleitet über dieses Thema mit einer für den heutigen Geschmack unerhörten Interesselosigkeit hinweg. Achill ζ. B. liebt Brisei's und wird wiedergeliebt (Ii. IX, 343; I, 348), doch über diese und zahlreiche andere in den Epen auftauchende Liebesgeschichten gibt es nur flüchtige Andeutungen, die uns nie in die private Gefühlssphäre der Personen führen und immer im Stadium eines einfachen äußerlichen Hinweises bleiben. Könnte man sagen, wie mancher meint, daß der „homerische Mensch" die Liebe noch nicht entdeckt hatte, diesen unentbehrlichen Bestandteil der ganzen nachhomerischen Poesie? Oder daß die damaligen Dichter unfähig waren, von ihr zu sprechen? 10 J . Burckhardt, „Griechische Kulturgeschichte" Bd. IV = Gesamtausgabe Stuttgart-Berlin-Leipzig 1 9 3 1 , Bd. XI, p. 37. 1 1 „ L a scienza nuova seconda", op. cit., vol. II, p. 5.
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Zur Erklärung der Dinge ist es nützlich, sofort die einzige Ausnahme zu betrachten, den einzigen Fall, wo das Entstehen und Wachsen des Liebesgefühles dargestellt ist. Die Gestalt der Nausikaa erfreut sich natürlich der Sympathie der ganzen modernen Kritik. In ihrem Falle spricht Homer nicht nur von der Entwicklung eines beherrschenden und ausschließlichen persönlichen Empfindens, sondern er stellt es auch in den Mittelpunkt des Berichtes, indem er dazu entschlossen die Technik der epischen Erzählung erneuert: die Episode im VI. Gesang der Odyssee wird getragen von einem Gedanken, den man im Geiste des Mädchens schon vor der Begegnung hatte entstehen und wachsen sehen. Diese wird dann von ihrem Standpunkt aus beobachtet und berichtet. In dem Begebnis der Rückkehr des Odysseus ist Nausikaa nur eine Episodenfigur für den Aufbau, die dann verschwindet, ein Verbindungsglied. Es würde also ein Hinweis auf ihre günstige Rolle in den Plänen des Heimkehrers genügen. Statt dessen macht der Dichter aus ihren Liebesträumen das beherrschende Motiv der ganzen Episode. Am Anfang des Gesanges begreift man sofort, daß Nausikaa die zentrale Figur ist. Die Erzählung beginnt bei ihr: da ist das lange Panorama, wie man in der Filmsprache sagen würde, das den Weg der Athena begleitet, die ganze Stadt einfängt und schließlich bei dem Bett der Nausikaa anhält. Der Traum läßt keinen Zweifel an dem, was folgen wird: von diesem Augenblick an hat Nausikaa nur noch einen Gedanken. Sie bittet den Vater um den Wagen: „Also sprach sie; Verschämtheit verbot ihr von blühender Hochzeit / Wörtlich beim lieben Vater zu reden, der alles durchschaute" (vv. 66 s.). Hier wie in allem Folgenden, in der Begegnung mit Odysseus, in dem Manöver, ihm die Sympathie der Arete zu sichern usw. sind wir im Bereich der hintergründigen Worte, der Anspielungen, des Verschweigens. Alles Neuheiten bei Homer. Nausikaa ist in dem Alter, in dem auch im archaischen Griechenland, wie man glauben kann, die heranwachsenden Mädchen die Kinderspiele aufgaben, um sich in den Gedanken an den Gatten zu vernarren, wo sie sich in den erstbesten starken und schönen Gast verliebten und ihre erste Enttäuschung erlebten. Aber was tut
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Odysseus angesichts der unreifen Verführungsversuche durch Nausikaa? Spinnt er ein Idyll an, bändigt er väterlich den Überschwang des unerfahrenen Mädchens? Nichts davon - er denkt an seine Pläne und geht direkt auf das Ziel los. Auf der Gefühlsebene gibt es zwischen den beiden nichts Gemeinsames: Odysseus geht auf nichts ein, tut auch nicht so, als ginge er auf etwas ein, er schmeichelt dem Mädchen nicht, er verrät es aber auch nicht; er zeigt nicht einmal, daß er sie versteht, man weiß nicht einmal, was er von ihr denkt. Trotzdem ist er gesittet und höflich, aus natürlicher Höflichkeit richtet er an sie die ersten, taktvollen Worte (vv. 149-85). Für Odysseus sind solche Abenteuer nichts Neues. Das mit Kalypso, die auch einer beherrschenden Leidenschaft preisgegeben, aber angriffslustiger war, hat ihn einen langen Aufenthalt wider Willen auf der Insel der Nymphe gekostet, die ihn, den Traurigen und Weinenden, dort zurückhielt, ihn mit süßen und liebkosenden Worten umschmeichelnd, damit er Ithaka vergäße (Od. I, 55 ss.), oder auch ihn mit Gewalt am Fortgehen hindernd (V, 14 s. = IV, 557 s.; XVII, 143 s.). Die nach-homerische Literatur ist voll von umherirrenden Helden, die bei einer Frau Rast machen, ihre Liebe gewinnen und sie dann verlassen. Und jedesmal müssen die Dichter Vorwände und Rechtfertigungen erfinden, Verteidigungen und Verurteilungen des Treulosen beibringen, der entweder einen göttlichen Auftrag ausführt oder eine schwarze Verführerseele ist; und immer mehr konzentrieren sie das künstlerische Interesse auf die Verzweiflung der Frau. Das Drama der Medeen, der Ariadnen, der Didos wird zum Thema ganzer Dichtwerke: in der Medea des Euripides, „der Heldin der bürgerlichen Ehetragik", ist die „Verbürgerlichung des Lebens" dargestellt; und nach dem Vorbild des Euripides, dieses „Schöpfers der Pathologie der Seele" 12 , sind alle ähnlichen Erzählungen in der späteren Literatur gearbeitet, auch die in der Epik, die für dieses Motiv bei Homer kein Beispiel finden konnte. Es genügt, an Vergil zu denken, der, wenn er auch gefühlsbetonte und religiöse Verkleidungen vieler aus Homer gei z W . Jaeger, „Paideia", op. cit. I, pp. 434, 433, 443.
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nommener Episoden bietet, in der Geschichte von Dido etwas erfinden oder auf neuere und römische stilistische Vorbilder zurückgreifen muß. Aber gerade dadurch gelang es ihm, unvergängliche Bewunderung unter Lesern und Dichtern zu erregen: im Mittelalter ζ. B. „hatte für einen bestimmten Teil des Publikums besondere Anziehungskraft die pathetische Erzählung von den Abenteuern Didos, die später Augustinus zum Weinen brachte, und die wir immer unter den in den folgenden Jahrhunderten am meisten bewunderten Teilen des Gedichtes finden werden". 13 In der Episode der Nausikaa tut der Mann Odysseus nichts, was der Ansatz zu einer pathetischen Lösung werden könnte. Man wird sagen können, daß er Penelope liebe und deshalb die Liebe der Kalypso nicht erwidere und Nausikaa nicht bemerke. Es ist wahr: das Gefühl des Odysseus für Penelope ist das tiefste, das ein homerischer Held für sein Weib hegen könnte, aber es ist weit verschieden von dem, mit dem Penelope es erwidert. Für Penelope ist der Gatte der Mittelpunkt aller Gedanken, auch als die Hoffnung auf seine Rückkehr verloren scheint. Aber die immer wiederkehrende Formel, um das Empfinden des Odysseus während seiner Irrfahrten auszudrücken, ist: „Er wird seine Freunde noch sehen, / Finden sein Haus mit dem hohen Dach und das Land seiner Heimat" (V, 4 1 s., 1 1 4 s.; VI, 314 s.; VII, j6 s.; IX, 532 s.); das Heimweh des Odysseus bezieht sich auf Vaterland und Haus, und im Hause ist der geliebste Mensch der Sohn. Die stärkste Verbundenheit besteht in dieser Welt zwischen Vater und Sohn oder auch zwischen Freunden und Waffengefährten. In den Frauen ist also das Gefühlsleben viel mehr entwickelt; nur sie können die Liebe als eine ausschließliche, monomanische Leidenschaft empfinden - die wahre Liebe, wie wir sagen würden. Dieser Gefühlsreichtum der weiblichen Gestalten hängt sicherlich von der Stellung ab, die die Frau in der Familie und der Gesellschaft einnimmt. In den homerischen Gedichten ist trotz des gelegentlichen 1 3 D. Comparetti, „Virgilio nel medio evo" (1872), erster Neudruck, Firenze 1 9 4 3 , vol. I, p. 17.
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Auftretens von ungewöhnlich mächtigen Frauen die Überlegenheit der männlichen Welt schon fest gegründet und von der Institution der Einehe geweiht, die nur die Frau bindet. Und beim Fortschreiten zu Ordnungen, die von staatlichen Institutionen aufrechterhalten werden, verschlechtert sich bekanntlich die Stellung der Frau rasch. Man hat manchmal bemerkt, daß die Odyssee den weiblichen Gestalten mehr Raum gewährt, und daß sie der Frau eine höhere Stellung zuweist als die Ilias: aber das Auftreten zahlreicher weiblicher Figuren kommt von dem verschiedenen Thema, und die anscheinend höhere Stellung wird den fabelhaften und am Rande auftretenden Personen zugeschrieben, die stärker archaische Züge bewahren. Die wirkliche Situation der Frau, die schon in der Gestalt der Penelope durchschimmert, wird später von Hesiod kalt bloßgestellt, sowohl im Mythos von der Pandora als in den eingestreuten guten Lehren (Werke 373-75): Laß dich von keinem Weibe mit prunkenden Hüften betören, Das mit schmeichelnden Worten in deiner Hütte dich aufsucht. Wer dem Weibe vertraut, vertraut auch Betrügern und Dieben.
Penelope scheint noch über viel Autorität und Freiheit zu verfügen, sieht man aber gut zu, so sind ihre Rechte äußerst beschränkt. Wird sie Witwe und will sie sich wieder verheiraten, so schickt der Sohn sie zu ihrem Vater zurück oder entscheidet seinerseits über die neue Vermählung. Und auch in den Dingen des täglichen Lebens ist sie abhängig. Während der Vorbereitungen zum Bogenkampf sagt Telemach zu ihr (Od. X X I , 350-53): „ D u aber gehe ins Haus und besorge die eignen Geschäfte, Spindel und Webstuhl, heiß deine dienenden Frauen, sie sollen Auch ans Geschäft sich begeben. Der Bogen ist Sache der Männer; Aller, vor allem die meine; denn mein ist die Macht hier im Hause."
Hier ist die Aufforderung, sich zu entfernen, gerechtfertigt; viel härter klingt es, wenn Telemach mit denselben Worten (I, 352.-59) die an Penelope gerichteten Vorwürfe schließt, weil sie Phemios II'
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aufgefordert hat, weniger traurige Weisen als die von Troia zu singen: „Also wage dein Herz und Gemüt auch solches zu hören! Schwand doch vor Troia die Stunde der Heimkehr nicht nur Odysseus; Viele und andere Männer sind dort ja zugrunde gegangen. Du aber gehe ins Haus und besorge die eignen Geschäfte usw."
Außer an diesen beiden Stellen kommen die Verse fast völlig gleich, wie wir sofort sehen werden, bei der Begegnung zwischen Hektor und Andromache vor, die die Quelle für die beiden anderen sein kann; interessant ist aber, daß sich so leicht die Gelegenheit findet, diese Wendungen und die in ihnen enthaltene Mahnung zu wiederholen. Es ist die Formel entstanden, die den für die Frauen bestimmten Bereich bezeichnet: „weben und spinnen" sollte das sprichwörtliche Gebot bleiben, um sie in ihre Grenzen zu verweisen. Doch an der zitierten Stelle ist auch die erste Hälfte interessant, die die Folgen zeigt, welche die abseitige und untergeordnete Stellung für das weibliche Gefühlsleben hat. Das Herz der Penelope muß das Lied von den troianischen Begebenheiten ertragen, weil Odysseus nicht als einziger gefallen ist. Telemach wird sicherlich durch den Verlust des Vaters leiden, aber auch dieser Kummer ist eine der vielen Empfindungen, die sofort in dem Gemeinschaftsleben überwunden werden, in dem jeder sich einsetzen muß, um seinen Platz zu behaupten. Kaum hat Penelope sich entfernt, da sagt Telemach zu den Freiern (vv. 365-74): „Freun wir uns jetzt doch am Essen; es soll kein lärmendes Schreien Stören; es ist ja so schön einem Sänger zu lauschen wie diesem. Klingt doch die Stimme, als wäre es die eines Gottes. Doch morgen Sollen wir alle zum Markt uns begeben um Sitzung zu halten. Reden will ich und rücksichtslos und für immer euch sagen: Geht mir fort aus dem Haus!"
Penelope dagegen hat keine unmittelbaren sozialen Pflichten und Vorhaben: sie muß ertragen, und sie geht sogleich mit ihren Mag-
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den in ihre Zimmer, um den Gatten zu beweinen, bis Athena sie einschläfert. Dieses Bild der leidenden Frau ist auch uns geläufig genug, aber zur Zeit Homers, in der sie übrigens noch ganz andere Gefahren und Demütigungen kannte, ist ihre seelische Einsamkeit etwas Neues und Unbegreifliches. Eine genaue Darstellung der Lage der Frauen findet sich in der berühmten Episode von Hektor und Andromache, w o zum ersten Male die Verse vom Webstuhl und der Spindel vorkommen, die wir oben gehört haben. Hektor trifft Andromache nicht zu Hause an, »die mit dem Sohn und der M a g d auf die Bastion gegangen ist, laufend „einer Rasenden gleich". Bei der nun folgenden Begegnung spricht sie zu Hektor von ihrem künftigen Witwenstand, um ihn zu überreden, sich zu schonen; ebenso wird sie nach seinem T o d e sprechen (Ii. XXII, 440-515): ohne den Gatten als Stütze wird die Zukunft ein einziger Schmerz für sie und ihren Sohn sein; andere werden ihnen die Felder wegnehmen, die Waise wird keine Freunde haben, wird von den Gastmählern ausgeschlossen sein (an denen die Frau nicht teilnimmt). Hektor weiß und sagt es (VI, 448): „Einst wird kommen der T a g , da die heilige Ilios hinsinkt", irgendein Achaier wird dich Weinende als Sklavin fortführen, du wirst dich für andere abmühen und demütigen müssen usw. Wenn aber Andromache nur im Gedanken an den Gatten lebt (die Episode im VI. Gesang beginnt mit der Beschreibung, wie sie verzweifelt auf die Mauern eilt, die im XXII. Gesang, wie sie webt und warmes Wasser für Hektor bereitstellen läßt), so nehmen Hektors Gedanken einen anderen Lauf, wobei Andromache nur eine untergeordnete Stellung einnimmt. Er hat sich auf Veranlassung des Helenos in die Stadt begeben, er hat mit Hekuba, mit Paris, mit Helena gesprochen; beim Zusammentreffen mit der Familie gilt sein erster Gedanke dem Astyanax (vv. 399-404) und das „letzte Lebewohl" gilt auch dem Astyanax zusammen mit dem Gebet und dem Wunsch, er möge trefflicher werden als der Vater (vv. 466-81). Als er den Knaben in die Arme der Mutter legt, wird Hektor „ v o n Mitleid ergrif-
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fen" und spricht noch zu ihr, aber um ihr die Worte zu sagen, die wir schon kennen, und die hier fast brutal klingen: „Aber nun geh' ins Haus, besorge du deine Geschäfte, Spindel und Webstuhl, und mahne die dienenden Mägde, Fleißig am Werke zu sein. Der Krieg sei Sorge der Männer Aller, und meine zuerst, die hier aus Ilios stammen."
Aus den Episoden, die von Hektor und Andromache handeln, und die häufig als die Verherrlichung eines vorbildlich zärtlichen Ehemannes angesehen werden, wird im Gegenteil vor allem klar der Vorrang, den bei Homer das soziale Leben hat, die fast ausschließlich berufliche Charakterisierung der Person. Wir wissen, daß das einzige bestimmende Prinzip für das Verhalten der homerischen Helden das der Ehre ist; diese Ehre ist weder ein abstraktes Ideal noch ein Befehl des Gewissens, sondern die unmittelbare Anerkennung der vox populi. Auf die Mahnungen Andromaches antwortet Hektor mit aller Deutlichkeit (vv. 441 ss.): „Mich auch kümmert das alles, mein Weib, allein ich verginge Wohl in Scham vor den Troern und Frauen in Schleppengewändern, Wenn ich hier wie ein Feiger entfernt vom Kampfe mich hielte. Das verbietet mein Herz, denn ich lernte tapferen Mutes Immer zu sein und unter den ersten der Troer zu kämpfen, Schirmend zugleich des Vaters erhabenen Ruhm und den meinen!"
Sollte er fallen, so ist das, was Bedeutung hat, daß die anderen von Andromache sagen (vv. 460 s.)" Hektors Weib war diese, des tapfersten Helden im Kampfe / Unter den reisigen T r o e r n . . . " und von Astyanax: „...dieser ist trefflicher noch als der Vater" (v.479). Später, im Augenblick des Zusammenstoßes mit Achill, könnte Hektor sich zurückziehen in Anbetracht der allzu großen Überlegenheit des Gegners, der flehendlichen Bitten, die erst Andromache, jetzt Priamos und Hekuba an ihn gerichtet haben, und der Möglichkeit einer diplomatischen Regelung, wie er selbst sie im Monolog erwägt (Ii. XXII, 1 1 1 ss.: Helena und die Schätze zurückgeben). Den Ausschlag gibt aber der Gedanke an die Ehre, das heißt an das, was die Troer sagen würden:
Die Entstehung des privaten Empfindens „Jetzt aber, w o ich das Volk so unbesonnen verderbte, Scheu ich die Troer und troischen Frauen in Schleppengewändern, Daß nicht irgendein andrer, gemeiner als ich, von mir sage: Hektor verderbte das Volk, der eigenen Stärke vertrauend. Also werden sie sprechen; für mich aber war es dann besser, Offen im Kampf den Achilleus zu töten und wiederzukehren, Oder mit Ruhm von ihm selbst vor der Stadt erschlagen zu werden".
Und als er die verhängnisvolle Täuschung durch Athena-Deiphobos erkannt hat, da ist sein letzter Gedanke: „Kampf- und ehrlos will ich jedoch mitnichten vergehen, / Nein, nach gewaltiger Tat, von der noch Künftige wissen" (vv. 304 s.). Soweit die Gedankengänge Hektors. Für die Frau dagegen ist das intime Leben fast die ganze Wirklichkeit; für die Dichter wird es fast ihr „Berufsleben". Vom sozialen "Wirken ausgeschlossen und zur Beschauligkeit verurteilt, bauen sich die homerischen Frauen ein System von persönlichen Gefühlen auf, die die Männer noch nicht kennen. Während die Leidenschaften der Männer sich in der Versammlung oder auf dem Schlachtfeld entladen, während sie unversehens entstehen und mit der Tat wieder verschwinden, immer von Überlegungen begleitet sind, einen Endzweck haben, gewinnen die aus einer sozialen Bestimmung erwachsenden Leidenschaften der Frauen Dauer und werden damit irrational, zur fixen Idee. Daß diese Einseitigkeit im Gefühlsleben leicht ins Pathologische umschlägt, ist in der Ilias gut an derselben Andromache gezeigt, die in der Szene des VI. Gesanges und in der Schlußepisode (XXII, 460) als „eine Rasende" dargestellt wird. Das Auftauchen dieser weiblichen Empfindsamkeit ruft eine Änderung im epischen Stile hervor, der nun manchmal seine unpersönlichen Formeln, seine Objektivität aufgibt, um eine starke Bewegung zu vermitteln. Es kommt zu den ersten Äußerungen in pathetischem Tone. Wir sahen, daß der Dichter der Nausikaa mit Andeutungen spielt und die Episode der psychologischen Entwicklung des Mädchens gemäß aufbaut, statt dem äußeren Verlauf der Dinge zu folgen (der wäre: Odysseus kommt auf die Insel, er schläft ein, er wird durch eine unbekannte Stimme geweckt usw.).
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Die Begegnung zwischen Hektor und Andromache schließt mit einer ungewöhnlichen Szene pathetischen Sich-Hingebens. Andromache hat Astyanax wieder in den Arm genommen „unter Tränen noch lächelnd" (VI, 484) und geht nun fort Häufig zurück sich wendend und quellende Tränen vergießend. Bald erreichte sie nun die schöne, prangende Wohnung Hektors, des Männermörders, und traf die Mägde versammelt Dort im Gemach, und allen erweckte sie Jammer und Klage. Lebend noch ward Hektor beweint in seinem Palaste.
Und als Hektor gefallen ist, webt sie, noch ahnungslos, bunte Muster in ein Gewebe (XXII, 440 ss.): Eben rief sie die flechtengeschmückten Mägde im Hause, Gleich einen wuchtigen Dreifuß aufs Feuer zu stellen zum warmen Bade für Hektor, sobald er zurückgekehrt aus dem Kampfe. Ach die Betörte! Noch wußte sie nicht, daß ihn weit von dem Bade Pallas, die Funkelnde, hatte besiegt durch die Hand des Achilleus.
Beim Anblick des toten Hektor dann wird sie ohnmächtig, und sie verliert den Schmuck und den Schleier, den sie bei der Hochzeit trug; wieder zur Besinnung gekommen ruft sie aus: „Jetzt aber fressen dich bald bei den Schiffen und fern von den Eltern Wimmelnde Würmer, nachdem sich erst noch die Hunde gesättigt, Ganz entblößt, obwohl im Palaste Gewände doch liegen, Weich und fein und künstlich gewebt von den Händen der Frauen. Aber ich werde sie alle verbrennen in loderndem Feuer, Nicht zum Nutzen für dich, denn du ruhest ja nimmer in ihnen, Sondern zum Zeichen des Ruhms vor den Troern und troischen Weibern."
Und in der Klage des letzten Gesanges (XXIV, 743 ss.): „Sterbend hast du mir nicht die Hände gereicht aus dem Bette, Hast kein tröstliches Wort mir gesagt, daran ich beständig Denken könnte bei Tag und bei Nacht mit fließenden Tränen!"
Die große Geste der Ilias weicht hier dem intimen Familiendrama. Es beginnt die veristische Beschreibung der eigenen Empfindung dort, wo diese zum ersten Mal auftaucht: in der am Rande
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der Gesellschaft gehaltenen Frau. Mit Andromache und Nausikaa fängt in der westlichen Literatur eine neue Zeit an. Hören wir, wie Giambattista Vico die homerische Epik und die spätere sentimentalische Dichtung voneinander scheidet: „Dieses galante Heldentum gehört zu den Dichtern nach Homer, die seine Sagen entweder vollständig neu bearbeiteten oder - weil im Laufe der Zeit die Sitten sich effeminierten - jene Sagen veränderten und schließlich verdarben, die zunächst ernst und streng geboren waren, wie sie sich für die Gründer von Nationen schickten. Eine sichere Probe für diesen Umstand ist, daß Achill, nachdem Agamemnon ihm Briseis weggenommen hat, zwar genug Lärm macht, um Himmel und Erde zu erfüllen und um der ganzen Ilias das Thema zu liefern, doch in der ganzen Ilias auch nicht das geringste Zeichen von verliebtem Mißvergnügen über ihren Verlust gibt; und Menelaos, der Helenas wegen ganz Griechenland gegen Troia führt, gibt während dieses ganzen und langen Krieges auch nicht das geringste Zeichen dafür, daß er von Liebe gequält sei oder eifersüchtig auf die Tatsache, daß Helena von Paris genossen wird, der sie ihm geraubt hat." 14 Und in der Tat gefielen sich die späteren Dichter, „als die Sitten sich effeminierten", darin, das verliebte Mißvergnügen des Achill und die Liebesqualen des Menelaos darzustellen. Die späten mythologischen Kompendien sind voll davon, wie Schiller einmal nach einer Lektüre des Kompilators Hyginus bemerkte: „Merkwürdig ist es, wie dieser ganze mythische Zyklus . . . nur ein Gewebe von Galanterien und, wie sich Hyginus immer bescheiden ausdrückt, von Compressibus ist, und alle großen und fruchtbaren Motive davon hergenommen sind und darauf ruhen" (Brief an Goethe, z8. August 1798). Während der Entwicklung zur sentimentalischen Dichtung erobert sich die Frau in der Poetik eine Stellung, die umso höher ist, als ihre Stellung im wirklichen Leben immer geringer wird; in dem Sinne, daß die weiblichen Figuren immer mehr dominieren, sozusagen als Vorläufer der „modernen" Sensibilität. Oder besser ge1 4 „ L a scienza nuova seconda", op. cit., vol. I, p. 3 4 z s.
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sagt, es gibt künftighin eine doppelte Darstellung der Frau. Auf der einen Seite jene weiberfeindliche Richtung, die bei Hesiod und Semonides anfängt und unter verschiedenen Formen in der Lyrik, im Drama, in der Philosophie fortlebt. Sie spiegelt jene politischjuristische Unterlegenheit der Frau wider, die in der Orestie des Aischylos als unerläßliche Bedingung der Demokratie verkündet und lapidar von Thukydides (II, 45) in der Grabrede des Perikles umgrenzt wird: „Soll ich auch noch der Frauen, die nunmehr Witwen geworden sind, gedenken und von der Frauentugend sprechen, so kann ich alles in die kurze Ermahnung zusammenfassen: erfüllet ohne Rest die Pflichten, die eure Natur euch zuweist, so wird man euch loben, und wenn von einer Frau, sei es im Guten, sei es im Bösen, unter Männern möglichst wenig gesprochen wird, so ist das ihr höchster Ruhm". In der Tragödie ist das „Schweigen und Zu-Hause-Bleiben" als Tugend und Pflicht der Frau eine schon sprichwörtliche Formel (Aischylos, Sieben gegen Theben, 232; Sophokles, Aias, 293; Euripides, Herakliden, 476 s.). Doch auf der anderen Seite fährt gerade die Tragödie und die hohe Dichtkunst im allgemeinen fort, in ihren weiblichen Gestalten die Personen zu schaffen, die im Guten wie im Bösen die großartigsten, den Problemen ihrer Zeit am offensten, in Intellekt und Empfinden am tiefsten sind.15
Epische Dichtung und Freiheit Nach dem, was wir, sehr schematisch, über die Unterschiede zwischen der männlichen und der weiblichen Welt gesagt haben, könnte es scheinen, als ob es zwischen beiden nur geringe Verstän1 5 Für die Gründe der Sympathie, die auch viele moderne Schriftsteller für die weiblichen Figuren und Zuhörer hegen, möchten wir unter anderen auf Boccaccio mit der Einleitung zum „Decameron" hinweisen. Und Goethe sagte zu Eckermann (5. 7 . 1 8 2 7 ) , daß die Frauen das einzige Gefäß seien, um die Idealität der neueren Dichter hineinzugießen: „ M i t den Männern ist nichts zu tun. Im Achill und Odysseus, dem Tapfersten und Klügsten, hat der Homer alles vorweggenommen."
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digungsmöglichkeiten gäbe und als ob sie im Werke Homers sich als verschiedene Größen gegenübergestellt fänden. Aber die männliche Sphäre ist nicht so geschlossen und undifferenziert, ist nicht so rückhaltlos der Ausübung der arete gewidmet, daß sie nicht Raum für eine innere, individuelle Entwicklung ließe; auch für die Helden finden sich die ersten Anzeichen einer wirklichen Charakterisierung. "Wir haben gesehen, daß die feststehenden Beiwörter gleich allen anderen „charakterisierenden" Formeln sich auf „gattungsmäßige" Berufsqualitäten der Helden, auf ihre soziale Stellung und ihre Stärke bezogen, nicht auf bleibende innere Eigenschaften. Aber es findet sich auch manche Ausnahme. Der ungewöhnlichste Held in dieser Hinsicht ist Patroklos. Als er tot ist und man um seine Leiche kämpft, da ermahnt Menelaos, der sich auf der Suche nach Antilochos entfernt, Meriones und die beiden Aias (Ii. XVII, 669 ss.): „Aias, ihr Fürsten der Männer von Argos, Meriones, höret, Jetzt gedenke ein jeder von euch der Milde des armen Patroklos, der es verstand, sich allen freundlich zu zeigen, Während er lebte; doch jetzt ergriff ihn der T o d und das Schicksal!"
Es ist eine kurze Grabrede auf dem Schlachtfeld, mit dem Ansatz zu einem Porträt des Gefallenen. Er war mild und freundlich. Die Attribute „Milde" und „Freundlichkeit" sind für einen homerischen Krieger und noch dazu auf dem Kampffeld unerhört. Das Abstraktum, das die Milde oder Freundlichkeit bezeichnet (ένηείη), kommt bei Homer sonst nicht vor; es gibt aber das entsprechende Adjektiv (ένηής), das mehrmals gerade dem Patroklos beigelegt wird, so daß es als festes Epitheton, aber von unbedingt neuer Art, gelten kann. Im gleichen Gesang (XVII, 204), als Hektor in den Waffen des Achill auftritt, die er dem Patroklos abgenommen hat, verkündet ihm Zeus sein Ende durch die Hand des Achill: „Ihm erschlugst du eben den Freund, den tapferen, milden (ένηής)", und der gleiche Ausdruck kehrt später (XXI, 96) in einem Satz wieder, den Lykaon zu Achill sagt. Nachdem sie den Leichnam des Patroklos verbrannt haben (XXIII, 252), sammeln die Männer des Achill
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in einer goldenen Urne die weißen Knochen des „guten Freundes" (έτάροιο ένηέος). Es ist interessant festzustellen, daß alle diese Stellen nicht dem ursprünglichen Kern der „Patroklie" anzugehören scheinen, und daß sie höchstwahrscheinlich Zusätze der letzten Hand sind, die die Ilias verfaßt hat. Die Milde und die Freundlichkeit, die hier von den Epitheta bezeichnet werden, bekommen Gehalt durch zwei Stellen des Epos, die zeigen, daß sie - wenn sie auch eine neue Sensibilität vorausnehmen - nicht eigentlich die ritterliche Höflichkeit ankündigen, die später eine Eigenschaft der großen Herren werden sollte, sondern daß es die Veranlagung eines Untergebenen ist, an die besondere Stellung gebunden, die Patroklos im Epos zugewiesen ist. In dem Gesang der Totenspiele weigert sich Achill, an dem Wagenrennen mit jenen Pferden teilzunehmen, die ihren „gütigen" Lenker (ήπιος, Ii. XXIII, 281) verloren haben, der so oft ö l auf ihre Mähnen gegossen hat, nachdem er sie gewaschen hatte. Und sie weinen, die beiden Roße mit der Mähne, die die Erde berührt, geängstigt in ihrem Herzen. Es liegt viel Pathetik in diesem Heraufbeschwören der Milde des Patroklos. Aber noch interessanter ist die andere Stelle: als Brise'is den zerfleischten Leichnam des Patroklos sieht (XIX, 282 ss.), da wirft sie sich über ihn, weint, zerkratzt sich die Brüste, den Hals und das Antlitz nach dem üblichen Totenritual. Die Klage dann aber hat einen sehr persönlichen Klang und macht aus der Güte eine typische und bleibende Charaktereigenschaft des Patroklos: als Achill die Geburtsstadt der Brisei's erstürmt und ihren Gatten getötet hatte, da hatte Patroklos sie getröstet: „Dennoch ließest du nicht, als der schnelle Achilleus den Mann mir Tötete und die Feste zerstörte des göttlichen Mynes, Mich dort weinen, sondern versprachst, mich zur Ehegemahlin Geben zu wollen dem hehren Achill, nach Phthia zu segeln Und mir die Hochzeit zu richten im Volke der Myrmidonen. Immer nur Gütiger, maßlos muß ich dein Ende beweinen!"
Patroklos bemüht sich also, eine Gefühlsbrücke zwischen der abgeschlossenen Welt der Gefangenen und Konkubine und der des reinen Kriegers Achill zu schlagen. In Patroklos, der ein unter-
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geordnetes und weniger aktives Dasein an der Seite des großen Freundes führt, keimt eine gewisse weibliche Sentimentalität auf. Während in der Gestalt des Achill das menschliche und künstlerische Interesse sich auf seine Taten konzentriert, auf seine gesellschaftlichen Bindungen, auf seine Stellung in der Öffentlichkeit als Herrscher und Krieger, der sich von den anderen nur durch größere Kraft und Macht unterscheidet - während Achill die gewöhnlichen Eigenschaften aller ihn umgebender Krieger, nur um einen Grad höher, zeigt, ist Patroklos künstlerisch interessant auch wegen der persönlichen, individuellen Gefühle, die den Grund und die Vorgeschichte seiner Handlungen bilden. Doch Patroklos ist noch eine Ausnahme, so wie jener Hektor eine Ausnahme ist, der einmal im letzten Gesang der Ilias als zarter Tröster Helenas beschrieben wird, in einer Stelle (XXIV, 762-75), die für besonders spät gehalten wird und zwei aus einem Gesang der Odyssee übernommene Verse enthält (vv. 765 s. = Od. X I X , 222 s.). Die anderen Beispiele individueller Charakterschilderung in naturalistischer "Weise betreffen natürlich Personen niedrigeren Standes, die hie und da wie Fremdkörper auf der Szene erscheinen. Die Gegenwart des Thersites (und auch des Dolon) in der Ilias ist wichtig, weil sie neue stilistische Elemente einführt. Wir haben gesehen, daß die Minderwertigkeit des Thersites mehr persönlicher als sozialer Natur ist, aber seine Kennzeichnung ist in einem Stil erfolgt, der in Zukunft zur Beschreibung jeder Art von minderwertigen Menschen passend bleiben sollte. Die komische Beschreibung seiner Person zeigt, daß er qualitativ für verschieden von den Helden gehalten wird. Der Abstand zwischen Thersites und den Helden ist größer als der zwischen den Helden und den Göttern. Thersites wird mit einem ungewöhnlich ins Einzelne gehenden Porträt eingeführt, und das Wichtige ist hier nicht nur seine Häßlichkeit, sondern gerade die Tatsache der zergliedernden Beschreibung, mit der Thersites auf das Niveau der unbelebten Gegenstände herabgedrückt wird (die Homer ebenso analytisch und naturalistisch beschreibt), und die von einer entsprechenden moralischen Charakterisierung begleitet sein muß (Ii. II, 2 1 2 ss.).
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Die Helden dagegen werden nie nach ihrem physischen Aussehen beschrieben; auch darin scheint der Dichter eine Analyse, die zu statisch wirken würde, vermeiden zu wollen, um die Person nicht von der sie umgebenden menschlichen Gesellschaft zu trennen. Wenn er etwas über das Äußere der Helden sagt, so geht er von Vergleichen aus und gibt nur relative Angaben. Der bekannteste Fall ist jener im III. Gesang der Ilias, als Helena von der Mauer aus dem Priamos die wichtigsten Führer der Griechen weist: Agamemnon ist nicht der größte, aber er ist schöner und majestätischer als die anderen und ragt durch sein königliches Aussehen hervor; Odysseus ist kleiner an Haupteslänge als Agamemnon, aber breiter in den Schultern, und er bewegt sich unter den Seinen wie ein "Widder in der Herde; Aias überragt alle an Haupt und Schultern. Eine Persönlichkeit wie Thersites kann in dem Epos nicht handelnd auftreten und kann nicht mehr als einmal vorkommen, ohne störend zu wirken. Nur eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen kann eine sozusagen reine und authentische epische Dichtung inspirieren in dem Sinne, daß nur in ihr die unmittelbare Darstellung der menschlichen Handlungen die ganze Wirklichkeit widerspiegelt. Diese Gesellschaft gab es gerade, als die homerischen Epen entstanden. Nach Homer ist es trotz aller Versuche, den erzählenden epischen Stil wieder herzustellen, nicht mehr möglich, die Menschen zu schildern, ohne ihre private Existenz von ihrem Berufsleben zu trennen, oder Einzelne und Gruppen zu beschreiben, ohne sie in die ihnen eigene geistige und seelische Atmosphäre einzutauchen, die der Stellung entspricht, die sie in einer vielschichtigen Gesellschaft einnehmen. Der Dichter kann von da ab nicht mehr seine geruhige Anonymität, seinen objektiven Ton bewahren in der Uberzeugung, die menschliche Wirklichkeit in aller Vollständigkeit zu beschreiben. Hesiod ist schon ein „entrüsteter" Dichter. Die notwendige Beziehung zwischen Freiheit und epischer Dichtung wird von Francesco De Sanctis gut herausgearbeitet, wenn er an einer schönen Stelle, in der er im Sinne Hegels erklärt, die Vor-
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bedingung der Epik sei, „daß die Gesellschaft frei sei und die Individuen frei seien", von der höfischen Dichtung und von Karl d. Gr. spricht, als spräche er von Homer und Agamemnon: „Betrachtet die höfische Gesellschaft. Die Freiheit ist eine der Vorbedingungen, die sie poetischer macht. Unterhalb ihrer gibt es die gemeine M a s s e . . . Über ihr scheint es eine Hierarchie zu geben: da gibt es einen Papst, einen Kaiser, von dem alles abzuhängen scheint. Aber der entwaffnete Kaiser hat gar keine M a c h t . . . Was ist Karl d. Gr., der auch historisch der größte Mann seiner Zeit war, in diesen Romanen? Er ist der Kaiser, und tatsächlich: wenn es sich um eine Prozession, um ein Fest handelt, so ist er inmitten, und die anderen umgeben ihn. Muß aber gehandelt werden, so erweisen sich die so getreuen Untertanen als recht ungebärdig; der eine beleidigt ihn, der andere ohrfeigt ihn, der nächste läßt ihn im Stich." Und weiterhin, über den Ausdruck der physischen Kraft in der Freiheit: „Keine Gestalt ist epischer als Achill, der Typus der physischen Kraft. In kultivierteren und spirituelleren Zeiten tritt die moralische Auffassung an die Stelle der ästhetischen Auffassung. Dann gibt es den frommen Aeneas, den frommen Gottfried, kalte und der Erhabenheit ermangelnde Persönlichkeiten . . . Solange in der Wertung des Mannes die physische Kraft an erster Stelle steht, solange dauert die epische Dichtung und das Reich der Heroen." 16 Diese ideale Definition der Freiheit als Vorbedingung für die epische Dichtung paßt besser auf die homerische Poesie als auf die Ritterdichtung, wo die Freiheit im Grunde nur durch einen dichterischen Kunstgriff besteht, wo eine Form von unwirklichem Leben aufgebaut ist. „Schon im höfischen Roman ist die Liebe sehr oft der unmittelbare Anlaß zu den Heldentaten; dies lag, bei dem völligen Mangel einer praktischen Motivierung des Handelns durch einen politisch-geschichtlichen Zusammenhang, sehr nahe", also „bleibt als E r g e b n i s . . . , daß die höfische Kultur der Entwicklung 16 F. De Sanctis, „ L a poesia cavalleresca e scritti vari" ( 1 8 5 8 - 5 9 ) , Bari 1 9 5 4 , pp. 1 7 , 18.
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einer literarischen Kunst, die die Wirklichkeit in ihrer vollen Breite und Tiefe erfaßte, entschieden ungünstig war". 17 Aber die höfische Dichtung war immerhin die, welche ganz natürlich die meiste Ähnlichkeit mit der griechischen Epik Homers aufwies. In feingebildeten Zeiten hat es immer gelehrte Dichter gegeben, die beflissen versucht haben, die homerische Epik zu erneuern, die für sie das Goldene Zeitalter der Poesie bedeutete; aber je mehr poetische Intelligenz sie hatten (und sie begnügten sich nicht damit, die Äußerlichkeiten des Stiles nachzuahmen, sondern suchten ihn auf die Inhalte ihres wirklichen Lebens anzuwenden), desto zwangsläufiger und entschiedener mußten sie sich von ihren Vorbildern entfernen. Äußerliche Nachahmung und moderner Inhalt sind ζ. B. in den Argonautica des Apollonios Rhodios, des Dichters aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., in ein prekäres Gleichgewicht gebracht, wo die Welt der Epen konsequent in ihre Teile zerlegt erscheint; jeder ihrer Teile ist bewahrt, aber für sich verarbeitet: und die ganze epische Maschinerie dient nur als einfacher Hintergrund für intime, gefühlsbetonte Geschehnisse, in deren Mittelpunkt natürlich eine Frau steht - Medea. Auch heute noch wird der epische Stil manchmal als einer der literarischen Stile betrachtet, die immer, sei es auch in zweckdienlicher Form, zur Verfügung stehen. Aber gerade durch die mißglückten Versuche, diesen Stil wiederzubeleben (besonders in dem „bürgerlichen Idyll" Hermann und Dorothea), kam Goethe zu der Erkenntnis, daß in der homerischen Epik Charaktere auftreten, die historisch bedingt und unnachahmbar sind: „ . . . die Personen" der Epik und Tragödie „stehen am besten auf einem gewissen Grade der Kultur, wo die Selbsttätigkeit noch auf sich allein angewiesen ist, wo man nicht moralisch, politisch, mechanisch, sondern persönlich wirkt. Die Sagen aus der heroischen Zeit waren in diesem Sinne den Dichtern besonders günstig. Das epische Gedicht stellt vorzüglich persönliche Tätigkeit, die Tragödie persönlich beschränktes Leiden vor; das epi1 7 E. Auerbach, „Mimesis", 1 . Aufl., Bern 1946, pp. 1 3 9 , 140.
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sehe Gedicht den außer sich wirkenden Menschen: Schlachten, Reisen, jede Art von Unternehmung die eine gewisse sinnliche Breite fordert; die Tragödie den nach innen geführten Menschen, und die Handlungen der echten Tragödie bedürfen daher nur weniges Raum" („Uber epische und dramatische Dichtung," Beilage zum Brief an Schiller, 23. Dezember 1797). Indem er diese Prinzipien auf Hermann und Dorothea anwendete, mußte Goethe schließen, „daß es nicht außer sich wirkende, sondern nach innen geführte Menschen darstellt und sich auch dadurch von der Epopee entfernt und dem Drama nähert" (Brief an Schiller, 23. Dezember 1797). Als er später von der epischen Verwertung des Themas des Todes des Achill sprach (eines ausgesprochen tragischen Themas), bemerkte Goethe; „Was den Effekt betrifft, so würde ein Neuer, der für Neue arbeitet, immer dabei im Vorteil sein, weil man ohne pathologisches Interesse wohl schwerlich sich den Beifall der Zeit erwerben wird" (Brief an Schiller, 27. Dezember 1797).
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Codino, Homer
RELIGION UND M Y T H O L O G I E Die Beziehungen zwischen dem Olymp und der Erde Die Freiheit der homerischen Welt erscheint sehr beschränkt durch die Anwesenheit so vieler Götter, die sich auf der Erde umhertreiben, den Menschen in den verschiedensten Gestalten erscheinen und sich regellos in die menschlichen Angelegenheiten einmischen. Die so viel untersuchte und bewunderte homerische Mythologie ist noch heute der Gegenstand einander widersprechender Deutungen. Der „göttliche Apparat" wäre der Ausdruck ernsthaften religiösen Nachdenkens oder eine literarische Konstruktion, die der Dichter nach Gutdünken handhabt? Die letzte Ansicht, die von hervorragenden Gelehrten vertreten wird, erscheint auf den ersten Blick als die annehmbarere. Der Grund leuchtet ein. Der homerische Mythos ist ein völlig einzig dastehendes Phänomen, er ist nicht das Ergebnis von Verstandesarbeit, das logisch begreifbare Ergebnis eines theologischen Bemühens, und er ist nicht einmal der unmittelbare Reflex „echter" religiöser Erfahrungen, also unseren modernen religiösen Erfahrungen oder denen der Wissenschaft bekannter primitiver Völker vergleichbar. Übrig bleibt nur ein Feld, auf dem man den homerischen Mythos unterbringen kann: auf dem der dichterischen Phantasie. Das ist wahr, aber in einem Sinne, der genauer zu bestimmen ist. Man wird vorsichtig sagen können, daß die Griechen zur Zeit des Homer wohl eine Religion besessen haben, die nicht nur reiner Kult oder reine Poesie war, und daß irgend eine Beziehung zwischen dieser Religion und der homerischen Mythologie bestanden haben muß. Unsere Kenntnisse über die Entstehung der griechischen Religion sind gering und außerdem wirr, weil sie einige isolierte Punkte in den verschiedenen Erlebnissen eines Volkes erhellen, das ohne die geringste politische oder geistige Einheit
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war. Die Griechen waren früh dazu gekommen, den numinosen Naturkräften menschliche Gestalt und menschliches Dasein zuzuschreiben. Es hatte eine mykenische Religion gegeben, die Gottheiten aus früheren Religionen übernommen hatte; mykenische Gottheiten, die wir bei Homer wiederfinden, waren von den neuen Einwanderern beibehalten worden. Diese Einwanderer hatten ihrerseits die übertragbaren Gottheiten mit sich gebracht, das heißt: jene, die nicht an bestimmte Kultorte gebunden waren. Das Nebeneinander aller dieser Götter warf Probleme auf, die im Kult in verschiedener Weise gelöst wurden: eine Lokalgottheit konnte in ihrem begrenzten Bereich weiterleben, auch wenn man Götter verehrte, die in viel größeren Bezirken anerkannt wurden; ein alter Gott konnte mit einem neuen verschmelzen, wobei er ihm vielleicht seine Attribute überließ; ein an verschiedenen Orten verehrter Gott, der so zu einem höheren Rang aufstieg, konnte sich eng an verschiedene Kultorte binden, wobei er in jedem unter einem doppelten Namen auftrat: unter seinem Namen, verbunden mit einem lokalen Epitheton, einer Art von Zunamen, der entweder von dem Ortsnamen oder von dem Namen einer älteren, aus ihrer Stellung verdrängten Gottheit stammte. Der Apollon Smintheus, der in der Ilias Chryse beschützt (I, 37 s.), ist eine Lokalgottheit und gleichzeitig der große olympische und panhellenische Gott: er hat seinen Kult und seinen Altar in Chryse, wo Odysseus ihm die Hekatombe opfert (vv. 447-56), doch er steigt vom Olymp herab, um die Achaier zu bestrafen, und das Heer bringt ihm Opfer auf dem Schlachtfelde von Troia dar (vv. 3 1 5 - 1 8 ) . Diese Einzelheiten des Kultes geben nicht viel über das Wesen der griechischen Religion zu Homers Zeit aus, und sie erlauben uns ζ. B. nicht zu sagen, ob es eine persönliche Religiosität neben dem offiziellen oder volkstümlichen Ritus gegeben habe. Aber wir haben nicht die Absicht, uns auf ein zu schwieriges Terrain zu begeben, und für uns wird es genügen, uns an das zu halten, was sich aus dem mythologischen Inhalt der Epen ergibt. Seinerzeit haben wir gesehen, in wie beschränktem Umfange die homerischen Helden sich für ihre Handlungen verantwortlich fühlen: die anderweits unII*
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erklärlichen Impulse oder die unvorhergesehenen Folgen einer Tat werden dem Eingreifen der Götter zugeschrieben. Diese werden zur Erklärung für einzelne Vorfälle herangeholt. Alles das spiegelt sicher eine Seite des Volksglaubens wieder, eine Haltung, die in gewisser Weise auch für uns begreiflich ist: „Auch uns verschwindet das Bewußtsein, selbst etwas getan zu haben, wenn wir an Vergangenes zurückdenken, und wir fragen uns etwa: wie kam mir nur der Plan, der Gedanke dazu?" 1 Nun, die Epik bietet einen recht großen Ausschnitt aus dem Leben, so reich an verschiedenartigen und einander widersprechenden Begebenheiten, daß es zur Erklärung aller nicht nur häufiger göttlicher Eingriffe bedarf, sondern auch Eingriffe von vielen verschiedenen und untereinander uneinigen Göttern. Wenn die homerische Welt so viele Götter hat, so hängt das nicht nur von den äußeren Umständen ihres geschichtlichen Werdeganges ab, sondern auch von der Notwendigkeit, irgendwie die vielfältigen Motive für die Taten der Menschen ordnend zu erfassen, oder besser: sich von der erstaunlichen Buntheit des Lebens Rechenschaft zu geben. Z u Homers Zeit begnügte sich die epische Dichtung aber nicht damit, aus künstlerischen Gründen ein Sammelsurium von verschiedenen und uneinigen Göttern anzuhäufen: sie hatte eine nicht nur künstlerische Aufgabe, die von den Erfordernissen einer neuen historischen Situation gestellt wurde. Wenn die individuellen Handlungen von öffentlichem Interesse anfangen, eine Verantwortung und vielleicht auch eine Sühne nach sich zu ziehen, das will sagen: wenn sie auf ein höheres System ethisch-juristischer Grundsätze bezogen werden müssen, so wird es nötig, daß die Motive für diese Taten nicht nur an zufällige und kapriziöse Anstöße durch irgend eine beliebige Gottheit gebunden sind, sondern daß sie mit einer religiösen, entsprechend gesicherten, unwandelbaren, hierarchisch geordneten Sphäre in Zusammenhang stehen, die dazu dienen kann, die Handlungen nicht nur zu erklären, sondern auch, sie zu beuri B. Snell, „Die Entdeckung des Geistes", op. cit., p. 5 1 s.
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teilen, sie gutzuheißen oder sie zu verdammen. Z u Homers Zeit ist demnach ein Prozeß theologischer Systematisierung im Gange. Wer beschäftigt sich mit dieser Aufgabe? Die griechische Religion ist keine Offenbarungsreligion, sie besitzt keine heiligen Schriften, es gibt keine Priesterkaste, die Vollzieher des Kultus sind nicht die Schöpfer oder die Hüter oder die Ausleger von religiösen Doktrinen. Die einzigen, die, indem sie von den Göttern sprechen, die landläufigen mythologisch-religiösen Vorstellungen kodifizieren oder erneuern können, sind die Dichter. Und nur die Dichter üben einen tiefen und nachhaltigen Einfluß aus, weil ihre Weisheit anerkannt wird, weil ihr Wort in metrische Formen gegossen ist, die ihm seinen Wert sichern und es erhalten, und weil es sich von einem Lande zum anderen verbreiten kann. Deshalb konnten Homer und Hesiod die Lehrmeister aller Griechen werden. Herodot (II, 53) hatte nicht ganz Unrecht mit seiner Versicherung, daß sie als erste „es gewesen sind, die den Griechen die Sagen von der Abstammung ihrer Götter geschaffen haben, die den Göttern Namen gegeben, ihnen Ehren und Künste zugewiesen und ihre Gestalt beschrieben haben". Bestimmt dachten Homer und Hesiod und die anderen uns unbekannten Epiker nicht daran, heilige Schriften zu verfassen, und oft haben sie vielleicht landläufigen Vorstellungen ihrer Zeit nur eine wegen der künstlerischen Qualität „endgültige" Form gegeben; aber die von ihnen geschaffene verhältnismäßig einheitliche Kultur beweist den Einfluß und das Ansehen der epischen Dichtung. In dem Prozeß der Systematisierung und Moralisierung der Mythologie, der auf der einen Seite dazu bestimmt war, Richtlinien und Vorbilder für das Leben zu schaffen, auf der anderen Seite, Gerechtigkeit für die Menschen zu verbürgen, bezeichnet Hesiod schon einen Endpunkt. Er erzählt die Geschichte der göttlichen Welt wie eine Entwicklung vom barbarischen Zustand zum Reiche der Gerechtigkeit. Diese Entwicklung fordert, daß am Ende die unklare Aufteilung der Machtbefugnisse, die der Grund für Streitigkeiten im Olymp und für Unheil auf der Erde ist, genau umschrieben oder womöglich aufgehoben sei; das heißt: man muß auf einen Monotheismus zukommen. Hesiod teilt Zeus die unbedingte Vor-
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rangstellung zu, der für ihn fast der einzige Gott ist, der als „das Ordnungsprinzip für die Dinge und den Verlauf der menschlichen Angelegenheiten" verstanden wird, „als der Garant der Gerechtigkeit und infolgedessen als die Grundlage sozialer Ethik, als das mit jeder Vollkommenheit begabte Wesen", auch wenn er nicht geradezu „der Gott der innerlichen Devotion" ist.2 Bei Homer liegen die Dinge nicht so einfach. Vor allem ist die Schichtenbildung deutlich, auch wenn es nicht immer möglich ist, die genauen Linien der Entwicklung zu verfolgen, die ihre Ablagerungen in den Epen hinterlassen hat, also das „Ältere" und das „Jüngere" voneinander zu scheiden und einzuordnen. Erinnerungen an die „barbarische" Phase der olympischen Welt mit den Kämpfen der Götter um die Macht, dem Sieg des Zeus über Kronos und die Titanen sind häufig. Auch unter der Herrschaft des Zeus haben die Kämpfe nicht aufgehört: einmal ζ. B. haben sich Hera, Poseidon und Athena gegen ihn verschworen, und nur die Hilfe der Thetis hat ihn gerettet (Ii. I, 397-406). Ein andermal hat Zeus hoch oben in den Wolken Hera mit zwei Ambossen an den Füßen aufgehängt und alle die anderen Götter, die ihr beistehen wollten, auf die Erde geschleudert. Das sind alte Sagen der Art, wie sie sich in der orientalischen Mythologie des 2. Jahrtausends v. Chr. wiederfinden; in ihnen hat die Vorstellung von der Gottheit gar keine Beziehung zu der Idee der Gerechtigkeit in der hesiodischen Endlösung. Andere Male scheint diese Idee dem Dichter schon vertraut zu sein. An einer Stelle der Ilias (XVI, 384-93) wird die Flucht der troischen Pferde unter dem Bild einer Landschaft gegeben, die an einem stürmischen Tage von reißenden Flüssen und Gießbächen überschwemmt wird: Wie der wirbelnde Sturm die weite dunkelnde Erde Hart am herbstlichen T a g bedrängt, wenn ein reißendes Wasser Zeus ergießt, im Zorne die frevelnden Männer zu strafen, 2 A.-J. Festugiere, O. P., „Personal Religion among the Greeks". Second printing, University of California Press i960, p. 5.
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Welche gewaltsam richtend im Rat die Gesetze verdrehen Und vertreiben das Recht, das Auge der Götter mißachtend.
Das könnten auch Worte Hesiods sein. Ein anderes Beispiel von entwickeltem Glauben an die göttliche Gerechtigkeit steht in der Odyssee (XXIV, 3 5 1 s.), wo Laertes mit folgenden Worten die Nachricht vom Freiermord kommentiert: „Vater Zeus! ihr Götter! ihr lebt noch im hohen Olympos, / Wenn denn wirklich die Freier gebüßt ihre frevelnde Torheit." Zwischen diesen beiden Polen ist die homerische Vision von der göttlichen Welt begriffen. Aber die von uns erwähnten Fälle sind, auch wenn sie nicht alleinstehen, extreme Fälle, nicht repräsentativ für den Kern der homerischen Mythologie. Der barbarischen Kämpfe und Rachetaten der Götter wird als vergangener Dinge gedacht, wenn ζ. B. Zeus drohend daran erinnert, um Hera Furcht einzujagen, aber es geschieht nichts dergleichen bei Homer. Von den anderen beiden „modernen" oder „hesiodischen" Stellen findet sich die erste in einem isolierten Gleichnis, das heißt: außerhalb der eigentlichen Erzählung, und die zweite in einem Zusammenhang, der allgemein für eine späte Einfügung in die Odyssee angesehen wird. Man erinnere sich aber daran - und wir haben es bei der Besprechung der Gesellschaft in der Odyssee gesehen daß im Ganzen dieses Gedicht häufigere, wenn auch verstreute Hinweise auf die göttliche Gerechtigkeit enthält. In der Regel - wir wiederholen es - erscheinen die homerischen Götter, um den Anlaß zu einer menschlichen Handlung zu erklären oder die Gründe, die zu einem bestimmten Ergebnis geführt haben. Die Tat hat ihre Bedeutung an sich und wegen ihrer unmittelbaren Folgen; die theologische Erklärung geht also nicht über den augenblicklichen Impuls hinaus, der den Menschen zum Handeln gedrängt hat, und begreift in sich keine deterministischen Pläne auf lange Sicht. Die Götter sind nicht fähig, ein für allemal ein ganzes Menschenleben oder eine lange Reihe von Ereignissen im voraus festzulegen. Manchmal scheinen sie es zu tun (ζ. B. der Plan des Zeus gegen die Achaier), aber es ist nicht sicher, daß der Zweck wirklich erreicht wird, und in jedem Falle müssen die Götter oft
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und oft die Geschehnisse wieder ins Geleise bringen, weil die Menschen nach ihrem Gutdünken handeln, weil die Götter so zahlreich sind und sich gegenseitig behindern, weil es schließlich auch ein „Schicksal" gibt, das über ihnen allen steht.3 Wenn diese Götter nicht mit Wundern arbeiten, sondern sich damit begnügen, mit einem begreiflichen Anlaß menschliche Handlungen auszulösen, die dann einen ganz natürlichen Verlauf nehmen; wenn sie dazu dienen, die natürlichen Bindeglieder zwischen einer Handlung und der anderen aufzuzeigen, so können sie nicht sehr verschieden von den Menschen sein, ihnen nicht fernstehen. Sieht man gut zu, so erhebt sich die Gemeinschaft der Götter nur wenig über die Menschenwelt, und sie behält zu ihr vielfältige praktisch-gefühlsmäßige Bindungen. Die Götter sind die Stärkeren und verfügen auch über magische Kräfte, aber von diesen Kräften machen sie einen mäßigen und „natürlichen" Gebrauch, um Gutes oder Böses je nach Umständen und augenblicklicher Laune zu tun. Ihr Gesamtverhalten kann nicht von anderen Prinzipien geregelt werden als von denen, die das irdische Leben regeln. Man könnte die olympische Gesellschaft beschreiben, indem man ungefähr das wiederholte, was wir schon über die heroische Gesellschaft gesagt haben: Zeus führt das Kommando und führt es auch nicht, genau wie Agamemnon, die anderen verschwören sich gegen ihn und tun, was sie wollen, sobald sie es können. Im Bewußtsein einiger Zeitgenossen galt seine Macht vielleicht als endgültig befestigt, aber auch er muß wie der irdische König unaufhörlich zu Beweisen seiner Stärke und zu Drohungen greifen, um seine Stellung zu retten. 3 Siehe z. B. W . Kulimann, „Das Wirken der Götter in der Ilias", op. cit., pp. 82, 1 4 7 : „Das Zurückdrängen aller deterministischen Z ü g e der auf einer naiveren Bewußtseinsstufe konzipierten überkommenen Mythen, das in einer spezifisch homerischen Mythenkritik begründet ist, schuf für das ständige Engagement der Götter die nötigen Voraussetzungen"; „Ein Blick auf die vorhomerische Poesie, so weit er nicht durch die Quellenlage getrübt war, lehrte uns, daß vor Homer zwar manches von den Göttern erzählt und gedichtet wurde und daß die Götter schon vielfach mit Menschen in mannigfaltige Beziehungen gebracht waren, daß aber das ständige Eingreifen der Götter, das immer neue Durchbrechen des Geschehensablaufes etwas typisch Homerisches sein mußte."
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Z u den Zeiten Homers war der Anthropomorphismus in der griechischen Religion bei seinen letzten Schlußfolgerungen angelangt. Die göttliche Gesellschaft war, nicht genug, daß sie nicht im Gegensatz zu der menschlichen stand, nicht einmal eine „andere" jener weit überlegene menschliche Gesellschaft. Dank der realistischen Darstellung der Berührungspunkte und der wenig strengen hierarchischen Beziehungen zwischen den beiden übereinander liegenden und miteinander in Verbindung stehenden Schichten hatte die epische Welt als Ganzes an Tiefe, an Dichtigkeit und dementsprechend an Dynamik gewonnen. Für die Dichtung war das von Vorteil, aber die beiden Schichten liefen Gefahr, sich zu vermischen wie in einer menschlichen Gesellschaft, die sich nivelliert. Die Göttinnen verschmähen es nicht, sterbliche Männer zu heiraten oder ein Liebesverhältnis mit ihnen einzugehen, die Krieger kämpfen gegen die Götter, und manchmal richten sie sie übel zu (wie es Diomedes im V. Gesang der Ilias tut), ein Mann und eine Göttin können sich vertraulich, freundlich und gesittet miteinander unterhalten, wie Odysseus und Athena, als sie am Fuße eines ölbaumes beieinander sitzen (Od. XIII, 37z). Die Sagen von persönlichen Beziehungen zwischen Göttern und Menschen waren zwar sehr alt in den religiösen Mythen, neu aber war diese Neigung zur allgemeinen Nivellierung. Die Dichter mußten gewahr werden, daß der religiöse Gehalt der Mythologie sich immer mehr verflüchtigte. Hesiod hat mit den Musen gesprochen, die zu ihm sagten: „Seht, wir reden viel Trug, auch wenn es wie Wirklichkeit klänge, Seht aber, wenn wir gewillt, verkünden wir lautere Wahrheit". {Theogonie
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Damit erklärt er, daß er sich der Entdeckung und der Verbreitung ethisch-religiöser Wahrheiten widmen will, indem er die PseudoHistorien über die Helden beiseite läßt. Bei Homer scheint es dagegen, als ob im Ganzen und mit nur geringen Vorbehalten die Rechte der Dichtkunst sich bis zum Letzten durchsetzen.
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Bei Homer strebt die Vermenschlichung der göttlichen Gesellschaft ihrer Endphase entgegen. Nach den Kämpfen in einer fernen Vergangenheit geschieht auf dem Olymp nichts mehr, das nicht letzten Endes von den Taten der Menschen bestimmt sei. Diese Götter haben kein autonomes Dasein, sondern sind nur dazu da, die Bewegungen der Menschen zu beobachten und zur gegebenen Zeit einzugreifen. Auch wenn sie nur einfach zusehen, so tun sie das nie mit geruhigem Abstand. Einmal genießt Zeus behaglich das Schauspiel des Krieges (Ii. XI, 80-83; ähnlich VIII, 51 s.): getrennt von den andern Setzt' er sich weit entfernt, und sah voll freudigen Stolzes Nieder zur Feste der Troer, den schnellen Schiffen Achaias, Sah das Funkeln des Erzes und Würgende rings und Erwürgte.
Doch das Ergötzen des Zeus drückt nicht die unbedingte Überlegenheit des Gottes über die Menschen aus: an beiden Stellen genießt er einfach einen Augenblick der Ruhe, weil er kurz vorher Ordnung unter den Göttern geschaffen hat. Sonst sind die Götter, wenn sie den menschlichen Angelegenheiten beiwohnen, wie Zuschauer gesehen, die allzu interessiert in sportliche Wettspiele, in Wettkämpfe und Zweikämpfe sind, deren Überlegenheit und Würde von der starken, leidenschaftlichen Teilnahme wie ausgelöscht sind. Die Tribüne der Götter ist der Olymp, von wo aus man alles sieht, aber häufig ziehen die Dichter es vor, sie auch physisch auf den irdischen Schauplatz herabzuholen, damit sie besser sehen, sie mit einer schönen poetischen Irrationalität an einen weniger erhabenen und weniger entfernten Ort zu bringen. Im VIII. Gesang hat Zeus sich auf den Gargaros, einen Gipfel des Ida, begeben; Poseidon späht auf das Schlachtfeld von der Höhe von Samothrake (XIII, 12), die den Blick auf den Ida, die Burg von Troia und die Schiffe der Achaier freigibt. Athena und Apollon setzen sich (VII, 59-62) gleich an Gestalt zween mächtigen Geiervögeln, Hoch auf die ragende Eiche des wetterleuchtenden Vaters, Froh der Männer umher; die saßen gedrängt beieinander, Dicht in Reihen, umstarrt von Schilden und Helmen und Lanzen.
Die Beziehungen zwischen dem Olymp und der Erde
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Während die Menschen ihr mehr oder weniger glückliches Leben führen, das auch die unvermeidlichen Begegnungen mit den Göttern vorsieht, sind diese dagegen unglücklich in ihrer fixen Besorgnis um das Tun und Lassen der Menschen. Sie werden von den irdischen Dingen angezogen und fasziniert. Wir kennen sehr gut Epochen der Geschichte, in denen Meinungsverschiedenheiten über himmlische Dinge hier unten verderbenbringende Konflikte, Verurteilungen, Verfolgungen veranlaßt haben. In Griechenland geschieht, auch später, nie dergleichen. Z u den wenigen Verurteilungen aus religiösen Motiven kam es aus schlecht verhehlten politischen Gründen. Aber bei Homer kommt es sogar vor, daß es die Götter sind, die wegen der Menschen dauernd miteinander in Streit liegen. Anders könnte es nicht gehen. Die Welt der Götter kann nicht für sich allein existieren. Die Handlungen der Menschen werden verschieden begründet, entweder durch rein menschliche Ursachen oder durch Impulse, die man für überirdisch, für göttlich hält. Für die Götter kann es keine von oben kommenden Impulse geben und ihr Handeln - mag es rational oder irrational erscheinen - ist immer von dem bestimmt, was unten geschieht. Man kann sie sich nicht in einem glücklichen Dasein, völlig losgelöst von der Erde vorstellen. Die Generationen nach Homer glaubten, die „normale" Existenz der Götter sei die am Ende des I. Gesanges der Ilias beschriebene, als sie beim Mahle liegen und Apollon und den Musen zuhören: aber im Epos ist dies nur ein Intermezzo zu dem Zwecke, die Atmosphäre nach dem Streit zwischen Zeus und Hera aufzuhellen; es hat eine poetische Aufgabe, deren Notwendigkeit wir bald sehen werden. Und nach dem Fest kann Zeus nicht schlafen, weil er überlegt, wie er Achill Genugtuung verschaffen könne (II, 1 - 4 ) . Bei näherer Betrachtung erscheinen die Götter sogar weniger majestätisch und göttlich, wenn sie bei sich zu Hause sind. Das kommt daher, daß die Lichter und Schatten des ernsten menschlichen Lebens sich dann schwächer in ihnen widerspiegeln; und damit entwickelt die dichterische Phantasie folgerichtig, bis auf den Grund die zweideutigen Aspekte dieses unbefangenen Anthropo-
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morphismus. So kommt es zu jenem einzigartigen und für viele Griechen der klassischen Zeit anstößigen Phänomen: der komischen Darstellung der Götter. Wir sahen, daß es außerhalb der Erzählung, in den vereinzelten gnomischen Sätzen, sehr wohl eine wirkliche religiöse Vorstellung von den Unsterblichen gibt. Diese Vorstellung fließt manchmal so weit wie möglich auch in die poetische Darstellung ein, wenn ein Gott in einem Augenblick der Einsamkeit beschrieben wird: so der schreckliche Apollon vom Anfang der Ilias oder Poseidon, der Troia von der Höhe Samothrakes aus betrachtet, mit großen Schritten vom Gebirge herabsteigt und dann, in Gold gekleidet, von den Seeungeheuern begrüßt über das Meer fährt (Ii. XIII, 10-38). Viel wandelbarer ist die Würde der Götter, wenn sie sich unmittelbar und leidenschaftlich in die menschlichen Angelegenheiten mischen; dabei schwanken sie je nach den augenblicklichen poetischen Notwendigkeiten zwischen den Extremen einer furchtbaren Allmacht und einer völlig menschlichen Schwachheit. Aber wenn sie beieinander und sozusagen sich selbst überlassen sind, dann kann und muß das Herabdrücken der Göttergemeinschaft auf das menschliche Niveau vorbehaltlos durchgeführt werden; der Dichter versucht es nicht einmal, ihrem Dasein im Himmel irgendein Gesetz zuzuschreiben, das von den in der Menschenwelt herrschenden verschieden wäre, und mit vollendeter Folgerichtigkeit und Unbefangenheit wendet er auch darauf die Prinzipien der episch-realistischen Darstellung an.
Die Götter unter sich Aber weshalb verwandelt dieser Prozeß der Vermenschlichung die Götter zuletzt in menschlich minderwertige Wesen, in komische und lächerliche Gestalten, während die Helden nie lächerlich werden? Die Helden haben immer ihre Zornesausbrüche, doch sie bleiben ernste und tragische Figuren, während die Götter oft streitsüchtig und Friedensstörer sind, schreiend aneinander geraten wie
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ein Familie von reizbaren „entfremdeten" Kleinbürgern. Man muß eine Erklärung für diese Verwandlung der Mythologie in eine Farce finden, die jener religiösen Forderung und Richtung widerspricht, die doch, wie wir sahen, in den gleichen homerischen Gedichten auftaucht. Zur Erklärung genügt es nicht, auf die Entstehungsgeschichte der Epen hinzuweisen, indem man den Widerspruch dem verschiedenen Ursprung ihrer einzelnen Teile zuschiebt, denn die unausgesprochene theologisch-religiöse Idealisierung und die offenkundig komische Darstellung kommen beide ebenso in den Episoden der Epen vor, die für älter wie für jünger gehalten werden, und sie kommen auch nebeneinander in der gleichen Episode vor, wie wir sehen werden. Um die Komik dieser olympischen Szenen zu erklären genügt es nicht einmal, den ionischen Rationalismus oder philosophischen Pessimismus anzuführen, wie es moderne Kritiker getan haben, denn gerade in einigen subjektiven und vernünftelnden Zwischenbemerkungen, die dazu fast alle spät sind, wie der zitierte Vergleich mit dem Sturm, wird klarer die ernsthafte „hesiodische" religiöse Richtung sichtbar. Es genügt auch nicht, in den Götterszenen einfache Zugeständnisse an das breite Publikum zu sehen: das wäre eine Annahme, die nicht erklärt, warum die Komik ein Kennzeichen der Gottheit und ganz auf sie beschränkt ist. Um abstrakte Konstruktionen oder zu allgemeine Auslegungen zu vermeiden, wollen wir jetzt einige Episoden untersuchen, wobei wir mit der Schlußszene des I. Gesanges der Ilias beginnen. Es ist eine gut aufgebaute Episode, fest in der Geschichte vom Zorn des Achilleus verankert, deren wesentlichen Teil sie ausmacht, und sie kann als repräsentativ für unsere Ilias gelten. Thetis geht ihrem Versprechen an Achill gemäß zu Zeus, um ihn zu bitten, den Sohn zu rächen, ihm die im Streit mit Agamemnon verletzte Ehre wiederzugeben, indem er den Troern den Sieg verleihe. Zeus zögert aus Angst vor dem unvermeidlichen Zank mit Hera, doch schließlich gibt er Thetis sein feierliches Versprechen. Der gefürchtete Zank bricht sofort danach los, es fallen böse Worte
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und Drohungen, und es kommt nur nicht zum Schlimmsten, weil Hephaistos die Mutter zurückhält und unauslöschliches Gelächter unter den Götter erregt, indem er, der hinkende Schmied, allen reihum Nektar einschenkt. Das Fest der Götter dauert bis zum Sonnenuntergang, Apollon spielt die Leier, und die Musen singen. Nach Sonnenuntergang legen sich alle schlafen. Die Episode ist klar in zwei dramatische Szenen geschieden; trotz ihrer Kürze (im ganzen 1 1 9 Verse, von denen mehr als die Hälfte direkte Reden sind) ist sie reich an Ubergängen zwischen den verschiedenen Tonarten, vom Pathetischen zum Grotesken, vom Erhabenen zum Lächerlichen. Auf so geringem Raum gibt es den gewaltigen Zeus, der einsam auf dem höchsten der zahlreichen Gipfel des Olympos sitzt (vv. 498 s.), dann den zögernden und schweigsamen Zeus, der vor dem Schmälen der Gattin Angst hat („Eile nur wieder davon, daß Here es nimmer gewahr wird"), und gleich darauf folgt dieses großartige Bild des Versprechens, in drei Versen, die Phidias für seinen Olympischen Zeus inspiriert haben sollen, und die Vergil nachahmte: Sprach es und nickte ihr zu mit den dunkeln Brauen, Kronion, Und die ambrosischen Locken des Herrschers wallten ihm nieder Vom unsterblichen Haupt; es erbebten die Höhn des Olympos.
Mit Ehrfurcht von all den anderen Unsterblichen empfangen, ist er gleich danach in den Streit mit Hera verwickelt; es ist der erste heftige Ehezwist in der europäischen Literatur. Und doch sind die inneren Ubergänge so geschickt motiviert, daß keine Einzelheit den Leser stört. Die Begründungen sind alle von dem menschlichen Leben als Vorbild hergenommen. Thetis kann das Versprechen von Zeus erlangen, weil sie ihm einmal geholfen hat, als der Vater der Götter in einer Palastrevolution von Hera, Poseidon und Athena fast überwältigt worden wäre. Diese Episode, die sonst der Ilias fremd ist und hier in einer den Umständen angepaßten Version erzählt wird, ist ausführlich von Achill berichtet worden (vv. 394-406), aber Thetis spielt hier nur ganz diskret darauf an (vv. 503 s.: „ . . . wenn
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ich je mit Worten dir oder mit Taten / Unter den Himmlischen frommte"), und sie zieht es vor, sich eines echt weiblichen verführerischen Flehens zu bedienen: „Ohne Falsch versprich es mir jetzt und winke Gewährung, Oder versag's - nichts hast du zu fürchten! - damit ich erkenne, Wie ich verachtet nun bin vor allen unsterblichen Göttern!"
Es ist zu bemerken, und diese Beobachtung ist für die Kenntnis der homerischen Religion und Ethik sehr wichtig, daß weder Achill noch Thetis daran denken, Zeus als Hüter der irdischen Gerechtigkeit anzurufen, obwohl Agamemnon ihrer Meinung nach eine Anmaßung begangen hat: Zeus greift aus gewissen persönlichen Gründen ein, so wie am Anfang des Gesanges Apollon gegen die Achaier vorgegangen war, um seinem Priester Genugtuung zu verschaffen, der ihn angerufen hatte - nicht um die Ungerechtigkeit des Agamemnon zu bestrafen. Der Wortstreit zwischen Zeus und Hera wird von beiden Seiten mit einem bemerkenswerten Mangel an Logik geführt, der, je mehr er jeder theologischen Vorstellung und jedem religiösen Gefühl für die Gottheit widerspricht, desto mehr an menschlicher Wahrhaftigkeit gewinnt. Zeus hat Thetis gebeten, sich nicht von Hera sehen zu lassen; aber Hera ist natürlich (und auch Zeus dürfte das wissen) schon über alles unterrichtet. Die schlaue Gattin aber nützt diesen vom Dichter gelassenen Schatten eines Zweifels aus, um den Ehemann mit einer unbestimmt drohenden und herausfordernden Frage zu überfallen: „Welcher Gott hielt wieder mit dir, du Schlauer, Beratung?" Zeus antwortet in demselben allgemeingehaltenen Ton, indem er auf sein Recht pocht, gewisse Dinge für sich zu behalten. Da enthüllt Hera, nicht ohne sich zunächst als das arme Opfer hinzustellen („Nie doch war es mein Brauch, dich zu fragen noch zu erforschen, / Sondern ganz in Ruhe beschließest du, was dir genehm ist"), daß sie alles über seine Begegnung mit Thetis, über ihren Zweck und ihren Ausgang wisse. Diese Enthüllung und die Verspätung, mit der sie eintrifft, sind unter Göttern, die für all-
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wissend gehalten werden, völlig unlogisch, aber wir werden uns dessen nicht bewußt, weil die Szene absolut menschlich geworden ist, so menschlich im allgemeinen und wir möchten fast sagen im universalen Sinne, daß es hier einmal der Ilias gelingt, den modernen Leser zum Lächeln zu bringen. Ist es wohl Zufall, daß das verständnisvolle Lächeln (wie schon die Gemütsbewegung in den Szenen der Andromache) von einer Frau, vielmehr von zwei Frauen, und seien sie auch Unsterbliche, hervorgerufen wird? Zeus beendet schließlich die Auseinandersetzung, wobei er den Kopf verliert und mangels geeigneter Argumente seine Zuflucht zu unzusammenhängenden Sätzen und der unvermeidlichen Drohung, handgreiflich zu werden, nimmt. Diese Verse 561-67 enthalten zahlreiche syntaktische Brüche: „Listige, immer vermutest du; nie entgeh' ich dir heimlich! Dennoch vermagst du nichts zu erreichen: immer nur ferner Wirst meinem Herzen
du sein. D a s
wird
dich noch
schrecklicher treffen!
W e n n es also geschieht, so wird mir's eben belieben! Sitze doch ruhig und schweig, beherzige meine Gebote! Kaum w o h l schützte dich sonst der Unsterblichen Schar im Olympos, T r a t ' ich herzu und legte an dich die unnahbaren H ä n d e ! "
Der unlogische und realistische Verlauf des Streites, der seinen Höhepunkt und Schluß in dem sie volo sie iubeo des Stärkeren hat, wird von der andauernden Verlagerung des Gespräches von dem Einzelfall, der Begegnung mit Thetis, zu ganz allgemeinen Behauptungen charakterisiert, zu denen Hera übergeht, um ihren Anklagen größeres Gewicht zu verleihen, Zeus, um dem heiklen Thema zu entgehen und um das Fehlen vernünftiger Gründe wettzumachen. Also - wie es in solchen Fällen geht: es wird sofort ein „prinzipieller" Streit daraus. Hera: „Welcher andere G o t t . . . " ; „Immer ist es dir l i e b , . . . heimlich ersonnene Pläne zu schmieden!"; „Wagst du doch niemals, / Offenen Sinnes ein Wort mir zu künden, was du beschlossen!" Zeus: „ . . . hoffe nur nicht, mir in alle Pläne zu dringen..." Hera: „Nie doch war es
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mein Brauch, dich zu fragen noch zu erforschen . . . " Zeus: „Listige, immer vermutest du, nie entgeh' ich dir heimlich!" Diese ganze Diskussion ist in nur 28 Versen enthalten. Als sich die Dinge zum Schlechten zu wenden scheinen, wird der Zwist glücklich und unerwarteterweise durch Hephaistos beigelegt, dem es, nachdem er den Ernst des Streites und die wirkliche Gefahr, die die Sicherheit Heras und die Ruhe aller Götter bedrohe, bestätigt hat, wobei er an ein ähnliches früheres Geschehnis erinnert, das besonders für ihn schlecht ausgegangen war - dem es also gelingt, die Heiterkeit mit einer komischen Geste in die Gesellschaft zurückzubringen. Hephaistos, der hüfllahme Schmiedegott, übernimmt die Rolle des Mundschenken: er schenkt seiner Mutter den Nektar ein (vv. 597-600): Er aber schenkte rechtsherum den Unsterblichen allen Duftenden Nektartrank, den er schöpfte aus mächtigem Kruge. Unermeßliches Lachen erscholl bei den seligen Göttern, Wie sie Hephaistos schnaufend sich tummeln sahen im Saale.
Bemerken wir nebenbei, daß Hephaistos sich nicht nur bei dieser Gelegenheit lächerlich beträgt, sondern daß er von Natur aus lächerlich ist: er ist häßlich und ungeschlacht: „Die Griechen vermieden es in den homerischen Zeiten, sich einen häßlichen Helden vorzustellen. Die Häßlichen in der Ilias sind nie Heroen in unserem Sinne, wenigstens nicht hier auf Erden. Etwas anders verlaufen die Dinge im Himmel: Homer, der keine häßlichen Helden verherrlicht, singt von einem mißgestalteten Gott, Hephaistos." 4 Jedesmal, wenn er auftritt, reizt Hephaistos zum Lachen. Auch als Thetis ihn aufsucht, um ihn zu bitten, eine Rüstung für Achill zu schmieden, und er „lahmend" vom Amboß weggeht, „regten sich unter ihm rasch die schwächlichen Beine" (Ii. XVIII, 411). Derselbe Vers klingt noch komischer, als der Gott sich in der Schlacht zwi4 G. Pasquali, „Omero, il brutto e il ritratto" (1940), in: „Terze pagine stravaganti", Firenze 1942., p. 153. 13
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sehen den anderen Unsterblichen bewegt (XX, 37). Bei seinem ehelichen Mißgeschick schließlich, das Demodokos in der Odyssee besingt, erscheint er als die Karikatur des häßlichen, eifersüchtigen und betrogenen Ehemannes, der die Götter zu Zeugen seiner Schande herbeiruft (Od. VIII, 308-14): „Aphrodite, die Tochter des Zeus, mißehrt mich, den Humpier, Immer wieder, sie liebt ja den scheußlichen Ares, der ist wohl Schön und hat kräftige Füße, doch ich bin geboren als Lahmbein. Schuld daran ist ja kein andrer als einzig das Paar meiner Eltern; Beiden stand es nicht an, mich so ins Leben zu setzen. Hier aber könnt ihr es sehen, da liegen sich beide in Armen, Stiegen hinein in mein B e t t . .
Die Göttinnen bleiben schamvoll zu Hause, aber alle männlichen Gottheiten eilen herbei und lassen ihrem unauslöschlichen Gelächter und den boshaftesten Bemerkungen freien Lauf. Bis auf den Olymp mußte man steigen, um den Zwilling des Thersites zu finden, der typischen und von Haus aus lächerlichen Figur. Und man beachte, daß das Streben nach naturalistischer Zeichnung, das, wie wir seinerzeit sahen, auf Erden nur für Niedriggestellte gilt, sehr viel stärker erscheint, wenn die olympische Familie beschrieben wird. Vergleichen wir den Streit zwischen Zeus und Hera und die anderen olympischen Zwiste mit denen, die auf der Erde entbrennen. Menschliche Streitigkeiten und göttliche Streitigkeiten werden mit großem Elan und ungestümen Worten geführt, die aber im zweiten Fall einen komisch zänkischen Ton annehmen, der im ersten Falle fehlt. Die Zusammenstöße zwischen Sterblichen haben immer einen ernsthaften, wichtigen Hintergrund, und sie verlaufen nach einer unumstößlichen Logik. Achill und Agamemnon streiten sich um wirkliche Vorteile, sie haben eine ganz bestimmte Stellung in der Gesellschaft, die zusammenfassend in der Idee von der „Ehre" ausgedrückt ist, die sie sich erworben haben, und die sie verteidigen müssen. Ein zufällig ausgelöster Konflikt (Brise'is) hat unvermeidlich tragische und weittragende Folgen, und man wagt
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alles dabei. Auch der einleitende Wortwechsel zwischen Achill und Agamemnon wird rasch „prinzipiell", aber er hat einen ernstzunehmenden Inhalt, wie es die Folgen beweisen. Die menschlichen Zwiste müssen sich deshalb sofort in Handlungen umsetzen, von den Worten muß man zur Tat übergehen. Die olympische Gesellschaft ist zwar nach dem Vorbild der menschlichen aufgebaut, aber natürlich mußte das Aufgehen der einen in der anderen an einem bestimmten Punkte haltmachen wegen des ideologischen Wissens um die Unsterblichkeit der Götter, das im Bewußtsein der Allgemeinheit kanonisch geworden war. Wie die Menschen von einander widersprechenden Interessen und Gefühlen bewegt, können die Götter sich doch nicht um jeden Preis engagieren, um den Preis, einen endgültigen Bruch in ihrer Gemeinschaft herbeizuführen, um den Preis zu töten oder getötet zu werden. Die Konflikte der Götter müssen sich also auf die Zänkereien und Drohungen beschränken, die gerade wegen dieser tatsächlichen Ohnmacht der übermenschlichen streitenden Parteien übertrieben und karikiert werden müssen. Die übertriebene Heftigkeit des Wortes erscheint von einem rein rationalistischen und auf den Inhalt bedachten Blickpunkt aus annehmbar, denn wenn Zeus etwa Hera und den anderen Göttern furchtbare Strafen androht, so weiß man - wie wir schon sagten - , daß es wirklich Sagen dieser Art gab (auch in unserer Episode bringt Hephaistos ja eines dieser Aufsehen erregenden Ereignisse in Erinnerung); aber unter den in der Ilias beschriebenen Bedingungen, wo auf diese Begebenheiten nur angespielt wird, ohne daß je etwas Derartiges vorkäme, wirken diese Drohungen übertrieben und komisch. Bei dem Mangel an einem wirklich ernsthaften Inhalt und einer greifbaren Gefahr für die „menschliche" Lage und für das Leben der Streitenden, bei dem Mangel an genau bestimmten Wechselbeziehungen zwischen ihnen und demzufolge einem der „Ehre" entsprechenden Begriff können die Streitigkeiten im Olymp keine innere Logik haben, keine überzeugende moralische Bedeutung, keinen tragischen Schluß oder eine tragische Folge. In einer folge13'
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richtigen und unbefangenen Darstellung müssen diese Konflikte zwischen lärmenden und harmlosen streitenden Parteien zwangsläufig einen karikierenden Ton annehmen, müssen sie zu kleinbürgerlichen Familienzänkereien werden. In der Szene im I. Gesang ist diese unausweichliche poetische Lösung bis ins Letzte durchgeführt, und die theologisch-religiöse Absurdität der ganzen Episode ist mit aller notwendigen Ironie durch den Mechanismus der inneren Motivierungen glänzend verhehlt. Bei der dichterischen Behandlung dieser Szenen besteht die hauptsächliche Schwierigkeit darin, sie zu einem befriedigenden Schluß zu bringen. Sie können in der dramatischen Handlung kein Nachspiel haben. Der Streit zwischen Zeus und Hera war natürlich durch den Besuch der Thetis begründet, endet aber in einer Sackgasse, muß ohne weitere Folgerungen abgebrochen werden. In der Versammlung der Achaier hat Achill die Hand ans Schwert gelegt, selbst wenn er rechtzeitig innegehalten hat; Zeus muß sich damit begnügen, Hera mit der Drohung zu schrecken, er werde tätlich werden. Die Lösung bietet sich dem Dichter durch den ganzen Ton der Szene: von der verhehlten Komik im Wortstreit wird zu der offenkundigen Komik im Einfall des Hephaistos übergegangen, der vorzüglich dazu dient, auf poetischer Ebene das Fehlen einer wirklichen Lösung zu kaschieren, die das logische Denken des Hörers befriedigen könnte. Nach der Pantomime des Hephaistos erfreuen sich die Götter an Musik und Gesang, und so kann der Dichter dank einem komischen Einfall sofort dazu übergehen, den Palast der Unsterblichen als von einer unzerstörbaren Glückseligkeit durchwaltet zu beschreiben, die, wie alle wissen, eine reine Fiktion ist. Die Götter im
Kampfe
Wenn die Götter direkt an den Kämpfen der Menschen teilnehmen, so ist ihre Darstellung - wir sagten es schon - viel widersprüchlicher, ihre Würde viel schwankender: sie haben die Mittel, sich bei den Menschen durchzusetzen, doch auf der anderen Seite
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genügt es manchmal, daß sie sich unter die Sterblichen mischen, damit ihre Überlegenheit verringert oder aufgehoben werde. Die Widersprüche können unbemerkt bleiben, weil wir wissen, daß man in den homerischen Personen - seien es Menschen oder Götter - keine Einheitlichkeit der Charaktere suchen darf, und daß jeder sich gemäß den Augenblicksforderungen einer ganz bestimmten Szene beträgt. Aber die unausweichliche Tendenz ist, daß die Götter auf Erden ernsthaft werden, auch wenn sie von den Menschen Übles erdulden, während sie ins Komische zurückfallen, kaum daß sie auf den Olymp zurückkehren. Der Übergang von der einen Umgebung zur anderen erscheint mit der sich daraus ergebenden Verschiedenheit der dichterischen Atmosphäre klar in der Episode des V. Gesanges der Ilias, in der Aphrodite von Diomedes verwundet wird. Der Leser wird die erst pathetische, dann komische Entwicklung der ganzen Szene zu schätzen wissen, vorausgesetzt, daß er nicht diese gedemütigte Aphrodite mit jener in Einklang bringen will, die im III. Gesang solch eine Rolle spielte. Am Ende des Zweikampfes zwischen Menelaos und Paris rettet die Göttin durch ihr energisches und blitzartiges Dazwischentreten ihren vom Gegner schon überwundenen Schützling, zerreißt den Helmriemen, der ihn zu ersticken droht, entführt ihn in einer dichten Wolke und legt ihn in seinem Schlafzimmer nieder; dann unterwirft sie Helena mit schrecklichen Drohungen ihrem Willen, und der Widerstand der Frau läßt ihre übernatürliche Macht umso unerbittlicher erscheinen. Im V. Gesang (vv. 297—430) wird Aineias von Diomedes verwundet und befindet sich in großer Gefahr. Seine Mutter Aphrodite deckt ihn mit den Armen und dem Peplos, aber Diomedes hält nicht inne; er verwundet sie mit der Lanze an der Hand und begleitet die Flucht der jammernden Göttin mit drohenden Worten. Diese entleiht von Ares seinen Wagen und kehrt zum Olymp zurück, wo ihre Mutter Dione sie tröstet, ihr von anderen Leiden erzählt, die die Menschen den Göttern zugefügt haben, und sie heilt. Aber Athena und Hera suchen den Zorn des Zeus gegen Aphrodite zu erregen, Athena kommentiert das Geschehnis mit beißender
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Ironie, und Zeus ermahnt lächelnd Aphrodite, sich vom Kriege fernzuhalten. Hier haben wir eine ununterbrochene Folge von Szenen, die mitten im Kampf der Menschen beginnt und auf dem Olymp endet; der Übergang in die "Welt der Götter bezeichnet den Übergang vom Ernst zur Komik. Die Episode enthält späte Sprachformen, sie ist nicht in einem Wurf mit der Reihe der Taten des Diomedes entstanden, mit der sie nicht gut verbunden ist. Inhaltlich scheint sie aber auf eine alte Geschichte von Kämpfen zurückzugehen, in die Menschen und Götter verwickelt waren, wahrscheinlich auf einen Zyklus über die Taten des Herakles in Pylos, an den im ganzen Gesang verschiedentlich Erinnerungen auftauchen. In der Ilias ist die Verwundung einer Gottheit durch einen Sterblichen etwas Ungewöhnliches und verlangt nach einer Rechtfertigung. Während bei der folgenden Verwundung des Ares (vv. 846-63) die Brutalität des auch von den anderen Unsterblichen gehaßten Gottes und die aktive Teilnahme Athenas betont werden, ist hier gesagt, daß Diomedes zum Angriff gegen Aphrodite vorgeht, weil er weiß, daß die Göttin schwach ist (αναλκις θεός, v. 331). Im ersteren Falle mag die „theologische" Begründung überzeugen, umso mehr als der Mensch, Diomedes, als einfaches Werkzeug in den Streitigkeiten der Götter erscheint. Im zweiten Falle versucht der Dichter nicht einmal, eine theologische Erklärung zu geben, sondern stellt Aphrodite wie ein ganz menschliches, wehrloses Weib dar. Die Göttin, die im III. Gesang Paris mitten aus dem Zweikampf in Sicherheit gebracht, die ihn in Wolken gehüllt und entführt hatte, weiß hier den Verwundeten, der doch ihr Sohn ist, nur mit den Armen und dem Peplos zu schützen und versucht gar nicht, ihn zu verteidigen. Die Wunde ist nur ein Kratzer auf einem zarten Frauenarm unter dem von den Grazien gewebten Peplos, doch er genügt, daß Aphrodite jammernd Aineias fallen läßt und preisgibt. Auf Aphrodites göttliche Natur wird angespielt, wenn der Dichter von dem Blut spricht, das aus der Wunde spritzt (vv. 339-42):
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da rann des unsterblichen Blutes Saft, wie er lauter fließt in den Adern der seligen Götter; Denn sie essen kein Brot, noch trinken sie funkelnden Weines; Blutlos sind sie daher und heißen unsterbliche Götter.
Diese Stelle stammt aus irgendeiner Vorlage und vielleicht gerade aus einem Lied auf Herakles5: auf alle Fälle handelt es sich um eine Erläuterung, die nicht zur Handlung gehört. Während Aphrodite sich seinem Wüten entzieht, ruft Diomedes ihr nach (vv. 348-51): „Weiche, Tochter des Zeus, aus Kampf und feindlichem T o b e n ! Nicht genug, daß du Weiber von schwachem Sinne verleitest? N a h s t du aber noch einmal dem Kampfe, so bebst du gewißlich Scheu vor dem K a m p f e zurück, wenn du nur von ferne ihn hörest!"
In der einzigen Anspielung auf die unwiderstehliche Göttin, die mit den menschlichen Leidenschaften spielt, werden die „schwachen Weiber" ( γ υ ν α ί κ α ς ά ν ά λ κ ι δ α ς ) mit demselben Adjektiv belegt, das früher gerade für diese Göttin gebraucht worden war: die merkwürdige Unlogik beleuchtet die ganze Szene mit ihrer völligen Vermenschlichung der Aphrodite. Gleich danach wird die verwirrte Aphrodite von Iris hinweggeführt; sie kniet vor Ares nieder und fleht ihn an, ihr den Wagen zu geben, um nach dem Olymp zurückzukehren (vv. 359-62.). Auch diese Einzelheit ist angeführt, um die weibliche Zerbrechlichkeit der Göttin zu betonen (im III. Gesang ist nicht einmal gesagt, wie man vom Schlachtfeld in das Haus des Paris kommt). Die Ortsveränderungen der homerischen Götter geschehen auf verschiedene Weise, sie werden jedesmal gemäß der künstlerischen Notwendigkeit erfunden: man denke nur an das majestätische Eingreifen von Apollon und Poseidon in jenen schon erwähnten Anfangsszenen des I. und des XIII. Gesanges. Während hier Aphrodite den Wagen besteigt, „das Herz voll großer Betrübnis" (v. 364), steigt später Ares, dessen Wagen sich sehr zweckmäßig zur Verfügung Aphrodites gefunden hat und dann auf dem Olymp bleibt (Iris schirrt die Pferde 5 So M . Leumann, „Homerische W ö r t e r " , op. cit., p. i z 6 .
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aus und streut ihnen das ambrosische Futter, v. 369), mit den Wolken in den weiten Himmel hinauf zum Olymp, vor den Augen des Diomedes, der ihn verwundet hat „Wie aus Wolken geballt, ein finsterer Nebel sich bildet, / Wenn nach drückender Schwüle der W i n d mit Brausen emporfährt (vv. 864 s.) Auf dem Olymp angekommen, sinkt Aphrodite in den Schoß ihrer Mutter Dione, die die Tochter in die Arme schließt, sie mit der Hand liebkost und sie fragt: „ W e r mißhandelte dich?" Die Figur der sonst fast unbekannten Dione wird als eine Augenblickserfindung des Dichters angesehen, der eine tröstende Mutter für diese weinende junge Frau brauchte 6 . Um die Tochter zu trösten, hält Dione eine lange Rede, in der sie zunächst verschiedene Fälle aufzählt, in denen die Menschen den Göttern Leiden zugefügt haben, und dann versichert, daß der Schuldige, Diomedes, wegen seiner T a t ein böses Ende nehmen werde. Diese Rede hat zwei gut miteinander verbundene Aufgaben: einmal soll sie trösten, ist poetisch, von menschlichen Gefühlsregungen eingegeben (der Gedanke an die Schmerzen der anderen lindert die eigenen; der Schuldige wird dafür bezahlen), zum anderen soll sie, sagen wir ideologischtheologisch den Sonderfall in eine Gruppe von kanonischen „Beispielen" einreihen, indem gezeigt wird, daß der Angriff eines Menschen auf einen Gott, wenn auch in der homerischen Welt ganz außergewöhnlich, so doch nicht ohne Präzedenzfälle ist. Die Voraussicht eines schlimmen Endes für Diomedes andererseits führt, wenn auch unbestimmt, die Vorstellung von einer göttlichen Gerechtigkeit ein. Nach ihrer langen Rede pflegt und heilt Dione die Tochter. Hier könnte man sich fragen, warum sie sie nicht sofort geheilt habe, ohne sie leiden zu lassen, aber jede derartige Tüftelei wäre an
6 „Der Dichter brauchte eine Göttin, die der weinenden Aphrodite Trost zuspräche, dazu paßte die Mutter am besten; die mußte freilich erfunden werden": U. von Wilamowitz-Moellendorff, „Der Glaube der Hellenen", 2. Aufl., Berlin 1955, Bd. I, p. 315, Anm. 1. Im Kult und in den uns aus anderen Quellen bekannten Theogonien wird die Herkunft der Aphrodite in ganz anderer Weise erklärt.
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dieser Stelle mehr denn je verfehlt. Die Rede der Dione hat den Übergang von der menschlich-göttlichen zu einer kurzen rein olympischen Szene hergestellt, die die Episode beschließt. Die menschliche Logik würde verlangen, daß Aphrodite sich jetzt um ihren Sohn Aineias kümmere, der noch immer verwundet am Boden liegt, daß Zeus daran dächte (wenigstens als Vater, wenn schon nicht als oberster Gott), den Verwunder seiner Tochter zu bestrafen. Aber die Götter handeln nicht nach ernsthaften und logischen Überlegungen, und auch diesmal löst sich alles in einem Lächeln auf. Während Dione Aphrodite pflegt und heilt, sehen Athena und Hera zu und versuchen, Zeus mit bissigen Worten zu reizen. Athena spricht zu ihm (vv. 421-25): „ V a t e r Z e u s , ob du mir w o h l verargen wirst, w a s ich sage? Sicherlich wollte nun Kypris ein W e i b der Achaier verleiten, Auch mit den Troern zu gehn, die sie gar so lieb hat gewonnen, Streichelte eine vielleicht der geschmückten achaiischen Weiber Und verletzte die zierliche H a n d an der goldenen S p a n g e . "
Die Bosheit - mit der Anspielung auf Helena - ist dick aufgetragen, aber der Vater der Götter und Menschen lächelt und rät Aphrodite, sich nur mit Eheangelegenheiten zu befassen, da sie vom Krieg nichts verstehe. Mit dieser kurzen komischen Szene schließt die Episode, und Weiteres erfolgt nicht. Der Widerspruch zwischen der theologisch-ideal isierenden und der vorwiegenden dichterischen komisch-realistischen Tendenz wird noch schärfer in den jüngeren Episoden der Ilias, ζ. B. in der „unterbrochenen Schlacht" im VIII. Gesang und in dem Götterkampf im XXI. Gesang. Diese letztere Episode, die an die Ilias augenscheinlich aus rein strukturellen Gründen angefügt worden ist, folgt kurz auf die pathetische menschliche Szene von der Tötung des Lykaon durch Achill, und es wäre interessant zu wissen, ob man diese beiden, im Ton so verschiedenen Stellen ein und derselben Hand zuschreiben könnte. Auf alle Fälle ist es bezeichnend, daß gegen Ende der Ilias, wenn auf der menschlichen Bühne hochernste und tragische Figuren erscheinen, die Götter in einer folge-
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richtigen Verstärkung ihrer geräuschvollen Ohnmacht bei der Verschärfung der Gegensätze wie hier groteske Balletts ohne Motiv und ohne Folgen aufführen. Diese Szene hat einen äußerlich strukturellen Zweck in dem Sinne, als der Dichter es für dienlich gehalten hat, die Fäden der vielfachen Gegnerschaften unter den Göttern zu sammeln und an diesem Punkte in einem allgemeinen Streit, unter Teilnahme aller Götter, mit einem Bühnenfinale zu schließen. Aber sie hat keine innere dichterische Aufgabe: sie ist ohne jede dramatische Begründung eingeführt und hat keine Wirkung auf den Verlauf des troianischen Krieges. Desto offenkundiger erscheint deshalb die innere Schwäche der göttlichen Personen. Die Schlacht oder vielmehr die Rauferei zwischen den Göttern ist schon früher, am Beginn des X X . Gesanges, vorbereitet worden, als Zeus ihnen erlaubt hat, nach ihrem Gefallen in den Krieg der Menschen einzugreifen, und sie sich in zwei feindliche Lager geschieden haben, zu denen auch Götter gehören, die nichts mit dem Kriege zu tun haben, wie Hermes, Hephaistos, Leto und Artemis. Jetzt bricht die Rauferei los (XXI, 385 ss.), weil „es strebte ihr Herz nach zweierlei Seiten"; dieser eilfertigen und unzureichenden Begründung folgen sofort hochtönende Effekte: „Gegeneinander tobten sie wild, rings krachte die Erde. / Schmetternd tönte der mächtige Himmel". Aber so viel Getöse steht in keinem Verhältnis zu den nun folgenden Szenen. Ares wirft sich gegen Athena, indem er sie beschimpft („du Fliege des Hundes", v. 394) und sie an ihr Zusammentreffen im V. Gesang erinnert, während dem Athena dem Diomedes geholfen hatte, ihn zu verwunden. Aber Athena schlägt ihn mit einem Stein nieder, lacht, beschimpft ihn ihrerseits und wirft ihm seine Frontänderung vor, womit sie ein gelegentliches Motiv aufgreift (das schon in jenem V. Gesänge vv. 83z ss. auftaucht, an den der Dichter sich gut zu erinnern scheint), das aber die Ilias nicht begründet. Es kommt Aphrodite herbeigelaufen, die den betäubten Ares bei der Hand nimmt und ihn fortzuführen versucht, aber Hera hat es gesehen und schickt ihr Athena entgegen, die Aphrodite mit der starken Hand vor die Brust stößt und sie neben Ares niederstreckt.
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Jetzt erscheinen Poseidon und Apollon auf der Szene, die noch nicht handgemein geworden sind, wie man doch annehmen möchte. Im Gegenteil, Poseidon hält jetzt eine lange verlegene Rede, um Apollon dazu zu bringen, auf der Seite der anti-troischen Partei einzugreifen. Vor allem, so sagt er, müssen auch wir teilnehmen „Wo schon die andern begannen!": ein Vorwand, der das Fehlen einer inneren Teilnahme an den Geschehnissen, eines stichhaltigen Grundes zu kämpfen verrät. Dann folgt eine zumindest merkwürdige Aufforderung: „Fange doch an, du bist ja der jüngere . . und schließlich erinnert Poseidon Apollon daran, daß sie einst dem Laomedon, dem Vater des Priamos, gedient haben, daß sie von ihm schlecht behandelt wurden, und daß jetzt der Augenblick gekommen sei, die Troer zu bestrafen. Die Antwort Apollons ist überraschend: „Erderschüttrer, du möchtest mich nicht vernünftig mehr nennen, Wollt ich mit dir um der Sterblichen willen im K a m p f e mich messen, Die so jämmerlich nur, dem L a u b der Bäume vergleichbar, Bald in blühender Kraft die Früchte der Erde genießen, Bald aber wieder entseelt verschwinden. So laß uns in Eile Lieber beenden den K a m p f ; sie sollen ihn selbst nur entscheiden."
Diese Antwort erscheint sonderbar, weil sie eine ernsthafte und ausgewogene Reflexion in eine Szene von Verrückten bringt, aber an sich ist sie vernünftig; der Dichter hält sie aber trotzdem für ungenügend und gibt einen Zusatz „ . . . denn er scheute, / Gegen des Vaters Bruder die Hand im Kampf zu erheben" (vv. 468 s.); das ist eine sonderbare und unvernünftige Begründung, die auch den Sinn der Worte des Apollon verdirbt. Die Episode bietet Artemis den Vorwand, die Erzählung in die ursprüngliche zänkerische Atmosphäre zurückzuführen: sie wirft Apollon in allgemeingehaltenen Ausdrücken seine Fahnenflucht vor. Sie redet, aber Apollon antwortet nicht. Das genügt Hera, nun ihrerseits gegen Artemis vorzugehen, sie zu beleidigen („schamlose Hündin", v. 481), sie zu bedrohen und handgreiflich zu werden: sie hält ihr die Hände mit der Linken fest, mit der Rechten entreißt
Religion und Mythologie
sie ihr den Bogen und schlägt ihn ihr ins Gesicht, um die Ohren; Artemis dreht den Kopf von der einen Seite auf die andere, um den Schlägen zu entgehen, und dann entflieht sie weinend wie eine Taube vor dem Habicht. An diesem Punkte werden mit einer der vielen für diese Episode kennzeichnenden brüsken und ungeschickten Unverbundenheiten Hermes und Leto eingeführt, deren Anwesenheit völlig unbegründet ist. Hermes bemerkt kurz zu Leto, daß er mit ihr nicht kämpfen wolle, „ . . . denn es wäre gefährlich, / "Wenn ich mit Z e u s ' . . . Weibern mich schlüge", und er läßt sie sich unter den Unsterblichen rühmen, sie habe ihn mit wilder Kraft besiegt. Hier sieht man, daß der Dichter unbedingt alle Götter zu Teilnehmern an der Szene hat machen wollen. Letos Auftreten kann irgendwie durch den Abgang ihrer Tochter Artemis angeregt sein, aber weder sie noch Hermes haben Interesse an dem Krieg um Troia, und als sie sich einmal gegenüberstehen, haben sie weder einen Grund, sich zu bekämpfen noch sich nicht zu bekämpfen. Und da wird die notdürftig erfundene Erklärung gegeben, es sei gefährlich „mit Zeus' Weibern sich zu schlagen"; mag sie auch vom ethischreligiösen Standpunkt aus angehen - in dem Zusammenhang der Ilias hat sie keinen Sinn. Inzwischen geht Artemis in Tränen zu Zeus, und der Vater tröstet sie lachend so, wie schon Dione Aphrodite getröstet hatte: „Wer mißhandelte so dich?"; „Es schlug mich dein eigenes Weib". Und damit bricht die Episode ab, ohne eine dichterisch-kompositionelle Bedeutung zu haben, ohne irgend eine Folge, ohne einen Abschluß, der jenem der Szene im I. Gesänge vergleichbar wäre. Auch das Gelächter am Ende ist anders. In jener Szene löst die Heiterkeit wenigstens eine dramatische Verwicklung auf, beruhigt sie einen Sturm menschlicher Leidenschaften, wird sie wie eine Errungenschaft des erfinderischen Hephaistos dargestellt und befriedigt alle Götter. Hier dagegen ist das Lachen der Götter zu einer grinsenden Maske geworden, zur Grimasse des Rasenden. Diese Götter lachen immer: Athena bricht in Lachen aus, als sie Ares zu Fall gebracht hat (v. 408), und sie wirft sich voller Freude
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auf Aphrodite (v. 423); Hera lächelt, als sie Aphrodite am Boden sieht (v. 434 = I, 595, es ist der gleiche Vers, der im I. Gesang die Heiterkeit der Götter entfesselt, und vielleicht wäre er hier im XXI. Gesang zu streichen), und Hera lächelt noch, während sie Artemis mit dem Bogen schlägt (v. 491). Zeus, der in der Ilias häufig lächelt (μειδδν) aber nie lacht, bricht hier zweimal in Gelächter aus: als er die gedemütigte und geschlagene Artemis begrüßt, und schon vorher, am Beginn der Episode (vv. 389 s.), hatte er gelacht „vor Freude, / Weil er sah, wie die Götter zusammentrafen im Streite" - wohl aus boshafter Freude. Der Grundton der Episode ist mehr grotesk als komisch und kommt auch hier von jener erbitterten Zanksucht, der sich die Götter umso hemmungsloser hingeben, als ihre Streitigkeiten keine ernsthafte Ursache und keine wirklichen Erfolgsaussichten haben. Im Gegensatz zu der Episode im I. Gesang gehen hier die Götter tatsächlich zu offener Gewalt über, doch der Dichter weiß wohl, daß ihre Zweikämpfe nicht ernst genommen werden können. Zuerst ist die Rauferei nicht allgemein, wie man nach den Prämissen erwarten müßte, und das Abseitsbleiben des Poseidon und Apollon, des Hermes und der Leto verrät die Verlegenheit und das schlechte Gewissen des Dichters. Außerdem können die direkten Zusammenstöße — entstanden aus einer Augenblickslaune und bestimmt, ohne Folgen zu bleiben - nicht mit denen zwischen Menschen verglichen werden, bei denen wirklich etwas aufs Spiel gesetzt wird. Die göttlichen Zweikämpfe verlaufen nicht wie ritterliche menschliche Zweikämpfe, sie haben keine Entwicklung und enden so bald wie möglich. Der Zusammenstoß von Hera und Artemis ist mehr der Angriff eines Habichts auf eine ängstliche Taube, oder besser gesagt die Aggression einer beleibten Gevatterin gegen ein kleines Mädchen (doch kurz vorher, v. 470, war Artemis als die stolze „Herrin der Tiere" aufgetreten), während Ares und Aphrodite beim ersten Stoß umfallen wie die Puppen. Der Dichter versucht, die innere Schwäche der Episode durch Erweiterung der Bilder wettzumachen wie in der einleitenden Szene der Schlacht, die jedoch sofort ihre Eindringlichkeit verliert, weil
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die einzelnen Zusammenstöße unverbunden aufeinander folgen, nicht in einer Verflechtung gleichzeitiger Aktionen, wie man sie manchmal auch in der Ilias findet; oder er versucht es in der Beschreibung des hingestreckten Ares, der „sieben Hufen im Fall bedeckt. . (v. 407). Und mit dem gewohnten Rückgriff auf die heftige Sprache, die für die homerischen Götter charakteristisch ist, hier aber exzessive Formen annimmt, besonders in den Schimpfworten: κυνάμυια (ν. 394, 421, das sonst in der Ilias nicht vorkommt), νηπύτιε (ν. 410, 441), κύον άδεές (v. 481, das auch im VIII. Gesang v. 423 vorkommt, in der merkwürdigen und heftigen Phrase, die Iris von sich aus der von Zeus an Hera und Athena gesandten Botschaft hinzufügt). Auf der anderen Seite versucht auch dieser Dichter, die völlige Auflösung ins Fratzenhafte dadurch zu vermeiden, daß er seine Zuflucht zu einigen veristischen Beschreibungen von Einzelheiten nimmt. Der schwarze gezackte und große Stein, den Athena aufhebt, um damit Ares zu treffen, ist aus dem großen Zweikampf zwischen Hektor und Aias übernommen (XXI, 403 s. = VII, 264 s.), aber mit einem Zusatz: „Welchen frühere Menschen als Mark für die Fluren errichtet". Sehr hübsch ist die Züchtigung der Artemis, die sich den Schlägen zu entziehen sucht, indem sie den Kopf von der einen Seite nach der anderen wendet und wie eine Taube entflieht; währenddem verstreuen sich ihre Pfeile auf die Erde, und bald danach sammelt Leto sie mitsamt dem Bogen aus dem Staube auf. Doch dies sind nur Einzelheiten, während die Szene in ihrer Gesamtheit jener völligen Vermenschlichung entbehrt, die in der Episode im I. Gesang aus der folgerichtigen Entwicklung einer menschlichen Situation entstand, die von überzeugenden Voraussetzungen ausging und ohne Zögern bis zu den letzten Konsequenzen durchgeführt worden war. Hier dagegen ist das Handeln der Götter mit einem gar zu vagen Vorwand in Gang gebracht („ihr Herz strebte nach zweierlei Seiten"), der die Episode nicht bis zum Letzten zu tragen vermag, und der Dichter ist gezwungen, ununterbrochen neue Vorwände
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zu erdenken. Einige davon bietet recht und schlecht die troische Sage selbst: die Anspielung des Ares auf den früheren Zusammenprall mit Athena (vv. 396 ss.), die Erinnerung an die schwere Undankbarkeit des Laomedon, die Apoll dazu bringen müßte, gegen Troia einzugreifen (vv. 441 ss.) - dies sind annehmbare Argumente, auch wenn sie sich auf Dinge beziehen, die dem Hörer ziemlich fern liegen. In anderen Fällen greift der Dichter dagegen auf ethischreligiöse Motive zurück: Hermes zieht sich zurück, weil es gefährlich ist, „mit Zeus' Weibern sich zu schlagen", und A p o l lon „scheute, / Gegen des Vaters Bruder die Hand im Kampf zu erheben" oder auch: er mag nicht um der Sterblichen willen kämpfen. Diese Vielfalt der unterschiedlichen V o r w ä n d e zusamt dieser Einführung ethisch-religiöser Gründe beeinträchtigt den poetischen Wert der Episode. Bei näherem Hinsehen treibt dieser Dichter die menschliche Verrücktheit der homerischen Götter aufs Äußerste, indem er sie mit unerhörter Heftigkeit ohne einen vernünftigen Grund aneinandergeraten läßt: und - komisch wie sie schon waren - macht er sie in so grotesker Weise kleinbürgerlich. Aber gleichzeitig wird er von einer ethisch-religiösen Auffassung zurückgehalten, die ihm verbietet, in ihnen die letzte Spur göttlicher Erhabenheit zu zerstören. Das erklärt die Zurückhaltung des Apollon. Dieser Gott wird in der Ilias niemals lächerlich gemacht: aber während es diskret vermieden wird, ihn in die Familienzwiste hineinzuziehen, wird er hier von dem grotesken Ballett der anderen Götter mit einer Begründung entfernt, die vom religiösen Standpunkt aus ebenso befriedigend ist wie unbefriedigend vom dichterischen Standpunkt. Der einzige Gott, der sich ganz abgesondert hält, ist Zeus, der diesmal den anderen Göttern freie Bahn gelassen hat und, mit seinem boshaften und väterlichen Lachen, nur am Anfang und am Ende der Episode auftritt. Auch seine Abwesenheit wird wohl der Notwendigkeit verdankt, ihm eine gewisse religiöse Erhabenheit zuzuteilen, nicht einem inneren dichterischen Motiv. Als die anderen auf das Schlachtfeld hinuntersteigen, sagt er (XX, 22-25):
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Religion und Mythologie „Ich zwar bleibe nun hier auf dem kluftigen Hang des Olympos Sitzen und will mein Herz am Zusehn laben; ihr andern Eilet jedoch, zum Kampf der Achaier und Troer zu stoßen, Beiden Teilen zu helfen, wie jedem der Sinn es gebietet."
Dieser Dichter ist also vom religiösen Skrupel (aus echtem Glauben oder aus reiner Konvenienz - es ist gleichgültig) in dem Augenblick gehemmt worden, als die Darstellung eines Olympos, der traditionellerweise in eine menschliche Gemeinschaft umgeformt wurde, unwiderruflich in die Farce überging. Die Worte des Apollon an Poseidon, die an dieser besonderen Stelle und auch in dem ganzen Zusammenhang der Ilias wie ein ideologisch-religiöser Eindringling erscheinen, künden jene ernstgemeinte Trennung zwischen der irdischen und der göttlichen Welt an, die von Hesiod bestätigt und verkündet wird, und eine melancholische Betrachtungsweise des Lebens (auch in den berühmten Versen „Gleich wie Blätter im Walde . . . " der Szene zwischen Glaukos und Diomedes angedeutet; II. VI, 146 ss.), die in der lyrischen Dichtung wiederauftauchen wird. Der neue „hesiodische" Glaube durfte also sozusagen in der Luft liegen, als dieser Dichter schrieb. Sein Irrtum ist, daß er auf der Bühne alle Götter vereinigt hat, um dann die religiös Ernsthaften von den bürgerlich Drolligen zu trennen, so daß schließlich die einen wie die anderen unpoetisch werden. Als Artemis ihm seine Fahnenflucht vorwirft, da antwortet Apollon nichts (v. 478). Dieses Fehlen einer Antwort wirkt wie ein falscher Ton im epischen Stil, in dem die Gesprächspartner gewöhnt sind, alle Argumente zu erschöpfen. Derselbe Formelvers, der beginnt „so sagte er, aber jener antwortete ihm nicht", kommt zwar noch verschiedene Male in der Ilias vor, doch dann wird das Schweigen immer erklärt (mit einer verständlichen Ausnahme im VIII. Gesang v. 484, wo Hera nichts auf eine der üblichen Schmähreden des Zeus zu erwidern weiß). Ein hübsches Beispiel steht in der schon betrachteten Stelle des I. Gesanges: nachdem Thetis ihre Bitte vor Zeus vorgebracht hat, fährt der Dichter fort: „Nichts erwiderte Zeus darauf der Wolkenversammler; / Lange saß er und schwieg" (vv. 511 s.); es folgt die
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Bitte der Thetis, und danach setzt ihr Zeus seine Befürchtungen auseinander. Doch hier, in der Götterschlacht, gibt es zwischen diesem Apollon und dieser Artemis wirklich keine Gesprächsmöglichkeit. Das Schicksal Die episch-realistische Beschreibung der Welt hatte jeden religiösen Inhalt der Mythologie ausgelöscht. Der Verfasser dieser späten Episode versucht, der epischen Überlieferung treu zu bleiben und endet damit, die olympische Welt im Grotesken aufzulösen, aber er versucht auch, ein Fundament ernsthafter religiöser Überzeugung wiederherzustellen oder zu retten - und damit zerbricht er jene dichterische Einheit, die Szenen wie denen des I. Gesanges eine folgerichtige komische Darstellung der Götter aufgezwungen hatte. Diese Komik ist nur eine Seite der homerischen Mythologie das darf nicht vergessen werden. Aber sie ist auch die am meisten charakteristische Seite, weil sie mit der größten dichterischen Eindringlichkeit die grundsätzlich unreligiöse (im theologisch-systematischen Sinne) Anschauung von den Dingen widergibt, die in den homerischen Epen vorherrscht. Wenn in der homerischen Götterlehre sich die Anschauungen der Ubergangszeit zur Adelsherrschaft: spiegeln, dieser dezentralisierten Gesellschaft, die den mykenischen monarchischen Zentralismus vergessen hatte, aber noch nicht so weit war, die Regeln des bürgerlichen Zusammenlebens zu kodifizieren, die von der agonistischen Idee der persönlichen „Ehre" beherrscht war, so muß die Einheit und die Überlegenheit der olympischen Welt nur ein äußerer Schein sein. Die Menschen zu Homers Zeiten hatten sicher religiöse Anschauungen, aber diese konnten nicht in ein hierarchisches System gebracht werden, für das das gegenwärtige Leben kein Vorbild bot. Die Menschen sind nicht verpflichtet, mit den Göttern in echter persönlicher Frömmigkeit verbunden zu werden, und sie suchen nur diesen oder jenen Gott je nach Anlaß mit einem Gebet oder einem Opfer günstig zu stimmen. Die Gebete nützen meistens 14
Codino, Homer
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wenig, weil die Götter ihrerseits weder verpflichtet sind, die Opfer zu vergelten noch den Triumph der Gerechtigkeit zu sichern. Und dann verzichtet der Dichter darauf, diese Gleichgültigkeit der Gottheit zu erklären. Einmal (II. VIII, z^6ss.) betet Agamemnon zu Zeus, ihn vor der Niederlage zu retten, und der Gott erhört ihn: „ . . . da jammert' es Zeus des weinenden Königs, / Und er verhieß ihm, das Volk zu retten und nicht zu verderben", aber auch in diesem Falle wie anderwärts (ζ. Β. XVII, 645) dauert sein Mitleid nicht lange. Die Götter können das Gebet auch einfach „nicht hören", weil sie abwesend sind oder an anderes denken. Diese religiöse Absonderlichkeit führt manchmal zu eleganten künstlerischen Erfindungen, wie zu den berühmten Reisen der Götter zu den Aithiopen, die zeitweilig das menschliche Dasein von der Gegenwart des Übernatürlichen befreien. A b und an fühlt der Dichter zweifellos, daß die Nicht-Allmächtigkeit der Götter zum Problem wird. Wer zieht denn letzten Endes die Fäden von allem, was auf Erden und im Olymp vorgeht? Wenn die göttliche und die menschliche Welt danach streben, sich - zur großen Entwürdigung für jene - völlig aneinander anzugleichen, so muß sich manchmal die Notwendigkeit ergeben, eine wirklich höhere und unpersönliche Macht anzunehmen, also das, was man das Schicksal nennt. Der Dichter geht das Problem nicht mit philosophisch-religiösen Begriffen an, und in der T a t entsteht die hie und da in den Epen auftauchende Vorstellung von einem Schicksal jedesmal aus gelegentlichen und verschiedenen Erfordernissen, und sie kann von uns nicht nach unseren rationalen Gedankengängen erklärt werden. Außerdem haben wir schon gesehen, daß bei Homer die Frage nach der persönlichen Verantwortlichkeit, die eng mit jener nach dem Vorhandensein eines Schicksals verbunden ist, nicht rigoros gestellt wird und verschiedene Antworten zuläßt. Im Ganzen haben die Anspielungen auf das Schicksal in erster Linie poetische Nützlichkeitsgründe: wir sahen, daß, während der ungeklärte Teil der Motivierungen menschlichen Handelns auf die Götter zurückgeführt wird, diese die Gründe für ihr Tun aus der menschlichen Welt herleiten müssen. Aber das kann
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nicht ohne Vorbehalte geschehen, und deshalb muß über den Göttern eine Region entdeckt werden, in der sich Motivierungen und Beziehungspunkte für ihr Verhalten finden lassen. In zweiter Linie gibt es einen elementaren ethischen Sinn, der die Gründe für so schmerzliche menschliche Erlebnisse erklären will, die nach Ansicht des Dichters selbst nicht einmal die Götter wollen oder gutheißen können. Wir sagten, daß das unpersönliche Schicksal über der olympischen Welt stehen müsse; doch auch hier sieht man bei Betrachtung der homerischen Stellen, wo es erwähnt wird, sofort, daß der Ausdruck nicht paßte oder nicht für alle Fälle gilt. Auch auf diesem Gebiet kann, wie wir voraussehen konnten, die Vorstellung von einem starken hierarchischen Prinzip mit einer unbestreitbar übergeordneten Macht nicht Homer zugeschrieben werden. Im V. Gesang der Ilias wird Sarpedon verwundet, und Odysseus überlegt, ob er ihn angreifen oder sich stattdessen der Masse der Lykier entgegenwerfen solle (vv. 674-76): Doch nicht ihm, dem stolzen Odysseus, gönnte das Schicksal [μόρσιμον] Zeus' gewaltigen Sohn mit scharfem Erze zu töten; Darum erregt' ihn Athene zum Stoß in der Lykier Haufen.
Wollen wir die Phrase durchaus in bestimmte Begriffe umsetzen, so kann man sagen, die Göttin arbeite mit dem Geschick, einer ihr entsprechenden oder übergeordneten Macht, zusammen, sie trage zur Ausführung ihrer Anordnungen bei. Bei anderen Gelegenheiten können die Götter nichts gegen das Geschick ausrichten. Hephaistos klagt darüber, daß er Achill nicht vor dem Tode retten könne „Sobald ihm naht das schreckliche Schicksal" (XVIII 465 [οτε μι/ν μόρος αίνος ίκάνοι]). Hephaistos ist kein hoher Gott, aber auch Zeus nimmt die Entscheidungen des Schicksals zur Kenntnis und kann sie nicht hindern. Er will Hektors Tod nicht und leidet, als er ihn von Achill verfolgt sieht (XXII, 168-76), aber die Wage des Schicksals entscheidet (vv. 208-13). In anderen Augenblicken dagegen erklären sich die Götter für fähig, unabhängig vom Schicksal zu handeln. Als Patroklos den 14*
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Sarpedon, den Sohn des Zeus, getötet hat, da richtet der verwundete Glaukos ein Gebet an Apollon, das ein Wort des Protestes, der Ungläubigkeit über das Vorgefallene enthält: „Schon fiel der tapferste Kämpe, Sarpedon. / Er, der Sohn des Zeus, der des eigenen Kindes nicht achtet" (Ii. XVI, 521 s.). Der Dichter hat kurz vorher gezeigt, was hinter den Kulissen auf dem Olymp vorgeht. Zeus hat den Sohn in Gefahr gesehen und Hera seinen Schmerz geklagt (vv. 433-38): „ W e h e mir, wenn das Geschick mir den liebsten der M ä n n e r , Sarpedon, Unter Patroklos Händen bezwingt, des Menoitiossohnes! Z w e i f e l erfüllt mir das Herz und ich muß im Geiste bedenken, O b ich ihn lebend entrücke dem tränenbringenden K a m p f e Und ihn wieder versetze nach Lykiens blühenden Fluren Oder bereits durch den A r m des Menoitiossohnes bezwinge."
In dieser Alternative steckt gar keine Logik; trotzdem wird die Möglichkeit, sich dem Schicksal zu widersetzen durch die Antwort Heras bestätigt, die zunächst Zeus warnend darauf aufmerksam macht, die Rettung eines zum Tode bestimmten Menschen sei ein sehr schwerwiegendes Unternehmen, es dann aber vorzieht, die Frage auf das ihre vertrautere Gebiet der Drohungen und Erpressungen unter den Göttern zu verlagern (vv. 440-49): „Welch ein W o r t , ο Kronide, du Schrecklichster, hast du gesprochen? Einen sterblichen M a n n , schon längst dem Schicksal verfallen, Willst du wieder dem Garn des grausamen T o d e s entwinden? T u ' s ! doch niemals werden die anderen Götter es loben. Eines verkünd' ich dir noch, und du bewahr' es im Herzen: Wenn du Sarpedon lebend zurück in die Heimat entführest, Dann bedenke, ob nicht ein anderer Gott noch begehret, Auch den eigenen Sohn der schrecklichen Schlacht zu entreißen! Kämpfen doch hier um des Priamos große Feste noch viele Söhne unsterblicher Götter; die möchtest du heftig erbittern."
Zeus, „überzeugt" - man weiß nicht, ob aus Scheu vor dem Schicksal oder aus Angst vor familiären Komplikationen - , hindert den Tod des Sarpedon nicht.
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Während des Zweikampfes zwischen Achill und Aineias hält Poseidon den anderen Göttern eine merkwürdige Rede: Aineias wird bestimmt fallen, so sagt er, und dann fügt er hinzu (XX, 300-08): „Auf, so lasset uns denn der Todesgefahr ihn entrücken; Daß nicht auch der Kronide in Zorn gerät, wenn Achilleus Töten möchte den Mann; denn es ist ihm bestimmt zu entkommen, Daß des Dardanos Stamm nicht ohne Sprossen und spurlos Schwinde, den Zeus von all' seinen Kindern am meisten geliebt hat, Die er selber gezeugt aus dem Schoß von sterblichen Weibern. Denn bereits ist des Priamos Stamm verhaßt dem Kroniden. Jetzt aber wird des Aineias Gewalt die Troer beherrschen, Kinder und Kindeskinder, in ferner Zeit noch geboren!"
Auf die Rede des Poseidon, die nach unseren Begriffen kein Musterbeispiel an Logik ist, antwortet Hera mit einer verlegenen Spitzfindigkeit: sieh du zu, Poseidon, ob du Aineias retten oder sterben lassen willst; was uns angeht, ich und Athena haben oftmals geschworen, den Troern nicht zu helfen . . . Jetzt konnte der Dichter den Zweikampf unentschieden bleiben lassen oder ihn mit einer Verwundung beschließen oder, nehmen wir an, mit einer abermaligen Rettung des Aineias durch Aphrodite oder Apollon; statt dessen hat er es vorgezogen, auch das Schicksal mit hereinzuziehen, um die Vorhersage über die Zukunft des Dardanergeschlechtes und über die Nachkommen des Aineias mit größerer Eindringlichkeit und Feierlichkeit begründen zu können. Die Unbefangenheit, mit der der Begriff des Schicksals eingeführt wird, zeigt, daß die Vorstellung von einer höheren unpersönlichen Macht schlecht mit diesen Göttern zu vereinbaren war. In einer viel besser durchdachten Stelle, im Proömium der Odyssee, unterscheidet Zeus das, was vom Schicksal bestimmt ist, von dem, was die Götter tun können, um es zu vermeiden, und von dem, was die Menschen im Widerstreit mit dem Schicksal und dem Willen der Götter tun können. Er sagt (I, 32-43): die Menschen geben uns die Schuld an den Übeln, die sie erleiden, aber sie büßen auch für die Folgen ihrer Taten, die sie „gegen das Schicksal" (υπέρ
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μόρον) begehen; Aigisthos ζ. Β. hat Agamemnon verraten und getötet, obgleich er wußte, daß er für seine Schuld werde zahlen müssen, denn wir hatten ihn vorher gewarnt. Diese mit Recht berühmte Stelle enthält die erste ausdrückliche Erklärung über die Freiheit der menschlichen Entscheidung, die sich bewußt gegen das Interesse des Menschen selbst, gegen die Warnungen der Götter und gegen den Willen des Fatums stellen kann. Die Stelle ist ziemlich einzig dastehend bei Homer, aber andere Male wird versichert, daß die Menschen „gegen das Schicksal" handeln können. Nach der Ansprache des Agamemnon im II. Gesang der Ilias strömt das Heer zu den Schiffen und „gegen das Schicksal" wäre es zur Rückfahrt gekommen, hätten Hera und Athena nicht eingegriffen (vv. 155 s.). Als Achill sich zum letzten Ansturm bereitet, da fürchtet Zeus, er könne die Mauern gegen den Willen des Schicksals ersteigen (XX, 30), und eine ähnliche Befürchtung hegt später Apollon (XXI, 517). Über diese letzten Stellen sollte man nicht zuviel grübeln: für den Dichter ist das Schicksal der allen bekannte Entwicklungsgang der troianischen Sage, den er nicht ändern kann. Die Hinweise auf ein mögliches Handeln gegen das Schicksal dienen dazu, absurde Hypothesen wirksam herauszustellen: daß ζ. B. das Heer mittendrin nach Hause zurückkehre, wo doch alle wissen, daß Troia zuletzt zerstört wurde. Anderwärts erscheint das Schicksal zwar wie eine düstere Kraft, aber nicht wie eine absolut höhere Macht. In den Erwähnungen dieser düsteren Kraft finden sich alle die Schattierungen, die wir sahen, als wir von der Verantwortlichkeit des homerischen Menschen sprachen. Die Vorstellung von einer anonymen entscheidenden Macht erscheint zum Teil wie die Erinnerung an Verhältnisse, in denen die primitive Gemeinschaft und der Einzelne in ihrem Schoß das Dasein von durchaus unkontrollierbaren und ungeahnten Kräften annehmen mußten, die auch außerhalb des Kreises der allzu menschlichen, persönlichen Götter wirkten; zum Teil erscheint sie wie die Vorwegnahme einer hierarchisch gegliederten Weltordnung. Aber im Tiefsten erweist sich dieser Schicksalsbegriff nicht als ein aufbauendes Prinzip: wie es
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unter den Menschen keine feste und endgültige Hierarchie gibt, so gibt es auch in dem Komplex der menschlich-göttlichen Welt keine Schichtung von beherrschenden und beherrschten Kräften; jede Kraft kann den anderen gegenüber frei schalten in einem Kreis, der vom Menschen zu den Göttern geht, von den Göttern zu dem unpersönlichen Schicksal und von da wiederum zum Menschen.
ZUR KOMPOSITION DER EPEN Tradition und
Neuerung
Die homerischen Gedichte sind nicht ein Dokument jener ganz allgemein „primitiv" oder „naiv" genannten Dichtung, auf die so viele Schriftsteller und Kritiker zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und der Romantik mit Sehnsucht schauten: sie sind eine eigentümliche Schöpfung der Übergangszeit von den primitiven demokratischen Gemeinschaften zur Adelsherrschaft, der Epoche, in der die Stammesordnung in großem Ausmaße den neuen politischen, auf starken sozialen Unterschieden basierenden Verhältnissen wich.1 In der Dichtkunst dieser Ubergangszeit erscheinen die Menschen weitgehend den magischen Kräften der primitiven Religion entzogen, noch nicht aber den von der herrschenden Aristokratie durchdachten ethisch-religiösen Ansichten unterworfen. Jede ihrer Handlungen rechtfertigt sich durch sich selbst, erhält ihren Wert einzig und allein durch den unmittelbaren Ausgang, wird nicht auf eine höhere Norm bezogen, sondern wird einfach in absoluter örtlicher und zeitlicher Gegenwart ohne inbegriffene ethische Bedeutungen beschrieben. Es ist interessant, die homerischen Personen etwa mit den Gestalten des Alten Testamentes zu vergleichen, die, obgleich von Gott erwählt und geformt, doch mit der Geschichte ihres eigenen Lebens belastet und von einer vielfältigen persönlichen Erfahrung gezeichnet sind. „Die Vielfalt des seelischen Lebens zeigt sich bei Homer nur im Nacheinander, im Sichablösen der Affekte; indes es den jüdischen Schriftstellern gelingt, die gleichzeitig übereinander ι Uber das Epos als Dokument für den Beginn einer neuen griechischen Kultur, die sich ganz entschieden, mit originalen Formen, von der nicht vergessenen, aber längst vergangenen mykenischen Voraussetzung absetzt, s. besonders C. Gallavotti, „Tradizione micenea e poesia greca arcaica", op. cit.
Tradition und Neuerung
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gelagerten Schichten des Bewußtseins und den Konflikt derselben zum Ausdruck zu bringen." 2 Um eine diesem Übergangszustand der persönlichen Freiheit angepaßte Darstellung zu erreichen, mußten die Verfasser der Ilias und der Odyssee tiefgreifende Neuheiten in die vorhandenen epischen Formen einführen. Uber diese Formen können wir nur Vermutungen äußern, aber wir haben die Zeugnisse der Odyssee, wo die Sänger Phemios auf Ithaka und Demodokos auf Scheria die versammelten Vornehmen mit ihren Liedern unterhalten. Die Themen haben wir schon gehört: einmal wird nur der Titel des Liedes des Phemios genannt „Die grausige Heimfahrt der von Troia zurückkehrenden Achaier" (I, 326 s.). Bei anderen Gelegenheiten wird der Inhalt zusammengefaßt: kurz, als Demodokos (VIII, 73-82) unter den Phaiaken und vor Odysseus selbst „Den Streit des Odysseus gegen Achilleus" singt; ausführlicher als (VIII, 500-20) wiederum Demodokos auf Verlangen des Odysseus die Geschichte vom Hölzernen Pferd vorträgt. Ein einziges Mal wird der Text des Liedes des Demodokos unverkürzt gebracht: gelegentlich der Liebesaffäre zwischen Ares und Aphrodite (VIII, 266-366). Die bevorzugten Themen sind die aus der Gegenwart, dem Publikum wohlbekannt, das nicht angstvoll darauf wartet zu erfahren „wie es ausgehen wird". In unseren Epen ist nicht nur der Inhalt in großen Linien bekannt, sondern rechtzeitig wird jeweils angekündigt, was an Wichtigem vorfallen wird. So kündigt man im Voraus an, daß Patroklos fallen wird, daß Hektor fallen wird usw. Die Dichter bedienen sich der Götter, um diese Vorausnahmen einzufügen: sei es, daß sie es offen verkünden, wie an der Stelle (Ii. VIII, 475 s.), wo Zeus von dem nahen Tode des Patroklos spricht, sei es, daß man erzählt, sie hätten oder hätten nicht eine Bitte erhört (ζ. B. III, 302: Zeus hat nicht die Absicht, den Gebeten der Griechen und Troer nachzugeben; VI, 3 1 1 — falls der Vers echt ist: Athena weist die Bitten der Troer zurück). Die Vorausnahmen dienen nicht, wie viele meinen, dazu, das Publikum in einen Zu2 E. Auerbach, „Mimesis", op. cit., p. 1 7 .
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Zur Komposition der Epen
stand von „leidenschaftlicher Spannung" zu versetzen, sondern sollen ihm im Gegenteil erlauben, der Erzählung desinteressiert zu folgen, auch wenn eine Episode beginnt, die erschütternd sein könnte. Die Einstellung der Hörerschaft ist deshalb nicht Neugier auf den Ausgang der Handlung, sondern Genuß an der Art des Vortrages. Die Aöden singen aus dem Gedächtnis, indem sie aus einem reichen Repertoir schöpfen: Penelope sagt (Od. I, 337), daß Phemios „viele andere Lieder" kennt (die auch verschieden von den troianischen Gesängen und auch nicht „neu" sind), und Demodokos kann einen Wunsch des Odysseus erfüllen. Das Repertoir bestand aus Reihen von kurzen Liedern - darunter war die troianische Serie - , die genügend in sich abgeschlossen waren, um einzeln der Hörerschaft vorgetragen zu werden, und die sicher im Geiste des Dichters nach ihrer zeitlichen Abfolge geordnet waren. Der Aöde konnte nach seinem Gefallen oder auf Verlangen singen, indem er einen bestimmten Ausgangspunkt wählte. Demodokos ζ. Β. (VIII, 74) nimmt die Geschichte vom Streit zwischen Achill und Odysseus aus einem Gedicht, aus einer „Liederreihe" (οΐμη), dessen Ruhm damals bis zum Himmel drang; und später (v. 500) beginnt er „von da" (ένθεν), wie die Achaier sich einschifften, indem sie vorgaben abzusegeln. Die Sänger tragen also in einer ziemlich originalen Form (so muß es sein, wenn sie soviel Ansehen genießen und Zöglinge der Musen und des Apollon genannt werden) Geschichten vor, die sie aus einer zünftigen Tradition schöpfen, welche ihnen die sprachlichen Grundzüge mit ihren Formeln lieferte, den Aufbau der wiederkehrenden Episoden im allgemeinen und eine geordnete Reihe der nacheinander ablaufenden Ereignisse, in der einige Episoden wohl allmählich feste Form gewannen. Die natürliche Ordnung der zyklischen Repertoirstücke war die chronologische Reihenfolge. Die Lieder über den troianischen Krieg mußten von seinen Ursachen bis zum Fall der Stadt und den Nachwirkungen der Expedition reichen. Uns bekannte Beispiele dieser Anordnung waren die zyklischen Gedichte und der Zyklus in seiner Gesamtheit. Tatsächlich tadelt Aristoteles (Poetik 1459 a, 1462. b) die nur scheinbare Einheit der zyklischen Gedichte, die
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der Reihe nach die ganze Geschichte einer Person oder eines Zeitabschnittes erzählen, und er lobt Homer, der - anstatt die ganze Geschichte des troianischen Krieges zu erzählen - davon einen bestimmten Teil abgelöst, ihm einen einheitlichen und dramatischen Charakter gegeben und ihm andere Teile als Episoden untergeordnet hat. Es mußte für die Sänger schwierig sein, für all die Personen einen angemessenen Platz zu finden, die früher oder später mit dem troianischen Krieg in Verbindung gebracht worden waren, der seiner Wichtigkeit wegen danach strebte, auch Helden an sich zu ziehen, die ursprünglich in andere Zyklen gehörten, die Genealogie der bedeutenderen unter ihnen aufzubauen und die Chronologie verschiedener Zyklen in Übereinstimmung zu bringen. Dieses Bemühen um Ordnung, dieses primitive Streben nach einer Art Historiographie auf genealogischer Grundlage hat seine Spuren auch in der Ilias hinterlassen, ζ. B. in den vielen Bezugnahmen auf die früher von Nestor in seinem Pylos vollbrachten Taten oder in dem, was über Diomedes mit Bezug auf die thebanische Sage berichtet wurde, der er eng verbunden war. Z u r Zeit des troianischen Krieges, so erklärt uns Homer, hatten die beiden Züge gegen Theben schon stattgefunden. Auf dem ersten, der durchgeführt wurde, als Diomedes noch ein Kind war, hatte sich sein Vater Tydeus ausgezeichnet; an dem zweiten hatte Diomedes selbst teilgenommen. Ihre Familie erfreute sich seit altersher des Schutzes der Athena (II. IV, 376-98; V, 8oz-o8; VI, 222 s.; X , 284-90). Auch der Herakleszyklus wird in chronologischen Zusammenhang mit dem troianischen Krieg gebracht; unter den Achaiern befinden sich Tlepolemos, der Sohn des Helden, und der Sohn des Kopreus, des Herolds, der dem Herakles die Befehle des Eurystheus überbrachte (XV, 638-40); außerdem wird gesagt, daß der Z u g des Herakles gegen Pylos in Nestors Jugend stattgefunden habe (XI, 689 s.). Die homerischen Epen spielen häufig auch auf andere, uns in ihren archaischen Versionen wenig bekannte Zyklen, wie den der
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Argonauten, an und auf zahlreiche Sagen, die uns völlig unbekannt bleiben. Früher glaubte man, das Bemühen um eine „chronographische" Ordnung in den epischen Gedichten sei eine Verfallsform des „dramatischen" Epos, während man heute im Gegenteil meint, es sei die Voraussetzung für die homerischen Epen. Das epische Repertoir konnte auch nach einem anderen Ordnungsprinzip - katalogisierend oder klassifizierend - aufgebaut werden. Die Kataloge im strengen Sinne, einfache Aufzählungen von Personen, die irgend etwas miteinander gemein haben oder sich in einer bestimmten Situation zusammenfinden (wie die beiden Musterungen im II. Gesang der Ilias oder das Verzeichnis der Liebschaften des Zeus im XIV. Gesang vv. 315-28 oder das der Nereiden im XVIII. Gesang vv. 39-48), sind das unpoetische und rein lehrhafte Endergebnis dieser Art von Systematisierung, wie sie sich im Heroinenkatalog der Odyssee (XI, 225-329) mit ihrer Parallele oder ihrem Vorbild (die Frage ist unentschieden) des hesiodischen Frauenkataloges findet. Eine nicht einfach klassifizierende, sondern poetisch-lehrhafte Anordnung ist die der hesiodischen Theogonie, einer Art von großem, genealogisch gut durchdachtem Katalog. Oder man konnte aus den Mythen Reihen von moralischen Beispielen zum Thema ziehen: einige Spuren oder Ansätze davon finden sich in der Ilias, in den Beispielen von Leiden der Göttern, von Dione der verwundeten Aphrodite aufgezählt, um sie zu trösten (V, 382-404); dem kann man noch anschließen das Beispiel vom Tode des Herakles, von Achill zu seinem eigenen Trost erwähnt, oder das der Niobe, die trotz ihres Kummers nicht zu essen vergaß - von Achill dem Priamos erzählt (XXIV, 602-17). Die Wandelbarkeit des menschlichen Geschickes wird in den Geschichten von Lykurgos und Bellerophontes aufgezeigt, die Diomedes und Glaukos einander im V. Gesang erzählen. Die „chronographische"3 und die katalogisierende Ordnungsweise wurden von äußeren Bequemlichkeits-Kriterien angeregt, 3 Oder „annalistisch", cfr. C. Gallavotti, op. cit., p. 1 6 3 s.: „Die annalistische Epik w a r eine fast gelehrte und para-historische Art, um die prachtvolle Erbschaft an alten Traditionen und Sagen zu ordnen, indem man sie in zu-
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die aber trotzdem nicht unbefriedigend sein konnten, wenn die poetische Einheit das Lied von wenigen hundert Versen war, und wenn man kein Interesse an weitergespannten Aufbaurjgeln hatte. In den homerischen Epen dagegen ist die Ordnung des Stoffes vom Großen her erfaßt, nach Prinzipien, die den Zerfall des kurzen, selbständigen Gedichtes mit sich bringen. Der Stoff bleibt im Grunde jener traditionelle Stoff, und nicht nur dem Inhalte nach (denn ganze Teile sind so übernommen worden, wie sie in schon als kanonisch angesehenen Versionen entwickelt waren), aber das Nebeneinander der Episoden wird von ihrer Konzentrierung um zeitlich begrenzte Themen abgelöst: Zorn des Achilleus und Rache des Odysseus. Unter den von Homer aufgenommenen traditionellen Elementen steht am Beginn der Gedichte jene typische Angabe, die sofort darüber Auskunft gibt, „an welchem Punkt" der allen bekannten Geschichte „wir stehen", und die für die Sänger nützlich war, um so mit einem einfachen Hinweis die für das Publikum übrigens überflüssige Zusammenfassung von Vorgeschichte und Ursachen zu vermeiden. Aber in der Ilias und der Odyssee hat diese Bezugnahme nicht mehr jenen praktischen Zweck: sie wird von einem ausgedehnten Proömium begleitet, das die Loslösung vom Repertoir und den Übergang zu einem Gedicht freier Komposition bedeutet. Der Einsatz wird nicht mechanisch gegeben, sondern ist in die Darlegung der „Ursachen" eingeschmolzen, die dann aber nicht ζ. B. die weit zurück liegenden Gründe für den troianischen Krieg oder die näher liegenden der verstrichenen Belagerungsjahre sind, von denen nicht gesprochen wird. Im Gegenteil: die Ilias hat weder
sammenhängenden Erzählungen, in edler Form sammelte. Sie wurde von einer gehobenen Sprache und den Regeln der Metrik gelenkt; die Metrik diente dazu, das Memorieren des Textes zu erleichtern und Namen und Themen vor den naheliegenden Änderungen zu bewahren. Das Epos dagegen ist Schöpfung und Phantasie, sei es auch nur im Rahmen und nach dem Geschmack eines historischen Romanes; das Epos war der lyrische Ausdruck für diese Vorliebe, die alten Erinnerungen noch einmal zu erleben."
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Zur Komposition der Epen
Ursachen noch Vorgeschichte: das „seit", „als" bezieht sich auf ein einfaches Vorkommnis (die Bitte des Chryses), das den Ereignissen in der Ilias weder vorausgeht noch ihren Verlauf bestimmt, sondern das dazu gehört und gleich darauf erzählt wird. Von Anfang an erscheint die Ilias losgelöst von der kausal-zeitlichen Aufeinanderfolge, die vom Raub der Helena bis zum Fall der Stadt reicht. An dem Proömium der Ilias wird mit Recht der weite und nicht unterbrochene Kreis bewundert, der die Anrufung, die Ankündigung des Themas und den Beginn der Erzählung umfaßt. Mit dem ersten Vers ist sofort das Thema gegeben und seine Entwicklung vorausgenommen, bis zu jenem Vers 6 ( „ . . . nachdem sich einmal im Zwiste geschieden . . . " ) , der mit größter Deutlichkeit den wirklichen Inhalt des Epos angibt: den Streit zwischen Achill und Agamemnon. Zu dem gelegentlichen Anlaß, zum wirklichen und eigentlichen zeitlichen Ausgangspunkt kommt man durch eine ununterbrochene Rückwärtsbewegung: der Streit war von Apollon hervorgerufen worden, der eine Pest im Lager hatte ausbrechen lassen, weil er auf Agamemnon zornig war wegen der Beleidigung, die der König dem Chryses zugefügt hatte, weil dieser, der zu den Schiffen gekommen war usw. An diesem Punkte sind wir beim Thema angelangt, und es folgt die Szene mit Chryses. Die Bewegtheit in diesem Proömium bringt auf zwei Beobachtungen, die dann von dem ganzen Epos bestätigt werden. Erstens, daß die göttlichen „Anlässe" des Geschehens, die anzugeben in den epischen Gedichten Gewohnheit sein durfte, hier mehr beiseitegerückt als betont werden: der „Wille Kronions", so in Parenthese und flüchtig erwähnt, erscheint zwischen „dem Zorn", der an erster Stelle im ersten Vers steht, und dem Zwist zwischen Achill und Agamemnon, der betont die erste Versgruppe schließt. Und Apollon, der den Streit veranlaßt, wird sofort auf den zweiten Plan gerückt durch die folgenden Begründungen, die den Zwist auf seine rein menschlichen Ursprünge zurückführen. Zweitens läßt die Umkehr der chronologischen Ordnung (Streit, als erstes genannt, Zorn des Apollon und Pestilenz, Beleidigung des Chryses, Gang des
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Chryses ins achaiische Lager) sofort begreifen, daß die Feindseligkeit zwischen Achill und Agamemnon das Hauptmotiv ist, die wirkliche Ursache des Geschehens, die alle die anderen als Zufallsursachen erscheinen läßt. Bei einer chronologischen Ordnung der Dinge wäre der Anfang so gewesen: ein Priester des Apollon, Chryses, hatte eine Tochter, die die Achaier gefangengenommen hatten, und er begab sich ins Lager, um sie loszukaufen usw. Nur durch die Inversion der Geschehnisse konnte man zu verstehen geben, daß das Chryses-Motiv nebensächlich ist, und daß der Konflikt tiefere Gründe hat, wie man dann im Verlaufe des Gedichtes sieht. Das Proömium der Odyssee ist ganz anders. Vom ersten Wort an („Den Mann besinge . . . " ) soll gezeigt werden, daß die Einheit des Themas im Gegensatz zur Ilias nicht aus einem Geschehen mit vielen Personen besteht, sondern aus einer Persönlichkeit, die verschiedene Erlebnisse hat. Nach den neun Versen, die aufs genaueste Odysseus als die Zentralfigur des Epos herausstellen, fährt der Dichter fort „...auch uns davon zu erzählen... άμόθεν", das heißt: an jedem beliebigen Punkte beginnend. Giorgio Pasquali4 sieht auch in diesem άμόΐίεν eine bewußte Gegenüberstellung zur Ilias „indem von irgend einem Punkt ausgegangen wird, nicht vom Anfang, und indem nicht in chronologischer Ordnung fortgefahren wird. Am Ende des Proömiums stellt nochmals der Dichter, wie in den ersten Worten, das neue Lied dem klassischen Lied, der Ilias, gegenüber . . . Der Dichter weiß augenscheinlich, daß die Erzählung in der Odyssee mitten in der Handlung beginnt und dann rückwärtsgeht". Aber uns scheint nicht, daß man ausgerechnet die Ilias als Beispiel für systematische Pedanterie anprangern könne, die in medias res geht, indem sie die Vorgeschichte der Taten des Achill und der Belagerung Troias beiseiteläßt und nichts von ihren Auswirkungen weiß - die Ilias, die so viel Gleichgültigkeit gegen die chronologische Regelmäßigkeit bezeugt. 4 „II proemio dell'Odissea", in: Fontes Ambrosiani X X V (Miscellanea G. Galbiati, vol. I), Milano 1 9 5 1 , pp. 1 - 3 .
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In den Schulkommentaren wird versichert, das Geschehen in der Ilias daure rundgerechnet fünfzig Tage. Liest man aber das Epos ohne Pedanterie, so sieht man, daß die Zeitangaben sehr unbestimmt sind, und daß ihr Aufbau hauptsächlich danach strebt, die größtmögliche Zahl von Begebenheiten in möglichst kurzer Zeit zu konzentrieren. Die Haupthandlung ist in vier Kampftagen enthalten. Die vorkommenden Hinweise auf ziemlich lange Intervalle dürfen nicht wörtlich genommen werden. Im I. Gesang (vv. 488 ss.) wird gesagt, daß Achill zwölf Tage lang bei den Schiffen bleibt, ohne an den Heeresversammlungen und den Schlachten teilzunehmen, und später (II, 773 ss.) werden seine Myrmidonen beschrieben, wie sie Sport treiben, während der Krieg weitergeht. Tatsächlich aber weist alles, was nach dem I. Gesang erzählt wird, darauf hin, daß in Abwesenheit des Achill keine weiteren Schlachten stattgefunden haben. Die Ilias läuft, aufs äußerste konzentriert, in einer idealen Zeit ab. So kann es vorkommen, daß es während einer so langen Schlacht wie der vom XI. bis zum XVIII. Gesang dauernden zweimal Mittag wird (XI, 86 und XVI, 777). Vielleicht hat der Verfasser des Proömiums der Odyssee, um zu ihm zurückzukehren, andere Erzählungen von den Reisen des Odysseus im Sinne gehabt, die er in einem Gedicht von der Rache zusammenfaßte, oder auch ganz allgemein die Lieder von der Rückkehr der Helden aus Troia (kennzeichnend ist, daß die Rückkehr des Agamemnon den Vorwand für den Beginn der Diskussion unter den Göttern abgibt). Doch das άμόϋεν wird, mehr als auf den originalen ringförmigen Aufbau der Odyssee anzuspielen, den Stolz der Aöden aufleuchten lassen, die sich rühmten, „an jedem beliebigen Punkte" beginnen zu können. So betrachtet würde die Odyssee in ihrem Anlauf näher an die alte Praxis der Sänger rücken; aus dieser stammt sicher auch die Gepflogenheit, die Erzählung von einem Unternehmen mit einer Versammlung oder einer Entscheidung der Götter beginnen zu lassen. Dies umso mehr, als in der übrigen Odyssee der Brauch, die Götter sich versammeln zu lassen, schon ungewöhnlich geworden ist. Dies sind Hypothesen, doch das „seit" und das „von jedem beliebigen Punkte aus", „aus der Fülle"
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könnten typische Bestandteile einer mündlichen zünftigen Tradition sein, die hier wohlüberlegt dem Anfange zweier großer Epen angepaßt worden sind. Ein anderer Bestandteil des herkömmlichen Stiles - bewahrt, aber in Ilias und Odyssee von Grund auf erneuert - ist die „typische Szene". Die wesentlichen, immer wiederkehrenden Situationen, in denen eine Person sich finden kann, werden in ihren wichtigsten Augenblicken mit formelhaften Versen beschrieben, die ohne Abänderung oder mit ganz geringen Änderungen wiederholt werden. Wenn jemand sich aufmacht, um zu einem anderen zu gehen, so wird diese Handlung mit derselben Wortfolge beschrieben: er machte sich a u f . . . er ging . . . er kam an . . . er traf . . . er sagte . . . Keine zusätzlichen, zufälligen und nicht interessierenden Fakten werden erwähnt, etwa wie die Einzelheiten der Reise, der seelische Zustand der Person gewesen sein könnten usw. Diese Seite des homerischen Stiles ist in zahlreichen Monographien behandelt worden, die den Schlachten, den Szenen mit den Göttern, den Gebeten, dem Aufbau der Wechselreden gewidmet sind. Man hat gesehen, daß auch hierin eine grundlegende Verschiedenheit zwischen dem epischen Stil und dem Stil jeder anderen Art von Dichtung herrscht. „Homer will wirken durch die Darstellung der Dinge an und für sich, der moderne Dichter durch die Darstellung der Gefühle, die die Dinge bei ihm, dem einen Dichter, erwecken." 5 Außerdem hat man es aufgegeben, in den typischen Szenen alles Schöne oder alles Häßliche der homerischen Poesie zu finden, nachdem die romantische Kritik - indem sie angefangen hatte, die Epen mit den alten und neuen Volksliedern zu konfrontieren - das den Alexandrinern und dem ganzen Klassizismus eigene Vorurteil überwunden hatte, welches zu Ehren des Kultes der stilistischen Originalität alle Wiederholungen mißbilligte (deshalb wurde im 16. und 17. Jahrhundert Vergil Homer vorgezogen). Die analytische Kritik des vorigen Jahrhunderts dagegen ist oft der Versuchung erlegen, in diesen sich wiederholenden Vers5 W . Arend, „Die typischen Szenen bei Homer", Berlin 1 9 3 3 , p. 2.6, Anm. 2. 15
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gruppen späte Nachahmungen zu sehen, ein Zeichen für am Schreibtisch erfolgte Kompilation. Es ist klar, daß die Wiederholung einer Versgruppe oder einer Szene bei Homer auch einem nachlässigen und späten Epigonen verdankt werden kann; aber im Ganzen ist die Wiederkehr von typischen erzählenden Bestandteilen eine Erbschaft aus der mündlichen Kompositionsweise. Für uns sind interessant die Anzeichen für eine fortschreitende Auflösung dieser Schablonen und für das Auftreten ihrer nicht-mechanischen Verwendung. Wenig überzeugend sind alle die Versuche, eine originale Hand in irgend einer feinen Variante eines Grundschemas zu sehen oder gewisse Wiederholungen zwischen verschiedenen Liedern als „Anspielungen" oder „Fernverbindungen", voll von versteckten Absichtlichkeiten zu erklären. Die von den homerischen Neuerungen eingehaltene Linie scheint uns eine andere zu sein. Elemente des Aufbaues Nicht seine Erfindung wird vielleicht Homers Brauch sein, ein typisches Erzählungsschema zu unterbrechen, um mitten in ihr eine parallel verlaufende Episode einzuschalten und so die beiden Ereignisse als gleichzeitig hinzustellen: wie etwa im I. Gesang der Ilias die Abfahrt und die Ankunft der nach Chryse segelnden Schiffe durch die Szenen von Achill mit den Herolden und der Mutter getrennt werden. Aber bei Homer wird dieser Brauch in all seinen Möglichkeiten benutzt, mit dem Ergebnis, daß eine große Zahl von Geschehnissen in einer geringen Spanne Zeit dramatisch zusammengedrängt werden können, und daß einander folgende Episoden nicht einfach zeitlich aneinander gereiht, sondern in einer wirklichen Verflechtung miteinander verbunden werden. So hätten ζ. B. zwischen dem XVII. und dem XVIII. Gesang der Ilias die Episoden des Kampfes um die Leiche des Patroklos und der Trauer des Achill sich einfach in ihrer natürlichen zeitlichen Ordnung folgen können. Statt dessen wird die zweite Episode vorzeitig zum Anlaufen gebracht durch einen Einfall des Menelaos, der Antilochos
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abschickt, um Achill zu benachrichtigen. Antilochos macht sich auf den Weg (XVII, 69 8) - es folgt der Schluß des Kampfes um den Leichnam — und dann kam „Antilochos zu Achill als eilender Bote" (XVIII, 2). Diese Art, mit Verflechtungen zu arbeiten, die regelmäßig in den Epen vorkommt - besonders um nicht-mechanisch Episoden verschiedenen Ursprungs miteinander zu verbinden kann sich nur in umfangreichen und nach einem wohlüberlegten Plan aufgebauten Gedichten finden. Andere Male wird von den großen Parenthesen frei Gebrauch gemacht, ohne daß eine strukturelle Notwendigkeit vorläge, nur um eine Nebenepisode einzufügen, die dem Dichter wohl besonders gefiel, oder um einem bestimmten Helden Ehre zu erweisen. Im VI. Gesang der Ilias „enteilte" Hektor (v. 1 1 6 ) , um nach Troia zurückzukehren, und „war zum skaiischen Tor gelangt" (v. 237). Zwischen Aufbruch und Ankunft Hektors wird das berühmte Zusammentreffen mit glücklichem Ausgang von Glaukos und Diomedes erzählt. Um das Vorhandensein der Episode in diesem Augenblick der Schlacht zu rechtfertigen hat man die üblichen ästhetisch-formalistischen Gründe herangezogen: der Dichter habe hier ein „Präludium" oder eine „Parallele" zu den friedlichen Szenen geben wollen, die sich in der Stadt abspielen (als ob in Troia das Idyll herrsche und nicht Angst und Verzweiflung); oder er habe die Pause ausfüllen wollen, die durch Hektors Ortswechsel entstanden war (als ob die Hörer wirklich die ganze Zeit über warten müßten, die es braucht, um in die Stadt zu gehen). Oder die Episode sollte „dem Publikum die deutliche Empfindung vermitteln, daß die Schlacht weitergehe während der langen Szenen, die Hektor fern von ihr halten" (aber warum wäre dann eine so statische und friedliche Episode gewählt worden?) und „dem Handeln des Diomedes, das schon so lange andauert, einen originellen und pikanten Abschluß geben". 6 Statt dessen muß zugegeben werden, daß die Episode hier keine besondere dichterisch-kompositio6 P. Mazon, „Introduction ä l'Iliade", op. cit., p. 164. Für die Kritik dieser Interpretationen der Episode verweisen wir auf die schon zitierte Arbeit von G. Jachmann, „Homerische Einzellieder".
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nelle Funktion hat: sie harmonisiert nicht mit dem vorhergehenden Gesang, da sie einen höflichen, die ritterlichen Regeln beachtenden Diomedes vorführt, einen Diomedes, der die Beziehungen zu seiner Familie pflegt, der sagt, er wolle nicht mit den Göttern kämpfen (v. 129: ausgerechnet nachdem er Aphrodite und Ares verwundet hat), und sie harmonisiert auch nicht mit dem Rest des Gesanges, wo die verzweifelte Situation Troias, wie sie im Folgenden beschrieben ist, durch den Angriff von außen und vor allem durch das Rasen des Diomedes bestätigt sein dürfte. Alles, was sich sagen läßt, ist, daß die unabhängig von der Ilias und vielleicht sogar ohne Beziehung zum troianischen Krieg entstandene Episode dem Dichter gefiel, und daß er sie an der Stelle eingefügt hat, die ihm am wenigsten ungeeignet erschien (am Ende des „redaktionellen" Teiles, der den Aufbruch Hektors nach Troia bringt). Er mag gedacht haben, es sei gut, noch von Diomedes zu sprechen, der nach seinen Taten im V. Gesang in der restlichen Ilias nicht mehr oft vorkommt, und rechtzeitig Glaukos einzuführen, der in den Kämpfen der folgenden Gesänge wieder auftreten wird. Aber vor allem gefiel ihm die Episode als solche, ohne daß er sich Sorge deswegen machte, daß sie mit dem Rest nicht gut zusammenging: er hat sie eingefügt, und es sei ihm dafür Dank gesagt. Alle diese Unterbrechungen der Haupthandlung, die ineinander verschlungenen Entwicklungen, die von kompositorischen Notwendigkeiten eingegebenen Parenthesen und die ausschmückenden Abschweifungen schaffen in den Epen jene dramatische Konzentration und schalten in sie jene „retardierenden Elemente" ein, die Ilias und Odyssee scharf von der primitiven Volksepik unterscheiden, die ihrerseits von dem Gesetz der parataktischen Anordnung beherrscht wird. Diese Art von Komposition ist alles andere als mechanisch, und gerade an den Nahtstellen und in den Anschlüssen, die dazu dienen, die Episoden miteinander zu verknüpfen, muß man die Spuren der originalen dichterisch-redaktionellen, der eigentlich homerischen Arbeit suchen. Aber diese Arbeit hat in dem bunten Sichhäufen und Sichverbinden von miteinander verschlungenen und einander überlagernden Motiven so komplizierte Ergebnisse ge-
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zeitigt, daß die Fäden sich nur in wenigen Fällen verfolgen lassen. Die verwickeltsten Teile der Ilias sind natürlich die Schlachtszenen, in denen die Möglichkeit, retardierende Motive einzuführen, unbegrenzt war. Unentwirrbar ist das von den Kämpfen im Kernstück des Epos gebildete Durcheinander. Schon lange hat man gesehen, daß die Taten des Agamemnon im XI. Gesang in der Mitte unterbrochen werden (vv. 597 ss.), um der Mission des Patroklos Platz zu machen, den Achill zu Nestor schickt, um zu erfahren, wer der Verwundete (Machaon) sei, den dieser aus der Schlacht fortführt. Man würde eine schnelle Rückkehr des Patroklos erwarten, umso mehr als er sich zu setzen weigert mit den Worten, er müsse sofort zu dem schrecklichen Achill zurückgehen (vv. 649, 654). Statt dessen - eine andere Unterbrechung - unterhält Nestor ihn mit einem langen Bericht über die Taten seiner Jugend. Schließlich kehrt Patroklos laufend zurück, aber auf halbem Wege hält er bei dem verwundeten Eurypylos an, spricht mit ihm und pflegt ihn. Und hier wird er verlassen, während die Erzählung eine andere Wendung nimmt: man kehrt in die Schlacht zurück, die in der verworrenen Folge des XII. bis X V . Gesanges weitertobt mit ihren Frontänderungen, mit dieser Umwallungsmauer um die achaiischen Schiffe, die manchmal vergessen wird, manchmal wie ein einfacher kleiner Erddamm, manchmal wie eine Befestigung nach allen Regeln der Kunst mit sogar fünf Toren erscheint; und jetzt steht sie dicht hinter den Schiffen, jetzt ziemlich weit von ihnen entfernt. Im X V . Gesang (v. 390) sehen wir schließlich Patroklos wieder, der immer noch dem Eurypylos beisteht und sich nun entschließt, zu Achill zu eilen. Jetzt wird jener Kampf um die Schiffe wiederaufgenommen, der längst vorher hätte zu Ende gehen müssen. In den ersten Versen des XVI. Gesanges kommt Patroklos bei Achill an, und es beginnt die „Patroklie". In dieser langen Reihe von Liedern sind ganz verschiedene Episoden vereinigt, die das schwache Motiv von der Mission des Patroklos so gut wie möglich zusammenhalten und sie mit der Patroklie, die folgen soll, verbinden muß. Und wir werden nicht allzu streng gegen den Dichter sein, der bei der endlichen Rückkehr des Pa-
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troklos (XVI, 2 ss.) völlig den eigentlichen Zweck jener Mission vergessen hat: sich über die Person des Verletzten zu erkundigen, der von Nestor in Sicherheit gebracht wurde. In den Kampfszenen strebt der Dichter danach, die größtmögliche Zahl von Episoden anzuhäufen und alle wichtigsten Helden ins Licht zu bringen. Und hier vor allem muß er die Geschehnisse konzentrieren, um die Schlacht nicht bis ins Unendliche innerhalb der realen Zeit auszudehnen, und er muß Ereignisse als gleichzeitig zu beschreiben versuchen, die sich nacheinander abspielen müßten. Daraus entstehen Widersprüche und "Wiederholungen, und die Schlacht nimmt einen unwahrscheinlichen Umfang an. Mehrmals sieht man in den Gesängen X I I - X V einen Helden im Ansturm auf ein Tor oder eine Mauer. Am Anfang des XII. Gesanges ist es Asios, der Sohn des Hyrtakos, der schon im Begriff scheint, ein Tor zu sprengen und in das achaiische Lager einzudringen. Aber Asios ist keiner der größeren Helden; der Dichter reserviert den Ruhm anderen und sagt unversehens: „Andere kämpften den Kampf um andere Tore des Lagers. / Aber es wird mir schwer, wie ein Gott das alles zu künden" (vv. 175 s.). Diese sonderbaren Verse (von denen der erste eine mechanische Übertragung von X V , 414 ist „Und sie kämpften bald hier, bald dort den Kampf um die Schiffe"; hier hat die Übersetzung stark geändert, im Griechischen sind die Verse einander völlig gleich) mit der ungewöhnlichen Bezugnahme auf die erste Person enthüllen einen Augenblick der Unsicherheit des Dichters, der eine Sammlung von Episoden zusammengebracht hat und deren Gleichzeitigkeit begründen will, indem er die Zahl der Tore vervielfacht. Weiter: in dem Hin- und Herwogen des Kampfes um die Schiffe (XIII. Gesang) der, nebenbei gesagt, am Ende die Handlung auch nicht um einen Schritt vorangebracht hat, wohnt man dem achaiischen, von Poseidon unterstützten Gegenangriff, den Heldentaten des Idomeneus, des Meriones, des Antilochos und des Menelaos bei (vv. 206-672). Inzwischen weiß man nicht, was Hektor tut, der doch kurz vorher (XII, 437-71) Herr des Schlachtfeldes war und endgültig die Mauer bezwungen zu haben schien; er er-
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scheint im letzten Teil des XIII. Gesanges (vv. 674 ss.) wieder, w o es heißt: Noch aber hatte der göttliche Hektor nicht Kunde bekommen, Daß ihm zur Linken der Schiffe die Seinigen fielen, getötet Unter der Danaer Hand . . . ,
und man kehrt zur Situation des XII. Gesanges zurück. Auch dabei rechtfertigt der Dichter um den Preis einer gewissen, nicht weiter störenden Unlogik die über Gebühr sich verlängernde Erzählung mit dem Hinweis, daß alles zur gleichen Zeit geschah. Wenn man ohne Klügelei die unvermeidlichen Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten betrachtet, die sich bei einer gewissenhaften Lektüre enthüllen, die aber nicht die Aufmerksamkeit einer Hörerschaft auf sich ziehen konnten, so muß man zugeben, daß diese Kämpfe in der Ilias eine schöne Bewegtheit gerade durch die Häufung von Abschweifungen und unvorhergesehenen Umständen erhalten. Und der Dichter, der die militärische Taktik so kompliziert, indem er das Schlachtfeld vergrößert und es in viele Abschnitte aufteilt, die nichts voneinander wissen, indem er die Führer in Massen von Kämpfern untertauchen läßt, die anderen Teilen des Epos unbekannt sind - dieser Dichter geht sicher nicht willkürlich vor. Er kennt schon die Taktik der Hopliten, den Kampf, der mit dem Zusammenstoß zweier geordneter Heerhaufen beginnt und in einem wirren Ringen von Mann zu Mann endet, und die im epischen Stil nicht wirklichkeitsgemäß dargestellt werden konnte. Die alten Schlachtbeschreibungen hatten jenen schlichten, katalogmäßigen Fortgang, der sich noch in einigen Teilen der Ilias findet. Am Schluß des IV. Gesanges, vor der Schlacht, sehen wir die beiden Heere aufgestellt, die der Dichter seinen eigenen Erfahrungen gemäß beschreibt: die Abteilungen der beiden Aias scheinen eine tiefschwarze, Sturmbringende Wolke, die Zephyros vom Meere her treibt (vv. 274 ss.), und das achaiische Heer ist wie eine hohe Woge, die an der Küste zerschellt (vv. 422 ss.) Als die Schlacht aber beginnt, räumen die geschlossenen Verbände ihren Platz den
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einzelnen Kriegern, die sich in Zweikämpfen besten traditionellen Stiles messen: als erster tötet Antilochos den Echepolos; Elephenor versucht, ihn an den Füßen fortzuziehen, doch Agenor trifft ihn in die Seite; andere kommen herbeigelaufen: Aias tötet den Simoeisios, aber gegen ihn geht Antiphos vor usw. Die Ideenverbindung mag unehrerbietig sein, aber wir müssen zugeben, daß hier - sieht man von den blutigen Einzelheiten ab - die Beschreibung der Schlacht eher dem Bericht über ein Fußballspiel gleicht. Dieses „katalogisierende" Vorgehen in den Beschreibungen von Kämpfen findet sich auch am Beginn des V. Gesanges und auf weiten Strecken der Gesänge X V und XVI. Homer kennt andere Mittel und Wege, um in der Erzählung Platz für das Zufällige und das Unvorhergesehene zu schaffen, die den vorgeschriebenen Ablauf des Geschehens unterbrechen und die bekannte Entwicklung verlangsamen. An vielen Stellen, die nach einem Schema aus dem alten Formelgut aufgebaut sind, heißt es: die Dinge wären so oder so verlaufen, „wenn nicht" etwas Bestimmtes dazwischengekommen wäre. Manchmal dient die Formel dazu, um zu sagen, daß die Ereignisse sich von dem vorgeschriebenen und allen bekannten Verlauf entfernen würden, griffe nicht ein Gott ein, um sie auf den richtigen Weg zurückzuführen; so ζ. B. im I. Gesang der Ilias, als Achill unverzüglich Agamemnon töten würde, wenn nicht Athena unvermutet dazukäme, um ihn zurückzuhalten (andere Beispiele: XVI, 698 ss.; XVII, 70ss., 319 ss.; XVIII, 165 ss.). Jeder Versuch der Menschen, von der durch die Götter vorgezeichneten Linie abzuweichen, wird sofort vereitelt. Aber die Ilias bedient sich dieser Eingriffe gerade, um wenigstens für einige Zeit die Handlung von dem vorgesehenen Ausgang abzulenken. Im XII. Gesang (vv. 251 ss.) scheint Hektor im Begriff, die berühmte Mauer zu ersteigen (und man weiß gut, daß dieser Ruhm gerade ihm zufallen wird), in einer mit Feierlichkeit vorgetragenen Szene mit Zeus, der seinen Willen bestätigt, „die Troer und Hektor zu verherrlichen" (v. 255), indem er einen brausenden Wind sendet, der den Staub zu den Schiffen treibt. Kurz darauf aber nimmt die Erzählung eine unerwartete Wendung (290 ss.):
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Aber es hätten auch jetzt noch nicht die Troer und Hektor Durchgebrochen das Tor und den mächtigen Riegel der Mauer, Hätte der waltende Zeus nicht seinen Sohn, den Sarpedon, Gegen die Männer von Argos g e j a g t . . .
Diese Verse sprechen nicht die Wahrheit; anderswo wird die Ehre, das Tor erstürmt zu haben, nur Hektor zugeschrieben, und die hier erwähnten Taten des Sarpedon, die mit der Bezwingung der Mauer zu schließen scheinen, haben in Wirklichkeit keinen Einfluß auf den Fortgang der Schlacht und sind ein Duplikat der Taten Hektors (daß die ganze Stelle mit Sarpedon, XII, 190-429, unabhängig von dem übrigen Gedicht entstanden sei, ist eine alte Vermutung, die vor mehr als einem Jahrhundert durch G. W. Nitzsch gut gestützt wurde). Um die Verdoppelung noch klarer zu machen dient der doppelte Hinweis auf Zeus, der zuerst Hektor den Ruhm verleiht und dann denselben Ruhm seinem eigenen Sohne Sarpedon zuwenden will. Dieses dauernde Ablenken der Ereignisse von ihrem vorgeschriebenen Weg gibt - so wie es die Kampfszenen realistisch macht den Geschehnissen der Epen einen bewegten und widerspruchsvollen Verlauf, in dem jede Persönlichkeit ihre eigene Freiheit genießen kann, auch wenn sie sich „gegen das Schicksal" stellt. In der troianischen Sage riefen das Urteil des Paris und die Entscheidung der Götter Konsequenzen hervor, die in einer, von der Notwendigkeit bestimmten Kette zur Zerstörung Troias führten. In der Ilias dagegen sind nicht nur Anfang und Ende der Kette fallengelassen (Vorgeschichte und Anfangsstadien des Krieges; Tod des Achill und Eroberung von Troia), sondern der Zorn des Achilleus läuft dem Zweck der Expedition zuwider, die Handlungen der wichtigeren Helden widersprechen den Folgen des Zornes des Achill und so weiter. All das trägt dazu bei, die Teilnahme der Götter an den irdischen Geschehnissen jeglicher deterministischen Bedeutung zu berauben; praktisch sind sie in einen Zustand halber Ohnmacht versetzt. In der letzten von uns besprochenen Stelle stammt der Widerspruch zwischen dem Zeus, der Hektor zum Ruhme ver-
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Zur Komposition der Epen
helfen will und jenem, der gleich darauf Sarpedon vorschickt, aus einem leichten Versehen des Dichters, der zwei verschiedene Episoden kombiniert hat: aber die Möglichkeit solcher Versehen beweist noch einmal, daß die realistisch-poetische Notwendigkeit forderte, den Handlungen und Absichten der Götter jegliche Ernsthaftigkeit zu nehmen; sie werden hier als literarische Figuren gerade benutzt, um einen Zufallsfaktor einzuführen oder die Erzählung in diese oder jene Richtung zu lenken - ganz wie die Dichtung es brauchte. Wir sprachen schon von dem vorzüglichen Hilfsmittel, das letztlich dem gleichen Zwecke dient, nämlich den Göttern Augenblicke des Zerstreutseins zuzuschreiben, in denen sie „nicht sehen", was auf der Erde vorgeht, oder sie einschlafen zu lassen (wie Zeus im XIV. Gesang der Ilias), oder schließlich sie ab und an von der Bühne zu entfernen, indem man sie — einzeln oder gruppenweise — Ferien bei den weit entfernt wohnenden Aithiopen verbringen läßt: so im I. Gesang der Ilias, wo alle miteinander fortgegangen sind, um zwölf Tage lang zu bankettieren; und in der Odyssee, wo die übrigen Götter dem Helden helfen, indem sie die Abwesenheit des Poseidon ausnützen, der noch gerade rechtzeitig zurückkommt, um den Sturm zu entfesseln und Odysseus nahe an der Küste der Phaiaken scheitern zu lassen (I, 22-26; V, 282 ss.). Das Aufgeben der vorgeschriebenen epischen Formen, die Erneuerung des Inhaltes in anti-deterministischem Sinne unter weitgehender Zulassung von Zufallsfaktoren, die Konzentrierung des künstlerischen Interesses auf irdische Ereignisse, die außerhalb der „Pläne des Zeus" oder im Gegensatz zu ihnen abrollen - dies sind die Charakteristika, die den Aufbau der homerischen Epen bestimmen. Sie waren geeignet, um eine Welt des Überganges zwischen dem „griechischen Mittelalter" und der Adelskultur zu beschreiben, die ihre kurzdauernde und anarchische Freiheit genießen konnte. Viele Teile der Epen sind zu verschiedenen Zeiten verfaßt worden, aber zu ihrer endgültigen Formung sind sie nicht durch einen mechanischen Sedimentierungsprozeß gekommen: es hat jemanden gegeben, der den gesammelten Stoff mit reiflicher Überlegung in poetischen Werken ordnete und durcharbeitete, die - wenn es
Elemente des Aufbaues
2.35
uns auch nicht vergönnt ist, die individuellen Persönlichkeiten und nicht einmal die genaue Zahl der Autoren (zwei oder mehr?) zu erkennen - uns doch wenigstens die historisch-kulturellen Züge ihrer Zeit ziemlich deutlich werden lassen.
SACHVERZEICHNIS Aöden: 58, 59, 61, 69-71, 153, 217, 219, 221, 224 Arbeitsteilung: 5, 9, 1 3 , 139, 140, 155 Archäologie: 3, 8-10, 31, 32, 38, 73,
Ilias und Odyssee: Verschiedenheit der Kultur und des Stiles 30, 40, 55, 126, 163, 183
74, 78, 79 Aristokratie: 10, 14, 80-2, 107, 1 2 1 , 125, 142, 154, 209, 234
Monarchie: Befugnisse des Königs 13, 79, 82-96, 126-30; im Gegensatz zur Aristokratie 1 3 , 1 2 1 , 125, 127, 13 2 ·, 133, 135-8 Mykene: Kultur 3 - 1 1 , 38, 45, 67, 72, 81, 209; Erinnerungen an - bei Homer 10, 67, 7 1 - 3 , 78, 82, 83, 89, 125 Mythologie und Religion: 1 1 , 22, 154, 158, 1 7 8 - 2 1 5 , 217, 222, 224, 233-5; Anthropomorphismus 184-96, 198, 206; übernatürliche Motivierung der menschlichen Handlungen 105, 1 0 7 - 1 1 , 179, 180, 183, 184, 213; Komik der Götter 188-96, 202, 204, 207-9
Bewaffnung: 73-9 Bronzezeit: 4, 5 Dorer: 8, 1 1 , 12, 68 Eigentum: Privat- der Führer 97, 129, 142; Kollektivbesitz des Bodens 1 3 , 81; Grundstücke den Führern zugesprochen 129, 154; private Aneignung des Bodens 13, 142 Eisenzeit: 3, 10, 64-5, 75 Epische Dichtung: mündliche Uberlieferung 17, 32, 43, 55, 59, 61, 68-9, 7 1 , 225; epischer Zyklus 19-2,1, 45, 48, 87, 218; vor-homerische Epik
10, 45-54, 78, 155, 182, 183, 193,
198, 209-15, 228, 231, 232; das Publikum 49, 53, 70, 7 1 , 75, 123, 153, 1 8 1 , 189, 217, 221, 231 Frauen: 49, 98, 127, 159-70, 176 Führerrat: 94, 95 Gäste: 49, 133 Gerechtigkeit: Rache und Privatjustiz 97, 1 2 9 - 3 1 , 135-9; aristokratische 1 1 6 - 2 6 ; göttliche - 63, 65, 134, 135, 139, 1 8 1 - 3 , 1 9 1 , 210 Heroen: physischer Aspekt 174, 175; Persönlichkeit und Charakter 143 bis 170; Entwicklung der heroischen Typen 46-55, 99, 1 1 8 - 2 1 , 124, 127, 145, 1 5 1 , 154, 155, 163, 168, 169, 1 7 1 , 176
Schicksal: 184, 209-15 Schrift: 9, 10, 17, 32-4, 68 Sprache: 14, 26, 35, 39-40, 42, 43, 55, 59, 72, 146 Staat: 12, 14, 142, 163 Stadt: 12, 14, 81, 82, 1 4 1 , 142 Stil: Formeln 42, 43, 55, 61, 72, 167, 208, 219, 225; typische Szenen 42, 224, 226; stehende Epitheta 72, 156; Gleichnisse 67, 150 Troianischer Krieg: 7, 22, 3 1 ; seine Ursachen 48, 65, 9 7 - 1 0 1 , 219, 221, 222, 233 Verantwortung: kollektive - 96-105; persönliche - 52, 100, 105-15, 134, 145, 179, 210 Versammlung: ihre Befugnisse 74, 81, 86, 90-7, 129; ihre allmähliche Entmachtung 1 2 1 , 123-5, Ι2 ·8, 132, 135-9
Ν AMENS VERZEICHNIS α)
Altertum -
Achaier: 7 u. a. Achilleus: 19, 20, 36, 45, 58, 60, 74, 78, 81, 86, 87, 98, 141, 145, 156, 157, 159, 169, 170 Anm. 15, 1 7 1 , 17z, 173, 175, 177, 191, 194» 201, z u , Z13, Z14, zi8, Z24, zz6, zz9, Z33; Streit mit Agamemnon 93-4, 96-7, zzz-3; in der „Versöhnung" 106-26; Schild des - 76, 1Z3 Äoler, äolisch: 8, 35 Agamemnon: 13, 48, 54, 74, 77, 79. 81-3, ioz, 150, 156, 158, 174, 184, 194, zio, 214; Streit mit Achill 93-4, 96-7, 2ZZ-3; in der „Versöhnung" 106-26; Machtbefugnisse des - 83 bis 97; Rüstung des - 76 Agenor: 23z Agelaos: iz8 Aiaia, Insel: 47 Aias (beide): 77, 78, 157, 170, 1 7 1 , 174, zo6, 23 z Aietes: 46, 47 Aigyptios: 136 Aigisthos: 107, Z14 Aineias: 67, 157, 175, 197, 198, zoi, Z13 Aiolos: 46 Aischylos: 21, 76, 149, 170 Aithiopen: 45, zio, Z34 Aktor Azeides: 53 aleische Flur: 155 Alexandria: 17 Alexandros s. Paris Alkinoos: 136 Amazonen: 154 Amphinomos: 134 Anatolien: 8 Andromache: 59, 144, 164-9, 19z; Brüder der - 139
Mittelalter Anteia: 154 Antenor: ioz, 103 Antikleia: 130 Antilochos: 45, 1 7 1 , zz6, Z30, 232 Antinoos: 128, 137, 138, 140 Antiphos: 232 Apollon: 93, 96, 1 4 1 , 186, 187, 188, 190, 191, 214, 218, zzz-3; i m Kampfe Z03-9; - Smintheus 179 Aphrodite: 49-51, 57, 100, 194, Z17; verwundet 197-zoi; im Kampfe Z02-9 Apollonios Rhodios: 176 Areithoos: 75 Ares: 48, 53, 194, 198, 199, 217; im Kampfe 202-9, 2 I 7 Arete: 160 Ariadne: 161 Aristarchos von Samothrake: 23, 140 Aristophanes: 76 Aristophanes von Byzanz: 23 Aristoteles: 20, 218 Argolis: 89 Argos: 48, 67, 89 Argonauten: 46, 47, 57, 176, 220 Artakia, Quelle: 47 Artemis: 54, 203-9 Asios: 230 Askalaphos: 53, 57 Astioche: 53 Astyanax: 165, 166, 168 Ate: 110, 1 1 6 Athen: 6, 10, 17, 34 Athena: 48, 50, 55, 75, 87, 103, 105, 128, 134, 139, 160, 167, 18z, 185, 186, 190, 197, zoi, z u , 214, 217, 219, 232; im Kampfe 202-9 Attika, attisch: 10, 26 Augustinus, hlg.: 162
238
Namensverzeichnis
Baalbek: 31 Balios: 56 Bellerophontes: 81, 154, 220 Boccaccio, Giovanni: 23, 170 Anm. 15 Böotien: 63 Brisei's: 96, 107, 1 1 6 , 159, 169, 172, 194 Chimaira: 154 Chios: 33, 140 Chryse: 179, 226 Chrysei's: 93 Chryses: 93, 96, 1 9 1 , 222-3 Cicero: 27 Dante: 23 Dardanos: 213 Deiphobos: 167 Demodokos: 58, 70, 7 1 , 140, 194, 217, 218 Dido: 1 6 1 , 162 Diomedes: 44, 47, 54-5, 57, 59, 67, 79, 89, 92, 1 1 9 , 1 2 1 , 152, 158, 185, 197-200, 208, 219, 227-8 Dione: 197-201, 220 Dolon, Dolonie: 21, 47, 54-5, 57, 74, 80, 95, 152, 173 Dorer: 8, 1 1 , 1 2 Echepolos: 232 Eetion: 139 Elephenor: 232 Eos: 45, 47 Ephyre: 154 Epirus: 125 Ereuthalion: 56, 57 Erinys: 1 1 0 Eudoros: 54 Eumaios: 140 Euripides: 1 6 1 , 170; Pseudo- 21 Eurykleia: 133 Eurymachos: 128, 129, 137, 1 4 1 Eurypylos: 20, 229 Eurystheus: 219 Eurytos: 78
Gargaros s. Ida Glaukos: 130, 154, 208, 212, 227-8 Gottfried von Bouillon: 175 Hekamede: 74 Hektor: 36, 44, 52, 59, 77, 78, 100, 1 0 1 , 1 1 4 , 144, 150, 158, 1 7 1 , 206, 2 1 1 , 217, 227-8, 230, 232-3; und Andromache 164-8; und Helena 173 Hekuba: 165, 166 Helena: 48-52, 57, 95, 98, 99, 100, 107, 1 6 5 , 166, 169, 173, 174, 197, 201 Helenos: 165 Helios: 46, 47 Hephaistos: 89, 1 1 3 , 140, 190, 193-4, 196, 2 1 1 Hera: 47, 67, 87, 103, 182, 183, 187, 197, 201, 212, 214; im Streit mit Zeus 189-93, 195, 196; im Kampfe 202-9 Herakles: 70, 78, 198, 199, 219, 220 Heraklit: 23 Hermes: 54, 89, 204, 205 Herodot: 22, 98, 1 8 1 Hesiod, hesiodisch: 18, 22, 58, 63-7, 70, 1 1 6 , 120, 1 2 1 , 123, 124, 139, 153» 155» 163, 170, 1 8 1 , 185, 189, 208, 220 Hethiter: 6, 38 Hippias: 157 Hyginus: 169 Hyrtakos: 230 Ialmenos: 53, 57 Iason: 46, 47, 57 Ida: 186 Idaios: 102 Idomeneus: 230 Ion: 76 Ionier, ionisch: 8, 26, 35, 189 Iphigenie: 21 Iphitos: 78 Iris: 100, 199 Ithaka: 70 u. a. Kalchas: 93 Kalypso: 161
Namensverzeichnis Karl d. Gr.: 175 Kassandra: 21 Kentauren: 67 Kirke: 46 Kleinasien: 71 Knossos: 5, 6, 77 Anm. 3 Kolchis: 46 Kopreus: 219 Korinth s. Ephyre Kranae, Insel: 52 Kreta: 4-6, 38, 49 Kronos: 182 Kyzikos a. d. Propontis: 47 Laertes: 183 Laistrygonen: 47 Lakedaimon s. Sparta Laodokos: 1 0 3 , 1 0 5 Laomedon: 1 4 1 , 203, 207 Lapithen: 67 Leiokritos: 138 Leto: 204, 205 Lokrer: 78 Lykaon: 1 7 1 , 201 Lykien, Lykier: 81, 108, 130, 154, 2 1 1 , 212 Lykurgos: 28, 220 Machaon: 229 Medea: 1 6 1 , 176 Meleager: 1 1 5 , 1 5 7 Memnon: 45 Menelaos: 49, 50, 59, 78, 95, 169, 1 7 1 , 197, 226, 230; im Zweikampf mit Paris 100-2; von Pandaros verwundet 103, 105 Menes: 38 Menoitios: 2 1 2 Mentes: 75 Mentor: 127, 137 Meriones: 74, 78, 1 7 1 , 230 Mimas: 33 Moira, Schicksal: 1 1 0 , 209-15 Molosser: 125 Musen: 70, 123, 185, 187, 190, 218 Mykene: 6 - 1 2 , 67 Mynes: 1 7 2
239
Nausikaa: 160-2, 167, 169 Neoptolemos: 20 Nereiden: 220 Nestor: 44, 56-7, 67, 74, 77, 77 Anm. 3, 87, 109, 1 1 8 , 1 1 9 , 1 2 1 , 122, 124, 1 3 1 , 140, 219, 229 Niobe: 1 1 7 , 220 Odysseus: 19, 44, 46, 54-5, 58, 78, 79, 95, 146, 147, 152, 15 6, 1 5 7 , 170 Anm. 1 5 , 174, 179, 185, 2 1 1 , 217, 218, 224; in der „Prüfung" 87, 90, 91; als Richter in der „Versöhnung" 1 1 6 - 2 6 ; und die Freier 126-35; das Volk 135-42; und Nausikaa 160-2, 167; und Penelopeia 162 Oidipous: 65 Olympos: 190, 208 Ossian: 34 Palamedes: 21 Palmyra: 31 Pandaros: 75, 78, 97-106, 109 Pandora: 163 Paris: 2 1 , 44, 45, 49-52, 57, 59, 78, 79» 97» 98, 99> 100, 105-06, 107, 139, 150, 158, 165, 169, 197, 233; im Zweikampf mit Menelaos 100-2 Patroklos, Patroklie: 47, 5 6, 75, 78, 108, 1 1 3 , 1 1 4 , 1 5 7 Anm. 8, 1 7 1 - 3 , 2 1 1 , 217, 226, 229 Pedasos: 56 Pegasos: 155 Peisistratos von Athen: 17, 27, 28, 34 Peloponnes: 8, 81, 82, 89 Pelops: 89 Penelopeia: 7 0 , 1 2 7 , 1 3 3 , 1 4 7 , 1 5 7 , 1 6 2 , 163-5 Perikles: 170 Petrarca, Francesco: 23 Phaiaken: 70, 136, 217, 234 Phalaris von Agrigent: 26, 32 Phaistos: 5 Phemios: 58, 69, 7 1 , 164, 217, 218 Phidias: 190 phönikisch: 68 Phoinix: 1 1 5
240
Namensverzeichnis
Philoktetes: 20, 21, 78 Phthia: 99 Pindar: 45 Piaton: 76, 157 Polymele: 54 Polyphemos: 46, 140, 146 Polyxena: 21 Poseidon: 55, 141, 182, 186, 188, 190, 213, 230, 234; im Kampfe 203-9 Priamos: 50, 52, 98, 117, 124, 157, 166, 174, 220 Proitos: 154 Proklos: 45, 49 Pylos: 6, 9, 77 Anm. 3, 198, 219
Temesa: 75 Thersites: 92, 173, 174 Teukros: 78 Theben: 65, 219. Thetis: 88, 96, 113, 121, 182, 189-92, 208, 226; bei Hephaistos 193. Thrinakia, Insel: 47 Thukydides: 22, 141, 170 Tiryns: 6 Titanen: 182 Tlepolemos: 219 Troia V i l a : 7 Tydeus: 219
Samothrake: 18 6, 188 Sarpedon: 130, 211, 212, 233-4 Scheria: 70, 217 „Seevölker": 7 Semonides: 170 Simoeisios: 232 Sinon: 20 Skylla: 146 Solymer: 154 Sophokles: 170 Sparta: 49, 50, 52, 67, 128 Sthenelos: 92
Vergil: 24, 161, 225 Xanthos: 56 Xanthos, Fluss: 130 Xenophanes: 22
Taphier: 75 Telemachos: 36, 70, 71, 75, 128-41, 163-4
Zenodotos von Ephesos: 23, 51 Zephyros: 231 Zeus: 55, 63, 65, 107, 109, 110, i n , 116, 171, 181-2, 183, 184, 186, 187, 198, 201, 210, 211, 217, 220, 232-4; und Agamemnon 84-j, 88-9; und das Schicksal 210-4; im Streit mit Hera 189-93, i 9 5 j während des Kampfes 204, 207
b) Neuzeit Adkins, Arthur W. Η.: XI Allen, Thomas W.: 49 Anm. 22 Ameis, Karl Friedrich: X, 2 Anm. 1 Arend, Walter: XI, 225 Anm. 5 Aubignac, Francois Hedelin Abbe d': 27 Auerbach, Erich: 176 Anm. 17, 217 Anm. 2 Bentley, Richard: 26, 27, 32, 39 Bethe, Erich: 37 Blackwell, Thomas: 30, 32
Biegen, Carl W.: X Boileau-Despreaux, Nicolas: 25 Buchholz, Eduard: X Burckhardt, Jacob: 143, 158 Carpenter, Rhys: 8 Anm. 5 Caskey, John L.: 7 Anm. 4 Cauer, Paul: Χ, XI, 2 Anm. 1 Chadwick, John: X Chantraine, Pierre: XI, 39 Chapman, George: 25 Collart, Paul: XI Comparetti, Domenico: 162 Anm. 13
Namensverzeichnis Dacier, Anne: 25 Delebecque, Edouard: 77 Anm. 4 De Sanctis, Francesco: 174 Desborough, Vincent R. d'A.: X , 8 Anm. 5 Dodds, Eric R.: X I Ebeling, Η.: X I Ehrenberg, Victor: 12, Anm. 7, 95 Anm. i i Evans, Arthur J.: 38 Festugiere, Andre-Jean: 182 Anm. 2 Finley, Moses I.: X , 3, 7 Anm. 4, 126 Anm. 23, 142 Anm. 24 Finsler, Georg: XI Fleischer, Ulrich: X I Frankel, Hermann: XI, 103, 147 Anm. 4, 149 Anm. 6 Gallavotti, Carlo: 68 Anm. 1 , 216 Anm. 1 , 220 Anm. 3 Gehring, August: XI Goethe, Wolfgang von: 35, 42, 170 Anm. 15, 176 Gray, Dorothea: X I Grote, George: 36 Hampe, Roland: 91 Hentze, Carl: X, 2 Anm. 1 Herder, Joh. Gottfried von: 34 Hermann, Gottfried: 35 Herter, Hans: 146 Anm. 3
Lachmann, Karl: 35 La Motte, Antoine Houdar de: 25 Langumier, Rene: X I Leaf, Walter: 2 Anm. 1 Lesky, Albin: XI, 106 Anm. 1 7 , 108 Anm. 18, 1 1 2 Lessing, Gotthold Ephraim: 34 Leumann, Manu: XI, 55, 199 Anm. 5 Lord, Albert Β.: XI, 43, 69 Anm. 2 Lorimer, Hilda L.: 3 Macpherson, James: 34 Marg, Walter: 149 Anm. 6 Mazon, Paul: XI, 89 Anm. 9, 227 Anm. 6 Meister, Karl: X I Mette, Hans Joachim: XI, 3 Momigliano, Arnaldo: 4 Anm. 3 Mondolfo, Rodolfo: i n Anm. 19 Mühll, Peter von der: X I Myres, John L.: X I Nilsson, Martin P.: 1 1 Nitzsch, Gregor Wilhelm: 233 Page, Denys L.: Χ , XI, 3, 7 Anm. 4, 15 Anm. 9, 46 Anm. 2 1 , 105 Anm. 15, 1 1 4 Anm. 21, 1 1 7 Anm. 22 Parry, Milman: XI, 43 Pasquali, Giorgio: 193 Anm. 4, 223 Perrault, Charles: 24, 25 Perrault, Pierre: 25 Pestalozzi, Heinrich: 45 Anm. 20 Pope, Alexander: 25, 27
Irmscher, Johannes: 158 Jachmann, Günther: XI, 53, 82 Anm. 6, 145 Anm. 2, 227 Anm. 6 Jaeger, Werner: 41, 80, 1 6 1 Kirchhoff, Adolf: 36 Kirk, G. S.: X , 7 Anm. 4, 68 Anm. 1, 77 Anm. 3 Kullman, Wolfgang: 50 Anm. 23, 184 Anm. 3
Racine, Jean: 25 Reinhardt, Karl: 50 Anm. 23 Scaliger, Iulius Caesar: 24 Schachermeyr, Fritz: 9 Anm. 6 Schadewaldt, Wolfgang: Χ, XI, 41 Schiller, Friedrich von: 169 Schliemann, Heinrich: 32, 37, 74 Schwartz, Eduard: 37 Seel, Otto: 149 Anm. 5
242.
Namensverzeichnis
Seymour, Τ. D.: Χ Snell, Bruno: XI, 15 Anm. 8, 105 Anm. 16, 146, 180 Anm. 1 Starr, Chester G.: X Stella, Luigia Α.: X Stubbings, Frank Η.: X Swift, Jonathan: z6 Tassoni, Alessandro: 24, 25 Temple, William: 26 Ventris, Michael: X , 9 Vico, Giambattista: 28-30, 32, 159, 169
Voltaire, Francois Marie Arouet de: 145 Voss, Johann Heinrich: 34 Wace, Alan J. Β.: X Webster, Thomas B. L.: X, 3, 89 Anm. 10, 157 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: XI, 33 Anm. 1 3 , 37, 38 Anm. 14, 200 Anm. 6 Winckelmann, Johann Joachim: 34 Wolf, Friedrich August: 33, 42 Wood, Robert: 3 1 - 3 , 42 Wotton, William: 26
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