Militärkriminologie: Eine teils wissenschaftstheoretische, teils empirische Untersuchung zur Delinquenz von Soldaten der Bundeswehr [1 ed.] 9783428441099, 9783428041091


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German Pages 272 Year 1978

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Militärkriminologie: Eine teils wissenschaftstheoretische, teils empirische Untersuchung zur Delinquenz von Soldaten der Bundeswehr [1 ed.]
 9783428441099, 9783428041091

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Klaus P. Fiedler / Militärkriminologie

KRIMINOLOGISCHE FORSCHUNGEN Herausgegeben von Professor Dr. Hellmuth Mayer

Band 11

Militärkriminologie Eine teils wissenschaftstheoretische, teils empirische Untersuchung zur Delinquenz von Soldaten der Bundeswehr

Von

Dr. Klaus P. Fiedler

DUNCKER & H UMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

@ 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 t28 04101 7

Vigilantia pretium libertatis

(Wahlspruch der NATO)

... et auxilium utile est ad crimen arcendum (Der Verfasser dieser Untersuchung)

Vorwort Der Wehrdienst als kTiminologisches Problem in seinem Gesamterscheinungsbild war bisher noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen; diese Arbeit betritt daher Neuland. Der Versuch, die vielschichtige Bandbreite der faktischen Erscheinungsformen "abweichenden Verhaltens" von Soldaten der Bundeswehr kriminologisch umfassend auszuleuchten, war deshalb erforderlich, weil bisher nur die rechtliche Seite militärischer Kriminalität - sozusagen in der Rückschau - behandelt wurde, während die Kriminologie ihren Beitrag dazu leisten kann, den Streitkräften das Grundlagenmaterial für eine bessere, auf Verbrechensprophylaxe gerichtete Erkenntnis soldatischer Delinquenz zu liefern. So bemüht sich die vorliegende, teils wissenschaftstheoretische, teils empirische Untersuchung erstmals, den interdisziplinären Wissenschaftszweig "Militärkriminologie" als Erfahrungswissenschaft vom Soldaten in den Zwängen der militärischen Ordnung zu entwickeln, die Erscheinungsformen und Faktoren militärischer Delinquenz zu erfassen sowie die Möglichkeiten spezifisch militärischer Kontrolle aufzuzeigen. Die thematisch vorgegebene theoretische Problematisierung des Wehrdienstes wird ergänzt und erleichtert durch die über dreijährige praktische Erfahrung des Verfassers, auch als Disziplinarvorgesetzter, aufgrund seiner früheren aktiven Dienstzeit in der Luftwaffe und späterer zahlreicher Wehrübungen bei der Truppe. An dieser Stelle möchte der Verfasser seinen aufrichtigen Dank sagen: Herrn Professor Dr. Richard Lange, Universität zu Köln, der ein tiefergehendes Verständnis für die wissenschaftstheoretische Grundlagenarbeit förderte; Herrn Ministerialrat Dr. Hans-Günter Schwenck, Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln, für die Anregung zu dieser Untersuchung und für wertvolle Hinweise während der Arbeit; seiner Frau, Dr. Eva-Marie Fiedler, Studienrätin im Hochschuldienst, für ihre unermüdliche Unterstützung, die nicht nur im Maschinenschreiben des Manuskriptes lag.

Klaus P. FiedleT

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19

1. Problemstellung

19

2. Ziel der Arbeit ..............................................

21

3. Materielle Grundlagen, Erkenntnisquellen und Abgrenzung der Arbeit ...................................................... 23

Erster Teil

Abriß der wissensdlaftstbeoretisdlen Grundlagen. auf denen die ArbeU fußt I. Die Kriminologie als empirische Wissenschaft? ......................

26 26

1. Die Einordnung der Kriminologie als empirische Wissenschaft 26

2. Das philosophisch-anthropologische Verständnis der Kriminologie ...................................................... 27 3. Die Auswirkungen der Grundsatzdiskussionen auf die Kriminologie ...................................................... 28 4. Die Definition der allgemeinen Kriminologie, von der der Verfasser bei seiner Arbeit ausgeht ............................. 30 H. Die Frage nach der Notwendigkeit eines eigenen Wissenschaftszweiges "Militärkriminologie" .......................................... 31

Zweiter Teil

Die Ersdleinungsformen milltärisdler Delinquenz (KrIminalphänomenologie der Bundeswehr)

33

I. Die Schwerpunkte militärischer Delinquenz

33

1. Straftaten nach dem Strafgesetzbuch

37

2. Strafsachen nach dem Wehrstrafgesetz .......................

38

3. Militärische Dienstvergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

38

H. Militärische Täterbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

46

1. Alter........................................................

46

2. Laufbahngruppe ............................................

47

10

Inhaltsverzeichnis 3. Teilstreitkraft

49

4. "Typischer" Täter? ..........................................

50

111. Die Tat (Tatumstände, Tatmotivationen) ...........................

55

1. Allgemeine Merkmale .......................................

55

2. Schwerpunkte und Häufigkeitsziffern ........................

57

Dritter Teil

Die wesentlichen kriminoresistenten und kriminovalenten Faktoren des Wehrdienstes (Kriminalätiologie der Bundeswehr) I. Die Bundeswehr als Institution bzw. Großorganisation sowohl krimi-

60

nalitätshemmender als auch -fördernder Konstellationen ...........

61

1. Die Einstellung zum Wehrdienst (Wehrmotivation) ...........

61

a) Die Einstellung der wehrpflichtigen männlichen Jugend zur Wehrpflicht vor der Einberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Einstellung des Soldaten zum Wehrdienst während der Dienstzeit in der Bundeswehr ............................ c) Mehr Wehrbereitschaft der kurzdienenden Freiwilligen? .. d) Zusammenfassung ........................................

61 65 71 72

2. Wehrgerechtigkeit und Wehrungerechtigkeit ......... , . . . .. . ..

73

3. Die teilweise Entsozialisierung des Soldaten ................. a) Die Armee bzw. Kaserne als quasi geschlossenes System .. b) Die Bundeswehr als Instanz der sog. sekundären Sozialisation ...................................................... c) Die Streitkräfte als Faktor teilweiser Entsozialisation ..... d) Zusammenfassung ........................................

76 76 80 83 88

4. Erfassungs-, Musterungs- und Verwendungsfehler sowie heimatferne Einberufung Wehrpflichtiger ...................... , 89 5. "Wehrdiensteigentümliche" Delinquenz gegenüber Bundeswehreigentum und -vermögen, insbesondere in Form des sog. "Organisierens", sowie gegenüber Kameraden................ 93 6. Das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" und praktizierte "Innere Führung" als kriminoresistente Faktoren in der Bundeswehr .................................................... 97 7. Kriegsdienstverweigerung und politische Agitation. in den Streitkräften ................................................ 99 11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild .............. 104 1. Dienstbetrieb, Funktionen und Effizienzkontrolle der Streit-

kräfte in Friedenszeiten .. , ......... , .................... " ... 104

2. Waffen und technische Entwicklung ......................... 108

Inhaltsverzeichnis

11

3. Das kriminologische Doppelantlitz der militärischen Disziplin a) Zum Begriff der Disziplin ......... " " ............... , ... b) Der kriminologische Januskopf der Disziplin .............. c) Zusammenfassung .......................................

111 111 113 118

4. Das Spannungsfeld der militärischen hierarchischen Struktur a) Das Prinzip von Befehl und Gehorsam .................... b) Die Konfliktsituation des sog. Handeins auf Befehl ........ c) Kenntnis und Unkenntnis der (militärischen) Strafbestimmungen ................................................. d) Zusammenfassung .......................................

118 118 120

5. Leistungsanforderung als kriminoresistenter Faktor (empirische Studie) ...................................................... a) Hintergrund: Elitäres Bewußtsein in Kampftruppen? ...... b) Fragestellung, Aufgabe und Ziel der Befragung ........... c) Die Sozialdaten der Probanden ........................... d) Inhalt und Aufbau der Fragenkomplexe . . . . . . . . . . . . . . . . . .. e) Beantwortung und Auswertung des ersten Fragenkomplexes ................................................... f) Beantwortung und Auswertung des zweiten Fragenkomplexes ................................................... g) Beantwortung und Auswertung des dritten Fragenkomplexes ................................................... h) Zusammenfassung ........................................ 6. Situative Faktoren mit potentiell kriminovalenten Effekten .. a) Kameradschaft und Kameraderie ......................... b) Alkoholmißbrauch ....................................... c) Drogen- und Rauschmittelkonsum ........................ d) Sexualität ............................................... e) Zusammenfassung ....................................... 7. Das Führungsverhalten der Vorgesetzten als wichtigster zuvorderst kriminalitätshemmender, aber auch -fördernder Faktor für Untergebene ......................................... a) Militärische Führungsstile und zeitgerechte Menschenführung ..................................................... b) Führungsfehler als kriminovalente Faktoren ............. ; (1) Mißachtung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit ............................................. (2) Dulden von Übergriffen durch Unterführer ........... (3) Stimulierung delinquenter Reaktionen ................ (4) Nichterkannte private Probleme des Untergebenen .... (5) Die falsche Wahl der Führungsmittel ................. (6) Die rechtswidrige Ausübung der Befehlsbefugnis ...... c) Das Vertrauensverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen ................................................. d) Zusammenfassung .......................................

122 125 125 125 127 128 131 134 137 144 146 147 148 149 151 153 155 156 156 160 160 161 162 163 164 166 166 168

12

Inhaltsverzeichnis 8. Amtsautorität als kriminovalenter Faktor für Vorgesetzte ..... a) Entwürdigende Behandlung und Mißachtung Untergebener b) Mangelhafte Dienstaufsicht ............................... c) Behandlung von Bescheiden .............................. d) Das Subordinationsverhältnis zwischen Offizieren und Unteroffizieren ............................................ , e) Mißbrauch des Vorgesetztenstatus ........................ f) Zusammenfassung ........................................

168 168 170 172 173 174 175

In. Die Bundeswehr in ihrem außerdienstlichen Delinquenzbild ........ 176 1. Freizeitverhalten und Alkoholkonsum ....................... 176

2. Freizeit der Soldaten als kriminalitätsfördernder Faktor? ..... 178 3. Verkehrsverhalten der Soldaten ............................ , 179 4. Politische Agitation durch Soldaten der Bundeswehr außerhalb der Dienstzeit ............................................... 181 5. Kriminoresistente Auswirkungen des Wehrdienstes im zivilen Bereich? .................................................... 184 IV. Zusammenfassung zum 3. Teil ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 185

Vierter Teil

Die Bedeutung sozialer und personaler Faktoren für die militärisclle Delinquenz als situationsspezifisclles, d. h ...systembedingtes" Verbrecllen (Kriminaldiagnostik)

192

I. dargestellt am Beispiel der Abwesenheitsdelikte .................... 192

1. Statistischer Hintergrund der Abwesenheitsdelikte ........... 192

2. Die sozialpsychologischen Forschungsergebnisse ............. 194 3. Ausgewählte Falldarstellungen und ihre kriminologische Auswertung ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 197 4. Zusammenfassung ........................................... 209 11. dargestellt an der Devianz von Soldaten in Form der Suicide und Suicidversuclle .................................................... 210

Fünfter Teil

Die Reaktion der Bundeswehr, Gesetzgebung, Reclltsprechung und Gesellscllaft auf die soldatische Normabweicllung (KrlmInaltherapie)

214

1. Strafen und Strafvollzug .................................... 215

2. Disziplinarmaßnahmen ...................................... 219

Inhaltsverzeichnis 3. Die Legitimität der Normen ........... '" . . .. .... ..... ... ..

13 224

4. Die Frage nach einer Freiwilligenarmee ..................... 226 Sechster Teil

Vorschläge für die Delinquenzvorbeugung und -verhütung 1m speziflsrh militärischen Bereich (Krimlnalprophylaxe) und ihre zweckmäßigsten Formen der Verwirklichung (Kriminalpolltlk) 230 I. Das Ziel ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 230 11. Die Mittel ......................................................... 232 A. Kriminalprophylaktische Maßnahmen im militärischen Bereich .. 232 1. Empirische Untersuchungen und kriminologische Studien ..... 232

2. Maßnahmen zur Eindämmung der Abwesenheitsdelikte ...... 233 3. Freizeitkonzept für die Streitkräfte und Hilfestellung bei der Einschränkung des Alkoholmißbrauchs ....................... 238 4. Staatsbürgerlicher und verstärkter rechtlicher Unterricht bei Wehrpflichtigen ............................................. 245 5. Ausbildung der Vorgesetzten ............. '" ........... , .... 248 6. Das persönliche Gespräch zwischen Vorgesetzten und Untergebenen als kriminalprophylaktisches Interaktionsband ...... 250 7. Fürsorge- und Betreuungsmöglichkeiten ..................... 252 8. Weitere i. w. S. kriminalprophylaktische flankierende Maßnahmen und Einrichtungen ..................................... 254 B. Kriminalpolitische Zielvorstellungen im Umfeld der Armee ...... 255 1. Rechtliche Korrekturen ...................................... 256

2. Die Steuerung von sozialen Attitüden durch die primären und sekundären Sozialinstanzen .................................. a) Elternhaus ............................................... b) Schule ................................................... c) Berufs- und Freizeitgruppen .............................. d) Massenmedien ...........................................

257 258 259 260 260

3. Gesellschaftspolitik und Integration .......................... 261

Schlußbemerkung

Zum Wissenschaftszweig "Milltärkriminologle"

264

Literaturverzeichnis

267

Abkürzungen und Erläuterungen von in dieser Untersuchung gebrauchten Fachausdrücken a.A. a.a.O. Ätiologie a.F. Affinität Ambivalenz Attitüde Anthropologie Autorität Bd. Berufsförderung BMVg BV Bw BwVollzO Delinquenz Devianz Diagnose Diagnostik Dichotomie Dienstgradgruppen

EDV Effizienz Einberufungsbescheid

Einsatzbereitschaft

anderer Ansicht am angegebenen Ort Lehre von den Ursachen alter Fassung Bewertende Nähe/Distanz zur Bundeswehr als Gesamtsystem und ihren zentralen Merkmalen (Uniformen, Kasernen, Waffen, Befehle u. a.) Doppelwertigkeit Haltung, Gesinnung, Einstellung Sammelbezeichnung für die Lehre vom Menschen nach verschiedenen Wissenschaftsrichtungen Ansehen, Geltung Band Aus- und Weiterbildung von freiwillig länger dienenden Soldaten für das zivile Berufsleben während der Verpflichtungszeit und im Anschluß daran Bundesministerium der Verteidigung Besondere Vorkommnisse Bundeswehr Bundeswehrvollzugsordnung Sanktionierte Normabweichung (vom Verfasser näher definiert S. 33 ff.) Soziale Normabweichung ohne rechtliche Sanktion Feststellung unterschiedlicher Merkmale Wissenschaft von der Erkennung der Krankheiten Aufteilung in zwei gegensätzliche Elemente Die Dienstgrade der Soldaten sind in sieben Gruppen gegliedert: Mannschaften, Unteroffiziere ohne Portepee, Unteroffiziere mit Portepee, Leutnante, Hauptleute/Kapitänleutnante, Stabsoffiziere, Generale! Admirale Elektronische Daten-Verarbeitung Wirksamkeit, Schlagkraft Ein auf dem Wehrpflichtgesetz und der Musterungsverordnung beruhender Verwaltungsakt der Kreiswehrersatzämter, durch den Wehrpflichtige zum Wehrdienst einbezogen werden Fähigkeit eines Truppenteils oder einer Dienststelle, den Einsatzauftrag zu erfüllen

Abkürzungen und Erläuterungen elitäres Bewußtsein

empirisch Ersatzdienst formell

Freiwillige Soldaten

Führen Führungsmittel Führungsstil Funktion funktional GA GAF

GG GrKrim Grundwehrdienst Hrsg. Hypothese Innere Führung integ):"iert Integration Interaktion interdisziplinär Internalisation

15

Subjektive Selbsteinschätzung einer Person oder Gruppe, die ungeachtet ihres objektiven Realitätsgehaltes von der Annahme der ethischen, moralischen, geistigen, staatsbürgerlichen und/oder physischen überlegenheit gegenüber anderen Personen oder Gruppen ausgeht erfahrungsgemäß Dienst, der von anerkannten Wehrdienstverweigerern anstelle des Wehrdienstes zu leisten ist eigens zu einem bestimmten Zweck berufen (informell: Kontrollfunktionen ohne Auftrag ausübend, in nicht festgelegten Verfahren und neben anderen Funktionen) Soldaten, die sich freiwillig zur Ableistungdes Wehrdienstes (Grundwehrdienst oder Wehrübung) oder für einen längeren Dienst in der Bundeswehr verpflichten. Letztere werden auch als längerdienende Freiwillige bezeichnet (Zeit- und Berufssoldaten) Auslösen von Verhaltensweisen Geführter im Rahmen einer Organisation zur Erfüllung eines Auftrages Hilfen, die Führer und Führung befähigen bzw. diesen den Führungsvorgang ermöglichen oder erleichtern (z. B. Personal, Material und geistige Mittel) Persönliche, besondere Art der Verhaltens- und Handlungsweise, in der ein Führer führt (veränderliche) Größe, deren Wert von dem Wert einer anderen abhängig ist auf die Funktion bezogen Goltdammers Archiv für Strafrecht German Air Force = Deutsche Luftwaffe Grundgesetz Grundlagen der Kriminalistik. Eine Taschenbuchreihe In der Regel erster Teil des aufgrund der Wehrpflicht im Frieden abzuleistenden befristeten Wehrdienstes (z. Z.: 15 Monate) Herausgeber Beschreibung einer Beziehung zwischen mindestens einer unabhängigen (Determinante) und einer abhängigen Variablen (Resultante) Konzept der zeitgemäßen Menschenführung in der Bundeswehr (vom Verfasser näher definiert S. 97 ff.) in ein übergeordnetes Ganzes einbezogen Einordnung, Einbettung (vom Verfasser näher definiert S. 263) wechselseitige Beeinflussung auf mehrere Fächer und ein übergeordnetes Fachgebiet bezogen Hineinnahme fremder Einstellungen, Motive, Überzeugungen und sonstiger Werte, Normen und Erwartungen in das Denk- und Gefühlssystem der Persönlichkeit

16

Instanz Insubordination janusköpfig JGG Kampftruppen

KDV Kommunikation Kriminalistik Kriminologie (Militärkriminologie) kriminoresistent kriminovalent KWEA latent legistisch Legitimität (der Normen) M

Masturbation Mortifikation mil. Motiv, Motivation MschrKrim MStGB N

NATO Normierung NZWehrr Phänomenologie Philosophie

präsumtiv Präsenzstreitkräfte

Abkürzungen und Erläuterungen Stufe, Einflußgröße Unbotmäßigkeit (gegenüber Vorgesetzten) doppeigesichtig Jugendgerichtsgesetz Verbände des Feld- und Territorialheeres (Panzertruppe, Panzergrenadiere, Panzerjäger, Panzeraufklärer, Jäger, Gebirgsjäger, Fallschirmjäger) im Unterschied zu Unterstützungs- und Versorgungstruppen Kriegsdienstverweigerer bzw. -verweigerung Prozeß der Informationsübertragung Kriminalistik, Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis Wissenschaft vom (militärischen) Verbrechen (vom Verfasser näher definiert S. 30; 31 f.) kriminalitätshemmend kriminalitätsfördernd Kreiswehrersatzamt vorhanden, ohne äußerlich erkennbar zu sein gesetzgeberisch Rechtmäßigkeit einer Staatsgewalt; Gesetzmäßigkeit (vom Verfasser näher erläutert S. 224 ff.) Zeichen für Mehrfachbenennungen Selbstbefriedigung Umwandlung, Tilgung militärisch leitender, richtungsgebender, antreibender seelischer Hintergrund eines Handeins oder Unterlassens Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Militärstrafgesetzbuch Zeichen für Anzahl der bei der jeweiligen Untersuchung befragten Personen North Atlantic Treaty Organization = Nordatlantikpaktorganisation Setzung von Rechtsvorschriften Neue Zeitschrift für Wehrrecht Erscheinungslehre Sammelbezeichnung für die geistige Arbeit, die sidl um die Ergründung der Beschaffenheit der Welt und des menschlichen Daseins müht; die Lehre von der Geschichte und den Erkenntnissen dieser Bemühungen empfänglich, als wahrscheinlich angenommen sofort einsatzbereite, vollausgebildete, personell zu mindestens 85 0/. und materiell voll ausgestattete Streitkräfte

Abkürzungen und Erläuterungen Prävention

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Maßnahme, um künftige Rechtsbeugung, Straftaten oder Nachteile abzuwenden Prophylaxe Vorbeugung, Verhütung Psychopath ein in seinem seelischen Verhalten durch krankhafte Veranlagung vom Normalen abweichender Mensch, ohne Störung seiner intellektuellen Fähigkeiten Psychotherapie Behandlung seelischer oder seelisch bedingter Leiden mit psychologischen Mitteln nachträglich verstandesmäßige Rechtfertigung eines Rationalisierung Verhaltens Zuverlässigkeit, übereinstimmung der Ergebnisse Reliabilität gleichartiger Beobachtungen unter gleichartigen Bedingungen Rolle die von einer Person in einer bestimmten Lage erwartete Verhaltensweise Rechtsprechung in Wehrstrafsachen RWStR S. Seite Sanktion Nachteilszufügung bzw. Belohnung bei normwidrigen bzw. normgerechten Verhalten SaZ Soldat auf Zeit Selektion Auswahl, Auslese Signifikanz, statistische Bezeichnung für die Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit, mit der angenommen werden kann, daß bestimmte Unterschiede zwischen Stichproben oder Teilgesamtheiten einer Stichprobe sowie bestimmte Größen wie etwa Korrelationskoeffizienten nicht zufällig, durch die Zufallsauswahl bedingt, sondern Kennzeichen der untersuchten Grundgesamtheiten sind Soldatengesetz SoldatenG Sozialisation Prozeß der Einordnung des einzelnen in soziale Gruppen (vom Verfasser näher definiert S. 80 ff.) Sozialstruktur Gliederung eines sozialen Systems nach bestimmten Merkmalen, z. B. Bildung, Konfession, Beruf, Einkommen, Landsmannschaften Sprungverfahren überregionaler Personalausgleich zwischen den Wehrbereichen I - VI zur Bedarfsdeckung der zugeordneten Verbände/Einheiten ohne Rücksicht auf große Entfernungen zwischen Wohn- und Dienstort Status Platz, Position, den der Soldat im hierarchischen Aufbau der Armee einnimmt Suicide Selbstmorde Soldatenurlaubsverordnung SUV Symptom Anzeichen, Merkmal, Krankheitszeichen synonym sinnverwandt; bedeutungsgleiches Wort System eine in einem Ordnungs-, Struktur- und/oder Wirkungszusammenhang stehende Elementargesamtheit (Material, Personal, Verfahren usw.) zur Erfüllung vorgegebener Aufgaben . 2 Fiedler

18

Abkürzungen und Erläuterungen

Bevölkerungsgruppe, deren Mitglieder bestimmte gemeinsame Merkmale besitzen und sich dadurch von anderen Bevölkerungsgruppen in einer Sozialstruktur unterscheiden, die durch eine feste Rangordnung gekennzeichnet ist Stärkeund Ausrüstungsnachweis; OrganisationsSTAN grundlage für das Soll an Personal und Material in einer Einheit oder militärischen Dienststelle festgefügte, für lange Zeit gleichbleibende, durch Stereotype neue Erfahrungen kaum veränderte, meist positiv oder negativ bewertende und emotional gefärbte Vorstellung über Personen und Gruppen, Ereignisse und Gegenstände Strafgesetzbuch StGB Therapie Behandlung, Heilverfahren Satz, Lehrsatz; wissenschaftliche Behauptung die These bewiesen werden soll allgegenwärtig ubiquitär Verhältnis zwischen einem Soldaten und seinem Unterstellung Vorgesetzten oder einer nachgeordneten zur übergeordneten Dienststelle Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges UZGBw durch die Bundeswehr Validität Gültigkeit, Treffsicherheit Verfügungsbereitschaft Nach § 5 a WFflG leisten Wehrpflichtige während einer Zeit von zwölf Monaten im Anschluß an den Grundwehrdienst oder an die Beendigung eines Dienstverhältnisses als Soldat auf Zeit aufgrund des § 54 Abs. 1 Satz 1 des SoldatenG Wehrdienst in der sog. Verfügungsbereitschaft, wenn und solange der Bundesminister der Verteidigung es anordnet Die Verfügungsbereitschaft gewährleistet, daß zur Auffüllung von Truppenteilen genügend Personal, für seine Verwendung ausgebildet, verfügbar ist VFR visual flight rules = Sichtflugregeln VMBI Ministerialblatt des BMVg Vorgesetztenverordnung VorgVO WBK Wehrbereichskommando Waffensystem Gesamtheit der Einrichtungen, Ausrüstungen, Personen und Verfahren, die ein Instrument für eine bestimmte militärische Aufgabe bilden WBO Wehrbeschwerdeordnung WDO Wehrdisziplinarordnung Wahlfach Examinatorium (Kurzlehrbuch Nr.2) WEX2 Warschauer Pakt WP Wehrpflichtige(r) Wpfl Wehrpflichtgesetz WPflG Wehrstrafgesetz WStG Zentrale Dienstvorschrift ZDv Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZStW

Schicht

Einleitung 1. Problemstellung

Die Bundeswehr ist nunmehr über zwei Jahrzehnte alt, damit älter als Reichswehr und Wehrmacht. Ihre Soldaten genießen die Achtung der Gesellschaft; ihr Ansehen im Ausland ist dabei noch positiver als im eigenen Land. Die Streitkräfte haben jedoch im Rahmen der Gesamtentwicklung kriminologischer Forschungen nicht die Bedeutung erlangt, die ihnen zukommt. Denn gut zwanzig Jahre Bundeswehr bedeuten notwendigerweise auch mehr als zwanzig Jahre Kriminalität als Massenerscheinung einer bestimmten, in den Streitkräften zusammengefaßten komplexen sozialen Gruppe, die innerhalb der Gemeinschaft aller Staatsbürger über die für alle Bürger geltenden Gesetze hinaus mit einem umfangreicheren und - entsprechend dem militärisch-hierarchischen Aufbau einer Armee1 - besonders strengen Normensystem leben muß. Erst langsam wird erkannt2 , daß ein nicht unbedeutender Teil der vom "Staatsbürger in Uniform" begangenen Verstöße gegen strafrechtliche und wehrrechtliche Normen aufs engste mit den Besonderheiten des Wehrdienstes zusammenhängt3. So lassen die kriminologischen Lehrbücher den Sektor der militärischen Delinquenz noch immer unerörtert4 ; auch die Militärsoziologen lassen dieses Feld nahezu unbeachtet, seit sich die Hochschulen Mitte der sechziger Jahre von der militärsoziologischen Diskussion abgekoppelt und ihre Berührungsängste bis heute nicht überwunden haben5 • Nichtdestoweniger kann diese Unterschätzung der Notwendigkeit kriminologischer Untersuchungen im Rahmen der Kriminalität des Wehrdienstes ein verhängnisvoller Fehler sein. Denn auf keinem Gebiet juristisch relevanter Verhaltens1 Wenn im Laufe der Arbeit von "Armee" die Rede ist, so ist damit nicht das Äquivalent des amerikanischen Wortes "army", sondern die Gesamtheit militärischer Streitkräfte, also Heer, Luftwaffe und Marine eines Staates gemeint. 2 Vgl. Schwenck (2), S.217 mit dem Quellennachweis der spärlichen Literatur auf diesem Gebiet. s Schwenck (2), S.217. 4 Vgl. Göppinger, der auf S. 197 lediglich auf die Bedeutung der Kasernierung für die Sozialisation hinweist, und Mergen, S.434: "Die Bedeutung des Wehrdienstes als aufgezwungenes Milieu ist wenig untersucht." 5 Vgl. Fleckenstein, S.378.

2'

Einleitung

20

weisen - vergleichbar in etwa dem Bereich der Verkehrsdelinquenz wird der Bürger in eine derart straffe staatliche Ordnung gestellt, daß er sich auch ohne geborene kriminelle Bereitschaft leicht in den Netzen eines sowohl strafrechtlich, als auch wehrrechtlich oder wehrstrafrechtlich sanktionierten umfangreichen Normensystems verstricken kann8 • Auf den Soldaten der Bundeswehr wirkt also ein dreifaches rechtliches Normensystem ein, dessen Existenz, Ausgestaltung und tagtägliche Konfrontation ihn leichter kriminalisieren kann als den "Zivilisten". Darüber hinaus muß man sich die tatbestandliche Nähe von Disziplinarunrecht und militärischer Straftat vor Augen führen, um zu erkennen, wie leicht ein Soldat vor dem Strafrichter stehen kann. In der geschlossenen Gemeinschaft der Truppe wird zudem im allgemeinen schneller, stärker und lückenloser auf die Delinquenz des Soldaten und ihre Folgen reagiert als es sonst in der zivilen Öffentlichkeit zu beobachten ist. Die durch die Normabweichung von Soldaten ausgelösten Reaktionen der militärischen Führung, Rechtsprechung, Gesetzgebung und Gesellschaft sind kriminologisch höchst interessant und von großer Bedeutung für eine wirksame Verbrechensprophylaxe.

Erst wenn die soldatische "Dreifachbelastung" von den militärischen Vorgesetzten, den Strafverfolgungsbehörden, den Gerichten und der Gesellschaft in ausreichendem Umfang erkannt und berücksichtigt wird, ist für die Bundeswehr eine intensive und erfolgversprechende Kriminalpolitik möglich. Denn die Delinquenz der Soldaten an sich sowie das in Teilbereichen vorzufindende "systembedingte Verbrechen", wie beispielsweise die "Dienstentziehungskriminalität", ist bisher nur ansatzweise und zumeist nur theoretisch untersucht worden7 • Doch es geht nicht nur darum, die "klassischen" soldatischen Delikte, durch die sich Soldaten strafbar machen können, kriminologisch auszuleuchten. Es ist an der Zeit, auch das feine engmaschige Netz der kriminoresistenten und kriminovalenten Faktoren des Wehrdienstes zu analysieren, in das der junge Staatsbürger mit Eintritt in die Streit~ kräfte unversehens und unwillkürlich versponnen wird. Nur die genaue Kenntnis dieser Verwobenheit des Soldaten in das zivile und militärische Normensystem mit den spezifischen kriminogenen Besonderheiten in den Streitkräften macht klar, welche Bedeutung einer Kriminologie des Wehrdienstes zukommt, weil eine Armee mit zu breiter oder falsch akzentuierter Delinquenz ihre Aufgabe, als politisches Instrument der Abschreckung eine ernst zu nehmende mili6 7

So schon Schwenck (1), S. 10 im Jahre 1968. z. B. Fiedler (2), S. 59 ff.

Einleitung

21

tärische Funktionalität aufzuweisen, nicht hinreichend zu erfüllen vermag. Noch stellen militärische Führung und Wissenschaft die Frage nach den kriminogenen Faktoren des Wehrdienstes, insbesondere der allgemeinen Wehrpflicht, nur zögernd; lobenswerterweise hat die Bundeswehr ihr bisheriges militärisches Geheimhaltungsbedenken nunmehr aufgegeben und läßt beispielsweise die Ergebnisse und Auswertungen der dienstinternen Straftatenstatistik ihrer Soldaten veröffentlichen8 • Auch wurden in den letzten Jahren im Auftrage des Bundesministers der Verteidigung zahlreiche wehrpsychologische Studien zum "abweichenden Verhalten" von Soldaten in Auftrag gegebenD• Aber nach wie vor fehlt eine umfassende, integrierende Untersuchung, die die gesamte vielschichtige Palette der Normwidrigkeiten oder des sozialabweichenden Verhaltens einschließlich der Dienstentziehungskriminalität von Soldaten aus kriminologischer Sicht - über den formellen Verbrechensbegriff des Strafrechts hinaus ~ behandelt. Dabei mangelt es nicht einmal an kriminologisch brauchbaren Erkenntnisquellen, wie aufgezeigt werden wird, wenngleich diese auch lückenhaft sind und oftmals ihre mangelhafte Ergiebigkeit auf bloßes simples Faktensammeln ohne theoretische Basis zurückzuführen ist. Für die dringend notwendige kriminologische Untersuchung des Wehrdienstes kommt erleichternd hinzu, daß sich soldatische Kriminalitätin der Bundeswehr nicht mehr wie früher in der Verborgenheit militärischer Disziplin und Gerichtsbarkeit abspieltl° und ihre Ursachen und Bedingungen sich wesentlich leichter "generalisieren" lassen als im zivilen Bereich möglich und erlaubt ist. Erschwerend wirkt sich indessen aus, daß entsprechend der Lage in den empirischen Grundwissenschaften die dortigen Streitfragen sich in erster Linie als Methoden- und Ideologiekritik in die Kriminologie verlagert haben, statt daß die Bezugswissenschaften bei der Mitwirkung an Erforschung und Kontrolle des Verbrechens die Konsolidierung der Kriminologie als eines interdisziplinären Wissenschaftsgebiets fördern. 2. Ziel der Arbeit

Die Untersuchung hat den Gesamtbereich des delinquenten Verhaltens der Soldaten der Bundeswehr zum Gegenstand; sie beschränkt sich Vgl. Schwenck (2), S. 218 ff. B. Schenk, "Drogenkonsum und die Beurteilung von Drogen und Drogenkonsumenten bei frisch eingezogenen Bundeswehr-Rekruten", in: Wehrpsychologische Untersuchungen, Heft 5/74 Hrsg.: BMVg-P II 4 -. 10 Vgl. dazu Schwind, "Die Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg", in: NZWehrr 1968, S. 68 ff. 8

D Z.

22

Einleitung

nicht etwa nur auf die kriminologische Analyse von Straftaten nach dem WStG. Zunächst bedarf es daher eines Abrisses, d. h. einer Eingrenzung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen, auf denen die Arbeit fußt. Denn jede spätere Interpretation von kriminologischen Ergebnissen ist theorieabhängig. Sodann folgen entsprechend der theoretischen Basis: 1. die Untersuchung der Erscheinungsformen des militärischen Ver-

brechens (also eine erstmalig umfassende Kriminalphänomenologie der Bundeswehr),

2. die Erarbeitung aller wesentlichen kriminologischen Besonderheiten des Wehrdienstes, wie sie sich in den kriminogenen Faktoren, insbesondere der Wehrpflicht manifestieren (Kriminalätiologie der Bundeswehr), 3. der Nachweis der Bedeutung sozialer und personaler Faktoren für die militärische Delinquenz als "systembedingtes Verbrechen" (Kriminaldiagnostik), 4. die Darstellung der Reaktion der Bundeswehr, Rechtsprechung, Gesetzgebung und Gesellschaft auf die Normabweichung von Soldaten (Kriminaltherapie) und 5. die Erarbeitung von Postulaten militärkriminologischer Art für die Verbrechensvorbeugung und -verhütung im militärischen Bereich (Kriminalprophylaxe) einschließlich kriminalpolitischer Zielvorstellungen. Von kriminologischen Untersuchungen wird nicht selten Unmögliches gefordert. So wünschen manche "Praktiker" (des Truppendienstes), daß diese Wissenschaft nicht nur eine Beschreibung und Erklärung bestimmter Delinquenz- oder Sozialphänomene liefern, sondern nach Möglichkeit auch noch Kriterien nennen soll, nach denen eine Vorhersage und Behandlung künftiger (soldatischer) Delinquenz im Sinne einer "Rezeptologie" gemacht werden kann. Hier soll der Versuch unternommen werden, sowohl die kriminogenen Konstellationen der Institution bzw. Organisation Bundeswehr, als auch aktuelle delinquente Verhaltensweisen von Soldaten zu beschreiben, sie in das komplexe juristische System und die vorzufindenden vielschichtigen sozialen Strukturen und Prozesse einzuordnen, um auf einer - soweit als möglich - abgesicherten theoretischen Basis ein methodisch geschärftes Verständnis für alle Formen militärischer Delinquenz als erste Voraussetzung einer wirksamen Kriminalprophylaxe zu ermöglichen.

Einleitung

23

Neben diesen wissenschaftlichen Zielvorstellungen soll durch die Zusammenstellung und kriminologische Auswertung sämtlicher verfügbarer relevanter Erkenntnisquellen und mittels des Einbaues anschaulicher Fallbeispiele der Untersuchung auch ein praktischer Wert gegeben werden, um bei den Disziplinarvorgesetzten, aber auch Juristen und Wissenschaftlern Interesse an der weiteren Delinquenzbeobachtung, -erforschung und -kontrolle in den Streitkräften zu wecken bzw. wachzuhalten. 3. Materielle Grundlagen, Erkenntnisquellen

und Abgrenzung der Arbeit

Als Grundlagen für eine möglichst umfassende Untersuchung militärischer Delinquenz sollen alle kriminologisch relevanten Quellen herangezogen werden, die nach logisch widerspruchsfreien Maßstäben geeignet sind, eine Analyse des gegenwärtigen kriminologischen Zustandes in den Streitkräften zu erstellen, klare Vorstellungen von den (legistischen und sonstigen) Mitteln und ihrer Wirksamkeit zu entwickeln und eine Vorstellung von dem Zustand, den man erreichen will, zu zeichnen; kurz: alle Quellen, die den aufgezeigten Zielvorstellungen der Arbeit im wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen dienen. Zum gesetzlich ausgestalteten Hintergrund, vor dem militärische Delinquenz sichtbar wird, gehören zusätzlich zum StGB und sonstigen strafrechtlichen Nebengesetzen vor allem: (1) Das Soldatengesetz (SoldatenG), das den Status des Soldaten sowie seine Rechte und Pflichten regelt. (2) Das Wehrpflichtgesetz (WPflG), das den Umfang, die Voraussetzungen und das Verwaltungsverfahren für die Wehrpflicht regelt. (3) Die Wehrdisziplinarordnung (WDO) , die den Katalog der rechtlich zulässigen Disziplinarmaßnahmen und die Verfahrensgrundsätze für ihre Verhängung und Vollstreckung enthält. (4) Die Wehrbeschwerdeordnung (WBO), die das Beschwerderecht des Soldaten nach Umfang und Verfahren festlegt. (5) Das Wehrstrafgesetz (WStG), das die Tatbestände für solche militärischen Straftaten enthält, die nach Auffassung des Gesetzgebers nicht nur die innere Ordnung der Streitkräfte stören, sondern auch ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigen können, so daß sie als "delinquent" pönalisiert werden müssen. Diese fünf Gesetze aus dem Bereich der gesamten Wehrgesetzgebung bestimmen infolge ihrer gegenseitigen Verklammerung mit den wehrverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes zusammen mit den "zivilen" Strafnormen die Reichweite staatlichen Strafens gegenüber

24

Einleitung

Soldaten11 und damit Umfang und Reichweite der möglichen Normabweichung in den Streitkräften. Die Kenntnis der wesentlichen Komplexe aus der genannten Wehrgesetzgebung und ihre kriminologische Bedeutung für die strafrechtliche Beurteilung im Einzelfall ist unabdingbare Voraussetzung für eine den Besonderheiten militärischer Strukturen und dem erwünschten Rechtsgutschutz angemessene Kriminaltherapie der Bundeswehr. Alle übrigen Gesetze aus dem weiten Bereich der Wehrgesetzgebung haben für die Handhabung des Wehrrechts und der aus ihm resultierenden Delinquenz nahezu keine Bedeutung und können daher hier außer Betracht bleiben. Bedeutendste statistische Grundlagen sind sowohl die dienstinterne Straftaten- und Strafverfolgungsstatistik des BMVg als auch die "Nur für den Dienstgebrauch" erstellten Jahresberichte über "Besondere Vorkommnisse", Disziplinarmaßnahmen und Kriegsdienstverweigerung durch SoldatenI!. Nicht minder relevante, unter juristischen Gesichtspunkten erstellte Quellen sind das dienstinteme Strafurteilsmaterial zu §§ 15, 16 WStG des WBK III, des weiteren die Jahresberichte des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Die seit dem Jahre 1968 erstellte dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg erscheint als solide Ausgangsbasis für militärkriminologische Untersuchungen, weil diese ziemlich breit aufgefächerte Statistik auf der (mittels EDVerstellten) Signierung in speziell hierfür erarbeiteten Signierbogen beruht, die alle in der Bundesrepublik Deutschland gegen Soldaten ergangenen rechtskräftigen Strafurteile erfaßtl3• Die wesentlichen Ergebnisse dieser Daten werden für jedes Kalenderjahr in einem umfangreichen Tabellenprogramm zusammengestellt. Die Tatsache der relativ ausführlichen deutschen Strafurteile, die in den Urteilsgründen den Lebenslauf des Verurteilten, den Tathergang und die rechtliche Bewertung ausführlich darlegen, erlaubt dabei eine auf die Gesamtzahl der Kriminalität erstreckte weitgehende Aufschlüsselung kriminologisch signifikanter Fakten (Tatumstände und Tatmotivationen, soziale Strukturen usw.). Letztgenannte Tatsache gilt auch für das dienstinteme Strafurteilsmaterial speziell für die Tatbestände der §§ 15, 16 WStG, das für die Jahre 1973 und 1974 ausgewertet wurde. VgI. dazu Schwenck (2), S.42. Dank gebührt an dieser Stelle dem damaligen Bundesminister der Verteidigung, der dem Verfasser - erstmalig und einmalig für die Streitkräfte des westlichen wie östlichen Bündnisses - erlaubt hat, auch die Zahlen der militärischen Dienstvergehen in der Bundeswehr, wie sie sich in den Jahresberichten über Disziplinarmaßnahmen darstellen, zu veröffentlichen und wissenschaftlich auszuwerten (Fü S I 4, Az.: 39-71-02 vom 5. September 1975). 13 VgI. Schwenck (2), S.217. 11

11

Einleitung

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Ergänzt werden diese bundeswehreigenen Materialien - soweit kriminologisch verwertbar - durch verschiedene öffentlich publizierte sozialpsychologische oder wehrsoziologische Studien, die im Auftrage des BMVg für verschiedene Problemkreise aus dem Bereich der Bundeswehr durch Forschungsgruppen erstellt worden sindl4 • Nicht zuletzt gehört hierhin die Organisation der Bundeswehr selbst mit ihren militärtypischen Strukturen, wie diese sich auch in Zahlen, Daten und Fakten in den seit 1970 vom Bundesminister der Verteidigung publizierten "Weißbüchern" niederschlagen. Vervollständigt wird das so gewonnene Kriminalitätsbild durch die kriminologische Auswertung der genannten "Jahresberichte". Sie enthalten eine Fülle kriminologisch relevanter Fakten und Fallbeispiele, ohne daß ihre Verfasser mit dieser besonderen Zielsetzung ans Werk gegangen sind. Mit einer eigenen, vom Verfasser im Jahre 1973 erstellten und 1974 nachgeprüften empirischen Studie zur kriminogenen Wirkung der Leistungsanforderung in einer Kampftruppe soll zumindest eine der noch zahlreich vorhandenen Lücken im Gesamterscheinungsbild soldatischer Delinquenz geschlossen werden. Der Arbeit werden grundsätzlich nur die neuesten Zahlen der Jahre 1973, 1974 und 1975 zugrundegelegt, weil sich nach einem spürbaren Ansteigen militärischen Delinquenz in den Jahren 1968 bis etwa 1971 das statistische Kriminalitätsbild kaum mehr verändert hat; die graphische Kurve verläuft seitdem mit leicht sinkender Tendenz fast parallel zur Zeitbezugsachse. Durch diese Begrenzung werden die Übersichtlichkeit der notwendigen Tabellen gewahrt und voreilige Schlußfolgerungen von vornherein vermieden. Eine bedeutende Begrenzung dieser Untersuchung liegt jedoch darin, daß sich die Analyse, Interpretation und Vergleiche militärischer Delinquenz zwangsläufig und ausschließlich auf die Verhältnisse einer Bundeswehr in Friedenszeiten erstrecken.

14 Dank gebührt Frau Regierungsrätin Trilling, BMVg, Informations- und Pressestab - Abteilung Public Relations - für die Hilfe bei der Beschaffung des bundeswehreigenen Materials.

Erster Teil

Abriß der wissenschaftstheoretischen Grundlagen, auf denen die Arbeit fUßt Um einen möglichst einfachen, d. h. übersichtlichen theoretischen Bezugsrahmen zu erstellen, sollen zunächst die Gesichtspunkte zusammengestellt werden, die die Kriminologie als Wissenschaft an sich betreffen; sodann diejenigen, die die Frage nach der Notwendigkeit eines eigenständigen Wissenschaftszweiges "Militärkriminologie" aufwerfen. I. Die Kriminologie als empirische Wissenschaft? 1. Wer heute nach Inhalt und Aufgabe der Kriminologie gefragt wird, muß bekanntlich verschiedene Auffassungen und Theorien kennen, die sich mit diesen Problemkreisen befassen. Eine einheitliche Grundlage oder gar eine gesetzliche Definition gibt es hier nicht. Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in den kriminologischen Lehrbüchern wieder. Es gibt kaum ein Lehrbuch, das mit einem anderen in Stoff und Darstellungsweise auch nur ungefähr übereinstimmtl.

Schon bei der Frage, was Kriminologie ist und womit sie sich befaßt, machen sich die verschiedensten Auffassungen bemerkbar. So war lange Zeit in der deutschen kriminologischen Forschung streitig, ob die Kriminologie eine Geisteswissenschaft oder eine Naturwissenschaft sei. In zunehmendem Maße scheint sich die Auffassung durchzusetzen, daß es sich dabei um eine Erfahrungs- oder Seinswissenschaft, also um eine empirische Wissenschaft handelt. Neuere Definitionen verwenden ausdrücklich den Begriff "empirische Wissenschaft", nicht zuletzt um damit die Kriminologie von der - dogmatischen - Strafrechtswissenschaft abzuheben. So gebraucht beispielsweise Göppinger die Formulierung, die Kriminologie fungiere als "empirische, interdisziplinäre Wissenschaft", als "Erfahrungswissenschaft von Menschen in der gesellschaftlichen Ordnung", die sich" um die empirische Erforschung des Problems Verbrechen" bemühe!. Von dieser Zielsetzung scheinen sich u. a. auch Eisenberg, Eidt und Kaiser leiten zu lassen, wenn sie in etwa wie der 1 Man vergleiche nur die Lehrbücher von GöppingeT, KaiseT, H. Kaufmann und MeTgen. 2 GöppingeT, S. 1, 6.

I. Die Kriminologie als empirische Wissenschaft?

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Letztgenannte definieren: "Kriminologie ist die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, das negativ sozial auffällige Verhalten und über dessen Kontrolle3 ." SchneideT und andere Kriminologen hingegen legen das Schwergewicht ihrer Abgrenzung auf den Aspekt der Human- und Sozialwissenschaften, weil sich die Kriminologie einerseits mit dem Straftäter als Individium befasse, andererseits weil sie den Einfluß der Gesellschaft, ihre Gruppen und Repräsentanten auf kriminelles Geschehen mitzuerfassen suche'. 2. Gegenüber diesen Auffassungen finden sich heute nur noch wenige Aussagen, die an einem "ganzheitlichen", etwa philosophisch-anthropologischen Verständnis der Kriminologie festhalten, das von einer Konvergenz der an der Kriminalitätserforschung beteiligten Natur- und Geisteswissenschaften ausgeht, also gleichsam die empirische, erfahrungswissenschaftliche Betrachtungsweise mit der hermeneutischen Methode des Sinnverstehens zu verbinden sucht. Vornehmster Vertreter dieser Richtung ist Langes. Hinter seiner Skepsis und Kritik gegenüber der modernen Kriminologie steht zumindest teilweise die Vorstellung, daß die Human- und Sozialwissenschaften selbst, deren Erkenntnisse und Arbeitsmethoden sich die Kriminologie nach allgemeiner Auffassung bedient, ohne ein ganzheitliches, anthropologisches und deutendes Verfahren nicht auskämen 6• Hiernach kann eine auf bloße Ermittlung und Sammlung von Fakten beschränkte "Tatsachenwissenschaft" keineswegs das leisten, was von der Kriminologie erwartet wird, nämlich systematische und überprüfbare Erkenntnisse über die Kriminalität, ihre Entstehung und Bekämpfung zu liefern. Aussagekraft und Bedeutung empirischer Einzelbefunde könnten erst im Rahmen einer anthropologischen Betrachtung erschlossen werden, die den Menschen "als Ganzes" sehe und damit dessen Einbindung in die Welt "kultureller Werte und rechtlicher Normen" in Rechnung stelle7 • In diesem Sinne erschöpfe jedenfalls ein rein erfahrungswissenschaftliches Verständnis den substantiellen Gehalt und die Methodik der Kriminologie nicht.

Soweit ersichtlich, vermochte dieser Auffassung außer einer herben Kritik von SackS bisher niemand überzeugendes entgegenzusetzen. Jedenfalls verdient ein Kriminologieverständnis, das den Menschen stärker in das Blickfeld des Juristen rückt, mehr als nur wissenschaftliche Beachtung. Kaiser, S. 1; Eisenberg, S.13; Eidt, S.432. , Schneider, S. 8. I Vgl. Lange, S. 23 ff. 6 Lange, S. 117 ff. 7 Würtenberger, S. 113, 115. 8 Sack in: Sack / König, S. 44 ff. 3

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1. Teil: Abriß der wissenschaftstheoretischen Grundlagen

3. Ohne nunmehr auf die Auseinandersetzung über die Wissenschaftsart der Kriminologie einzugehen, ohne die Kontroverse anzuschneiden, ob und inwieweit die Sozialwissenschaften sich als rein empirische, d. h. mit dem Mittel der systematischen Beobachtung sozialer Tatsachen arbeitende Wissenschaften oder eben zugleich auch als geisteswissenschaftlich orientierte Kulturwissenschaften zu verstehen sind, die die Methode des sinndeutenden Verstehens auch auf die soziale Wirklichkeit anzuwenden habenD, ohne auf die Grundsatzdiskussion zum "Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften"IO und zum sog. Werturteilsstreitl l innerhalb der Sozialwissenschaften einzugehen - all dies würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen -, muß festgestellt werden, daß sich diese Diskussionen naturgemäß auf die Kriminologie ausgewirkt haben, weil sich hier gleichfalls eine Nahtstelle zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Forschung befindet. Zieht man eine Analogie zur Situation der Sozialwissenschaften, so lassen sich die Probleme der Kriminologie als empirischer Wissenschaft mit einer gewissen Vereinfachung auf einen dreifachen Nenner bringen: Einmal geht es um die Frage nach der Voraussetzungslosigkeit und Objektivität empirischer Forschung. Zum zweiten ist - damit zusammenhängend zu fragen, ob und inwieweit die Kriminologie auf das hermeneutische Verfahren überhaupt verzichten kann. Schließlich steht das Verhältnis von Kriminologie und Kriminalpolitik zur Diskussion. Nur diese drei Problemkreise seien kurz im Zusammenhangi! angesprochen. a) Heute ist allgemein anerkannt, daß es voraussetzungslose Wissenschaft nicht gibt. Auch die Kriminologie kann nicht voraussetzungslos betrieben werden. Vor jeder Forschungstätigkeit stehen immer schon subjektive Erfahrungen, spekulative Ideen. In gewissem Umfang gilt das auch für den Forschungsprozeß selbst. Wenn der Werturteilsstreit der Soziologen ein Ergebnis gebracht hat, dann dieses: daß jener Streit selbst von subjektiven Wertungen beeinfiußt ist und daß es sich deshalb nur darum handeln kann, subjektive Perceptionen möglichst zugunsten objektiver Kriterien zurückzudrängen oder wenigstens nach außen sichtbar zu machenl3• Die größte Gefahr für den Sozialwissenschaftier wie für den Kriminologen liegt wohl in der mangelnden Erkenntnis solcher subjektiven Momente, deren Einflußnahme auf die Ermittlung o Vgl. dazu MülleT-Dietz, S. 47 ff., 51 ff. Kritisch gegenüber dieser vereinfachenden Unterscheidung z. B. Kaiser, S.33; Würtenberger, S. 100. 10 Vgl. insbesondere Habermas~ S.71. 11 Vgl. dazu Weber, S. 451 ff., sowie die Beiträge von König (S. 150 ff.), Albert (S. 200 f.), Nagel (S. 237 ff.) und Habermas (S. 334 ff.) in: Werturteilsstreit 1971. 12 Vgl. dazu Müller-Dietz, S. 55 ff. ta Vgl. Göppinger, S.54; Würtenberger, S.85.

I. Die Kriminologie als empirische Wissenschaft?

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von Fakten selbst bei methodisch einwandfreiem Vorgehen nicht immer auszuschließen ist. Daran schließt sich die Frage, wie die Gesellschaft das Prädikat "Verbrechen" (oder allgemeiner ausgedrückt: Abweichung) zuteilt. Man könnte hier als Konstitutionselement die Interaktion sehen; in diesem Sinne ist abweichendes Verhalten das was andere als abweichend definieren14• "Jetzt rücken also nicht der Rechtsbrecher, auch nicht der Rechtsbruch, sondern die strafrechtlichen Reaktionen auf die Tat in den Mittelpunkt. Diese Blickschärfung ist unabhängig davon, ob sich die Kriminalsanktionen als Strafe oder Maßnahme verstehen. Daher nennt man diesen Ansatz in der anglo-amerikanischen Terminologie auch ,social reaction approach' ... Einer solchen Entwicklung wiederum verdankt der Gedanke der Entkriminalisierung im internationalen Bereich seine starke Resonanz und ihm zugeordnet der sogenannte labeling approach in der Kriminologie ... Der genannte Denk- und Forschungsansatz ermöglicht es, das gesamte System strafrechtlicher Sozialkontrolle, einschließlich der Psychologie der strafenden Gesellschaft und der Prozesse rechtspolitischer Willensbildung, zum Gegenstand empirischer Beschreibung, Untersuchung und Kritik zu machen, ...1&." b) Wenn diese Problematik bei der Anwendung emprischer Methoden berücksichtigt wird, die den Kriterien der Zuverlässigkeit (Reliabilität), Gültigkeit (Validität) und Bedeutsamkeit (Relevanz) unterliegtl8, so ist damit noch nicht geklärt, wie es um die Einbeziehung anderer, etwa geisteswissenschaftlicher Verfahren in die Kriminologie bestellt ist. Ob darauf zurückgegriffen werden kann oder muß, hängt im wesentlichen davon ab, welchen Anspruch die Kriminologie als Wissenschaft erhebt. Denn gerade die Auseinandersetzung zwischen den maßgebenden Richtungen der heutigen Sozialwissenschaften zeigt, daß die Reichweite streng empirisch gewonnener Aussagen begrenzt ist. Beschränkt man den Anspruch der Kriminologie auf die Erforschung solcher Tatsachen, die sich mit Hilfe empirischer Untersuchungsmethoden ermitteln lassen, dann gerät möglicherweise nur ein Teil der mit der Kriminalitätsbegehung, -entstehung und -bekämpfung zusammenhängenden sozialen Phänomene ins Blickfeld. Wird dagegen etwa der kriminelle Mensch, die zu beobachtende soziale Gruppe oder die Gesellschaft als Ganzes in den Blick genommen, dann reichen empirische Methoden zur Erklärung wohl kaum mehr aus. Die Kontroverse über die Frage, Vgl. Sack, S. 431 H. (S.470). Siehe Kaiser, S.62; Göppinger, S. 84 f. rückt den labeling approach systematisch gesehen in den Zusammenhang von Kriminalstatistik und Dunkelfeld. 14

15

16

GöppingeT, S. 61 H.

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1. Teil:

Abriß der wissenschafts theoretischen Grundlagen

ob und inwieweit die philosophische Anthropologie in die kriminologische Forschung eingehen kann oder muß, ist also zu einem großen Teil durch unterschiedliche Vorstellungen vom Gegenstand und den Aufgaben der Kriminologie veranlaßt17• c) Auch die Antwort auf die Frage, auf welche Weise und in welchem Umfang kriminologisches Erfahrungswissen in die rechtspolitische Entscheidung eingehen kann, hängt damit zusammen. Nach alledem erscheint es legitim, keine prinzipielle Beschränkung der Kriminologie auf streng empirische Fragestellungen und die Anwendung empirischer Methoden zu fordern, und die Verwertung und Durchsetzung kriminologischer Erkenntnisse anderen Disziplinen oder gar politisch-ideologisierten Instanzen zu überlassen. Kriminologie, verstanden als empirische Wissenschaft, darf zwar an sich keine kriminalpolitische Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen ziehen, geschweige denn entsprechende Entscheidungen treffen18 • Je mehr sie jedoch beansprucht, das Ganze der menschlichen Persönlichkeit, der sozialen Gruppe oder der Gesellschaft zu erklären, desto enger rückt sie an die Kriminalpolitik heran, die von ihr eigentlich durch die Orientierung an normativen, wertenden Gesichtspunkten getrennt ist. Außer Frage steht indessen, daß die Kriminalpolitik heute auf kriminologisches Erfahrungswissen nicht mehr verzichten kann und WilP9.

4. Vor diesem Hintergrund soll daher für die theoretische Basis dieser Arbeit nunmehr von einer weiten Definition der Kriminologie im skizzierten Sinne ausgegangen werden, wonach Kriminologie eine empirische, interdisziplinäre Tatsachenwissenschaft ist, die sich bei Orientierung an den Erkentnissen der Kriminalsoziologie, Kriminalpsychologie, Kriminalpsychiatrie, Kriminalanthropologie, Kriminalmedizin, Kriminalbiologie und Kriminalstatistik mit dem gesamten tatsächlichen Geschehen auf dem Gebiet der Verletzung von juristischen Normen und der Bekämpfung der Kriminalität bei Berücksichtigung aller erkennbaren sozialen, kulturellen und soziologischen Phänomene unter Benutzung aller nachprüfbaren objektiven (realen) Erkenntnisquellen befaßt.

Kriminologie ist außerdem eine autonome Wissenschaft, weil sie ihren Standort nicht von der bestehenden Strafrechtsordnung her bestimmt, sondern diese hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und ihrer Bezüge auf das Rechtsbewußtsein der ihr unterworfenen Staatsbürger überprüft. Um aber diese weitgefaßte Definition nicht ausufern zu lassen, wird jedem Hauptteil, d. h. dem jeweiligen kriminologischen Teilbereich 17 Vgl. einerseits Göppinger, S. 32 f., andererseits Lange, S. 325 ff. und Würtenberger, S. 105 ff.

lS

Kaiser, S. 164 ff.

Vgl. dazu Schick, "Die Bedeutung der Kriminologie für die Kriminalpolitik", in: MschrKrim 3 (1968), S. 97 ff. l'

II. Notwendigkeit einer "Militärkriminologie"?

31

dieser Arbeit - soweit erforderlich - eine knappe wissenschaftstheoretische Einleitung vorangestellt, die in der gebotenen Kürze den kriminologischen Bezugsrahmen absteckt. 11. Die Frage nach der Notwendigkeit eines eigenen Wissenschaftszweiges "Militärkriminologie"

Im Blickwinkel der dem Verfasser durchaus bewußten Fragwürdigkeit eines Vergleichs der spezifischen Kriminalität von Soldaten gegenüber der Kriminalität der zivilen Bevölkerung, wie sie sich im Zahlenmaterial des Statistischen Bundesamtes niederschlägt, seien vorab folgende Thesen zur Notwendigkeit eines neuen eigenständigen Wissenschaftszweiges "Militärkriminologie" gewagt: Im Gegensatz zur allgemeinen Kriminalität handelt es sich bei dem in der Bundeswehr vorzufindenden Beobachtungsfeld um ein bereits selektiertes Groß gebilde psychisch "gesunder Objekte" der allgemeinen Gesellschaft, weil physisch oder psychisch nicht wehrdienstfähige Männer schlechterdings nicht zum Wehrdienst herangezogen werden (§ 9 WPflG), weil weiterhin u. a. wegen eines Verbrechens mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr vorbestrafte Männer vom Wehrdienst ausgeschlossen sind (§ 10 WPflG), und weil im übrigen durch Befreiung oder Zurückstellung von Wehrdienst (§§ 11, 12 WPflG) auf besondere psychische Belastungen weitgehend Rücksicht genommen werden kann. Es befindet sich also unter den zum Wehrdienst Herangezogenen grundsätzlich keine Person, deren soziale Belastungsfähigkeit physisch oder psychisch apriori beschränkt ist und damit präsumtiv kriminell zu werden droht, sondern im Gegenteil sammelt sich in der Bundeswehr eine Auslese von - im medizinischen, psychologischen und sozialen Sinne - vollwertigen Individuen. Insofern ist die Bundeswehr zwar ansatzweise ein repräsentativer soziologischer Querschnitt der heutigen männlichen Jugend, aber eben doch kein Spiegelbild der vorhandenen allgemeinen Bevölkerung entsprechender Jahrgänge. Als zweite Unterschiedlichkeit·vom zivilen Beobachtungsfeld der allgemeinen Kriminologie ist zu berücksichtigen, daß die Bundeswehr über eine massierte Anhäufung von Personen aus "kriminalitätsanfälligen Jahrgängen"20 verfügt. Im Beobachtungszeitraum dieser Arbeit waren durchschnittlich stets mehr als die Hälfte der gesamten Bundeswehrsoldaten Heranwachsende im Sinne des JOO (18 - 21 Jahre); das Alter der Wehrpflichtigen betrug 20

Vgl. Schwenck (2), S. 221.

32

1. Teil: Abriß der wissenschaftstheoretischen Grundlagen

in den Vergleichsjahren 1973 bis 1975 durchschnittlich 20,1 Jahre21 • Das bedeutet, daß ein Großteil der Soldaten in der Regel während ihrer gesamten Dienstzeit jünger als 21 Jahre sind. Im ganzen ist festzustellen, daß die Bundeswehr überwiegend über junge Leute verfügt: über 70 Ufo sind unter 25 Jahre altH • Die dritte Besonderheit, die eine eigenständige Militärkriminologie rechtfertigen kann, beruht - wie bereits angedeutet - auf der anders gearteten kriminogenen Situation in militärischen Streitkräften mit ihren militärtypischen hierarchischen Strukturen einer auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam aufgebauten Armee, wo Verstöße gegen die gesetzte soldatische Ordnung, deren Wurzel die persönliche Disziplin des Einzelnen ist, weit über das moralisch Selbstverständliche hinaus den Gegenstand des staatlichen Strafanspruchs bilden!!. Diese anders geartete Situation in den Streitkräften im Vergleich zur zivilen Umwelt kann einerseits mit einer im Bereich des allgemeinen Strafrechts geringeren Kriminalität rechnen, weil der tägliche militärische Dienst mit seiner starken äußeren Kontrolle kaum Gelegenheiten zu kriminellen Handlungen läßt, andererseits muß neben der kriminogenen Disposition des Täters im militärischen Rahmen mit einer in hohem Maße "situationsspezifischen", d. h. teils "wehrdiensteigentümlichen", teils "systembedingten" Delinquenz gerechnet werden, wobei das Verhältnis zwischen Dunkelfeld und bekannt gewordener Kriminalität aus obigem Grunde äußerst günstig sein dürfte. "Systembedingte" Kriminalität bedeutet hier die Delinquenz aufgrund spezieller Gesetze, zuvorderst also das WStG, die im zivilen Bereich naturgemäß nicht denkbar ist. "Wehrdiensteigentümliche" Kriminalität meint die Erscheinungsform eines allgemein gültigen (zivilen) Straftatbestandes, der im militärischen Bereich besondere Ausformung, Umfang und Interdependenz erhält. Liegen aber bereits von der Grundstruktur des Beobachtungsfeldes her so gravierende Unterschiede zu anderen von der Kriminologie untersuchten Gruppen vor, so können Ergebnisse kriminologischer Forschung, wenn sie sinnvoll sein sollen, nur unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten erarbeitet werden. Damit ergibt sich aber - jedenfalls im A,nsatz - die Berechtigung der Frage nach der Notwendigkeit eines gesonderten Forschungszweiges "Militärkriminologie" , deren Inhalt und Aufgabenbereich erst aufgrund der nachfolgenden Strukturuntersuchung der militärischen Delinquenz bestimmt werden kann. 21 Amtliche Auskunft des BMVg PIl6 - aufgrund der jeweiligen Personalberichte zur Alters- und Dienstgradstruktur. 22 Nach amtlicher Auskunft des BMVg - PIl6 -: 1973 = 75,8 °/0; 1974 = 79,0 0/0; 1975 = 78,1 °/0 2lI So auch Schwenck (1), S. 11.

Zweiter Teil

Die Erscheinungsformen militärischer Delinquenz (Kriminalphänomenologie der Bundeswehr) I. Die Schwerpunkte militärischer Delinquenz Ausgehend vom juristischen Verbrechensbegriff ist "militärische Delinquenz" das Gesamterscheinungsbild militärischer Kriminalität, also die Summe aller Normenbrüche durch Soldaten. Der kriminologische Verbrechensbegriff wird je nach Standort verschieden definiert l . Der Verfasser faßt ihn als rechtliches Phänomen - jedoch nicht im strengen Sinne des § 12 StGB -, d. h. als "Normabweichung mit rechtlichem, juristisch meßbarem Unwerturteil" auf, denn nur juristische Maßstäbe können Sicherheit über Umfang und Inhalt des jeweils geltenden Kriminalunrechts vermitteln 2 • Da aber die kriminologische Forschung zu Recht die "Wissenschaft vom Verbrechen" weit in das Vorfeld der Kriminalität und damit in den Bereich nicht nur legalistischen, sondern auch sozialabweichenden Verhaltens hineinverlegt, ist "Prädelinquenz" mit zu erfassen'. Auch wenn sie im streng juristischen Sinne nicht "Verbrechen" ist, gehört sie jedenfalls insoweit zur Phänomenologie, als sie ebenfalls Normabweichung mit juristisch feststellbarem Unwerturteil ist. Der Begriff "Prädelinquenz" ist aufgrund der großen Differenziertheit sozialabweichender Verhaltensweisen außerordentlich schwierig zu abstrahieren 4 • Er kann eine bestimmte menschliche Verfassung meinen, die an sich nicht-kriminelle Vorfeldauffälligkeit ist, aber eine Prädisposition zum "Verbrechen" schafft6 • Prädelinquenz kann sich dabei ergeben aus den biologisch-psychologischen Charakteristika des Einzelnen, sozialen Fehlleistungen, Risikoverhalten, Aggressionsbereitschaft, 1 Vgl. Göppinger, S.4, mit zahlreichen Nachweisen von Wissenschaftlern, die dieses Phänomen eingeordnet haben. 2 Vgl. dazu Geerds, S.2; Kaiser, S. 52 ff. S Vgl. hierzu Mannheim, "Comparative Criminology. A Text Book", Bd.1, S. 223 ff. 4 Vgl. dazu Wiirtenberger, S. 104 f.; Göppinger, S.5. 5 Vgl. Mannheim, a.a.O., S.298.

3 Fiedler

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2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

Persönlichkeitsentwicklung aufgrund Milieueinflüssen usw. oder der "evidenten Fähigkeit eines Menschen, eine Missetat zu begehen"6. Im Bereich des Wehrdienstes kann die Bereitschaft zur Prädelinquenz außerdem die nur vorübergehende geistige Verfassung des Soldaten vor der eigentlichen "Tat" bedeuten. Hier sind Auffälligkeiten aufgrund spezifisch militärischer Faktoren denkbar: Die - teilweise - Entsozialisation durch die Einberufung, Eingliederung in die straffe militärische Ordnung, altersbedingte Labilität des jungen Wehrpflichtigen, autoritär-hierarchisches Rollengefüge der Streitkräfte, systembedingte Konfrontation einer Persönlichkeit mit dem militärtypischen Sozialbereich7 und seinem spezifischen Normen- und Pflichtenkatalog. Ablesbar, d. h. statistisch signifikant, sind diese Vorfeldgesichtspunkte jedoch nur, soweit sie als "Dienstpflichtverletzungen", d. h. Dienstvergehen im Sinne des § 23 Abs. 1 SoldatenG8 offenkundig werden. Prädelinquenz in den Streitkräften ist nämlich hinsichtlich eines Teiles der Vorfeldkriminalität in den "Jahresberichten über Disziplinarmaßnahmen"9 insoweit lückenlos erfaßt, als dort u. a. alle Dienstvergehen, also die Verstöße gegen die militärische Disziplin im weitesten Sinne, nach Anzahl, Art und Umfang tabelliert sind. Tatbestand des Dienstvergehens ist materiell-rechtlich die schuldhafte Verletzung einer militärischen Dienstpflicht (§ 23 Abs.l SoldatenG), ohne daß im übrigen eine Ausformung des mißbilligten Verhaltens durch konkrete Tatbestandsbeschreibungen erfolgtlO; prozeßrechtlich gelten mehrere selbständige Dienstpfiichtverletzungen, die gleichzeitig entscheidungsreif sind, als ein Dienstvergehen (§ 10 Abs.2 WDO). Sachverhalt des Dienstvergehens ist also das gesamte Verhalten des Soldaten, das den Vorwurf schuldhafter Dienstpflichtverletzung - den disziplinaren Schuldvorwurf - begründet. Dienstvergehen gehören grundsätzlich in den Bereich der Prädelinquenz, weil sie "nur" die innere Ordnung der Streitkräfte stören, aber in der Regel nicht so gravierend sind, daß sie mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft werden müssen. Juristisch gesehen ist diese Form militärischer Prädelinquenz grundsätzlich ein Verstoß gegen Gemeinschaftsbelange - in etwa ähnlich den Ordnungswidrigkeiten nach dem OWiG - und für die Armee darüber hinaus ein Verstoß gegen das Grundprinzip militärischer Effektivität, die Disziplin, für den das Sol6

7

Szabo, "Criminologie", 1965, Göppinger, S.5, spricht für

S.37; zitiert bei Göppinger, S.5. den zivilen Sektor zutreffend vom "Täter

in seinen sozialen Bezügen". 8 § 23 Abs. 1 SoldatenG lautet: "Der Soldat begeht ein Dienstvergehen, wenn er schuldhaft seine Pflichten verletzt." 9 Jährlich durch BMVg - Fü S I 4 - erstellt. 10 Vgl. dazu die Beispiele bei Scherer, S. 101 ff.

I. Die Schwerpunkte militärischer Delinquenz

35

datengesetz in § 23 die materielle Grundlage, die WDO die Sanktion und das Verfahren zur Verfügung stellt. Zwar gebietet die unterschiedliche Funktion von Straf- und Disziplinarrecht eine voneinander unabhängige und selbständige juristische Betrachtungsweise von Straftaten und Dienstvergehen11 ; kriminologisch gesehen müssen die Dienstpflichtverletzungen indessen zum Zwecke einer erschöpfenden Kriminalphänomenologie der Bundeswehr mit in die "militärische Delinquenz" einbezogen werden, weil die Grenzen der Sanktionen trotz gleichen Tatbestandes fließend sind. Dies zeigt sich besonders, wenn ein Dienstvergehen zugleich eine Straftat ist12. Hier prüft der Disziplinarvorgesetzte, ob er den ermittelten Sachverhalt an die Strafverfolgungsbehörde abgeben muß (Abgabepflicht). Eine solche Pflicht besteht dann, wenn die strafrechtliche Verfolgung der Tat zur Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung oder wegen der Art der Tat oder der Schwere des Unrechts oder der Schuld geboten ist (§ 29 Abs. 3 WDO). Dabei hat der Disziplinarvorgesetzte den sog. Abgabeerlaß13 des BMVg zu beachten, der seinen Entscheidungsraum konkretisiert und einschränkt; zugleich ist die pflichtwidrige Ausübung seiner Befugnisse zum Nachteil des staatlichen Strafanspruchs nach § 40 WStG strafbar. Kommt der Disziplinarvorgesetzte zum Ergebnis, daß er nach § 29 Abs.3 WDO in Verbindung mit den Regelungen des Abgabeerlasses zu einer Abgabe nicht verpflichtet ist, so kann er das Dienstvergehen disziplinar ahnden, soweit er nicht nach § 29 Abs. 1 WDO davon absehen will. Ergibt dagegen das Ergebnis seiner Prüfung die Notwendigkeit einer Abgabe an die Staatsanwaltschaft, so kann er unabhängig davon vorweg den disziplinaren Gehalt des Dienstvergehens mit einer Disziplinarmaßnahme ahnden. Davon wird er regelmäßig dann Gebrauch machen, wenn der Charakter der Straftat nicht allzu schwer ist, andererseits aber die Aufrechterhaltung der Disziplin eine sofortige Reaktion erfordert. Ist das Dienstvergehen nicht zugleich eine Straftat, so ahndet er mit seinen disziplinaren Mitteln, falls er nicht überhaupt von einer Ahndung absieht (Opportunitätsprinzip) oder es bei einer erzieherischen Maßnahme bewenden läßt (§ 29 Abs. 1 WDO).

Zusammenfassend ist im Rahmen dieser Arbeit unter "militärischer Delinquenz" im Sinne einer Kriminalphänomenologie der Soldaten der 11 Hinsichtlich der dogmatischen Unterschiedlichkeit im Verhältnis von Disziplinar- und Strafrecht, vgl. Krieger, a.a.O. 12 Vgl. dazu ausführlich Schwenck (2), S. 123, 125 f. 13 Gemäß ZDv 14/3, B 115.



36

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

Oberbegriff für juristisch sanktionierte und statistisch erfaßte Kriminalität und eines Teiles der Präkriminalität der Armee zu verstehen; militärische Delinquenz ist Normabweichung der Soldaten im (wehr)strafrechtlichen und dienstrechtlichen Sinne. Das derzeitige14 Delinquenzbild in den Streitkräften läßt sich dazu in drei große Bereiche aufgliedern: Erstens die im Vordergrund der Delikthäufigkeit stehenden Straftaten nach dem Strafgesetzbuch und sonstigen strafrechtlichen Nebengesetzen - also Straftaten, die keineswegs spezifisch militärisch sind, weil sie auch vom "Zivilisten" begangen werden können; zweitens der Anteil der Wehrstrafsachen, also der Delikte, die nur von Soldaten begangen werden können und drittens der bisher in öffentlichen Statistiken nie genannte Anteil der militärischen Dienstvergehen im Sinne des § 23 Abs.1 SoldatenG. Kriminologisch gesehen ist es in diesem Zusammenhang nicht so sehr entscheidend, ob ein Tatbestand sich im allgemeinen Strafrecht, im Wehrstrafrecht oder im Soldatengesetz (als materiellem Disziplinarrecht) findet; die jeweilige Einordnung in den einen oder anderen Bereich ist in erster Linie eine Frage der juristischen Systematik sowie der Gesetzgebungstechnik; die Unterscheidung erfolgt zuvorderst durch die Bewertung des Gesetzgebers oder - bezüglich der Dienstvergehen qua Abgabeerlaß - durch den Disziplinarvorgesetzten. Ein Blick auf die Zahl der verurteilten Soldaten in den drei Vergleichsjahren zeigt, daß bei insgesamt 16419 (17899/17708) Strafverfahren 15 gegen Soldaten 98,3 % (98,2 % / 98,2 %) rechtskräftig verurteilt und 1,6010 (1,7 010 / 1,6 010) freigesprochen wurden; in 0,1 Ofo (0,1 Ofo / 0,2 010) erfolgte eine gerichtliche Einstellungl6 • Bezogen auf den jeweiligen Personal bestand der Bundeswehr wurden demnach in den Vergleichsjahren gegen rund 4 Ofo aller Soldaten rechtskräftige Verurteilungen ausgesprochen. Die militärischen Dienstvergehen, die durch einfache oder gerichtliche Disziplinarmaßnahmen geahndet· wurden (vgl. § 7 Abs. 1 WDO), machen jedoch den weitaus größten Anteil militärischer Delinquenz im Bereich der Präkriminalität aus: Insgesamt wurden beispielsweise im Jahre 1973 113269 Dienstvergehen erfaßt, die mit 85751 Disziplinar14 Nach Auswertung des für das Jahr 1973, 1974 und 1975 vorliegenden statistischen Zahlenmaterials des BMVg. Im folgenden sind grundsätzlich im laufenden Text die Zahlen für das Jahr 1975 und in Klammern die Zahlen für die Jahre 1974 und 1973 angegeben. 11 Die durchschnittliche Personalstärke im Jahre 1975 hat gegenüber 1974 um 1,6 Ofo abgenommen. 16 Dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg.

37

I. Die Schwerpunkte militärischer Delinquenz

maßnahmen (85 372 einfachen und 380 gerichtlichen Disziplinarmaßnahmen) geahndet wurden17• Bezogen auf die damalige Personalstärke der Bundeswehr wurden damit gegen 18,0 % aller Soldaten Disziplinarmaßnahmen verhängt; für die Jahre 1974 und 1975 errechnet sich eine Prozentzahl von 16,9 und 15,2 18 • Dieses grob skizzierte Delinquenzbild .bedarf nun der Darstellung im Detail. 1. Straftaten nadl dem Strafgesetzbudl

Nicht etwa militärische Delikte, sondern "zivile" Straftaten nach dem StGB und sonstigen strafrechtlichen Nebengesetzen machten im Jahre 1975 etwa 70 % aller abgeurteilten Straftaten aus 19 • Dabei waren wie in den Vorjahren die fünf häufigsten Straftaten Trunkenheit im Verkehr (28,5 0/0), fahrlässige Körperverletzung (20,2 0/0), Gefährdung des Straßenverkehrs (12,5 0/0), Diebstahl (7,9 Ufo) und unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (5,1 Ufo). An der Spitze aller Straftaten nach dem StGB standen also mit insgesamt 46 Ufo die Delikte im Straßenverkehr. Tabellarisch stellt sich der wesentliche Anteil der zivilen Straftaten der Soldaten wie folgt dar 20 : Tabelle 1

Straftaten nach dem StGB

1975 Anzahl

1974

1973

%

%

%

1. Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB)

2.925

28,5 %

28,0 %

23,2 %

2. Fahrlässige Körperverletzung (§ 230 StGB)

2.072

20,2 %

21,6 %

25,0 %

3. Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 142 StGB)

l.286

12,5 %

11,7 %

13,2 %

4. Diebstahl (§ 242 StGB)

814

7,9 %

8,2 %

7,8 %

5. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB)

526

5,1 %

4,8 %

4,9 %

Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.18 und S.26. Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S. 11. Eine solche Aufschlüsselung ist bereits in den Jahresberichten über Disziplinarmaßnahmen 1974 und 1975 nicht mehr enthalten, auch fehlt - leider - die Gesamtzahl der erfaßten (nicht nur geahndeten) Dienstvergehen. 11 Nach Auswertung der geschäftsinternen Straftatenstatistik des BMVg. 20 Bezogen auf die Gesamtzahl aller abgeurteilten zivilen Straftaten von Soldaten. 17

18

38

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

2. Strafsadlen nadl dem Wehntrafgesetz

Der Anteil der Wehrstrafsachen an den Gesamtverurteilungen betrug im Jahre 1975 rund 30 0/ 0, im wesentlichen verteilt auf die Straftaten nach § 15 WStG "Eigenmächtige Abwesenheit", § 16 WStG "Fahnenflucht", § 25 WStG "Tätlicher Angriff gegen einen Vorgesetzten" und § 20 WStG "Gehorsamsverweigerung" (§ 15 rund 64 %, § 16 rund 28 %, § 20 und § 25 rund 2 Ufo bzw. 3 Ufo bezogen auf die Gesamtzahl der abgeurteilten militärischen Straftaten). Alle anderen Delikte des Wehrstrafgesetzes waren von untergeordnetem Rang, ihre Häufigkeit lag bei jeweils unter 1 °/02 1• Tabellarisch stellt sich der wesentliche Anteil der abgeurteilten militärischen Straftaten wie folgt dar!2: Tabelle 2

Anzahl

%

1974 %

1973 %

1. Eigenmächtige Abwesenheit (§ 15 WStG)

3.165

64,1 %

63,1 %

61,9 %

2. Fahnenflucht (§ 16 WStG)

1.377

27,9 %

29,3 %

29,2 %

3. Tätlicher An~riff ~~en Vorgesetzte § 25 tG)

142

2,9 %

3,0 %

3,2 %

4. Gehorsamsverweigerung (§ 20 WStG)

106

2,1 %

2,7 %

3,2 %

Straftaten nach dem WStG

1975

Die Zahl der verurteilten Soldaten liegt also jährlich bei durchschnittlich 17000 und ist seit langem nahezu konstant23 . 3. Militärisdle Dienstvergehen

Zählt man den Bereich der Präkriminalität in den Streitkräften zu den Erscheinungsformen des militärischen Verbrechens hinzu, wie dies m. E. für die Gewinnung eines zutreffenden phänomenologischen Delinquenzbildes der Armee erforderlich ist, so dürfte es angebracht sein, die durchschnittlich 17000 gerichtlichen Straftaten pro Jahr gegen Soldaten als "Spitze des Eisberges" militärischer Delinquenz zu bezeichnen. Denn zumindest rein zahlenmäßig werden die Strafverfahren gegen 21

22 23

Nach Auswertung der geschäftsinternen Straftatenstatistik des BMVg. Bezogen auf die Gesamtzahl aller abgeurteilten militärischen Straftaten. Vgl. die diesbezüglichen Zahlen des Jahres 1971 bei Schwenck (2), S. 218 f.

I. Die Schwerpunkte militärischer Delinquenz

39

Soldaten von den jährlich verhängten Disziplinarmaßnahmen haushoch übertroffen: Im Jahre 1973 waren es 85751 geahndete Dienstpflichtverletzungen; im Jahre 1974 wurden 83 186 und im Jahre 1975 wurden 73288 Dienstvergehen mit Disziplinarmaßnahmen geahndet24 • Die hier geahndeten Dienstvergehen im Sinne des § 23 Abs. 1 SoldatenG umfassen alle ungerechtfertigten und schuldhaften Verletzungen militärischer Dienstpflichten (der §§ 6 ff. SoldatenG), mögen sie im Dienst oder außer Dienst begangen sein 25 , die eine disziplinare Ahndung nach sich ziehen können 26 • Die Zahl der in den Vergleichsjahren festgestellten rund 80000 Dienstvergehen pro Jahr bedarf jedoch folgender Korrekturen: Nicht alle erfaßten jährlichen Dienstvergehen werden mit Disziplinarmaßnahmen geahndet, lediglich durchschnittlich 80 01027 • Auch werden von den Dienstvergehen jährlich durchschnittlich 4,7 % an die Staatsanwaltschaft abgegeben28 • Andererseits ist zu bedenken, daß aus dem als Generalklausel angelegten Begriff des Dienstvergehens in § 23 Abs. 1 SoldatenG folgt, daß mehrere Pflichtverletzungen eines Soldaten, über die gleichzeitig entschieden werden kann, als ein einziges Dienstvergehen zu beurteilen sind (§ 10 Abs.2 WDO). Insgesamt gesehen ist also bezüglich des schwimmenden Teils des "Eisberges" militärischer Delinquenz festzustellen, daß er etwa das vier- bis fünffache der militärischen Gesamtdelinquenz ausmacht oder umgekehrt ausdrückt: Die nach StGB und WStG abgeurteilten Straftaten bilden nur etwa % bis 1/5 der bisher allgemein offenkundig gewordenen Delinquenz in den Streitkräften. Erst auf der Grundlage einer umfassenden, d. h. differenzierenden Kriminalphänomenologie läßt sich dem Ursachenproblem nachgehen. Es dürfte aber lohnend sein, im Hinblick auf die spätere Untersuchung der kriminovalenten Faktoren des Wehrdienstes29 , die Dienstvergehen nach ihrer Art und deren Zahl näher zu betrachten. Dazu können die geahndeten Dienstvergehen nach disziplinaren und zugleich krimino24 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.26; 1974, S.l1; 1975, S.l1. 25 Rittau (1), § 23 Anm. 1 (S. 156). 28 Scherer, § 23 Anm. 1 (S. 97). 27 Vgl. Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.27, 18 und 25. 28 Im Jahre 1975: 6,2 Ofo; 1974: 4,3 Ofo; 1973: 3,6 Ofo. Die Änderung des Abgabeerlasses (ZDv 14/3, Teil B III. Nr. 115, S.4), wonach Vergehen der Eigenmächtigen Abwesenheit im Wiederholungsfall stets an die Strafverfolgungsbehörden abzugeben sind, dürften diesen Anstieg der Abgaben. bewirkt haben; vgl. Jahresberichte über Disziplinarmaßnahmen 1975, S.18; 1974, S. 18; 1973, S. 25. 29 Im 3. Teil dieser Arbeit.

40

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

logischen Gesichtspunkten in 25 Arten aufgegliedert werden. Dadurch kann festgestellt werden, 1. gegen welche Pflichten im einzelnen und am häufigsten verstoßen wurde (vgl. Tabelle 3) und

2. welches die häufigsten spezifischen Dienstvergehen in jeder Art waren (vgl. Tabelle 4). Dazu werden wiederum zunächst die aktuelleren Zahlen für das Jahr 1975 genannt, sodann die Zahlen für 1974 und 1973. Arten und Prozentzahlen der im Jahre 1975 bzw. 1974 und 1973 durch Disziplinarmaßnahmen geahndeten rund 80 000 Dienstvergehen stellen sich - bezogen auf die Gesamtzahl der jährlich verhängten! Disziplinarmaßnahmen und in der Reihenfolge ihrer Häufiigkeit - im einzelnen wie folgt dar30: TabeUe3

Dienstvergehen

1975 I °/0

1974 I °/0

1973 I 0/0

56,1 0/0

53,9 Ofo

46,9 Ofo

10,6 Ofo

13,3 0/0

3. gegen allgemeine Verbote

9,6 Ofo 9,5 0/0

1. durch "Dienstentziehung" 2. durch Nichtbefolgen von Befehlen,

Ungehorsam, Gehorsamsverweigerung

8,5 Ofo

6,4 Ofo

4. im Wachdienst

5,6

1/0

5,4 Ofo

5,2 Ofo

5. im Ordnungs- und Bereitschaftsdienst

3,4 Ofo

3,8 Ofo

4,5 Ofo

6. im Zusammenhang mit sonstigem Wehrgerät, Ausrüstung und Bekleidung

2,7 Ofo

1,9 Ofo

1,9 Ofo

7. gegen die Kameradschaftspfticht

2,3 Ofo

2,7 Ofo

3,2 Ofo

8. im Zusammenhang mit Dienst-Kfz

2,2 Ofo

2,5 Ofo

3,10f0

9. gegen Vorgesetzte

1,8 Ofo

2,3 Ofo

2,6 Ofo

10. durch Diebstahl oder Unterschlagung von Bundeswehr-Eigentum

1,6 Ofo

1,6 Ofo

1,6 Ofo

11. im Zusammenhang mit Waffen und Munition

1,1 0/0

1,1 0/0

1,4 Ofo

12. durch disziplinloses Verhaltenl Störung des Dienstbetriebes

0,9 Ofo

1,3 Ofo

2,10f0

13. im Zusammenhang mit Verschlußsachen, Ausweisen, dienstlichen Dokumenten

0,6 Ofo

0,6 Ofo

0,5 Ofo

14. durch Täuschung und Betrug

0,4 Ofo

0,4 Ofo

0,7 Ofo

30 Zusammengestellt aus den Jahresberichten über Disziplinarmaßnahmen 1975, 1974 und 1973, jeweils Anlage 2 bzw. 3.

I. Die Schwerpunkte militärischer Delinquenz

41

Fortsetzung Tabelle 4 Dienstvergehen 15. durch Schädigung des Ansehens der Bundeswehr

1975/ 0/ 0

1974/ 0/ 0

19731 °/0

0,4 °/0

0,9 0/0

1,5 0/ 0

16. gegen die Pflicht zur Erhaltung der Gesundheit, zur Sauberkeit und Ordnung

0,4 Ofo

0,6 Ofo

0,8 Ofo

17. gegen die Pflichten als Vorgesetzter

0,3 Ofo

0,7 Ofo

1,2 Ofo

18. im Zusammenhang mit Privat-Kfz

0,3 Ofo

0,2 Ofo

0,5 Ofo

19. im Zusammenhang mit Meldungen

0,2 0/0

0,3 Ofo

0,7 Ofo

20. gegen Rauschmittelverbot bzw. Betäubungsmittelgesetz

0,2 Ofo

0,10f0

O,I0f0

21. durch Vergehen im Rahmen des StGB oder sonstiger Gesetze

0,2 Ofo

0,4 Ofo

1,3 0/0

22. gegen die staatsbürgerlichen Pflichten

0,1 °'0

0,0 Ofo

O,I0f0

23. im Zusammenhang mit Luft-, Wasserund sonstigen Fahrzeugen

0,1 0/ 0

0,2 8/ 0

0,3 Ofo

24. gegen Ehe und Sittlichkeit

0,0 °/0

0,0 °/0

0,1 Ofo

25. gegen die Pflicht zur Verschwiegenheit

0,0 Ofo

0,0 Ofo

0,1 Ofo

Die Auswertung der aus Tabelle 3 ersichtlichen 25 Arten verschiedener Dienstvergehen ergibt die acht häufigsten Gruppenll1 militärischer Pflichtverletzungen: Mit großem Abstand steht - bei steigender Tendenz - die "Dienstentziehung"32 mit einem Anteil von 56,1 Ufo (53,9 Ufo I 46,9 Ufo) an der Spitze militärischer Pflichtverletzungen. Dabei sind die Unfähigkeit, den Dienst auszuüben und die Nichtteilnahme am Dienst bei Verlassen der Kaserne um mehr als zwei Stunden die am meisten begangenen Dienstvergehen. Es folgen die Dienstvergehen durch Nichtbefolgen von Befehlen, Ungehorsam und Gehorsamsverweigerung (9,6 Ufo /10,6 °/0/13,3 Ufo). Die Dienstvergehen gegen allgemeine Verbote (9,5 Ufo 18,5 °/0 16,4 Ufo) schlüsseln sich zu 91,1 Ufo (89,6 % 184 0/0) als Verstöße gegen das Alkoholverbot aufM. Die Dienstvergehen im Wachdienst (5,6 Ufo 15,4 Ufo 15,2 Ufo) bestehen zu 33,0 Ufo (31,4 °llt 135,6 Ufo) aus dem unbefugten Verlassen der Wache; die 31 Vgl. Jahresberichte über Disziplinarmaßnahmen 1975, S.22; 1974, S.20; 1973, S.28. 32 Hier als Sammelbegriff zu verstehen für: Unfähigkeit, den Dienst auszuüben, Nichtteilnahme am Dienst bei Verlassen der Kaserne über 2 Stunden, Urlaubsüberschreitungen, Eigenmächtige Abwesenheit von 3 Tagen bis unter 7 Tagen. 33 Siehe fußnote 3l.

42

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

Verstöße im Ordnungs- und Bereitschaftsdienst mit 3,4 o/f) (3,8 % / 4,5 %) bestehen zu 33,9 % (35,1 % / 32,3 Ofo) im Nichtantritt des Dienstes bzw. im Verlassen des Dienstbereiches33. Leicht rückläufig sind die Dienstvergehen gegen die Kameradschaftspflicht (2,3 Ofo / 2,7 Ofo / 3,2 Ofo), Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit Dienstkraftfahrzeugen (2,2 Ofo / 2,5 o/f} / 3,1 Ofo) sowie Dienstvergehen gegen Vorgesetzte (1,8 Ofo / 2,3 Ofo / 2,6 Ofo). Aus Tabelle 4 ist ersichtlich, wie sich die 25 Arten von Dienstvergehen aus disziplinarer und kriminologischer Sicht in ihre spezifischen Unterarten aufteilen34 • Die jeweilige Art der schon oben in 25 Gruppen aufgeteilten Dienstvergehen ist kursiv gesetzt; darunter folgen die Unterarten und die Anzahl der häufigsten Dienstvergehen pro Art, wodurch die "militärspezfischen" Pflichtverletzungen nebst ihrer steigenden und fallenden Tendenz sichtbar werden sollen. Tabelle 4

1975 Anzahl

1974 Anzahl

1973 Anzahl

41170

44836

40247

4878 4015

4240 4470

3324 3791

3683

4321

3615

7061 2. durch Nichtbefolgen von Befehlen a) im Zusammenhang mit Krankmeldungen 621 beim Aufstehen/Wecken 241 b) im Rahmen "erzieherischer Maßnahmen"

8824

11438

545 710

1337 1155

3. gegen allgemeine Verbote a) Alkoholverbot b) Rauchverbot c) unberechtigter Empfang von Besuchern/ Betreten oder Verlassendes Kasernenbereiches auf verbotenem Wege

7030 6403 330

7059 6325 310

5 528 4645 218

151

156

218

4. im Wachdienst a) Verlassen der Wache b) Nichtantritt des Dienstes/ Schlafen während des Dienstes/ Unpünktlichkeit

4083 1348

4471 1405

4505 1603

865

888

927

2467 5. im Ordnungs- und Bereitschaftsdienst a) Nichtantritt des Dienstes/Unpünktlichkeit 837 b) Verlassen des Dienstbereichs 707

3147 1105 1290

3848 1137 1243

1591

1675

Dienstvergehen (Arten und Unterarten) 1. durch "Dienstentziehung"

a) Eigenmächtige Abwesenheit von 3 bis unter 7 Tagen b) Unfähigkeit, den Dienst auszuüben c) Nichtteilnahme am Dienst bei Verlassen der Kaserne über 2 Stunden

6. im Zusammenhang mit sonstigem

Wehrgerät, Ausrüstung und Bekleidung

34

Hier liegen nur absolute Zahlen vor.

1955

43

1. Die Schwerpunkte militärischer Delinquenz Fortsetzung Tabelle 4

Dienstvergehen (Arten und Unterarten) a) Verlust von U-Gerät, Bekleidung, Ausrüstung oder Sonstiges b) Beschädigung oder Zerstörung von U-Gerät, Bekleidung und Ausrüstung c) Beschädigung oder Zerstörung von sonstigem Wehnnaterial

1975 Anzahl

1974 Anzahl

1973 Anzahl

816

515

405

620

651

511

316

200

357

7. gegen die Kameradschaftspjlicht 1719 a) Kameradendiebstahl 468 b) Ungebührliches Verhalten 366 c) Duldung von Dienstvergehen! Randalieren!Störung der Nachtruhe 306 8. im Zusammenhang mit Dienst-Kfz 1611 a) Fahren ohne Führerschein! Vernachlässigung der Kontrolle und Pflege 372 b) unerlaubte Benutzung 362 c) Fahren ohne EinweiserIBeifahrer 320

2238 475 583

2737 506 509

421 2099

641 2669

326 447 365

288 667 269

1306

1909

2213

246 242

326 311

267 467

220

500

617

1146

1345

1336

531 248

258 226

192 200

806

901

1220

465 90

477 131

621 219

85

116

105

630 454

40

1072 365 81

1795 1068 217

438 405

492 390

410 219

25 271

40 365

68 589

95

69

88

77

55

77

9. gegen Vorgesetzte a) Tätlicher Angriff gegen Vorgesetzte! Beleidigung von Vorgesetzten b) Bedrohung eines Vorgesetzten c) Ungebührliches Betragen gegenüber Unteroffizieren ohne Portepee 10. durch Diebstahl von Bundeswehreigentum oder Unterschlagung

a) Diebstahl von Betriebsstoff! von Ausrüstung!Bundeswehreigentum b) Diebstahl von Munition

11. im Zusammenhang mit Waffen und Munition

a) unvorschriftsmäßige Aufbewahrung, Lagerung, Bewachung b) leichtfertige Handhabung c) Vernachlässigung der Pflege! Verlust von Waffen und Munition

12. durch disziplinloses Verhalten! Störung des Dienstbetriebes

a) bei sonstigem Dienst b) im Unterricht

13. im Zusammenhang mit Verschlußsachen, Dokumenten, Ausweisen

a) Verlust des Truppenausweises b) Nachlässigkeit bei der Aufbewahrung oder Verlust von Verschlußsachen

]4. durch Täuschung und Betrug a) mit Urkundenfälschung bei dienstlichen Schreiben und Dokumenten b) falsche Angaben bei Vernehmungen! im Zusammenhang mit Urlaub! Urlaubskarte!Urlaubsschein

44

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr Fortsetzung Tabelle 4

1975 Anzahl

1974 Anzahl

1973 Anzahl

284 196

738 516

1325 632

27

81

237

277 a) gege~ die Pflicht zur Sauberkeit 165 im Innendienst b) Nichtbefolgen von ärztlichen Anordnungen 57 25 c) gegen die Pflicht zur Gesunderhaltung

460

666

240 100 70

326 139 133

228 132

580 326

1002 516

48

93

129

207 18. im Zusammenhang mit PTivat-Kfz a) Verstöße gegen militärische Bestimmungen 150 25 b) Erhöhte Geschwindigkeit 15 c) Unerlaubte Benutz).1ng von Privat-Kfz

177 135 15 10

415 221 63 31

19. im Zusammenhang mit Meldungen a) Unwahre dienstliche Erklärung b) Unterlassung von Meldungen c) Falschmeldungen

134 86 36 12

239 55 153 31

623 70 355 187

20. gegen Rauschmittelverbot a) z. B. Opiate, Haschisch, LSD b) im Rahmen des Betäubungsmittelgesetzes

166 166 0

115 115 0

55 54 1

37 11

29 23

55 33

11

6

8

77

123

246

56

10

45 21

60 35

24 8 5

34 10 0

46

1 1 0

1 1 0

17 12 2

160 149

341 308

1091 1033

11

12

11

Dienstvergehen (Arten und Unterarten) 15. durch Schädigung des Ansehens der Bundeswehr

a) Tragen unvorschriftsmäßiger Kleidung b) Ungebührliches Betragen gegenüber Zivilpersonen

16. gegen die Pflicht zur Erhaltung der

Gesundheit und zu Sauberkeit und Ordnung

17. gegen die Pflichten als VorgesetzteT a) mangelnde Dienstaufsicht b) Mißbrauch der Befehlsbefugnis! entwürdigende Behandlung

21. gegen die staats bürgeT lichen Pflichten a) Politische Betätigung im Dienst b) Politische Betätigung in Uniform außer Dienst 22. im Zusammenhang mit Luft-,

WasseT- und sonstigen Fahrzeugen

a) Fahren ohne EinweiserlBeifahrer; Vernachlässigung der Kontrolle/Pflege b) Unerlaubte Benutzung

23. gegen Ehe und Sittlichkeit a) Unzucht zwischen Männern b) Ehebruch 24. gegen die Pflicht zUTVerschwiegenheit a) Verletzung von Dienstgeheimnissen b) Straftat gegen Staat und Verfassung 25. dUTch alle übTigen VeTgehenim Rahmen des StGB oder sonstigeT Gesetze a) Fahrlässige Gefährdung b) Vorsätzliche Gefährdung! Straftaten im Amte

11

9

I. Die Schwe:rpunkte militärische:r Delinquenz

45

Die Auswertung der Tabelle 4 zeigt, daß erst eine Aufschlüsselung der verschiedenen Arten von Dienstvergehen nach militärspezifischen Unterarten die Erscheinungsformen "wehrdiensteigentümlicher" und "systembedingter" Prädelinquenz vollends aufzeigt. Die Abgrenzung und Ausscheidung einer "spezifischen" militärischen· Delinquenz ist natürlich nicht unproblematisch. Denn viele der aufgeschlüsselten Pflichtverletzungen der Soldaten sind ebenso im zivilen Arbeits- und Lebensbereich vorzufinden oder denkbar, auch wenn sie dort in aller Regel nicht sanktioniert sind. Aber insbesondere die geahndeten Verstöße gegen die Kameradschaftspflicht, gegenüber Vorgesetzten, die Verletzung von Dienstgeheimnissen, die Nichtbeachtung des Verbots politischer Betätigung im und außer Dienst, das Tragen unvorschriftsmäßiger Kleidung, die Mißachtung der Pflicht zur Gesunderhaltung, Verstöße gegen allgemeine Verbote wie Alkohol- und Rauchverbote sowie unberechtigter Empfang von Besuchern, das Unterlassen von Meldungen sowie Falschmeldungen, der Verlust des Truppenausweises, Dienstvergehen im Zusammenhang mit Waffen und Munition, im Zusammenhang mit sonstigem Wehrgerät, Ausrüstung und Bekleidung, im Zusammenhang mit Dienstkraftfahrzeugen, die Diebstähle von Betriebsstoff, Munition und Ausrüstung, vor allem aber die Pflichtverletzungen durch "Dienstentziehung" in ihren drei häufigsten Unterarten zeigen eine militärspezijische PräkriminaZität, die - zusammen mit den "klassischen" militärischen Straftaten nach dem. Wehrstrafgesetz - die eingangs aufgestellte These erhärten, daß der Wehrdienst neben den "normalen" Erscheinungsformen des zivilen Verbrechens eine eigene, von der zivilen Kriminalität abweichende Delinquenz hat, daß im militärischen Rahmen mit einer neuen, d. h. systembedingten und besonderen, d. h. wehrdiensteigentümlichen Delinquenz gerechnet werden muß, deren Ursachen und Bedingungen "situationsspezifisch" sind und die quantitativ überwiegend im Bereich der Prädelinquenz anzutreffen ist. Um letztere Erkenntnis nochmals an einem Beispiel klarzumachen: Der Soldat begeht durch den schuldhaften Verlust des Truppenausweises ein Dienstvergehen; verliert dagegen der "Zivilist" seinen Personalausweis, ist mit einer Neuaustellung dieses Dokumentes seine Unachtsamkeit bereits korrigiert. Kriminologisch sind aber primär nicht nur diejenigen Soldaten von Interesse, die trotz situativer Fehlleistung sozial integriert bleiben, sondern jene, bei welchen sich Schwerpunkte eines antizyklischen Verhaltens in Form der Fehlanpassung und "sozialen Anbrüchigkeit" zeigen. In den Streitkräften sind dies die "Truppenflüchter", also alle Soldaten, die nach dem Oberbegriff "Dienstentziehung" auffällig geworden sind. Hier sind die strafbaren Fälle von "Eigenmächtiger Abwesenheit" (§ 15 WStG) und "Fahnenflucht" (§ 16 WStG) , die jährlich

46

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

über 90 % aller Straftaten nach dem WStG darstellen35, für die Streitkräfte und im Hinblick auf die Bedeutung sozialer Faktoren für die militärische Delinquenz von derart immenser Bedeutung, daß diesem Sektor "systembedingten Verbrechens" ein eigener - vierter - Teil gewidmet wird36• In der Gesamtschau der hier aufgezeigten Kriminalität und Präkriminalität zusammen mit den kriminogenen Faktoren des Wehrdienstes wird die These von der "wehrdiensteigentÜffilichen" und "systembedingten" Delinquenz in Teilbereichen der Armee sodann vollends abgesichert werden.

11. Militärische Täterbeschreibung I. Alter

Die Altersgruppierung der nach StGB und WStG verurteilten Soldaten zeigt in den Vergleichsjahren - entsprechend dem Altersaufbau einer Armee37 - naturgemäß einen besonders kriminalitätsanfälligen Schwerpunkt bei den 18 - 25jährigen Delinquenten. 51,2 % (49,5 Ofo / 49,60/0) der Verurteilten waren 18 - 21 Jahre alt und 39,3 Ofo (41,6 Ofo / 44,9 0/0) waren 21 - 25 Jahre alt38. Nahezu die gleiche Altersschichtung ist auch bei den wegen Dienstvergehen geahndeten Soldaten festzustellen39 : Die Altersgruppe der 21 - 25jährigen weist im Jahre 1973 mit 47,5 Ofo (Vorjahr: 47,4 Ofo) den größten Anteil auf; bei der Gruppe der Soldaten unter 21 Jahren beträgt der - um 1,3 % rückläufige - Anteil 46,4 0f040. Diese Zahlen verdeutlichen die im 1. Teil dargelegte Tatsache einer massierten Anhäufung von Personen aus kriminalitätsanfälligen Jahrgängen in den Streitkräften. Darüber hinaus, d. h. zur Delinquenz der 18 - 25jährigen Soldaten, wird teilweise die von Kriminologen ausgesprochene Annahme erhärtet, daß alle Personen männlichen Geschlechts im Verlauf ihrer jugendlichen Altersphase (einmal) delinquieren41 • Noch 35 Nach Auswertung der geschäftsinternen Straftatenstatistik des BMVg, bezogen auf die Gesamtzahl aller abgeurteilten militärischen Straftaten. 36 Siehe S. 192 ff. 37 Die Personalberichte des BMVg zur Alters- und Dienstgradstruktur weisen keine "Alterspyramide" der Bundeswehr aus; vgl. jedoch die diesbezüglichen Zahlen im 1. Teil, S. 31 f. 38 Geschäftsinterne Straftatenstatistik des BMVg. 39 Hier liegen nur die Zahlen der Jahre 1973 und 1972 aus dem Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973 vor; leider unterbleibt in den folgenden einschlägigen Jahresberichten eine generelle Aufschlüsselung nach Altersgruppen (sowie nach Laufbahngruppen und Mehrfachahndungen!). 40 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.13. 41 Vgl. Kaiser, S. 149 f.

H. Militärische Täterbeschreibung

47

wartet die Bundeswehr auf eine umfassende kriminologische Analyse der Jugendkriminalität in den Streitkräften, die die Vielschichtigkeit spezifisch jugendkriminologischer Erscheinungen aufdeckt; erste Ansätze dazu sind - allerdings nur beiläufig - gemacht42 • Der schnelle Wandel in den Erklärungsansätzen für derartige - empirische und nicht empirische - Arbeiten, von der jeweils unterschiedlich gedachten "Anpassung", "Identifikation", "Gelegenheit", "Stigmatisierung" bis hin zur "differentiellen Sozialisation"43 sollte vor einer derartigen Arbeit44 nicht zurückschrecken lassen. 2. Laufbahngruppe

Auch die Verteilung der gerichtlichen Strafverfahren auf die dem hierarchischen Aufbau einer Armee entsprechenden drei Laufbahngruppen ist in den Vergleichsjahren nahezu konstant: Etwa 2 °/0 aller verurteilten Soldaten sind Offiziere, rund 16 °/0 Unteroffiziere und rund 82 °/0 Mannschaften45 . Kriminologisch relevanter ist eine derartige Aufschlüsselung gemessen an den jeweiligen Personalstärken der drei Laufbahngruppen, um ablesen zu können, wie groß der Anteil der Straftäter pro hierarchischer Klassifizierung ist. Auch hier sind die Zahlen seit 1971 fast konstant; für die Vergleichsjahre 1975 (1974 11973) ergaben sich folgende Prozentwerte: 0,48 °/0 (0,5 °/0 I 0,5 °/0) verurteilte Offiziere, 2,16 Ufo (2,2 Ufo I 2,2 Ufo) verurteilte Unteroffiziere und 4,25 Ufo (4,6 Ufo I 4,7 Ufo) verurteilte Mannschaften. Hiermit wird also nochmals die anfangs genannte extrem niedrige Verurteiltenziffer von unter 4 °/0 aller Soldaten der Bundeswehr im einzelnen belegt neben der Erkenntnis, daß lediglich unter 5 °/0 Soldaten der Laufbahngruppe der Mannschaften, in denen sich die ob ihres Alters und ihrer gesetzlichen Pflicht zur Dienstleistung besonders kriminalitätsanfälligen Soldaten befinden, strafbares kriminelles Verhalten zeigten. Auch die Kriminalitätsrate bei den Unteroffizieren mit weit unter 3 010 und bei den Offizieren mit unter 1 Ufo pro jeweiliger Laufbahngruppe zeigt, daß die Streitkräfte eine positiv beeindruckende Kriminalitätsrate aufweisen, von der man fast geneigt ist zu sagen, sie sei durchaus "normal", in der Bundeswehr sei "die Welt noch in Ordnung". B. bei Kuhnen, S. 128 ff. Vgl. Kaiser, S. 151. Vgl. als Basis dazu: Glueck, S. u. E., "UnravelingJuvenile Delinquency"

42 Z. 43 44

(1950).

45 Geschäftsinterne Straftatenstatistik des BMVg für die Jahre 1973 - 1975.

48

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

Einschränkend ist jedoch anzumerken, daß sich aus diesen Zahlen nicht ablesen läßt, in welcher Weise die Kontrollorgane, d. h. militärische Vorgesetzte und Gerichte, die den Auffälligen zur Last gelegten Tatbestände ausgelegt, in welcher Art sie Beweise gewürdigt und Sachverhalte ermittelt haben. Gerade im hierarchischen System einer Armee könnte es Konstellationen geben, die verhindern, daß Mitglieder bestimmter Gruppen weniger stark kontrolliert und damit weniger auffällig werden (z. B. sind Offiziere aufgrund ihres höheren militärischen und sozialen Status per se geringeren Kontrollzwängen unterworfen als die beiden übrigen Laufbahngruppen)48. Fast Gleiches gilt auch für den Bereich der Präkriminalität, ablesbar an der Zahl der geahndeten Dienstvergehen pro Laufbahngruppe: Die Aufschlüsselung zeigt hier bei den Offizieren für die Jahre 1973 und 1972 einen Anteil von 1,0 Ofo (1,0 Ofo), bei den Unteroffizieren einen Anteil von 6,10f0 (6,3 Ofo) und bei den Mannschaften einen Anteil von 17,5 Ofo (19,5 %)47. Von den betroffenen Soldaten wurden in den beiden Berichtsjahren insgesamt gegen 23,9 Ofo (28,3 Ofo) mehrmals Disziplinarmaßnahmen verhängt: So wurden in den Berichtsjahren einmal 76,1 % (71,7 Ofo), zweimal 15,3 Ofo (17,0 %), dreimal 5,3 Ofo (6,4 Ofo), viermal und mehr 3,2 % (4,9 Ofo) dieser Soldaten diszipliriar belangt48. Interessant ist die Zahl der verhängten Disziplinarmaßnahmen bei den Mannschaftsdienstgraden: Daß diese Laufbahngruppe, überwiegend in der ständigen Rolle der unterprivilegierten Untergebenen, im Bereich der Prädelinquenz gelegentlich öfter "über die Stränge schlägt" und mehr Fehlverhalten zeigt als die beiden anderen Laufbahngruppen mit einem weitaus größeren persönlichen und dienstlichen Freiheitsraum im autoritär-strukturierten Großgebilde "Armee" leuchtet zunächst ohne empirischen weiteren Nachweis ein. Allerdings muß in diesem Teilbereich der militärischen Prädelinquenz erst recht die Frage nach der unterschiedlichen disziplinaren Sozialkontrolle zumindest gestellt werden (auch wenn sie hier nicht beantwortet werden kann): Inwieweit also für diesen Objektbereich die sozialen Konsequenzen von Selektion und Reaktion sich im vorzufindenden statistischen Zahlenmaterial widerspiegeln. 4G Siehe dazu die im 1. Teil skizzierte Verbrechenskontrolle unter Berücksichtigung des labeling oder social reaction approach. 47 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.12 mit den Zahlen des Vorjahres. Auch hier liegen nur die Zahlen der Jahre 1973 und 1972 vor. 48 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.17 mit den Zahlen des Vorjahres. Auch diese Aufschlüsselung ist in den Jahresberichten über Disziplinarmaßnahmen ab 1974 weggefallen.

H. Militärische Täterbeschreibung

49

Erfreulich ist auch hier der Umstand, der sich aus der Anzahl der geahndeten Dienstvergehen bezüglich der Mannschaftsdienstgrade ablesen läßt: Höchstens ein Fünftel des Personalbestandes der Mannschaften, also der militärisch unverzichtbaren personellen Basis, zeigt delinquente Verhaltensweisen (wobei die Dienstvergehenstatistiken die Mehrfachtäter der jeweiligen Laufbahngruppen nicht einmal gesondert ausweisen!); der weitaus größere Anteil der "gemeinen Soldaten" verhält sich also wehrdienstkonform, d. h. normgerecht. 3. Teilstreitkraft

Die kriminologische Beurteilung der Unterscheidung militärischer Kriminalität nach den verschiedenen Teilstreitkräften erfordert eine genaue Kenntnis der beim Heer, bei der Luftwaffe 49 und bei der Marine bestehenden besonderen Verhältnisse50, sofern diese aufgrund des taktisch unterschiedlichen Kampfauftrages oder beispielsweise wegen der räumlich engen Verhältnisse in den jeweiligen Waffensystemen51 den Soldaten - bereits im Frieden - in besondere Situationen stellen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Es könnte vermutet werden, daß auch der unterschiedliche Technisierungs- bzw. Automatisierungsgrad der einzelnen Teilstreitkräfte eine kriminovalente Rolle spielt. Empirische Untersuchungen liegen dazu nicht vor. Aus dem vorhandenen statistischen Zahlenmaterial zur Aufschlüsselung der Verteilung der gerichtlichen Strafverfahren auf den Organisationsbereich läßt sich für die Vergleichsjahre lediglich ablesen, daß die Teilstreitkraft Luftwaffe mit weit unter 3 010 die geringere, die Teilstreitkräfte sowohl des Heeres als auch der Marine mit jeweils knapp 4 Ofo die höhere Kriminalitätsrate aufweisen, bezogen auf ihre jeweilige Teilstreitkraft-Personalstärke52 • Zahlen der geahndeten Dienstvergehen, unterteilt nach Zugehörigkeit der betroffenen Soldaten zu den verschiedenen Organisationsbereichen liegen nur für die Berichtsjahre 1972 und 1973 in absoluten Zahlen und ohne Bezugszahlen zur damaligen jeweiligen Teilstreitkraftstärke vor. Gemessen an den einschlägigen Zahlen zur jeweiligen Personalstärke pro Teilstreitkraft läßt sich dennoch stark vergröbernd anhand des vorliegenden Zahlenmaterials mit aller Vorsicht ablesen, daß hier der 49 Vgl. Z. B. die wehrpsychologische Studie von Gerathewohl, S. J., "Die Psychologie des Menschen im Flugzeug" (1954). 50 Ausgeklammert wird hier der Organisationsbereich des ministeriellen Dienstes und der zentralen militärischen Dienststellen der Bundeswehr. 51 z. B. auf einem Flugkörper-Zerstörer der Bundesmarine von insgesamt 134 m Länge und 14,3 m Breite leben auf engstem Raum immerhin 338 Soldaten aller Dienstgrade. 5! Errechnet aus den geschäftsinternen Straftatenstatistiken des BMVg.

4 Fiedler

50

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

größte Anteil der Prädelinquenz in der - auch zahlenmäßig größten Teilstreitkraft HeerM vorzufinden ist, gefolgt etwa gleichrangig von der Luftwaffe und der Marine. Der Umstand, daß die beiden letztgenannten technisch aufwendigeren Teilstreitkräfte sich bei der Auswahl ihrer Soldaten insbesondere mehr der freiwilligen - und in aller Regel besser geschulten - Bewerber bedienen, mag u. a. ein möglicher Erklärungsansatz für diese Verteilung militärischer Delinquenz sein. Wehrsoziologen haben zur Frage der beruflichen Qualifikation und des beruflichen Status herausgefunden, daß es hier Unterschiede zwischen den Wehrpflichtigen des Heeres, der Luftwaffe und der Marine gibt". So fällt z. B. auf, daß unter den Wehrpflichtigen des Heeres anteilig mehr Arbeiter vertreten sind als unter den Jugendlichen der Luftwaffe oder der Marine. Die Marine zeichnet sich wiederum durch ein Plus an Facharbeitern und Handwerkern aus. Schließlich sind unter den Wehrpflichtigen der Luftwaffe überproportional häufig Angestellte zu finden. Danach ist zu vermuten, daß die Teilstreitkräfte bei der Zuteilung der Wehrpflichtigen bestimmte Präferenzen geltend machen. In der Praxis dürfte dies vor allem für Luftwaffe und Marine zutreffen. Die Marine rekrutiert offensichtlich verstärkt die qualifizierten Fachkräfte unter den Wehrpflichtigen. Hingegen scheint die Luftwaffe insbesodere die technisch-organisatorisch begabte Intelligenz heranzuziehen. Jedoch bleibt nach wie vor offen, inwieweit sich in dieser Frage die Selektion durch die Teilstreitkraft und die Eigensteuerung der Wehrpflichtigen ergänzen. Anzunehmen ist, daß beide Elemente zu einer unterschiedlichen Qualifikationsstruktur führen. Es bleibt Aufgabe der Wehrpsychologie, die eventuellen Unterschiedlichkeiten in der kriminogenen, d. h. sowohl kriminalitätsfördernden als auch -hemmenden Wirkung des Dienstes in den jeweiligen Teilstreitkräften empirisch nachzuweisen. 4. "Typiseher" Titer?

Seit die Kriminologie wissenschaftlich betrieben wird, war man bestrebt, "den Kriminellen" in Kategorien, Klassen oder Typen zu erfassen. Gemeinsame Merkmale sollten gefunden werden und mit ihnen die Erscheinungsformen des Verbrechens. So bemühen sich die Kriminologen seit jeher nachzuweisen, worin das "Mehr", das speziell Kriminelle besteht, um einen "Verbrecher", einen "typischen" Täter beschreiben zu könnenli5 • Es ist aber kriminologisch wenig ergiebig, normative Typen aufzustellen, von "Hangtätern" oder Gewohnheits- und 58

Die Personalstärke der einzelnen Teilstreitkräfte betrug beispielsweise

im September 1973 für das Heer rund 67 %, für die Luftwaffe rund 28 %, die Marine 8 % Soldaten und für den Organisationsbereich des ministerialen

Dienstes und der zentralen militärischen Dienststellen rund 3 Ofo Zivilisten; errechnet aus der Statistik zum Personalbestand der Streitkräfte, siehe Weißbuch 1973/1974, Nr.133 (S. 105). 54 Warnke / Mosmann (1). S.27. 55 Vgl. statt vieler Mergen. S. 378 ff. mit zahlreichen Nachweisen zumeist anthropologisch ausgerichteter Forscher.

II. Militärische Täterbeschreibung

51

Zustandsverbrechern zu sprechen, wenn man sie an gesetzten Normen zu messen beabsichtigt. Jede Typologie ist bedenklich, weil sie statisch ist. Der Verbrecher ist jedoch nicht ein starrer Typus, sondern er ist durch einen komplizierten Prozeß hindurch delinquent geworden und bleibt wandlungsfähig. Typologisierungen sind erstarrte Diagnosen; sie legen auf Dauer fest und sind deshalb sehr bedenklich, wenn nicht sogar falsch. Wenn dennoch ein hier und jetzt feststellbarer Zustand im Rahmen einer militärischen Täterbeschreibung versucht wird, so soll damit noch keine Typisierung vorgenommen werden. Die phänomenologische Beschreibung des militärischen Verbrechers erschöpft sich hier in der Beschreibung der Erscheinungsformen seiner statistisch signifikanten Delinquenz; ist also zunächst keine Täter-, sondern Tattypologie. Das begangene "Verbrechen" ist lediglich als feststellbares Symptom des realen abweichenden Verhaltens zu werten. In diesem eingeschränkten Sinne gibt es dennoch einen "Typ" von Soldaten, der statistisch signifikant kriminell stärker in Erscheinung tritt, der leichter und öfter delinquiert als seine Kameraden - sporadisch oder dauernd, einmal oder mehrmals - und den Versuch einer Objektivierung gestattet. Es ist dies - pauschalierend gesagt - "der Untergebene" in den Streitkräften, ohne daß damit gesagt wäre, daß alle Untergebenen delinquieren und daß der statistische Unterschied zwischen den Laufbahngruppen im Hinblick auf die möglicherweise unterschiedliche Sozialkontrolle abgesichert wäre. Dieser Personenkreis könnte nach Seeligs kriminologischen Haupttypen68 teils als "Krisenverbrecher", teils als "Verbrecher aus Mangel an Gemeinschaftsdisziplin" beschrieben werden. Denn zuvorderst der Untergebene reagiert auf die straffe militärische Disziplin wie ein Delinquent aus innerer oder äußerer Notlage oder neurotischer Spannung - dies wird am Beispiel der Abwesenheitsdelikte später67 exemplarisch aufgezeigt werden - oder er reagiert wie ein Delinquent aus Mangel an Gemeinschaftssinn, vergleichbar den Verkehrssündern, den statistisch meisten fahrlässigen Delinquenten, aber auch den Übertretern von Spezialvorschriften. Dieser "Untergebene" in den Streitkräften ist in erheblichem Ausmaß naturgemäß der ohne sein Zutun aufgrund gesetzlicher Pflicht in ein hierarchisches Verhältnis zwangsweise eingebundene und wohl am stärksten kontrollierte junge Soldat, also der Wehrpflichtige. Er stellt nicht nur den personell größten Anteil in der Armee58, sondern tritt auch Seelig, 5.68. Im 4. Teil, S. 192 fi. 18 In den Vergleichsjahren durchschnittlich 50 %, vgl. Weißbuch 1973/1974 Nr. 132 (5. 103). 18

. '

17

52

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

im statistischen Delinquenzbild stärker als "der Vorgesetzte", d. h. in der Regel der Zeit- und Berufssoldat in Erscheinung. Ein weiterer Blick auf das statistische Kriminalitätsbild der Vergleichsjahre zeigt nämlich, daß etwa 60 % aller nach dem WStG und StGB verurteilten Soldaten im Dienstverhältnis eines Wehrpflichtigen standen59 • Noch umfangreicher ist der Anteil der Wehrpflichtigen an der Prädelinquenz aller Soldaten im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Personalstärke, wie er sich in den Zahlen der geahndeten Dienstvergehen widerspiegelt8o : Aufgliederung nach Dienstverhältnis Berufssoldaten Soldaten auf Zeit Wehrpflichtige Wehrübende

19721 °/0

1973/'1, 0,8 °/0 32,8 °/0 65,2 Ufo

0,8 0/0

32,6 Ufo 65,8 Ufo

1,1 Ufo

0,8 Ufo

Etwa zwei Drittel aller geahndeten Dienstvergehen wurde also von Wehrpflichtigen begangen. Die zweithöchste Zahl der Dienstvergehen bei den Zeitsoldaten, die ebenfalls überwiegend als "verkappte Wehrpflichtige" ihre 15monatige Wehrpflicht (als Soldaten auf Zeit mit zumeist zweijähriger Dienstzeit ohne wesentlich größeren Möglichkeiten des Kontrollentzuges) in den Streitkräften ableisten, wird später61 näher kritisch untersucht und ausgewertet werden. Wissenschaftlich absichern läßt sich die Täterthese im Hinblick auf die Delinquenzhäufigkeit der Wehrpflichtigen letztlich durch die Errechnung der Kriminalitätsziffern aufgrund der Verurteilungen der Soldaten, unterschieden nach deren Dienstverhältnis in Relation zur Gesamtpersonalstärke der Bundeswehr bezüglich ihrer zivilen und militärischen Straftaten. Dabei zeigt sich in aller Deutlichkeit der Schwerpunkt der Kriminalität bei den wehrpflichtigen Soldaten: Kriminalitätszifferna) Aufgliederung nach Dienstverhältnis Berufssoldaten

1975 gesamt WStG 7,2

0,1

1974 StGBb) gesamt I WStG 7,1

, 7,2 ! I

StGBb)

0,1

7,1

Soldaten auf Zeit

128,5

13,6

114,9

130,9

16,4

114,5

Wehrpflichtige

193,1

82,5

110,6

214,9 I 98,0

116,9

! !

a) d. h. Verurteilungen bezogen auf je 10 000 Soldaten der Gesamtpersonalstärke der Bundeswehr. - b) und Nebengesetze. 511 Dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg. Die zweitgrößte Gruppe ist mit rund 37 Ufo die der Soldaten auf Zeit. 80 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.12. Auch hier liegen keine Zahlen für die weiteren Berichtsjahre vor.

H. Militärische Täterbeschreibung

53

Mit den Kriminalitätsziffern von 193,1 (214,9) in den beiden Vergleichsjahren, bezogen auf je 10000 Soldaten der Gesamtpersonalstärke der Bundeswehr, liegen die Wehrpflichtigen mit durchschnittlich 60 0/0 an der Spitze der soldatischen Kriminalität, wobei auch sie es sind, bei denen die zahlenmäßig häufigsten Verstöße gegen das WStG zu verzeichnen sind. Die zweitgrößte Gruppe der Soldaten auf Zeit mit durchschnittlich 37 % widerspricht der Täterthese vom "Untergebenen" nicht, weil sich auch in dieser Gruppe noch relativ viele Befehlsempfänger und -ausführende, nicht etwa nur "Vorgesetzte" befinden; auch sie gehören noch zu den am meisten Kontrollierten. Es ist aufgrund des vorliegenden Zahlenmaterials zur Kriminalität und Präkriminalität aller Soldaten nun nicht erlaubt, den "Untergebenen" und damit den Wehrpflichtigen generell als "typischen" Täter für die Delinquenz in den Streitkräften abzustempeln; wohl aber lassen die relativ höheren Kriminalitätsziffern der Wehrpflichtigen bei WStG und StGB den Rückschluß zu, daß mehr kriminovalente Faktoren und mehr Sozialkontrolle? - auf sie einwirken als auf den Vorgesetzten. Es erscheint daher gerechtfertigt, den Wehrpflichtigen als besonders gefährdeten "Typ" im Rahmen des hierarchischen Aufbaues einer Armee mit ihrem umfassenden Pflicht- und Normenkatalog, der insbesondere auch zum "systembedingten" Verbrechen herausfordert, zu bezeichnen. Es scheint, daß die Gesellschaft durch die im Interesse der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte erforderliche Kriminalisierung in Form des WStG einen Tätertyp zum Vorschein bringt, der - mit latenter Delinquenzbereitschaft - erst durch den Wehrdienst kriminell wird, jedoch ohne diesen Dienst in der Armee möglicherweise strafrechtlich unauffällig geblieben wäre. Nimmt man den Umstand hinzu, daß die Mehrzahl der wehrpflichtigen Soldaten entweder Facharbeiter und Handwerker (43 Ofo), Arbeiter (210f0) und Angestellte (24 0/ 0) sind 62 und sieht man einen - bisher kaum geklärten - kriminologischen Zusammenhang zwischen Beruf, Bildungsniveau und sozialer Schichtung63, dann dürfte überspitzt gesagt werden können, daß die Bundeswehr eine "Arbeiter- und AngestelltenArmee" ist, deren "typische" Delinquenten sich statistisch in den "unteren Schichten" finden, zumal in dieser Armee die Gruppe mit der höchsten Schulbildung (Abitur) wegen ihrer hohen Rate der Wehrdienstverweigerung unterrepräsentiert ist64 • Im 3. Teil, S. 71 f. Vgl. Warnke I Mosmann (1), S.27. 83 Sehr kritisch im Hinblick auf die darin liegende Verkürzung des Problems H. Kaufmann, S. 241. 64 Vgl. Fleckenstein, S. 386 f. 81

82

54

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

Die Soziographie des Wehrpflichtigen stellt sich im einzelnen wie folgt dar85 : Die Wehrpflichtigen sind zum Zeitpunkt ihrer Einberufung durchsclmittlich 20 Jahre und einen Monat alt. Sie sind überwiegend ledig. Die Verheiratetenquote liegt immerhin bei 14 °/0. Ein im Jahre 1963 erfaBter Musterungsjahrgang (Durchschnittsalter: 19 Jahre, 6 Monate) bestand z. B. noch zu 99 °/0 aus Ledigen. Zwar wird die Frühehe immer populärer, doch scheint sie in diesen Zahlen auch eine Praxis widerzuspiegeln, die unter den Wehrpflichtigen offensichtlich zunehmende Verbreitung findet: Im Falle der Einberufung vorzeitig zu heiraten, um so über den Unterstützungsanspruch der Ehefrau den nicht gerade üppigen Wehrsold aufzubessern. Die gezogenen Wehrpflichtigen gehören - im Gegensatz zur Relation in der Gesamtbevölkerung - öfter der katholischen (51 0/0) als der evangelischen Glaubensrichtung (45 0/0) an. Die Normalbildung der Wehrpflichtigen ist der Volksschulabschluß (68 %). Unter diesem Niveau bleiben 5 Ofo der Wehrpflichtigen. Ein gutes Viertel (27 °/0) hat demgegenüber eine mittlere bzw. höhere Bildung (mindestens erfolgreicher Besuch der Realschule). Seinem Bildungsstand entsprechend ist das Gros der Wehrpflichtigen nach der Schulzeit in einen Lehrberuf gegangen. Zum Zeitpunkt des Dienstantritts hatten bereits 89 °/0 eine Berufsprüfung abgelegt oder zumindest eine Anlernzeit beendet. Die Gesellenprüfung des Handwerks (44 0/0) ist dabei die weitaus häufigste berufliche Qualifikation. Ins Gewicht fallen ferner die Gehilfenprüfung der Industrie und des Handels mit 24 0/0 und die Facharbeiterprüfung mit 20 0/,. Die Wehrpflichtigen verfügen in der Regel über eine mehrjährige Berufserfahrung. Einschließlich Lehrzeit waren sie vor Eintritt in die Bundeswehr durchschnittlich 4 Jahre und 4 Monate berufstätig. In dieser Zeit hat gut jeder fünfte Wehrpflichtige (22 '/0) seinen Beruf einmal (15 '/0) oder mehrfach (7 %) gewechselt. Naturgemäß ist der Anteil derer, die in diesem Zeitraum den Arbeitsplatz gewechselt haben, noch erheblich größer. So sind insgesamt 40 010 der Wehrpflichtigen bereits mehrere Beschäftigungsverhältnisse eingegangen. Jeder Zehnte hat beim Eintritt in die Bundeswehr sogar vier oder mehr Arbeitsstellen hinter sich. Aus technischen Berufen wie Ingenieure, Techniker und technische Sonderfachkräfte kommen nur 5 Ofo der Wehrpflichtigen. Erheblich zahlreicher sind die Fertigungsberufe vertreten. Metallerzeuger und -bearbeiter stellen mit 28 Ofo die stärkste Berufsgruppe überhaupt, gefolgt von den Elektrikern mit 14 8/0. Schließlich war ein weiteres Viertel der Wehrpflichtigen (26 %) im Dienstleistungsbereich beschäftigt, und zwar im Handel (12 0/0), im Verkehr (4 %) und in Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen (10 Ofo). Nach ihren Angaben hatten die Wehrpflichtigen vor Eintritt in die Bundeswehr durchschnittlich ein Brutto-Monatseinkommen von DM 1 051,-. Da die berufliche Stellung der Wehrpflichtigen in Extremfällen vom Lehrling bis zum Meister reicht, ist natürlich auch die Bandbreite der Gehälter sehr groß. Es gibt Wehrpflichtige, die monatlich weniger als brutto DM 600,verdient haben (50f0) und andere, die DM 2 000,- und mehr erhielten (2 0/0). Wird man den Verdienstangaben auch mit einiger Skepsis begegnen müssen, so zeigt sich doch, an welchen materiellen Dimensionen die Jugendlichen gewöhnt sind. 85

Vgl. Wamke I Mosmann (1), S. 33 f.

IH. Die Tat (Tatumstände, Tatmotivationen)

55

Es ist also erforderlich, die kriminovalenten Faktoren der Armee zu untersuchen, um eventuelle Auswirkungen des Berufs und der sozialen Schichtung unter dem Druck der militärischen Strukturen (vor allem in Form der verstärkten Sozialkontrolle der Wehrpflichtigen) auf die militärische Delinquenz festzustellen. Im Verlauf der Analyse der Faktoren militärischer Delinquenz wird sich dann auch zeigen, daß in der Tat "der Wehrpflichtige" in der fast ausschließlich ständigen Rolle des Untergebenen ein geradezu prädestiniertes Objekt und Subjekt ziviler und militärischer Delinquenzanfälligkeit ist.

m. Die Tat (Tatumstände, Tatmotivationen) 1. Allgemeine Merkmale

a) Für die abgeurteilten Straftaten in den Vergleichsjahren 1973 bis 1975 läßt sich feststellen, daß nur in etwa 6 % aller Fälle die Straftat im Dienst erfolgte6&, das ist besonders bemerkenswert im Hinblick auf die militärischen Straftaten, die damit in ihrer großen Zahl ebenfalls dem Fehlverhalten während der Freizeit zuzuordnen sind. Diese Zahl macht das Problem der dienstfreien Zeit in den Streitkräften besonders deutlich, zugleich die schwierige Position des militärischen Vorgesetzten außerhalb der eigentlichen Dienstzeit. Der Anteil aller unter Alkoholein/luß begangenen Straftaten beträgt rund 35 0/061• Betrachtet man ausschließlich die Straftaten nach dem allgemeinen Strafrecht, ist der Prozentsatz höher (etwa 40 - 45 0/0), bezüglich der Straftaten nach dem WStG ist der Prozentsatz wesentlich geringer (etwa 10 - 15 %)61. Bei den Straftaten nach dem allgemeinen Strafrecht unter Alkoholeinfluß liegen die Straßenverkehrsdelikte mit rund 60 % an der Spitze (§§ 315 a, 315 C, 316 StGB); es folgen mit großem Abstand fahrlässige Körperverletzung (§ 223 StGB) mit etwa 10 Ofo und Vollrausch (§ 330 a StGB) mit etwa 5 Ofo. Die restlichen 25 Ofo verteilen sich auf eine Vielzahl von Delikten, die im einzelnen nicht signifikant hervortreten und mit Ausnahme der Diebstahldelikte (etwa 5 Ofo) unter 10f0 aller alkoholbeeinflußten Delikte liegen. Ein Blick ausschließlich auf die militärischen Straftaten zeigt folgende Verteilung: Etwa die Hälfte der unter Alkoholeinfluß begangenen Straftaten nach dem WStG sind tätliche Angriffe gegen Vorgesetzte (§ 25 WStG), ein 1& &1

Dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg für die Jahre 1973 bis 1975. VgL Stellungnahme, S. 6 f.

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

56

weiteres Viertel sind Gehorsamsverweigerungen (§ 20 WStG) und Bedrohungen von Vorgesetzten (§ 23 WStG); der Rest verteilt sich auf sonstige Insubordinationsdelikte und Abwesenheitsdelikte68 • Obwohl keine Daten zur Verfügung stehen, die geeignet sind, alkoholbeeinflußte Straftaten in den Streitkräften mit dem gleichen Phänomen zu vergleichen, wenn es außerhalb des militärischen Bereichs auftritt (die Bundesstatistik über Straftaten der Gesamtbevölkerung weist alkoholbeeinflußte Delikte nicht besonders aus), läßt sich jedoch aus einem Zahlenvergleich derjenigen Straftaten, die überhaupt erst wegen Alkoholmißbrauchs strafbar sind (z. B. § 316 StGB), schließen, daß das Verhalten der Zivilbevölkerung und der Soldaten aufgrund einer durch Alkohol beeinflußten Normabweichung jedenfalls dann nicht wesentlich unterschiedlich ist, wenn es sich um typisches Freizeitverhalten (z. B. Autofahren) handelt69 • b) Bei den geahndeten Dienstvergehen wurde ermittelt, ob eines der nachstehend aufgeführten sechs geläufigsten "Allgemeinen Merkmale" zutraf. Die relative Häufigkeit dieser kriminologisch relevanten Merkmale - jeweils bezogen auf die Gesamtzahl der Dienstvergehen stellt sich wie folgt dar 70 : Dienstvergehen wurden begangen

1975/ 0/ 0 7,5 0/ 0 0,3 Ofo

- unter Alkoholeinwirkung - in einer Vorgesetzteneigenschaft - kurz nach Androhung, Verhängung oder in anderem Zusammenhang mit einer zu erwartenden Disziplinarmaßnahme oder gerichtl. Strafe 0,2 Ofo - mehrfach (Ahndung für ein oder mehrere mehrfach) begangene Dienstvergehen 3,0 Ofo - in Ausübung einer bestimmten 13,6 Ofo dienstlichen Funktion - im Zusammenhang mit Krankmeldungen, Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten 1,3 Ofo

1974/ 0/ 0

1973/ Ofo

8,8 0/ 0

0,7 %

9,6 Ofo 0,9 Ofo

0,10f0

O,l0f0

3,5 Ofo

3,7 Ofo

13,6 Ofo

11,3 Ofo

1,7 Ofo

4,0 Ofo

Ersichtlich spielt hier die alkoholbeeinflußte Tat eine nicht so bedeutende Rolle (7,5 % /8,8 % / 9,6 OJo), denn in erster Linie sind die Dienstvergehen naturgemäß Pflichtverletzungen in Ausübung einer bestimmten dienstlichen Funktion, also Handlungen oder Unterlassungen "im Dienst", wo für den Soldaten kaum eine Möglichkeit besteht, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen aufgrund der permanenten Kontrolle durch den Vorgesetzten. Insofern könnte sich die diesbezüglich relativ niedrige Zahl im Gegensatz zu den alkoholbeeinflußten Straftaten überVgl. Stellungnahme, S.7. Vgl. Stellungnahme, S.3. 70 Vgl. Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, S.27; 1974, S.19; 1975, S.19. 68 GD

III. Die Tat .(Tatumstände, TatmotivationeIi)

57

wiegend "außer Dienst" begangen, erklären. Dafür spricht auch die Prozentzahl der alkoholbeeinfiußten rein militärischen Straftaten mit etwa 10 -15 0/0. Bedauerlicherweise läßt sich dem mir verfügbaren Material nicht entnehmen, wie groß der Anteil der Dienstvergehen im Dienst bzw. außer Dienst erfolgte. Denn militärische Dienstpflichten können auch außer Dienst verletzt werden71 (wie beispielsweise durch Bedrohung eines Vorgesetzten nach Dienst oder Tragen unvorschriftsmäßiger militärischer Bekleidung). Vermutlich dürfte hier aber das Zahlenverhältnis umgekehrt zum Verhältnis "im Dienst - außer Dienst" der Straftaten liegen, da zum einen die Prädelinquenz der Dienstvergehen "außer Dienst" für den militärischen Vorgesetzten sehr viel seltener offenkundig wird als in der kontrollierten, überschaubaren Ordnung des geregelten Dienstbetriebes, zum anderen die "zivile" Freizeit dem Soldaten sehr wahrscheinlich weit weniger Anlaß zur Verletzung militärischer Dienstpflichten im Sinne des § 23 Abs. 1 SoldatenG gibt. Empirisches Material über Tatmotivationen bezüglich der kriminologisch ebenso bedeutsamen Präkriminalität der Dienstvergehen existiert nicht; auch hier ist eine Lücke der kriminologischen· Forschung, die mit Hilfe einer Militärkriminologie geschlossen werden kann. 2. Schwerpunkte und Bäufigkeitsziffem72

Besonders hervorgehoben sei nochmals der Umstand, daß nur ein verschwindend geringer Teil aller Straftaten der Soldaten im Dienst erfolgt (unter 6 %); in der Masse handelt es sich also um außerdienstliches Fehlverhalten; die Bundeswehr hat ein nach wie vor unbewältigtes Freizeitproblem ihrer (wehrpflichtigen) Soldaten. Einen zweiten Schwerpunkt bildet sowohl bei den Straftaten als auch bei den Dienstvergehen die im Zusammenhang mit Kraftfahrzeugen stehende Delinquenz, besonders auf dem Sektor der Verkehrskriminalität (56,7 Ofo). Im Zeitalter einer vollmotorisierten Armee sowie einer hohen Quote von - auch jungen -'- Bürgern im Besitz eines eigenen Autos ist dies offensichtlich ein gleichermaßen "ziviles" wie "militäri... sches" Problem. Der viel zu hohe Anteil alkoholbeeinfiußter Delikte (34,7 %)73 sowie die Gruppe der "Truppenflüchter" (§§ 15, 16 WStG) sind die weiteren Vgl. dazu Scherer, § 23 Anm.1 (S.97). Bezogen auf die Zahlen des Jahres 1974, da die Vergleichszahlen der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes erst für das Jahr 1974 vorlagen. 73 Der Anstieg der Verstöße gegen das Alkoholverbot um 5,6 Ofo in den Streitkräften steht augenscheinlich im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Befehl des Generalinspekteurs der Bundeswehr vom 11. Juni 1974; vgl. 71

72

58

2. Teil: Kriminalphänomenologie der Bundeswehr

Schwerpunkte der Delinquenz von Soldaten, die erkannt und Anlaß zu vermehrter Aktivität in der militärischen Verbrechensprophylaxe geben müssen. In Kenntnis dieses umfassenden statistischen Delinquenzbildes der Bundeswehr wird man vielleicht mit einem gewissen Erstaunen, wahrscheinlich aber mit Erleichterung feststellen, daß es sich von dem Kriminalitätsbild der zivilen Gesamtbevölkerung insoweit nicht wesentlich unterscheidet, als es den Bereich der allgemeinen Kriminalität betrifft: Die Zahl der Gesamtverurteilungen im Verhältnis zur Personalstärke der Bundeswehr ergibt zwar für das Jahr 1974 eine Kriminalitätsziffer74 von 358,0. Scheidet man jedoch die militärischen Straftaten aus, errechnet sich eine Kriminalitätsziffer von 244,875• Im Gegensatz dazu weist die zivile Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes71 eine höhere Kriminalitätsziffer von 261,4 aus. Berücksichtigt man nun die aufgezeigte Tatsache der massierten Anhäufung von "kriminalitätsanfälligen Jahrgängen" in den Streitkräften im Alter von 18 - 25 Jahren77, so dürfte doch die Schlußfolgerung - bei allem Vorbehalt gegenüber der Interpretation statistischer Zahlen - erlaubt sein, daß einerseits die permanente Kontrolle der jungen Soldaten durch die Vorgesetzten eine geringere "zivile" Normabweichung fördert, andererseits die rechtliche "Dreifachbelastung" und die autoritär-hierarchische Struktur der Armee eine höhere Kriminalitätsziffer erzeugt. Mit anderen Worten: Das statistische Kriminalitätsbild der Soldaten der Bundeswehr muß sich zwangsläufig strukturell und qualitativ vom Kriminalitätsbild der zivilen Gesellschaft unterscheiden, da der erheblich umfangreichere Normen- und Pflichtenkatalog des Soldaten eine höhere und andersartige Kriminalität erzeugt; denn je umfangreicher ein Normensystem ist, desto eher besteht die Möglichkeit seiner Verletzung und um so höher klettert damit die Kriminalitätsziffer. Vor allem aber das Delinquenzbild im Bereich der Präkriminalität in Form der Disziplinarverstöße fällt aufgrund der militärischen besonInformation für Kommandeure Nr. 1/74, "Alkoholmißbrauch in der Bundeswehr". 74 d. h. Verurteilungen bezogen auf je 10000 Soldaten der Gesamtpersonalstärke der Bundeswehr. 71 Errechnet aus der dienstinternen Straftatenstatistik des BMVg. 70 Unter Zugrundelegung der Zahlen für das Jahr 1974 aus der Fachserie A: "Bevölkerung und Kultur", Reihe 9 ("Rechtspflege"), Tabelle 3 "Strafverfolgung"; Verlag Kohlhammer 1976. 77 Hier weist die allgemeine zivile Strafverfolgungsstatistik für die 18 bis 21jährigen bzw. die 21 - 25jährigen sogar eine Kriminalitätsziffer von 342,0 bzw. 337,5 auf; a.a.O., Tabelle 302.

III. Die Tat (Tatumstände, Tatmotivationen)

59

deren Strukturen der Bundeswehr und der Sanktionierung des "Verbrechensvorfeldes" durch das Disziplinarrecht ebenfalls zu Ungunsten des Soldaten aus, weil auf der einen Seite jede Pflichtverletzung des Soldaten sofort erkannt, geahndet und kraft der geforderten ubiquitären militärischen Disziplin einer auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam aufgebauten Armee "gefördert" wird, auf der anderen Seite die "zivile Prädelinquenz" entweder nicht sanktioniert, nicht offenkundig oder nicht begünstigt wird. So ist es denn nicht erstaunlich, daß sich im Bereich der Prädelinquenz für die Soldaten im Jahre 1974 eine "Präkriminalitätsziffer" von 1 656,8 errechnet! Im 3. Teil dieser Arbeit sollen diese Schlußfolgerungen zur militärischen Gesamtdelinquenz näher untersucht werden. Dort ist jedoch weniger das wirkliche Ausmaß der militärischen Delinquenz von Interesse, als vielmehr die Kenntnis darüber, warum sich die einen Soldaten delinquent, die anderen normgerecht verhalten.

Dritter Teil

Die wesentlichen kriminoresistenten und kriminovalenten Faktoren des Wehrdienstes (Kriminalätiologie der Bundeswehr) Erst auf der Grundlage der vorausgegangenen Kriminalphänomenologie der Bundeswehr läßt sich dem Ursachenproblem für die militärische Delinquenz nachgehen. Viele an sich wertvolle kriminologischen Untersuchungen, vor allem von Medizinern, kranken daran, daß ohne genügende Kenntnis der Vielfalt der Delinquenz als in erster Linie sozialer Erscheinung aufgrund einer ausgesuchten Delinquentengruppe vorschnelle Schlüsse auf die Ursachen der Kriminalität gezogen werden. Der Begriff "Ursache" stammt aus dem naturwissenschaftlichen Bereich ("Ursache und Wirkung") und wird daher für die Kriminologie, die sich an den oben genannten (vorwiegend empirischen) und keineswegs erschöpfend aufgezählten Bezugswissenschaften orientiert (und sich zumeist deren Methode bedient) nicht gebraucht. Man spricht hier lieber von Faktoren, die die Delinquenz eines Menschen mitherbeiführen oder beeinflussen. Damit steht der Streit der Kriminalitätstheorien wieder im Vordergrund, die hauptsächlich danach unterschieden werden, ob sie vor allem die Kriminalität als soziale Erscheinung oder aber als individuelles Schicksal des Täters qualifizieren, ob sie nur einen Faktor für Delinquenz verantwortlich machen oder mehrere (Mehrfaktorenansatz) und ob sie mehr medizinisch-psychologisch, soziologisch oder philosophisch-anthropologisch ausgerichtet sind1 • Aufgabe und Zielsetzung dieser Arbeit erfordert nicht, in dieser durch die moderne Soziologie wieder entfachten Grundsatzdiskussion über die Kriminalitätstheorien der einen oder anderen Richtung den Vorzug zu geben. Die Faktoren der (militärischen) Delinquenz sind viel zu komplex und vielgestaltig, ebenso wie die freiheitliche pluralistische Konzeption unserer Gesellschaft äußerst komplex und vielgestaltig ist mit ihrer im sozialen Gefüge zugestandenen Toleranzbreite gegenüber den die Mehrheit oftmals störenden und von ihr abweichenden Verhaltensformen, als das die eine oder andere Bezugswissenschaft die Frage nach den "Ursachen" des (militärischen) Verbrechens umfassend und endgültig beantworten könnte. 1

Vgl. dazu Kaiser, S. 36 ff., 112 ff.

L Kriminogene Konstellationen der Armee

61

Daß im autoritär-hierarchischen Aufbau der Streitkräfte insbesondere im Bereich der Prädelinquenz andere, zusätzliche Faktoren zu denen der zivilen Delinquenz vorzufinden sind, läßt sich bereits anhand der dargebotenen Aufschlüsselung der militärischen Delinquenzstatistiken ablesen. Nunmehr soll der Versuch unternommen werden, auf der Basis der eingangs entwickelten weitgefaßten Kriminologiedefinition und des umfassenden Delinquenzbegriffes und -bildes alle wesentlichen Faktoren, die die Delinquenz des Soldaten (mit)beeinflussen können, zusammenzustellen und zu interpretieren. Diese Faktorenkenntnis gehört zum festen Bestandteil einer Kriminalätiologie der Bundeswehr, wobei der Verfasser sich durchaus bewußt ist, daß eine bloße Analyse der Struktur und Einflußgrößen den delinquenten Soldaten nicht immer erschöpfend erfassen kann. Als erläuternde Ergänzung wird daher bei den überwiegend theoretischen überlegungen so oft wie möglich durch praktische Fallbeispiele die militärtypische, situationsbedingte oder personenabhängige kriminogene Konstellation des Delinquenten skizziert. I. Die Bundeswehr als Institution bzw. Großorganisation sowohl kriminalitätshemmender als auch -fördernder Konstellationen 1. Die Einstellung zum Wehrdienst (Wehrmotivation)

a) Die Einstellung der wehrpflichtigen männZichen Jugend zur Wehrpflicht vor der Einberufung Die Zahl der Beiträge über die Bundeswehr als Objekt und die JUIige Generation als Subjekt von Meinungen und Einstellungen ist inzwischen Legion!. So notwendig nun zweifellos die Forderung ist, daß die Bundeswehr keine gesellschaftliche Randexistenz führen darf und die jungen Männer in der Armee als "Staatsbürger in Uniform" behandelt werden müssen, so offen ist jedoch die Frage, was denn unter "Wehrmotivation" eigentlich zu verstehen ist, woran sie zu erkennen ist, wie sie sich äußert und unter welchen Umständen sie die Delinquenzbereitschaft der künftigen Soldaten beeinflussen könnte. "Wehrmotivation" ist zunächst einmal eine ebenso leere Worthülse wie die damit in Zusammenhang stehenden Begriffe "Verteidigungsbereitschaft" und "Integration". Begriffe sind nicht empirisch vorgegeben, das wird in der Diskussion sehr oft vergessen. Die Wirklichkeit liefert nur soziale Fakten, die begrifflich geordnet und in einen 2 Vgl. statt vieler: Fleckenstein I Schössler, "Jugend und Streitkräfte. Meinungen und Einstellungen der jungen Generation gegenüber Bundeswehr und Wehrdienst in der Bundesrepublik Deutschland", in: Beiträge zur Konfliktforschung 1973, S. 31 ff.

62

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

übergreifenden theoretischen Erklärungszusammenhang gebracht werden müssen. Die allgemeine Wehrpflicht scheint eine permanente Konfliktquelle im zivil-militärischen Verhältnis zu sein. Die jungen Männer im Wehrpflichtalter lehnen sie in der Mehrheit abI. Diese Einstellung beginnt sich zwar mit zunehmendem Alter wieder zu verändern, doch hat die Kritik an der Wehrpflicht über die Jahre hinweg offenbar nicht nachgelassen. Das Meinungsbild schwankt zwar von Umfrage zu Umfrage meist nur um einige Prozente, und derzeit scheint die Wehrpflicht (aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Krisis?) wieder etwas höher im Kurs zu stehen', aber etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung und etwa zwei Drittel der Jugendlichen im Wehrpflichtalter sähen es lieber, wenn die Rekrutierung der Bundeswehr vollständig zum Bestandteil freier Berufswahl gemacht würde: In der Altersgruppe der 19jährigen jungen Männer, die in nächster Zukunft mit der Einberufung rechnen müssen, plädieren 58 % für eine Freiwilligenarmee und nur 33 % für das Wehrpflichtsysteml • Die durch Gesetz geregelte grundsätzliche Verpflichtung bestimmter Altersklassen zum Wehrdienst, also die allgemeine Wehrpflicht, beruht auf der durch Art. 87 a GG begründeten Zuständigkeit des Staates zur Aufstellung, Ausbildung und Verwendung von Streitkräften. Doch kann aus der Existenz des Wehrpflichtgesetzes nicht auf eine allgemeine Akzeptierung geschlossen werden - am wenigsten von seiten der direkt Betroffenen, der zum Wehrdienst heranstehenden Wehrpflichtigen. Selbst diejenigen jungen Männer, die das Recht des Staates nicht bestreiten, in Zeiten der Bedrohung von außen seine männlichen Bürger zu den Waffen zu rufen, beurteilen die Frage unterschiedlich, welche Situationen als ernste Bedrohungen anzusehen sind, die bestimmte Verteidigungsanstrengungen erfordern oder rechtfertigen. Bezüglich dieses - auch öffentlich diskutierten - Problems in Verbindung mit der Frage nach der Erforderlichkeit oder Überflüssigkeit eines "Feindbildes" besteht wohl weder in der Bundeswehr noch in der Gesellschaft ein allgemeiner Konsensus6 • a Fleckenstein, S. 383.

4 Vgl. die neueste Umfrage des BMVg, Informations- und Pressestab Arbeitsbereich Public Relations - in: "Aktuelles Stichwort Nr.101" vom 1. Februar 1975: Im Jahre 1973 bejahten 22 °/0, im Jahre 1974 38 °/0 der männlichen Jugend zwischen 16 und 22 Jahren die allgemeine Wehrpflicht. 11 Das Zahlenmaterial ist Ergebnis von Umfragen durch EMNID und INFAS der Jahre 1972 bis 1975, veröffentlicht in: Weißbuch 1975/1976, Nr.282 (5.163) . • Im Weißbuch 1970, Nr.144 (5.116) ist ein anschauliches Beispiel dafür enthalten, welchen starken Schwankungen die öffentliche Meinung in der Bewertung potentieller Gefahren unterliegt: "So fühlten sich im April 1966 nur 37 Prozent eines repräsentativen Querschnitts der westdeutschen Bevölkerung von der Sowjetunion bedroht;

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

63

Angesichts der fehlenden Übereinstimmung in dieser Diskussion sowie des relativ großen Opfers, das die künftigen Soldaten erbringen müssen, kommt der Frage eine besondere Bedeutung zu, wieweit die Akzeptierung oder Ablehnung des Wehrdientes, also die innere Einstellung zu dieser staatsbürgerlichen Pflicht, eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste, beim Eintritt in die Bundeswehr vorgegebene psychologische Wurzel für spätere Dienstvergehen sowie für ~i1itäri­ sche und nichtmilitärische Straftaten ist. Natürlich kann von Einstellungen nicht ohne weiteres und nur mit Vorsicht auf tatsächliches Verhalten geschlossen werden. Letzteres ist überwiegend situationsbedingt und realitätsbezogen, während Attitüden viel stärker den Charakter der Unverbindlichkeit aufweisen. Aber es ist in diesem Zusammenhang nicht mehr zu übersehen, daß ein deutlicher Wandel der Denk- und Verhaltensweisen einer nach dem Zweiten Weltkrieg noch als "abwartende Generation"7 bezeichneten Jugend stattfand, die sich über das Bild der "skeptischen Generation"8 zur "antiautoritären Generation" - wenn man ohne generalisierendes Urteil einmal so sagen darf - entwickelt hat, welche von einer Überbetonung ihrer individuellen Rechte ausgeht, ohne gleichzeitig die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft a,nzuerkennen9 • Die kritische Haltung der Jugend, vor allem Autoritäten gegenüber, zeigt sich heute im Elternhaus, in den Schulen, in den Betrieben und den Universitäten und nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Bundeswehr10• Es ist allgemein ein Drang nach größerer Freiheit und Unabhängigkeit zu erkennen. So vermißt man häufig bei den jungen Erwachsenen soziale Einstellungen, ja sogar Grundkenntnisse über Staat und Gesellschaft, in denen sie leben; die wenigsten fühlen sich mit verantwortlich11 • ebenso viele fühlten sich nicht bedroht, 26 Prozent hatten kein Urteil. Im November 1968 dagegen, drei Monate nach dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei änderte sich das Verhältnis: 54 Prozent fühlten sich bedroht; 32 Prozent glaubten nicht an eine äußere Gefahr; die Zahl der Meinungslosen sank auf 14 Prozent. Ein Jahr später schon fühlten sich 55 Prozent wieder nicht mehr bedroht; 32 Prozent sahen sich weiterhin gefährdet, 13 Prozent waren ohne Urteil." 7 Baudissin, "The New German Army", S.6ft. 8 Schelsky, "Die skeptische Generation", 1957. 11 Vgl. Weißbuch 1971/1972, Ziffer 98 (S.88): "Der Bundeskanzler erklärte vor dem Deutschen Bundestag am 26. März 1971: ,Wir müssen mit Sorge die innere Abwendung eines Teils der heranwachsenden Generation von den Pflichten sehen, die ihr von Staat und Gesellschaft abverlangt werden ... Aber das Ansteigen der Zahl der Militärdienstverweigerer kann die Regierung nicht unbeteiligt lassen .. .'" 10 Schriftenreihe Innere Führung, Reihe ErZiehung, Heft 1, S.27, 31 (Hrsg.: BMVg). 11 Kuhnen, S. 8.

64

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Auch lassen die vorhandenen Informationen erkennen, daß der Trend zur Wehrmüdigkeit in der zivilen Gesellschaft noch nicht abgeklungen ist l2. Wenn andererseits stärkere Ausdruckformen des Unwillens in der Zivilbevölkerung gegenüber der Bundeswehr spürbar zurückgegangen sind, so liegt darin nur ein scheinbarer Widerspruch. Das Reizwort "Bundeswehr" hat viel von seiner Wirkung eingebüßt (obwohl die gegen die Streitkräfte gerichteten Aktionen wie z. B. Wehrmittelbeschädigung, Spionage, politische Agitation usw. nicht abgenommen haben l!), indem der Bundeswehr insgesamt weniger Beachtung geschenkt wird l4 . Diese Feststellungen spiegeln sich in Zahlen wider, wenn die "ungediente" männliche Jugend nach der Präferenz Wehrsystem gefragt wird. Auf ihre Vorstellungen dazu antwortete bei der neuesten Repräsentativ-Befragung im Auftrag des BMVg die männliche Jugend zwischen 16 und 22 Jahren wie folgtl6: Es sind für

1974

197316

allgemeine Wehrpflicht Berufsarmee Abschaffung Bundeswehr keine Angabe

38 °/0 50 0/0

22 °/0 53 Ofo 12 '/0

60f0 5 0/.

8

°/.

Noch deutlicher wird dieses Bild, wenn die Frage nach der Einstellung dieser jungen Männer gegenüber dem Wehrdienst gestellt wird: Es werden

1974

1973

gern Soldat weniger gern Soldat versuchen, um den Wehrdienst herumzUkommen Kriegsdienst verweigern Freistellung aus objektiven Gründen erwartet keine Angaben

23 Ofo 27 Ofo 16 Ofo 90f0 13 Ofo 12 Ofo

14 Ofo 28 Ofo 17 0/0 16 °/0 14 Ofo 11%

Dieses Ergebnis macht deutlich, daß die Einstellung der zum Wehrdienst heranstehenden Jugend zwar positiver ist als 1973, aber 38 010 der Befragten hoffen ohne Wehrdienst auszukommen, 27 010 sind "nicht gerne Soldat", nur 23 Ofo gehen vermutlich vorurteilslos in die Armee. Vgl. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.37. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S. 52 ff. 14 Das hohe Sozialprestige, das den Soldaten früherer Zeiten kennzeichnete, ist für den Soldaten der Bundeswehr nicht zu konstatieren: In der Auflistung von 12 Berufen (z. B. Polizist, Handwerksmeister, Kaufmann), die aus dem militärischen Bereich den Hauptmann und den Feldwebel enthalten, nahmen Hauptmann und Feldwebel in sozialwissenschaftlichen Befragungen die letzten Rangplätze ein; vgl. Schriftenreihe Innere Führung, Reihe Ausbildung und Bildung, Heft 17, 1974 (Hrsg.: BMVg - FüS I15 -), S.21, 23. 16 "Aktuelles Stichwort Nr. 101" v. 1. Februar 1975, BMVg, Informationsund Pressestab - Arbeitsbereich Public Relations - S. 2. 18 1973 wurde zusätzlich erhoben "für Milizarmee" = 5 Ofo. 12

13

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

65

Es ist verständlich, daß die allgemeine Wehrpflicht von den Betroffenen nicht freudig hingenommen wird. Das wird man auch nicht verlangen können. Aber eine nüchterne Einsicht in die Notwendigkeit der bewaffneten Friedenssicherung, staatsbürgerliches Pflichtbewußtsein17 und die Bereitschaft, im Falle der Einberufung seinen Mann zu stehen und den Wehrdienst· mit Anstand hinter sich zu bringen, sind schon erforderlich. Solche Einstellungen entsprechen eher der militärischen Aufgabe als schwärmerische Begeisterung und bieten die Chance, die Belastungen der Wehrpflicht leichter zu ertragen und einer potentiellen Delinquenzbereitschaft geistige Schranken entgegenzusetzen. b) Die Einstellung des Soldaten zum Wehrdienst

während der Dienstzeit in der Bundeswehr

Jahr für Jahr müssen rund 200000 junge Männer über den Einberufungsmechanismus in den Streitkräften ihren Wehrdienst ableistenl8 • Die Wehrpflichtigen sind dabei das wichtigste Verbindungsglied und eine bedeutende soziologische Wirkungsgröße zwischen der Bundeswehr und der Bevölkerung. Die von ihnen eingebrachten zivilen Denkkategorien und Verhaltensweisen beeinflussen das Bild der Bundeswehr wie auch umgekehrt die Streitkräfte die wehrdienstleistenden Soldaten beeinflussen und sie zu Meinungsmultiplikatoren in der Gesellschaft machen. Ihre Verhaltensweisen geben unmittelbar Aufschluß über Auffassung und Einstellung desjenigen Teils der Bevölkerung, der von der verfassungsmäßigen Pflicht des Wehrdienstes unmittelbar betroffen ist. Wo die allgemeine Wehrpflicht Gesetz ist, fragt das Militär in aller Regel nicht danach, ob der einzelne mit seiner Einberufung und Ableistung des Wehrdienstes einverstanden ist oder nicht. Von jedem Soldaten wird erwartet, daß er ohne Rücksicht auf seine politische oder ideologische überzeugung und ohne Rücksicht auf seine individuellen Präferenzen jene Rollen erlernt und ausübt, die vom Soldaten während des Wehrdienstes im Rahmen der ihm angetragenen Funktion gefordert werden. Dies kann aber nicht heißen, daß es gleichgültig wäre, ob der einzelne Soldat den militärischen Dienst akzeptiert oder ob er eine ablehnende Haltung einnimmt. Die Frage nach den Einflußgrößen, die das Interesse oder Desinteresse von Rekruten am Wehrdienst beeinflussen können, ist im Jahre 1966 17 Schultz: "Ohne ,Staatsbürger in Zivil' kein ,Staatsbürger in Umorm' CI, in: PöggeleT / Wien, S.63. 18 Weißbuch 1971/1972 Nr.46 (S.41). Im ersten Quartal 1975 dienten 218000 Wehrpflichtige in der Bundeswehr, vgl. Weißbuch 1975/1976, Nr.285 (S.165).

&

fiedler

66

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

(in einer heute u. U. veralteten Studie) von Soziologen gestellt und analysiert worden19. Danach erscheint die Einstellung zum Wehrdienst eher von persönlichen Faktoren, den unmittelbaren individuellen Interessen und Nutzenerwägungen abhängig zu sein als von ideologischen Faktoren, also der generellen Einstellung zur allgemeinen Wehrpflicht und zur Bundeswehr2o • Die Frage aber, wie weit die persönliche Einstellung des Soldaten zum Wehrdienst, insbesondere des Wehrpflichtigen, eine kriminalitätshemmende oder -fördernde Wirkung entfaltet, ist noch völlig ohne empirisches Material, obwohl es scheint, daß diese Fragestellung auf der Hand liegt und einen Schlüssel zur Erkenntnis der Delinquenzbereitschaft junger Soldaten liefern könnte. Lediglich in der dienstinternen Straftatenstatistik des BMVg zur Untersuchung der Tatmotive bezüglich der Verstöße gegen "Eigenmächtige Abwesenheit" (§ 15 WStG) und "Fahnenflucht" (§ 16 WStG) sind ausnahmsweise die Tatmotive "Ideologisch begründete Abneigung" und "Sonstige Gründe z. B. keine Lust" exemplarisch ausgeworfen, wonach bereits aufgrund dieses Ausschnittes von Verstößen gegen das Wehrstrafgesetz abzulesen ist, daß durchschnittlich über 60 % der straffällig gewordenen junge Männer ohne stärkere innere Bejahung ihren Dienst verrichten!1. So ist zu beobachten, daß die einberufenen Soldaten, die aus einer freien, marktwirtschaftlichen Gesellschaft kommen, die vom Gewinnstreben geprägt ist, ihr Verhalten nach dem bisher gewohnten Bild ausrichten, das sie oft dazu bringt, den Dienst in der Bundeswehr wie einen zivilen "Job" aufzufassen. Es sind die Maßstäbe der Industriegesellschaft, der die jungen Soldaten während des bisherigen Teils ihres Lebens angehört haben, die nun unterschwellig ihr Verhalten beeinflussen. Für DM 5,50 bzw. DM 8,50 Wehrsold pro TagH den Wehrdienst abzuleisten, betrachten die meisten als Zumutung. Jedes Dienstverhältnis muß ihrer Ansicht nach ein Entlohnungsverhältnis sein, und dementsprechend entfalten selten staatsbürgerliche, politische oder gar ethische 18 Vgl. die Ergebnisse von "Projekt 66/r", die im Auftrag des BMVg durchgeführt von der Wehrsoziologischen Forschungsgruppe des Forschungsinstituts für Soziologie der Universität zu Köln, veröffentlicht in: Benninghaus, S. 270 ff. 20 Benninghaus, S.285. 21 Dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg für die drei Vergleichsjahre. 22 Der Wehrsoldtagesatz beträgt nach dem 9. Gesetz zur Änderung des Wehrsoldgesetzes vom 2. Mai 1975 (BGBI I, S. 1046) für Grenadiere DM 5,50 und für Gefreite, Ober- und Hauptgefreite DM 7,00 bzw. DM 7,50 bzw. DM 8,50.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

67

überzeugungen die notwendige kriminoresistente Wirkung, sondern im Gegenteil vermindert das Streben nach mehr Geld, gepaart mit einer relativen Interessenlosigkeit an den Einrichtungen des Staates ein Zurückschrecken vor Verstößen gegen Dienstanweisungen, WStG und StGB. Auffallendstes Merkmal der modernen Jugend ist die bekannte Reifeverzögerung. Man stellte bei 90 - 95 % aller Jugendlichen einen deutlichen Reifungsrückstand fest, der sich beispielsweise in einer um vier Jahre verspäteten Werterfassung bemerkbar macht, in lange andauernder Pubertät, vielfach in triebhaft unbeherrschtem Handeln und in der Bereitschaft zum häufigen Arbeitsplatzwecbsel!3. Relativ viele junge Erwachsene neigen dazu, ihre Arbeitsstelle aufzugeben, wenn sie ihnen nicht mehr behagt, sei es, daß ihnen die Tätigkeit nicht mehr gefällt oder die Arbeit zu anstrengend oder der Verdienst zu gering ist!'. Die Merkmale der sozialen Grundhaltung junger Männer beeinflussen offenbar auch ihre Delinquenzbereitschaft. Wäre z. B. der "wehrunlustige" Soldat Angehöriger eines Industriebetriebes oder einer staatlichen Behörde, käme er aufgrund mangelnder innerer Bindung und Motivation im schlimmsten Falle gar nicht mehr an seine Arbeitsstelle zurück; er würde den Arbeitsplatz wechseln, würde krank feiern oder in anderer Weise seine mangelnde Motivation am Arbeitsplatz selbst plakatieren. "Sie gehen in die Armee mit derselben Einstellung wie in irgendeine Firma"25; die Bundeswehr ist nahezu ein "Zufallsopfer", das jeweilige "Opfer" ist beliebig austauschbar. Dennoch ist seit dem Jahre 1973 festzustellen, daß die Einstellungen und Reaktionen einberufener Wehrpflichtiger zum Wehrdienst eine positivere Richtung genommen haben, daß die Zahl der freiwilligen Meldungen angestiegen ist26 und die Zahl der Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer durch Soldaten sich nicht mehr erhöht hat!7. So mag die Reaktion der Wehrpflichtigen auf die Frp.ge nach ihrer Wehrbereitschaft sicher nicht ganz der allgemeinen Erwartung entsprechen. Denn die neueste umfassende wehrsoziologische Umfrage28 zur "Einstellungsproblematik" von Wehrpflichtigen nach Diensteintritt ergibt überraschend ein relativ positives Bild: 23

U

25

2S 17 28

Warnke / Mosmann (1), S.33, 92. Vgl. Kuhnen, S. 8. Marshalt, "Soldaten im Feuer"; zitiert bei Rohde, S.31.

Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.37. Jahresbericht über Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten 1975, S. 2 f. Vgl. Warnke / Mosmann (1), S. 39 ff.

68

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Wehrpflichtige29 zur Bereitschaft, Soldat zu werden Ich bin ganz gern Soldat geworden, weil ich so doch wenigstens mal aus dem Alltagstrott herauskomme, Neues sehe und lerne und später besser mitreden kann ............................................... Ich bin nicht gern Soldat geworden, sehe aber ein, daß auch ich meinen Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit leisten muß Ich bin nicht gern Soldat geworden, weil ich den Wehrdienst für verlorene Zeit halte, werde aber trotzdem versuchen, noch das Beste daraus zu machen ................................................... Ich bin sehr ungern Soldat geworden, fühle mich als Soldat auch recht unglücklich und wünschte, ich hätte den Wehrdienst schon hinter mir

14 °/0 19 0/0 38 °/0 29 °/,

Immerhin jeder dritte gezogene Wehrpflichtige ist entweder "ganz gern Soldat geworden" (14 Ofo) oder bejaht zumindest den Wehrdienst als staatsbürgerliche Pflicht - nicht nur in verbaler Unverbindlichkeit, sondern im konkret-persönlichen Fall (19 Ofo). Hierzu kommen außerdem 38 Ofo Wehrpflichtige, die den Wehrdienst zwar für "verlorene Zeit" halten, aber dennoch gewillt sind, das "Beste" daraus zu machen. Ganz und gar negativ im Sinne dieser Frage haben sich allerdings 29 Ofo der Wehrpflichtigen entschieden. Diese Gruppe ist nicht nur mit der Fremdentscheidung, Soldat werden zu müssen, unzufrieden, sondern auch mit der erfahrenen Bundeswehr-Wirklichkeit selbst. Es dürften diese Soldaten sein, die eher latent deliquenzanfällig (im Bereich der Disziplinarverstöße) sind und so für die Bundeswehr ein besonderes Problem darstellen, da sie offenbar nicht nur Schwierigkeiten mit ihrem derzeitigen Status haben, sondern sich zudem schwertun, unter den Bedingungen einer militärischen Ordnung zu leben. Die wehrsoziologische Untersuchung zeigt ferner, daß diejenigen dem militärischen Dienst positiver gegenüberstehen, die sich bereits frühzeitig mit dem Problem der Wehrpflicht beschäftigt haben, als diejenigen, die später darüber nachdachten. Das Umfrageergebnis macht zugleich auch die Abhängigkeit von sozialen Faktoren der Jugendlichen - insbesondere die Funktion des Elternhauses und der Schule deutlich. Erhält der Wehrpflichtige in frühen Jahren Anstöße zur gedanklichen Beschäftigung mit der militärischen Sphäre - etwa durch Eltern, Freunde, Bekannte, durch Schule oder Werbung -, so werden emotionale Bindungen geschaffen, die im wesentlichen auch weiterhin seine (positive wie negative) Einstellung zu den Streitkräften prägen. Ein möglicher Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Wehrbereitschaft wird ebenfalls in der wehrsoziologischen Untersuchung beleuchtet. Die dem Militärdienst abgeneigten Wehrpflichtigen waren zum Zeitpunkt der ersten Berührung mit dieser Frage nicht nur älter, 211

Es wurden hier 1856 Wehrpflichtige befragt.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

69

sondern hatten im allgemeinen auch eine bessere Schulbildung als diejenigen, die das Soldatwerden positiv beurteilen. So verfügen die dem Wehrdienst gegenüber positiv eingestellten Wehrpflichtigen nur zu 19 0/0 über eine mittlere oder höhere Schulbildung, dagegen haben Jugendliche mit einer Antipathie gegen das Soldatwerden zu 36 0/0 die Realschule oder ein Gymnasium besuchtSO. Was die jährlich etwa 200000 einberufenen Wehrpflichtigen am Wehrdienst stört, ist mannigfacher Natur. Dazu läßt sich im Rahmen dieses wehrsoziologischen Exkurses sagen, daß es mehr die Dinge sind, auf die die Einberufenen in den Streitkräften verzichten müssen, als die Dinge, die sie als Bundeswehr-Realität vorfinden. Weitaus am häufigsten wird z. B. der Verdienstausfall genannt, und zwar von 76 0/0 der Wehrpflichtigen. An zweiter Stelle findet sich ein typischer militärischer Störfaktor: Die Entfernung von der "Heimat". Ein weiteres "ziviles" Moment, auf das die Wehrpflichtigen ungern verzichten, ist die fehlende gewohnte Privatsphäre. Von den Tatbeständen militärischer Arbeit und Lebensweise werden vor allem der "militärische Befehlston" und die "vielen Vorgesetzten" als störend empfunden. Andererseits wird z. B. die Gestaltung des Dienstes, etwa das Ausmaß der Anforderungen oder die Unregelmäßigkeiten des Dienstes, relativ wenig kritisiert. WehrpflichtigeS1 Störende Momente am WehrdienstS! 1. Verdienstausfall ................................................

2. Entfernung von der Heimat ................................. . ... 3. Militärischer Befehlston ........................................ 4. Fehlende Privatsphäre ........................................ . . 5. Viele Vorgesetzte ...... . ...... . ......... . ... .. ................. . 6. Berufsentfremdung ............................................. 7. Unregelmäßiger Dienst...... ........ ...................... ...... 8. Leben in der Kaserne .......................................... 9. Anstrengender Dienst .......................................... 10. Uniformtragen ..................................................

76

%

59 0/0 53 Ofo 46 Ofo 42 %

39 % 33 Ofo 32 0/0 23 0/0 22 0/0

Eine andere Frage ist es, mit welcher Kritik die Wehrpflichtigen das größte Maß an Wehrunlust artikulieren. Das ist daraus ersichtlich, wie häufig Wehrpflichtige mit einer bestimmten Kritik vor ihrer Einberufung daran gedacht haben, einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung zu stellen. Hier zeigt sich, daß sich unter diesem Aspekt die Rangreihe störender Faktoren am Wehrdienst zum Teil erheblich verändert. So rückt etwa der Faktor "Unüormtragen" vom vormals letzten Rang31

Warnke / Mosmann (1), S. 44 f. Vgl. die Befragung von 1856 Wehrpflichtigen, in: Warnke / Mosmann (1),

32

Mehrfachnennungen.

30

S.47.

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

70

platz an die erste Stelle. Wehrpflichtige, die am Wehrdienst besonders stört, daß sie dabei eine Uniform tragen müssen, hegen also offensichtlich die größten inneren Widerstände gegen das Soldatensein. Auch die dann folgenden Kritikpunkte machen deutlich: Wehrpflichtige, die sich an typisch militärischen Begebenheiten stoßen, haben die negativste Einstellung. Sie haben vor ihrer Einberufung überproportional häufig daran gedacht, den Wehrdienst zu verweigern, sind also auch schon mit einer besonders großen Abneigung zur Bundeswehr gekommen. Wehrdienstverweigerungll haben Wehrpflichtige erwogen, die am Wehrdienst besonders störtl' 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

das Uniformtragen (408) zu ...................................... das Leben in der Kaserne (597) zu ................................ die vielen Vorgesetzten (783) zu .................................. die fehlende Privatsphäre (862) zu ................................ die Berufsentfremdung (729) zu .................................. der militärische Befehlston (983) zu ............................... der anstrengende Dienst (424) zu ................................. der unregelmäßige Dienst (618) zu ................................ die Entfremdung von der Heimat (1103) zu ........................ der Verdienstausfall (1 408) zu ....................................

49 °/. 43 Ofo 40 Ofo 38 Ofo 37 Ofo 36 Ofo 35 Ofo 34 Ofo 28 Ofo 28 Ofo

Die Militärsoziologen sind sich darüber einig, daß diese Situation zu einer ständigen Konfrontation ziviler Verhaltensweisen mit dem militärischen Normengefüge führt 85• Die militärische Situation wirkt in erster Linie für den Wehrpflichtigen als Auslöser von Verhaltensweisen, die sich zwar meist mit den militärischen Verhaltensweisen vereinbaren lassen, die aber offenkundig zunehmend auch als abweichend, in ihren intensivsten Formen sogar als pflichtwidrig oder gar strafbar bezeichnet werden müssen. Dabei soll keineswegs übersehen werden, daß neben den militärischen Alltagsproblemen, die noch behandelt werden müssen, von den Soldaten ein gerüttelt Maß an psychologischer Reife verlangt wird. Sie stehen vor dem scheinbar unlösbaren Zwiespalt, für etwas ausgebildet zu werden und bereit zu sein, nämlich die kriegerische Auseinandersetzung, von der sie und jedermann hoffen, daß sie nicht eintreten wird. Zudem müssen deutsche Soldaten mit dem besonderen Problem eines geteilten Landes fertig werden, in dem sie gegebenenfalls auf Landsleute oder sogar Verwandte schießen müssen, sei es in einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem östlichen Teil Deutschlands, sei es im Falle des Art. 87 a Abs.4 GG bei militärisch geführten Aufstandsbewegungen31 • aa Vgl. Warnke I Mosmann (1), S.48. Mehrfachnennungen. Vgl. Schössler (2), S.29 mit weiteren Nachweisen. So sind die Notstandsgesetze für viele Wehrdienstverweigerer ein Hauptargument ihrer Ablehnung der allgemeinen Wehrpflicht. 84 35 31

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

71

So trivial es daher auch klingen mag: Die soziale Grundhaltung der Wehrpflichtigen zum Wehrdienst, also ihre "Wehrfreudigkeit" oder "Wehrunlust" oder gar eine allgemeine Staatsverdrossenheit kann sowohl kriminalitätshemmend als auch in erheblichem Umfang kriminovalent wirken, je nachdem, ob der Diensttuende die Notwendigkeit einer Bundeswehr innerlich bejaht oder nicht. Hierzu abschließend das Beispie137 eines bereits mehrfach disziplinar gemaßregelten Soldaten, der bisher noch wehrstrafrechtlich unauffällig geblieben war: Dem Soldaten, Angehöriger eines Sanitätsbataillons, wurde der Befehl gegeben, als Wachsoldat an einer Flaggenparade teilzunehmen. Diesem Auftrag kam er erst nach Wiederholung des Befehls nach. Dabei äußerte er gegenüber dem Offizier vom Wachdienst, er müsse sich nach der Flaggenparade die Hände desinfizieren. Auf Befragen äußerte er, mit dieser Demonstration habe er seine Ablehnung gegen diesen Staat ausdrücken wollen. c) Mehr Wehrbereitschaft der kurzdienenden Freiwilligen?

Die hohe Zahl der Freiwilligen (Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit) in der Bundeswehr sagt offensichtlich nichts über deren "Wehrfreudigkeit" aus, denn es ist der militärischen Führung wohl bekannt, daß viele Zeitsoldaten vor allem deshalb ihr längeres Dienstverhältnis eingehen, weil sie damit rechnen mußten, ohnehin eingezogen zu werden38 • Etwa die Hälfte der Bundeswehrangehörigen sind Wehrpflichtige S9 ; es wäre nun ein Trugschluß anzunehmen, die andere Hälfte sei generell aus überzeugung oder gar Begeisterung Soldat geworden. In aller Regel sind handfeste materielle Interessen das Hauptmotiv für den Eintritt in die Bundeswehr4°; die Zahl der Bewerber scheint auch regelmäßig in Zeiten schlechter wirtschaftlicher Lage und mangelnder Arbeitsplätze zu steigen41 • Insbesondere der Soldat auf Zeit verspricht sich finanzielle Vorteile vom Längerdienen oder auch eine gute berufliche Ausbildung für die spätere Rückkehr ins Zivilleben. So werden von den "Kurzdienern" für die Verpflichtung auf Zeit durchschnittlich in Höhe von 55 010 finanzielle und 54 Ofo berufliche Interessen, in nur 15 Ofo ideelle Gründe genannt42 • Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1970, S.31. Nach Benninghaus, S. 285, Fußnote 5 gaben 1964 67 Ufo der befragten Freiwilligen (des Heeres) als Hauptgrund für ihre Freiwilligen-Meldung an: ". " weil ich sowieso eingezogen worden wäre und mich als Freiwilliger finanziell verbessere." 38 In den Vergleichsjahren durchschnittlich 49 Ufo; amtliche Auskunft des BMVg - FüSI1-. 40 Vgl. dazu Warnke / Bierjelder, "Die Bundeswehr als Arbeitsplatz auf Zeit" (1968), S.17. 41 Fleckenstein, S. 393. 42 Jugendbericht, S. 166 f. 37

38

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

72

Auch die neueste Motivanalyse bei "gedienten" Zeitsoldaten43 , d. h. solchen Soldaten, die als Wehrpflichtige in die Bundeswehr eingezogen wurden, und sich erst dort als Freiwillige verpflichten, bestätigt die bisherigen Resultate der materiellen Motive der kurzdienenden Zeitsoldaten: Die Aussicht, "nach Ablauf der Verpflichtungszeit automatisch über einen größeren Geldbetrag zu verfügen", nennen als Motiv für ihre Bewerbung 61 Ofo der sich auf zwei bzw. drei Jahre verpflichtenden Zeitsoldaten; die Hoffnung, in der Bundeswehr einen Beruf zu finden, der den eigenen Interessen und Intentionen entspricht, hat nur jeden zehnten Kurzdiener zum Statuswechsel veranlaßt. Die Beweggründe für "gediente" Soldaten auf Zeit mit zwei- und dreijähriger Verpflichtungszeit stellen sich im einzelnen und prozentual wie folgt dar'4: Motive 45

SaZ2+3

Abfindung .......................................................... Neuer Zivilberuf .................................................... Menschenführung ................................................... Erweiterung ziviler Berufskenntnisse ................................ Unabhängigkeit......... .... .................................... .... Interessante Aufgaben .............................................. In öffentlichen Dienst zu kommen .................................. Teilstreitkraft bestimmen ........................................... Welt kennenlemen .................................................. Kameradschaft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufstieg zum Fachoffizier .......................................... Berufssoldat werden ................................................

61 0/0 10 0/ 0

13 % 8 Ufo

11 % 7 '/0 4

%

6 Ofo

4% 4% 4 Ofo

1 0/0

d) Zusammenfassung

Die bisher vorliegenden Umfrageergebnisse lassen sich also dahingehend zusammenfassen, daß junge Männer selten aus Einsicht und überzeugung in die Streitkräfte gehen und in der Bundeswehr bei jungen Soldaten oftmals kein inneres Verhältnis zum "Waffendienst" oder sonstigen Diensten vorhanden ist; daß sehr viele Wehrpflichtige und auch kurzdienende Zeitsoldaten den Wehrdienst als "notwendiges übel" hinnehmen und daß sich etliche Soldaten in den Streitkräften befinden, die gegen ihre überzeugung und ausgesprochen unwillig den Wehrdienst verrichten48 . Man mag über diese - sehr oft auch materiell begründete - Haltung dieser jungen Männer denken wie man will, nicht aber sollte man 48

44

Warnke / Mosmann (2) aus dem Jahre 1974. Warnke / Mosmann (2), S.75.

45 Mehrfachnennungen möglich. Dabei sind aus dieser Gruppe schon die anerkannten sog. Kriegsdienstverweigerer, die ideologiefrei eigentlich als Wehrdienstverweigerer bezeichnet werden müßten, bereits ausgeschieden. 48

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

73

die damit fast zwangsläufig verbundene fehlende innere Bejahung des Wehrdienstes für die latente Bereitschaft zur Verletzung militärischer Vorschriften und Gesetze unterschätzen, wie umgekehrt Wertvorstellungen, Rationalisierungen und positive Einstellungen zu den Streitkräften eine kriminoresistente Wirkung entfalten können. "Eine Person wird delinquent infolge eines Überwiegens der die Verletzung begünstigenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen", erklärt u. a. Sutherlands Theorie der differentiellen Kontakte 47 • Es wird daher die Hypothese aufgestellt, daß die heute bei vielen Wehrpflichtigen und Soldaten auf Zeit feststellbare "materielle Einstellung", oft verbunden mit einer Ablehnung staatlicher Autoritäten im allgemeinen und der negativen Beurteilung der allgemeinen Wehrpflicht im besonderen als wichtiger kriminovalenter Faktor des Wehrdienstes anzusehen ist, wie umgekehrt eine immaterielle, vom staatsbürgerlichen Pflichtgefühl geprägte Motivation eines geringen Teiles der wehrpflichtigen jungen Staatsbürger einen stark kriminoresistenten Faktor darstellt. Eine Militärkriminologie wird also wohl oder übel um die empirische Erforschung der "Gesinnungsproblematik" im Hinblick auf die militärische Delinquenz(prophylaxe) nicht herumkommen48 • Eine nüchterne Beurteilung der den Wehrdienst beeinflussenden kriminogen Faktoren sollte daher nicht nur monetäre, sondern auch motivationale Faktoren einbeziehen. Hier liegt wohl auch eine der schwersten, weitgehend noch ungelösten Aufgaben der Wehrpsychologie. 2. Wehrgerecl1tigkeit und Wehrungerecl1tlgkelt

Die Wehrpflicht scheint die einzige staatsbürgerliche Pflicht zu sein, die nur grundsätzlich und nicht prinzipiell vom Staatsbürger verlangt wird. Auf Schul- und Steuerpflicht pocht der Staat selbst bei knappstem Unterichtsraum und fehlenden Finanzbeamten. Die Gefahr, daß bei einer nur teilweisen Einberufung der tauglichen Wehrpflichtigen die Wehrmoral des ganzen Volkes leiden könnte, ist nicht unbegründet. Sie veranlaßte Blücher unmittelbar nach der Einführung der Wehrpflicht Scharnhorst zu beschwören: "Niemand soll eximiert sein49 ." In Wirklichkeit ist die volle Wehrgerechtigkeit nur selten erreicht worden. In Preußen scheiterte die konsequente Durchführung der friedensmäßigen Dienstpflicht an dem übermäßig großen Reservoir von Wehrpflichtigen. Im Jahre 1852 wurden z. B. von 66000 Verfügbaren 47

48 49

Zitiert bei Sack / König, S. 403. So angesprochen bei Arnold, S. 126 f. Zitiert bei Seidler / Reindl, "Die Wehrpflicht", 1971, S.219.

74

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

nur 38000 eingezogen. Auch im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg diente im Durchschnitt nur die Hälfte der Wehrpflichtigen. Die überzähligen wurden durch das Los ermittelt. Die "Tauglichkeitsverschärfungen" bewirkten lediglich, daß ein Teil der tauglich Gemusterten zur Ersatzreserve überschrieben wurde. In anderen Ländern bestand die Möglichkeit, sich vom Wehrdienst freizukaufen. In den Süddeutschen Staaten und in Sachsen sprach man vom "Einsteherwesen" . Ebenso konnten sich in Holland und Belgien die wohlhabenden Familien der "corvee militaire" entziehen. Das spanische Wehrgesetz von 1877 kannte sowohl die Stellvertretung wie den Freikauf. In den USA und in Großbritannien neigte man bis etwa 1960 zur Auswahldienstpflicht (selective service system), bei der neben der körperlichen Tauglichkeit auch die berufliche Situation und die Familienverhältnisse des Betroffenen berücksichtigt wurden. Nur in der 3. Französischen Republik ab 1871 wurde jeder waffenfähige Franzose eingezogen; ebenso wie in der Schweiz richtete sich dort die Friedenspräsenzstärke nach der Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen50 • In der Bundeswehr wurde die allgemeine Wehrpflicht in der Praxis bis 1971 noch selektiv gehandhabt; so wurden beispielsweise im Jahre 1969 vom Geburstjahrgang 1946 nur 410f0 der Wehrpflichtigen eingezogen51 • Daraus war, vor allem bei den wehrpflichtigen Bürgern, das Gefühl der Wehrungerechtigkeit entstanden; die Bereitschaft zwn Wehrdienst und dieser selbst litten darunter. Zur Zeit werden etwa 75 Ofo statt wie bisher 60 % aller gemusterten Wehrpflichtigen zur Bundeswehr eingezogen oder leisten einen vergleichbaren Dienst; der Rest ist entweder vQrübergehend oder ständig nicht wehrdienstfähig oder beruft sich auf Wehrdienstausnahmen. Für lediglich 3 Ofo der tauglichen und heranziehbaren Wehrpflichtigen haben die Streitkräfte keinen BedarfSI. Es bleibt abzuwarten, ob durch die Verkürzung des Grundwehrdienstes ab 1. Januar 1973 von 18 Monaten auf 15 Monate es gelungen ist, die insbesondere in den sechziger Jahren nicht ganz zu Unrecht heftig kritisierte "Wehrungerechtigkeit" deutlich zu mildern. Von der erhöhten Einberufungsquote erhofft sich der Bundesminister der Verteidigung zugleich, daß der Wehrdienst in Zukunft williger abgeleistet wird, da nunmehr jeder einigermaßen gesunde junge Mann 50 51 52

Vgl. im einzelnen Seidler / Reindl, "Die Wehrpflicht", 1971, 5.219 f. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.146, vom 28. Juni 1969, S.l. Weißbuch 1975/1976, Nr.284 (5. 164).

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

75

seiner Wehrpflicht nachkommen muß und niemand mehr auf den Bekannten, Freund oder Nachbarn verweisen kann, der nicht zu einem Gemeinschaftsdienst herangezogen wird. Da nach den Erklärungen der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr nicht daran gedacht ist, das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht in absehbarer Zeit aufzugeben53 , ist diesem Beweggrund gleichfalls große Bedeutung zuzumessen. Die in der Praxis nicht 100 % ig erreichte Erfüllung des verfassungsrechtlichen Gebots der allgemeinen Wehrpflicht hat nach den Beobachtungen des damaligen Wehrbeauftragten in der Tat dazu geführt, daß die wehrpflichtigen Soldaten ihren Dienst in der Bundeswehr weithin in dem Bewußtsein versehen, ein Sonderopfer für die Allgemeinheit erbringen zu müssen und nicht einer allgemein verbindlichen staatsbürgerlichen Pflicht nachzukommen54 • Die eigene Erfahrung wird im subjektiven Bewußtsein der wehrpflichtigen Soldaten häufig mit dem Moment des Zufälligen in Zusammenhang gebracht, wobei nach verbreiteter Anschauung gewisse privilegierte Gruppen schon Mittel und Möglichkeiten finden, diesem Zufall etwas nachzuhelfen, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Dabei ist nicht einmal wesentlich, ob diese weitverbreitete Meinung der Wirklichkeit tatsächlich entspricht. Sie ist eine soziale Tatsache, die ihre negativen Auswirkungen ganz unabhängig davon zeitigt, ob die realen Zahlenwerte mit dem subjektiven Empfinden der Betroffenen weitgehend übereinstimmen oder nicht. Der Anteil derer, die nach eigenen Angaben einen Fall von "Wehrungerechtigkeit" persönlich erlebt haben wollen, liegt - abhängig vom Bildungsstand - zwischen 10 und 20 0/rI'5. Erlebte oder vermutete "Wehrungerechtigkeit" verstärkt bereits bestehende negative Attitüden zum Wehrdienst. So kann mangelnde Wehrgerechtigkeit jedenfalls auf die Dauer auch die Sicherheit gefährden58, denn mit einem ungerechten Wehrdienstsystem wächst zwangsläufig auch die Abneigung gegen den Wehrdienst schlechthin. Es könnte also der Umstand kriminologisch relevant sein, wie weit Ungleichbehandlung von zum Militärdienst tauglicher Jahrgänge für den Geist in der Truppe schädlich und für den einzelnen Soldaten mitauslösendes Moment seines delinquenten Verhaltens gewesen ist. Weißbuch 1973/1974, Nr. 133 (5.104). Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, 5.58. 55 Weißbuch 1975/1976, Nr.284 (5. 164). 68 Gegen Ende dieses Jahrzehnts wird sich die Zahl aller bis dahin nicht gezogenen Wehrdienstfähigen auf rund 300000 belaufen; vgl. Bericht der Wehrstrukturkommission, 5.26. 53

54

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

76

3. Die teilweise Entsozialisierung des Soldaten

a) Die Armee bzw. Kaserne als quasi geschlossenes System In der Bundesrepublik Deutschland sind seit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht alle Männer, die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind, vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an wehrpflichtig (§ 1 WPflG). Der Grundwehrdienst dauert 15 Monate (§ 5 WPflG). Für eine große Anzahl dieser jungen Männer bedeutet die Verpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes einen von außen bewirkten, unfreiwilligen Bruch mit der bisherigen zivilen Lebensgemeinschaft wie Elternhaus, Schule, Studium, Betrieb, Verein und Beruf. So stellt sich die von der Gesellschaft, aber auch vom Militär selbst immer wieder aufgeworfene Frage, ob mit dem Eintritt des jungen Soldaten in die Bundeswehr bzw. während der Ableistung des Wehrdienstes eine Entsozialisierung des Soldaten stattfindet - und ob diese latenter Delinquenzbereitschaft förderlich ist. Der erste Teil der Frage müßte bejaht werden, wenn die Armee bzw. die Kaserne ein "geschlossenes System" darstellte, in dem der Soldat "von der übrigen Gesellschaft abgesondert wird, eine Isolierung von der Umwelt stattfindet"57. Nach Ellenberger58 sind geschlossene Systeme solche, die durch schwer zu überwindende, wenn nicht gar unüberwindliche Schranken von der Außenwelt getrennt sind, wie beispielsweise Gefängnisse, Klöster, Psychiatrische Anstalten, Kriegsgefangenenlager usw., aber auch Krankenhäuser, Altersheime und Waisenhäuser. Bemerkenswerterweise bezeichnet Mergen59 Kasernen oder militärische Institutionen nicht als geschlossenes System. Andere Soziologen verwenden gerne den Ausdruck "totale Institution" und verstehen darunter Arbeits- und Wohnbereiche, wo viele Individuen unter gleichen Umständen ein formell geregeltes Leben führen und für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgesondert sind. Während im zivilen Leben die Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereiche getrennt sind und die Personen mit verschiedenen Partnern interagieren, sind sie in einer totalen Institution einer einheitlichen Autorität unterworfen, die den Tagesablauf nach einem festen Plan regelt60 • 57 58 59

60

Goffman, S. 16 ff. Ellenberger, S. 19 ff. Mergen, S. 428 f., 434. Ziegler, S. 16 ff.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

77

Besonderes Merkmal für die Beschreibung des Militärs ist aber der hierarchische Aufbau mit seiner scharfen Trennung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, eine in aller Regel deutliche soziale Distanz zwischen beiden, sowie für die Dauer des Grundwehrdienstes die "Suspendierung" von anderen "Rollenverpflichtungen"61. Nicht mehr existiert in der heutigen Bundeswehr das Merkmal der "Isolierung von der Umwelt"61, wie sie in der damaligen Wehrmacht größtenteils vorhanden gewesen sein mag. Im Gegenteil hat das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform", wie es seit Beginn der "Inneren Führung" in der Bundeswehr besteht und praktiziert wird, bewußt den Gegensatz zwischen dem Soldaten "drinnen" - in der Kaserne - und dem zivilen Staatsbürger "draußen" - im Berufsleben - verringert, wenn nicht sogar nahezu nivelliert.

Unbestritten findet dennoch beim Eintritt des Rekruten in die Bundeswehr ein teilweiser sog. Mortifikationsprozeß62 statt, in dem das neue "Mitglied" sein altes Selbst zum Zwecke eines neuen Rollenstudiums zurückstellen muß. Dazu gehören insbesondere der Ausschluß einer privaten Lebensweise durch eine gemeinsame Unterkunft, detaillierte Vorschriften, Kontrolle von Verhaltensweisen, über die der Rekrut bisher selbst entscheiden konnte, die Einschränkung von Grundrechten nach Art. 17 a GG bis hin zur auch nach außen hin sichtbaren, fast symbolischen Vertauschung der zivilen Kleidung mit der Uniform. Den jungen Wehrpflichtigen von heute wird jedoch auch ein bisher nicht gekanntes Ausmaß an Freizeit und Urlaub durch Gesetz, Vorschriften und Verordnungen eingeräumt63, damit ihm der Kontakt zur Umwelt, zu Familie und Freundes- und Bekanntenkreis sowie zur Gesellschaft im allgemeinen erleichtert und ermöglicht wird. Dennoch erscheint es aufgrund der genannten Merkmale teilweiser Mortifikation gerechtfertigt, die Bundeswehr bzw. eine Kaserne als geschlossenes System zu betrachten, zumal Mergen vergleichsweise auch Krankenhäuser und Altersheime als geschlossene Milieus betrachtet, obwohl auch hier keine Isolierung von der übrigen Gesellschaft stattfindet. Denn die hauptsächlichen Kriterien des geschlossenen Systems "Kaserne" sind: - Gemeinsamer Arbeits- und Wohnbereich, wo viele Individuen unter gleichen Umständen ein formell geregeltes Leben führen; - hierarchischer Aufbau, also eine scharfe Trennung zwischen den sozialen Statusgruppen in der Armee; 61

Ziegler, S. 16.

62 Vgl. dazu Ziegler, S.17. es Vgl. z. B. § 28 SoldatenG ("Urlaub") sowie die "Soldatenurlaubsverordnung" in der Fassung vom 23. November 1972.

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

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-

programmierter Tagesablauf nach Dienstplan unter ständiger Dienstaufsicht.

Diese Aufzählung wäre indes nicht erschöpfend, denn ein Hauptproblem bei der Untersuchung der hauptsächlichen Charakteristika eines geschlossenen Milieus liegt in "der Suche nach Wechselbeziehungen zwischen einer bestimmten Anzahl von Variablen und den psychologischen Reaktionen der Personen, die sich in diesem Milieu aufhalten"64. Diese Variablen dürften in einer Kaserne im Hinblick auf Kontaktmöglichkeiten zur zivilen Umwelt, Räumlichkeiten und Belegungsdichte, schnellem Wechsel in den Vorgesetztenverhältnissen, Qualität des Führungspersonals etc. äußerst zahlreich sein. Ohne auf die hieraus resultierenden psychischen und möglicherweise auch delinquenten Reaktionen der Soldaten nun bereits einzugehen, scheinen für die Bundeswehr allgemein vier spezifische Variablen von besonderer Bedeutung zu sein65, wie sie im zivilen Bereich in dieser Eigenart kaum anzutreffen sind: Die erste Variable besteht in den soziologisch unterschiedlichsten Typen von einander fremden Individuen, die sich in der reinen Männergesellschaft Bundeswehr begegnen. Es ist bereits aufgezeigt worden, daß die Bundeswehr über eine massierte Anhäufung von jungen Erwachsenen verfügt. Diese "kriminalitätsanfälligen Jahrgänge" münzen ihre nicht eingelösten emotionalen Bedürfnisse in teilweise aggressive Verhaltensweisen gegenüber den - sekundären - Sozialisationsvermittlern (Ausbilder, Vorgesetzte, Lehrer usw.) um, die nur noch rollenspezifische Orientierungsmuster anzubieten haben66 ; akute Dauerkonflikte werden dadurch in der Institution produziert. Weiterhin ist festzustellen, daß die verschiedensten Typen von Individuen in der Armee bezüglich ihrer unterschiedlichen Ausbildung und Bildung einen selektierten soziologischen Querschnitt der gesamten jungen männlichen Generation darstellen. So kommen vielerlei Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, wie sie sich in der zivilen Gesellschaft herausgebildet haben, den Streitkräften, die auf technische Intelligenz angewiesen sind, unmittelbar zugute; aber auch Unruhe, Subordination und Anomie, d. h. hier allgemeine Orientierungslosigkeit, Unsicherheit gegenüber den militärischen Lebensverhältnissen, Unfähigkeit, sich bei schnell wandelnden soldatischen Verhaltensnormen (z. B. Befehle) zurechtzufinden, werden in die Armee hineingetragen. 84

Ellenberger, S. 19.

Vgl. Schriftenreihe Innere Führung (VIII), Reihe Bildung, S.99 in Anlehnung an Ellenberger, S. 22 f. 86 Vgl. Schössler (1), S.45. 86

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

79

Die zweite Variable betrifft das Ziel der Institution. Das Ziel der Bundeswehr orientiert sich an Art. 87 a GG, der den Streitkräften bereits in Friedenszeiten einen Verteidigungsauftrag zuweist. Dazu muß die Bundeswehr "gemeinsam mit den Truppen unserer Bündnispartner im Frieden durch ständige Einsatzbereitschaft einen Gegner davon abhalten, militärische Gewalt anzudrohen oder anzuwenden. In Krisen trägt sie dazu bei, daß die politische Führung verhandeln kann, ohne sich einem fremden politischen Willen unterwerfen zu müssen. Kommt es trotz Abschreckung zu einem Angrüf auf unser Land, soll sie die Unversehrtheit des eigenen Territoriums wahren oder wiederherstellen. Die Bundeswehr verteidigt, wenn es die Lage verlangt ... "87. Diese Variable verlangt von den Betroffenen Einsicht in die politische und militärische Lage und damit ein gerüttelt Maß an Kenntnissen geschichtlicher, politischer und militärischer Zusammenhänge. Die dritte Variable besteht in der Natur der anstaltlichen Organisation. Die hierarchische Struktur der Bundeswehr mit dem Prinzip von Befehl und Gehorsam löst Spannungsfelder aus, wie sie in einer zivilen Großorganisation vermutlich nicht in dieser Vehemenz vorzufinden sind. So belasten insbesondere Wehrpflichtige aus einer sozialen Umwelt, in der Autoritätsansprüche nicht mehr widerspruchslos hingenommen werden, die innere Ordnung der Streitkräfte, andererseits besitzt die Armee Mittel und Möglichkeiten zur "Disziplinierung", d. h. zur Durchsetzung ihres Auftrages Sanktionen festzusetzen und zu vollziehen. Die vierte Variable ist die Dauer des Aufenthaltes im geschlossenen System. Dabei variieren die Verhaltensweisen derer, die sich dort befinden, entsprechend der Länge ihres Aufenthaltes; oft zeigt ein kurzer Aufenthalt günstigere Wirkungen als ein langer Aufenthalt6s • Die Dauer der allgemeinen Wehrpflicht beträgt heute bei der Bundeswehr fünfzehn Monate. Viele Soldaten verpflichten sich aber aus den verschiedensten Gründen auf längere Dienstzeiten zwischen 24 Monaten und 15 Jahren68 ; der zivile Lebenszyklus wird also zeitweise und zum Teil nicht unerheblich unterbrochen. Damit läßt sich zusammenfassend im Hinblick: auf die hauptsächlichen Charakteristika der Bundeswehr bzw. der Kaserne trotz einer unbestimmten Anzahl von Variablen feststellen, daß wir es hier - im abgeschwächten Sinne - mit einem geschlossenen System zu tun haben. Die kriminogene Konstellation der Großorganisation "Bundeswehr" Weißbuch 1971/1972, Nr.29 (S.24). Ellenberger, S. 22 f . .. Vgl. dazu näher Warnke / Mosmann (2), S. 74 ff. 67

88

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

80

scheint neutral; aber die militärspezifischen Variablen können sehr schnell mitauslösendes Moment delinquenter Verhaltensweisen werden. b) Die Bundeswehr als Instanz der sog. sekundären SoziaLisation

Damit ist der Weg frei für die zunächst theoretisch erörterte Frage, ob mit dem Eintritt in dieses quasi geschlossene System bzw. während der Dauer des dortigen Aufenthaltes eine Entsozialisierung des Soldaten stattfindet. Dazu bedarf es vorab der nicht von allen Autoren einheitlich verwendeten begrifflichen Bestimmung dessen, was heute von den Soziologen und Kriminologen als Entsozialisierung bzw. umgekehrt als Sozialisierung verstanden wird: "Unter Sozialisierung läßt sich ... die Verdichtung der sozialen Beziehungen, die damit stärkere Abhängigkeit der Einzelglieder der Gesellschaft voneinander, ihre zunehmende Gruppenbildung und Eingespanntheit in Institutionen und Organisationsapparate verstehen, kurz: die Verstärkung der Verflochtenheit des einzelnen in die Gesellschaft vornehmlich durch die räumliche Verdichtung und die technische Arbeitsteilung; ein Prozeß, der als ein neuzeitlicher aufgefaßt wird und zu anderen Ergebnissen führt als die soziale Eingebettetheit des einzelnen in vorindustriellen Zeiten70." Bei HUde Kaufmann heißt es: "Deshalb setzt für den Menschen von Anfang seines extrauterinen Lebens an ein Prozeß der Umwelteinwirkung auf ihn ein, der zum Ziele hat, die auf Zusammenleben angewiesenen Menschen langsam in die menschliche Gesellschaft einzugliedern, um auf diese Weise die soziale Existenz des Menschen zu ermöglichen. Diesen Eingliederungsprozeß in seiner Gesamtheit hat man vor Augen, wenn von Sozialisationsprozeß (oder auch Sozialisierung) gesprochen wird71 ." Bei der Sozialisation geht es also um die Frage der Einwirkung sozialer Fakten auf die Entwicklung und Ausprägung der menschlichen Persönlichkeit und das Hineinwachsen des Individuums in das Regelund Normensystem der Gruppe, Organisation oder Gesellschaft72 • Im Rahmen des raschen gesellschaftlichen Wandels ist Sozialisation ein lebenslanger Prozeß. Die Familie als traditionell grundlegende Sozialisationsinstanz hat eine Reihe ihrer Funktionen an andere Institutionen abgegeben. Schule und Beruf, Vereine und Massenmedien haben an Einfluß gewonnen. Trotz der Erkenntnis, daß auch Erwach70 71 72

Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 9. Bd., S. 456. H. Kaufmann, S. 146. Göppinger, S.5, 116, 175.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

81

sene immer neuen Einflüssen und Prägungen ausgesetzt sind, ist der Bereich der sog. Erwachsenensozialisation noch kaum ausdrücklich untersucht worden73• Vergleichbar sonstigen gesellschaftlichen Einrichtungen steht die Bundeswehr vor der Aufgabe, den Heranwachsenden oder jungen Erwachsenen spezifische Fähigkeiten und Verhaltensorientierungen zur Erfüllung bestimmter, als sozial bedeutsam angesehener Funktionen zu vermitteln. Die Bundeswehr ist also auch eine der sozialen Instanzen, wo der von außen wirkende Druck des quasi geschlossenen Systems durch Selbständigkeit auszugleichen und zu ersetzen ist, d. h. die objektiven Normen müssen allmählich zu subjektiven Maximen und Motiven des Verhaltens umgesetzt werden. So ist empirisch nachgewiesen, daß durch den Wehrdienst sowohl die "Anomie" als auch "politische Entfremdung" und "Politik als Störfaktor" abnehmen14 • Das bedeutet konkret, daß die Wehrpflichtigen durch die Wehrdienstzeit weniger orientierungslos, weniger unsicher, weniger mißtrauisch gegenüber Politikern und politischen Prozessen geworden sind; "von einer Entpolitisierung kann keinesfalls die Rede sein"75. Man könnte verkürzend sagen, daß die Bundeswehr bei den Wehrpflichtigen während des Wehrdienstes demokratisches Bewußtsein entwickelt und fördert. Das bedeutet also nichts anderes, als daß die Streitkräfte als Sozialisationsinstanz in der sekundären Entwicklungsphase am Sozialisationsprozeß mitwirken. Vor der Frage nach der Entsozialisierung steht also zunächst die Erkenntnis, daß der Wehrdienst in den Streitkräften ein Bestandteil der sekundären Sozialisationsphase der jungen Wehrpflichtigen ist. Cunis bemerkt dazu, daß "das Wehrpflichtigenheer in die soziale Struktur einer Gesellschaft verwoben ist. Militärische Werthaltungen und Verhaltensweisen finden auf diese Weise Eingang in das soziokulturelle System"76 und umgekehrt. Die Sozialfunktion der Bundeswehr kann mit anderen außerfamiliären und außerverwandtschaftlichen Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen verglichen werden, wie Schulen, Werkstätten der Auszubildenden in Betrieben, Universitäten usw. Hier wie dort vollzieht sich eine "öffentliche" Sozialisation, die der familiären folgt. 73 Schriftenreihe Innere Führung, Reihe Ausbildung und Bildung, Heft 17 (1974), S.l1 (Hrsg.: BMVg - FüS I 15 -). 74 Siehe Fußnote 73, a.a.O., S.23. Befragt wurden 1 288 Wehrpflichtige aus Ausbildungskompanien für Heer, Luftwaffe und Marine. 75 Schriftenreihe Innere Führung, Reihe Ausbildung und Bildung, Heft 17 (1974), S.23 (Hrsg.: BMVg - FüS I 15 -). 78 Cunis', S. 131.

6 Fiedler

82

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

In diesem Sinne sehen vor allem Wehrpflichtige die Funktion des Militärs als Ausbildungsstätte für berufliche Fertigkeiten sowie als Charakterschulung; die eigentliche militärische Zielsetzung wird nachrangig bewertet77 • So erhoffen besonders diejenigen, die sich als Soldaten auf Zeit länger als zwei bis drei Jahre verpflichten, neben der Verpflichtungsprämie bzw. Abfindung eine Weiterbildung und fördernde Schulung in ihrem Beruf, die ihnen bei der Rückkehr zum zivilen Arbeitsplatz oder für eine neue berufliche Situation von Nutzen sein kann78. Eine charakterliche Festigung erwarten unter den Rekruten vor allem die Abiturienten; mit 48 % ist der Prozentsatz erstaunlich hoch, während bei den Hauptschülern nur 25 Ofo diese Ansicht äußerten78 • So erscheint insgesamt gesehen die Aufgabe der Bundeswehr, sozial angesehene Funktionen zu vermitteln, nicht problematischer als die Aufgabe anderer gesellschaftlicher Einrichtungen, zumal die wachsende Technisierung der Streitkräfte auch deren interne soziale Organisation stärker in Richtung auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge geöffnet hat. Der Bundeswehr wurde deshalb wider Willen die Funktion zugespielt, in Teilbereichen eine ,,(Berufs-)Schule der Nation" zu sein. Ihr wird also nicht nur die Vermittlung lediglich "rein funktioneller" Verhaltenstechniken zugemutet, sondern zugleich auch Funktionen aus der sekundären Sozialisationsphase. Vorherrschend ist daher in der Öffentlichkeit beispielsweise das Lob vieler Arbeitgeber über den positiven Einfluß der Bundeswehr auf Selbstdisziplin und Arbeitsmoral ihrer "gedienten" MitarbeiterSO, während die Stimmen, die in der Bundeswehr eine "Schule des Gammelns" sehen, selten zu hören sind. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß Sozialisation in der und durch die Armee ein Prozeß ist, in dessen Verlauf die Soldaten zunächst die wesentlichen Norm- und Wertvorstellungen der Streitkräfte und ihres Auftrages übernehmen und damit Verhaltenssicherheit und soldatische Handlungsfähigkeit erwerben. Dieser Prozeß bedeutet jedoch nicht bloße Anpassung an militärische Gegebenheiten und Erwartungen, sondern beinhaltet zugleich den Erwerb der Fähigkeit zum "mitdenkenden Gehorsam" und zur Einsicht in normgerechtes Verhalten. Unter diesem Aspekt heißt militärische Sozialisation auch Persönlichkeitsbildung und Entwicklung von Selbständigkeit des jungen 77

ZiegleT, S. 16 ff.

Seit Beginn des Berufsförderungsprogramms im Jahre 1960 haben 40 000 Zeitsoldaten bei der Bundeswehr ihre Meisterprüfung gemacht oder ihren Gesellenbrief erworben; vgl. "Die Welt" vom 6./7. Dezember 1975, Nr. 284, S. 3. 79 Zahlen nach ZiegleT, S. 16. 78

80

Fleckenstein, S. 391.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

83

Soldaten und geht damit über den Begriff der "Erziehung" hinaus, der sich auf die zielgerichtete und schematisierte Planung und Vermittlung von Lernprozessen beschränkt. Die Bundeswehr ist als Großorganisation eine der Sozialinstanzen, von denen entscheidende Einflüsse auf die Wehrpflichtigen ausgehen, vermutlich auch solche mit kriminalitätshemmender Wirkung. c) Die Streitkräfte als Faktor teilweiser Entsozialisation

Nach diesen Feststellungen hat es den Anschein, als wäre die Fragestellung nach einer möglichen Entsozialisation des Wehrpflichtigen beim Eintritt in die Bundeswehr bzw. während der Ableistung des Grundwehrdienstes überflüssig. Gemessen an einem klassischen Beispiel der Entsozialisierung, nämlich dem zivilen Strafvollzug, kann in der Tat nicht von einer entsozialisierenden und erst recht nicht entpersonalisierenden Wirkung gesprochen werden. Das wird schon dadurch deutlich, daß man insbesondere im Anschluß an den Vollzug der Freiheitsstrafe von der Notwendigkeit der Resozialisierung spricht; es besteht aber zweifelsfrei keine Notwendigkeit der Resozialisierung nach Ableistung des Wehrdienstes. Auch ist der Soldat, wie oben dargelegt, nicht wie der in der Strafvollzugsanstalt Eingeschlossene aus seiner sozialen Umgebung herausgenommen; kein Soldat wird in der Kaserne eingeschlossen. Aber dennoch deuten gewisse übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit dem StrafvollzugSI auf eine teilweise Entsozialisierung hin. Denn überall dort, "wo Personen und Gruppen ganz oder teilweise längere Zeit außerhalb des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhanges stehen, kann es dazu kommen, daß sie sich mit der Gesellschaft nicht oder nur periphär verbunden fühlen und dies durch ein von der Norm abweichendes Verhalten zeigen"8!. In einem Urteil hat das Bundessozialgericht83 einige der einschneidenden Veränderungen, denen der Wehrpflichtige vom Tage seiner Einberufung an unterliegt, anschaulich dargelegt: "Zu den Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes zählt, daß der Soldat durch seinen Dienst an seinen Standort oder Einsatzort gebunden ist und für die Dauer seines Wehrdienstverhältnisses aus seinem bürgerlichen Leben herausgenommen und von dem Orte ferngehalten wird, an dem sich der räumliche Schwerpunkt seiner bürgerlichen Lebensinteressen befindet. 81 Vgl. den Katalog von "sozialer Isolierung" bei Hellmer, J., "Sozialisation, Personalisation und Kriminalität", in: Wurzbacher, G., "Der Mensch als soziales und personales Wesen", S.216. 82

••

83

Fürstenberg, S. 132.

BSG - Urteil vom 29. Januar 1970 - 8 RV 91/68 - .

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

84

Das bedeutet zugleich, daß der Dienstpflichtige durch den Wehrdienst in seiner Freiheitsgestaltung und Bewegungsfreiheit eingeengt wird. Sein Lebensrhythmus wird durch den Wehrdienst grundlegend geändert. Er muß den Kreis seiner Familie, seiner Freunde und Bekannten für einen langen Zeitraum verlassen und ist nunmehr nicht nur während der Dienstzeit - daß entspräche etwa der Situation im Arbeitsleben - sondern auch während seiner Freizeit tatsächlich gezwungen, mit einer größeren Zahl fremder, individuell verschiedener Menschen zusammenzuleben." Am meisten ungewohnt scheint für den jungen Soldaten die tägliche Pflicht zur Ein- und Unterordnung zu sein, die kaum Rücksicht auf den bisherigen persönlichen Status im Zivilleben nimmt. Öfters muß er äußere Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen wie heimatferne Einberufung, eignungsfremde Verwendung, spartanische Unterkünfte, Härten bei der Einteilung zu Sonderdiensten84 • Den meisten Soldaten wird psychisch noch mehr abverlangt als körperlich. In der Armee kommt es häufig zur ersten Begegnung mit Waffen und Munition, mit dem Nachdenken über den Krieg und das Sterben. Besonders belastend für den Wehrpflichtigen kommt hinzu, daß er als kasernierter Soldat85 selten allein ist. Auf dienstliche Anordnung hin ist er verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen und an einer Gemeinschaftsverpflegung teilzunehmen (§ 18 Abs.1 SoldatenG); die "Kontrolle" durch die eigenen Kameraden ist fast permanent. Es gehen abweichend vom bisherigen Zivilleben Aufstehen, Arbeiten, Essen, Hinlegen usw. nach Befehl vor sich. Die Wehrpflichtigen sind einem ihnen fremden Regime mit hierarchischer Ordnung nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam unterworfen. Es besteht keine Möglichkeit der Ausübung des zivilen Berufes an der bisherigen Arbeitsstätte oder in der bisherigen Verwendung für die Dauer des Wehrdienstes. Auch werden Eigeninitiativen und spontane Kräfte gelegentlich durch personelle Fehlplanung ausgeschaltet, wodurch kein inneres Verhältnis zum "Dienst an der Waffe" und sonstigen Diensten entstehen kann. Die Freizeit kann nicht immer in der gewünschten Umgebung verbracht werden, bedingt durch die räumliche Trennung von Familie, Freunde- und Bekanntenkreis; die Möglichkeiten sinnvoller Freizeitbewältigung am Standort sind oftmals sehr beschränkt. Teilweise übereinstimmung zum Strafvollzug zeigt sich also in der - zeitweisen - Herausnahme aus der gewohnten sozialen Umwelt, allerdings gemildert durch eine insgesamt relativ kurze Wehrdienstzeit, Wochenendurlaub, Urlaub, Familienheimfahrten und freier Ausgang in Vgl. dazu Kuhnen, S. 12 ff. "Kasernenpflichtig" sind laut "Verwaltungsvorschrift über die Verpflichtung zum Wohnen in der Gemeinschaftsunterkunft" (VMBI 1973, S.38 - 19-03-08-00) u. a.: "die Soldaten, die auf Grund ihrer Wehrpflicht Wehrdienst leisten (Grundwehrdienst, Wehrübung oder dienstliche Veranstaltung) ... " 84 85

1.

Kriminogene Konstellationen der Armee

85

Zivil nach Dienst, wobei von letzterem ca. 64 Ufo aller Rekruten ausnahmslos Gebrauch machen 86 • Im Gegensatz zum Strafvollzug findet aber keine Entziehung der Freiheit statt, der Soldat wird nicht aus den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen gerissen; die Grundsätze der "Inneren Führung" sollen im Gegenteil die Integration in die Gesellschaft und eine zeitgemäße Menschenführung sicherstellen. Dennoch kann daraus nicht der Schluß gezogen werden, eine Entsozialisierung könne keineswegs stattfinden. Denn der junge Soldat muß in aller Regel gewissermaßen einen Sprung vom zivilen Leben zum militärischen Dienst wagen; dieser Sprung gelingt aber nur dort, wo ein inneres Verhältnis zur Institution bzw. zur geforderten Dienstleistung vorhanden ist oder entwickelt wird. Dies ist aber bei dem Wehrpflichtigen der Bundeswehr zu einem großen Teil nicht der Fall. So ist ebenfalls empirisch nachgewiesen, daß es der Bundeswehr nicht gelingt, einem Großteil der Wehrpflichtigen Sinn und Aufgabe des Soldaten überzeugend genug darzustellen: Insgesamt 50,6 Ufo der Wehrpflichtigen charakterisieren ihre Dienstzeit als mehr oder weniger sinnlos, nur 14,8 % geben an, keine "Gammelei" erlebt zu haben und rund 75 Ufo meinten, nichts für ihren Arbeitsplatz Verwertbares gelernt zu haben87• Die Rollenanforderung, die den Soldaten bei der Bundeswehr erwartet, ist besonders formal 88 und oft auch sehr hart89 • Das Militärtypische überwiegt das Individuelle, die Sachdominanz beherrscht den militärischen Alltag an Stelle der Personen- und Gruppendominanz. Diese Erscheinungen machen den Sprung von der Familie oder allgemein den primären Sozialisationsinstanzen in die militärische Umwelt auch zur inneren Schwierigkeit, vor allem für labile Soldaten, die durch soziale Fehlleistungen und mangelnde Persönlichkeitsentwicklung gefährdet sind. Cunis bemerkt zu diesem Problemkreis zutreffend: "Demgegenüber hat das Wehrpflichtigenheer stets die größten Rollenkonflikte aufzuweisen gehabt. Der Wehrpflichtige, der eine Reihe von zivilen Rollen internalisiert hat, wird in der Armee den erlernten Normen und Verhaltensweisen entfremdet90 ." 86 87

Ziegler, S. 18.

Schriftenreihe Innere Führung, Reihe Ausbildung und Bildung, Heft 17

(1974), S.22.

88 Am meisten wird von den Rekruten die sog. Formalausbildung, das frühere "Exerzieren" beklagt. 89 Die dreimonatige Grundausbildung fordert die größten physischen Belastungen des oftmals sportlich untrainierten Eingezogenen. 90

Cunis, S. 132.

86

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Man kann sonach den Gesamtprozeß in der Entwicklung des Wehrpflichtigen beim Eintritt in die Bundeswehr dahingehend charakterisieren, daß zunächst eine "Labilisierungsphase" entsteht, die von den meisten Soldaten mehr oder weniger schnell überwunden wird. Wird diese Phase jedoch nicht überwunden, kommt es zwangsläufig zu einem Prozeß teilweiser Entsozialisation, der um so größer ist, je stärker die geistig-seelische Disposition des Einberufenen, seine wirtschaftliche Lage und/oder seine soziale Verflechtung labile Reaktionen auf äußere Veränderungen erwarten lassen81 • Dies führt dann häufig zu delinquenten Verhaltensweisen, Scheinanpassung oder Resignation und letztlich zu einer sozialen Belastung für die militärische Umwelt. Es erscheint also die These gerechtfertigt, daß die Streitkräfte einen Faktor teilweiser Entsozialisation des Soldaten darstellen. Diese zunächst groben Zusammenhänge bedürfen noch einer differenzierenden Ergänzung: Je nach dem Typ des Individuums ergeben sich unterschiedliche Anpassungsprobleme. Dabei spielen die biologischpsychologischen Charakteristika des einzelnen wie soziale Fehlleistungen, Risikobewältigung oder Aggressionsbereitschaft in besonderen Situationen, ebenso Persönlichkeitsentwicklung, seelisches Wesen und Erleben, Wertgefüge, Familienstruktur und persönlicher Leistungsbereich eine nicht unbedeutende Rolle 9!. Zu der Art der Verflochtenheit einer Persönlichkeit mit ihrem spezifischen Sozialbereich93 kommen hier die Diskrepanz zwischen dem aufgezeigten Normenkatalog der Bundeswehr und denen der allgemeinen Gesellschaft mit ihrem überwiegend materialistischem Wertepluralismus, die Konflikte zwischen dem militärischen Lebenskreis und der Freizeitsphäre, zwischen Bundeswehr als schwer überschaubarem Großgebilde und Elternhaus, Freundeskreis usw. Daher muß nicht nur auf die Rollenstruktur des jeweiligen Handlungsfeldes, sondern auch auf das kulturelle Bezugssystem eines Individuums bzw. einer Gruppe überhaupt bei der Untersuchung kriminogener Konstellationen im quasi geschlossenen System der Bundeswehr geachtet werden. Die Erkenntnis der teilweisen Entsozialisierung des Soldaten erklärt die nicht nur beim Eintritt in die Bundeswehr zutage tretenden krisenhaften Erscheinungen, die als prädelinquentes Verhalten angesprochen werden können, und die sich in der Zeit des Grundwehrdienstes nur sehr langsam abzubauen scheinen. 81

82 83

Fiedler (1), S. 42. Fiedler (1), S. 42. Göppinger, S. 5.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

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Die Folgen der Beherrschungs- und Unterwerfungsstruktur im militärischen Bereich - hervorgerufen durch die Rangordnungen der sozialen Klassen, also der Dienstgrade und Dienststellungen - dürften kriminovalente Qualität beinhalten, die zum Ausdruck kommt durch Aggressivität infolge sehr intensiv empfundener Abhängigkeit, Streitlust, Anomie im definierten Sinne, rivalisierende Gruppenbildung, übermäßigen Alkoholkonsum usw. Diese kriminovalente Konstellation kann man nur so charakterisieren, daß die Wehrpflichtigen durch die soziale Statusänderung vielfach eine persönliche generelle Verunsicherung erleben, die mit löiner Labilisierung des Verhältnisses zur Umwelt verknüpft ist, welche erst über den langsamen und mühevollen Aufbau eines neuen Bezugssystems im Sinne einer Restabilisierung kompensiert werden kann. Letztere geschieht beispielsweise durch Einordnung in das neue soziale Rollengefüge, Anerkennung der militärischen Normen und persönlichen Autoritätsausübung durch Vorgesetzte, Solidarität mit den Kameraden, Zurückstellung der individuellen Erwartungen hinter die Objektiven militärischen Anforderungen und das Erlernen militärischer Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Zwangsläufig kann der militärische Alltag dem Wehrpflichtigen zunächst auch keine unmittelbare Hilfestellung bei seiner Restabilisierungsphase geben, denn die unabänderliche Einförmigkeit vieler Dienste wie Instandhaltung von Waffen und Geräten, Formalausbildung, Wach- und Bereitschaftsdienste usw. verwehrt dem Soldaten, an Erfolg und Mißerfolg seiner Leistung zu wachsen und zu reifen. Er gewinnt keinen ganzheitlichen Überblick über seine eigenen und über fremde Arbeitsleistungen, sondern verharrt notgedrungen im Detail. Die starke Reduzierung der eigenen Urteils- und Entscheidungsmöglichkeiten wirkt kriminovalent, weil dadurch neben der meist intensiv empfundenen "Zwangslage" des Wehrdienstes die Umweltabhängigkeit und zugleich das Bedürfnis nach gehaltvollen Aktivitäten verstärkt wird. Darüber hinaus dürfte eine Reihe weiterer kriminologisch bedeutsamer Gegebenheiten hinzukommen, die die Delinquenzbereitschaft des Soldaten erhöhen können und die hier thesenartig aufgezeigt werden sollen: Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften hat oftmals die beklagenswerte Wirkung zur Folge, daß junge Soldaten durch charakterlich verdorbene Kameraden bevormundet werden. Die "soziale Mangellage", insbesondere während der ersten drei Monate der Grundausbildung sowie allgemein der "Mannschaften" auf der äußerlich sichtbaren untersten Stufe der Dienstgradleiter, Heimweh oder Sehnsüchte des Rekruten, können kriminalitätsfördernd wirken. Die Ver-

88

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

mutung, durch das enge Zusammenleben der Wehrpflichtigen müßte die "soziale Isolation", also Kontaktarmut, Einsamkeitsgefühle usw. abnehmen, läßt sich nicht mit der geforderten statistischen Sicherheit bestätigen94 • Hinzutretende Persönlichkeitsmängel des Soldaten spielen dann als Verursachungsfaktoren für die militärische Delinquenz eine nicht unerhebliche Rolle. Die letzte schwierige Schwelle des Soldaten ist sodann der Prozeß der "Reintegration" in das zivile Berufsleben und die Gesellschaft. Als Soldat brauchte der Entlassene "nur" zu gehorchen, sich an den Vorgesetzten zu orientieren und den Dienstplan einzuhalten. Nun muß er (wieder) selber entscheiden, eigene Initiative entwickeln, sich nicht nur einen Tages-, sondern auch "Lebensplan" selbst entwerfen. Die Situation ist gerade bei dem Wehrpflichtigen, der nach der 15monatigen Abwesenheit in seinen alten Beruf zurückkehrt, dadurch geprägt, daß in der Regel die technische und personelle Entwicklung während der Zeit seiner Abwesenheit weitergegangen ist. Das führt sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber zu Schwierigkeiten, bei deren Lösung nicht unbeachtet bleiben darf, daß sie allein aufgrund staatlicher Verpflichtung in der Regel ohne Mitwirkung der unmittelbar oder mittelbar Betroffenen entstanden sind. d) Zusammenfassung

Zusammenfassend ist also festzuhalten: Die Bundeswehr bzw. die Kaserne stellt ein quasi geschlossenes System dar. Sie ist weiterhin eine Instanz der sog. sekundären Sozialisation. Mit dem Eintritt in die Streitkräfte findet ein Hineinwachsen des Wehrpflichtigen in das Regelund Normensystem der Bundeswehr statt. Dieser Phase sekundärer Sozialisation dürfte kriminoresistente Wirkung zukommen. Mit dem Eintritt in die Bundeswehr bzw. während der Ableistung des Wehrdienstes findet aber auch eine teilweise, im Einzelfall qualitativ und quantitativ unterschiedliche Entsozialisierung der Soldaten statt, die eine kriminovalente Komponente enthält. Wie aus dem zunächst generellen Aufzeigen der organisatorischen, sozialen und soziologischen Gegebenheiten sichtbar wurde, existieren in diesem quasi geschlossenen System " Armee " eine Vielzahl von kriminogenen Faktoren, die im zivilen Bereich in diesen Erscheinungsformen, Schwerpunkten und Interdependenzen nicht oder bestenfalls nur ähnlich vorzufinden sind. Sie erhöhen oder mildern den Spannungsbereich soldatischen delinquenten Verhaltens, insbesondere für den Wehrpflich84 Vgl. Schriftenreihe Innere Führung, Reihe Ausbildung und Bildung (1974), Heft 17, S.20.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

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tigen; in der weiteren Analyse werden diese Faktoren im einzelnen teils theoretisch, teils empirisch untersucht werden. 4. Erfassungs-, Musterungs- und Verwendungsfehler sowie heimatferne Einberufung Wehrpflidltiger

a) Wegen seiner Bedeutung als kriminovalenter Faktor, der von der Organisation Bundeswehr "amtlich veranlaßt" wird, soll zunächst die "Organisationsgewalt" der Streitkräfte in Form der Erfassung, Musterung und Verwendung der (wehrpflichtigen) Soldaten in ihrer kriminovalenten Auswirkung aufgezeigt werden, Im Zuge der Erfassung und Musterung wird der junge Staatsbürger zum ersten Mal mit seiner gesetzlichen Pflicht zum Wehrdienst konfrontiert. Die entscheidende Frage ist daher, ob das Auslese- und Ver.,. wendungssystem der Armee bei Wehrpflichtigen geeignet ist, potentielle militärische Delinquenz präventiv zu kontrollieren. Mit dieser ratio schreibt § 17 Abs.4 WPflG als Verfahrensweisen vor: "Die Wehrpflichtigen sind vor ihrem Erscheinen vor dem Musterungsausschuß auf ihre geistige und körperliche Tauglichkeit eingehend ärztlich zu untersuchen. Dabei sind solche Untersuchungen vorzunehmen, die nach dem Stand der ärztlichen Wissenschaft für die Beurteilung der Tauglichkeit des Wehrpflichtigen für den Wehrdienst notwendig und im Rahmen einer Reihenuntersuchung durchführbar sind. Der Musterungsausschuß kann eine nochmalige Untersuchung durch einen anderen Arzt anordnen." Es liegen bisher noch keine statistischen Grundlagen oder Berichte darüber vor, ob und wie häufig bei den Einstellungsuntersuchungen bereits ärztlicherseits Musterungsfehler unterlaufen sind, die den physisch oder psychisch nicht voll belastbaren Soldaten hätten eliminieren müssen. Auch die im Vorfeld der Wehrdienstleistung liegenden Planungsfehler bei der Wehrerfassung (durch das Kreiswehrersatzamt) sind nicht offenkundig, jedoch sind den Truppenpraktikern zahlreiche Fälle mangelnder Koordination zwischen Bundeswehrverwaltung und den Streitkräften bekannt95 • Gerade am Beispiel von Bedarfsmeldung und Bedarfsdeckung lassen sich Reibungspunkte zwischen beiden Bereichen ausmachen96 • Häufig ist der Wehrpflichtige dann der Leidtragende, dessen delinquentes Verhalten - am häufigsten Dienstvergehen in Form der "Dienstentziehung" auf Zeit91, aber auch der Verstoß gegen 85 Mittelbares Indiz sind die zahlreichen Anträge auf Zurückstellung vom Wehrdienst (nach § 12 Abs.4 WPflG) während der Dienstzeit sowie die gegen Ende des Wehrdienstes gestellten Anträge auf Sonderurlaub (nach § 12 SUV); die diesbezüglichen Statistiken sind unveröffentlichte "Verschlußsache - Nur für den Dienstgebrauch". 86 So ausdrücklich Feser / Schenk, S. 144. 87 Vgl. den hohen Anteil dieser Art soldatischer Prädelinquenz in der Dienstvergehenstatistik, S. 40.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

§ 16 WStG in Form des "Nichtantritt des Wehrdienstes"98 - erst als mittelbare Folge der delinquenzmitauslösenden ärztlichen Auswahlfehler und/oder personellen Fehlplanung sichtbar wird.

Seit 1965 ist im Rahmen der Heranziehung von ungedienten Wehrpflichtigen ein weiteres Ausleseverfahren möglich, nämlich eine psychologische Untersuchung. Diese obliegt den Psychologen des Wehrersatzwesens; die gesetzliche Grundlage dazu findet sich in § 20 a Abs. 1 WPflG: "Wehrpflichtige, die nach dem Musterungsbescheid wehrdienstfähig sind, können vor ihrer Einberufung auf ihre Eignung für bestimmte Verwendungen geprüft werden. Sie haben sich nach Aufforderung durch die zuständigen Wehrersatzbehörden zur Prüfung vorzustellen ..." Zu dieser Chance der Armee, bereits durch psychologische Untersuchungen den labilen delinquenzanfälligen Soldaten von den Streitkräften fernzuhalten, führen die Wehrpsychologen Feser / Schenk" - auszugsweise - aus: "Der Auftrag an den Psychologischen Dienst lautet, mit Hilfe von zeitgemäßen Untersuchungsmethoden für den einzelnen Probanden gezielte Verwendungsvorschläge zu erarbeiten, damit der Wehrpflichtige entsprechend seiner schulisch-beruflichen Ausbildung, dem ärztlichen Musterungsergebnis, dem Bedarf der Truppe und vor allem nach Maßgabe seiner Neigungen und Fähigkeiten eingesetzt werden kann. Die Untersuchungsmethoden des Psychologischen Dienstes erlauben auch in begrenztem Maße eine Bestauslese von Spezialisten oder die empfehlende Benennung als Unterführemachwuchs. Hier befindet sich aber trotzdem bereits die erste kritische Stelle des Systems. Auf der Bedarfsseite, also der Truppe, wird noch immer ein führungstechnisch unvertretbares Defizit an Unterführem angemeldet. Auf der Seite des Angebots dagegen zeigen sich ganz ernst zu nehmende Lücken. Denn gerade die potentiellen Unterführer haben weiterführende Schulen besucht und dabei zumeist eine gleichgültige bis ablehnende Einstellung gegenüber dem Militärdienst entwickelt. So fällt die für die Bundeswehr attraktivste Personalgruppe weitgehend aus, indem von ihr andere Möglichkeiten wahrgenommen werden. Wer nicht untauglich ist oder ein Einberufungshindernis für sich geltend machen kann, den Wehrdienst verweigert, Entwicklungshilfe- oder zivilen Ersatzdienst leistet, der gehört zu der unruhigen Jugend in der Armee. Von ihr konnte Adelbert Weinstein schon im November 1971 sagen, sie sei undiszipliniert, ungepflegt und schmutzig; in einer Art von psy88 Diese wichtige Delinquenzart wird von den "Jahresberichten über Besondere Vorkommnisse" ausdrücklich nicht erfaßt, "weil die betreffenden Wehrpflichtigen sich zur Tatzeit noch außerhalb der Einwirkung der Bundeswehr befanden", vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse, Vorbemerkung, S. 4. .. Feser / Schenk, S. 145 f.

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chologischem Sappenkampf scheine dieser Jahrgang abtasten zu wollen, wie weit man mit der Herausforderung der Armee gehen könne; ein ungutes Gefühl wachse in dem Maße, in dem diese unruhige Jugend die Streitkräfte kennenlerne und für die den Militärdienst ablehnenden Gruppen seien alle Mängel und Fehler der Institution willkommener Vorwand, das System überhaupt anzugreifen ... Die zweite schwache Stelle des Einberufungssystems besteht in dem Sachverhalt, daß im Grunde keine Schlechtestauslese durchgeführt werden kann. Die Truppe braucht jeden verfügbaren Wehrpflichtigen, um den geforderten Personalstand halten und um offene Unteroffiziersplanstellen stopfen zu können. Nicht selten- kommt es vor, daß intellektuell unterdurchschnittlich befähigte Wehrpflichtige aufgrund ihrer besonderen stimmlichen Qualitäten und strammer Haltung zur Reserveunteroffizier-Ausbildung vorgeschlagen werden. Den "Bumerangeffekt" kann sich derjenige veranschaulichen, der sich diese minderqualifizierten Unterführer im Dienst in der Diskussion mit wehrunwilligen Oberschülern vorstellt ... Angesichts dieser relativ ungünstigen Voraussetzungen vermag die psychologische Verwendungsberatung der militärischen Personalbearbeiter auch nur noch die gröbsten Fehlentscheidungen zu korrigieren." Diese nur grob skizzierten Unzulänglichkeiten in der Wehrerfassung, Musterung und Verwendung von Soldaten lassen bereits im Ansatz ihren kriminovalenten Charakter für späteres "systembedingtes Verbrechen" erkennen. Der wehrpflichtige Soldat, in seiner Rekrutenzeit unzureichend verplant, wundert sich oftmals, wenn er nach Abschluß der allgemeinen Grundausbildung an einen entfernten Standort versetzt wird und den Dienst in einer militärischen Verwendung ableisten muß, für die er sich weder gemeldet hat, weder eignet, noch glaubt, dafür die besten Eignungsmerkmale zu besitzen. Insbesondere die intellektuell schwächer befähigten Soldaten, denen Umstellung und Anpassung an eine neue Umgebung schwerer fallen, sind hier akut delinquenzgefährdet. Kommen bei ihnen noch außermilitärische Belastungen und Schwächen in der Persönlichkeitsstruktur hinzu, erfolgt ein fast zwangsläufiges Abgleiten in delinquentes Verhalten als Flucht aus der systembedingten Härtesituation. Welche Form der militärischen Delinquenz sodann ausgelöst wird, ist abhängig von der personalen und sozialen Struktur des Täters. b) Außerdem müssen die Streitkräfte erkennen, daß das zur Zeit geübte sog. Sprungverfahren100 , welches häufig zu einer heimatjernen Einberufung Wehrpflichtiger führt, auch kriminovalente Züge trägt. Es kommt vor, daß Soldaten bis zu 600 km vom Heimatort entfernt 100

Siehe die Erläuterung dazu im Abkürzungsverzeichnis 5.17.

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ihren Wehrdienst leisten müssen. Die Bande landsmannschaftlicher Einordnung werden zerschnitten oder zumindest erheblich gestört; soziale Isolierung und Kontaktprobleme am dienstlichen Standort führen zu einer Vielzahl von Anträgen und Beschwerden. Oft kommt es zu Verstößen nach §§ 15, 16 WStG. Dies verursacht nicht nur den personalbearbeitenden Dienststellen, sondern auch der Truppe eine erhebliche Mehrarbeit. Es wird sich aufgrund des regional unterschiedlichen Aufkommens an Wehrpflichtigen und der Dislozierung der Verbände und Einheiten nicht vermeiden lassen, daß ein Teil der Wehrpflichtigen (etwa 40 0/0 101) seine Dienstzeit außerhalb der unmittelbaren Umgebung seines Heimatortes ableisten muß. Die Bundeswehr kann ihre Wehrpflichtigen nicht "berufsneutral" nach dem Muster: "Herr Müller tauglich, Herr Meier - tauglich, Herr Schulze - tauglich usw." in deren Wohnortnähe einberufen, sondern für sie zählt nur der Kraftfahrzeugschlosser Müller, der Fernmeldeelektriker Meier, der Bäckergeselle Schulze aus verwendungs- und stellenmäßiger Sicht. Eine andere Lösung, alle Wehrpflichtigen in etwa gleicher Entfernung vom Heimatort zur Ableistung des Grundwehrdienstes einzuberufen, würde eine generelle Verschiebung eines jeden Einberufenen bedeuten (sog. Harmonikaverfahren). Es hätte zur Folge, daß kein Wehrpflichtiger am Wohnort oder in dessen Nähe seinen Wehrdienst ableisten kann; die Berücksichtigung sozialer Gegebenheiten wäre vollends ausgeschlossen. Die Ursachen des Sprungverfahrens werden jedoch von den meisten Wehrpflichtigen nicht erkannt. So kann es vorkommen, daß Urlaubsüberschreitungen sich bis über die Grenze des strafbaren eigenmächtigen Fernbleibens von der Truppe länger als drei volle Kalendertage (§ 15 Abs.1 WStG) erstrecken. Jedenfalls sollten die Gründe für die Anwendung des Sprungverfahrens den Betroffenen mehr als bisher verdeutlicht werden. Es ist daher zu begrüßen, daß ein Kommandierender General im Juni 1974 ein Merkblatt zur Erklärung der heimatfernen Einberufung und Verwendung von wehrpflichtigen Soldaten herausgegeben hat, in dem das Rekrutierungsverfahren der Bundeswehr erläutert wird 102 • Dieses Merkblatt dient der Verbesserung des Informationsstandes der Einheitsführer, der Soldaten und ihrer Angehörigen und mindert latente Delinquenzbereitschaft mancher Wehrpflichtigen. Die Erwartung dieses Großverbandes, daß eine verbesserte Information zu einer Verringerung und Versachlichung der Urlaubsüberschreitungen beitragen, deckt sich mit der Erkenntnis, daß Wehrpflichtige sich bei ausreichend verdeutlichten und verständlichen Notwendigkeiten, wenn auch nicht freudig, so doch einsichtig beugen. 101 102

Nach Auskunft des BMVg - FüS I 1 -. Vgl. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1974, S.67.

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c) Zusammenfassend ist also festzustellen, daß es "amtlich veranlaßte" kriminovalente Faktoren gibt, die sich darstellen teils als Musterungsfehler durch Ärzte, die zu geistiger oder körperlicher überlastung führen, teils als Verwendungsfehler beim Kreiswehrersatzamt, die zu Isolation (Heimatferne), unterwertiger intellektueller Verwendung (z. B. Abiturienten in reinen Sicherungskompanien usw.), mangelnder Berücksichtigung landsmannschaftlicher Herkunft und Gegebenheiten etc. führen können. 5. "Wehrdiensteigentümliche" Delinquenz gegenüber Bundeswehreigentum und -vermögen, insbesondere in Form des sog. "Organisierens", sowie gegenüber Kameraden

Im zivilen Bereich scheint die Bundeswehr ein Magnet der Wirtschaftskriminalität zu sein103 ; im militärischen Bereich findet sich zusätzlich eine besondere Erscheinungsform der " Kleinkriminalität" , die man aufgrund ihres Ursprungs und ihrer Eigenart als "wehrdiensteigentümliche Delinquenz" bezeichnen möchte: Die Delinquenz an Bundeswehreigentum und -vermögen sowie gegenüber Kameraden104 • a) Erkennbar führt der Dienst in der Armee zu einer verstärkten Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit, die insbesondere im Umgang mit anvertrauten Waffen und Gerätschaften sowie Material aller Art deutlich wird. Dieses Verhalten findet sich häufig in der Erklärung von Soldaten wieder: "Das gehört ja nicht mir, sondern dem Bund." Diebstahl, Unterschlagung, Sachbeschädigung und Veruntreuung von Bundeseigentum mögen ihre tiefere Ursache in einer allgemeinen Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber fremden Eigentum und Vermögen haben. Aber Staatseigentum und staatliche Dienstleistungen genießen wegen ihrer vermeintlichen Anonymität bedauerlicherweise eine noch geringere Achtung als Privateigentum und private Leistungen. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, daß der Soldat, der es ohnehin nur mit staatlichem Eigentum und staatlichen Leistungen zu tun hat, bei übergriffen nur geringe Hemmungen zu überwinden hat. Hinzu kommt, daß ihm der Zugang zu Bundeswehreigentum und -vermögen lOS Vgl. dazu Klingenberg / Kinder, "Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit Bundeswehraufträgen", in: Innenminister Schieswig-Hoistein (Hrsg.: Arbeitstagung 1971, I, S. 131 ff.); Sehaefgen, H., "Der Betrug im Bereich der Verteidigungswirtschaft", in: GrKrim 2 (1967), S. 266 ff.; Scheidges, G., "Erscheinungsformen wirtschaftskrimineller Straftaten bei der Erlangung und Ausführung öffentlicher Aufträge", in: GrKrim 2 (1967), S. 306 ff. Ein Beispiel ist der Versuch eines belgischen Waffenhändlers, die geheimen Konstruktionspläne des NATO-Mehrzweckkampfflugzeuges MRCA "Tornado" für 38 Millionen DM an den Osten zu verkaufen; vgl. "Die Welt", Nr.189/34 W, vom 16. August 1976, S. 1. 104 Siehe vorab die einschlägigen Zahlen in der Dienstvergehenstatistik im 2. Teil, Tabelle 4.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

sehr leicht gemacht wird. Ist er erst einmal Mitglied der Großorganisation mit besonderen Funktionen (z. B. als Nachschubsachbearbeiter, Rechnungsführer, Postbevollmächtigter, Kompaniechef oder Kraftfahrer), gibt es zunächst keine unmittelbare Kontrollinstanz, die seine Benutzung von Dienstgegenständen, Ausrüstung, Geldern usw. unmittelbar und ständig überwacht bzw. überwachen kann. So hat sich eine Delinquenzform herausgebildet, die in den Streitkräften als sog. "Organisieren" bezeichnen wird1011• Die Begehungsform des Diebstahls bzw. der Unterschlagung am Arbeitsplatz beruht hier auf der typischen Arbeitsplatzsituation: Die Delinquenten kommen im Verlauf ihrer Tätigkeit immer wieder mit ihnen erstrebenswert erscheinenden Dingen in Berührung; sie stellen fest, daß die Entwendung einfach und gefahrlos sein würde und erliegen schließlich der Versuchung106 • Bei einem Teil der Täter steht erkennbar die Auffassung im Hintergrund, daß ein derartiges "Organisieren" von Gegenständen aus dem eigenen Arbeitsbereich - wenn überhaupt - ein "Kavaliersdelikt" bedeute. Auch leistet der von manchen Soldaten als fließend empfundene übergang von der privaten Vermögensinteressen zu denen des Bundes der Versuchung Vorschub, nicht nur für seine Kompanie, für seinen Zug, für seine Gruppe, sondern auch für sich selbst zu "sorgen". Hier wirken schlechte Beispiele ansteckend. Was einmal als Ausnahme begann, wird schnell zur Regel. Wenn Vorgesetzte z. B. in der Einheit Waschmaschine, Fernsehgerät und Auto reparieren lassen, so kann das ein Klima schaffen, in dem das Unrechtsbewußtsein der unterstellten Soldaten gegenüber derartigen Handlungen schwindet. Die durch die Anonymität der Großorganisation Bundeswehr und durch die Gelegenheit begünstigte Mißachtung von Bundeseigentum ("Gelegenheit macht Diebe") soll an drei Beispielen deutlich gemacht werden107 : - Ein Oberleutnant verwandte unter Mißbrauch seiner Dienststellung als SlIS3-0ffizier eines Bataillons und Leiter einer Geräteeinheit in mindestens 21 Fällen Dienstkraftfahrzeuge zu privaten Fahrten. Die Fahrbefehle stellte er entweder selbst aus oder ließ sie sich ausstellen, wobei er wahrheitswidrig dienstliche Gründe vorschob. Tatsächlich ließ er u. a. Speiseeis holen, seinen Privat-Pkw abschleppen und Umzugsgut transportieren. Dadurch entstand der Bundesrepublik Deutschland ein Schaden von etwa DM 1 000,-. 105 Vgl. dazu Wackerbauer, "Ist ,Organisieren' Diebstahl?", in: NZWehrr 1963, S. 21 ff. lOt In diesem Sinne empirisch nachgewiesen durch Beulke, W., "Vermögenskriminalität Jugendlicher und Heranwachsender", in: Kriminologische Studien, Bd. 20 (1974), S. 102 ff. 107 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1974, S. 111 f.

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Ein Feldwebel eines Fernmeldebetriebsbataillons, dem als Rechnungsführer die Führung der Wehrsoldauszahlungsliste oblag, fälschte in dieser die Unterschrift eines Soldaten, entnahm den Betrag und verbrauchte ihn für sich. Er wurde wegen eines Verbrechens der schweren Amtsunterschlagung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Ferner wurde er zwei Jahre vor Ablauf seiner fünfzehnjährigen Verpflichtungszeit durch das Urteil des Truppendienstgerichts aus dem Dienstverhältnis entfernt. - Zwei Soldaten entwendeten für den eigenen Bedarf in der Zeit vom Februar bis Juni des Jahres 1974 ca. 1 000 Liter Kraftstoff, den sie als Fahrer ihrer Dienstfahrzeuge ordnungsgemäß empfangen hatten. Einer der Soldaten erhielt wegen fortgesetzten teils gemeinschaftlichen Diebstahls eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten und wurde gemäß § 55 Abs. 5 SoldatenG neun Monate vor Ablauf seiner vierjährigen Verpftichtungszeit aus der Bundeswehr entlassen. Der andere Soldat wurde mit einem Disziplinararrest von 21 Tagen gemaßregelt, wegen Beihilfe zum Diebstahl und wegen fortgesetzten gemeinschaftlichen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

Besonders der letzte Beispielsfall verdeutlicht ein Phänomen, das in den Streitkräften als - nicht immer aufgeklärte - "Betriebsstoffverluste" als "Besondere Vorkommnisse" gemäß ZDv 10/13 nur dann zu melden ist, wenn im Einzelfall 100 Liter und mehr abhanden kommen l08 • Die tatsächlichen Verlustfälle und die Verlustmenge sind deshalb höher als die einschlägigen Statistiken ausweisen lO9 • Warum diese Betriebsstoffverluste eine ernstzunehmende Gefährdung der "militärischen Ordnung" (im Sinne des § 55 SoldatenG) sind, legt das Bundesverwaltungsgericht mit realistischen Argumenten wie folgt dar110 : "Der Begriff ,militärische Ordnung' ist weiter als der Begriff ,militärische Disziplin'; diese ist ein Mittel zu dem Zwecke, die militärische Ordnung aufrechtzuerhalten. Um diesen Begriff zu bestimmen, ist auszugehen von dem Zweck der Bundeswehr, der Verteidigung zu dienen. Diesen Zweck kann die Bundeswehr nur erfüllen, wenn sie einsatzbereit ist. Bei einer modernen, weitgehend technisierten und motorisierten Streitmacht gehört zur Einsatzbereitschaft, daß der Truppe nicht nur Waffen, Munition und Verpftegung zur Verfügung stehen, sondern auch Kraftstoff. Zur militärischen Ordnung gehört es, daß die vorgesehene Ausstattung der Fahrzeuge und Lager mit Kraftstoff vorhanden und jederzeit verfügbar ist; die Unterlagen und Berechnungen über die jeweils verfügbare Menge müssen stimmen. In dieser Beziehung wird die militärische Ordnung gefährdet, wenn Benzindiebstähle in der Bundeswehr um sich greifen oder, wie die Beklagte ausgeführt hat, ,grassieren'. Es kommt deshalb nicht allein auf den vielleicht geringfügigen Fehlbestand an Kraftstoff an, der im Einzelfall durch eine Benzinentwendung herbeigeführt wurde, sondern Vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.62. Im Jahre 1975 wurden 45 Fälle (1974: 44 Fälle) von Betriebsstoffverlusten mit einer Verlustmenge von 48343 Litern (1974: 63 387 Liter) gemeldet; vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.62. 110 Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1971 - VIII C 180.67 in: NZWehrr 1972, S. 73 (75). 108

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr auf die Gefahr, die der Verteidigungsbereitschaft jeder einzelnen Einheit und der Bundeswehr im ganzen droht, wenn zahlreiche Benzinentwendungen vorkommen. Wird der Einzelfall einer Benzinentwendung nicht für sich betrachtet, sondern als das typische Teilstück einer allgemeinen und schwer zu bekämpfenden Erscheinung, dann ist auch die aus ihr drohende Gefahr wesentlich größer, als die Umstände des Einzelfalles, insbesondere die Menge des entwendeten Benzins, erkennen lassen."

Als Nebeneffekt zur Anonymität kommt in den technischen Einheiten hinzu, daß der Zustand von Geräten und Einrichtungen sich dadurch verschlechtert, daß der notwendige Mehraufwand an Pflege und Wartung nicht mit dem höheren Verschleiß Schritt halten kann. Vor der verkürzenden Umstellung von Wehrdienst und Ausbildung auf 15 Monate bestand ein größeres Interesse daran, Waffen und Gerät aus eigener Initiative zu warten und zu pflegen, weil die Einheiten aufgrund des geringeren personellen Wechsels ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelten111 • Dem gleichgültigen Umgang mit Material und Gerät wird außerdem dadurch Vorschub geleistet, daß Einheiten Material horten oder überhöhten Bedarf anmelden. Dieser erweckt den Eindruck von überfluß und enthebt scheinbar der Pflicht zur Materialschonung. Eine deutliche Sprache spricht auch die vielerorts zu beobachtende Beschädigung von Gerät und Einrichtungen in Unterkünften und insbesondere in Bundeswehrkantinen. b) Eine besondere kriminologische Variante des "wehrdiensteigentümlichen Verbrechens" erscheint in Form der Wegnahme bundeswehreigener Sachen unter Soldaten112, um den weggenommenen Dienstgegenstand als Ersatz für einen vom Täter empfangenen, bei der "Abmusterung" (z. B. auf der Bekleidungskammer) an Stelle des von ihm verlorenen Gegenstandes abzugeben113 , von der Truppe nach wie vor als "Kameradendiebstahl" bezeichnet114 • Auch diese Tat wird begünstigt durch die Fremdheit des Dienstgegenstandes und seines in der Regel leichten Zugriffs. Die räumliche Enge in den (Mannschafts-)Unterkünften gibt dem Täter hinreichend Gelegenheit, sein "Ersatzobjekt" und den günstigsten Moment zur Tat auszuspähen. "Kameradendiebstahl" weist gesteigerte kriminelle Energie auf, denn in aller Regel weiß der Delinquent genau, daß für den So der Wehrbeauftragte im Jahresbericht 1974, S. 110 f. Vgl. Küppers, "Wegnahme bundeswehreigener Sachen unter Soldaten, in: NZWehrr 1965, S. 124 ff. 118 Wobei es hier nicht auf die juristische Streitfrage ankommt, ob sich vorliegend der Soldat des Diebstahls in Tateinheit mit Betrug (so OLG Frankfurt, NJW 1962, S. 1979) oder nur des Betruges (so BGH NJW 1964, S. 2025) strafbar gemacht hat. 114 Vgl. auch Friker, "Strafbarkeit wegen Betruges bei Abgabe von zu diesem Zweck entwendeten Ausrüstungsgegenständen auf der Bekleidungskammer", in: NZWehrr 1965, S.124. 111

112

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

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entwendeten Gegenstand nunmehr vom bestohlenen Soldaten finanzieller Ersatz geleistet werden muß115. Hier bedeutet die Tat stets einen schweren Vertrauensbruch gegenüber dem geschädigten Kameraden, der zugleich als Verstoß gegen die Pflicht zur Kameradschaft nach § 12 SoldatenG gewertet werden muß116. Von den Tätern wird auch diese Delinquenzform gern mit bagatellisierenden Bemerkungen abgetan, wie "dem Bund geht letztlich nichts verloren" oder "den Letzten beißen die Hunde" (gemeint ist der geschädigte Ersatzpflichtige). Die abschließende Feststellung: "Mich hätte es genauso treffen können!" zeigt einerseits das mangelnde Unrechtsbewußtsein solcher Soldaten, andererseits die "wehrdiensteigentÜffiliche" Struktur dieser Delikte. c) Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Organisation Bundeswehr mit ihrem hohen Stand an Ausrüstung und Material (als zweitbest ausgerüstete Armee der Weltl l1) verlangt zwar ständige Kontrolle und Nachweise ihrer Mittel (durch sog. Vollzähligkeitsappelle usw.), für derenschuldhaften Verlust der Soldat verantwortlich gemacht wird. Der Zugriff zu fremden Dienstgegenständen und fremden Bundesververmögen ist aber extrem leicht; diesbezüglich Kontrollen (z. B. am Kasernentor) finden in der Regel nicht statt. Die Deliktform des "Organisierens" und des "Kameradendiebstahls" ist daher ein Nebeneffekt der Großorganisation Bundeswehr mit ihren anonymen Eigentumsund Vermögensverhältnissen ihrer schwer kontrollierbaren Materialbestände. Dabei muß im Rahmen dieser Arbeit die Frage offen bleiben, ob und inwieweit diese spezielle Delinquenzform der Armee118 in vergleichbaren zivilen Bereichen (Großbetrieben, Fabriken usw.) ähnlich strukturiert und motiviert vorzufinden ist119. 6. Das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" und praktizierte "Innere Führung" als kriminoresistente Faktoren in der Bundeswehr

Das Leitbild vom "Staatsbürger in Uniform" ist als Verbindung von Staat, Gesellschaft und Bundeswehr gedacht. Nach diesem Konzept ist die Bundeswehr im Jahre 1955 angetreten. Es soll zweierlei bewirken: 115 VgI. auch die Fallsammlungen in: RWStR zu § 242 StGB, Rd.Nr. 1 - 5. 116 VgI. auch den Fall der mißbräuchlichen Aneignung dienstlich zur Verwahrung anvertrauter Gelder (Kompaniekasse) und seine Ahndung, in: NZWehrr 1968, S.183 f. 117 VgI. Das Parlament, Nr.37 (Sonderdruck zum 20jährigen Bestehen der Bundeswehr) vom 13. September 1975, S. 3. 118 An vierter Stelle der dienstinternen Straftatenstatistik der Soldaten, siehe 2. Teil, Tabelle 1. 111 VgI. z. B. die Untersuchungen über die soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben, in: "Betriebsjustiz", Hrsg. Günther Kaiser und Gerhard Metzger-Pregizer, 1976 (Strafrecht und Kriminologie Bd. 1). 7 Fiedler

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Einmal die Einordnung der Streitkräfte in die freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung und die Unterordnung unter den politischen Oberbefehl; zum anderen die Garantie der Grundrechte, die für den Soldaten nicht stärker eingeschränkt werden dürfen, als es die Erfüllung des militärischen Dienstes erfordert120. Das Ziel des Konzeptes vom Staatsbürger in Uniform ist, im Rahmen der gegebenen politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung die Wirksamkeit der Bundeswehr zu sichern121. Der Gesetzgeber hat das Leitbild des "Staatsbürgers in Unüorm" im Gesetz über die Rechtsstellung des Soldaten (SoldatenG) von 1956 ausgeprägt122. Dort steht geschrieben, daß der Soldat die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger hat und daß diese Rechte im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes nur durch gesetzlich begründete Pflichten eingeschränkt werden können. In dem Schlagwort vom "Staatsbürger in Uniform" kommt der Wille des Verfassungsgesetzgebers zum Ausdruck, dem Soldaten grundsätzlich den Schutz der vollen staatsbürgerlichen Rechte, insbesondere also der Grundrechte (Art. 1 - 19 GG), zu erhalten und Einschränkungen nur insoweit vorzunehmen, als dies zur Durchführung der verteidigungspolitischen Aufgabe aus der Eigenart militärischer Dienstleistungen erforderlich ist (vgl. Art. 12 a und 17 a GG). Damit sind alle Forderungen an den Soldaten - auch hinsichtlich der sachbezogenen Einschränkungen seiner staatsbürgerlichen Freiheiten - nicht mehr einem allein aus militärischem Zweckhandeln begründbarem Ermessen überlassen, sondern in weitem Maße eingebettet in den Katalog gerichtlich-nachprüfbarer Rechtssätze der Wehrgesetzgebung, deren Regelungen die vom Grundgesetz vorgezeichnete Leitlinie verfassungskonform berücksichtigen müssen123. Alle wesentlichen Aussagen über das Ausmaß der von einem Soldaten erwarteten Pflichten wie auch der Umfang seiner Rechte sind aus den Verfassungsnormen ablesbar (Art.4 Abs.3, Art. 17 a, Art.19 Abs.4; Art. 35 und 87 a GG) und dementsprechend in der einfachen Wehrgesetzgebung konkretisiert. Es besteht auch kein Zweifel darüber, daß die in einer auf Befehl und Gehorsam ausgerichteten militärischen Organisation naturnotwendig größere Abhängigkeit des einzelnen von der öffentlichen Gewalt in vollem Umfang dem Recht unterworfen ist und damit alle Maßnahmen der öffentlichen Gewalt dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit und der Rechtskontrolle unterworfen sind124• 120 Sehr kritisch, teilweise desavoierend zur "Ideologie" der Inneren Führung: Mosen (1), S. 109 -135. 121 Weißbuch 1970, Nr. 152 (S. 121). 122 Heute in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. August 1975. 123 Schwenck (2), S. 31.

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

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Nach dem Verständnis des Verfassers bedeutet Praktizierung der Inneren Führung demnach die Eingliederung des Soldaten der Bundesrepublik Deutschland unter dem Leitgedanken moderner Menschenführung in die Streitkräfte. Die Praktizierung umfaßt dabei die Summe aller den Soldaten berührenden Maßnahmen und Verhaltensweisen, -

die ihn innerhalb der Wertordnung der Verfassung Staat und Gesellschaft zuordnen, die ihn in ein sachgerechtes funktionales Gefüge der Streitkräfte einbetten, die seine ihm zustehende staatliche Fürsorge und Betreuung gewährleisten, die seine Beziehungen zu Vorgesetzten, Untergebenen und Kameraden regeln oder günstig beeinflussen und die ihm einen praktisch lückenlosen Rechtsschutz gewähren.

Damit können aus dem Konzept der Inneren Führung zwei Schlußfolgerungen gezogen werden: 1. Die Existenz des Leitbildes schafft einen klaren Rahmen für die staatsbürgerliche Position des Soldaten und wirkt damit Abweichungen und übergriffen entgegen. 2. Es schafft darüber hinaus die Voraussetzungen für zeitgerechte Menschenführung und richtiges Führungsverhalten, die - wie unten125 nachgewiesen wird - die stärksten kriminoresistenten Faktoren im Bereich des Wehrdienstes darstellen. So gedeiht Innere Führung wesentlich von der Praxis, von dort empfängt sie wichtige Impulse, dort muß sie von allen Soldaten stets aufgenommen werden, sich an der verändernden militärischen Umwelt ständig neu orientieren, kurz: "gelebt" werden. 7. Kriegsdienstverweigerung und politische Agitation in den Streitkräften

a) Die Bundesrepublik Deutschland hat - und zwar als einziges Land auf der Welt - in ihrer Verfassung in Art. 4 Abs.3 GG eine Regelung für die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Kriminologisch bedeutsam ist dennoch die Fragestellung, inwieweit durch Kriegsdienstverweigerer und ihr Verhalten innerhalb der Streitkräfte ein kriminalitätsförderndes Klima unter den Soldaten geschaffen wird 126• Eine Antwort könnte Sutherlands Theorie der differentiellen 124 Vgl. Schwenck (2), S.31 mit weiteren Nachweisen der Literatur zu diesem Themenkomplex. 125 Siehe S. 156 ff. 121 Zu den rechtlichen Konsequenzen in der Behandlung des Kriegsdienstverweigerers, vgl. Schwenck (2), S. 68 U.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Kontakte 127 geben. Sie versucht u. a. den Prozeß zu erkennen, durch den eine Person kriminell wird, wobei auch die These aufgestellt wird, daß man kriminelle Verhaltensmuster von Personen lernen kann. Letztere findet augenscheinlich eine Bestätigung in dem Verhalten mancher Wehrdienstverweigerer innerhalb der Bundeswehr. Damit kann und soll keineswegs gesagt werden, daß derjenige wehrpflichtige junge Soldat, der sich nach Diensteintritt auf das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 GG beruft, ein Krimineller sei, oder automatisch kriminelle Impulse setze. Aber es soll die Hypothese aufgestellt werden, daß Wehrdienstverweigerer in der Armee einerseits bereits die latente Bereitschaft zu eigenen disziplinaren und kriminellen Verstößen mitbringen, andererseits ihre Kameraden oder zur Einberufung heranstehende Wehrpflichtige kriminovalent beeinflussen können. Dazu zunächst folgendes BeispieP28: Ein wehrpflichtiger Abiturient beantragte vor der Einberufung zum Grundwehrdienst seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Drei Wochen vor dem Einberufungstermin wurde der Antrag abgelehnt. Daraufhin richtete er folgendes Schreiben an das zuständige Kreiswehrersatzamt: "Ich teile Ihnen mit, daß weder der ablehnende Bescheid meiner Kriegsdienstverweigerung noch der Gestellungsbefehl zum 1. Juli für mich Gültigkeit besitzt. Sollten Sie jedoch weiterhin auf meiner Einbeziehung zur Bundeswehr beharren, so nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich in diesem Falle, resultierend aus meiner Gewissensentscheidung, es als meine heiligste Pflicht betrachte, den Klassenkampf innerhalb der Bundeswehr organisiert voranzutreiben. Mit kommunistischem Gruß - Rotfront gez. (Name) P.S.: In der Anlage übersende ich Ihnen die mir zugeschickten Papiere. Ich kann Ihnen versichern, daß ich nach der Revolution Ihrer gedenken werde! Hängt sie ran - hängt sie ran, die Bürokraten!" Der Soldat trat seinen Grundwehrdienst nicht rechtzeitig an und wurde deshalb disziplinar gemaßregelt. Während der folgenden Wehrdienstzeit wurde er mit insgesamt 95 Tagen Arrest wegen mehrfacher Gehorsamsverweigerung, Verlassens des Kasernengeländes ohne Erlaubnis, Über127 Edwin H. Sutherland, "Principles of Criminology", 3. Aufl.., New York 1939, S. 5 - 9. Die Theorie besagt generell, daß systematische Kriminalität in einem Prozeß der differentiellen Kontakte gelernt werden kann. Sutherland sagt also nicht, daß Personen wegen der Kontakte mit kriminellen Verhaltensmustern kriminell werden, sondern sie werden kriminell wegen des "Überwiegens" solcher Kontakte im Vergleich mit Kontakten mit antikriminellen Verhaltensmustern. Es wäre also falsch, festzustellen oder zu verstehen zu geben, daß die Theorie untauglich ist, weil eine Reihe von Personen wie Polizeibeamte, Gefängnisbeamte oder Kriminologen sehr ausgiebigen Kontakt mit kriminellen Verhaltensmustern haben, aber trotzdem nicht kriminell geworden sind. 128 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, S.103.

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I. Kriminogene Konstellationen der Armee

schreitens des Zapfenstreiches und tätlichen Angriffs auf Vorgesetzte disziplinar gemaßregelt. Seine Dienstzeit mußte um viereinhalb Monate verlängert werden. Während seiner gesamten Wehrdienstzeit hatte dieser Soldat zumindest zehn Wehrbeschwerden eingelegt, denen in keinem Fall stattgegeben werden konnte. Dem Verfasser geht es hier nun nicht um das Gesamtproblem der Wehrdienstverweigerung von derzeit (1975) jährlich rund 35000 Antragstellern auf Kriegsdienstverweigerung129 • Die Truppe ist von der Frage der Wehrdienstverweigerung unmittelbar nur betroffen, wenn bereits dienende Soldaten einen Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer stellen. Im Blickwinkel militärischer Deliquenz stehen natürlich nur Soldaten, die insbesondere nach ihrem Dienstantritt einen derartigen Antrag gestellt haben. Das waren im Jahre 1975 immerhin noch 3 875 größtenteils wehrpflichtige Soldaten, im Jahre 1974 sogar 4194 Soldaten; in diesen Zahlen sind allerdings die einberufenen Wehrpflichtigen enthalten130 • Die Auszählung der Soldatenanträge nach dem Dienstverhältnis der Antragsteller zeigt folgendes Bild131 : Dienstverhältnis der Antragsteller

Prozentanteil der Antragsteller 1973 1974 1975 90,1 %

84,8%

87,5%

Soldaten auf Zeit

9,6%

15,00/0

12,4%

Berufssoldaten

0,3%

0,2 %

0,1 %

Wehrpflichtige

Offensichtlich bedeutet der Wehrdienst in erster Linie für die Wehrpflichtigen eine verspätete geistige Auseinandersetzung mit den Phänomenen "Krieg" und "Frieden". So betont der einschlägige Jahresbericht131!, "daß der KDV innerhalb der Streitkräfte in hohem Maße echte Gewissenkonflikte zugrunde lagen". Es scheint aber auch eine "Restgröße" von Soldaten zu geben, die das Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 GG als Deckmantel für Unruhe und zur Delinquenzaktivierung ihrer Kameraden mißbraucht. Nach neueren Informationen finden sich unter den wehrpflichtigen Soldaten fast jeder Einheit zwischen 2 % und 5 %, die es sichtlich auf den offenen Konflikt 130

Weißbuch 1975/1976, Nr.277 (S. 161). Vgl. Jahresbericht über Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten 1975,

131

Vgl. Jahresbericht über Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten 1975,

132

Jahresbericht über Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten 1975, S.7.

129

S.2. S.2.

102

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

mit ihrem Vorgesetzten unter dem Mantel der Sorge um die Erhaltung des Friedens und unter Mißbrauch der Werbung für die Wehrdienstverweigerung angelegt haben. Manche dieser Soldaten scheinen nur darauf zu warten, an einen ungeschickt reagierenden Vorgesetzten zu geraten, um Beschwerde auf Beschwerde einlegen zu können. Auch gutwillige Wehrpflichtige bleiben auf die Dauer von der negativen Wirkung dieser schlechten Beispiele nicht unbeeinflußtl33 • Es erscheint also nicht ausgeschlossen, daß manche Disziplinverstöße, manche Gehorsamsverweigerung und sogar Straftaten gegen die Pflicht zur militärischen Dienstleistung (§§ 15 -18 WStG) durch diese auf angebliche "Gewissensentscheidung" beruhenden Verhaltensmuster von den Tätern im sozialen Zusammenhang mit anderen Delinquenten "erlernt" worden sind1S4 • Es sollte somit auch Aufgabe der Militärkriminologen sein, durch rechtzeitige kriminologische Erforschung dieses Rechtsinstituts bezüglich seiner kriminovalenten Wirkungen der Kriminalpolitik die Erkenntnisse zu liefern, die verhindern können, daß die nur scheinbare Gewissensausübung von politischen Gegnern der Bundesrepublik Deutschland letztlich als Mittel zum Kampf gegen die Unabhängigkeit dieses Staates mißbraucht wird. b) Die Versuche rechts- und linksextremer Organisationen und Gruppen, in die Streitkräfte hineinzuwirken und Soldaten - vornehmlich Wehrpflichtige - zu verunsichern, kann über den gesamten Beobachtungszeitraum festgestellt werden. Sie konzentrieren sich z. B. im Jahre 1975 mit 535 Aktionen gegen die Bundeswehr und stark steigender Tendenz HI5 vor allem im norddeutschen Raum auf Kasernen in den größeren Städten und Standorten. Aber auch Kasernen in abgelegenen Standorten waren Ziel solcher Aktionen. Der sichtbare Schwerpunkt solcher Handlungen liegt in der Verteilung von Flugblättern und Schriften meist vor Kasernen138.

J escheck spricht in seiner dankenswerten Abhandlung über den "strafrechtlichen Schutz der Bundeswehr gegenüber Zersetzung" klar und unmißverständlich aus: "Das Strafrecht kann an dieser Entwicklung naturgemäß wenig oder gar nichts ändern, da die VerteidigungsJahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, 5. 102, 129. Zu den teilweise fragwürdigen Methoden organisierter Gewissensausübung vgl. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1970, S.21 sowie Jescheck, 5.125. 135 Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S. 54; nach Auskunft BMVg - Fü5 11 - waren nur Aktionen linksextremer Organisationen in den Vergleichsjahren gegen die Bundeswehr festzustellen. 130 Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S. 54: 438 Flugblattaktionen gegenüber 266 im Jahre 1974. 183 134

I. Kriminogene Konstellationen der Armee

lOS

bereitschaft eines Volkes von staatspolitischen und geistigen Bedingungen abhängt, auf die das Strafrecht keinen Einfluß hatl81." Hier sind vielmehr die Politiker und die Gesellschaft aufgefordert, so zu reagieren, "daß Revolutionäre keine revolutionäre Situation vorfinden"13s. Die Ziele der organisierten Ideologen sind verschieden. Während rechtsextreme Gruppen zwar die Existenz der Bundesrepublik nicht in Frage stellen, aber sich gegen die angebliche "Verweichlichung" der Bundeswehr von innen aufgrund der Grundsätze der Inneren Führung wenden, richtet sich die politisch radikale Agitation linksextremer Organisationen gegen die Bundeswehr schlechthin. Bezeichnend sind für letztere Beobachtung folgende Vorfälle139 : -

Ein Soldat - ein Mitglied der SDAJ - verteilte ein von ihm verfaßtes Flugblatt an einrückende Wehrpflichtige. In diesem Flugblatt heißt es: "Ihr sollt sogenannte Staatsbürger in Uniform werden, die kämpfen, schießen, morden und saufen lernen, um Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen." Als Disziplinarmaßnahme wurde gegen ihn eine verschärfte Ausgangsbeschränkung von 16 Tagen verhängt.

-

Ein Leutnant der Reserve verteilte vor einer Kaserne Exemplare der Zeitung "Rührt Euch". Darin wurden die Mitglieder des Bundestages, die Bundesregierung, die Bundeswehr und die Vorgesetzten in verleumderischer und diffamierender Weise angegriffen. Obwohl der frühere Soldat behauptet hatte, den Inhalt des Flugblattes nicht genau gekannt zu haben, hielt es das Gericht für erwiesen, er hätte zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt, weil ihm die Gruppe der Autoren sowie deren Ziele bekannt gewesen wären. Er hätte sich mit der Zielrichtung des Inhalts der Schrift identifiziert und alles in Kauf genommen, was die Schrift hätte bewirken wollen. Hervorzuheben ist die zunehmende Aktivität der KPD/ML und des Kommunistischen Jugendverbandes, der Jugendorganisation der KPD/ ML (KJV) sowie der Fraktion "Roter Morgen" der KPD/ML. Die Stoßrichtung dieser Bestrebungen zielt deutlich auf eine Zersetzung und Verunsicherung der Streitkräfte von innen. So hieß es im Zentralorgan "Roter Morgen" (Nr.30 vom 4. August 1973) u. a. l40 : "Der Kampf gegen die wachsende Militarisierung der Gesellschaft und die zunehmenden Kriegsvorbereitungen ist nicht so zu führen, daß wir nach und nach immer weitere Teile kämpferischer Jugendlicher aus der Armee fernhalten, sondern indem wir in der Armee die Losung: ,Im Ernstfall dreht die Gewehre um!' propagieren und die Arbeiterjugend in Betrieb und Bundeswehr zum gemeinsamen Kampf erziehen und organisieren. " 137 Jescheck, S.122. 13S Scheueh, "Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft" (1968), S.218. 138 Repetiert nach den Jahresberichten des Wehrbeauftragten 1972, S.31 und 1975, S. 14. 140 Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.24.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Der Kommunistische Jugendverband beschloß Anfang Juni 1973 auf der ersten ordentlichen Mitgliederversammlung, den "erfolgreich eingeschlagenen Weg der Massenarbeit in der Bundeswehr fortzusetzen" (Rote Fahne Nr. 28 vom 11. Juni 1973)141. Zur Erreichung dieses. propagierten Zieles wurde bereits versucht, sogenannte Basiszellen in den Streitkräften zu bilden l41 . Basiszellen können aber zu soldatischer Delinquenz führen, insbesondere zu Dienstvergehen gegen die staatsbürgerlichen Pflichten. Verstöße gegen § 15 SoldatenG kommen nämlich in den Varianten der politischen Agitation im Dienst und des Uniformtragens bei politischen Veranstaltungen außer Dienst immer wieder vor142 • Wenn auch dem politischen Agitatoren bisher kein erkennbarer Erfolg beschieden war, so wird diese Entwicklung sorgfältig beobachtet werden müssen, um diesen kriminovalenten Faktoren ideologischer Provenienz rechtzeitig entgegenwirken zu können. 11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlicllen Delinquenzbild 1. Dienstbetrieb, Funktionen und Effizienzkontrolle der Streitkräfte in Friedenszeiten

Zum ersten Male in der Militärgeschichte liegt der Sinn soldatischer Bewährung schon vor der Schwelle der militärischen Auseinandersetzung. Das Spezifikum der Streitkräfte, die Abschreckung des Gegners und der organisierte Einsatz von Waffengewalt zur Erreichung politischer Ziele, unterscheidet sich von jeder anderen Organisation, auch wenn eine Reihe von Faktoren eine Vergleichbarkeit mit zivilen Großorganisationen erlauben mag. Die Unvorhersehbarkeit des Krieges und der Mangel an Effizienzkontrolle in Friedenszeiten konfrontieren die Streitkräfte mit einzigartigen Problemeni. Sie gipfeln in der Paradoxität, daß bei ständiger Einsatzbereitschaft die Wirklichkeit des Einsatzes nicht erhofft werden darf. Sicher gibt es Organisationen, bei denen wegen unklarer Ziele oder aus anderen Gründen die Leistung nicht voll kontrollierbar ist, aber dort ist dies in der Regel ein Dauerzustand und insofern weniger problematisch als in der Armee, für die ein solcher Testfall prinzipiell existiert. Andererseits kann der "Ernstfall" nur in Manövern simuliert geprobt werden; der rapide technologische Wandel verschärft diese Situation, indem er viele Waffensysteme vorschnell veraltern läßt. Die zunehmende interne Heterogenität, die von einer Angleichung ziviler und militärischer Tätigkeiten in technisierten Ein141 Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.24. 142 Vgl. die Zahlen in der Dienstvergehenstatistik, 2. Teil Tabelle 4. 1 Vgl. dazu ausführlich Radbruch, "Bürokratisierung der Verteidigung?", in: Pöggeler / Wien, S. 315 ff.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

105

heiten begleitet wird, erschwert die Aufgabe, die einzelnen Positionen mit den vorhandenen Qualifikationen in Einklang zu bringen und dabei gleichzeitig stabile und attraktive Karrieremuster sowohl für den zivilen Bewerber als auch für den länger dienenden Zeitsoldaten sowie Berufssoldaten zu schaffen 2• Hinzu kommt die enorme Fluktuationsrate auf der untersten Ebene, die ebenfalls außergewöhnlich ist: Welche zivile Organisation könnte es sich leisten, etwa die Hälfte ihrer Mitglieder alle fünfzehn Monate auszuwechseln! Diese Fragen einer - zwangsläufig unökonomischen - Personalpolitik, Planung und darüber hinaus die Problematik einer Armee in Friedenszeiten, die sich zwar ständig für einen Angriff von außen bereithält, aber aufgrund ihrer Konzeption niemals den "ersten Schlag" führen darf3 , werden von der Truppe gerne pauschalierend mit dem Schlagwort "Gammelbetrieb" beklagt. In der Tat sind lediglich 28,6 % aller Aufgaben in der Bundeswehr rein militärischer Art; 47,6 % berühren weitgehend den technischgewerblichen und 23,8 0J0 den nicht technischen Bereich. Etwa 25 0J0 aller Soldaten stehen im sogenannten Funktionsdienst, von der Kompanieschreibstube bis zur gesamten Versorgung, weitere 25 - 30 0J0 sind Kraftfahrer 4• Eine eindeutige Abgrenzung der Aufgabenverteilung der Soldaten ist problematisch, da zahlreiche Aufgaben in Mehrfachfunktionen wahrzunehmen sind. Dies gilt insbesondere im Heer für Soldaten in sog. "Funktionsdiensten" ebenso wie für Kraftfahrer, die in der Regel ebenfalls Kampfaufträge als "Gewehrträger" zu erfüllen haben. Vergröbernd kann hinsichtlich der Aufgabenschwerpunkte von folgender Verteilung ausgegangen werden (Stand 1975)5: Heer: Kampf- und Kampfunterstützungstruppen 63 Ofo Führungstruppen 14 Ofo Logistik, Verwaltung, Personalwesen 23 Ofo Luftwaffe: Kampf- und Einsatzaufgaben 47 Ofo Technischer Dienst 23 Ofo Logistik, Verwaltung, Personalwesen 40 Ofo Marine: Kampf- und Einsatzaufgaben 47 Ofo vorwiegend Technischer Dienst 38 Ofo Logistik, Verwaltung, Personalwesen 15 0/0 Die Soldaten ohne typisch militärische AufgabensteIlung sind es wohl hauptsächlich, die von der mangelnden sinnvollen Beschäftigung und dem Schlendrian, der durchaus auch in der Bundeswehr vorzufinden ist, betroffen sind. Vgl. Ziegler, S. 14 f. Vgl. die Darstellung der Gesamtkonzeption der Verteidigungspolitik der Bundeswehr, in: Weißbuch 1973/1974, S. 29 ff. 4 Vgl. Kuhnen, S.13 mit weiteren Zahlen und Nachweisen. 5 Amtliche Auskunft BMVg - FüS I 1 -. 2

3

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Aber auch die militärische Ausbildung der Soldaten, wichtigste Voraussetzung für die Kampfkraft und Kampfmoral der Truppe, leidet vor allem unter zwei Mängeln: Einmal dem Fehlbestand an Ausbildern, deren Aufgabe heute zum Teil von Soldaten wahrgenommen werden muß, die darauf nicht vorbereitet sind; zum anderen unter der zu geringen Zahl an geeigneten übungsplätzen6 • Zehn große Truppenübungsplätze wären für eine auftragsgerechte Ausbildung der Soldaten des Heeres nötig; es stehen aber nur sechs zur Verfügung, die außerdem von den in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Verbänden der Alliierten mitbenutzt werden. Wirklichkeitsnahe Gefechtsübungen mechanisierter Verbände erfordern weiträumige 'übungsgebiete. Die vorhandenen Truppenübungsplätze reichen aber nur für Gefechtsübungen in Kompaniestärke, bestenfalls in Bataillonsstärke aus'. Außer dem Mangel an Ausbildern und übungsplätzen treten weitere Schwierigkeiten auf: So werden beim Heer die 'übungsmöglichkeiten der Kampfverbände eingeschränkt, weil die Grundausbildung zum großen Teil im Feldheer stattfindet. Die oft weiten Entfernungen zwischen Unterkunft und 'übungsplatz verkürzen die Ausbildungszeit empfindlich. Manche Einheiten, z. B. Pionierkompanien, verfügen über derart umfangreiche Materialbestände, daß die ständige Wartung die Ausbildung erheblich beeinträchtigt. Unzureichende Versorgune mit Ersatzteilen legt oft in den Einheiten Großgerät lahm, das zur Ausbildung benötigt wird. Auch Mängel in der Infrastruktur können Leerlauf hervorrufen. So sind auf einem bestimmten Standortübungsplatz 30 Kompanien auf eine einzige Fahrzeugwaschanlage angewiesen. Bei der Marine erschweren die langen Werftliegezeiten den sinnvollen Einsatz der Schiffsbesatzungen - schon die große Instandsetzung eines Schnellboot-Tenders dauert z. B. mit der Grundinstandsetzung der Waffen und Feuerleitanlagen rund ein Jahr7 • Diese Vielzahl von Mängeln schafft für Ausbilder wie Untergebene mancherlei Unzuträglichkeiten. Nichts hat so sehr dazu beigetragen, daß der Begriff "Gammeldienst" in und außerhalb der Bundeswehr zu einem Schlagwort geworden ist. Er eignet sich hervorragend als Aufhänger für jedwede Art von Diskussion und Kritik unter Soldaten; seine Unbestimmtheit erhöht seine Gängigkeit. So ist er schnell zum Inbegriff für jeden unbequemen Dienst geworden, insbesondere für Formaldienst, Appelle und inneren Dienst, die von der Masse der Wehrpflichtigen als lästig empfunden werden. Darüber hinaus wird grundsätzlich jede Art von Dienst als "Gammeln" bezeichnet, die der Soldat aus seiner Sicht, berechtigterweise oder nicht, als Leerlauf empfindet wie beispielsweise den Bereitschafts- und Wachdienst. Bei allem Bestreben, die militärische Ausbildung zu verbessern, darf der entscheidende Gesichtspunkt nicht außer Acht gelassen werden: 6 7

Weißbuch 1970, Nr. 136 (S. 110). Vgl. Weißbuch 1970, Nr.136 (S.l11) mit weiteren Beispielen.

II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Der militärische Dienst kann nicht nur aus beliebten Ausbildungsarten wie Sport- und Schießausbildung bestehen, sondern muß zwangsläufig auch monotonere Dienste einschließen. Insbesondere der Bereitschaftsdienst, in erster Linie in den Luftverteidigungsverbänden, bleibt bei der militärisch-politischen Situation in Europa unerläßlich. Da aber der jeweilige Bereitschaftsgrad die politische Lage berücksichtigen muß, wird stets zu prüfen sein, ob die Skala der starren Bereitschaftsmaßnahmen so flexibel gestaltet werden kann, daß sie für jede Spannungssituation präzise paßt, und welche Entlastungen sich daraus für die Truppe ergeben könnten. Dabei darf nicht verkannt werden, daß ein gewisser "Leerlauf", der hauptsächlich in Wachdiensten, Waffen- und Gerätepflege innewohnt, bis zu einem gewissen Grade unabänderlich ist. Gerade Wachdienst ist kein Gammeldienst; das hat der "Lebacher überfall" vom Januar 1969 bestätigt. Es liegt in der unvermeidbaren Eigenart des Auftrages der Bundeswehr, daß sie ständig abwehrbereit sein muß. Die Soldaten müssen erkennen, daß ihr Dienst - ähnlich wie der Dienst bei einer Feuerwehr keineswegs nur den Zweck der Ausbildung hat, sondern primär den Zweck ständiger Einsatzbereitschaft verfolgt - bei der Bundeswehr keineswegs ausschließlich von der Ausbildung, sondern darüber hinaus von der Einsatzbereitschaft ausgebildeter Soldaten bestimmt ist. Es ist verständlich, wenn ausgebildete Soldaten die bloße Aufrechterhaltung von Bereitschaft als "Gammeldienst" empfinden. Objektiv hingegen stellt sie die Erfüllung des militärischen Auftrages dar. Hier kommt der Tatsache, daß die Bundeswehr ihren Sinn und Zweck nicht zureichend darzustellen vermag, besondere Bedeutung zu 8 • Militärischer Dienstbetrieb mit Mangel an subjektiv sinnvoll empfundenen Funktionen in den Streitkräften hat also vornehmlich in Friedenszeiten eine stark kriminovalente Komponente, die zunächst erkannt werden muß. Die Neigung zur Delinquenzbereitschaft, insbesondere in Form der unvollständigen oder schleppenden Ausführungen von Befehlen (als Verstoß gegen § 20 Abs.l Nr.1 WStG)9 bis hin zur sicherheitsgefährdenden Wachverfehlung (§ 44 WStG) ist bei dieser "systembedingten" Konstellation besonders groß. Hier sucht sich, vergleichbar der psychologischen "überdruck"-Situation infolge der strengen Anforderungen der militärischen Disziplin, der "Unterdruck" militärischen Leerlaufes einen Ausweg, der durchaus auch im delinquenten Bereich liegen kann. 8

Schriftenreihe Innere Führung, Reihe Ausbildung und Bildung, Heft 17

(1974), S. 21 ff., 24. o Vgl. dazu AG Hamburg, Urteil vom 20. Juli 1964 RWStR, § 20 WStG Rd.Nr. 3.

139 Ds 80/64 -

in:

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr 2. Waffen und tec1misclle Entwicldung

Die schnelle Entwicklung der Technik und ihre starke militärische Bedeutung haben für Soldaten vielfältige neue Tatsituationen geschaffen. Die Technik verlangt generell ein starres Einhalten von Regeln, soll sie hergeben, was in ihr steckt. Sie zwingt den Soldaten in eine feste Disziplin bei der Bedienung seiner Waffen und Geräte; sie fordert Funktionstreue, deren Einhaltung meist meßbar in Erscheinung tritt. Die Ausbildung der Bedienung einer Waffe muß also ständig dem Stand der Technik angepaßt werden; der Lehrstoff wird dadurch oft umfangreicher, die Zeit bis zur Beherrschung von Waffe und Gerät dauert unter Umständen länger. Viele Bedienungsvorgänge werden dem Soldaten durch maschinelle Hilfsmittel (z. B. Hydraulik) erleichtert oder abgenommen. Statt dessen muß er mehr Armaturen beobachten und meist körperlich nicht anstrengende Handgriffe oder Einstellungen in bestimmter Reihenfolge und sehr genau vornehmen, die seinen Intellekt beanspruchen. Um menschliche Fehler auszuschalten, werden Vorgänge von Automaten oderelektronischen Einrichtungen übernommen; es sind meist solche, zu denen der Mensch ohnehin mehr Zeit benötigen würde, z. B. bei der Panzerkanone das Ausschalten der besonderen Einflüsse durch einen Rechner oder die Stabilisierung der Kanone, um die Waffe im Fahren im Ziel zu halten. Fallen diese Hilfsmittel aus, ist der Soldat in der Regel nicht in der Lage, sie durch seine eigene Tätigkeit wirkungsvoll zu ersetzen. Die Entwicklung der Technik brachte es mit sich, daß Waffen- und Gerätesysteme, wie Schützenpanzer, Raketenpanzer u. ä. nur von mehreren Soldaten bedient werden können, die exakt aufeinander eingespielt sein müssen10 • Als Grundtendenz der technischen Entwicklung läßt sich feststellen, daß sie ein Höchstmaß an Präzision in der Bedienung verlangt und dadurch den Soldaten in eine "technische Disziplin" zwingt. Einzelne Vorgänge in der Bedienung, Wartung und Instandsetzung werden einfacher, insgesamt aber tritt durch die ständige Forderung nach höherer Leistung eine Komplizierung ein. Es ist nicht zu verkennen, daß insbesondere der junge Vorgesetzte in der heutigen Bundeswehr bis an die Grenzen seiner Aufmerksamkeit und Kontrollfähigkeit belastet wird, wenn er beispielsweise als Disziplinarvorgesetzter und Technischer Offizier in einem Geschwader Aufsicht und Kontrolle über ca. 80 Soldaten und Sachwerte in Höhe von mehreren Millionen Mark innehat. Dies gilt aber nicht nur für die Disziplinarvorgesetzten und Offiziere in den Streitkräften. 10 So Carganico, "Dienst an modernen Waffen und Geräten", in: Pöggeler / Wien. S. 348.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Der Kommandant eines Kampfpanzers (Unteroffizier) ist im Duchschnitt 20 Jahre alt; ihm sind drei Mann Besatzung und eine Waffe im Wert von einer Million Mark anvertraut. Ein Feldwebel, der im Wartungsdienst eines Starfighters tätig ist und die Meisterprüfung abgelegt hat, hat die gleiche Verantwortung wie der Meister in der Instandsetzungswerft der zivilen Luftfahrt mit Flugzeugen ähnlicher Kompliziertheit. Der Kommandant eines Schnellbootes (Oberleutnant zur See oder Kapitänleutnant) ist im Durchschnitt 26 - 27 Jahre alt; die Besatzung eines Schnellbootes, das einen Wert von 50 Millionen Mark darstellt, zählt 39 Mann11 •

Kriminologisch gesehen ist in diesem Rahmen völlig unerforscht, inwieweit ein Teil militärischer Delinquenz seine tiefere Ursache oder seinen Auslöser auch in der Kompliziertheit der Waffensysteme haben könnte. Fest steht, daß die skizzierte Entwicklung an den Soldaten bei Bedienung moderner Waffen und Geräte zunehmend höhere Anforderungen an Intellekt, Selbsteinschätzung und psychische Belastbarkeit stellt12 • Zu vermuten ist daher, daß die hochtechnisierte Armee "systembedingte" Delinquenz des überforderten Soldaten z. B. in Form strafbarer mangelhafter Dienstaufsicht (§ 41 WStG) , unwahrer dienstlicher Meldungen (§ 42 WStG) , Sachbeschädigung, fahrlässiger Körperverletzung oder gar Tötung und dergl. mitauslösen, wenn nicht gar fördern könnte. Eine Variante des kriminovalenten Faktors "Waffen und Technik" ist die Delinquenz im Zusammenhang mit Flugzeug- und Schiffsunfällen13• Die kriminologische Beurteilung dieser Unfälle erfordert eine genaue Kenntnis der bei der Luftwaffe und bei der Marine bestehenden besonderen Verhältnisse, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Ein Beispiel für den sog. fliegerischen Ungehorsam soll genügen14 : "Am 28. April 1975 haben Sie als verantwortlicher Hubschrauberführer

des Hubschraubers Bell UH-1D GAF 7192 auf der Strecke von Osnabrück nach Wunstorf entgegen der ZDv 19/2 Nr.519 Ihren Flug fortgesetzt, obwohl Sie erkannten oder zumindest erkennen mußten, daß die Wetterbedingungen die Mindestwerte (1,5 km Sicht) zu unterschreiten drohten. Als sich die Wetterverhältnisse weiter verschlechterten und eine Fort-

Weißbuch 1970, Nr.172 (S.129 f.). Vgl. dazu Jung, "Soldat als Staatsbürger", in: Pöggeler / Wien, S.49: "Der eminente Einfluß des Technologischen bestimmt immer stärker das Berufsbild des Soldaten und erfordert immer mehr eine Fach- bzw. Fachhochschulausbildung. Damit verbunden ist die Forderung nach Anwendung wissenschaftlicher Methoden in der Praxis der Führungsorganisation und Koordination von Waffensystemen, was wiederum eine dynamische Anpassungsfähigkeit jedes einzelnen an die rasch wechselnden Systeme voraussetzt." 13 Im Jahre 1975 wurden 29 (Vorjahr: 25) schwere Flugunfälle sowie ein Schiffsunfall als Besondere Vorkommnisse gemeldet, vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.16. 14 Auszugsweise Zitierung einer Sachverhaltsermittlung im Urteil des Truppendienstgerichtes Nord - 9. Kammer - Az.: N9 - VL17175 - vom 25. März 1976. 11

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

setzung des Fluges nach Sichtflugregeln nicht mehr zuließ, haben Sie eine unter diesen Umständen gebotene Außenlandung nicht durchgeführt, sondern sind in der Nähe der Weser abweichend vom Flugauftrag zeitweise im Tiefflug weitergeflogen. Nachdem die Sicht so weit zurückgegangen war, daß ein Weiterflug völlig ausgeschlossen war, haben Sie sich unerlaubterweise und entgegen dem Rat Ihres Co-Piloten von der FS-Kontrollstelle Wunstorf eine IFRclearence eingeholt und nach einem Steigftug auf ca. 1500 ft GND nach IFR den Flug bis Wunstorf fortgesetzt, obwohl Sie wußten, daß dafür die Voraussetzungen der ZDv 19/2 Nr.603, 212 nicht gegeben waren. Nach Ihrer Rückkehr haben Sie es in Ahlhorn entgegen der ZDv 19/2 Nr. 320 und der SOP HTG 64 GB-B20, 2.1. unterlassen, Ihrem Einsatzoffizier unverzüglich zu melden, daß Sie von Ihrem Flugauftrag, der Ihnen die Durchführung des Fluges nach VFR vorschrieb, abgewichen waren." Bei den Tätern, die ein Luftfahrzeug vorschrifts- oder befehlswidrig benutzen und dabei Menschen und Material gefährden, handelt es sich vielfach um charakterlich und fachlich sehr gut beurteilte Soldaten. In diesen Fällen kann die Gefährlichkeit der Tat so sehr im Vordergrund stehen, daß trotz aller persönlichen Qualitäten des Täters eine nachdrückliche Freiheitsstrafe am Platze ist. Dabei wird sorgfältig zu prüfen sein, ob nicht statt Freiheitsstrafe auf Strafarrest erkannt werden kann (§ 12 WStG). Auch auf anderen Gebieten der militärisch angewandten Technik besteht mancherlei Gelegenheit zu Straftaten. So handelt es sich beispielsweise bei dem unrichtigen Übermitteln einer dienstlichen Meldung (§ 42 WStG) um einen Tatbestand, der besonders für Soldaten der Fernmeldetruppe relevant ist. Des weiteren ist zu beobachten, daß die Zahl der Waffen- und Munitionsunfällen zunimmt, wenn die Streitkräfte häufiger mit scharfer Munition üben16 • Dabei erweisen sich vor allem dienstältere Berufssoldaten und Kriegsteilnehmer als besonders gefährdet, bei denen sich durch Gewöhnung leicht die Neigung entwickelt, die Sicherheitsbestim· mungen aufgrund wirklicher oder vermeintlicher Erfahrung nicht genau genug beachten zu müssen16 • Aber auch leichtfertiger Umgang17, bloßer übermut und Freude am Umgang mit Schußwaffen, der dem "Zivilisten" größtenteils verwehrt ist, scheint oftmals Ursache für Vorfälle 15 Vgl. zur strafrechtlichen Verantwortung für die Nichtbeachtung von Sicherheitsanforderungen beim Scharfschießen mit tödlichem Ausgang: BGH, Urteil vom 10.12.1965 - 1 StR 327/65 - in: NZWehrr 1966, S. 80 ff. 18 Fahrlässigkeit bzw. Nichtbeachtung der Sicherheitsbestimmungen ist mit einem Anteil von etwa 72 Ofo die Hauptunfallursache im Zusammenhang mit Waffen; vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.18. 17 Zu den Sorgfaltspflichten eines Wachpostens beim Umgang mit Schußwaffen, vgl. LG Marburg, Urteil vom 22.12.1964 - 5 KMs 3/64 - in: RWStR § 44 WStG, Rd.Nr. 1.

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zu sein, die leicht "ins Auge gehen" und zu strafrechtlichen Folgen führen können. Dazu kurz ein Beispie}18: Während einer übung sollte die übende Truppe nach Einbruch der Dunkelheit durch eine Musikkapelle unterhalten werden. Entgegen den einschlägigen Sicherheitsbestimmungen befahl der Kompaniechef, ein Hauptmann, einem Stabsunteroffizier, einen Schuß Leuchtmunition so flach abzuschießen, daß der etwa 60 Meter entfernten Musikkapelle, die gerade die Instrumente aufstellte, "Licht gemacht werde". Das befehlsmäßig abgefeuerte Geschoß durchschlug die Doppelscheibe eines Fensters und gefährdete mehrere in unmittelbarer Nähe befindliche Soldaten erheblich. Es bleibt Aufgabe der militärkriminologischen Forschung, herauszufinden, inwieweit - vielleicht nicht nur durch unreife Naturen aus Freude oder Leichtfertigkeit im Umgang mit Schußwaffen und Munition kriminelle Situationen, insbesondere die des rechtswidrigen Waffengebrauchs (§ 46 WStG), heraufbeschworen werden, die ursächlich mit dem militärisch notwendigen täglichen Waffengebrauch verbunden sind19. 3. Das kriminologische DoppelantUtz der milltlirlschen Disziplin

a) Zum Begriff der Disziplin

Disziplin in der Bundeswehr ist wie in anderen Bereichen unserer Gesellschaft normgerechtes oder normentsprechendes Verhalten. Da die Streitkräfte aufgrund des Verfassungsauftrages notfalls die Bundesrepublik Deutschland mit Waffengewalt zu verteidigen haben und daher die militärische Einsatzbereitschaft jederzeit und effektiv gewährleisten müssen, gewinnen innere Ordnung in der Bundeswehr und die damit verbundenen Rechtsnormen grundlegende Bedeutung. Die Disziplin, die eine der unerläßlichen Elemente militärischer Ordnung darstellt und auf der die Funktionsfähigkeit von Streitkräften maßgeblich beruht, war in der Truppe oftmals Gegenstand gegensätzlicher Ausdeutungen ihrer Form und ihres Inhalts 20• Der von Militärsoziologen häufig vorgenommenen Trennung von "formaler" und "funktionaler" Disziplin lag der Trugschluß zugrunde, daß "formale" und "funktionale" Tätigkeiten in einem Gegensatz zueinander stünden!1. 18 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.92. 18 Von den 58 Unfällen mit Waffen und Munition im Jahre 1975 ereigneten sich 25 (47 °/0) mit Handfeuerwaffen, davon 14 im Wachdienst, 3 bei Schulund Gefechtsschießen, 4 bei der Gefechtsausbildung und 4 bei sonstigem Dienst. Dabei wurden 2 Soldaten im Wachdienst getötet und 24 Soldaten davon 12 im Wachdienst - schwer verletzt; vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.17. 20 Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.96. 21 Vgl. dazu Schultz, "Probleme militärischer Menschenführung aus der Sicht des Wehrbeauftragten", in: Pöggeler I Wien, S.62.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

In Wirklichkeit handelt es sich bei dieser konstruierten Spaltung jedoch nicht um einen Gegensatz, sondern um Elemente des gemeinsamen Oberbegriffs "Disziplin". "Funktional" ist zu definieren als auf die Erhaltung oder Stabilisierung eines Systems einwirkend, also die Beeinflussung jener Faktoren, die die Einsatzbereitschaft und die Kampfkraft der Bundeswehr erhalten und stabilisieren. "Funktional" kann demnach nicht nur auf technische Abläufe begrenzt werden, sondern umfaßt den gesamten Bereich des militärischen Dienstes, wie beispielsweise Formal-, Gefechts-, technischer Dienst, solange die Ausübung dieser Dienste dem Auftrag der Erhaltung der Kampfkraft förderlich ist. Das Antonym zu "funktional" lautet aber nicht etwa "formal", sondern "dysfunktional" und würde jene Verhaltensweisen und Handlungen bezeichnen, die - im militärischen Sinne - dem Ziel der Einsatzbereitschaft entgegenwirken. Die Auffassung darüber, welche Maßnahmen der militärischen Führung als "funktional" und welche als "dysfunktional" anzusehen sind, unterliegen überwiegend der Wertung durch die Praxis und sind im Bereich der militärischen Formalvorschriften umstritten. Grundsätzlich besteht kein zwangsläufiger Gegensatz zwischen "militärischen Formen" und "Funktionalität", sondern es muß auch das Formale auf die Funktionalität oder Dysfunktionalität - für alle militärischen Dienstbereiche - für die Aufrechterhaltung der Disziplin und damit für die Erhaltung der Kampfkraft der Streitkräfte untersucht werden. Den dargelegten Deutungen der Elemente des Disziplinbegriffs trägt die Bestimmung des Disziplinbegriffs in Nr. 218 der Zentralen Dienstvorschrift ZDv 10/1 der Verzahnung von formaler und funktionaler Disziplin Rechnung. Dort findet sich auszugsweise: "Die gewissenhafte Erfüllung aller Pflichten und der vom militärischen Auftrag jeweils gestellten Forderungen heißt Disziplin. Disziplin ist die Voraussetzung für die Wirksamkeit in der Einzelfunktion und für die Zusammenarbeit im Team, in der Einheit und im Verband ... Disziplin umfaßt Geist, Haltung und Form." Diese inhaltliche Bestimmung enthält die wesentlichen Elemente des Disziplinbegriffs. Angesichts der offensichtlichen Konfrontation zwischen den Teilerfassungen "Haltungsdisziplin" und "Funktionsdisziplin" bei der Entstehung der Vorschrift22 , muß die durch die ZDv 10/1 erfolgte Klärung des Disziplinbegriffes als höchst operationabel bezeichnet werden. Sie wird hoffentlich dazu beitragen, die noch immer in den Streitkräften vorzufindende zeitraubende und unproduktive Diskussion über mutmaßliche Elemente der Disziplin zu verkürzen. Militärisch knapp wird jedenfalls im Weißbuch 1973/1974 festgestellt23 : 22 23

Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.97. Weißbuch 1973/1974, Nr. 83 (S.59).

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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"Einen zweigeteilten Disziplinbegrüf kann es darum nicht geben."

Auch der Grundsatz der Rechtssicherheit erfordert eine einheitliche Auslegung des Begriffs der Disziplin. Da dieser Begriff - ohne rechtlich definiert worden zu sein - durch übernahme in zahlreiche wehr~echt­ liche Bestimmungen zum Rechtsbegriff geworden ist24 , der Rechtspflichten zum Gegenstand hat, ist Disziplin stets Normerfüllung einer einheitlichen Rechtsnorm. Wenn der Gesetzgeber das Wort "Disziplin" nur einheitlich verwendet, so kann und darf die Rechtsanwendung nicht von zwei oder mehreren Begriffen unterschiedlicher Verbindlichkeit und Auslegung ausgehen. Der Hinweis auf die Disziplinforderungen in den Streitkräften sollte dabei jeglichen Anzeichens von Anti-Intellektualismus entbehren25• b) Der kriminologische Januskopf der Disziplin

Es war Neudeck, der bereits zu Anfang der Aufstellung der Bundeswehr auf die Bedeutung der militärischen Disziplin als sowohl kriminalitätsfördernden als auch kriminalitätshemmenden Faktor hingewiesen hat26 • So haben Neudeck und sodann Schwenck darauf aufmerksam gemacht, daß die militärische Disziplin als die entscheidende Forderung soldatischen Dienstes kriminologisch "janusköpfig" ist: Einerseits wirkt sie kriminoresistent kraft der Strenge ihrer Anwendung, andererseits aber in erheblichem Umfang kriminovalent, weil mit der militärischen Grundtugend strikter Disziplin als Negation zwangsläufig die Möglichkeit der Disziplinlosigkeit gegeben ist27, die zu militärischer Delinquenz in Form von Gehorsamsverweigerung, eigenmächtiger Abwesenheit vom Dienst, Zapfenstreichübertretungen, aber auch Bedrohungen und tätlichen Angriffen gegen Vorgesetzte führen kann. Persönliche Freiheit des Soldaten und Disziplin stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Sie erfahren ihre schärfste Konfrontation in der Person des wehrpflichtigen Soldaten, der nicht aus eigenem Entschluß in den Streitkräften seinen Grundwehrdienst leistet. Hierzu ein erläuterndes Beispiel28 : 24 z. B. in § 17 Abs.l SoldatenG: "Der Soldat hat Disziplin zu wahren und die dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person auch außerhalb des Dienstes zu achten" sowie in § 10 Abs.2 SoldatenG: "Er (der Vorgesetzte) hat die Pflicht der Dienstaufsicht und ist für die Disziplin seiner Untergebenen verantwortlich" oder in § 17 Abs.l WDO: "Jeder Disziplinarvorgesetzte kann Soldaten, die seiner Disziplinargewalt unterstehen, wegen eines Dienstvergehens vorläufig festnehmen, wenn es die Aufrechterhaltung der Disziplin gebietet." 25 So Pöggeler, "Die Bundeswehr im demokratischen Bildungssystem", in: Pöggeler / Wien, S.147. 28 Neudeck, S.347. 27 Neudeck, S.349; Schwenck (1), S.11. 28 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, S.133. &

Fiedler

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Ein Panzerschütze wollte am Abend nach Dienstschluß in unvorschriftsmäßiger Kleidung in der Kasernenwache telefonieren. Als er sich dem Befehl, in ordentlicher Kleidung zu erscheinen, widersetzte, nahm ihn der Offizier vom Dienst vorläufig fest. Durch das Arrestzellenfenster drohte der Soldat dem Offizier vom Dienst an, ihm "die Fresse einzuschlagen". Der Soldat wurde wegen Bedrohung eines Vorgesetzten zu einem Monat Freiheitsstrafe verurteilt. Die Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung war und ist stets eines der Kernprobleme der Streitkräfte. Durch die feste, in sich geschlosseneOrdnung des militärischen Lebens wird die Möglichkeit und Versuchung, Straftaten des allgemeinen Strafrechts wie des Wehrstrafrechts zu begehen, an sich zunächst stark herabgemindert. Der Soldat, insbesondere der Wehrpflichtige während der Grundausbildung, verbringt den größten Teil des Tages und - soweit es sich um Mannschaftsdienstgrade und jüngere Unteroffiziere handelt - unter Kameraden; sein Verhalten ist vom Wecken bis zum Schlafengehentll vorgeplant und geregelt. Im Dienst und im weiten Umfang auch während der Freizeit steht er mehr oder weniger fühlbar unter der Aufsicht von Vorgesetzten und Dienstgradhöheren; hinter jeder Forderung des militärischen Vorgesetzten steht die Androhung von Disziplinarmaßnahmen oder sogar Kriminalstrafen. Sein Handeln und Denken wird direkt und indirekt in einem sehr großen Umfang für die militärische Gemeinschaft und die militärische Ausbildung mit dem Sachzwang der Gemeinschaft und des täglichen Dienstplanes in Anspruch genommen. Selbst die !)chade, von allen Soldaten gerne betonte Trennung von Dienst und Freizeit kann an der engen Bindung des Soldaten an die militärische Umwelt nicht viel ändern. Diese Situation ist in ihren Grundzügen unabänderlich und erzeugt besonders beim jungen Soldaten bewußt oder unbewußt, ständig oder vorübergehend, ein inneres Spannungsfeld, das nach Entspannung drängt. Das hat zur Folge, daß Einschränkungen und Belastungen des militärischen Dienstes, wie Wach- oder Bereitschaftsdienste, als lästige Fesseln abgelehnt werden. So vermag beispielsweise auch die Veränderung im Krankenstand der einzelnen Einheiten, die bei bevorstehenden anstrengenden Diensten wie z. B. Märsche und Übungen beobachtet werden kann, Hinweise auf die Negation der Disziplin zu geben. So wurde z. B. im Jahre 1971 auf Anfrage dem Wehrbeauftragten übereinstimmend mitgeteilt, daß vor Übungen, Manövern und Truppenübungsplatzaufenthalten regelmäßig eine sprunghafte Zunahme der· Krankmel28

VgI. ZDv 10/15 (Der Innendienst), Ziffer 324: "Der Zapfenstreich wird auf

22.00 Uhr festgesetzt; mit ihm beginnt die Nachtruhe in der Unterkunft. Zu

diesem Zeitpunkt ist auf den Mannschaftsstuben das Licht zu löschen; Rundfunk-, Fernseh- und Phonogeräte sind auszuschalten. Wer dem Zapfenstreich unterworfen ist, hat um 22.00 Uhr im .Bett zu liegen."

II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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dungen verzeichnet werden müsse. Es schrieb der Kommodore eines Jagdbombergeschwaders: "Vor unangenehmen Diensten, zu erwartenden Geschwaderübungsalarmen usw. ist in den beiden Sicherungsstaffeln ein Ansteigen der Krankmeldungen um 100 % bis 200 % der normalen Zahl festzustellen." Der Kommandeur einer Marineschule äußerte zur gleichen Frage: "Eine plötzliche Zunahme von Krankmeldungen bis zu 30 % der Einheitsstärke (!) war des öfteren im Zusammenhang mit den 3-TageÜbungen der Gastenlehrgänge ... zu beobachten." Ähnliche Stellungnahmen liegen auch aus der Teilstreitkraft Heer vor. Vor dem Ausrücken zu einem Truppenübungsplatzaufenthalt wurden beispielsweise in einem Bataillon plötzlich 40, und in einem anderen 50 Krankmeldungen abgegeben, während sich der Krankenstand an normalen Tagen laut Angabe der Kommandeure auf etwa 10 bis 15 Mann je Bataillon belief3o• Auch sind Fälle bekannt geworden, in denen Bereitschaftsdienste oder Wochenendwachdienste unter Soldaten für Geldbeträge "verkauft" wurdenS1 ; Beträge bis zu DM 200,- waren dabei im letzteren Falle keine Seltenheit. Dieses ernstzunehmende Phänomen veranlaßt zu der Bemerkung, daß ständige Hinweise, die Bundeswehr sei ein "Unternehmen", das "Sicherheit produziere" und der Soldatenberuf sei ein "Beruf wie jeder andere", falsche Vorstellungen erwecken. Die Gleichmacherei der Anforderungen des militärischen Dienstes mit dem zivilen Jobdenken ist geeignet, den Konflikt insbesondere des Wehrpflichtigen innerhalb der militärischen Ordnung zu verschärfen32• Je geringer die Restgröße der militärischen Eigentümlichkeit angesetzt wird, desto geringer wird auch das Verständnis der Wehrpflichtigen für Disziplin und Gehorsam sein. Statt der bedingungslosen Gleichmacherei sollte bei einem Vergleich - sofern er überhaupt notwendig ist - auch das spezifisch Militärische des soldatischen Dienstes hervorgehoben werden. Zum Teil sind die negativen Reaktionen auf die ständigen Anforderungen der Disziplin verhältnismäßig harmlos, solange es sich nicht um Dienstvergehen im Sinne des Soldatengesetzes handelt. Auch kommen geringfügige Dienstvergehen täglich in jeder Einheit vor, die, sofern sie überhaupt bekannt werden, nicht mit einer Disziplinarmaßnahme geahndet werden83 • Dies ist dann auch nicht notwendig, weil die Dienstfreudigkeit und letzten Endes auch die Disziplin durch dauernde Beanstandungen mehr leiden würden als durch ein stillschweigendes Übergehen, das in engen Grenzen mit wirksamer Dienstaufsicht durchaus vereinbar ist und letztlich mehr Erfolg für den täglichen Dienstablauf gewährleistet, als die Anwendung des "scharfen Schwertes" der einVgI. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, S. 99 f. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.98, 99. 32 VgI. dazu Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, S.. 99 f. 33 VgI. dazu die Diskrepanz zwischen festgestellten und geahndeten Dienstvergehen, dargelegt im 2. Teil, S. 36, 39. 30 31

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

schlägigen Bestimmungen der Wehrdisziplinarordnung. Erzieherische Maßstäbe müssen bei Maßnahmen der Vorgesetzten den Ausschlag geben, solange nicht eine militärische Straftat (§ 2 Ziffer 1 WStG) oder eine Verletzung einer Norm des StGB vorliegen.

Als praktisches Beispiel für die Wechselbeziehung zwischen Disziplin und (übermäßiger) Toleranz sei der auch von der Öffentlichkeit stark beachtete "Erlaß über die Haar- und Barttracht" des Bundesministers der Verteidigung vom 14. Mai 1972 (Nr. 2) genannt34, der vom Führungspersonal in der Truppe als entscheidender auslösender Faktor einer günstigen Entwicklung militärischer Ordnung und Disziplin in der Bundeswehr gewertet wird. Diese Maßnahme36 beendete eine beklagenswerte Entwicklung, die ihren Anfang im ungepflegten äußeren Erscheinungsbild der Soldaten nahm, sich in einer damit verbundenen nachlässigen militärischen Haltung und Dienstausübung fortsetzte und bis zu Anzeichen der Resignation bei Vorgesetzten führte. Extrem lange Haare tragen zu dürfen, war von vielen Soldaten als Freibrief auch für eine nachlässige Ausführung von Befehlen, insbesondere im Einhalten der Anzugsordnung 86 sowie im militärischen Auftreten und Verhalten aufgefaßt worden87• Viele Vorgesetzte wendeten sich aus falscher Rücksichtnahme und möglicherweise auch aus Gleichgültigkeit nicht die gegebenen erzieherischen und disziplinaren Führungsrnittel an, reagierten zu nachsichtig und oft resignierend auf das sich bis zur Provokation steigernde disziplinlose Verhalten der Untergebenen, oder ließen den ersten Haar- und Barttracht-Erlaß des Bundesministers der Verteidigung vom 5. Februar 1971, der den Soldaten mit gewissen Einschränkungen gestattete, die Frisur der Mode entsprechend zu tragen, gerichtlich nachprüfen38• Obwohl die politische und militärische Führung sich seit Bestehen der Bundeswehr bemühte, Streitkräfte zu schaffen, die allen Einflüssen der demokratischen Gesellschaft offen bleiben sollten, zeigte die - falsch verstandene - Toleranz gegenüber der Haar- und Barttracht der Soldaten, daß zwischen den Zugeständnissen an den Zeitgeist und an die zivile Gesellschaft einerseits und den militärischen Erfordernissen und damit der notwendigen Disziplin andererseits oft nur ein schmaler Grat besteht. Die Reglementierung der Haar- und Barttracht besserte erkennbar das äußere Erscheinungsbild der Soldaten und oft auch ihre militärische Haltung spürbar. Viele Vorgesetzte berichteten, ihre Resigna34 Grundlegend beleuchtet unter dem Gesichtspunkt des "dienstlichen Zweckes" eines einem Soldaten erteilten Befehls, sich die Haare schneiden zu lassen, vgl. Lammich, "Befehl ohne Gehorsam", in: NZWehrr 1970, S. 47 ff. 36 Die Rechtmäßigkeit dieses Erlasses wurde festgestellt durch den ersten Wehrdienstsenat, Beschluß vom 25.7.1972 - I WB 127/72 -, in: NZWehrr 1972, S. 221 ff. 88 Geregelt in ZDv 37110. 87 So der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht 1972, S.97. 38 Vgl. zu letzterem Erster Wehrdienstsenat, Beschluß vom 3.8.1971 I WB 46/71 -, in: NZWehrr 1972, S. 29 f.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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tion angesichts des früheren "schlampigen" Erscheinungsbildes der Soldaten sei nun "neuem Mut" gewichen und man hätte mit dem Erlaß vom Mai 1972 wieder "Tritt gefaßt"39. Der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, der an dieser Entwicklung maßgeblichen Anteil hatte, bestärkte die Kommandeure mit dem ausdrücklichen Hinweis: "Ich erwarte von den Vorgesetzten aller Dienstgrade, daß sie dabei - nach ausreichender Belehrung - alle erzieherischen und disziplinaren Mittel voll ausschöpfen. 40 " Festzuhalten ist, daß mit der militärischen Grundtugend der Disziplin und dem sich aus ihr ergebenden Pflichtenkatalog als Negation auch die Möglichkeit der Disziplinlosigkeit gegeben istU • Je höher die Forderungen der Disziplin4! gestellt werden, ist vom psychologischen Standpunkt aus die Verletzung militärischer Dienstpflichten grundsätzlich43 eine unvermeidliche Begleiterscheinung. Die allgemeinen kriminovalenten Wirkungen der Disziplin führen zur latenten Bereitschaft der Soldaten, gelegentlich "aufzumucken" und "über die Stränge zu schlagen". Hier zeigt sich das soziale Prinzip, das wohl zu allen Zeiten ein Problem militärischer Institutionen gewesen ist: Je stärker der Zwang ist, der eine soziale Organisation zusammenhält, je mehr Gehorsam und Disziplin also verlangt werden, desto heftiger gärt der Konflikt, den dieser Zwang produziert". Es kann sicherlich nicht geleugnet werden, daß sich durch eine moderne Auslegung des Disziplinbegriffs, geschicktere Behandlung von Untergebenen, großzügigere Bewertung von geringfügigen Undiszipliniertheiten, durch bessere personelle und organisatorische Voraussetzungen die Zahl der Konflikte im Bereich militärischer Disziplin verringern läßt. Jedoch zu fordern, die vielfältigen Situationen zu vermeiden, die zu Konflikten mit dem WStG bzw. dem Disziplinarrecht führen können, wäre wirklichkeitsfremd. Es hieße das Ziel militärischer Ausbildung, nämlich die Herstellung und Erhaltung der militärischen Funktionsfähigkeit der Streitkräfte und damit der Disziplin, aufgeben.

81 40

41

Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.97. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.98. Neudeck, S.349.

Beispielsweise bei Truppenübungsplatzaufenthalten unter Verwendung scharfer Munition oder beim mehrtätigen Aufenthalt im Biwak außerhalb wohnlicher Kasernen. 43 Daß diese Feststellung innerhalb von Einheiten mit subjektiv empfundenem Elitebewußtsein variiert werden muß, wird in diesem Hauptteil unter H. 5. untersucht und empirisch nachgewiesen. 44 Vgl. Dahrendorf, "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" (1965), 42

S.167.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr c) Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich also feststellen: Auch in der Armee bedeutet Disziplin normgerechtes und sozialkonformes Verhalten. Den kriminoresistenten Faktoren militärischer Disziplin (wie: ständige Ordnung und Einsatzbereitschaft, Kontrolle durch die Gemeinschaft, Stärkung der Selbstzucht, Dienstaufsicht der Vorgesetzten, positive äußere Erscheinungsformen) stehen als Negation der Disziplin auch kriminovalenten Faktoren (wie: Fehler in der Disziplinhandhabung, latente Negation militärischer Pflichten in Form des " Aufmuckens" oder "Krankfeierns" im prädelinquenten Bereich, psychische Spannungen, Eingriffe in die freie Entfaltungsmöglichkeit und Freizeit usw.) gegenüber. Beim Festhalten am Prinzip der Disziplin gilt es daher zu erkennen, daß sie ein Doppelgesicht zeigt: Obwohl diese Säule des militärischen Dienstes der Delinquenz in erheblichem Umfang entgegenwirkt, hat sie auch immer eine kriminovalente Seite. 4. Das Spannunpfeld der militlirlsdlen blerardllsdlen Struldur

a) Das Prinzip von Befehl und Gehorsam

Hierarchische Strukturen gibt es auch außerhalb der Bundeswehr. Aber das Prinzip von Befehl und Gehorsam wird nirgendwo so nachdrücklich gehandhabt wie in den Streitkräften". Es wird in allen westlichen wie östlichen bewaffneten Staaten als unverzichtbar angesehen48 ; der Befehl kann keine "Diskussionsgrundlage" sein, sondern ist "eine Anweisung zu einem bestimmten Verhalten, die ein militärischer Vorgesetzter einem Untergebenen... mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt" (§ 2 Ziffer 2 WStG), die grundsätzlich keine Gegenvorstellung duldetu. Das Wehrrecht und die zu seiner Ergänzung erlassenen militärischen Dienstvorschriften geben dem Vorgesetzten eine breite Palette von Reaktionsmitteln, um seinen Befehlen Gehorsam zu verschaffen48 • Neben Ermahnung und Belehrung gehören dazu die "Erzieherischen Maßnahmen"", aber auch der Einsatz disziplinarer Mittel nach. der WDO bis hin zur Bestrafung im teclu1ischen Sinne und deren Vollzug. Weißbuch 1973/1974, Nr. 83 (5. 58). Sokolowski. W. D., "Militärstrategie" (1969), 5.17. 47 Schwenck (2), 5.85 f., 93. Vgl. dazu auch: Zweiter Wehrdienstsenat, Urteil vom 26.4. 1973 - 11 WD 26/72 -, in: NZWehrr 1973, 5.228 ff. 48 Vgl. dazu die Ausführungen bei Marignoni, 5.49 H. 48 Vgl. den Erlaß in seiner Neufassung, VMBl 1970, 5.242 H. 41

48

II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

119

Von der Autoritätsstruktur der Organisation der Streitkräfte her gesehen muß der Inhaber formaler Kompetenzen die Chance haben, seinen aus dem Organisationsziel abgeleiteten Willen notfalls auch gegen den Widerstand der Betroffenen durchzusetzen. Wenn dies nicht pauschal vorgegeben ist, kann eine Militärorganisation nicht einsatzbereit sein. Die Bundeswehr kann sich also nicht allein auf Ansehen und Tugenden ihrer Vorgesetzten stützen. Sie muß auch bei einem Ausfall personaler Autorität oder Sachautorität im Sinne des Organisationszieles bestehen können. Im Spannungsfeld von Befehl und Gehorsam darf also .. um des lieben Friedens willen" niemals das vorrangigste Ziel einer jeden militärischen Ausbildung, nämlich die Herstellung und Erhaltung militärischer Funktionsfähigkeit6° eingeschränkt oder aufgegeben werden. Auch Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt z. B. keine Gehorsamsverweigerung, wenn die soldatische Pflicht verlangt, diese Gefahr zu bestehen (vgl. § 6 WStG)151. Die militärische Alltagspraxis kennt Beispiele, in denen militärisch ausgezeichnet beurteilte Offiziere oft eine ungewöhnlich hohe Frequenz von delinquenten Soldaten in ihrer Einheit haben, während andererseits Einheiten mit erstaunlich niedriger Delinquenz militärisch funktionsschwach sind, weil die Vorgesetzten durch falsche disziplinare Lässigkeit entgegen ihrer Pflicht nach § 10 Abs.2 SoldatenG zwar den kriminovalenten Spannungsbereich verkleinern, aber die militärische Effizienz unerträglich vermindert habenu. Es muß also erkannt werden, daß das Prinzip von Befehl und Gehorsam infolge der grundsätzlich bestehenden gewissenhaften und unverzüglichen Gehorsamspflicht (§ 11 Abs. 1 Satz 2 SoldatenG) und des fehlenden Prüfungsrechtes einen unabänderlichen stark kriminovalenten Effekt hat und immer haben wird, der keine Umsetzung dieser Erkenntnis in Maßnahmen präventiver Art (z. B. Diskussionen über den jeweiligen Befehl zwischen Befehlsgeber und -empfänger) und damit eine mögliche Verringerung des Spannungsfeldes und letztlich der Delinquenz erlaubt. Der nach § 10 Abs.4 SoldatenG rechtmäßige Befehl ist daher für den Soldaten immer verbindlichG3• so Weißbuch 1973/1974, Nr.15 (S.63). 61 Vgl. dazu die bisher einzige bekanntgewordene Entscheidung zu § 6 WStG durch AG Walkenried, Urteil vom 17.10.1961 - 2 Ms 23/61 -, in: RWStR, § 6 WStG, Rd.Nr. 1. Wenn auch die Berufung auf Angst oder Lebensgefahr im Frieden sicherlich sehr selten sein wird, so ist doch nicht auszuschließen, daß § 6 WStG, der die Berufung auf den Notstand des § 35 StGB ausschließt, gelegentlich praktisch werden kann. 6t Fiedler (1), S. 44. 63 Zur Problematik der Gehorsamspflicht vgl. Schwenck (2), S. 78 H.

120

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Zweifellos hat sich die Bundeswehr in vielen Bereichen dem gesellschaftlichen Wandel angepaßt. Dennoch sind dieser Anpassungsfähigkeit an die Veränderungen in der zivilen Gesellschaft von der Sache her bestimmte Grenzen gesetzt. "Die Bundeswehr wäre gezwungen, gewissermaßen selbst Hand an sich zu legen, wollte sie etwa das Strukturprinzip von Befehl und Gehorsam außer Kraft setzen. Die spezifische Aufgabe des Militärs, die von keiner anderen Institution unserer Gesellschaft geleistet werden kann, nämlich Gewalt abzuschrecken und zu verhindern, daß uns ein fremder Wille mit militärischen Mitteln aufgezwungen wird, verlangt gleichzeitig die Beibehaltung von Organisationsmerkmalen und Verhaltensweisen, die im zivilen Bereich unbeschadet abgebaut und aufgegeben werden können, weil sie dort nicht funktionsnotwendig sind. Aus diesem Sachzwang ergibt sich, daß in demokratischen Industriegesellschaften gleichsam zwangsläufig eine Kluft zwischen den militärischen Normen und den im Zivilleben gültigen Verhaltensweisen entstehen muß. Diese Kluft beruht nicht etwa auf der Böswilligkeit militärischer Vorgesetzter oder auf einem geistigen Rückstand der militärischen Organisation gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Sie rührt vielmehr daher, daß das Militär um seiner Funktionsfähigkeit willen notwendigerweise hierarchisch organisiert sein muß, auf Befehl und Gehorsam weitgehend nicht verzichten kann und die Freiheit des einzelnen in vielerlei Weise beeinträchtigen und reglementieren mußM." Das Prinzip von Befehl und Gehorsam ist also nicht Selbstzweck. Trotz seiner aufgezeigten kriminovalenten Komponente kann die Armee nicht darauf verzichten, will sie nicht ihre Funktionsfähigkeit6/; von innen heraus ausschalten. b) Die Konfliktsituation des sog. Handelns auf Befehl Die strafrechtlich umstrittene und häufig behandelte Frage der rechtlichen Grenzen von Befehl und GehorsamS6, insbesondere also die dogmatische Problematik67 des "Handelns auf Befehl" kann und braucht hier nicht erörtert zu werden. Aufschlußreich dürfte aber die kriminologische Fragestellung sein, ob und wie häufig seit Bestehen der BunS4 So zutreffend SchuZtz, "Probleme militärischer Menschenführung aus der Sicht des Wehrbeauftragten", in: PöggeZer / Wien, 5.56 f. 15 Diese Funktionsfähigkeit der Streitkräfte hat nach dem Beschluß des BVerfG vom 26. Mai 1970 (1 BvR 83/69, 244/69, 345/69) als überragendes Gemeinschaftsgut zum Zwecke der Friedenssicherung verfassungsrechtlichen Rang. 68 Vgl. Schwenck (2), 5.71 mit zahlreichen Nachweisen der Literatur. 67 Vgl. statt vieler ThieZe, "Die Rechtmäßigkeit von Vollstreckungshandlungen", Diss. 1974.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

121

deswehr ein straffällig gewordener Soldat sich auf eine Befehlsgebung seines militärischen Vorgesetzten berufen konnte. Es ist durchaus eine Situation denkbar, in der sich der Untergebene nicht nur durch Ungehorsam strafbar machen kann, sondern im praktisch bisher noch seltenen, aber jederzeit möglichen Ausnahmefall auch durch die Ausführung eines Befehlsll8 • In diesem Zusammenhang wird § 5 WStG in der Regel bei sog. gefährlichen Befehlen aktuell, bei Befehlen also, bei deren Ausführung der Untergebene ein fahrlässiges Delikt begeht. Hier ist beispielsweise an das "HIer-Unglück" aus dem Jahre 1957 zu denken, bei dem mehrere Soldaten bei der befohlenen Flußüberquerung ertranken; sowie an einige Unglücke im leichtfertigen Umgang mit Waffen und Munition59 • Viel diskutiertes Lehrbuchbeispiel ist die Festnahme eines Unschuldigen auf Befehl eines Vorgesetzten durch einen Untergebenen, der genau weiß, daß der Festzunehmende unschuldig ist6o• Die rechtliche Lösung derartiger Fälle verdeckt oftmals die darin enthaltene kriminologische Brisanz. Denn es sind mancherlei Motivationsketten denkbar, die einen Untergebenen veranlassen können, einen rechtswidrigen und unverbindlichen Befehl zu befolgen, obwohl er die Sachlage richtig beurteilt. Denkbar sind beispielsweise Furcht vor Unannehmlichkeiten durch den Vorgesetzten als Folge der Weigerung, Zweifel an der praktischen Wirksamkeit der Gesetze im militärischen Bereich, persönliche Bindungen an den Vorgesetzten, allgemeine Trägheit und Gleichgültigkeit, Überreaktion aufgrund physischer und/oder psychischer Dauerbelastung61 , Angst, übermüdung im entscheidenden Augenblick, Hoffnung auf persönlichen Vorteil usw. Zur rechtlichen Problematik sei in der gebotenen Kürze festgehalten, daß zwar der Untergebene für sein Handeln auf Befehl immer dann gerechtfertigt ist, wenn der Befehl für ihn verbindlich ist62 ; unabhängig hiervon ist die Verantwortung des Vorgesetzten für die Erteilung eines nicht im Einklang mit der Rechtsordnung stehenden Befehls. Der rechtswidrige und unverbindliche Befehl dagegen kann den Untergebenen niemals rechtfertigen, jedoch ist das Handeln dieses Sol58 Vgl. die zehn theoretischen und praktischen Beispielsfälle und ihre rechtliche Lösung bei Rostek, S. 39 ff., 70 ff. 59 Vgl. auch das Fallbeispiel S.I11. 80 Vgl. Arndt, S.79. 61 Es mag hier mangels publizierter Beispiele aus dem Bereich der Bundeswehr einmal erlaubt sein, an das beinahe schon legendär gewordene "Massaker von My Lai" (Vietnam) im März 1968 zu erinnern. 62 Dies ist streitig; vgl. dazu die in erfreulicher Klarheit formulierten Ausführungen bei Schwenck (2), S. 92 ff.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

daten nach § 5 Abs. 1 WStG entschuldigt, wenn er die Strafrechtswidrigkeit des Befehls nicht kannte und sie auch nicht offensichtlich ist. Aus der Sicht des Befehlsempfängers, des Untergebenen, kann sich also in einem solchen Fall folgende Konfliktsituation ergeben: Entweder er befolgt den Befehl - dann kommt er in Gefahr, wegen eines Verbrechens oder Vergehens bestraft zu werden; oder er gehorcht nicht, weil er mit dem Vorliegen eines rechtswidrigen und unverbindlichen Befehls rechnet - dann setzt er sich einer Strafverfolgung wegen Gehorsamsverweigerung oder Ungehorsam aus, wenn der Befehl in Wirklichkeit einwandfrei war. Der Gesetzgeber trägt dieser Situation in zweifacher Hinsicht Rechnung: Der Untergebene, der einen Befehl befolgt, kann nur unter den oben genannten, sehr eng begrenzten Voraussetzungen bestraft werden; selbst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, kann das Gericht unter Umständen die Strafe mildern oder sogar von Strafe absehen (§ 5 Abs. 2 WStG). Der Untergebene, der nicht gehorcht, weil er irrig annimmt, daß ein verbrecherischer Befehl vorliege, bleibt straflos, wenn ihm der Irrtum nicht vorzuwerfen ist (§ 22 Abs. 2 WStG). Festzustellen ist auch hier, daß für diesen Ausnahmefall des Handelns auf Befehl im Falle straffällig gewordener Soldaten bisher grund.,. sätzlich kein empirisch abgesichertes Material nebst seiner Auswertung vorliegt6'. c) Kenntnis und Unkenntnis der (militärischen) Strafbestimmungen

In der hierarchischen Struktur der Streitkräfte mit ihrem speziellen und umfangreichen Normen- und Pflichtenkatalog kommt der Kenntnis bzw. Unkenntnis der (militärischen) Strafbestimmungen eine besondere kriminogene Bedeutung zu. Daß Kenntnis der gesetzlichen Regelungen die erste und dringlichste Voraussetzung für ein normgerechtes Verhalten der Soldaten darstellt, scheint zunächst keiner weiteren Erörterung zu bedürfen. Für die wehrpflichtigen Soldaten der Bundeswehr muß hier jedoch eine "juristische Mangellage" festgestellt werdenI". Sehr anschaulich: belegt Rostek in seiner empirischen Studie "Der rechtlich unverbindliche Befehl"IIS die alarmierende Unkenntnis einer großen Zahl von Untergebenen, also der Mannschaften und damit in aller Regel der Wehrpflichtigen,· am Beispiel der für die rechtlichen Grenzen der militärischen Befehlsgewalt und des Ungehorsams maß.3 Einzige Ausnahme ist im Ansatz die Studie von Rostek, allerdings mit der Zielsetzung einer Effektivitätskontrolle militärischer Strafbestimmungen. 84 Dabei darf das Bildungsniveau der Wehrpflichtigen nicht außer acht gelassen werden, vgl. dessen Soziographie, S. 54. 65 Rostek, S. 32 ff., 46 ff.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

123

gebenden Bestimmungen (§ 5 WStG sowie § 11 SoldatenG und § 22 Abs.1 WStG). Seine Erklärung dafür, daß nur 41 0 10 die so wichtige Vorschrift des § 5 WStG "Handeln auf Befehl" kennen, ist einleuchtend: Derjenige, der Vorgesetzter werden will, durchläuft mindestens einen Lehrgang mehr als der Wehrpflichtige bei normalem Dienst. Auf den zusätzlichen Lehrgängen bekommt der künftige Vorgesetzte nochmals Unterricht über die Themen aus dem Wehrstrafrecht und aus dem Soldatengesetz. Der Wehrpflichtige jedoch hört das Thema in der Regel nur einmal in seiner ganzen Dienstzeit, und das während der ersten drei Monate68 • Die Ergebnisse der Studie Rosteks bezüglich der von ihm untersuchten Kenntnisse der Soldaten über die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften zur Befehls- und Gehorsamsproblematik widerlegen die Behauptung von Schwaige,.s-r, die Belehrung des Untergebenen sei heute so "intensiv", daß der Irrtum, sich bei einem verbrecherischen Befehl nicht anders verhalten zu können, kaum entschuldige, da es in der Regel "offensichtlich" sei, daß es keinen blinden Gehorsam hinsichtlich der Begehung von Verbrechen und Vergehen mehr gebe. Ebenso verliert hierdurch die Behauptung von Schölz6 8 an Gewicht, "jedem Soldaten der Bundeswehr" sei durch den Rechtsunterricht bekannt, daß ein Befehl nicht jedes Tun rechtfertigt. Auch die Hypothese von Schwenckfl8, der Irrtum eines Untergebenen, trotz Kenntnis der Strafrechtswidrigkeit, dem Befehl gehorchen zu müssen, werde "angesichts der dem Soldaten bekannten70 klaren gesetzlichen Regelungen regelmäßig vorwerfbar sein", erscheint widerlegt; das von der Truppe häufig verwendete Schlagwort: "Im Zweifel Ausführung" (des Befehls) erscheint in einem neuen Licht. So wäre es nicht verwunderlich, wenn empirische Untersuchungen aufdeckten, daß eine nicht geringe Zahl der auf Befehl begangenen Verbrechen oder Vergehen - auch wenn derartige Vorfälle zur Zeit innerhalb der Bundeswehr noch die Ausnahme sein dürften71 - sowie sonstiger Übergriffe durch Vorgesetzte ihre Ursache in der Unkenntnis der Soldaten bezüglich der einschlägigen Vorschriften haben, die nicht zum gesetzeskonformen Verhalten führt. Ein zweiter Bereich, in dem bei den· wehrpflichtigen Soldaten große Unkenntnis der gesetzlichen Regelungen zu bestehen scheint, sind die 88

87 88

89 70

71

Rostek, S. 46.

Schwaiger, S. 85. Schätz, § 5, Rd.Nr. 8 (S. 71). Schwenck in: RWStR zu § 5 WStG 2/8. Hervorhebung vom Verfasser Schwenck.

Zahlenmaterial liegt hier insoweit nicht vor.

124

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Straftatbestände der §§ 15, 16 WStG. Insbesondere über die Toleranzgrenze von drei vollen Kalendertagen bei § 15 WStG ist etwa ein Drittel der Wehrpflichtigen unzureichend oder gar nicht im Bilde7!. Bei 33 Ofo aller Abwesenheitsfällen kehrten die Soldaten nicht pünktlich vom Wochenendausgang zurück. Soldaten, die - ohne ärztliches Attest angaben, zu Hause krank geworden zu sein, machten 22 Ofo der Abwesenheitsdelikte aus. Rund 50 Ofo der eigenmächtig abwesenden Soldaten kehrten erst innerhalb einer Woche zur Truppe zurück'lll". Obwohl dabei die Urlaubsüberschreitung die häufigste Form der Verwirklichung von § 15 WStG darstellt, erscheint sie nicht im Text der Vorschrift, um den Soldaten den für sie so schnell relevanten Tatbestand eindringlich vor Augen zu führen 74 • Dabei könnte eine verdeutlichte Fassung des § 15 WStG stärkere Warnsignale vermittelnT5 • Bezüglich der rechtlichen Behandlung von Soldaten, über deren Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer noch nicht unanfechtbar entschieden ist oder deren Antrag unanfechtbar abgelehnt wurde, herrscht ebenfalls große Unsicherheit in der Truppe76• Dazu ist festzustellen, daß für die Berufung auf das Grundrecht nach Art. 4 Abs. 3 GG nicht die bloße Behauptung einer Gewissennot genügt. Vielmehr muß die Berechtigung einer Gewissenentscheidung gegen den Dienst mit der Waffe auf Antrag in einem besonderen Verfahren festgestellt werden (§§ 25 ff. WPflG). Erst die im Anerkennungsverfahren getroffene positive und unanfechtbare Entscheidung berechtigt den Soldaten, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Solange eine solche Entscheidung nicht ergangen ist, unterliegt der Soldat in vollem Umfang den militärischen Pflichten, insbesondere der Gehorsamspflicht77 • Er kann daher vorläufig festgenommen, disziplinar gemaßregelt oder strafgerichtlich bestraft werden, wenn er diesen Pflichten zuwiderhandelt. Erst recht muß sich der Soldat disziplinar- und strafrechtlich verantworten, der trotz unanfechtbarer Ablehnung seines Antrages auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer die militärische Dienstleistung verweigert. Diese im Einklang mit dem Grundgesetz stehende und vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Rechtslage 7S scheint den meisten Wehrpflichtigen, deren Anerkennungsverfahren noch läuft oder deren Antrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, nahezu unbekannt 72

Fiedler (2), 5. 64.

Weißbuch 1975/1976, Nr.273 (5. 156). Das Verbot einer Urlaubsüberschreitung war als eigener Tatbestand bereits vor dem Jahre 1926 in § 64 MStGB geregelt! 76 Dies forderte bereits im Jahre 1967 Rohde, S.243. 76 Vgl. dazu den GI - Hinweis Nr.5/74 des BMVg vom 3. Juli 1974. 77 Vgl. ausführlich zu den rechtlichen Konsequenzen Schwenck (2), 5.69 f. 78 Vgl. die Nachweise von Rspr. und Literatur bei Korte, 5.29 ff. 73

74

II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

125

zu sein. Es liegt auf der Hand, daß diese Unkenntnis zu vielfältiger militärischer Delinquenz führen kann. Für Normverletzungen nicht nur in den oben angesprochenen Bereichen ist jedenfalls der grundsätzliche kriminologische Mechanismus: Unkenntnis gleich "abweichendes" Verhalten auch ein Faktor für soldatische Delinquenz, der allzu oft übersehen wird, weil der Jurist bei Schaffung gesetzlicher Vorschriften aufgrund seiner eigenen Ausbildung gerne dazu neigt, von vornherein davon auszugehen, daß die bloße Existenz einer Strafvorschrift genügt, um die Kenntnisnahme, das Verständnis und die Beachtung durch die Betroffenen zu bewirken. d) Zusammenfassung

Zusammenfassend ist festzustellen: Das Prinzip von Befehl und Gehorsam erfährt seine schärfste Ausformung im Rahmen der militärischen hierarchischen Struktur. Es beinhaltet einen unabänderlichen stark kriminalitätsfördernden Effekt, weil es psychologische Spannungsfelder bei den untergebenen Soldaten aufbaut, die nicht durch "Gegenmaßnahmen" abreagiert werden können. Am schärfsten zeigt sich dieser Konflikt im Rahmen des sog. "Handeins auf Befehl", wenn eine Diskrepanz in der Kenntnis der Befehlssituation zwischen Vorgesetztem und Untergebenem besteht. Mannigfache Einflußgrößen sind hier denkbar, wenn der unterstellte Soldat einen rechtswidrigen und unverbindlichen Befehl wider besseres Wissen befolgt. Im Spannungsfeld der militärischen hierarchischen Struktur kommt der Kenntnis bzw. Unkenntnis der (militärischen) Strafbestimmungen eine besondere kriminogene Bedeutung zu. 5. Leistungsanforderung als kriminoresistenter Faktor (empirische Studie)

a) Hintergrund: Elitäres Bewußtsein in Kampftruppen? Die Bundeswehr hat einen klaren Verteidigungsauftrag, d. h. einen soldatischen Kampfauftrag, der auf das Bestehen im Krieg ausgerichtet sein muß. Dieser Auftrag ist nur zu erfüllen, wenn neben den soldatischen Tugenden wie Gehorsam, Tapferkeit und Kameradschaft die Technik und die Ausbildung der Streitkräfte an einer Leistungsskala gemessen werden, deren oberes Ende den Erfordernissen einer künftigen kriegerischen Auseinandersetzung entspricht. Es sind insbesondere die sog. Kampftruppen79 der Bundeswehr, in denen bei Ausbildung der Soldaten aus militärischer Sicht die höchsten 79

Vgl. dazu die Erläuterung im Abkürzungsverzeichnis S.16.

126

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

physischen und psychischen Leistungsanforderungen abverlangt werden müssen. Nach den obigen Ausführungen zur militärischen Disziplin, die als Negation auch die Möglichkeit der Disziplinlosigkeit zur Folge haben kann, könnte nun der prinzipielle Schluß gezogen werden, daß die hochgespannten Forderungen des militärischen Dienstes in den Kampfverbändenso oder bei der Ausbildung für die Verwendung in diesen sog. "Eliteeinheiten"s1 im höchsten Maß ausschließlich zu kriminellen Reaktionen herausfordert. Die Praxis des militärischen Alltages läßt jedoch vermuten, daß innerhalb von Einheiten mit subjektiv empfundenem (und von den Soldaten mehr oder weniger offen gehegten) Elitebewußtseins2 eine delinquenzbezogene kriminologisch bedeutsame Ausnahme konstatiert werden muß. Nachdenklich stimmende Erkenntnis brachte eine vom Verfasser durchgeführte anonyme Befragung83 von Lehrgangsteilnehmern bei der Luftlande- und Lufttransportschule der Bundeswehrs4, wo Soldaten - Wehrpflichtige, Zeit- und Berufssoldaten - nach freiwilliger Meldung zum Fallschirmjäger ausgebildet werden. Daß bei diesem Lehrgang von den Teilnehmern in der Tat höchste physische und psychische Leistungen abverlangt werden, soll vorab kurz aufgezeigt werden: Die vierwöchige . Ausbildung basiert auf den entpersonalisierenden, für US-Fallschirmjäger geltenden Erziehungs- und Ausbildungsmethoden. Dazu gehören u. a. keine Dienstgradunterschiede, ständiger Laufschritt zwischen den Ausbildungsabschnitten und überlaute Kommandos während und zwischen den einzelnen Ausbildungsstationen, täglicher Dienst ausschließlich im unbequemen Kampfanzug mit Stahlhelm sowie Gurtzeug mit ausgedienten Fallschirmpäckchen, ein. tägliches hartes Konditionstraining, drei Wochen physisch sehr stark belastende "Bodenausbildung"

so Es gibt hier vier Lehrgänge in der Bundeswehr: den Kampfschwimmerlehrgang, den Heeresbergführerlehrgang, den Fallschirmjägerlehrgang und den Einzelkämpferlehrgang. S1 Die Bundeswehrführung vermeidet tunlichst Begriffe wie "Elitesoldaten", "Eliteeinheit", "elitäres Bewußtsein" aus - m. E. unbegründeter - Furcht vor dem Vorwurf der traditionellen, irrationalen und unreflektierten Selbsteinschätzung. 81 Kampf- und Kampfunterstützungstruppen schaffen sich dazu ihre realen - dienstlich nicht genehmigten - und imaginären "Statussymbole": So wird z. B. der Fallschirmjägertruppe(mit einem neidvollen Seitenblick der übrigen Feldtruppe) nachgesagt, sie behalte selbst beim Schlafen vor lauter Stolz ihr rotes Barett auf dem Kopf; Flugzeugführer der Luftwaffe tragen oftmals weiße, Panzerfahrer schwarze Halstücher zur Kombination. Ba Im September/Oktober 1973 in der IV. Inspektion der Luftlande- und Lufttransportschule der Bundeswehr. 84 In AltenstadtlSchongau, Ausbildungsstätte für die Soldaten der 1. Luftlandedivision, wo sich der Verfasser gleichzeitig ebenfalls im Rahmen einer Wehrübung (vom 17. 9. bis 13.10.1973) zum Fallschirmjäger ausbilden ließ.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

127

an den Geräten: "Landeplattfonn" und "Pendel" (für Fallübungen aus 1 m bis 3 m Höhe), "Hänger" (zum "Oben der richtigen Begurtung und des Verhaltens bei Baum-, Starkstromleitungs- und Wasserlandungen), "Sprungtunn" (16-m-Tunn zum "Oben der richtigen Haltung beim Sprung aus der Flugzeugtür und zur Gewöhnung an Entfaltungsstoß und Höhe), "Hochpendel" (20-m-Tunn für Landefallübungen mit Fallgeschwindigkeiten bis zu 6 m pro Sekunde), "Windmaschine" (für Schleifen über dem Erdboden und Aufstehtechnik nach der Landung bei starken Windverhältnissen) sowie "Attrappen" (Flugzeugrümpfe zum "Oben des Verhaltens an Bord der Maschine, beim Absprung und in Gefahrensituationen). Die abschließende vierte Woche des "Sprungdienstes" verlangt von den Lehrgangsteilnehmern mindestens zwei Einzelsprünge, zwei Reihensprünge, ein Sprung mit schwerem Gepäck und einen Nachtsprung aus dem in ca. 420 m Höhe und. mit 240 km pro Stunde fliegenden Transporttlugzeug86• Dies sind die Mindestvoraussetzungen für die Erlangung des Fallschinnjägerabzeichens in Bronze, das nur an der Unifonn getragen werden darf.

b) FTagestellung, Aufgabe und Ziel deT BefTagung

Es ging nun nicht etwa darum, elitäres Bewußtsein der Lehrgangsteilnehmer in dieser Ausbildungsstätte zum Soldaten einer - von der Truppe so genannten - "Eliteeinheit" empirisch zu erforschen88, sondern kriminologisch bedeutsam erschien hier die Fragestellung, welche kriminogenen Wirkungen ein derart physisch und psychisch belastender militärischer Dienstbetrieb auslösen konnte. Aufgabe und Ziel der Befragung87 war daher die Erforschung des kriminovalenten Klimas in einer sog. Elite-Ausbildungseinheit, also die emprische Erforschung der Arten präkriminellen oder sogar kriminellen Verhaltens von Soldaten in der Ausbildung für den späteren Dienst in einer sog. Kampftruppe88• Insgesamt wurden hierzu 130 Soldaten befragt, die fast alle (88 % ) in Teileinheiten der 1. Luftlandedivision in Süddeutschland stationiert waren, wobei nahezu alle Dienstgrade vom Soldaten ("Jäger") bis zum Stabsoffizier ("Major") vertreten waren. Abgesehen von der Freiwilligkeit dieses Lehrganges befanden sich hier alle Lehrgangsteilnehmer in der Rolle der auszubildenden Untergebenen. . 86 Weitere Einzelheiten in: GeTicke, W., "Hurra Wir springen" (1970), S.124. 86 Vgl. zur Selbsteinschätzung von Bundesviehrsoldaten die soziologische Abhandlung bei Mosen (2), mit teilweise tendenziösen Schlußfolgerungen, z. B. S. 164 ff., 264 ff., 298 f., 326 f. 87 Für die sich der Verfasser vorher mit der Technik der empirischen Sozialforschung autodidaktisch vertraut machte. 88 Dank gebührt Major Ingo Seitz, ehemaliger Inspektionschef der IV. Inspektion (der im November .1973 bei einem Fallschinnabsprung tödlich verunglückte) für Erlaubnis und Unterstützung dieser Umfrage mittels hektographierter .Fragebogen, sowie den ungenannt bleibenden 130 Lehrgangskameraden.

128

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Der Verfasser ist sich durchaus darüber im klaren, daß diese kleine Auswahl von 130 Soldaten aus einer Division des Heeres nicht repräsentativ für die gesamte Luftlandedivision, geschweige denn für das Heer oder gar die Bundeswehr sein kann. Aber es darf gesagt werden, daß ein derartiger Lehrgang nicht unübliche strukturelle Gemeinsamkeiten einer Bundeswehreinheit aufweist: Ca. 85 % Mannschaftsdienstgrade, ca. 10 Ufo Unteroffiziere und ca. 5 Ufo Offiziere89 • Bei diesem Lehrgang dürfen natürlich die Besonderheiten der freiwilligen Teilnahme, der finanziellen Zulagen (DM 5,- pro Tag während der Dauer des Lehrganges; nach Bestehen und bei fünf Pflichtsprüngen im Jahr Anspruch auf Zulage in Höhe von DM 150,- monatlich für Angehörige der Luftlandedivision) sowie der Mentalität von Soldaten ausschließlich aus dem süddeutschen Raum nicht übersehen werden. Auch hat die folgende Untersuchung einen Mangel: Das Fehlen einer zivilen Vergleichsgruppe. Zwar kann bestimmtes Verhalten durch Individualeigenschaften, die spezifisch militärische Situation und andere relevante Größen erklärt werden. Anhand der Daten dieser Untersuchung ist es jedoch nicht möglich anzugeben, wie eine zivile Kontrollgruppe in derselben Situation auf die Anforderungen und Belastungen der Fallschirmjägerausbildung reagiert hätte. Eine Vergleichsuntersuchung an gleichaltrigen und sozialanalogen Zivilisten ist hier schlechterdings ausgeschlossen, da die Ausbildung zum Fallschirmjäger (nicht: Springer) den Status eines Soldaten voraussetzt. Der Verfasser hat jedoch versucht, diesen Mangel zu kompensieren, indem er auch die Motive der Soldaten für ihren Verwendungswunsch sowie die Vorstellungen über Sinn und Anforderungen militärischen Dienstes erfragt hat90 , wobei er unterstellt, daß diese Vorstellungen und Motive die Wirklichkeit abbilden. c) Die Sozialdaten der Probanden

Zunächst wurden folgende Sozialdaten der Lehrgangsteilnehmer erfaßte1 : 1. Der Status, mit der Unterscheidung in Wehrpflichtige, Soldaten auf

Zeit, Berufssoldaten. 2. Die Laufbahngruppe, wobei in Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere unterteilt wurde.

88 Laut STAN hat z. B.eine Panzergrenadierkompanie (Spz) 3 Offiziere, 39 Unteroffiziere und 121 Mannschaften. 90 Zur Reduzierung der erhobenen Fragen auf kleine überschaubare typische Orientierungsmuster vgl. R. J. Rummel, "Unterstanding faktor analysis". in: The Journal of Conflict Resolution 11 (1967), S. 444 ff. 81 Am 18. September 1973 im Anschluß an die allgemeine Belehrung und Personalbogen-Ausfüllung usw. aller Lehrgangsteilnehmer gemeinsam.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

129

3. Das Alter, mit der Einteilung unter 20 Jahren, 20 bis 25 Jahre, 25 bis 30 Jahre und über 30 Jahre. 4. Die abgeleistete Dienstzeit in der Bundeswehr, unterteilt nach den Kategorien unter 6 Monate, 6 bis 12 Monate und über 12 Monate. 5. Der Familienstand. 6. Die berufliche Stellung im Zivilleben mit der herkömmlichen Klassifizierung in Beamte, Angestellte, Arbeiter, Selbständige oder in der Ausbildung. 7. Die Vorbildung, unterschieden nach Hauptschulabschluß, Mittlere Reife/Realschule und Abitur. 8. Die - freiwillige - Angabe von Vorstrafen9!. Danach ergab sich folgendes Bild, das zunächst um der Klarheit willen als Tabelle 5 wiedergegeben wird. Tabelle 5 In Zahlen

In Prozenten

1. Status: Wehrpflichtige Soldaten auf Zeit Berufssoldaten

109 16 5

84% 12 % 4%

2. Laujbahngruppe: Mannschaften Unteroffiziere Offiziere

109 12 9

84% 9% 7%

77 40 10 3

59% 31 % 8% 2%

99

76% 8% 16%

Sozialdaten der Probanden

3. Alter: unter 20 Jahre 20-25 Jahre 26-30 Jahre über 30 Jahre 4. Abgeleistete Dienstzeit: unter 6 Monate 6-12 Monate über 12 Monate

10

21

8! Es fehlen u. a. die Unterscheidung nach Waffengattungen, Herkunft (Stadt/Land), Konfession und dgl., jedoch hielt ich eine weitere Unterteilung im Hinblick auf die Fragestellung nicht für erforderlich. Auch ist die grobe Unterteilung lediglich in die drei großen Ebenen militärischer Hierarchie ausreichend, weil damit letztlich die Unterscheidung ,Untergebener - Vorgesetzter' zum Ausdruck kommen sollte. Diese· Einteilung fällt bekanntlich in aller Regel mit der nach Mannschaften; Unteroffizieren und Offizieren zusammen.

9 Fiedler

130

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr - Fortsetzung Tabelle 5 -

Sozialdaten der Probanden

5. Familienstand: ledig verheiratet verwitwet/ geschieden 6. Zivilberufe: Beamte Angestellte/Handwerker Arbeiter /Facharbeiter Selbständige in der Ausbildung

7. Vorbildung: Hauptschulabschluß Mittlere Reife/Realschulabschluß Abitur

8. Angaben über Vorstrafen93 ): Mannschaften Unteroffiziere Offiziere N

In Zahlen

In Prozenten

102 28

78% 22%

3 46 34 9 38

2% 35% 26% 7% 29%

-

-

78 26 26

60% 20 % 20%

17 2

13 % 1%

130

100%

-

-

Von den Befragten waren 84 % Wehrpflichtige, 12 % Soldaten auf Zeit und 4 Ofo Berufssoldaten. Die hohe Zahl der Wehrpflichtigen beruht auf dem Umstand, daß es sich bei der Luftlandeschule um eine Ausbildungseinheit handelt. Nach Laufbahngruppen unterteilt waren 84 Ofo Mannschaften, 9 Ofo Unteroffiziere und 7 Ofo Offiziere. Diese Zahlen entsprechen in etwa der hierarchischen Struktur vieler Ausbildungseinheiten der Bundeswehr. Alle wehrpflichtigen Soldaten stellten offensichtlich zugleich alle Mannschaftsdienstgrade dar. 59 Ofo der Lehrgangsteilnehmer waren unter 20 Jahre alt, 31 Ofo 20 bis 25 Jahre, 8 Ofo 26 bis 30 Jahre und 2 Ofo über 30 Jahre. Diese Einteilung nach Altersstufen sollte lediglich ein grobes Bild des Beobachtungsfeldes 93 Es kann hier nicht ausgeschlossen werden, daß die Probanden unter "Vorstrafen" auch Bußgeldbescheide nach StVO und Disziplinarmaßnahmen verstanden haben.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

131

wiedergeben; tatsächlich spiegelt sich hier in etwa die Altersstruktur der Bundeswehr94 wider. 76 % der Lehrgangsteilnehmer hatten noch keine sechs Monate Dienstzeit abgeleistet, 8 Ofo befanden sich im dritten und vierten Ausbildungsquartal, 16 Ofo hatten bereits mehr als zwölf Monate abgeleistet. Die zahlenmäßig am stärksten vertretenen Mannschaftsdienstgrade (109 Soldaten) verfügten also offenbar fast vollständig über den gleichen Ausbildungsstand. 78 Ofo ledige Soldaten standen 22 Ofo Verheirateten gegenüber. Zur Gruppe der Beamten gehörten 2 Ofo, zu den Angestellten 35 Ofo und 26 Ofo waren Arbeiter bzw. Facharbeiter; die Selbständigen waren mit 7 Ofo und die in der Ausbildung mit 29 Ofo vertreten. Hier gaben die Berufssoldaten ihre frühere Stellung/Ausbildung im Zivilleben an. Unter den 130 Soldaten befanden sich 20 Ofo Abiturienten, 20 Ofo mit Mittlerer Reife oder Realschulabschluß; 60 Ofo mit Hauptschulabschluß. Die Zahl der Lehrgangsteilnehmer mit Abschluß der Mittleren Reife/ Realschule und des Abiturs ist relativ hoch95 • Immerhin 13 Ofo der Mannschaften und 10f0 der Unteroffiziere waren nach eigenen Angaben schon einmal oder mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Besonderes Augenmerk sei nochmals auf die Tatsache gerichtet, daß sich alle Lehrgangsteilnehmer ausnahmslos in der Dienststellung eines Untergebenen befanden. Es dürfte also auch aufschlußreich sein, ob und wie die einzelnen Laufbahngruppen, insbesondere die ansonsten in der Dienststellung eines Vorgesetzten agierenden Unteroffiziere und Offiziere im Vergleich zu den Mannschaften, d. h. den "ständigen Untergebenen", auf die physisch und psychisch stark belastenden Anforderungen der Ausbildung reagieren würden. d) Inhalt und Aufbau der Fragenkomplexe

Die elf Fragen96 wurden in drei Fragenkomplexe zusammengefaßt, die zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten gestellt wurden. (1) Zunächst wurde sofort am zweiten Lehrgangstag der erste Fragenkomplex mit drei Fragen (Tabellen 6-8) vorgelegt, um die Meinung der Befragten ob des zu erwartenden und allgemein bekannten Stresses der Ausbildung relativ unbeeinflußt zu erfahren. Der erste Fragenkomplex sollte dabei die soziale Grundhaltung der Probanden erhellen. 94 95 96

Siehe S. 46. Vgl. dazu die Ausführungen zur Soziographie des Wehrpflichtigen, S.54. Sie konnten stets durch einfaches Ankreuzen beantwortet werden.

132

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Die erste Frage richtete sich lediglich an die wehrpflichtigen Soldaten97 und lautete:

,,1. Als Sie aufgrund Ihrer Wehrpflicht zur Bundeswehr einberufen wurden, wurden Sie da gerne Soldat, sahen Sie den Grundwehrdienst als notwendige Pflicht an oder wollten Sie nur ungern oder gar nicht Soldat werden?" Die zweite Frage lautete: ,,2. Ist die allgemeine Ausbildung in den Streitkräften nach Ihrer Kenntnis zu straff und zu hart, zu weich oder gerade richtig?" Die dritte Frage sollte Auskunft über die Motive aller Lehrgangsteilnehmer geben, die sie zur Meldung zur Kampf truppe der 1. Luftlandedivision bzw. zur Teilnahme an diesem Speziallehrgang veranlaßt hatten:

,,3. Was waren die Motive (Gründe) für Ihren Verwendungswunsch als Fallschirmjäger für die Dauer Ihres (Grund-)Wehrdienstes bzw. für die Teilnahme an diesem Fallschirmjägerlehrgang?" Für die Beantwortung dieser Frage wurden mehrere Antwortmöglichkeiten vorgegeben, wie sie aus der Tabelle 8 ersichtlich sind. (2) Nach Abschluß der "Bodenausbildung" gegen Ende der dritten Ausbildungswoche98 wurde gezielt nach kriminovalenten Situationen im abgelaufenen Zeitraum gefragt. Der zweite Fragenkomplex mit fünf Fragen lautete:

,,4. Haben Sie während der Bodenausbildung auf die harten Methoden und den rauhen Ton der Ausbilder oder auf die körperlichen Anstrengungen der Ausbildung ir gen d wie in oder außer Dienst reagiert? 5. Wenn ja wie? 6. Wenn Sie i m Die n s t nicht reagiert haben, warum nicht? 7. Gab es dennoch Situationen, in denen Sie im Die n s t manchmal gerne reagiert hätten? 8. Wenn ja, wie hätten Sie am liebsten reagiert?" Auch hier war wieder mehrfaches Ankreuzen vorgegebener Antwortmöglichkeiten (vgl. Tabellen 9-13) möglich. Dieser zweite Fragenkomplex wurde deshalb bereits nach Abschluß der Bodenausbildung und nicht erst am Ende des gesamten Lehrganges 117 Obwohl zumindest ebenso die Zeitsoldaten diese Frage hätten beantworten können. 118 Während der Wartezeiten der "Sprungbereitschaft" (bis zu fünf Stunden täglich - je nach Flugwetterlage) im "Bereitschaftsraum" auf dem Flugplatz des Lufttransportgeschwaders 53 in Penzing/Bayern.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

133

gestellt, weil einerseits nicht zu erwarten war, daß in der vierten und letzten Ausbildungswoche, in der der eigentliche "Sprungdienst" die Früchte der Ausbildung zeigen und erbringen sollte, die Soldaten noch "über die Stränge schlagen" und sich so um den Erfolg des Lehrganges bringen würden, andererseits, um die Quantität der Fragen besser zu verteilen und so den Dienstbetrieb möglichst wenig zu stören. (3) Am Ende der vierten und letzten Ausbildungswoche99 wurde abschließend der dritte Fragenkomplex mit drei Fragen - zugleich zur indirekten Kontrolle vorausgegangener Fragen - zur Beantwortung gestellt. Die Fragen lauteten:

,,9. War dieser Lehrgang insgesamt zu hart, zu lasch oder gerade richtig? 10. Erscheinen Ihnen nachträglich die Ausbildungsmethoden der Ausbilder dieses Lehrganges sinnvoll, zum Teil sinnvoll oder unsinnig? 11. Sollten nach Ihrer Ansicht die körperlichen Anforderungen des militärischen (Ausbildungs-)Dienstes in der Bundeswehr im Hinblick auf einen möglichen ,Ernstfall' grundsätzlich höher geschraubt werden, bleiben wie sie sind oder sogar niedriger angesetzt werden?" Auch hier waren bei den einzelnen Fragen vorbereitete Antworten - gegebenenfalls mehrfach - anzukreuzen, wie sie aus den später folgenden Tabellen 14 bis 16 ersichtlich sind. Auf allen Fragebögen wurde von den Lehrgangsteilnehmern (= LT) aus den bereits aufgezeigten, kriminologisch aufschlußreichen Gründen stets die Laufbahngruppe des Probanden (Mannschaften = M, Unteroffiziere und Unteroffiziersanwärter = Uffz, Offiziere und Offiziersanwärter ab Fähnrich = Offz) angeben. Die Beantwortung der elf Fragen ist aus den Tabellen 6 bis 16 ersichtlich. Dabei ist N jeweils die Anzahl der ab Tabelle 7 nach Laufbahngruppen aufgegliederten Lehrgangsteilnehmer, die als Bezugszahl für die Prozentzahlen dient, wobei die Aufschlüsselung für alle Probanden in absoluten Zahlen und in Prozentzahlen angegeben ist. Für die Möglichkeit der Mehrfachnennungen ab Tabelle 8 ist M die nach Laufbahngruppen aufgegliederte Summe der Fälle, in denen mehrere der vorgegebenen Antworten angekreuzt wurden, bezogen auf die jeweilige N-Zahl. Alle Prozentwerte sind zu ganzen Zahlen auf- bzw. abgerundet. 11 Nach erfolgreicher Absolvierung der notwendigen Pflichtsprünge zur Erlangung des Fallschirmjägerabzeichens in Bronze aller Lehrgangsteilnehmer der IV. Inspektion am 10./11. 10. 1973.

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

134

e) Beantwortung und Auswertung des ersten Fragenkomplexes Die Beantwortung der Frage 1: "Als Sie aufgrund Ihrer Wehrpflicht zur Bundeswehr einberufen wurden, wurden Sie da gerne Soldat, sahen Sie den Grundwehrdienst als notwendige Pflicht an oder wollten Sie nur ungern oder gar nicht Soldat werden?" ergibt sich aus: Tabelle 6

Antworten

In Zahlen

gerne Soldat notwendige Pflicht ungern gar nicht weiß nicht, keine Angaben Summe der Wehrpflichtigen

21 59 29

-

In Prozenten 19 % 54 % 27 %

-

-

-

109

100 %

73 % der wehrpflichtigen Probanden waren zwar nicht durchweg gerne Soldat geworden (sondern nur 19 %), sahen aber zumindest ihren Wehrdienst als notwendige Pflicht (54 %) an. Möglicherweise könnte diese recht hohe Quote an "einsichtigen" Soldaten darauf zurückzuführen sein, daß alle Wehrpflichtigen (100 %) aus Bayern stammten, wo bekanntlich ein wesentlich besseres Verständnis der Zivilbevölkerung für die Notwendigkeit einer Bundeswehr vorherrscht, als in einigen nördlicheren Bundesländern10o ; ebenso könnte der Umstand für sich sprechen, daß die Frage 1 nie unbeantwortet blieb.

Die Ergebnisse der Frage 2, welche lautete: "Ist die allgemeine Ausbildung in den Streitkräften nach Ihrer Kenntnis zu straff und zu hart, zu weich oder gerade richtig?" ist ersichtlich aus (Tab. 7, siehe Seite 135) Ein erstaunlich hoher Anteil von Lehrgangsteilnehmern empfindet die Ausbildung in den Streitkräften als "zu weich" (40 %, davon immerhin 31 Ufo der Mannschaftsdienstgrade); 36 Ufo der Wehrpflichtigen empfindet die Ausbildung als "gerade richtig". Die Beantwortung dieser Frage dürfte sicherlich nicht die durchschnittliche Meinung zu diesem Problem100 Leider werden in den einschlägigen wehrsoziologischen Untersuchungen landsmannschaftliche Zugehörigkeiten der Probanden grundsätzlich nicht berücksichtigt. Vgl. aber dazu Studnitz, "Rettet die Bundeswehr" (1967), S. 172 f. zur Unterschiedlichkeit der Verteidigungsbereitschaft in den verschiedenen Bundesländern.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

135

Tabelle 7

In Zahlen M Uffz Offz

vorgegebene Antworten

LT

zu straff und zu hart

8

8

zu weich

52

34

10

gerade richtig

42

39

2

weiß nicht, keine Angaben

28

28

130

109

N

-

-

-

31

83

89

32

36

17

11

22

26

-

-

100

100

100

100

7

8

40

1

-

12

In Prozenten M Uffz Offz

6

-

-

LT

9

kreis in der Bundeswehr widerspiegeln 101 • Diese Zahlen erhärten die Ergebnisse der Frage 1 insoweit, als sie sich mit der erstaunlich hohen Zahl der wehrpflichtigen Soldaten mit einer positiven Einstellung zu den Streitkräften nahezu decken (67 % zu 73 0/0). Die Frage 3 des ersten .Fragenkomplexes: "Was waren Ihre Motive (Gründe) für den Verwendungswunsch als Fallschirmjäger für die Dauer Ihres (Grund-)Wehrdienstes bzw. die Teilnahme an diesem Springerlehrgang?" wurde wie folgt beantwortet: (Tab. 8, siehe Seite 136) Zunächst ist festzustellen, daß alle Probanden diese Frage nicht nur beantwortet, sondern mehrfach von den gebundenen Antwortmöglichkeiten Gebrauch gemacht haben. Es waren also ganze "Motivbündel ", die den Verwendungswunsch "Fallschirmjäger" der meisten Lehrgangsteilnehmer beeinflußt hatten. überraschend sind die häufigen Fälle, in denen die jeweiligen Laufbahngruppen vollzählig, also zu 100 Ofo eine der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten angekreuzt haben: Sämtliche Wehrpflichtigen ließen sich durch die materiellen Zuwendungen, also die "Springerzulage" (DM 5,- täglich) während der Dauer des Lehrganges und durch die spätere laufende monatliche Zulage (in Höhe von DM 150,-) "reizen", um die im Vergleich zu anderen Einheiten des Heeres relativ harte Ausbildung für die Verwendung in einer Kampftruppe auf sich zu nehmen. Letztere Zulage war offensichtlich auch ein großer Anreiz für ausnahmslos alle teilnehmenden Unteroffiziersdienstgrade. Im übrigen spricht die vollzählige Angabe in diesem Punkte für deren Wahrheitsgehalt. 101 Hier könnte die social-desirability-tendency zum Ausdruck gekommen sein (Tendenz zur sozialen Erwünschtheit in der Befragung, die durch den Wunsch des Befragten entsteht, eine positive Beziehung zum Befrager herzustellen bzw. zu erhalten, vornehmlich bei Interviews zu beobachten).

136

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr Tabelle 8

vorgegebene Antworten

In Zahlen

LT

M

während der auer des Lehrganges

120

109

11

Zulare in Höhe von DM 50,- monatlich für AnKhörige der 1. LL- .vision

122

109

12

Willkommene Abwechslung vom Tuppenalltag

122

101

Das Fallschirmjägerabzeichen an der Uniform

83

Das Ansehen bei anderen Soldaten und Zivilisten

SPringerzula~

In Prozenten

Uffz Offz

LT

M

Uffz

Offz

92

100

92

-

1

94

100

100

11

12

9

94

93

100

100

62

12

9

64

57

100

100

70

51

11

8

54

47

92

89

2

-

1

1

1

8

11

2

8

13

17

89

Abenteuerlust, Eitelkeit, Übermut oder dergl.

-

Selbstprüfung

17

Andere Motive, weiß nicht, keine Angaben

-

-

-

-

M

536

439

61

36

N

130

109

12

9

7

-

6

-

-

-

-

100

100

100

100

"Willkommene Abwechslung" von der Truppenroutine erhofften sich nicht nur sämtliche Unteroffiziere, sondern auch ausnahmslos alle teilnehmenden Offiziere; bei den Wehrpflichtigen ergab sich die hohe Zahl von 93 Ofo. Hier wird im Ansatz deutlich, daß es bei einer Armee in Friedenszeiten zwangsläufig an "ablenkenden", interessanten Tätigkeiten hapern kann, weil in der Regel ständig die gleichen Funktionen ausgeführt und geprobt werden müssen10I• Bemerkenswert ist aber auch der bei sämtlichen Offizieren und Unteroffizieren gleichermaßen festzustellende Wunsch nach Erlangung des Fallschirmjägerabzeichens. Orden "mit Leistungscharakter" sind also in beiden Vorgesetztengruppen durchaus begehrt, wohl nicht zuletzt zum 102

Vgl. dazu die Ausführungen S. 104 ff.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

137

Zwecke der Anhebung der persönlichen Autorität gegenüber Untergebenen; immerhin begehren aber auch 57 Ofo der Mannschaften dieses äußerlich sichtbare Zeichen persönlichen Einsatzes. Diese Zahlen stehen im Einklang mit den Zahlen zur Motivnennung "Ansehen bei anderen Soldaten und Zivilisten". "Abenteuerlust, Übermut oder Eitelkeit" wollen nur 1 Ofo der Lehrgangsteilnehmer zugeben, nämlich ein Unteroffizier und ein Offizier; dagegen nennen acht von neun Offizieren "Selbstprüfung" als Motiv für ihre Teilnahme am Fallschirmjägerlehrgang, jedoch nur zwei von zwölf Unteroffizieren. Insgesamt gesehen zeigt diese "Motivforschung" die überwiegend handfesten materiellen Interessen für die Verwendung als "Fallschirmjäger" bei den Unteroffizieren und Mannschaftsdienstgraden, die bei den (besser besoldeten) Offizieren fast überhaupt nicht zum Ausdruck kommen. Demgegenüber liegt bei letzteren das bestimmende Moment vornehmlich im ideellen Bereich: "Selbstprüfung" (89 Ofo), "Ansehen" (89 Ofo) und "Abwechslung" vom militärischen Alltag (100 Ofo) waren die zuvorderst auslösenden Motive für ihre freiwillige Meldung zu diesem Lehrgang. Da es sich um eine anonyme Befragung handelt, kommt wohl allen Angaben auch ein hoher Grad an Wahrhaftigkeit zu. Meines Erachtens bestätigt der erste Fragenkomplex die Ausführungen zur "Gesinnungsproblematik" im 1. Kapitel dieses 3. Teiles10!, wo die ablehnende Einstellung vieler Wehrpflichtiger gegenüber ihrer Einberufung u. a. aus materiellen Gründen aufgezeigt wurde; hier jedoch werden jene negativen Feststellungen erheblich abgemildert durch die positive soziale Grundhaltung der 109 Wehrpflichtigen zur Bundeswehr im allgemeinen und ihrer persönlichen Wehrbereitschaft zum Grundwehrdienst im Einzelfall.

f) Beantwortung und Auswertung des zweiten Fragenkomplexes Die erste Frage des zweiten Fragenkomplexes wurde nach Beendigung der "Bodenausbildung" als Frage 4 gestellt104 und lautete: "Haben Sie während der Bodenausbildung auf die harten Methoden und den rauhen Ton der Ausbilder oder auf die körperliche Anstrengung der Ausbildung irgendwie in oder außer Dienst reagiert?"

Die Beantwortung der vierten Frage ergibt sich aus (Tab. 9, s. S. 138) Siehe S. 65 fi. Diese und die weiteren Fragen des zweiten Fragenkomplexes konnten nur noch 129 Lehrgangsteilnehmern gestellt werden, weil ein Unteroffizier in der ersten Ausbildungswoche wegen Angst vor dem Sprung vom 16-mSprungturm abgelöst und zu seiner Einheit zurückgeschickt wurde. Die neue Zahl bei den Unteroffiziersdienstgraden sowie die neue Gesamtstärke wurden wieder mit 100 Punkten angesetzt. 103 104

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

138

Tabelle 9

In Zahlen Uffz M

vorgegebene Antworten

LT

A) im Dienst: Ja

17

16

110

In Prozenten Uffz Offz M

Offz

LT

-

1

13

15

-

11

91

11

8

83

100

89

2

2

-

-

85 1

2

-

115

101

11

3

89

93

100

33

Nein

14

8

-

6

7

-

-

-

-

-

-

67

Keine Angaben

-

11

-

129

109

11

9

100

100

100

100

Nein Keine Angaben B) außer Dienst: Ja

N

-

Bevor an die Auswertung der Beantwortung dieser Frage herangegangen wird, sollen zunächst noch die mit dieser Frage nach Reaktionen unmittelbar zusammenhängenden beiden Zusatzfragen, nämlich die fünfte und sechste Frage mit ihren Ergebnissen aufgezeigt werden. Die Frage 5 lautete: "Wenn ja, wie?" und wurde - getrennt nach Reaktionen "im Dienst" und "außer Dienst" - wie folgt beantwortet: Tabelle 10

vorgegebene Antworten

LT

A. im Dienst: durch "Mogeln", sofern möglich

In Zahlen M Uffz

Offz

LT

In Prozenten M Uffz Offz

3

3

-

-

2

3

-

-

durch Widerworte Flüche usw.

11

11

-

-

9

10

-

-

durch Handgreiflichkeiten

-

-

-

-

-

-

-

-

durch "Befehlsverweigerung"I05)

-

-

-

-

-

-

-

-

II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

139

- Fortsetzung TabeUe 10 vorgegebene Antworten

LT

durch Beschwerden(n)

I

durch Arztbesuch

2

In Zahlen Uffz M

2

In Prozenten Offz

LT

M

Uffz

Offz

-

I

0,8

-

-

11

-

-

2

-

-

2

durch Krankfeiern

-

-

-

-

-

-

-

-

durch sonstige Reaktionen

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

2

-

-

-

-

weiß nicht, keine Angaben B. außer Dienst: durch "Luftablassen " 1. gegenüber Ausbildern

2

2

2

-

-

-

-

-

-

2. im Kameradenkreis

115

101

11

3

89

93

100

33

durch gesteigerten Alkoholkonsum

109

91

10

8

85

84

91

89

-

-

-

-

-

-

-

-

I

-

11

100

100

sonstige Reaktionen (z.B. Prügeleien, Sachbeschädigung) weiß nicht, keine Angaben

9

8

M

233

200

21

9

N

129

109

11

9

7

7

100

100

106 Dieses fehlerhafte Kürzel einen Befehl kann man nicht verweigern, nur seine Ausführung - entspricht dem Sprachgebrauch der Truppe und umfaßt alle Formen des Ungehorsams und der Gehorsamsverweigerung.

140

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Die Frage 6 lautete: "Wenn Sie im Dienst nicht reagiert haben, warum nicht?" Die aufschlußreiche Beantwortung dieser Frage ergibt sich aus: Tabelle 11

vorgegebene Antworten

LT

In Zahlen M Uffz

Offz

LT

7

54

53

9

78

83

89

91

-

9

60

53

100

100

9

61

55

91

100

-

-

-

-

98

98

100

100

-

50

57

18

-

-

-

2

2

-

-

444

45

34

109

11

9

100

100

100

100

Reaktion(en) nicht erforderlich

70

58

1

um nicht die Zusagen zu verlieren

107

97

10

um das Abzeichen zu erhalten

78

58

11

aus persönlichem Ehrgeiz

79

60

10

aus Trägheit

-

-

-

127

107

11

64

62

2

2

2

M

527

N

129

aus Einsicht in die Notwendil1keit einer stra fen Ausbildung106 ) Furcht vor Unannehmlichkeiten andere Gründe, weiß nicht, keine Angaben

In Prozenten M Uffz Offz

-

--_.

9

Die Auswertung zunächst der vierten Frage nach Reaktionen auf die straffe Ausbildung ist bemerkenswert: Im Dienst zeigten 85 Ofo der Lehrgangsteilnehmer keinerlei Reaktionen (vgl. Tabelle 10), während es außer Dienst bei den meisten Soldaten durchaus zu - man möchte fast sagen - "militärtypischen" Reaktionen kam: 85 Ofo aller Lehrgangsteilnehmer nannten "gesteigerten Alkoholkonsum" und 89 Ofo "Luftablassen 108 Hier lautete die vollständige .vorgegebene Antwortmöglichkeit (fortgesetzt): " ... um im Flugzeug nicht die Nerven zu verlieren und zu springen."

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

141

im Kameradenkreis"107 als "Antwort" auf die harten Methoden und den rauhen Ton der Ausbilder (vgl. Tabelle lOB). Dabei war die Trinkfreudigkeit ohne Unterschiede auf die Laufbahngruppen fast gleichmäßig verteilt: 83 % der Mannschaften, 91 % der Unteroffiziere und 89 % der Offiziere erhöhten ihren gewohnten Alkoholkonsum (vgl. Tabelle 10 B). Harmlose Reaktionen zeigten im Dienst lediglich 10% der Wehrpflichtigen durch "Widerworte, Flüche usw."; jedoch nicht ein Soldat ließ es zu Handgreiflichkeiten oder schwereren Verfehlungen kommen (vgl. TabeUe 10 A); die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten für - auch delinquente - Reaktionen im Dienst blieben erstaunlicherweise "ungenutzt". Nicht einmal durch "Krankfeiern" versuchte man sich dem militärischen Drill zu entziehen (vgl. Tabelle 10 A). Die einzige Beschwerde (vgl. Tabelle 10) wurde von einem Offizier aus einem Grunde eingelegt, der nicht unmittelbar mit der Ausbildung zum Fallschirmjäger im Zusammenhang stand: sein überlanger Haarschnitt wurde beanstandet. Der Beschwerde wurde nicht abgeholfen der Offizier ging schließlich zum Friseur. Das Fehlen von "echten" Reaktionen im Dienst mit seinem entpersonalisierenden Drill und den rauhen Methoden der Ausbildung und Ausbilder ist beachtlich. Hier kristallisiert sich bereits heraus, was die Beantwortung der Frage 6 nach den Gründen für diese Nicht-Reaktionen erkennen läßt: Die Einsicht in die Notwendigkeit einer straffen Ausbildung, um im entscheidenden Moment, also beim Absprung aus der Flugzeugtür der mit ca. 240 km pro Stunde und in 420 Meter Höhe fliegenden Maschine l08 nicht zu versagen. Dieses Motiv liegt zahlenmäßig mit 98 % der Probanden noch vor dem materiellen Motiv der Erhaltung der Zulagen (83 %) (vgl. Tabelle 11). Die Antworten zu den Reaktionen "im Dienst" waren für den Verfasser unerwartet. In Kenntnis der Janusköpfigkeit militärischer Disziplin hatte er eine hohe Quote von delinquenten Reaktionen aller Art - insbesondere Dienstvergehen - erwartet; dies ist bereits aus den von ihm vorgegebenen Antwortmöglichkeiten ersichtlich. Die Ausnahme zur These der Negation normkonformen Verhaltens im Falle strenger militärischer Disziplin zeichnet sich hier ab: Disziplin, d. h. militärische Leistungsanforderung, führt nicht unbedingt zu "Gegenreaktion" , Negation der Disziplin, "Wegmogeln"vom Leistungsdruck, sondern - wenn der Dienst vom Soldaten als sinnvoll erkannt wird - zur Bewältigung selbst hoher physischer und psychischer Belastungen. 107 Als Sammelbezeichnung für Klagen und Aussprache unter Kameraden, Diskussionen und dgl. gedacht. 108 Vom Typ C 160 "TRANSALL".

142

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Dieses positive Zwischenergebnis bedarf natürlich der Einschränkung durch die Auswertung der Frage 6 nach den Gründen für die Nicht~ Reaktionen. Immerhin gaben 83 % aller Probanden zu, daß sie nicht die finanziellen Zulagen aufs Spiel setzen wollten; so erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch zur hohen Quote von 54 % der Lehrgangsteilnehmer, die ankreuzten, es sei "keine Reaktion erforderlich" gewesen. Die hohe Quote der Mehrfachnennungen zeigt, daß man offensichtlich neben der "Einsicht" in den Drill aus vielerlei Gründen motiviert war, die hier so stark fühlbare Rolle des Untergebenen zu bewältigen, sei es zur Erhaltung der Zulagen (89 % der Mannschaften und 91 0J0 der Unteroffiziere), sei es aus persönlichem Ehrgeiz (100 % der Offiziere) oder um das Fallschirmjäger-Abzeichen zu erhalten (100% der Unteroffiziere und Offiziere) (vgl. Tabelle 11). Aber auch außer Dienst zeigten sich alle Probanden enorm diszipli~ niert: abgesehen vom gesteigerten Alkoholkonsum und vom "Luftablassen im Kameradenkreis" kam es zu keinerlei Ausschreitung gegenüber den Ausbildern, geschweige denn zu Körperverletzungs- oder Sachbeschädigungsdelikten oder dergleichen (vgl. Tabelle 10). Frage 7 und Frage 8 waren seinerzeit vom Verfasser nur vorsorglich gestellt worden für die zahlenmäßig nur gering erwarteten Fälle von Nicht-Reaktionen, um so noch Arten und Anzahl eventuell unterdrückter Reaktionen zu erfahren.

Frage 7 lautete: "Gab es dennoch Situationen, in denen Sie im Dienst manchmal gerne reagiert hätten?" mit der Anschluß-Frage 8: "Wenn ja, wie hätten Sie am liebsten reagiert?" wieder mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Die Antwort zur siebten Frage ist ersichtlich aus: Tabelle 12

vorgegebene Antworten

LT

In Zahlen M Uffz

Ja

112

100

Nein

8

weiß nicht, keine Angaben

9

9

129

109

N

In Prozenten M Uffz Offz

Offz

LT

10

2

87

1

7

6

-

-

7

8

11

9

100

100

~

92

91

22

9

78

~

-

-

100

100

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

143

Die Antwort zur achten Frage ist ersichtlich aus:

Tabelle 13 unterdrückte Reaktionen "Mogeln", sofern möglich

LT

In Zahlen M Uffz

In Prozenten

Offz

LT

M

Uffz

Offz

21

20

1

-

16

18

9

121

109

10

2

94

100

91

Handgreiflichkeiten

22

21

1

-

17

19

9

-

"Befehlsverweigerung"

39

38

1

-

30

35

9

-

Beschwerden

12

9

2

1

9

8

18

2

1

1

-

2

1

9

Widerworte, Flüche usw.

Antrag auf Ablösung Arztbesuch Krankfeiern sonstige Reaktionen weiß nicht, keine Angaben

-

-

-

2

1

-

1

-

2

-

-

-

-

-

9

9

M

228

208

17

3

N

129

109

11

9

-

-

1

7

7

100

100

-

22

11

-

9

100

-

-

100

Sonach hätten weitere 87 0J0 der Probanden manchmal gerne im Dienst reagiert (vgl. Tabelle 12); addiert zu den 13 Ofo derjenigen Soldaten, die tatsächlich im Dienst reagiert haben (vgl. Tabelle 9), ergibt dies eine Quote von 100 Ofo! Selbst 910f0 der Unteroffiziere, die im Dienst ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung zeigten, indem sie ausnahmslos keine Gegenreaktionen aufkommen ließen (vgl. Tabelle 9), sahen genügend Anlässe, in denen sie an sich zumindest durch Flüche, Widerworte und dergleichen (91 0J0), Beschwerden (18 Ofo), sowie (mit jeweils 9 Ofo) mittels Handgreiflichkeiten, Mogeln, Gehorsamsverweigerung, Antrag auf Ablösung oder Krankfeiern gerne eine gezielte Gegenreaktion ausgelöst hätten (vgl. Tabelle 13). Ähnlich liegen die Zahlen bei den wehrpflichtigen Mannschaftsdienstgraden; hier liegt die beachtliche Quote unterdrückter Gehorsamsverweigerungen sogar bei 35 Ofo (vgl. Tabelle 13). Die Nennung mehrerer

144

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

denkbarer Reaktionen fällt hier im Vergleich zur sechsten Frage zahlenmäßig nicht sonderlich ins Gewicht. Insgesamt gesehen zeigt das nicht erwartete Ergebnis des zweiten Fragenkomplexes, durch den ursprünglich (prä)delinquentes Verhalten als "Gegendruck" zur straffen Disziplin in "Eliteeinheiten" aufgedeckt werden sollte, daß der Druck militärischer Disziplin durchaus nicht prinzipiell zu Disziplinlosigkeiten und kriminellen Reaktionen führen muß, sofern nur der Soldat die Notwendigkeit seines Dienstes, seiner Ausbildung, des militärischen Drills erkennt, also ein inneres Verhältnis zur Institution bzw. zur geforderten Dienstleistung vorhanden ist oder entwickelt wird. Zugleich zeigte sich die kriminalitätshemmende Wirkung einer als sinnvoll erkannten Leistungsanforderung: An sich hätte die Rollenanforderung der Luftlandeschule, wo individuelle Aktionen verdrängt und durch täglichen Drill automatische Reaktionen erlernt werden, wo insbesondere die für "Vorgesetzte" zeitweise erhebliche soziale Statusänderung ausnahmslos und ohne Rücksicht auf die DienststeIlung erwartet wird, ein in hohem Maße kriminovalentes Klima entstehen lassen können - das Gegenteil war der Falpo9. Die nicht geringen Leistungsanforderungen des täglichen Dienstes an jeden einzelnen Lehrgangsteilnehmer stellten sich sogar als kriminoresistent heraus: Die außerdienstlichen Reaktionen waren verschwindend gering, weder wurden Dienstvergehen noch Straftaten in oder außer Dienst begangen.

g) Beantwortung und Auswertung des dritten Fragenkomplexes Als Bestätigung dieses nicht erwarteten Zwischenergebnisses des zweiten Fragenkomplexes können die Antworten des dritten Fragenkomplexes gewertet werden. Die als Kontrollfragen zum ersten und zweiten Fragenkomplex gedachten Fragen und ihre Beantwortungen stellen sich tabellarisch wie folgt dar:

Frage 9 lautete: "War dieser Fallschirmjäger-Lehrgang insgesamt zu hart, zu lasch, gerade richtig?" und wurde wie folgt beantwortetl1o : (Tab. 14, siehe Seite 145) 108 Die Ergebnisse dieser Umfrage hat der Verfasser während einer weiteren Wehrübung bei der IV. Inspektion der LL/LTS im Oktober 1974 stichprobenartig in Einzelbefragungen überprüft und vollinhaltlich bestätigt erhalten. 110 Dieser letzte Fragenkomplex konnte nur noch 128 Probanden gestellt werden, da ein Offizier nach dem ersten Sprung aus dem Flugzeug wegen Verletzungen beim Landefall ausgeschieden und zu seiner Einheit zurückgebracht worden war. N beträgt bei den Offizieren nunmehr 8, bei der Gesamtstärke 128.

145

Ir. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild Tabelle 14

vorgegebene Antworten

In Zahlen

LT

M

In Prozenten

Uffz

Offz

LT

M

-

-

14

15

-

-

85

83

Zu hart

18

18

Zu lasch

-

-

-

Gerade richtig

109

90

11

8

:w.eiß nicht, keine Angaben

1

1

-

-

128

109

11

8

N

0,8 100

0,9 100

Uffz

-

Offz

-

-

-

100

100

-

-

100

100

FTage 10 lautete: "Erscheinen Ihnen nachträglich die Ausbildungsmethoden der Ausbilder dieses Lehrganges sinnvoll, zum Teil sinnvoll oder unsinnig?" Die Antworten verteilen sich wie folgt: Tabelle 15

vorgegebene Antworten

LT

In Zahlen Uffz M

Offz

LT

In Prozenten M Uffz Offz

Sinnvoll

99

81

10

8

77

74

83

z.T. sinnvoll

18

17

1

9

10

-

Unsinnig

-

-

-

-

-

-

-

weiß nicht, keine Angaben

11

11

-

-

9

10

-

-

128

109

11

8

100

100

100

100

N

-

100

FTage 11 lautete: "Sollten nach Ihrer Ansicht die körperlichen Anforderungen des militärischen (Ausbildungs-)Dienstes in der Bundeswehr im Hinblick auf einen möglichen ,Ernstfall' höher geschraubt werden, bleiben wie bisher oder niedriger angesetzt werden?" Diese Kontrollfrage zur zweiten Frage (vgl. Tabelle 7) wurde wie folgt beantwortet: (Tab. 16, siehe Seite 146)

Es ist nach dem Zwischenergebnis des zweiten Fragenkomplexes nicht mehr verwunderlich, daß 85 Ofo aller Probanden die Art und Weise der Durchführung dieses Speziallehrganges als "gerade richtig" bezeichneten; lediglich 15 Ofo der Mannschaften empfanden den täglichen Leistungsdruck als zu hart (vgl. Tabelle 14). 10 Fiedler

146

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Tabelle 16 vorgegebene Antworten

In Zahlen M Uffz

LT

Offz

LT

In Prozenten M Uffz Offz

höher

76

60

10

6

59

55

91

75

bleiben wie bisher

42

39

1

2

33

36

9

25

niedriger

-

-

-

-

-

-

weiß nicht, keine Angaben

10

10

-

-

8

9

128

109

11

8

100

100

N

-

-

-

-

100

100

Diese Zahlen decken sich nahezu mit den Angaben zur zehnten Frage nach dem Sinn oder Unsinn der Ausbildungsmethoden der Ausbilder dieses Lehrganges: 77 % der Lehrgangsteilnehmer empfanden den entpersonalisierenden Drill als durchaus sinnvoll, 14 % zumindest als zum Teil sinnvoll, lediglich 9 % hatten dazu keine Meinung oder machten keine Angaben (vgl. Tabelle 15). In dieses Bild paßt abschließend die Beantwortung der elften und letzten Frage nach Steigerung oder Minderung der physischen Anforderungen des militärischen (Ausbildungs-)Dienstes in der Bundeswehr im Hinblick auf eine kriegerische (konventionelle) Auseinandersetzung: Immerhin 59 % aller Lehrgangsteilnehmer wünschten höhere körperliche Anforderungen, nur 33 % wollten die Maßstäbe belassen, wie sie sind (vgl. Tabelle 16). Insgesamt gesehen ist also eine große Einsicht der überwiegenden Zahl der Probanden in die Notwendigkeit eines straffen militärischen Dienstes sowohl in "Elite"-Einheiten als auch für die übrigen Einheiten der Bundeswehr zu verzeichnen. h) Zusammenfassung

Dem Verfasser ist durchaus bewußt, daß - wie bereits angeklungen - seine Befragung nicht repräsentativ für die Soldaten der Luftlande-Division, des ganzen Heeres oder gar der Bundeswehr sein kann111 • Aber trotz dieser geringen Anzahl von Probanden, trotz Fehlens 111 Auch weisen die "Vorgesetzten" unter den Probanden, also die Uffze und Offze im Vergleich zu den Mannschaften verschiedene Antworthäufigkeiten auf. Es könnte also eine Abhängigkeit zwischen Dienststellung und Beantwortung bestehen. Die unterschiedliche Beantwortung könnte auch rein zufällig sein. Um daher die Brauchbarkeit der Ergebnisse festzustellen, kann mit einer Signüikanzberechnung gearbeitet werden (Über die Berechnungsmethode vgl. insbesondere Neurath im "Handbuch der empirischen Sozialforschung", Band 1, S. 273 f.). Es müßte also das Signifikanzniveau (= p in 0/0)

II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

147

einer Signifikanzberechnung und trotz - oder gerade wegen - anderer Erwartungen bezüglich der Ergebnisse dieser Studie im Hinblick auf die Fragestellung, d. h. den gewünschten empirischen Nachweis eines kriminovalenten Klimas in "Eliteeinheiten" mit dem bemerkenswerten Ergebnis eines im Gegenteil nicht delinquenten Verhaltens der Soldaten in einer derartigen (Ausbildungs-)Einheit, dürfte diese empirische Studie im Ergebnis mehr als nur eine heuristische Wertung nach dem Motto: "Dieses Ergebnis war ja von vornherein zu erwarten!" verdienen. Das Gesamtergebnis der Befragung erlaubt m. E. die Schlußfolgerung: Je mehr (und eher) in Friedenszeiten dem Soldaten der Sinn und Zweck einer Tätigkeit oder eines Dienstes bewußt ist (oder vermittelt wird), desto weniger neigt er zu delinquenten Verhaltensweisen. Leistungsanforderung im Rahmen militärischer Disziplin - selbst in Form physisch und psychisch stark belastenden Drills - braucht, sofern sie vom Soldaten als sinnvoll erkannt wird, zumindest im Dienst nicht zu (prä)kriminellen Reaktionen führen, sondern kann durchaus auch als ein in hohem Maße kriminalitätshemmender Faktor bezeichnet werden. 6. Situative Faktoren mit potentiell kriminovalenten Effekten

Die Bundeswehr als reine Männergesellschaft mit soldatischen "Leitwerten"112 (z. B. nach der Floskel: "Du wirst dich doch wohl nicht aus unserem Kameradenkreis ausschließen wollen!") hat Erscheinungsformen kriminovalenter Tendenzen hervorgebracht, die auch in der zivilen Gesellschaft vorzufinden sind, aber sicherlich nicht in dieser besonderen Ausprägung und diesen Interdependenzen. Allgemeine psychologische und soziologische Erscheinungen wie Gruppenzwang, Kontaktschwäche, aufgestaute Aggressionen usw. kommen in der quasi geschlossenen Gesellschaft "Armee" besonders deutlich zum Vorschein, wofür das militärspezifische Umfeld mitverantwortlich gemacht werden kann113. So kann z. B. als Faktor für den übermäßigen und/oder gewohnheitsmäßigen Alkohol- und Tabakkonsum in den Streitkräften114 die Eintönigkeit des soldatischen Dienstes, die andersartigen körperlichen Anforderungen, die aufgezeigte ungewohnte militärische Lebensordnung, in der der Soldat selten allein ist, viele Soldaten zur Flucht in den überhöhten Konerrechnet werden. Da aber die Festlegung des Niveaus ohnehin dem Forscher überlassen ist, und der Verfasser die aufgezeigte verschiedene Beantwortungsquote durch Vorgesetzte und Untergebene aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen als Soldat auf Zeit nicht als zufällig wertet, wurde auf derartige Berechnungen verzichtet. 112 Vgl. dazu Mosen, "Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik", in: Atomzeitalter 3/1967, besonders S.146. 111 Vgl. dazu die Ausführungen zur teilweisen Entsozialisierung des Soldaten, S. 76 ff. 114 Nachgewiesen durch Feser / Schenk, S. 132 f. 10'

148

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

sum motivieren und psychische Frustration auslösen. "Ein wichtiger Satz im Rahmen des theoretischen Konzeptes über Abweichung besagt nämlich, daß das individuelle abweichende Verhalten ohne eine Unterstützung von außen nicht möglich ist115." Es dürfte daher erlaubt sein, gewisse Erscheinungen im militärischen Bereich, wie Kameraderie, Alkoholmißbrauch, Drogen- und Rauschinittelkonsum und dergl. mehr als durch die Situation bedingte Faktoren mit potentiell kriminogenen Effekten zu qualifizieren, die im folgenden näher analysiert werden sollen. a) Kameradschaft und Kameraderie Die kriminalitätshemmende Wirkung der Kameradschaft (§ 12 SoldatenG) leuchtet ohne weiteres ein. Welche Bedeutung ihr zukommt, kann daran gemessen werden, daß 45 % der kasernenpflichtigen Soldaten ihre Freizeit ausschließlich mit anderen Soldaten verbringen118• Die persönlichen Beziehungen zu bestimmten Personen des gleichen Status oder Dienstgrades, aber auch zu Vorgesetzten, geben dem Soldaten oft einen starken inneren Rückhalt, wenn die eigenen Abwehrkräfte zu versagen drohen117• Diese Zusammenhänge werden durch die Erfahrungen im Truppenalltag immer wieder bestätigt. Die Kameradschaft hat aber auch eine kriminovalente Seite: Manche Beihilfe zur Fahnenflucht oder Dienstentziehung durch Täuschung (§§ 16, 18 WStG) stellt sich beispielsweise als ein Akt der Kameradschaft dar. Falsch verstandene Kameradschaft, die sogenannte "Kameraderie", kann insbesondere bei Offizieren zu schwerwiegenden Straftaten führen; denkbar sind z. B. Unterdrücken von Beschwerden, pflichtwidriges Unterlassen der Mitwirkung bei der Strafverfolgung118 oder unwahre dienstliche Meldung (§§ 35, 40, 42 WStG). Auch nichtmilitärische Straftaten, beispielsweise Urkunden- oder Eidesdelikte, sind in diesem Zusammenhang vorstellbar. Kameradschaftliche Bindungen könnten sogar Anlaß dazu geben, daß ein Soldat sich an einer Verabredung zur Unbotmäßigkeit (§ 28 WStG) beteiligt oder sich mit anderen zusammenrottet So Feser / Schenk, S. 158. Etienne / Renn / Rosner, S. 45. 117 VgI. OVG Münster, Urteil vom 20.8. 1968 - IA 594/67 -, in: NZWehrr 1968, S.234: "Die in § 12 SoldatenG normierte Pflicht zur Kameradschaft erfordert es, einem Kameraden in Gefahr beizustehen. Sie greift ein, wenn die Gefahr besteht, daß der Kamerad bei einer Dienstfahrt durch gemeinschaftlichen Alkoholgenuß in den Zustand der Verkehrsunsicherheit geraten und dadurch einen Unfall verursachen könnte." 118 Ein derartiger Fall existiert bisher in der Bundeswehr nicht; vgI. aber Busch, "Die Pflicht des Vorgesetzten zum Einschreiten bei mit Strafe bedrohten Handlungen des Untergebenen", Diss. 1965. 116

118

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

149

und der Meuterei schuldig macht (§ 27 WStG). Dazu auszugsweise folgender Fall11': Nach den tatrichterlichen Feststellungen gehörte R. zu vier Soldaten, die nach lauter und aufgeregter Diskussion über die Festnahme ihrer Kameraden L. und D. durch den Offizier vom Kasernendienst unter allgemeinem Gejohle aus der Unterkunft zu der etwa 250 m entfernten Hauptwache aufbrachen, um die dort Eingeschlossenen zu befreien ... Wie die Strafkammer festgestellt hat, war der Angeklagte A. nicht nur an der gesamten Vorbereitung, sondern auch an der gemeinschaftlichen Durchführung der gewaltsamen Gefangenenbefreiung unmittelbar beteiligt. Er war mit in den Wachraum eingedrungen und hatte sich dort mit den Wachsoldaten, die gemäß § 3 VorgesetztenVO seine Vorgesetzten waren (...), in ein Handgemenge eingelassen, das schließlich zur Befreiung eines der Gefangenen führte. Damit hat er - in der Begehungsform des § 25 WStG - den äußeren und inneren Tatbestand des § 27 Abs. 1 WStG verwirklicht (...) und sich in Tateinheit damit zugleich nach § 120 StGB strafbar gemacht ... Dies läßt zum einen die Wichtigkeit erkennen, die den informellen sozialen Beziehungen unter den Soldaten, insbesondere für die Gestaltung ihrer Freizeit, beizumessen ist. Zum anderen zeigt sich die Notwendigkeit kriminologischer Erforschung auch solcher zuvorderst kriminalitätshemmender Faktoren, die erst auf den zweiten Blick eine kriminovalente Komponente in sich bergen. b) Alkoholmißbrauch

Zu den im militärischen Bereich besonders kriminovalenten Einflüssen gehört der Alkoholmißbrauchl20. Trunkenheit führt zum Beispiel zu Ungehorsam oder Gehorsamsverweigerung (§§ 19, 20 WStG)I!I, aber auch zur vorübergehenden Herbeiführung der Dienstuntauglichkeit, strafbar nach § 17 Abs.2 WStG. Zu letzteren auszugsweise aus den Gründen eines Urteils!!2: Der Angeklagte hatte in der Nacht vom 27.4.1961 zum 28.4.1961 Einsatzdienst als Radarmeider. Er trat den Dienst um 24 Uhr in betrunkenem Zustand an. Nach seinen eigenen Angaben hatte er am Abend zuvor 7 1/2 Liter Bier getrunken. Er war infolgedessen nicht in der Lage, seinen Dienst auszuführen und mußte gegen 2.30 Uhr abgelöst werden ... Der Angeklagte hat sich durch den Genuß von 7 1/2 Liter Bier zeitweise untauglich für den Wachdienst in der Radarstellung gemacht. Nach den Dienstvorschriften durfte 8 Stunden vor Dienstbeginn kein Alkohol ge118 Repetiert nach BGH, Urteil vom 14.11.1967 1 StR 487/67 -, in: NZWehrr 1968, S. 112 f. 120 Vgl. dazu den 1974 festgestellten hohen Prozentsatz von 34,7 bei allen Straftaten der Soldaten, S.57. 1!1 § 20 WStG steht an vierter Stelle der militärischen Straftaten. 121 Repetiert nach AG Freising, Urteil vom 16.1.1962 DS 85/61 -, in: RWStR § 17 Rd.Nr. 1.

150

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

nossen werden. Diese Vorschrift war dem Angeklagten bekannt. Der Angeklagte war so stark betrunken, daß er überhaupt nicht in der Lage war, seinen Dienst zu erfüllen. Er hat in Folge des Alkohols geschlafen und mußte abgelöst werden. Der Angeklagte hat sich dadurch eines Vergehens der zeitweisen Selbstverstümmelung nach § 17 Abs. 2 WStG schuldig gemacht. Angetrunkene Soldaten sind in Gefahr, sich zu Wachverfehlungen (§ 44 WStG) hinreißen zu lassen1Z3 ; sie können auch leicht in Versuchung kommen, gegen einen Vorgesetzten tätlich zu werden (§ 25 WStG)124.

Auch Dienstvergehen unterschiedlicher Art und Schwere sind unter Alkoholeinfiuß denkbar, insbesondere durch Störung des Dienstbetriebes. Der Alkoholgenuß kann auch mittelbar auf dem Wege über Geldmangel zu Straftaten von Soldaten führen, etwa zu Diebstahl, Unterschlagung oder Betrug gegenüber Kameraden.

Die Dienstvergehen und strafbaren Handlungen unter Alkoholeinfluß haben seit 1973 zugenommen. In diesem Kalenderjahr zum Beispiel erfolgten von 521 festgestellten Verfehlungen gegenüber Vorgesetzten (Ungehorsam, Gehorsamsverweigerung, Bedrohung und Nötigung eines Vorgesetzten, Tätlicher Angriff und Meuterei) 243 dieser Delikte (47 0/0) nach Alkoholgenuß der Soldaten. Von 44 angezeigten Mißhandlungen und entwürdigenden Behandlungen von Untergebenen standen in 18 (410J0) Fällen die angeschuldigten Vorgesetzten unter Alkohol! Von 739 Soldaten, die einen Selbsttötungsversuch begingen, wurde bei 128 (17 0J0) Soldaten Alkoholeinwirkung festgestellt. Ein Drittel der in disziplinargerichtlichen Verfahren angeschuldigten Verfehlungen befaßte sich mit Trunkenheit am Steuerl26 • Im folgenden soll ein Vorfall geschildert werden, der aus kriminologischer Sicht für Verhaltensweisen von Soldaten unter starkem Alkoholeinfluß nicht untypisch istl26 : Ein Soldat wurde stets ausfallend, wenn er zuviel getrunken hatte. So warf er einmal unter Alkoholeinfluß einen Spind aus dem Fenster seiner Stube. Ein anderes Mal hatte er morgens in der Kantine so viel Bier getrunken, daß er sich zu einer Gehorsamsverweigerung und zu einem tätlichen Angriff gegen einen Vorgesetzten hinreißen ließ. Wegen dieser Handlung wurde er zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. An einem Sonntagvormittag suchte er die Kantine auf, trank dort Rum und mehrere Flaschen Bier und nahm noch eine Flasche Rum mit, um nach dem Mittagessen weiterzutrinken. Kameraden benachrichtigten wegen seines Randalierens den Unteroffizier vom Dienst, der ihn vorläufig festnahm. Dabei trat der Soldat den Vorgesetzten, packte ihn am Arm, drohte 123 Vgl. dazu BDH, Erster Wehrdienstsenat, Urteil vom 13.8.1964 I WD 1961/63 -, in: NZWehrr 1967, S. 19 ff. (23). 124 Dieses Delikt steht an dritter Stelle der Straftaten nach dem WStG. 125 Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.86. 128 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S. 87 f.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

151

ihm Prügel an und verweigerte den Befehl, ihm zur Wache zu folgen. Vom Schöffengericht wurde der Soldat wegen Gehorsamsverweigerung und tätlichen Angriffs in Volltrunkenheit gegen einen Vorgesetzten zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt. Man hat die Wirkung des Alkohols im kriminologischen Schrifttum häufig als eine Desozialisierung der Persönlichkeit bezeichnet, bei der ethisch niedrige Persönlichkeitsschichten an die Oberfläche treten127• Diese Zusammenhänge werden am besten verständlich, wenn man den Charakter des Menschen als "Zuchtprodukt" der Gesellschaft ansieht1 28 • Die durch die militärischen Normanforderung erfolgte Anpassung wird durch die Alkoholwirkung je nach dem Grad der Vergiftung in mehr oder minder großem Umfang aufgehoben und führt dann nicht selten zum Konflikt mit dem umfangreichen Normen- und Pflichtenkatalog. Je weniger der Normanspruch der Armee durch eigene überzeugung als verbindlich gefestigt ist, um so leichter wird der Alkohol als Auslöser, Kontextfaktor oder sogar Verursacher wirksam. Das wird in besonderem Maße für den stark von außen gelenkten Menschen, den Soldaten gelten, nicht nur für den debilen oder infantilen Täter. Die Zunahme des Alkoholmißbrauchs ist kein Sonderproblem der Streitkräfte, sondern ein allgemeines Problem der Gesellschaft. Aber es ist aufgrund des militärspezifischen Umfeldes des (kasernierten) Soldaten angebracht, den Faktor Alkohol als situationsbedingten Faktor mit potentieller kriminovalenter Komponente zu qualifizieren, weil traditionelle Verhaltensnormenl29 und der spezifische Zwang einer jeden Männergesellschaft in den Streitkräften eine besonders wichtige Rolle spielen. über das Ausmaß des Alkoholkonsums (vor allem von Bier) liegen bis jetzt für die Bundeswehr noch keine statistischen Angaben vor; die Feststellung ist aber sicherlich nicht übertrieben, daß der Alkoholmißbrauch die zur Zeit größte Sorge in den Streitkräften darstellt. c) Drogen- und Rauschmittelkonsum

Für die Bundeswehr läßt sich feststellen, daß der Genuß von Drogen und Rauschmitteln durch Soldaten - es handelt sich überwiegend um Wehrpflichtige -, von der Zahl der Vorfälle und vom Umfang des Konsums her gesehen; noch keine besonderen Probleme aufgeworfen hat. Dieses zeitgenössische Phänomen, in der Armee nur als Dienstvergehen erfaßt, läßt erkennen, daß beispielsweise im Jahre 1975 166 VorMistelberger, "Alkoholfälle", in: Kriminalistik, Bd.6 (1966), S.320. Vgl. dazu Moser, "Alkoholtäter - Persönlichkeit und Umwelt", in: ZVS 1972, S. 29 ff. 129 Nach dem Volksmund: "Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein rechter Mann." 127 128

152

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

fälle im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Rauschgift disziplinar geahndet wurden 130 ; im Jahre 1974 waren es 115 Vorfälle l3l • Diese Zahlen sind angesichts eines Gesamtpersonalbestandes von nahezu 500 000 Soldaten außerordentlich niedrig. Nach einer Presseveröffentlichung können im Höchstfall nur 0,5 Ufo der Soldaten als Rauschmittelkonsumenten bezeichnet werden l32. In der Bundeswehr selbst ist. zudem durch Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Rauschmittel und infolge der überwachung der Kameraden und Vorgesetzten die Gefährdung sicherlich erheblich geringer als im zivilen Bereich. Es muß allerdings auch hier mit einer gewissen Dunkelziffer der Konsumenten gerechnet werden, da häufig erst die Drogenabhängigen als Konsumenten erkannt werden können. Soweit bei Soldaten Rauschmittelkonsum oder Besitz von Rauschmitteln festgestellt werden konnte - es handelt sich hier überwiegend um Haschisch -, wurden sie im allgemeinen disziplinar mit einer Geldbuße belegtl!1; im Strafverfahren wurde in aller Regel, soweit die Staatsanwaltschaft nicht nach § 153 Abs.2 StPO das Verfahren einstellte, durch Strafbefehl eine Geldstrafe verhängtl3'3. Es wurden auch einige wenige Vorfälle der exzessiven Drogenmißbräuche bekannt, die die Gesundheit derart zerrütteten, daß die Entlassung aus dem Wehrdienst nach § 29 Abs. 2 WPfiG ausgesprochen oder angedroht werden mußte13': - So trat ein Wehrpflichtiger seinen Dienst bei der Truppe nicht an und entfernte sich auch nach seiner Festnahme wiederholt von seiner Einheit. Der Soldat mußte aus gesundheitlichen Gründen aus der Bundeswehr entlassen werden. Im Strafverfahren wegen Fahnenflucht wurde dem Soldaten wegen seiner Drogenabhängigkeit der Schutz des § 51 Abs. 2 StGB a. F. zugebilligtl31. - In einem anderen Fall erwarb ein Unteroffizier in einem Lokal Haschisch, verbrauchte einen Teil zusammen mit anderen Soldaten und veräußerte Teilmengen weiter. Er wurde disziplinar mit 21 Tagen Arrest belegt und strafgerichtlich mit 3 Monaten Freiheitsentzug bestraft. Für den Wiederholungsfall wurde ihm die Entlassung nach § 55 Abs. 5 SoldatenG angedroht. FeseT / Schenk l • führen zum Problem des Drogenmißbrauchs aus: "Im Gegensatz zu früher, wo sich der Alkoholiker auf die herrschenden Normen bezog und sich von diesen als abweichend erlebte, sich für seine Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1975, Anlage 2. Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1974, Anlage 3. 132 Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, 8.135. laa Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, 8.135. 13' Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, S. 135 f. 131 Dies widerspricht an sich § 7 W8tG. 130 131

131

Feser / Schenk, S. 128.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

153

Abweichung zu rechtfertigen, zu entschuldigen suchte, beziehen sich drogenkonsumierende Jugendliche auf eine andere Kultur, von der her Drogenkonsum erlaubt, ja sogar gewünscht sein kann. Es ist ein Konflikt zwischen verschiedenen Normen, und die Jugendlichen empfinden sich deshalb konsequenterweise auch nicht mehr als krank. Sie haben einen anderen Lebensstil und betonen ihr Recht auf diesen Lebensstil. Ursache für den neuen Lebensstil ist das Gefühl des Versagens der Erwachsenenwelt und der Versuch, eine eigene, neue Welt aufzubauen, in der die Fehler der Erwachsenen nicht gelten. Es ist eine Gegenwelt, die frei von Leistungsdruck und Konsumzwang ist und die die Selbstentfaltung des Individuums in den Mittelpunkt stellt." Das Phänomen des "Modedrogenkonsums" - einmal probieren, um sich dann wieder davon abzuwenden - ist ein allgemein gesellschaftliches Problem der Jugendlichen. Es ist nach den bisher vorliegenden g.eringen Anhaltspunkten "kein Phänomen, das durch die Bundeswehr provoziert würde"l37. Für den Bereich der Bundeswehr muß man hinzufügen, daß auf lange Sicht rückblickend eine steigende Tendenz der Vorfälle nicht festzustellen istl38. Drogenkonsum rangiert "ganz weit hinter dem Tabakkonsum. Dieser wird durch die Kasernierung gefördert"l39. Jedoch sollte gegenüber dem potentiellen kriminovalenten Faktor des Drogenmißbrauchs große Aufmerksamkeit am Platze sein. d) Sexua.lität (1) Eine kriminologische Faktorenanalyse wäre unvollständig, wenn das heikle Thema Sexualität in der Armee mit keinem Wort erwähnt würde140• Denn Sozialisationsprozesse in unserer Gesellschaft sind zumindest auch geschlechtsspezifische, sexuelle Sozialabläufe insofern, als sie vom sexuellen Wesen des Menschen nicht absehen können, es jedenfalls nicht unberührt lassen. Weiterhin tendiert die traditionelle Sicht des Soldaten in patriarchalisch aufgebauten Gesellschaften wie der unseren dahin, in ihm die reinste Verkörperung des Mannes und der betont männlichen Geschlechtsrolle zu beschreiben. Es wäre mithin z. B. zu fragen, ob und inwieweit die militärische Sozialisation heute noch den herkömmlichen Vorstellungen von der Formung menschlicher Sexualität nach einem soldatisch-männlichen Leitbild verpflichtet ist. So schreibt beispielsweise Goffma.n141 : "In der westlichen Gesellschaft gibt es an187

13S

S.68.

FeseT 1 Schenk, S. 135. Vgl. Wehrpsychologische Untersuchungen der Bundeswehr, Heft 5/74,

Feser 1 Schenk, S. 135. Des Verfassers Beobachtung ist, daß dieses Thema in wissenschaftlichen Abhandlungen über die Bundeswehr grundsätzlich ausgeklammert wird. 131

140

141

Goffman, S. 121.

154

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

scheinend keine totale Institution, in der ein völlig von der Sexualität unabhängiges Gemeinschaftsleben möglich wäre ... " - für das quasi geschlossene System "Bundeswehr" kann nichts anderes gelten. In der Diskussion der Normen und Werte militärischer Organisationen ist zwar öfters die Rede von Selbstdisziplin, Härte gegen sich selbst und Selbstzucht142 , ohne daß aber der naheliegende Bezug zur Reglementierung, Einengung oder Verhinderung sexueller Betätigung jeder Art hergestellt wird. Der Soldat, insbesondere der Rekrut, kann z. B. mit einer sexuell vergifteten Atmosphäre der reinen Männergesellschaft konfrontiert werden, die ihn zum Mitmachen zwingt. Gleichzeitig bedeutet für die heute sexuell freizügigeren jungen Soldaten die Kasernierung einen Verzicht oder zumindest eine erhebliche Einschränkung der bisher gewohnten sexuellen Kontakte. Dabei dürfe die überwindung sexueller Bedürfnisse doch wohl kaum unproblematischer sein als die Überwindung z. B. von Hunger, Durst, Müdigkeit oder Schmerz. Auch auf den Verlust der Privatheit weist z. B. Treiber zwar hin143 , geht jedoch nicht darauf ein, was dies angesichts der Tatsache bedeuten könnte, daß Sexualität in unserer Gesellschaft zwar in unterschiedlichem Maße, aber noch immer weitgehend eine private Sache ist, und dementsprechend von den Wehrpflichtigen auch als solche bisher erlebt und gelebt wurde. Die in diesem Zusammenhang z. B. denkbaren Schwierigkeiten hinsichtlich Partnerbeziehungen, Veröffentlichung sexueller Erlebnisse, Masturbationspraktiken, homosexuelle Erfahrungen usw. werden weder erwähnt noch diskutiert. Und die liebliche, zurückhaltende Formulierung, der Wehrpflichtige wolle am Wochenende so oft wie möglich "zu den Seinen nach Hause" fahren 144, läßt nur ahnen, daß es dabei eben auch um die Aufrechterhaltung sexueller Beziehungen und das Erleben ungestörter sexueller Befriedigung gehen könnte145 • Eine vertiefende kriminologische Analyse der Faktoren wird also auch die Frage nach der Einflußgröße "Sexualität" auf die Delinquenz von 142 z. B. bei Treiber, S.43, 47, 48 und Rommerskirchen, "Soldatische Existenz heute", in: Pöggeler / Wien, S.36: "Selbstzucht, Kameradschaft, Ordnungssinn und Rücksichtnahme müssen das Miteinander bestimmen, um nur einiges zu nennen." 143 Treiber, S. 64 f., 99 f. 144 Treiber, S. 103. 145 Die am Trainingsanzug eines Rekruten bemängelten sog. "Sportflecken" (Treiber, S. 15) schließlich werden auf der Wertebene "Sauberkeit" eingeordnet (Treiber, S.39) und es wird damit der militärisch-umgangssprachliche Doppelsinn dieses Wortes umgangen, der sich auch auf den "Sport" Masturbation und somit auf Spermaflecken bezieht, und in der entsprechenden Situation bewußt zweideutig und verunsichernd für den Betroffenen angewandt werden dürfte. Wenn also schon militärische Sozialisation von Treiber nicht auch als sexuelle Sozialisation thematisiert wird, so glaubt er offenbar darüber hinaus sogar die möglichen Auswirkungen auf die Sexualität der Rekruten völlig vernachlässigen zu können.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Soldaten (z. B. in Form der "Truppenflucht" infolge starker sexueller Bedürfnisse1(6)147 stellen müssen. (2) Homosexualität spielt als kriminovalenter Faktor in der Bundeswehr nur eine geringe Rolle, da erkannte Männer mit dieser Triebrichtung vor Eintritt in die Streitkräfte als "untauglich" abgewiesen werden. Gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Soldaten haben trotz der Liberalisierung des § 175 StGB durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 in den Streitkräften nicht zugenommen148 • Diese Tatsache ist wohl darauf zurückzuführen, daß solche Handlungen in der Regel als Dienstvergehen nach wie vor streng geahndet werden können, denn als Disziplinartatbestände kommen insbesondere Verletzungen der in §§ 12, 17 Abs. 2 und 3 sowie 55 Abs. 5 SoldatenG gekennzeichneten Pflichten, bei Vorgesetzten außerdem die Pflichtverletzung nach § 10 SoldatenG in Betracht; auch ist der strafrechtlich sanktionierte Verstoß im Rahmen des § 32 WStG ("Mißbrauch der Befehlsbefugnis zu unzulässigen Zwecken") denkbar. Die Liberalisierung der Gesetzgebung zur Homosexualität entspricht humaner rechtsstaatlicher Duldung einer andersgearteten Minderheit149 • Es konnte weder ein Ansteigen homosexueller Verfehlungen von Soldaten noch negative Auswirkungen auf Ordnung und Disziplin der Truppe beobachtet werden160 • Die hier angesprochene Gruppe - durch die Kasernierung in der reinen Männergesellschaft Armee vermutlich im aufgezeigten sanktionierten Bereich151 situationsbedingt leichter delinquenzgefährdet - ist offensichtlich durch die Selektierung bei den Einstellungsuntersuchungen nahezu vollzählig von den Streitkräften ausgeschlossen. e) Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß es in der Armee eine Anzahl von kriminovalenten Faktoren gibt, die durch den mili146 Nachgewiesen in der neuesten empirischen Hauptuntersuchung zur Dienstentziehungsdelinquenz bei Flach, S. 62. 147 Vgl. auch den Fall des Ehebruchs mit der Frau eines Kameraden: Zweiter Wehrdienstsenat, Urteil vom 9.8.1973 - II WD 16173 -, in: NZWehrr 1974, S. 28 ff. 148 Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.118. 149 Sehr kritisch hierzu Schwalm, "Die Streichung des Grundtatbestandes homosexueller Handlungen und ihre Auswirkungen auf das Disziplinarrecht", in: NZWehrr 1970, S.81ff. 150 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973 - 1975, jeweils Anlage 3 im Hinblick auf die diesbezüglichen Zahlen. 151 Vgl. dazu den Fall Zweiter Wehrdienstsenat, Urteil vom 29.2.1972 - H WD 103170 -, in: NZWehrr 1972, S.152 f.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

tärischen Dienst an sich, d. h. die - mehr oder weniger freiwillige Situation, in der sich der (kasernierte) Soldat befindet, zum Vorschein kommen oder verstärkt werden. Insbesondere Kameraderie im Zusammenleben der Soldaten, übermäßiger Alkoholkonsum in den Bundeswehr-Kantinen, Drogen- und Rauschmittelkonsum als Flucht vor (militärischem) Leistungsdruck oder intellektueller Unterbeschäftigung, unterdrückte Sexualität usw. beinhalten hier potentielle kriminovalente Effekte, die vertiefender kriminologischer Ausleuchtung bedürfen. 7. Das Fiihrungsverhalten der Vorgesetzten als wlddlgster zuvorderst krlmlnalltitshemmender, aber auch -fördernder Faktor fiir Untergebene

a) Militärische Führungsstile und zeitgerechte Menschenführung Für die Beurteilung der militärischen Delinquenz und des Delinquenten ist oftmals auch das Verhalten des Vorgesetzten1&2 als nicht auf den ersten Blick erkennbarer kriminogener Faktor von entscheidender Bedeutung. Die Vorgesetzten sind entscheidend für das "Betriebsklima", das in der Truppe herrscht. Militärsoziologisch lassen sich drei Arten militärischen Führungsstils unterscheiden11i3 : (1) Der traditionale Führungsstil beruht auf der vorbehaltlosen Unterordnung des Untergebenen unter den Willen seines Vorgesetzten. Er gründet sich in erster Linie auf dessen Amtsautorität. Die hierarchische Struktur der Streitkräfte ist der institutionelle Ausdruck dieses Führungsstils. Der Untergebene hat in diesem System sehr wenig eigenen Ermessensspielraum. Ihm werden nicht nur Ziel, sondern auch Art und Weise der Ausführung des Befehls bindend vorgeschrieben. Eine engmaschige Dienstaufsicht ist zur Durchführung dieses Führungsstils notwendig. Sanktionsmöglichkeiten personeller, disziplinarer und strafrechtlicher Art bestimmen den Untergebenen, die durch den Befehl abgesteckten Grenzen seines Ziels und seines HandeIns einzuhalten. Dieser Führungsstil traditioneller Prägung war im Obrigkeitsstaat und in der Armee des vortechnischen Zeitalters legitim. Die Amtsautorität des Vorgesetzten entsprach den relativ geringen fachlichen Anforderungen, die an ihn gestellt wurden. Amtsautorität und Fachwissen waren deckungsgleich. Der Gefechtsstil jener Zeit erforderte für 16Z Wenn hier und später vom "Vorgesetzten" die Rede ist, so ist vom Gruppenführer an aufwärts jeder Vorgesetzte gemeint, insbesondere aber naturgemäß der Kompaniechef als Disziplinarvorgesetzter der Soldaten. 163 Vgl. dazu Schrütenreihe Innere Führung, Reihe: Politische Bildung, Heft 6: "Die soziale Rolle des militärischen Vorgesetzten" (1975), S. 23 H. (Hrsg.: BMVg - FüSI5 -).

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die Masse der Soldaten aller Dienstgrade ausschließlich reaktive Verhaltensweisen; diesen war der traditionale Führungsstil folgerichtig angepaßt. (2) Der kooperative Führungsstil ist eine Folge der Technisierung der Streitkräfte; denn die Bewältigung der komplizierten Waffen und Geräte erfordert eine andere militärische Führungsmethode als die Führung eines Gefechts im vortechnischen Zeitalter. Die Mobilisierung des Sachverstandes, die Förderung von Initiative und Engagement der Untergebenen, der Appell an ihre verantwortliche Mitarbeit, aber auch die Vertiefung der Einsichtsfähigkeit der Soldaten in die Notwendigkeit ihres Dienstes sind neben der stärkeren Betonung der funktionalen Autorität des Vorgesetzten Faktoren, die diesen Führungsstil partnerschaftlicher Kooperation auszeichnen. (3) Der personale Führungsstil stellt eine notwendige Ergänzung zu den traditionalen und kooperativen Methoden militärischer Führung dar. Die Vielschichtigkeit der sozialen Wechselbeziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen erschöpft sich nicht in ausschließlich rationalen Kategorien, sondern bedarf - in dem jeweils angemessenen Rahmen - der Ergänzung durch personale Autorität, durch vorbildhaftes Beispiel, wie Kameradschaft, Vertrauen und gegenseitige Achtung, aber auch durch persönliche Ansprache und Ausstrahlung. "Der Vorgesetzte mit personalem Führungsstil ist bemüht, daß sich die Mitglieder einer Gruppe nicht nur als organisatorische, sondern als soziale Einheit empfinden, nämlich als Wir, das an die Stelle des Ich tritt oder dieses wenigstens in den Hintergrund treten läßt ... Durch ein derartiges ,Wir-Bewußtsein' sollen sich die Soldaten mit ,ihrer' Gruppe identifizieren und sich folglich auch für deren Ansehen verantwortlich fühlen ... Wenn es dem Vorgesetzten gelingt, die Soldaten emotional an seine Person und an die Gruppe zu binden und ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu wecken, dann sind die Gruppen-Mitglieder in der Regel bestrebt, sich aus dieser Gemeinschaft nicht auszuschließen ... Insgesamt kann gesagt werden, daß die Angehörigen einer Einheit oder Teileinheit, die in personalem Stil geführt wird, dieser Gruppe und ihren Vorgesetzten durch Sympathiegehorsam verbunden sind154 ." Diese drei skizzierten Führungsstile treten in der Wirklichkeit natürlich nie so deutlich voneinander abgegrenzt auf. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen und bedingen sich gegenseitig. Der kooperative Führungsstil der modernen Armee kann - im jeweils angemessenen Rahmen - nicht auf Elemente traditionellen Gehorsamsanspruches und persönlichen Engagements verzichten155• Den FührungsanforderunSchriftenreihe Innere Führung, Reihe: Politische Bildung, Heft 6, S. 26 U. In rechtlicher Hinsicht sei darauf hingewiesen, daß für alle drei Führungsstile die im Soldatengesetz gesetzlich fixierte Lehre von Befehl und Gehorsam gilt. 154

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

gen in den Streitkräften ist also durch eine Verabsolutierung nur eines Führungsstils nicht gerecht zu werden. Davon unberührt bleibt die Erkenntnis, daß Führen fraglos leichter ist, wenn der Vorgesetzte neben der Amtsautorität zugleich auch personale Autorität genießt und über hervorragendes Fachwissen verfügt166. Fragen des Führungsstils sind nicht in erster Linie Strukturprobleme der Organisation. Ob ein überwiegend traditionaler, kooperativer oder personaler Führungs- und Verhaltensstil praktiziert wird, ist zuvorderst eine Frage der handelnden Persönlichkeit, des jeweiligen Organisationsteils und der Reaktionen der betroffenen Untergebenen. In diesem Zusammenhang ist im Hinblick auf die weiteren Ausführungen zum Führungsverhalten in seinen kriminogenen Auswirkungen die Feststellung kriminologisch relevant, daß weit seltener als in der Bundeswehr angenommen wird, der Einheitsführer (d. h. der Kompaniechef) Führungsrollen im Sinne der Theorie der Führung kleiner Gruppen übernimmt. Das Verhältnis zwischen dem Kompaniechef und den Soldaten der untersten Dienstgradebene (in der Regel Wehrpflichtige) ist durch eine relativ große soziale Distanz gekennzeichnet .. Als sozialer Prozeß findet Führung überwiegend zwischen dem Kompaniechef und den Zugführern sowie dem Funktionspersonal der Kompanie statt, seltener erstreckt sie sich auch auf die Unterführer (Gruppenführer). Die wehrpflichtigen Soldaten werden unmittelbar und nachhaltig durch die Gruppenführer sozialisiert, diese also vermitteln vor allen anderen Organisationsmitgliedern den Soldaten Art und Umfang der Organisationsziele und das ihrer Erreichung dienende erwünschte Verhalten. Eine derartige soziale Distanz zwischen Kompaniechef und Soldaten läßt sich funktional damit erklären, daß komplexe Organisationen wie die Kompanie besser nach Ziel-Mittel-Abwägungen geleitet, als personal geführt werden. Mit zunehmendem Umfang der Leistungsanforderungen an den Kompaniechef scheint die soziale Distanz zu seinen wehrpflichtigen Soldaten größer zu werden167. Vorgesetzte können durch pflichtwidriges oder pflichtgemäßes Verhalten wesentlich dazu beitragen, daß bestimmte kriminovalente Situationen eintreten oder vermieden werden. In diesem Sinne umreißt schon das Gesetz in § 10 SoldatenG ein Leitbild für zeitgemäße Menschenführung durch den Vorgesetzten, indem es seinen Pflichtenkatalog absteckt1S8 : "Der Vorgesetzte soll in seiner Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel geben. Er hat die Pflicht zur Dienstaufsicht und ist für die Disziplin seiner Untergebenen verantwortlich. Er hat für seine Untergebenen zu sorgen. 156 Weißbuch 1973/1974, Nr.83 (S.58). 157 Vgl. die Ergebnisse zur "Einheitsführerstudie", in: Schrütenreihe Innere Führung, Reihe Ausbildung und Bildung, Heft 17 (Herbst 1974), S. 34 ff. (Hrsg. BMVg - FüS I 15 -). 158 Der Gesetzeswortlaut des § 10 SoldatenG ist unverändert wie bereits in der Fassung vom 19. 3. 1956.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Er darf Befehle nur zu dienstlichen Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen. Er trägt für seine Befehle die Verantwortung. Befehle hat er in der den Umständen angemessenen Weise durchzusetzen. Offiziere und Unteroffiziere haben innerhalb und außerhalb des Dienstes bei ihren Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzte zu erhalten." Alle Gesetze, Vorschriften und Erlasse zum Zwecke richtigen Führungsverhaltens und zeitgemäßer Menschenführung bleiben aber Makulatur, wenn sie zwar erlassen, aber nicht praktikabel sind. Aus der Fülle des Materials ragt hier die Zentrale Dienstvorschrift (ZDv 10/1) "Hilfen für die Innere Führung" aus dem Jahre 1972 heraus, weil diese Vorschrift versucht, die Zielvorstellungen zeitgemäßer Menschenführung in Richtlinien für ein korrektes Führungsverhalten der Vorgesetzten umzusetzen. Hier werden erstmalig Grundsätze und Leitsätze militärischer Menschenführung in relativ umfassender Weise und ohne Pathos, frei von Ideologisierung und den Emotionen früherer Jahre in die verbindliche Form einer Dienstvorschrift der Bundeswehr gefaßt. Viele Vorstellungen, aber auch viel Ballast der Aufbaujahre wurden zugunsten deutlicher Rationalität und Vereinfachung abgebaut. Zunächts fehlte den in der Vorschrift aufgestellten "Leitsätzen für Vorgesetzte" die Konkretisierung. Wenn es z. B. im Leitsatz 12 heißt: "Der Vorgesetzte bemüht sich um das Vertrauen seiner Untergebenen. Er berücksichtigt deren Leistungsfähigkeit und fordert weder zu viel noch zu wenig ... " so war zu fragen, ob der Vorgesetzte mit einer derart sibyllinischen Formulierung etwas anfangen konnte. Die Leitsätze verkündeten zunächst hoch gespannte Erwartungen, hinter denen der Vorgesetzte fast ständig zurückbleiben muß. Es geht dort immer um das "Muß" und das "Soll" - selten aber um das "Wie". Der Vorgesetzte "soll" sich - wenn zweckmäßig - vor Entscheidungen beraten. Alle Vorgesetzten "sollen" ihren Soldaten Ausbildung vorrangig als Forderung verständlich machen. Der Vorgesetzte "muß" Befehle mit angemessenen Mitteln durchsetzen. Der Vorgesetzte "soll" sich bewußt sein, daß seine Soldaten Anspruch auf Fürsorge haben. Der Vorgesetzte "soll" sich bemühen, einen Untergebenen richtig zu erkennen und diese Erkenntnisse objektiv zu werten. Diese Anforderungen gehen zu sehr vom Idealbild des Vorgesetzten aus; erst die Kenntnis um das "gewußt wie" versetzt neben der Kooperationsbereitschaft der Untergebenen den Vorgesetzten in die Lage, den Anforderungen zeitgemäßer Menschenführung gerecht zu werden. Daher wurden im Jahre 1973 die Leitsätze der Vorschrift mit ca. 60 gut ausgewählten Fallbeispielen zum richtigen Führungsverhalten an-

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

gereichert159 • Sie können dazu dienen, die Vorschrift zu einer erziehungswissenschaftlich begründeten Verdichtung eines lehr- und lernbaren Systems zu entwickeln mit dem Effekt, zeitgemäße Menschenführung bis zu einem gewissen Grade erlernbar zu machen. Es liegt auf der Hand, daß erst eine Konkretisierung der Leitsätze mittels anschaulicher Fallbeispiele dem Vorgesetzten ein führungsgerechtes Verhalten vor Augen führt, weil dem Vorgesetzten nunmehr ein verständlicher Maßstab für sein eigenes militärisches Handeln oder Unterlassen - auch im Hinblick auf die physische und psychische Belastbarkeit seiner Soldaten und damit den Spannungsbereich potentieller delinquenter Reaktionen seiner Untergebenen - an die Hand gegeben worden ist.

Es bleibt abzuwarten, ob die Vorgesetzten den pädagogischen, didaktischen und kriminologischen Wert dieser umfangreichen VorschrUtllO erkennen, weil sie sie auch lesen und ihr Führungsverhalten im militärischen Alltag danach ausrichten, oder ob es heißen wird: "Keiner hat sie gelesen, aber jeder spricht darüber." b) Führungsfehler als kriminovalente Faktoren

Die Möglichkeiten und Arten falschen Führungsverhaltens durch Vorgesetzte sind vielfältig und nicht pauschal analysierbar. Im Rahmen dieser Arbeit können daher nur die bedeutsamsten kriminovalenten Varianten exemplarisch aufgezeigt werden. (1) Vorgesetzte können grundsätzlich darauf vertrauen, daß ihnen zur Ausbildung anvertraute Soldaten von durchschnittlicher Gesundheit und den üblichen, sich allmählich steigernden körperlichen Belastungen des militärischen Dienstes gewachsen sind, wenn dem nicht besondere Gesichtspunkte entgegenstehenll1 • Nichtsdestoweniger beurteilen Vorgesetzte manchmal sehr subjektiv, welchen Belastungen der Untergebene gewachsen ist, ohne die körperliche und/oder geistige Leistungsfähigkeit des Soldaten genügend zu beachten, oder reagieren im Widerspruch zur Inneren Führung, wenn z. B. ein Soldat "vom Außendienst befreit" ist, sogar eine ärztliche Anweisung zugunsten des "innendiensttauglichen" Soldaten vorliegt. Dazu ein kurzes, wenngleich auch krasses BeispieP6!: Bei der Einteilung zum Außendienst wies ein Soldat seinen Zugführer darauf hin, daß er auf ärztliche Anordnung vom Außendienst befreit wäre. Der Zugführer teilte daraufhin den Soldaten zum Reinigen der Toiletten ein und beschimpfte ihn vor versammelter Kompanie mit den Worten: "Gehen Sie dann auch gleich zum Arzt und lassen sich Ihren Kopf unterIm Anhang unter Teil III der Vorschrift. 222 Seiten Text und 128 Seiten "Beispiele". 181 Vgl. dazu ausführlich LG Stuttgart, Urteil vom 9.2. 1965 III KMs 10/64 -, in: RWStR, § 41 WStG Rd.Nr.3. 112 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1974, S.93. 151

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II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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suchen. Wo ich hingeschissen habe, müssen Sie erst einmal hinriechen. Ich haue Ihnen ein paar in die Schnauze, daß Ihnen die Zähne fliegen, Sie Dummfick!" Es müßte einleuchten, daß durch jedwede Art und Weise der Nichtbeachtung oder Fehlreaktion auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit eines Soldaten eine erhebliche Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Vorgesetzten und dem Untergebenen eintreten kann und damit ein kriminovalentes Klima geschaffen wird. So ist fast jedes Versagen eines Vorgesetzten erfahrungsgemäß geeignet, ein pflichtwidri~es Verhalten von Untergebenen hervorzurufen oder gar zu fördern l13 • Wen hätte es gewundert, wenn - um im Beispiel zu bleiben - der Soldat mit gleicher Münze dieses gravierende Fehlverhalten seines Vorgesetzten "bezahlt" und sich seinerseits einen Disziplinverstoß hätte zu Schulden kommen lassen! (2) Ein geradezu "militärtypischer" Führungsfehler scheint das Dulden 'Von VbeTgTiffen dUTch UnteTfühTeT zu sein. Der Vorgesetzte behält die

"sauberen Hände", obwohl auch er eine Maßregelung oder gar "Bestrafung" des "auffälligen" Untergebenen wünscht. Dazu wiederum ein Beispielsfall, in dem ein Vorgesetzter unverzüglich als Einheitsführer abgelöst wurde16': Ein Kompaniechef hatte einem Oberfeldwebel befohlen, mit einem Sol-

daten, der sich am Nachmittag des vorangegangenes Tages einen "IrokesenHaarschnitt" - es handelt sich hierbei um einen Haarschnitt, bei dem die rechte und linke Kopfhälfte kahl geschoren ist und lediglich auf der Kompfmitte ein schmaler Haarstreüen verbleibt - zugelegt hatte, eine Infanterie-Gefechtsausbildung durchzuführen. Der Oberfeldwebel ließ daraufhin den Soldaten in Gegenwart von Kameraden durch Wasserpfützen und Wassergräben kriechen und mehrfach in Stellung gehen, wobei er auch zeitweise die ABC-Schutzmaske aufsetzen mußte. Der durchnäßte und erschöpfte Soldat hatte sodann die Gefechtsausbildung fortzusetzen. Der Oberfeldwebel befahl dem Soldaten, an einem Kampfstand zu arbeiten, obwohl der diensttuende Sanitäter bereits auf nachteilige Folgen für den Gesundheitszustand hingewiesen hatte. Dieser Vorfall machte eine Behandlung des Soldaten im Sanitätsrevier notwendig. Einige Tage später ließ der Oberfeldwebel ein Holzgewehr anfertigen und mit einem nichttrocknenden Anstrich versehen. Dieses Holzgewehr mußte der Soldat dann tragen, wodurch er Hände und Unüorm verschmierte und damit zum Gespött seiner Kameraden wurde. Der Kompaniechef hatte Soldaten seiner Einheit für den Fall etwaiger Disziplinlosigkeiten eine gleiche Behandlung angedroht, wie sie dem Petenten zuteil geworden war.

In der militärischen hierarchischen Struktur einer Armee muß dem Dulden von übergriffen durch Unterführer besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil hier aufgrund des nach außen hin korrekten les So bereits Neudeck, S.351. 1M

VgI. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.17.

11 Fiedler

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Führungsverhaltens des Einheitsführers das Dunkelfeld delinquenten Verhaltens der von ihrem Vorgesetzten "gedeckten" Unterführer besonders groß sein könnte. (3) Es sind auch Fälle gerichtlich überprüft worden, wo falsches Verhalten des Vorgesetzten die delinquente Reaktion des Untergebenen geradezu stimuliert hat165 • Zum Beispiel der militärische Grundsatz: "Hände weg vom Mann!" beruht auf der Erkenntnis, daß insbesondere bei der "handgreiflichen" Beseitigung eines beim Untergebenen festgestellten Mangels dieser zu Tätlichkeiten, Gehorsamsverweigerung u. ä. herausgefordert wird. Dazu kurz ein Beispie1166 : Der Angeklagte, ein Gefreiter, befand sich wegen eines von ihm beantragten Sonderurlaubs auf der Schreibstube. Dort geriet er in einen Streit mit seinen Stafielfeldwebel T., der ihm das Wort verbot und befahl, das Zimmer zu verlassen. Der Angeklagte folgte dem Befehl und schloß beim Hinausgehen die Tür mit einem lauten Knall. Der Staffelfeldwebel holte ihn daraufhin zurück und sagte: "Machst Du das zu Hause auch so?" Wegen des "Du" kam es zu einer neuen Auseinandersetzung. Wiederum befahl der Staffelfeldwebel dem Angeklagten, das Geschäftszimmer zu verlassen. Nun schloß der Angeklagte die Tür betont langsam. Der Staffelfeldwebel folgte ihm. Nach einer erneuten Auseinandersetzung faßte der Staffelfeldwebel den Angeklagten mit der rechten Hand an die Seite und sagte: "Hauen Sie ab!" Der Angeklagte verbat sich das Anfassen. Der Staffelfeldwebel wiederholte seine Geste und seine Worte. Daraufhin schlug ihm der Angeklagte die Faust ins Gesicht, so daß der Staffelfeldwebel zu Boden stürzte. Neben der Strafbarkeit des Angeklagten nach § 25 WStG stellt das Gericht in aller Klarheit fest, daß ein Soldat im Sinne des § 26 WStG unvorschriftsmäßig behandelt wird, wenn ihn der Kompaniefeldwebel duzt und ihn durch Handauflegen in die Richtung zu weisen unternimmt, in die er ihm zu gehen befohlen hat. Das Gericht führt dazu aus: "Objektiv gesehen hat der Zeuge Feldwebel T. den Angeklagten vorschriftswidrig behandelt, wenn er sich, nachdem er diesen wegen seines Anliegens dienstlich beschieden hatte, in eine Auseinandersetzung einließ und dabei, wenn auch infolge des ungehörigen Benehmens des Angeklagten, eine unsachliche und im Umgang zwischen militärischen Vorgesetzten und Untergebenen nicht angebrachte Form wählte und bei der dienstlichen Unterhaltung, die schon gespannt verlief, den Angeklagte duzte, was dieser als eine Herabwürdigung seiner Persönlichkeit betrachten konnte. Weiter hat er sich dadurch vorschriftswidrig verhalten, daß er seinem an den Angeklagten gegebenen Befehl, die Kaserne zu verlassen und sich in seinen Dienstbereich zu begeben, dadurch Nachdruck zu verschaffen suchte, daß er diesen mit der Hand am Körper berührte und in der vorgesehenen 165 Vgl. dazu in etwa AG Hannover, Urteil vom 30.5.1960 - II MS 57/59 -, in: RWStR § 24 WStG, Rd.Nr.1; anders gelagert der Fall Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 22.7.65 - RReg 4 a St 25/65 -, in: NZWehrr 1967, S.79f. 166 Repetiert und zitiert nach AG Oldenburg, Urteil vom 14. 5. 64 2a Ms 40/64 -, in: RWStR, § 26 WStG, Rd.Nr.1.

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Wegrichtung fortzuschieben versuchte. Dieser Vorgang in Verbindung mit den Vorgängen auf dem Geschäftszimmer war geeignet. den Angeklagten in eine begreifliche Erregung zu versetzen und ihn dazu hinzureißen. gegenüber dem Staffelfeldwebel. der sein Dienstvorgesetzter ist. tätlich zu werden. Daß der Angeklagte die Tat im Zustand erheblicher Erregung begangen hat. wird auch dadurch bestätigt. daß er von seinen Kameraden und unmittelbaren Dienstvorgesetzten als sonst ruhiger und besonnener Mensch geschildert wird. gegen dessen Führung im allgemeinen nichts einzuwenden ist166." Das Urteil - gleichermaßen Mahnung für Vorgesetzte wie Untergebene - zeigt damit unter dem obigen Aspekt in aller Deutlichkeit. welche kriminovalente Komponente in der tätlichen Behandlung von Untergebenen steckt. Gleiche Überlegungen gelten für das Verhalten gegenüber betrunkenen Soldaten167• da Betrunkene in der Regel ihre Hemmungen und

damit die Kontrolle über ihr Verhalten verlieren. Wenn ein Vorgesetzter durch einen Verstoß gegen die geschriebenen oder ungeschriebenen Grundsätze über die Behandlung angetrunkener Untergebener eine vermeidbare Straftat auslöst. begeht er einen schweren kriminovalenten Führungsfehler. Darüber hinaus wird die vorläufige Festnahme gemäß § 17 WDO oftmals nach außen hin dadurch manifestiert. daß dem Festzunehmenden überflüssigerweise die Hand auf die Schulter gelegt wird - ein Umstand. der gern zu Tätlichkeiten führt 16S• (4) Auch durch den Vorgesetzten nicht erkannte private Probleme des Untergebenen können für die Delinquenz der Soldaten eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Besonders für die Tatbestände der §§ 15. 16 WStG kann dieser Faktor relevant werden. Nur zwischen den Zeilen spiegelt er sich in den Gründen eines Strafurteils zu § 16 WStG wider 169 : "Bei der Strafzumessung konnte der Fall denkbar milde angesehen werden. Es war eine allerdings wohl nur schwer vermeidbare Härte für den Angeklagten als Familienvater. der nicht etwa. wie viele andere. nur geheiratet hatte. um bei der Bundeswehr mehr Geld zu beziehen. sondern zur Zeit der Einberufung bereits seit Jahr und Tag verheiratet war. daß er in einen Standort so weit ab von seinem Familienwohnort eingezogen wurde. Es kam hinzu. daß seine Familie durch die leichtfertige Voreiligkeit seiner Frau in akute Unterkunftsschwierigkeiten geraten war. Auch fehlte dem Angeklagten offenbar die vertrauensvolle Einstellung zu seinem Disziplinarvorgesetzten. den er erst kurze Zeit kannte. so daß er etwas kopflos diesen pflichtwidrigen und sträflichen Schritt tat. Er zeigte auch Einsicht und Reue. Besondere Erschwerungsgründe waren nicht erkennbar." Vgl. dazu die Richtlinien des BMVg in ZDv 14/3 - Sonderdruck-. SO Weidinger in seiner Anmerkung zum Urteil des AG Oldenburg. a.a.O .• Fußnote 1 S. 170. 169 Auszugsweise zitiert nach AG Braunschweig. Urteil vom 23. 10. 64 - 7 Ms 57/61 ....:.... in: RWStR § 16 Rd.Nr.l b. 167 16S

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

über mangelndes Vertrauen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, das besonders auf dem Sektor der "Dienstentziehung" kriminovalent wirken kann, wird im 6. Teil zur Kriminalprophylaxe besonders eingegangen170• (5) Der Wahl der Führungsmittel kommt ebenfalls eine kriminogene Bedeutung zu. Nur das richtige Führungsmittel in der richtigen Dosierung bleibt ohne potentielle delinquente Gegenreaktion der Betroffenenl71 • Als Führungsmittel nehmen hier die "Erzieherischen Maßnahmen"172 einen besonders wichtigen Platz ein. Durch sie kann der Vorgesetzte im vordisziplinaren Raum schneller und differenzierter auf die Untergebenen einwirken, weil er ohne an einen bestimmten Maßnahmenkatalog gebunden zu sein, auf gute Leistungen oder Mängel schnell mit abgestuften und angemessenen Mitteln, reagieren kann. Eine erzieherische Maßnahme, die einem Fehlverhalten unmittelbar folgt, kann häufig eine größere erzieherische Wirkung haben als eine Disziplinarmaßnahme, die erst nach längerer Zeit vollstreckt werden kann. Schwerwiegendes Fehlverhalten der Soldaten verlangt ohne Ansehen der Person angemessene Maßnahmen; hier ist insbesondere auch § 39 Nr.2 und 3 WStG zu beachten. Andernfalls ist zu befürchten, daß das innere Gefüge der Einheit und das Vertrauen der Untergebenen in eine objektive und gerechte Ausübung der Disziplinargewalt einen nicht wiedergutzumtchenden Schaden erleidet. Dies soll das folgende Beispiel verdeutlichenl73 : Einem Soldaten, der zur Operation einer Phimose in ein Bundeswehrkrankenhaus eingewiesen werden sollte, wurde von einem Stabsunteroffizier auf Veranlassung des Stabsarztes zum Scherz der Stempel der Einheit und der Datumsstempel auf den Hodensack gedrückt. Als Begründung wurde angegeben, die Ärzte im Bundeswehrkrankenhaus müßten wissen, wann die Schamhaare abrasiert worden seien. Der Stabsarzt und der Stabsunteroffizier wurden wegen ihres Fehlverhaltens lediglich ermahnt. Der zuständige Befehlshaber mißbilligte auf den entsprechenden Hinweis des Wehrbeauftragten hin die dargestellte Erledigung des Vorfalles, sah sich jedoch aus Rechtsgründen außerstande ändernd einzugreifen, weil der nächste Disziplinarvorgesetzte im Rahmen seines Ermessens von einer disziplinaren Ahndung abgesehen hatte. Siehe S. 250 ff. Vgl. dazu die empirische Studie von Sodeur, "Führungsstile, Spannungen und Spannungsbewältigung in militärischen Gruppen", in: Beiträge zur Militärsoziologie, S. 300 H. 172 Vgl. die Regelungen des Bundesministers der Verteidigung im Erlaß "Erzieherische Maßnahmen" vom 19. März 1970 - FüS I 3 - Az.: 35050400, VMBI 1970, S. 242. 171 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1974, S.93. 170

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II. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Die Regelungen des Bundesministers der Verteidigung im Erlaß "Erzieherische Maßnahmen" scheinen insbesondere bei den Unterführern nicht immer hinreichend bekannt zu sein; solange ist eine sachgerechte Anwendung nicht ausreichend gewährleistet. Nicht selten wurden auch von Offizieren ,erzieherische Maßnahmen' verhängt, die im Erlaß "Erzieherische Maßnahmen" ausdrücklich als unzulässig aufgeführt sind. Hierzu zwei Beispiele174 : - Vier Soldaten wurden von einem Offizier als Erzieherische Maßnahme zu einem zusätzlichen Wachdienst eingeteilt, weil sie eine Verlustmeldung über Ausrustungsgegenstände im Wert unter DM 10,- abgegeben hatten. Nach Abschnitt V Ziffer 2 b des Erlasses "Erzieherische Maßnahmen" ist jedoch die zusätzliche Einteilung zum Wachdienst nur bei Verstößen gegen die Wachdisziplin zulässig. -

In einem anderen Fall versagte ein Kompaniechef einem Soldaten, der innerhalb von drei Wochen zweimal 25 bzw. 20 Minuten nach dem Wecken noch im Bett gelegen hatte, u. a. den Nachtausgang für einen Zeitraum von mehr als fünf Wochen. Wenngleich zwischen dem Fehlverhalten des Soldaten und der Erzieherischen Maßnahme ein innerer Zusammenhang erkennbar war, trug der Einheitsführer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend Rechnung. Nach Einschaltung des Bataillonskommandeurs und des Vertrauensmannes wurde das Verbot des Nachtausganges auf 16 Tage verkürzt.

Auch kommt es vor, daß Vorgesetzte sich die Anwendung Erzieherischer Maßnahmen häufig zu einfach machen und teilweise pauschal für mehrere Soldaten wegen verschiedenster Dienstpflichtverletzungen und Mängel die gleichen Erzieherischen Maßnahmen verhängen, ohne den Einzelfall genau zu überprüfen und jeweils auf diesen abzustellen1711• Teilweise können solche Entscheidungen unter Zurückstellung gewisser Bedenken zwar noch als zulässig erachtet werden. Angesichts der Vielzahl der dem Vorgesetzten zur Verfügung stehenden erzieherischen Möglichkeiten müssen jedoch stets die angemessenen und zur Beseitigung des Mangels geeigneteren Maßnahmen ergriffen werden. Eine genaue und dem Sinn und Zweck entsprechende Anwendung des Erlasses "Erzieherische Maßnahmen" ist nicht nur deswegen notwendig und zweckmäßig, weil sich die zuständigen Vorgesetzten andernfalls nicht befehlsgetreu verhalten würden, sondern auch weil die fehlerhafte Anwendung von "Erzieherischen Maßnahmen" sich kriminovalent auswirken kann. Gegenreaktionen der betroffenen Soldaten sind denkbar, die die falsche Wahl des Führungsmittels ,korrigieren' sollen, was z. B. zu einem weiteren Disziplinarverstoß führen kann17s• 174

S.25.

Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1974, S.94 und 1975, So der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht 1975, S.26.

17. Dieser Sektor ist bisher bar jeden empirisch abgesicherten Materials,

171

entspricht aber den Erfahrungen des Truppenalltags.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

(6) Abschließend muß nochmals an die rechtswidrige Ausübung der Befehlsbefugnis erinnert werden177, die als Führungsfehler beim Unter-

gebenen eine kriminelle Reaktion auslösen kann. Hier sind Situationen denkbar, in denen der Vorgesetzte - in aller Regel wohl unwissend den Soldaten mit der Befehlsgebung in eine delinquente Verhaltensweise "hineinzieht". Obwohl die Begrenzung der Befehlsgewalt und der Gehorsamspflicht im Gesetz klar formuliert, in ihrer Zielsetzung vernünftig und auch durchaus realisierbar zu sein scheinen, stößt die Normverwirklichung auf "beinahe unlösbare praktische Schwierigkeiten"178. Hierfür dürften mehrere Faktoren in Betracht kommen: Neben der unzureichenden und mangelhaften Gesetzeskenntnis der Soldaten steht das mangelnde Rechtsverständnis, das von den Gesetzgebern und Vorgesetzten oftmals nicht in Rechnung gestellt wird. Wie soll ein Soldat z. B. wissen, was eine "mit Strafe bedrohte Handlung" ist, unter welchen Voraussetzungen eine derartige Handlung strafrechtlich beurteilt oder als "völkerrechtswidrig" betrachtet wird? Selbst wenn aber dem Befehlsempfänger der Unrechtsgehalt eines Befehls bekannt oder bei gehöriger Gewissensanspannung erkennbar ist, fehlt ihm in vielen Fällen die "Zivilcourage" zum Ungehorsam. Er beruhigt sein Gewissen mit dem (oft unrichtigen) Glauben, daß die eigene Verantwortlichkeit ausgeschlossen sei; oder er hegt die (begründete oder unbegründete) Befürchtung, mit irgendwelchen dienstlichen oder außerdienstlichen Nachteilen rechnen zu müssen, wobei bewußter Mißbrauch der Befehlsgewalt oder des Ungehorsams als problematische Grenzfälle gelten mögen. Der psychischen Zwangslage, in der sich der Soldat im Falle der Ausübung eines rechtswidrigen Befehls befindet, wird daher zu Recht mit dem Schuldausschließungsgrund eigener Art in § 5 Abs.1 WStG bzw. mit dem Strafmilderungsgrund des § 5 Abs. 2 WStG vom Gesetzgeber Rechnung getragenl79 • c) Das Vertrauensverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen Die wohl entscheidende Voraussetzung eines guten Führungsstils sowie eines kriminoresistenten Klimas in den Streitkräften stellt das Vertrauensverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen dar. In vielen Situationen des militärischen Alltags kann ein gutes Einfühlungsvermögen der Vorgesetzten in die Psyche ihrer Untergebenen Spannungen abbauen und Frustrationen verhindern. Selbst Soldaten, die am 177 Vgl. dazu den "Torposten-Fall", also die Festnahme eines Unschuldigen auf Befehl eines Vorgesetzten durch einen Untergebenen, obwohl dieser weiß, daß der festzunehmende Soldat unschuldig ist; bei Rostek, S. 70 ff. 178 Rostek, S.3L 179 Vgl. Schötz, § 5 WStG, Rd.Nr. 1 (S. 67).

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Sinn der Bundeswehr und ihres Auftrages zweifeln, können dennoch durch das Vorbild des Vorgesetzten zur Erfüllung ihrer soldatischen Pflichten motiviert werden. Die häufig anzutreffende ablehnende Einstellung vieler Soldaten zum Wehrdienst kann somit zu Gunsten eines Kooperationsverhältnisses abgeschwächt oder sogar abgebaut werden. So könnte es dem Vorgesetzten auch gelingen, das Vertrauen selbst schwieriger Soldaten zu gewinnen und zu erhalten, wenn er sich ständig um ein gutes menschliches Verhältnis zu ihm bemüht, wobei das persönliche Beispiel und die Pflichterfüllung des Vorgesetzten die Untergebenen besonders wirksam überzeugen können. Gerade in der Gemeinschaft des täglichen militärischen Dienstes bestehen für die Vorgesetzten große Chancen, durch eine sachgerechte Anwendung der Grundsätze der Inneren Führung das erforderliche Vertrauensverhältnis herzustellen und damit auch ein kriminoresistentes Klima zu schaffen. Nutzen die Vorgesetzten die Möglichkeiten zum Aufbau einer Vertrauensbasis jedoch nicht, so sind u. a. auch kriminovalente Folgen nicht ausgeschlossen. Schon geringfügige Enttäuschungen können zur Verärgerung und Resignation, wenn nicht sogar zu Widerwillen oder Disziplinlosigkeit der Soldaten führen. So muß beispielsweise vermieden werden, daß Vorgesetzte unmittelbar vor Beginn des Wochenendausganges Wachund Bereitschaftsdienste befehlen, ohne zu versuchen, auf bereits getroffene private Dispositionen der Untergebenen Rücksicht zu nehmen. Daß ein vorbildliches Führungsverhalten der Vorgesetzten eine enorm kriminalitätshemmende Wirkung entfalten kann, sei hier an einem Beispiel aufgezeigt180, das stellvertretend für die zahlreichen, in aller Regel nicht öffentlich bekannt werdenden Fälle stehen soll, in denen Vorgesetzte - ohne auf Befehle zu warten - von sich aus ein Klima des Vertrauens und der Entkriminalisierung schaffen: In einer Luftwaffeneinheit befand sich ein junger Wehrpflichtiger, der erst im Jahre 1967 aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war. Er hatte nur ein Jahr die deutsche Schule besucht und deshalb gewisse Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Er wurde darum von seinen Kameraden gehänselt. Ihn bedrückten zudem wirtschaftliche und familiäre Schwierigkeiten. Dies alles führte zu einer Vereinsamung des Soldaten und verstärkte die Eingewöhnungsschwierigkeiten. Dieser Soldat bat den Wehrbeauftragten, ihn bei seinem Antrag auf Entlassung aus der Bundeswehr zu unterstützen. Aufgrund dessen überprüfungsersuchens veranlaßte der zuständige Staffelchef folgendes: Die Kameraden wurden belehrt und aufgefordert, sich gegenüber dem Soldaten kameradschaftlicher zu verhalten. Der Vertrauensmann der Mannschaften wurde gebeten, in entsprechender Weise auf seine Kameraden einzuwirken. Der Soldat selbst bekam durch einen Offizier 180 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.96.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

der Staffel zweimal wöchentlich regelmäßig Nachhilfeunterricht in der deutschen Sprache. Außerdem wurde der Soldat nur noch im Innendienst verwendet, wo ihm geeignete Tätigkeiten zugewiesen wurden.

Nur in einem Klima des Vertrauens hat es der Vorgesetzte in der Hand, kraft seiner Aufgabe und seines Auftrages, auf die ihm anvertrauten Untergebenen mit allen pädagogischen und didaktischen Mitteln einzuwirken, um die militärische Ausbildung in das rechte Verhältnis zu militärischen Forderungen an Disziplin und Ordnung - und damit zur Delinquenzunanfälligkeit - zu rücken. Hier kann und muß er den Soldaten die Richtigkeit der Wechselwirkung zwischen Disziplinlosigkeit und Prädelinquenz verdeutlichen, hier muß er durch gezielte, an den Erkenntnissen kriminologischer Wissenschaft ausgerichtete Beispiele im Rahmen des Unterrichts "Innere Führung und Recht" der Delinquenzbereitschaft seiner Untergebenen Dämme errichten. Den Fragen der Soldaten nach dem "Wofür", "Weshalb" und "Wogegen" darf der Vorgesetzte hier nicht ausweichen; die "geistige Rüstung" durch den Vorgesetzten soll nicht nur helfen, politische Antworten zu finden, sondern auch helfen, die Bereitschaft zur soldatischen Leistung und die Einsicht zum "angepaßten", also nicht sozialabweichenden Verhalten mit Unwertcharakter, zu fördern. d) Zusammenfassung

Zusammenfassend ist also aus kriminologischer Sicht festzuhalten, daß richtiges oder falsches Führungsverhalten der Vorgesetzten für den Geist und den Ton, der in der Truppe herrscht, in erster Linie verantwortlich sind. Von ihnen hängt es zuvorderst ab, ob sich die kriminalitätshemmende Wirkung der militärischen Disziplin voll entfalten kann oder ob die kriminovalente Komponente des quasi geschlossenen Systems zum Durchbruch kommt. Es erscheint daher gerechtfertigt, - und die große Anzahl konkreter Fallbeispiele sollte dies verdeutlichen -, das Führungsverhalten der Vorgesetzten als wichtigsten, zuvorderst kriminalitätshemmenden, aber auch -fördernden kriminogenen Faktor für Untergebene zu bezeichnen. 8. Amtsautorit!t als krlminovalenier Faktor für Vorgesetzte

a} Es scheint ein öfters zu beobachtender Ausfluß der militärischen Amtsautorität zu sein, wenn Vorgesetzte sich geringschätzig über ihre Untergebenen äußern oder ihre Vorgesetzteneigenschaft und Befehlsbefugnis über das gebotene Maß hervorkehren. Da gemäß Art. 1 Abs. 1 GG die Grundrechte die vollziehende Gewalt und damit auch die Streit-

H. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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kräfte binden, ist jeder Vorgesetzte im militärischen Bereich verpflichtet, alle Beeinträchtigungen der menschlichen Würde eines Untergebenen zu unterlassen. Derartige Handlungen sind häufig auf das überlegenheitsgefühl mancher Vorgesetzten kraft ihrer hierarchischen Position zurückzuführen181 ; sie können bei den Untergebenen ein kriminovalentes Klima schaffen, weil solche Handlungen den Eindruck hervorrufen, die Soldaten würden zum bloßen Objekt herabgewürdigt. Bedauerlicherweise sind solche Verhaltensweisen in den letzten Jahren immer wieder vorgekommen; hierzu zunächst drei Beispiele182 : - Ein Batteriechef hatte einem Soldaten unter Verwendung eines amtlichen Formulars einen "Bundeswehrführerschein" ausgestellt, der den Soldaten berechtigen sollte, das Batteriefahrrad zu benutzen; als Dienstsiegel war der Abdruck eines Geldstückes verwendet worden. In seiner Stellungnahme äußerte sich der Batteriechef, der betroffene Soldat wäre sehr schwierig und hätte häufig unzulängliche Leistung und mangelnde Disziplin gezeigt; eine Kränkungsabsicht hätte nicht vorgelegen. - Ein Hauptmann äußerte bei einer Geburtstagsfeier bei. der Begrüßung gegenüber einem Gefreiten: "Ach, nur ein Mannschaftsdienstgrad; den brauche ich ja nicht zu begrüßen!" - Der Staffelchef einer Rekruteneinheit befahl nach dem Antreten seiner Einheit: "Die Katholiken rechts, Evangelische links raustreten! Rauchzeichengeber, Mohammedaner, Indianer und sonstige hinter die Laterne!" Ein Soldat, der weder der katholischen noch der evangelischen Konfession angehörte, führte diesen Befehl aus und begab sich hinter eine Laterne. Daraufhin rief ihm der Staffelchef zu: "Hab' ich mir doch gleich gedacht, daß Sie dazu gehören!" So ragen von den "Straftaten gegen die Pflichten der Vorgesetzten" § 30 WStG "Mißhandlung" und § 31 WStG "Entwürdigende Behandlung von Untergebenen" in ihrer kriminologischen Bedeutung besonders hervor. Dies zum einen deshalb, weil hier das Dunkelfeldproblem besonders groß sein kann, zum anderen, weil mit der Verletzung der §§ 30,31 WStG in aller Regel eine Verletzung der Würde des Menschen nach Art. 1 Abs. 3 GG verbunden ist, deren Erforschung mit Hilfe der empirischen Sozialforschungsmethoden (z. B. Täter- oder Opferbefragung) die objektiven Grenzen der Dunkelfeldforschung sowie die subjektiven Grenzen der Bewertung der Tat durch Vorgesetzte und Untergebene in Frage stellt. Daß auch diese Straftaten im Kern mit der (zugewiesenen) Amtsautorität (des Ausbilders) zusammenhängen, zeigt folgender folgenschwerer Verstoß gegen § 30 WStGl83: 181 Vgl. dazu auch Mosen (1), S. 32 ff. zum Abbau der traditionalen Autorität sowie Roghmann I Sodeur, "Führereigenschaft im Militär", in: Beiträge zur Militärsoziologie, S. 221 ff. 182 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S. 102 f. und 1975, S. 19 f.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Am 5. 8. kurz vor dem für 6.00 Uhr befohlenen Wecken kontrollierte der Angeklagte die Stellungen; er stellte fest, daß die Wachsamkeit zu wünschen übrig ließ, erhob aber im einzelnen keine Beanstandungen. Von drei Unteroffiziersschülern, die sich auf den Stufen vor dem Eingang zum Unterstand ihr Frühstück bereiteten, erfuhr er auf Frage, daß im Unterstand der Stabsunteroffizier S., der Unteroffizier P. und der dem Zug für die übung als Sanitätsdienstgrad zugeteilte Sanitätsgefreite O. schliefen. Der Angeklagte entnahm daraufhin einem im Vorraum des Unterstandes stehenden Karton eine Nebelkerze DM 1, stellte den Zünder ein und stellte die alsbald gezündete Nebelkerze auf eine der drei untersten Stufen, wobei er zu den drei Unteroffiziersschülern bemerkte, daß "die da drinnen wohl gleich herauskommen" würden. Der sich entwickelnde Nebel wurde vom Wind in den Unterstand getrieben. S. und P. erwachten davon und konnten den Unterstand alsbald verlassen; sie litten unter der Einwirkung des Nebels unter übelkeit mit Brechreiz und mußten sich in der Folge mehrfach übergeben. O. fand den Weg aus dem vernebelten Unterstand nicht mehr aus eigener Kraft; er wurde von zwei Unteroffiziersschülern, die ihre ABC-Schutzmasken aufgesetzt hatten, nach einigen Minuten geborgen und starb am 11. 8. an den Folgen einer durch den Nebel erlittenen Zinkchloridvergiftung. Die kriminologische Erforschung von Vorfällen der Mißachtung der Menschenwürde im militärischen Bereich unter dem Gesichtspunkt der kriminovalenten Einflußgröße "Amtsautorität" wird gerade hier aufzeigen, ob die Wirklichkeit des militärischen Alltags im Einklang mit den gesetzlichen Regelungen steht. b) Amtsautorität entfaltet ihre nachhaltigsten - positiven wie negativen - Auswirkungen in der militärischen Dienstaufsicht. Im Hinblick auf die möglichen Folgen, die eine mangelhafte Dienstaufsicht durch den Vorgesetzten auslösen kann, hat der Gesetzgeber die Dienstpflichtverletzung unter die Sanktionen der Kriminalstrafen gestellt, indem er in § 41 Abs. 1 bis 3 WStG regelt: "Wer es unterläßt, Untergebene pflichtgemäß zu beaufsichtigen oder beaufsichtigen zu lassen, und dadurch wenigstens fahrlässig eine schwerwiegende Folge (§ 2 Nr. 3) verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar. Wer die Aufsichtspflicht leichtfertig verletzt und dadurch wenigstens fahrlässig eine schwerwiegende Folge verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten bestraft." Der Vorgesetzte hat also als Ausfluß seiner Dienstaufsichtspflicht nach § 10 SoldatenG grundsätzlich die Verpflichtung, seine Untergebenen, wenn er anwesend ist, auch zu beaufsichtigen, oder, wenn er nicht anwesend ist, für Beaufsichtigung zu sorgen. Dabei sind Dienstvorschriften, militärdienstliche Grundsätze und Befehle zu beachten184 Danach 183 Auszugsweise repetiert nach BGH, Urteil vom 7.4.1970 69 -, in: NZWehrr 1970, S.148. 184 Schölz, S.262 (Rd.Nr.7).

1 StR 487/

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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kann es auch möglich sein, daß ein Vorgesetzter seine Untergebenen zu beaufsichtigen hat, die sich außer Dienst befinden 185 , und daß ihn eine Beaufsichtigungspflicht auch dann trifft, wenn er selbst außer Dienst ist. Das gilt vor allem für den Disziplinarvorgesetzten (§§ 23-27 WDO)186. Die Erfahrungen des Truppenalltages zeigen dabei, daß dieser Pflichtenkreis manchen Vorgesetzten ausgesprochen lästig ist. Nach dem Motto: "Nach Dienst will ich meine Ruhe haben", fühlen sie sich für das "Freizeitverhalten" ihrer Untergebenen gänzlich unverantwortlich; erst mit dem Dienstbeginn des jeweils nächsten Tages werden zwischenzeitlich erfolgte Normverletzungen und Fehlverhalten der Soldaten "registriert". Häufig genug setzt die mangelhafte Dienstaufsicht aber schon im Dienst von älteren Vorgesetzten gegenüber jüngeren Untergebenen, die ihrerseits aber wieder als Vorgesetzte fungieren, ein. Für die Festigung der Amtsautorität der Vorgesetzten in der Bundeswehr ist es jedoch notwendig, daß gerade die jungen Einheitsführer Hilfe und Unterstützung durch ihre älteren Vorgesetzten erhalten. Diesem Ziel dient insbesondere eine den Gegebenheiten angepaßte und angemessene Dienstaufsicht, die jedoch nicht erst dann einsetzen darf, wenn in einer Einheit bereits erhebliche Schwierigkeiten aufgetreten sind. Auch wenn heute entgegen dem früheren § 147 MStGB die Verabsäumung der Aufsichtspflicht ohne schwerwiegende Folgen i. S. d. § 2 Nr. 3 WStG nicht mehr strafbar ist, so sind doch Fälle denkbar, in denen infolge mangelnder Dienstaufsicht nur durch glückliche Umstände oder umsichtige Reaktionen einzelner in letzter Minute eine schwerwiegende Folge ausgeblieben ist, wie beispielsweise bei der Wartung von Waffensystemen, bei Transport und Verwendung von Munition und Treibstoffen, aber auch während der allgemeinen Grundausbildung mit Gepäckmärschen, Nachtausbildung, Laufschritt bei größerer Hitze187 und Waffendrill188 • Es ist nicht zu verkennen, daß insbesondere der junge Vorgesetzte in der heutigen Bundeswehr bis an die Grenzen seiner Aufmerksamkeit und Kontrollfähigkeit belastet wird. Insofern ist es für die Strafbarkeit mangelnder Dienstaufsicht nach § 41 WStG gerechtfertigt, zusätzlich den Eintritt einer schwerwiegenden Folge (§ 2 Nr. 3 WStG) zu fordern. Jedoch darf das für keinen Vorgesetzten bedeuten, so lange passiv zu 185 186

Vgl. den Fall BGH NZWehrr 1960, S. 84.

Schälz, § 41 Rd.Nr. 7 (S. 262).

187 Vgl. dazu wiederum LG Stuttgart, Urteil vom 9.2.1965 111 KMs 10/64 -, in: RWStR § 41 Rd.Nr.3. 188 Erfreulicherweise taucht § 41 WStG in der dienstintemen Straftatenstatistik der militärischen Straftaten mit etwa 1 Ofo am unteren Ende der

Skala auf.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

bleiben, "bis das Kind in den Brunnen gefallen ist"; die Strafandrohung des § 41 Abs. 3 WStG mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten selbst bei nur fahrlässiger Herbeiführung einer schwerwiegenden Folge signalisiert die kriminovalente Seite, die in mangelhafter Dienstaufsicht liegen kann. e) Amtsautorität als potentieller kriminovalenter Faktor ist hintergründig gelegentlich auch bei der Behandlung von Bescheiden zu erkennen. Trotz der Strafbarkeit des Unterdrückens von Beschwerden (§ 35 WStG) kommt es immer wieder vor, daß Vorgesetzte aufgrund ihres hierarchischen Status glauben, Soldaten, die Beschwerde einlegen wollen, Vorhaltungen machen, ihnen abraten oder sie auf angebliche Nachteile wegen der Beschwerde hinweisen zu müssen189 • Drei kurze Beispielel90 sollen dies veranschaulichen: - Ein Batteriefeldwebel bemerkte beim Stubenappell: "Dies ist die Beschwerdestube ... ich werde eure Stube jetzt besonders beachten!" - Ein Oberfeldwebel erklärte den Angehörigen einer Teileinheit, falls sich noch ein Soldat beschweren wolle, müsse das wegen des Dienstendes bis zum Mittag geschehen. - Ein Kompaniechef äußerte sich wegen einer vom Wehrbeauftragten erbetenen Stellungnahme zu der Eingabe eines Soldaten dem Petenten gegenüber: "Wenn mir einer Arbeit zukommen läßt, werde ich es ihm wiedergeben !" Es ist nicht zu verkennen, daß zahlreiche Soldaten mit unbeschreibbar querulatorischem Hang die Wehrbeschwerde mißbräuchlich nutzen191 • Gruppen außerhalb der Streitkräfte fordern in Flugblättern Soldaten auf, "gehäuft" oder "massenweise" Beschwerden einzulegen, um die Vorgesetzten zu "beschäftigen". So wurde bekannt, daß ein Soldat in dem Zeitraum eines halben Jahres 22 Beschwerden eingelegt hatte, ein anderer Soldat brachte es an einem Tag auf 5 Beschwerden und ein weiterer Soldat, der bereits als "Spezialist für Beschwerden" bezeichnet wurde, legte in einem halben Jahr 45 Beschwerden ein, die überwiegend unzulässig oder unbegründet waren 192 • Gelegentlich schlägt sich als verständliche "Gegenreaktion" dann der Unmut des Vorgesetzten in der Form und im Inhalt von Beschwerde188 In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß eine Umfrage unter ehemaligen Bundeswehrangehörigen ergab, daß 36 °/0 der· Befragten der Meinung waren, wegen einer Beschwerdeeingabe "nachteilige Folgen befürchten zu müssen"; vgl. Mosen (1), S.78. 190 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.105. 191 Vgl. dazu auch: Schreiber, "Über die Tonart in Beschwerden und Eingaben", in: NZWehrr 1972, S. 104 ff. 10! Vgl. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.105.

11. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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bescheiden nieder193. Ein Beschwerdebescheid, in dem sich beispielsweise der Satz findet19': "Die von Ihnen erwähnte Gefährdung Ihrer Ehe (durch eine 14tägige Kommandierung zu einem Lehrgang) halte ich nicht für gegeben und werte sie als fadenscheinige Untermauerung Ihrer Argumente", läßt das falsch verstandene autoritäre Selbstverständnis des Vorgesetzten erkennen, das er sich durch nicht die Sache betreffende Ausführungen anmaßt. Auch kann es vorkommen, daß von Soldaten eingereichte Gesuche teilweise in einer Art und Weise behandelt und beschieden werden, die eine in der heutigen Zeit in vielen jungen Soldaten latent vorhandene Aggressivität gegen jede Autorität fördern und herausfordern muß19S. Die daraus resultierende kriminovalente Wirkung betont ein Gericht in aller Deutlichkeit188 : "Es stellt keine besondere Auffälligkeit dar, daß ein Fehlverhalten (der Vorgesetzten) Weiterungen nach sich zieht und diese wiederum ihren Niederschlag in mehrfachen Beschwerden finden." So zeigt sich in der unangemessenen Behandlung von Bescheiden auch eine vermeintliche amtliche Autorität, die nicht nur für den Untergebenen, sondern auch für den Vorgesetzten selbst kriminovalente Züge trägt. Insbesondere die Beeinträchtigung des Beschwerderechts kann sich als eine besonders ernstzunehmende Verfehlung darstellen, die im gravierendsten Fall mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden kann (§ 35 WStG). d) Ein kriminologisch bisher völlig unbeachteter Sektor im Bereich der Autoritätsproblematik einer Armee197 ist speziell das Subordinationsverhältnis zwischen Offizieren und Unteroffizieren. In modernen Armeen ist heute überwiegend der Unteroffizier der Funktionsträger des gesamten technischen Apparates. Durch den Technisierungsprozeß wurde die Feststellung Friedrichs des Großen: "Aus der Erfahrung weiß man, daß die Güte der Truppen einzig und allein in dem Werthe ihrer Officiere besteht", derart entwertet, daß man heute mit gleichem Recht die Qualität einer Armee am Niveau ihrer Unteroffiziere messen kann. In der Bundeswehr "leiden" auch heute noch manche Unteroffiziere trotz ihrer dominierenden Rolle als technische Spezialisten und Hauptakteure der militärischen Arbeit unter der fehlenden Anerkennung als 113 VgI. dazu die prägnanten Beispiele bei Walz, "Ton und Inhalt von Beschwerden", in: NZWehrr 1974, S. 128 H. 114 Zitiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.105. 195 So Walz, a.a.O., S. 129 mit entsprechenden Nachweisen. 118 VgI. Erster Wehrdienstsenat, Beschluß vom 26.8.1970, in: NZWehrr 1971, S. 24 H. 117 VgI. dazu aus soziologischer Sicht Masen (1), S. 90 ff.

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Partner und kollegialer Mitarbeiter der Offiziere; kriminovalenteGegenreaktionen in und außer Dienst sind nicht völlig undenkbar und damit ausgeschlossen. Zwar besagt eine einschlägige Dienstvorschrift198 : "Die Unteroffiziere unterstützen die Offiziere bei der Führung und Ausbildung der Truppe, im Versorgungs- und Stabsdienst; sie führen auch Teileinheiten und kleine Kampfgemeinschaften." Und trotz der Schaffung des "Fachoffiziers" , also des Soldaten, der aus der Unteroffizierslaufbahn kraft seiner Qualifikation in den Status des Offiziers übernommen werden kann 199, ist oftmals zu beobachten, daß das Verhalten von Offizieren gegenüber Unteroffizieren/Fachoffizieren von einem "Haß-Liebe-Gegensatz" geprägt ist, der als verbale Konzession an deren funktionale Unentbehrlichkeit zu interpretieren ist, wobei manche - gerade technisch nicht versierte - Offiziere dieses Verhältnis von rein traditionalen Autoritätsformen her bestimmen lassen. Beispielsweise ein Soldat, der als einer der ersten Unteroffiziere der Luftwaffe als Pilot eines Jagdbombers vom Typ F-104 "Starfighter" eingesetzt und offiziell in der Presse als gleichberechtigter Partner der grundsätzlich nur von Offizieren gesteuerten Waffensysteme dieser Art gefeiert wird 2oo, erfährt seine praktizierte soziale Inferiorität spätenstens dann, wenn ihm z. B. bei der Wohnungssuche trotz zeitlichen Vorrangs ein Offizier offensichtlich aus Gründen des höheren Dienstgrades vorgezogen wird. Kooperation zwischen dem Verantwortung tragenden Offizier und dem technisch spezialisierten Unteroffizier tut Not, um diesen im Dunkelfeld liegenden Spannungsbereich zu beseitigen. Eine Studie zur Milderung des unverzichtbaren hierarchischen militärischen Sozialsystems im Verhältnis zwischen Offizieren und Unteroffizieren dürfte hier gedeihlich sein für den daraus resultierenden Spannungsbereich, wobei auch überlegungen zur Abschaffung des subaltern anmutenden Begriffes "Unter"-Offizier angestellt werden könnten. e) Unter dem Deckmantel der im Rahmen der Vorgesetztenverordnung dem militärischen Führer zustehenden Autorität201 kommt es immer wieder zu schuldhaften Pflichtverletzungen von Vorgesetzten, die im Kern mit menschlichen Schwächen aufgrund des übergeordneten Status im hierarchischen Aufbau der Armee erklärbar sind. Diese These soll kurz anhand von zwei Beispielen202 erläutert werden: - Ein Kompaniechef hatte zur Wache eingeteilte Soldaten durch Einladungen zum Kartenspiel, zum Würstchenrösten und zu Alkoholgenuß von der HDV 100/1, S. 24. Einzelheiten dazu siehe Weißbuch 1970, Nr. 113 (S. 93 f.). 200 Beispiel aus "Soldat und Technik". Nr.9/1962, S.463. 201 Vgl. dazu die "Verordnung über die Regelung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses" (VorgVO) vom 4. 8. 1956 (BGBI I S.459) in der Fassung vom 6. 8. 1960 (BGBI I S. 648). 202 Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1973, S.94 und 1974, S.91. 188 18D

Ir. Die Bundeswehr in ihrem dienstlichen Delinquenzbild

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Erfüllung des Wachdiente abgehalten. Als ihn der Offizier vom Wachdienst, ein Oberfeldwebel, darauf ansprach, wies der Kompaniechef ihn mit dem Bemerken zurück, dieses Verhalten läge in seiner alleinigen Verantwortung. - Während eines Unteroffizier-Grundlehrganges ließ ein 26jähriger Oberleutnant die Soldaten mit Gewehr in Vorhalte von der Unterkunft zur Ausbildungsstelle und zurück laufen. Dabei fragte er: ..Wollt ihr hierbleiben? Wollt ihr nach Hause? Seid ihr glücklich?" Die Lehrgangsteilnehmer antworteten durcheinander mit ..Ja" und .. Nein". Daraufhin drohte der Oberleutnant an, die Soldaten noch eine Runde um den Sportplatz laufen zu lassen, falls nicht einstimmig mit .. Ja" geantwortet werden würde. Die dem Vorgesetzten verliehene Amtsautorität findet besondere Bewährung bei Aufenthalten auf Truppenübungsplätzen und bei übungen. So ist es wiederholt zu Vorfällen gekommen, in denen Vorgesetzte besondere Hilfsdienste von Soldaten in Anspruch nahmen, ohne daß hierfür hinreichende dienstliche Gründe vorlagen: So hatte beispielsweise nach einer Übung ein Soldat dem stellvertretenden Kommandeur die Schuhe und die Uniform reinigen müssen; während der Übung hatte sich der Offizier jeden Morgen das Wasch- und Rasierwasser vor das Gefechtszelt bringen lassen. Bei dieser, aber auch bei anderen Übungen mußten Mannschaftsdienstgrade Stabsoffizieren das Essen von der Feldküche in Porzellantellern auftr!lgen, während die Soldaten ihre Verpflegung im Kochgeschirr empfingen203 • Die Inanspruchnahme von Soldaten durch Vorgesetzte für besondere Hilfsdienste bei Truppenübungsplatzaufenthalten und übungen oder aus ähnlichem Anlaß dürfte m. E. nur erfolgen, wenn zwingende dienstliche Gründe dies erfordern. Es liegt nahe, daß hier die Grenze zum wehrstrafrechtlich sanktionierten Mißbrauch der Dienststellung gegenüber Untergebenen zu Befehlen, Forderungen oder Zumutungen, die nicht in Beziehung zum Dienst stehen, erreicht ist (§ 32 WStG). Diese kleine Auswahl von Beispielen für Fehlverhalten aufgrund hierarchischer überordnung von Vorgesetzten darf nicht als Hinweis dafür gewertet werden, daß - vornehmlich junge - Vorgesetzte grundsätzlich und generell ihre Macht ausspielen und ihren Führungsaufgaben nicht gerecht werden. Das Gegenteil ist der Fall204 • f) Zusammenfassung

Zusammenfassend ist als aus kriminologischer Sicht festzuhalten, daß die dem Vorgesetzten im Rahmen der Vorgesetztenverordnung verliehene Amtsautorität für diesen selbst zum kriminovalenten Faktor werden kann. Sein sozialer Status im hierarchischen Rollengefüge der Repetiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1972, S.105. So die ausdrückliche Feststellung des Wehrbeauftragten im Jahresbericht 1974, S.92. 203

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

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Armee kann ihn dazu verführen, sich Rechte anzumaßen oder Unterlassungen zu begehen, die in ihrem unteren Bereich noch als prädelinquent eingestuft und gegebenenfalls als Dienstvergehen (z. B. Mißbrauch der Disziplinargewalt, Untätigkeit in der Bearbeitung von Beschwerden) geahndet werden können, in ihrem oberen Bereich aber die Grenze zur wehrstrafrechtlich sanktionierten Delinquenz erreichen (z. B. §§ 30, 31, 41 WStG). "Military authority can cause delinquent forms of leadership" stellt HilZ 205 beiläufig in seiner psychologischen Studie des Militärs aufgrund theoretischer Reflexionen fest. Die skizzierten Erfahrungen des Truppenalltags lassen die Richtigkeit dieser These vermuten. Von altersher bemüht sich die Psychologie um Deutung und Kategorisierung des Machtverhaltensl!06; Aufgabe einer vertiefenden Militärkriminologie sollte es sein, auch den empirisch abgesicherten Nachweis der kriminovalenten Komponente der soldatischen Amtsautorität zu erbringen.

III. Die Bundeswehr in ihrem außerdienstlidlen DelinquenzbUd Die innere Ordnung der Streitkräfte, gemessen an den gesetzlich begründeten Pflichten und Rechten der Soldaten, zeigt sich nicht allein im dienstlichen Erscheinungsbild der Bundeswehr. So kann z. B. ein Soldat in Uniform auch durch sein außerdienstliches Verhalten in der Öffentlichkeit gegen die "Disziplin" verstoßen l • Auch macht der ungewöhnlich hohe Anteil der zivilen und militärischen Straftaten auße1'halb des straffen Dienstbetriebes2 deutlich, daß weitere kriminovalente Faktoren außerhalb der Armee, d. h. außerhalb der eigentlichen Dienstzeit existieren müssen, die den Soldaten negativ beeinflussen bzw. daß im Dienst verborgene kriminovalente Faktoren in der dienstfreien Zeit der Soldaten an die Oberfläche treten. 1. Freizeitverhalten und AlkoholkoDBUJD

Das im Vordergrund stehende Problem militärischer Freizeitmöglichkeiten, d. h. die Gestaltung der dienstfreien Zeit, führt auf die Unfähigkeit vieler Soldaten, ebenso wie vieler junger Menschen im zivilen Bereich der Gesellschaft zurück, ihre freie Zeit neigungsgemäß zu gestalten und zu nutzen3 • Dies zeigt sich in den Ergebnissen einer Befragung von Soldaten in sechs Standorten einer Panzergrenadierdivision4 : Hill / Roback, "Military psychology" (1955), S. 12. Vgl. z. B. Adler, "Menschenkenntnis" (1954). 1 Vgl. BayObLG, Urteil vom 28. 1. 1960 4 St 351/59 -, in: RWStR § 25 WStG Rd.Nr.2. 2 Vgl. dazu die Zahlen im 2. Teil, S.55. 206

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IIr. Die Bundeswehr in ihrem außerdienstlichen Delinquenzbild

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Die Zeit nach Dienstschluß ist für viele kasernenpflichtige Soldaten geprägt von unbefriedigender Langeweile und müdem Desinteresse. Häufig bildet die Alkoholisierung nach Dienst die einzige und anhaltende Art der Freizeitgestaltung.

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Entlegene Standorte unterscheiden sich darin nicht von Großstädten, deren vielfältiges Angebot kaum genutzt wird.

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Es ist weniger ein Mangel an Möglichkeiten und Einrichtungen zur Freizeitgestaltung festzustellen, als vielmehr ein Mangel an Information über diese Möglichkeiten und Einrichtungen.

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Oft fehlt aber auch das Interesse der Soldaten an solchen Informationen. Als Gründe für die Lustlosigkeit und das als unbefriedigend empfundene "Sichtreibenlassen" führen viele Soldaten den anstrengenden militärischen Dienst, die Unsicherheit in der Zeitplanung ("Wachdienste und Nachtausbildung verhindern eine regelmäßige Teilnahme an Weiterbildungskursen!"), schlechte Verkehrsverbindungen am Standort und die geringen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel an. Eine Reihe von Soldaten findet auf diese Frage außer einem Schulterzucken überhaupt keine Antwort, ein Zeichen dafür, daß sie sich mit dem Problem der Gestaltung ihrer freien Zeit nicht befassen. Verbesserungsvorschläge werden von den Soldaten selbst kaum vorgebracht; einige wenige Vorschläge beziehen sich lediglich auf Verbesserung bestimmter Einrichtungen (bessere Filme in den Truppenkinos, aktuelle Bücher in den Truppenbüchereien).

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In den Stellungnahmen der Vorgesetzten zum Freizeitproblem kommen Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit und Resignation zum Ausdruck.

Niedriger Bildungsstand, mangelnde Fantasie, Kontaktschwäche, physische und psychische Ermüdung nach Dienst, geringe finanzielle Mittel oder heimatferner Standort spielen also als Ursachen für die vielerorts festzustellende deprimierende Lustlosigkeit und Leere in der Freizeit der Soldaten eine wichtige Rolle. Eine soziologische Analyse hat ergeben, daß ein überraschend hoher Anteil, nämlich 45 0/0 der kasernenpflichtigen Soldaten - d. h. der Wehrpflichtigen und jüngeren ledigen Zeitsoldaten - die gesamte Dienstfreizeit innerhalb der Kaserne verbringtli• Auch erscheinen die Vor3 Vgl. dazu Scheuch, "Die Problematik der Freizeit in der Massengesellschaft", in: Universitätstage 1965, S. 114 ff.; sowie König, "Die Freizeit als Problem des heutigen Menschen", in: Universitas 16 (1961), S.497. , Zitiert nach Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1974, S. 115 f. Ii

Etienne I Renn I Rasner, S. 45.

12 Fiedler

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3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

stellungen dieser Soldaten von ihrer Freizeitgestaltung recht deprimierend, betrachtet man folgende empirisch hierzu erstellte Tabelle6 : Vorstellungen der Soldaten von ihrer Freizeit Tätigkeit -

Antei17

Wirtschaften besuchen ........................................... Fernsehen ....................................................... (aktiv) Sport treiben ............................................. sich mit Freunden unterhalten ................................... lokale Feste besuchen ..........................•................. ins Kino gehen .................................................. Parties feiern .................................................... mit Familienangehörigen unterhalten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . basteln, reparieren .............................................. Bücher lesen ..................................................... spazierengehen .................................................. fotografieren .................................................... Gottesdienst besuchen ............................................ Haus- oder Gartenarbeit ......................................... Theater/Konzert besuchen .......................................

63 Ofo 36 % 33 Ofo 27 Ofo 26 Ofo 26 0/0 12 0/0 12 % 11 Ofo 6% 6% 5% 1% 1% 1 Ofo

Beim Freizeitangebot in den Standorten muß beachtet werden, daß organisierte Freizeit im allgemeinen auf Ablehnung stößt. Die Freizeit wird als höchst private Angelegenheit betrachtet. Gerade wehrpflichtige Soldaten reagieren empfindlich, wenn sie Reglementierung auch nur vermuten. Nur gelegentlich werden Angebote zur Freizeitgestaltung, die den Interessen der Wehrpflichtigen entsprechen, angenommen und genutzt8 • Die Kaserne als Freizeitraum bedarf also nicht nur der sozialwissenschaftlichen, sondern auch der kriminologischen Erfassung und Analyse, um festzustellen, wie das zunächst soziologische und psychologische Problem "Freizeit" entschärft werden kann, bevor es in eine kriminovalente Konstellation (mit vornehmlich Straftaten unter Alkoholeinwirkung) umschlägt. Es wird daher im 6. Teil (zur Kriminalprophylaxe) ein Freizeitkonzept für die Streitkräfte anhand einschlägiger sozialwissenschaftlicher Untersuchungen vorgestellt werden 9• 2. Freizeit der Soldaten als kriminalltätslördernder Faktor?

Ein möglicher Erklärungsansatz für die außer halb des militärischen Dienstes relativ hohe militärische Kriminalität scheint durch eine Weiterentwicklung der "Kontrasthypothese" von Dumazedier möglich zu Etienne / Renn / Rosner, S.17. Anteil der Beurteilung "sehr häufig". Die Prozentuierungsbasis ist in allen Fällen die Anzahl der Befragten (N = 1874). 8 So Weißbuch 1975/1976, Nr.289 (S. 167). 9 Vgl. S. 238 ff. 6

7

111. Die Bundeswehr in ihrem außerdienstlichen Delinquenzbild

179

sein10• Er sieht Freizeit nicht nur als Gegensatz zum Beruf, sondern auch als "Gegensatz zu den normalen Notwendigkeiten und Verpflichtungen des Alltages"11. Auf den militärischen Bereich übertragen könnte dies bedeuten, daß der Soldat ein gegensätzliches Verhalten zur starken Reglementierung im Dienst, zum einengenden Normen- und Pflichtenkatalog der Armee entwickelt, das in seinen schärfsten Gegenreaktionen in militärischer Delinquenz münden kann. Nach der Kontrasthypothese dient die Freizeit zum Ausgleich der körperlichen und seelischen Belastungen, die der Beruf mit sich bringtl!. Folgerichtig könnte das Fehlverhalten der Soldaten außer Dienst eine Art "Ausgleich" des restriktiven Dienstbetriebesdarstellen, wie umgekehrt die erstaunlich niedrige Zahl der im Dienst vorkommenden Delinquenz letzlich nur den kriminoresistenten Charakter straffer Dienstaufsicht bestätigt. Der so gesehen kriminovalente Faktor Freizeit wird sodann durch den übermäßigen Alkoholkonsum der Soldaten erheblich verstärkt1s• Die im Dienstbetrieb errichteten kriminoresistenten Dämme werden im eigentlichen Sinne des Wortes "weggespült"; das Alkoholverbot im Dienst findet seinen Gegenpol im übermäßigen Alkoholkonsum außer Dienst. Es bleibt Aufgabe der Militärkriminologie, mit Hilfe der Bezugswissenschaften den hier nur skizzierten Erklärungsansatz für das übermäßige Fehlverhalten der Soldaten gerade in ihrer Freizeit wissenschaftlich abzusichern. Die Armee jedoch wird sich vorab darüber Gedanken machen müssen, wie sie eine Eindämmung militärischer Delinquenz außerhalb des Dienstbetriebes in den Bereichen, in die durch Befehl (noch) hineingewirkt werden kann, erreichen könnte. 3. Verkehrsverhalten der Soldaten

Die kriminovalente Wirkung des Kraftfahrzeugwesens spielt bei vollmotorisierten Streitkräften naturgemäß eine große Rolle. Auch im militärischen Leben haben die im allgemeinen Straßenverkehr beobachteten kriminalpsychologischen Zusammenhänge, beispielsweise der "Rausch der Geschwindigkeit" und das mit dem Führen eines Fahrzeuges bei manchen Menschen ausgelöste Geltungs- und Machtgefühl ihre Bedeutung14 • 10 Joffre Dumazedier, "Toward a Society of Leisure", New York 1967, S.14. 11 Im Gegensatz dazu steht die "Kontinuitätshypothese". die Freizeitverhalten als Fortsetzung der im Beruf gewohnten Verhaltensweisen erklärt; vgl. dazu Habermas. "Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit". in: Gerhard Funke (Hrsg.). "Konkrete Vernunft" - Festschrift für Erich Rothacker. Bonn 1958, S. 219 ff. 12

Dumazedier. S. 93.

Vgl. dazu die Ausführungen im Unterkapitel zum situativen Faktor "Alkohol" während der Dienstzeit. S. 149 ff. 13

14

12"

Neudeck. S.355.

180

3, Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

Pro Jahr verunglücken bei insgesamt über 10000 Unfällen15 rund 400 Soldaten außerhalb des Dienstes tödlich16• Durch solche Unfälle kamen in den vergangenen Jahren immer mehr Soldaten ums Leben als durch alle anderen Unfälle im und außer Dienst zusammen. Im Jahre 1975 betrug der Anteil 660/0. Nachdem diese Unfälle seit 1973 rückläufig waren (190/0 bzw. 7 0/0), stieg die Unfallzahl 1975 um 11 0/0. Der Zeitpunkt der Unfälle lag im Jahre 1975: - zu 60 °/0 (Vorjahr 550/0) am Wochenende von Freitag nach Dienst bis Montag zum Dienst, - zu 40 Ofo (Vorjahr 45 0/0) in der übrigen Zeit während der Woche. Hauptfaktor der Verkehrsdelinquenz bei Soldaten dürfte oft die "heimatferne" Ableistung des Wehrdienstes sein; zum Teil werden sogar werktags Entfernungen von 300 km für Familienheimfahrten mit dem Privatwagen zurückgelegt17• Der Wehrpflichtige löst das Problem der Trennung von seinen Primärgruppen so: Das Ende der Arbeitszeit seiner Ehefrau, Braut oder Freundin ist in aller Regel freitags um 17.00 Uhr, das Dienstende des Soldaten ebenfalls. Die Entfernung zwischen Heimatort und militärischem Standort beträgt beispielsweise 150 km. Diese Strecke ist für den motorisierten Soldaten - aus seiner Sicht- in eineinhalb Stunden "zu schaffen". Folglich meldet er sich für 18.30 Uhr fernmündlich zu Hause an. Unter Mitnahme einiger Kameraden, die sich an den Benzinkosten beteiligen, wird die Strecke mit Höchstgeschwindigkeit bewältigt. Dasselbe Verkehrsverhalten spielt sich in umgekehrter Richtung vor dem Dienstbeginn der neuen Woche ab. In letzter Miriute begibt man sich in Nachtfahrten zurück zu seinem Standort, wobei stets Höchstgeschwindigkeiten bei der Zeitplanung zugrundegelegt werden. Die oft katastrophalen Folgen dieser "Wochenendfahrten" sind der militärischen Führung bekannt. Solche "Streßunternehmen", die eine erhöhte Unfallgefahr und allgemein eine gesundheitliche überforderung zur Folge haben, wirken sich auch ungünstig auf die anschließende Dienstverrichtung der Soldaten aus. Der Vorschlag einzelner Kommandeure, das Dienstende der Woche (wieder) auf Samstag-Mittag zu verlegen, dafür aber erst am MontagMittag den Dienstbetrieb zu beginnen, erweist sich nicht als Lösung. Die Zahl der "Geschwindigkeitsfahrten" würde deshalb nicht zurückgehen; außerdem wird die Verflechtung des Soldaten mit seiner zivilen Umwelt nicht erkannt: insbesondere der Wehrpflichtige wird stets bestrebt sein, sich dem gesellschaftlichen Rhythmus seines Zuhause anzupassen, nicht umgekehrt. 16 18 17

Vgl. "Die Welt", Nr.276, vom 27.11.1975,5.2. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, 5.23, 24. Vgl. Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1974, 5.120...

IH. Die Bundeswehr in ihrem außerdienstlichen Delinquenzbild

181

Auch das Aufstellen von eindringlichen Warnschildern mit Unfallund Todeszahlen, Autowracks von schweren Verkehrsunfällen am Kasernentor sowie Belehrungen durch das Führungspersonal haben sich bisher als fruchtlos erwiesenl8 . Im Rahmen der Verkehrsdelinquenz wird auch eine der kriminologischen Besonderheiten des Wehrdienstes deutlich, daß nämlich ein großer Teil der Soldaten, vor allem der Mannschaften, zu den Heranwachsenden im Sinne des § 1 Abs.2 JGG gehört. Diese Tatsache zwingt die Streitkräfte und die Rechtsprechung, aber auch die militärkriminologische Forschung dazu, sich stets und ständig mit der besonderen Lage der Jugend im quasi geschlossenen System Bundeswehr bzw. Kaserne auseinanderzusetzen, wenn nicht unabsehbarer Schaden eintreten soll. 4. PolitiseIle Agitation dureIl Soldaten der Bundeswehrau8erhalb der Dienstzeit

a) Der Vollständigkeit halber soll das destruktive Bild der politischen Werbung für die Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten außer Dienst und außerhalb militärischer Unterkünfte und Veranstaltungen nicht vertuscht werden, weil kriminovalente Einwirkungen nicht ausgeschlossen sind, wenn z. B. unter Mißbrauch des Art. 4 Abs. 3 GG ein Leutnant der Reserve nach Dienstschluß vor dem Kasernentor KDV-Flugblätter an die herausströmenden Soldaten verteilt, oder wenn zwei Gefreite auf dem Bahnhof bei den aus dem Urlaub zurückkehrenden Soldaten fÜr die Kriegsdienstverweigerung Werbung betreibenl9. Allerdings genügt es hier, insoweit auf die Ausführungen zur Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten im Dienst und dem "Erlernen krimineller Verhaltensmuster" im Sinne der SutheTlandschen Theorie der differentiellen Kontakte im KapitelL 7. dieses dritten Teiles!O zu verweisen!l. Richterlich entschieden ist z. B., daß sich auch ein Reserveoffizier, der im Wehrdienstverhältnis stehende Soldaten in Flugschriften der Verhinderung eines möglichen - verfassungsmäßigen - Notstandseinsatzes 18 Der ADAC hat deshalb in Zusammenarbeit mit der Bundeswehr ein Verkehrssicherheitsprogramm für Soldaten entwickelt mit AufklärungsVorträgen und Demonstrationsmaterial für die Verkehrssicherheitsarbeit im Rahmen der Ausbildung und in der Freizeit. Das Verkehrssicherheitsprogramm wurde daher in einer Auflage von 3 000 Exemplaren an 2 000 Einheitsführer des Heeres, 750 der Luftwaffe und 250 der Marine verteilt; vgl. Die Welt vom 27. 11. 1975, Nr.276, S.2. 111 Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung mit dem Beschluß -des BVerwG vom 25.2.1969 - I WDB 1/69 -, in: NZWehrr 1969, S.140 ff. durch J escheck, S. 121 ff. 20 Siehe S. 99 f. !1 Vgl. auch Schwenck, "Strafrecht und Bundeswehr in der politischen Auseinandersetzung", in: NZWehrr 1969, S. 134 ff;

182

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

der Bundeswehr im Innern vorsätzlich zum Mißbrauch des Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung und zum aktiven Widerstand aufruft, sich eines als Dienstvergehen geltenden unwürdigen Verhaltens im Sinne des § 23 Abs.2 Nr.2 SoldatenG schuldig macht22 • Hier wirkt sich § 23 Abs.2 Nr.2 SoldatenG als Verbot aus, aktiven Soldaten in Flugblättern den Mißbrauch dieses Grundrechts zum Zwecke der politischen Demonstration und zur Erzielung politischen Drucks anzuraten, sowie als Verbot, aktiven Soldaten das agitatorische Hinwirken auf rechtswidrige Gehorsamsverweigerung und den aktiven Widerstand für den Fall eines der Verfassung entsprechenden Notstandseinsatzes der Bundeswehr im Innern anzuraten. Diese Begrenzung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung, wie sie sich im u. a. Urteil für den Beschuldigten ergab, ist zur Erhaltung des Gemeinschaftsgutes, dem die genannte Bestimmung dient, erforderlich, nämlich zur Erhaltung einer Gruppe von achtungs- und vertrauenswürdigen, als Vorgesetzte geeigneten Reserveoffizieren und -unteroffizieren und damit letztlich für die Erreichung der vollen Schlagkraft der Bundeswehr im Ernstfall. b) Auch ist die Zahl der disziplinar geahndeten Verstöße gegen die staatsbürgerlichen Pflichten vor dem Hintergrund des § 15 SoldatenG in Form der politischen Betätigung in Uniform wieder leicht gestiegen 23 • c) Das Phänomen der Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten beinhaltet eine interessante soziale Komponente, die sich mittelbar auch auf das außerdienstliche Erscheinungsbild der Bundeswehr auswirken könnte, weil diese Soldaten ihrerseits für kriminovalente Einflüsse von außen auf die Armee in ihrer dienstfreien Zeit besonders anfällig sein könnten. Zunächst ist bei den soldatischen Antragstellern auf Kriegsdienstverweigerung eine eindeutige Überrepräsentanz der höheren Bildungsschichten festzustellen: ihr Anteil beläuft sich (ohne mittlere Reife) in den Vergleichsjahren auf durchschnittlich über 600/0 24 und liegt damit wesentlich über dem Anteil, mit dem dieser Personenkreis in den Musterungsergebnissen aller Wehrpflichtiger vertreten ist (jährlich rund 150/0)21>. Dies verdeutlicht die nachstehende Tabelle über die Schulbildung der soldatischen KDV-Antragsteller2': (Tab. siehe Seite 183) Der Anteil der Abiturienten stieg demnach von 1973 bis 1975 um 5,60/0; der Anteil mit höherer Schulbildung betrug 1973 insgesamt 57,0 %, im Jahre 1975 insgesamt sogar 61,80/0. -

Vgl. dazu ausführlich Erster Wehrdienstsenat, Urteil vom 24.9.1969 I WD 4/69 - , in: NZWehrr 1970, S. 132 ff. 23 Vgl. dazu die Zahlen der Dienstvergehenstatistik, S.44. 24 Jahresbericht über Kriegsdienstverweigerung durch Soldaten 1975, S.5. 25 Nach Auskunft des BMVg FüS 11 - waren es im Jahre 1975 17,1 0/0. 22

III. Die Bundeswehr in ihrem außerdienstlichen Delinquenzbild

Art der Schulbildung

Sonderschule Hauptschule ohne Abschluß Hau tschule mit Abschluß Mitt ere Reife Fachoberschulreife Abitur Höhere Fachschule Fachhochschule Universität

1

1975

1974

0,3 % 1,7 % 18,8 % 17,4 % 8,3 % 51,5 % 0,0 % 1,1 % 0,9 %

0,3 % 1,6 % 22,1 % 14,3 % 7,8 % 51,1 % 0,1 % 1,7 % 1,0 %

183

1973 0,3 2,3 23,2 17,2 8,1 45,9 0,1 2,3 0,6

% % % % % % % % %

Eine repräsentative kriminologische Untersuchung liegt zu dieser Spezialfrage natürlich nicht vor, da es sich bei den soldatischen KDV-Antragstellern schließlich nicht um "Kriminelle" handelt. Auch ist eine empirische Basis, die allein auf das Bildungsniveau, die Religionszugehörigkeit, den Familienstand und das Dienstverhältnis der Antragsteller abstellt, zu schmal, um daraus irgendwelche kriminologisch relevante Rückschlüsse zu ziehen 26 • Aber in Kenntnis der Sutherlandschen Theorie der differentiellen Kontakte gibt dieses Mißverhältnis zwischen gebildeten und "ungebildeten" KDV-Antragstellern im Vergleich zur sonstigen Bildungsstruktur der Truppe zu denken. Die Frage bleibt offen, ob der "Gewissenskonflikt" bei einem kleinen Teil der Soldaten Hand in Hand mit einer besseren Schulbildung und - vermutlich - besseren Persönlichkeits- und Sozialstruktur des soldatischen Antragstellers geht mit der tieferen Ursache, daß diese Soldaten in ihrer dienstfreien Zeit bevorzugtes Objekt der "organisierten Gewissensbetätigung"27 sind, d. h. eine "Infizierung" mit außermilitärischen Einflußgrößen eintritt. d) Insgesamt gesehen ist für den Bereich der politischen Agitation sehr schnell eine strafrechtliche und kriminologische Grauzone erreicht, weil die Meinungsfreiheit zweifellos das Recht gibt, für eine Ausdehnung des Art. 4 Abs. 3 GG zu werben, der Nachweis des Mißbrauchs des Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung zu "Drückebergerei und unzulässiger politischer Agitation"28 beim uniformierten Soldaten meist am Fehlen oder an der Unbeweisbarkeit bestimmter Tatbestandsmerkmale und Motive für die Anwendung der einschlägigen Strafbestimmungen (§§ 89, 109a, l09d StGB; § 18 WStG) scheitern wird. Fest steht nur, daß mittels politischer Agitation durch Soldaten Unruhe und 28 Nur diese sozialen Kriterien werden in den Jahresberichten über KDV durch Soldaten erfaßt. 27 Vgl. dazu das prägnante Beispiel im Jahresbericht des Wehrbeauftragten 1971, S. 34 ff. 28 So der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht 1968, S.8.

184

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

potentielle Delinquenz in die Streitkräfte hineingetragen werden können; sonstige kriminovalente Einwirkungen im Umfeld der Armee sind bisher unerforscht. 5. Krimlnoresistente Auswirkungen des Wehrdienstes Im zivilen Bereich?

Die Bundeswehr ist nicht dazu da, die männliche deutsche Jugend zu disziplinieren, d. h. ihr "Zucht und Ordnung" beizubringen. Die Streitkräfte sind kein Ersatz für die Erziehung in Elternhaus und Schule. Die allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland hat politischen Rang und militärische Bedeutung, weil sie um des Friedens, des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit willen geleistet wird. Die Einwirkungen der sozialen Sondersituation des Wehrdienstes wurden im Rahmen der These teilweiser Entsozialisierung im quasi geschlossenen System der Armee ausgiebig analysiert; an dieser Stelle gilt es nur noch abschließend aufzuzeigen, daß der Dienst in der Bundeswehr viele Soldaten a la longue auch zu normgerechtem, sozialkonformem Verhalten im zivilen Bereich (z. B. im Umgang mit Behörden) motivieren könnte, das sich ebenfalls im außerdienstlichen Erscheinungsbild der Armee niederschlägt. Der ohnehin nur geringere Teil der Soldaten verursacht militärische Delinquenz", der weitaus überwiegende Teil verhält sich normgerecht. Vermutlich könnte dieses Verhältnis auch und gerade für den außerdienstlichen Bereich zutreffen. So könnte es letztendlich auch der Wehrdienst sein, der für manche Soldaten zivile kriminoresistente Verhaltensmuster begünstigt, der sozialstabilisierend wirkt und Störfaktoren der zivilen Umwelt neutralisiert oder nivelliert. "Die Wehrpflichtigen sind am Ende ihrer Dienstzeit nicht nur physisch, sondern auch psychisch belastbarer. Das Urteilsvermögen wird differenzierter. Die jungen Männer zeigen allgemein mehr Verantwortungsfreude. Sie äußern, daß sie sich in der heutigen Welt besser zurechtfinden, und erklären ihre Bereitschaft zur aktiveren Beteiligung am politischen Geschehen. Die Ansicht, Politik sei im Zusammenleben der Menschen ein Störfaktor, ist gegen Ende des Wehrdienstes nicht mehr so ausgeprägt wie zu Beginn30." Unter dem Stichwort der "sekundären Sozialisation" sind derartige Phänomene für die Zeit des Wehrdienstes abgehandelt worden:'!1. Ergänzend ist hier anzumerken, daß die Bundeswehr als eine der Instanzen sekundärer Sozialisation es sein könnte, die zugleich "außerdienstlich" rollenstabilisierend wirkt. Es scheint die vorsichtige Schlußfolgerung - auch aufgrund der Delinquenzhäufigkeitsziffern der Armee im Vergleich zur zivilen Delinquenz (nach unter diesem Gesichtspunkt m. E. 29 Vgl. dazu die Zahlen im 2. Teil, S.47. 30 Weißbuch 1975/1976, Nr.292 (S. 168). 31 Siehe oben S. 80 ff.

IV. Zusammenfassung zum 3. Teil

185

legitimen Ausscheiden der militärischen Straftaten und disziplinaren Prädelinquenz)32 - erlaubt zu sein, daß für einen nicht unbedeutenden Teil der Soldaten der Wehrdienst an sich auch kriminoresistente Wirkungen im außerdienstlichen Bereich entfaltet - diese kriminologische Komponente sollte gerechterweise nicht ungenannt bleiben.

IV. Zusammenfassung zum 3. Teil Militärische Delinquenz beruht auf einem komplexen Bündel verschiedenster Delinquenzfaktoren, die ineinander verflochten sind. Auslöser ist in hohem Maße die spezifische soldatische Gesamtsituation, geprägt vom hierarchischen Aufbau und Autoritätsanspruch der Armee. Die Faktoren reichen für sich allein genommen nicht aus, um militärische Delinquenz erschöpfend zu erklären. Sie sind vielmehr als soziale, personale, situationsspezifische oder systembedingte Gegebenheiten zu werten, die mit dem Bruch des normgerechten soldatischen Verhaltens verbunden sind. Auch wirken die Delinquenzfaktoren interindividuell sehr verschieden. Es muß also vermutet werden, daß sich unter diesen Umständen die einzelnen Faktoren in ihrer Wirkungsweise komplementieren, summieren oder wechselseitig beeinflussen. Das heißt konkret: 1. Die kriminovalenten Faktoren militärischer Delinquenz erhalten ihren speziellen Charakter vor dem Hintergrund der besonderen militärischen Strukturen, insbesondere der Kasernierung der Soldaten in einer reinen Männergesellschaft mit ihren (soldatischen) Leitwerten (wie Disziplin, Kameradschaft, Mut, Härte, Ordnungssinn, Rücksichtnahme), des unverzichtbaren Prinzips von Befehl und Gehorsam, des umfangreichen rechtlichen Normen- und Pflichtenkataloges, des "Waffendienstes" einer Armee in Friedenszeiten (mit simulierter Effizienzkontrolle) und nicht zuletzt der allgemeinen Wehrpflicht mit einer ständigen Fluktuation von etwa 200000 jungen Männern pro Geburtsjahrgang im "kriminalitätsanfälligen Alter". Die soziale Sondersituation des wehrpflichtigen Soldaten kann dabei verschärft werden durch "amtlich veranlaßte" Musterungs- und Verwendungsfehler, heimatferne Einberufung, intellektuelle Unterbeschäftigung, mangelnde Berücksichtigung landmannschaftlicher Herkunft, sexuelle Mangellage, falsches Führungsverhalten der Vorgesetzten usw., ausnahmsweise auch durch eine soziale und/oder personale "Anbrüchigkeit" des Delinquenten selbst, verstärkt durch die spezifisch militärische Situation in den Streitkräften1 • Die relativ hohe Zahl der jährlich begangenen (!) Dienstvergehen, wonach etwa jeder fünfte "Untergebene", d. h. vornehmlich der 32

1

Siehe oben S. 57 fi. Letzteres wird anschließend im 4. Teil gesondert nachgewiesen.

186

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr Wehrpflichtige, eine militärische Dienstpflichtverletzung - bemerkt oder unbemerkt, geahndet oder nicht - begangen hat, bestätigt im Grundsatz den kriminovalenten Charakter der autoritär-hierarchischen Struktur einer Armee (auch in Friedenszeiten) mit ihrem den persönlichen Freiheitsraum des einzelnen Soldaten stark einengenden Normen- und Pflichtenkatalog. Insbesondere dieser Bereich militärischer Prädelinquenz beruht auf system- und situationsbedingten Faktoren, die von der Armee produziert werden und einen Tätertyp zum Vorschein bringen, der - mit latenter Delinquenzbereitschaft erst durch den Wehrdienst delinquent wird, jedoch ohne diesen Dienst in der Armee vermutlich unauffällig geblieben wäre. Die extrem niedrige Zahl der "im Dienst" vorkommenden Delinquenz beweist im Grundsatz die enorm kriminalitätshemmende Wirkung eines von qualifizierten Vorgesetzten sinnvoll gestalteten Dienstbetriebes. Der Verfasser ist daher nicht der Auffassung, daß es bei vordergründiger Betrachtung zunächst so scheine, "als ob jugendliches Fehlverhalten vor dem Kasernentor anderen Bedingungszusammenhängen unterläge als das abweichende Verhalten wehrpflichtiger Soldaten"2. Abgesehen davon, daß die Eingrenzung auf das "Verhalten von Jugendlichen" der Alters- und Personalstruktur der Streitkräfte nicht vollends gerecht wird, hat die Analyse der Faktoren aufgezeigt, daß eben doch in der besonders strukturierten sozialen Großorganisation der Armee komplexe Faktoren für delinquentes Verhalten ihrer Mitglieder vorzufinden sind, die im zivilen Bereich in diesen Erscheinungsformen, Schwerpunkten und Interdependenzen nicht oder bestenfalls nur ähnlich vorzufinden sind, zumindest aber als Delinquenzauslöser kaum zur Wirkung kommen. Delinquentes Verhalten junger Soldaten beruht daher keineswegs immer auf Faktoren, die ebensogut im zivilen Bereich vorherrschen, sondern oft auf Einflußgrößen, die in hohem Maße als situations- und systembedingt bezeichnet werden können3 • Gleichsam ausgleichend dazu wirken die kriminoresistenten Faktoren, vornehmlich die militärische zeitgemäße Menschenführung nach dem Konzept der "Inneren Führung", die der Delinquenzbereitschaft des Soldaten delikthemmend entgegenwirken und die Einbruchstellen für sozialabweichendes Verhalten abdichten oder ein defizi-

2 Feser I Schenk, S.9. Und weiter: "Wir wollen zeigen, daß alles Verhalten von Jugendlichen ähnlichen Faktoren unterliegt" (Hervorhebung vom Verfasser). 3 Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen zur teilweisen Entsozialisation des Soldaten, S. 83 ff.

IV. Zusammenfassung zum 3. Teil

187

täres oder unangemessenes Verhaltensrepertoire, insbesondere des Wehrpflichtigen, durch qualifiziertes Führungsverhalten mildern. Deshalb erscheint es mir eine einseitige Betrachtungsweise zu sein, stets nur den Blick auf die kriminalitätsauslösenden Faktoren in der Bundeswehr zu lenken, statt auch einmal die vielschichtigen individuellen und kollektiven kriminoresistenten - in gewisser Hinsicht oft einzigartigen - Einflußgrößen des militärischen Bereiches aufzuzeigen. Nur auf der Grundlage beider Faktorenarten können m. E. ein geschärftes methodisches Verstehen soldatischer Delinquenz erreicht, militärkriminologische Grundbegriffe und Lehrsätze über delinquentes Verhalten von Soldaten erstellt sowie letztlich eine Theorie, die Erklärungssätze und Prognosemöglichkeiten eröffnet, entwickelt werden. Die soziale Sondersituation (vornehmlich des Wehrpflichtigen) im Wehrdienst bedarf dazu stets einer differenzierenden, nuancenfreudigen ätiologischen Entflechtung, scheinen sich auch "unter dem Strich" die kriminologischen Faktoren des Wehrdienstes die Waage zu halten, d. h. mehr oder weniger gegenseitig zu neutralisieren. 2. Darüber hinaus können auf der Basis der im 2. Teil dargestellten Erscheinungsformen militärischer Delinquenz und im Hinblick auf den jeweils konkreten Delinquenzfaktor folgende weitere ätiologische Erkenntnisse zusammengefaßt werden: a) Die jungen Männer im wehrpflichtigen Alter erfüllen in der übergroßen Mehrheit den militärischen Normen- und Pflichtenkatalog; ein Teil von ihnen fällt aber in der Truppe durch eine latente oder offene Unlust am Dienstbetrieb auf, die durch Mangel an Wehrmotivation, d. h. "Einsicht in die Notwendigkeit" der Dienstpflicht bzw. in den Sinn soldatischer Ordnung und Disziplin hervorgerufen sein dürfte. Diese Gruppe der wehrpflichtigen Soldaten paßt sich nur lückenhaft an das militärische Leben an, obwohl die Sozialisationsbemühungen der Armee dank des Leitbildes des "Staatsbürgers in Uniform" vorbildlich genannt werden können und dieses Leitbild weitestgehend in den Streitkräften verwirklicht worden ist. Der Bundeswehr gelingt es offenbar nicht, auch diesen Wehrpflichtigen Sinn und Zweck des Wehrdienstes begreiflich zu machen. b) Kriminalität nach dem StGB stellt zwar den größten Anteil soldatischer Delinquenz dar4 , aber für diesen Bereich finden sich grundsätzlich keine spezifisch militärkriminovalenten Faktoren, 4

Vgl. die diesbezüglichen Zahlen S.37.

188

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr

zumal es sich hier in der Masse um Delikte im Straßenverkehr handelt, denen kein militärtypischer Charakter zukommt. Eine Ausnahme ist allerdings die "wehrdiensteigentÜInliche" Delinquenz in Form von Vermögensdelikten gegenüber Bundeswehreigentum als sog. "Organisieren" sowie als sog. "Kameradendiebstahl". Hier leistet die anonyme Großorganisation "Bundeswehr" mit ihrem umfangreichen, schwer kontrollierbaren und leicht zugänglichen Materialbestand an Bekleidung, Gerätschaften, Waffen, Munition, Werkzeugen, Treibstoff usw. der Versuchung zur eigenen Bereicherung (am Arbeitsplatz) erheblichen Vorschub. Die Wegnahme bundeswehreigener Sachen unter Soldaten zum Zwecke der Ersatzleistung für einen vom Täter empfangenen, aber von ihm verlorenen Dienstgegenstand weist ein besonders hohes Maß an soldatischem Unrechtsbewußtsein auf, die als schärfster Verstoß gegen die Pflicht zur Kameradschaft gewertet werden muß. Hier wie dort findet sich eine relativ hohe Quote von Tätern, die in diesen Tatformen ein "Kavaliersdelikt" sehen; eine allgemeine Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber fremdem Eigentum und Vermögen mag dafür die tiefere Ursache sein. e) Der militärische Dienstbetrieb einer Armee in Friedenszeiten ohne reale (nur in Manövern simulierte) Effizien;zkontrolle beinhaltet naturgemäß einen gewissen "Leerlauf", der kriminovalente Züge trägt. Insbesondere die bloße Aufrechterhaltung militärischer Bereitschaft wird von vielen ausgebildeten Soldaten subjektiv als "Gammeldienst" empfunden, objektiv hingegen stellt sie die Erfüllung des politischen und militärischen Auftrages der Bundeswehr dar ("Vigilantia pretium libertatis"). Gleichsam der Gegenpol dazu scheint die rapide technische Entwicklung in den Streitkräften zu sein, die vom Soldaten (vornehmlich vom Offizier und Unteroffizier) ein Höchstmaß an Konzentration, "technischer Disziplin", psychischer Belastbarkeit und realer Selbsteinschätzung abverlangt. So könnte auch ein Teil militärischer Delinquenz seine tiefere Ursache oder seinen Auslöser in der den Soldaten überfordernden Kompliziertheit der heutigen Waffensysteme haben. d) Militärische Disziplin hat grundsätzlich einen kriminologischen Januskopf: Einerseits wirkt sie kriminoresistent kraft der Strenge ihrer ubiquitären Anwendung, andererseits aber in erheblichem Umfang kriminovalent, weil mit der militärischen Grundtugend

IV. Zusammenfassung zum 3. Teil

189

strikter Disziplin als Negation stets auch die Möglichkeit der Disziplinlosigkeit gegeben ist. In Einheiten z. B. mit subjektiv empfundenem Elitebewußtsein kann diese kriminovalente Komponente völlig zurückgedrängt werden, sofern nur der Soldat die Notwendigkeit militärischer Disziplin (im Rahmen der Ausbildung) erkennt, also ein inneres Verhältnis zur Institution bzw. zur geforderten Dienstleistung vorhanden ist oder entwickelt wird. e) Im Spannungsfeld der militärischen hierarchischen Struktur kommt dem Prinzip von Befehl und Gehorsam und der Kenntnis bzw. Unkenntnis der (militärischen) Strafbestimmungen besondere kriminogene Bedeutung zu. Insbesondere auch die Lage des psychischen Drucks beim Soldaten, die ein rechtswidriger Befehl auslösen kann, ist in diesem Zusammenhang kriminologisch kaum erforscht. f) Nicht ausschließlich spezifisch militärkriminovalente, aber dennoch situative Faktoren des Wehrdienstes sind die Einflußgrößen Kameraderie, Alkohol, Drogen- und Rauschmittelkonsum, unterdrückte Sexualität usw. in der Armee. Hier wird die individuelle Delinquenz durch situationsbedingte Faktoren von außen unterstützt; ohne den Dienst in den Streitkräften wäre ein Teil der Delinquenten vermutlich nicht einmal strafrechtlich in Erscheinung getreten. Insbesondere zum übermäßigen Alkoholkonsum des Soldaten in der Freizeit läßt sich anmerken, daß hier der Soldat versucht, nicht nur seiner. freien Zeit Herr zu werden, sondern sich einen persönlichen. "Freiheitsraum " sucht und fingiert, der ihm durch die Kasernierung und/oder heimatferne Einberufung vorenthalten wird. So werden die Auswirkungen des strengen militärischen Dienstbetriebes mit oftmals intellektueller Unterbeschäftigung im eigentlichen Sinne des Wortes "ertränkt". Insofern handelt es sich also nur auf den ersten Blick um ein dem allgemeingesellschaftlichen Alkoholproblem gleichgelagertes Phänomen in unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft, die ihrer . Jugend kaum noch Leitwerte vermittelt und ihre Bedürfnisse größtenteils unbefriedigt läßt, jedoch einen Freiheitsraum in einem bisher nicht gekannten Maße (fast gedankenlos) zugesteht. g) Dem Führungsverhalten aller Vorgesetzten kommt für Untergebene besondere kriminogene Bedeutung zu. Das Konzept "Innere Führung" gibt hier Anregung und Unterstützung in den Fällen, in denen Gesetze, Verordnungen sowie Vorschriften und Erlasse einen Spielraum für das Führungsverhalten von Vorgesetzten zulassen. Die Leitsätze der ZDv 10/1 füllen diesen Spiel-

190

3. Teil: Kriminalätiologie der Bundeswehr raum mit konkreten Verhaltensrichtlinien auf dem Gebiet der Menschenführung - in enger Abstimmung und Verknüpfung mit den Grundwertentscheidungen der Verfassung - aus. Werden die engen Beziehungen der Leitsätze zum Wertgefüge des Grundgesetzes gelockert, verkannt oder nicht beachtet, so könnte der Vorgesetzte wesentliche Grundlagen außer acht lassen, die für eine sachgerechte, zeitgemäße und delinquenzhemmende Menschenführung maßgebend sind. Hier stehen die Vorgesetzten des Truppendienstes, also die Kompaniechefs, Zug- und Gruppenführer in besonderer Verantwortung, denn sie tragen die Hauptlast der Erziehungsaufgaben in den Streitkräften. Zuvorderst in den Ausbildungseinheiten werden dem jungen Wehrpflichtigen die ersten und deshalb wohl auch bleibenden Eindrücke über die Bundeswehr und Verhaltensmuster mit Langzeitwirkung vermittelt. Hier tauchen im militärischen Alltag Führungsfehler auf - z. B. die Mißachtung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit des Rekruten, Dulden von Übergriffen durch Unterführer, Stimulierung delinquenter Reaktionen, Nichterkennen privater Probleme des Untergebenen, falsche Wahl der Führungsmittel usw. -, die in die kritische Frage einmünden, ob diese Vorgesetzten die Fähigkeit zur Menschenführung im erforderlichen Umfang tatsächlich immer besitzen oder besitzen können. Verhältnismäßig früh werden diese Vorgesetzten in Verantwortungsbereiche hineingestellt, für die sie nicht in jedem Fall ausreichend vorbereitet werden konnten; übereifer und das an sich lobenswerte Bestreben, alles richtig machen zu wollen, verleitet manchen Vorgesetzten nicht selten zu unbedachten Handlungen, die ihrerseits wiederum kriminovalente Reaktionen der Untergebenen auslösen können. h) Auch zeigt sich Amtsautorität, d. h. der dem Vorgesetzten im Rahmen der VorgVO eingeräumte hierarchische Status oftmals als kriminovalenter Faktor für Vorgesetzte, deren Ausübung bis an die Grenze entwürdigender Behandlung und Mißachtung Untergebener als Verletzung der Würde des Menschen nach Art. 1 Abs. 3 GG reichen kann. Daneben steht häufig mangelnde Einsicht in das militärisch Notwendige und Mögliche sowie das fehlende kriminologische Grundwissen und die Bereitschaft zu erkennen, daß ein untergebener Soldat nicht anders zu behandeln ist, als man selbst behandelt werden will. i) Ansätze für eine mögliche Verbesserung des außerdienstlichen Delinquenzbildes der Bundeswehr bieten die Erkenntnisse über das Freizeitverhalten und den Alkoholkonsum der Wehrpflichtigen nach Dienst sowie ihres Verhaltens im Straßenverkehr. Hier

IV. Zusammenfassung zum 3. Teil

191

muß dem Freizeitproblem und dem der Wochenendfahrten der Soldaten stärkere Beachtung geschenkt werden; aber auch das Problem der politischen Agitation durch Soldaten der Bundeswehr außerhalb der Dienstzeit sollte als potentieller kriminovalenter Faktor im Auge behalten werden. Militärische Delinquenz als Summe aller "Normabweichung" von Soldaten in seinen "zivilen", "systembedingten" und "wehrdiensteigentümlichen" Erscheinungsformen kann nur in einer interdisziplinärenZusammenarbeit der Grund- und Bezugswissenschaften der Kriminologie erschöpfend analysiert werden, will man den deliktanfälligen Soldaten unter Mehrbetonung seiner personalen Werte nicht nur statistisch, idealistisch und juristisch erfassen. Nicht die Tatsache soldatischer Delinquenz an sich, sondern ihr Sosein ist Aufgabe jeder künftigen vertiefenden Kriminalätiologie der Streitkräfte. Die vorliegende Analyse der Faktoren kann daher nur als eine (zwar umfassende) Basis, nicht aber als Endergebnis ätiologischer Forschung im Bereich des Wehrdienstes angesehen werden.

Vierter Teil

Die Bedeutung sozialer und personaler Faktoren für die militärische Delinquenz als situationsspezifisches, d. h. "systembedingtes" Verbrechen (Kriminaldiaknostik) I. dargestellt am Beispiel der Abwesenheitsdelikte Die Zahl der Abhandlungen über "Eigenmächtige Abwesenheit/Fahnenflucht" in einer Armee ist inzwischen sehr hoch. So unumstritten nun freilich die juristischel, historische! und medizinisches Ausleuchtung des Problemkreises der Abwesenheitsdelikte ist, so unvollständig beantwortet' ist aber die Frage, was denn kriminologisch unter "Truppenflucht"5 eigentlich zu verstehen ist. Daher soll zunächst anhand der strafrechtlich geahndeten Delinquenz der Abwesenheitsdelikte nach §§ 15, 16 WStG und zugleich zur Abrundung der These vom "systembedingten Verbrechen" exemplarisch die Bedeutung sozialer und personaler Faktoren für die militärische Delinquenz diagnostiziert werden. 1. Statistischer Hintergrund der Abwesenheitsdelikte

Die Fälle der Eigenmächtigen Abwesenheit und Fahnenflucht waren seit 1968 ständig im Streigen begriffen; seit 1972 ist bei diesen militärischen Straftaten ein Rücklauf um fast 20 % zu verzeichnen6• Dennoch spielen die Abwesenheitsdelikte, die Crux jeder Wehrpflichtarmee, in der dienstinternen Straftatenstatistik der Bundeswehr im Rahmen der spezifisch militärischen Kriminalität noch immer die größte Rolle 7 • So wurden im Jahre 1975 insgesamt 4502 (1974: 5383/1973: 5 159) strafbare Abwesenheitsdelikte nach §§ 15, 16 WStG von überwiegend Vgl. z. B. Rohde, S. 34 ff.; Schölz, § 15 Rd.Nr.2 (S.109). Vgl. z. B. Middendorf, Sattelmayer. S Vgl. z. B. Deussen. , Im Ansatz Fiedler (2). 6 Der Begriff "Truppenflucht" wird als Oberbegrüf für die Straftaten gegen die Pflichten zur militärischen Dienstleistung in Form von Verstößen gegen §§ 15, 16 WStG gebraucht; synonym wird von den Autoren auch der besser nur für die disziplinaren Verstöße zu benutzenden Begriff der "Dienstentziehung" verwendet. e Weißbuch 1975/1976, Nr.273 (S. 157). 7 Siehe 2. Teil, S. 38. 1

2

I. Abwesenheitsdelikte

193

wehrpflichtigen Soldaten begangen. Nach Deliktform, Laufbahngruppen und Kriminalitätsziffer unterschieden, verteilt sich die strafbare Truppenflucht wie folgt8: § 15 WStG "Eigenmächtige Abwesenheit"

Laufbahngruppe

1975

1974

1973

Anzahl

Anzahl

Anzahl

Offiziere Unteroffiziere Mannschaften

115 3021

-

1 99 3577

1 95 3408

Insgesamt

3136

3676

3504

Kriminalitätsziffer 9 )

64,9

74,9

73,8

§ 16 WStG "Fahnenflucht"

Laufbahngruppe

1975

1974

1973

Anzahl

Anzahl

Anzahl

-

Offiziere Unteroffiziere Mannschaften

28 1338

-

34 1672

1 30 1624

Insgesamt

1366

1706

1655

Kriminalitätsziffer 9)

28,3

34,8

34,8

Es ist nicht nur juristisch geboten, sondern auch kriminologisch aufschlußreich, die beiden Begehungsformen der Truppenflucht zu unterscheiden. Aus dem statistischen Straftatenmaterial läßt sich nämlich ablesen, daß für Eigenmächtige Abwesenheit und Fahnenflucht bei prinzipiell gleichen Tatumständen und Motivationsgruppen ein durchaus unterschiedliches Bild hinsichtlich ihrer Schwerpunkte festzustellen istl°. Zunächst ist auffallend, daß bei den Abwesenheitsdelikten insgesamt die überwiegende Zahl der strafbaren Handlungen durch "Fernbleiben" begangen wurde (rund 65 %) und nur in rund 25 % durch "Entfernen von der Truppe". In etwa 10 % der Fälle wurde der Einberufung nicht Folge geleistet, so daß auch diese Fälle dem "Fernbleiben" zuzurechnen sindl l. 8 Dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg. d. h. Verurteilungen bezogen auf 10000 Soldaten der Gesamtpersonalstärke der Bundeswehr. 10 Es ist das Verdienst von Schwenck, daß dieser Sektor militärischer Delinquenz hinsichtlich seiner Tatumstände und Tatmotivationen der dienstinternen Straftatenstatistik des BMVg gesondert signiert und tabelliert wird. 9

13 Fiedler

194

I. Abwesenheitsdelikte

Weiterhin ist in den Vergleichsjahren bezüglich der Eigenmächtigen Abwesenheit (§ 15 WStG) festzustellen, daß die Lösung familiärer oder finanzieller Probleme sowie Angst vor Strafe in mehr als 50 % der Fälle im Vordergrund stand und "Staatsverdrossenheit" nahezu keine Rolle spielte, während die Fahnenflucht (§ 16 WStG) neben den genannten Motivationsgruppen zur Bewältigung ungelöster, aber mehr auf die eigene Person bezogener Krisensituationen in wesentlich stärkerem Maße durch den Wunsch nach Entlassung, eine generelle Abneigung gegen den militärischen Dienst und sonstigen, auf Labilität beruhenden psychologischen Motiven ausgelöst wurde. Der Aufenthalt während der Eigenmächtigen Abwesenheit erfolgte daher überwiegend im familiären Bereich (Eltern, Ehefrau, Verlobte, Freundin), war jedoch in der Mehrzahl der Fahnenfluchtfälle von der primären Sozialisationsgruppe und von deren Wohnort deutlich abgesetzt, da der Täter vermutlich die überredung zur Rückkehr fürchtete. Auch die Altersgruppierung war unterschiedlich: die Täter des § 15 WStG sind in der Mehrzahl zwischen 21 und 25 Jahren alt, die Fahnenflüchtigen dagegen unter 21 Jahren1l!. Damit ergibt sich eine ablesbare Diskrepanz in der Bewertung der beiden Abwesenheitsdelikte, die sich keineswegs nur in unterschiedlich hohen absoluten Zahlen, sondern zugleich in einer Schwerpunktbildung von sehr viel stärker in aktiver "Verdrossenheit" statt nur in passiver "Flucht" liegenden Beweggründen zeigt13. 2. Die sozialpsymologismen Fonmungsergebnisse

a) Anhand der bisher veröffentlichten sozialpsychologischen Forschungsergebnisse zur Abwesenheitsdelinquenz läßt sich die Hypothese aufstellen, daß die Streitkräfte zum Auslöser anderweitig vorgeprägter Verhaltensbereitschaften werden können. Insbesondere die Bundeswehrpsychologen Feser, puzicha und Flach haben durch gezielte Umfragen bei Wehrpflichtigen, die nach §§ 15, 16 WStG "auffällig" geworden waren14, die Truppenflucht zum Ausgangspunkt ihrer Analysen "abweichenden Verhaltens" gemacht16. Anhand 11 Dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg für die Vergleichsjahre 1973 bis 1975. 12 Dienstinterne Straftatenstatistik des BMVg in Fortführung der Auswertung bei Schwenck (2), S. 219 f. 18 Vgl. Schwenck (1), S.10 (17) und die dortigen Schlußfolgerungen aus dem Zahlenmaterial des Jahres 1965. 14 Unter m. E. sachlogisch vertretbarer Außerachtlassung des wehrstrafrechtlichen Unterschiedes beider Tatbestände; a. A. Schwenck (1), S. 17 f. 16 Es ist allerdings das Verdienst von Schwenck, erstmalig bereits im Jahre 1968 spezielle Untersuchungen bei mehreren Hundert Fahnenflüchtigen gefordert zu haben, um Erkenntnisgrundlagen für militärspezifische krimogene Faktoren zu gewinnen.

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

195

dieser Untersuchungen stellt sich der inzwischen weit fortgeschrittene Erkenntnisstand zur Abwesenheitskriminalität komprimiert wie folgt dar18 : (1) Die Genese des Truppenfluchtverhaltens läßt sich nur durch einen multüaktorellen Ansatz aufklären. Die Voruntersuchung konnte verschiedene Faktoren aus den Bereichen soldatischer Gesamtsituation, Privatleben und Persönlichkeit herausstellen. Sie stimmen im wesentlichen mit den Faktoren überein, die in vergangenen Untersuchungen gefunden wurden. (2) Die Anlässe (= Auslöser- oder Situationsfaktoren) zur Truppenflucht sind in der soldatischen Gesamtsituation und/oder in dem privaten Bereich zu sehen. Als entscheidende Determinante zur Dienstentziehung muß hier die Persönlichkeit des Auffälligen hervorgehoben werden. Die Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmales (z. B. geringe emotionale Integration) oder die Ausprägung in einer Merkmalkombination liefern bei einem gegebenen Auslöser oder einem Auslöserbündel die truppenfluchtfördernden Bedingungen. Dieser Ansatz vermag auch zu klären, warum trotz vorhandener Auslöser (z. B. unangemessenem Vorgesetztenverhalten, finanziellen Schwierigkeiten, Partnerkonflikten usw.) nicht alle Soldaten mit Dienstentziehung reagieren. (3) Erst im Zusammenwirken von Situationsfaktoren mit Persönlichkeitsfaktoren kommt Abwesenheitsdelinquenz zustande. Das Reservoire der möglichen Situations- und Persönlichkeitsfaktoren ist verhältnismäßig groß. Untersuchungen werden immer nur diejenigen herausstellen können, die in großer Übereinstimmung bei den delinquenten Soldaten zu finden sind. Art und Anzahl der beteiligten Faktoren können dabei interindividuell verschieden sein. b) Um zunächst eine veranschaulichende Zusammenfassung aller bisher erfaßten Daten und Einzelbefunde zur Täterpersönlichkeit des "Truppenflüchters" in seinem sozialen Rahmen zu versuchen, kann man sich eines in der empirischen Sozialforschung nicht unüblichen statistischen Modells bedienen, um eine Gruppencharakterisierung - hier also die der Abwesenheitsdelinquenten - auf ein einziges Individuum zu projizieren. Diese sogenannte Modalpersönlichkeit existiert fast nie in der Wirklichkeit, sondern nur als quasi gedankliches Modell. Eine derartige - nicht ganz ungefährliche - Typisierung dient aber als Stereotype der Erleichterung gegenseitiger Verständigung. In diesem Sinne soll versuchsweise 17 ein fiktiver Wehrpflichtiger beschrieben werden, der nach §§ 15, 16 WStG straffällig geworden ist: 18 17

13·

Vgl. Flach, S. 15 ff.; 55 ff. Im Anschluß an Ergebnisse empirischer Forschung der Diplom-Psycho-

196

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

W. ist 21 Jahre alt, hat zwei Geschwister, wurde in einer westdeutschen Großstadt geboren, besuchte die Volksschule und blieb beruflich ziemlich erfolglos. Er kommt aus einer Familie, die wirtschaftlich schlecht und ziemlich zerrüttet dasteht, obgleich die Mutter mitarbeitet. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die psychische Entwicklung von W., der nach eigenen Angaben eine nicht sehr glückliche Kindheit und Jugendzeit erleben durfte, aus Protest auch schon einmal von zuhause ausgerückt und später mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Im Gefolge der als unangenehm empfundenen Einberufung tut er sich nicht leicht, sich der fremden Umgebung anzupassen, mit dem knappen Wehrsold auszukommen, Kameraden zu finden, die Anweisungen seiner militärischen Vorgesetzten auszuführen sowie persönlichen Kontakt und Vertrauen zu ihnen zu bekommen und schließlich die ihm zugewiesene militärische Verwendung für sich nutzbar zu machen. Der Grundwehrdienst wird immer stärker unlustbesetzt erlebt, der tägliche Dienst erscheint langweilig und belastend. So kommt es eines Tages nach mehreren disziplinar geahndeten kleineren Dienstvergehen als Kurzschlußreaktion im Anschluß an einen Wochenendurlaub zur eigenmächtigen Urlaubsüberschreitung. W. ist insgesamt gesehen ein psychisch wenig stabiler, knapp durchschnittlich intellektuell befähigter, wenig umstellungsfähiger, mangelhaft leistungs- und pflichtorientierter junger Mann, der zu unangepaßtem sozialen Verhalten neigt. Auf eine illusionslose Kurzformel gebracht, setzt der Dienstentziehungsdelinquent seine bisherige "zivile" unstete und krisenbeladene Entwicklung im militärischen Bereich fort 18 ; die autoritäre Hierarchie der Streitkräfte wird zum ständigen Konflikt, was sich auch in der hohen Rate der Abwesenheitskriminalität gerade im ersten Halbjahr nach Diensteintritt in die Streitkräfte, der Eingliederungsphase des Soldaten, ablesen läßt19 • Diesem Konflikt versucht sich der Delinquent mit einem in der Flucht sich äußernden Fehlverhaltenzo zu entziehen. Ergänzend ist nachzutragen, daß naturgemäß die wenigsten untersuchten Delinquenten sämtliche Merkmale aufwiesen, die im statistischen Modell der Modalpersönlichkeit zusammengefaßt sind. Ebensowenig darf von einem Wehrpflichtigen, der einen mehr oder weniger großen Anteil dieser Merkmale zeigt, gleichsam automatisch gefolgert werden, er werde fahnenflüchtig oder sich eigenmächtig von seiner Einheit entfernen. c) Nach Auswertung der neuesten empirischen Hauptuntersuchung lassen sich insgesamt folgende weitere Ergebnisse zusammenfassen!l: logen Feser und Puzicha, Mitglieder des Dezernats "Wehrpsychologie" beim Bundeswehramt (unveröffentlicht). 18 So schon Fiedler (2), S. 63. 19 Vgl. Weißbuch 1973/1974, Nr.193 (5.142). 20 So im Ansatz Deussen, 5.127.

I. Abwesenheitsdelikte

197

(1) Statistisch konnten fünf prägnante "Auslöserbündel" nachgewiesen

werden: Ein den delinquenten Wehrpflichtigen psychophysisch überfordernder Wehrdienst; enge Bindungen an die Familie oder die Freundin (im Durchschnitt sind delinquente Soldaten älter; zudem ist der Anteil der Verheirateten größer als bei den Nichtdelinquenten); Schulden; starke Bedürfnisse nach Alkohol und/oder Sex; Wahrnehmung des Vorgesetztenverhaltens als stark restriktiv (insbesondere die Urlaubsregelungen).

(2) Weiterhin wurde eine Reihe von biographischen und Persönlichkeits-

merkmalen überdurchschnittlich häufig beobachtet: Ein niedriger sozio-ökonomischer Status, d. h. ein Platz in der Berufs- und Bildungshierarchie unserer Gesellschaft, der sich ziemlich weit unten auf der Skala findet; sog. broken-home-Situationen (unvollständige Familie, schlechtes Eltern-Kind-Verhältnis, Vater Alkoholiker usw.); finanzielle Schwierigkeiten der Familie; Mangel an Selbstkontrolle; fehlende bzw. mangelhafte Willenskontrolle; ein höheres Ausmaß an Depressivität.

(3) Im übrigen ist die Abwesenheitsdelinquenz durch folgende Merkmale

charakterisiert: Die meisten Delinquenten (85 Ofo) entscheiden sich spontan zur Truppenflucht, in den meisten Fällen (51 Ofo) während eines Wochenendurlaubs. Spätestens nach drei Wochen sind mindestens die Hälfte von ihnen freiwillig zu ihren Einheiten zurückgekehrt. Während ihrer Abwesenheit verschweigen fast alle das Unerlaubte der Entfernung von der Truppe. Sie sprechen von "Urlaub" und übernehmen zum Teil (41 0/,,) bezahlte Aushilfsarbeiten.

3. Ausgewählte Falldarstellungen und ihre kriminologisdte Auswertung

Diese sozialpsychologischen Erkenntnisse bedürfen aber noch der Ergänzung durch eine kriminologisch repräsentative Kasuistik, die den Zusammenprall der sozialen und personalen Faktoren des Delinquenten mit einer äußeren Konstellation tiefer ausloten kann. Auf diese Weise soll das Zusammenwirken der individuellen Biographie des Täters und seines sozialen Umfeldes mit der militärspezifischen Situation, also möglichst alle Kontextfaktoren und Umstände für delinquentes Verhalten im Sinne der §§ 15, 16 WStG eines bestimmten Personenkreises diagnostiziert werden. Es werden also im folgenden keine "spektakulären" Fälle zusammengestellt, sondern "typische" Fälle für Abwesenheitskriminalität, wie sie sich jährlich zu Hunderten so oder sehr ähnlich ereignen und den Gerichten zur Beurteilung anstehen22• 21 22

Vgl. Flach, S. 54 ff.

Nach Auswertung des dienstinternen Strafurteilsmaterials zu §§ 15, 16

198

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

Bevor aber repräsentative "Standardfälle" für Eigenmächtige Abwesenheit und Fahnenflucht geschildert werden, muß auf die damit vorgenommene grobe Vereinfachung hingewiesen werden und die Gefahr, an Äußerlichkeiten hängen zu bleiben und eventuelle Vorurteile zu verstärken. Dennoch können ausgewählte Falldarstellungen oftmals besser als quantifizierende, beschreibende Statistiken einen komplexen Geschehensablauf verdeutlichen. In der Regel liegt bei den Abwesenheitsdelinquenten nämlich ein ganzes Motivbündel vor, das durch den aktuellen Auslöser Bundeswehr bzw. Wehrdienst in Kriminalität mündet. Der kriminologisch ungeschulte Laie kann zumeist nur mühsam Biographie, Persönlichkeitsstruktur und Umweltmerkmale sinnvoll und sachlogisch zusammenfügen. Anhand kriminologisch repräsentativer Beispiele wird jedoch auch für den Juristen oder Disziplinarvorgesetzten erkennbar, daß eine rein rechtliche oder nur militärdienstliche Beurteilung der Abwesenheitskriminalität diesem Problem nur zum Teil gerecht werden kann. Erst dann stellt und beantwortet sich die Frage, ob und wie man dem Individuum helfen kann, derartige Konfliktsituationen durchzustehen oder ob man Überlegungen anstellen sollte, diese Delinquentengruppe generell von den Streitkräften fernzuhalten. Im ersten Fall23 macht sich der Pionier W. K. der Eigenmächigen Abwesenheit nach § 15 WStG schuldig, wobei die Tat als "konsequente" Fortführung des bisher sozialabweichenden Verhaltens erscheint:

Der Angeklagte ist von Beruf Betriebsschlosser und seit dem 1. 1. 1973 als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr. Zur Zeit erhält er einen monatlichen Wehrsold von 185,-DM. Von Januar bis März 1973 erhielt er seine Grundausbildung in Minden, im Anschluß war er bis November 1973 in Holzminden stationiert. Im Laufe des November 1973 wurde er dann zu seiner jetzigen Einheit versetzt. Der Grund für diese Versetzung war, daß der Angeklagte wiederholt wegen Verletzung von Dienstpftichten disziplinarisch gemaßregelt worden war. So ist er sechs Mal wegen verschiedener Dienstvergehen (Überschreitung des Nachtausganges, Mißachtung eines Befehls in betrunkenem Zustand, Randalieren, Sachbeschädigung, Bedrohung eines und tätlicher Angriff gegen einen Vorgesetzten) auffällig geworden; zwei weitere Disziplinarverfahren laufen noch. Der Angeklagte hat sich auch bereits wiederholt vor dem Strafrichter (erstmals im Dezember 1968) verantworten müssen. So wurde er vier Mal wegen Straftaten nach §§ 242,223, 142 StGB und § 21 StVG zu Geldstrafen verurteilt. Der Angeklagte wurde im November 1973 zu seiner jetzigen Einheit nach Höxter versetzt. 'Ober den Grund für die Versetzung will er in Holzminden nichts erfahren haben. Sein jetziger Kompaniechef, der Zeuge C., wies ihn WStG (ca. 400 einschlägige Strafurteile) des WBK III, Düsseldorf, der Jahre 1973 und 1974. 23 Auszugsweise zitierte UrteUsbegründung anhand eines Falles aus dem dienstinternen Strafurteilsmaterial zu §§ 15, 16 WStG des WBK III (hier: Urteil des Amtsgerichts Höxter - 2 Ms 1/74 - vom 12. Februar 1974).

I. Abwesenheitsdelikte

199

jedoch bei seinem Eintreffen darauf hin, daß er sich in Holzminden viele Disziplinarvergehen geleistet habe und daß er hier in Höxter eine neue Chance erhalten solle. Danach mußte der Angeklagte wissen, daß seine bisherigen Disziplinlosigkeiten zu seiner Versetzung geführt hatten. Der Angeklagte war über seine Versetzung sehr verärgert, da er in Holzminden zahlreiche Freunde und gute Bekannte gefunden hatte, von denen er nunmehr getrennt wurde. Etwa eine Woche nach seiner Versetzung mußte er zunächst für 2 - 3 Wochen wegen einer Magenkrankheit in stationäre Behandlung in das Krankenhaus nach Minden. Dort wurde er am Freitag, dem 7.12.1973 mit dem Befehl entlassen, am Montag, dem 10.12.1973 in Höxter seinen Dienst wieder anzutreten. Der Angeklagte war auch zunächst bereit, diesem Befehl zu folgen. Nachdem er jedoch am Sonntagabend einen Zug nach Höxter verpaßt hatte, suchte er Bekannte auf und blieb dort bis zum 16. 12. 1973. An diesem Tage kehrte er abends gegen 23.00 Uhr zur Kompanie zurück. Als Grund für diese Eigenmächtigkeit gibt er seine Verärgerung über die Versetzung nach Höxter an ... Der Angeklagte W. K. hat sich offensichtlich durch die bisher gegen ihn verhängten Disziplinarmaßnahmen nicht von erneuter Delinquenz abhalten lassen. Obwohl er aus der Unterredung mit seinem Kompaniechef, dem Zeugen C. wissen mußte, daß er sich die Versetzung nach Höxter aufgrund seiner Disziplinlosigkeiten selbst eingehandelt hatte und obwohl er wußte, daß noch weitere Disziplinarverfahren gegen ihn liefen, blieb er seiner Kompanie eigenmächtig für eine Woche fern. So erscheint seine Tat als ein weiteres Glied der Kette seiner bisherigen Normabweichungen, die mit 16 Jahren begannen (W. K. ist 1952 geboren); sein Verhalten ist labil; die Hemmnisschwelle seiner Deliktanfälligkeit liegt offenbar sehr niedrig. Nach meinen Erkenntnissen ist W. K. ein markantes Beispiel für viele Truppenflüchter, die sich bereits im Zivilleben im Dauerkonflikt mit ihrer Umwelt befanden und mit einer langen Liste von Vorstrafen - zunächst nach dem JGG beurteilt - in die Armee gehen24 , und dort genausowenig dem Normen- und Pflichtenkatalog gewachsen sind; die Bundeswehr ist nur zufälliges "Opfer" ihrer permanenten DelinquenzbereitschaftH • Zugunsten dieser Truppenflüchter wirkt sich - wie auch bei W. K. ihre freiwillige Rückkehr zur Truppe aus26 ; sie sind zumeist geständig und sehen durchaus ihr Fehlverhalten ein, das meist begünstigt wurde durch irgendeinen äußeren Zufall oder Anlaß (hier der verpaßte Zug, der bei W. K. den letzten Anstoß zur Dienstentziehung gab), sie sind aber nicht in der Lage, ihrer Labilität genügend eigene Kräfte entgegen24 Bemerkenswerterweise ist der Faktor "Frühkriminalität" in der Hauptuntersuchung von Flach, S. 16, zwar noch als "Annahme" genannt, findet aber in der folgenden Analyse keine weitere Beachtung mehr. 25 Vgl. dazu Weißbuch 1973/1974, Nr.196 (S.143): "Das Verhalten ist überwiegend auf Mangel an PflichtbewuBtsein zurückzuführen, der sich in der zivilen Gesellschaft als mangelnde Arbeitsmoral zeigt." 28 Weißbuch 1973/1974, Nr.196 (S.143): "Ein Drittel aller Truppenflüchter kehrte freiwillig zur Truppe zurück."

200

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

zusetzen. So reiht sich ein Dienstvergehen an das andere, selbst geringfügige Belastungen des militärischen Dienstes werden zum Anlaß militärischer Dauerdelinquenz21 ; Ahndungen und Bestrafungen scheinen ohne nachhaltige Wirkung auf diese Soldaten zu bleiben. Im zweiten FaH!8 des Jägers W. B. steht eine broken-home-Situation, gepaart mit einem geringen sozio-ökonomischen Status im Vordergrund; der Soldat macht sich der Fahnenflucht nach § 16 WStG strafbar: Der jetzt 20jährige Jäger W. B. entstammt Familienverhältnissen, die teils recht unglücklich liegen. Der Vater spricht schon seit langen Jahren ganz erheblich dem Alkohol zu. Im Jahre 1971 mußte er sich dann operieren lassen und wurde anschließend zu einer Entziehungskur im Landeskrankenhaus Süchteln untergebracht. Der Erfolg der Entziehungskur hielt nicht lange vor. Der Vater ist inzwischen rückfällig. Die Ehefrau betreibt die Scheidung. Der Angeklagte hat noch sieben Geschwister im Alter von 23 bis 14 Jahren. Die Familie bewohnt eine 7-Zimmer-Wohnung. Sie wurde von 1960 bis Ende 1970 vom Sozialdienst Katholischer Männer der Stadt Viersen betreut. Der Angeklagte selbst ist zu Hause aufgewachsen. Er wurde 1961 eingeschult und 1970 mit schlechten Leistungen aus der 7. Klasse entlassen. Die 2. und 6. Klasse mußte er wiederholen. Seine schlechten Leistungen sollen auf Faulheit zurückzuführen sein. Anschließend begann er eine Lehre als Bäcker. Weil er nach seiner Auffassung zu lange arbeiten mußte und es außerdem Mißhelligkeiten mit den Gesellen des Betriebes gab, wurde die Lehre schon in der Probezeit von 3 Monaten beendet. Anschließend begann er seine Lehre als Anstreicher. Weil ihn dieser Beruf nicht interessierte, gab er die Lehre gleichfalls in der Probezeit selbst wieder auf. Anschließend arbeitete der Angeklagte als Dachdeckergehilfe. Er erlitt einen Unfall, der ihn in der Folgezeit zunächst zu 30 % arbeitsunfähig machte. Später arbeitete er nur noch einen Monat als Hilfsschlosser und setzte sich dann nach Köln ab. Hier lebte er in einer Kommune. In der Folgezeit machte er dort die Bekanntschaft mit anderen Jugendlichen, mit denen er später Straftaten beging. Vom 4. Mai 1971 bis zum 12. August 1971 befand er sich in einer früheren Sache in Untersuchungshaft und zwar deshalb, weil er keinen festen Wohnsitz mehr nachweisen konnte. Nach Hause wollte er nicht mehr zurückgehen. Anschließend am 22. August 1971 nahm er Arbeit bei einer Firma in Viersen an. Anschließend arbeitete er wieder als Dachdeckergehilfe bis zur Einziehung zur Bundeswehr. Das Zusammenleben des Angeklagten mit seiner Familie im Elternhaus gestaltete sich häufig schwierig. Der Angeklagte blieb abends sehr lange aus, sprach im übermaß dem Alkohol zu und wurde dann leicht aggressiv. Zu Hause gab es dann Auseinandersetzungen mit der Mutter und den übrigen Geschwistern. Von der Jugendgerichtshilfestelle wird sein Ausbrechen aus dem Elternhaus und seine Kontaktsuche zu Kommunen und Gammlern in 21 Weißbuch 1973/1974, Nr.196 (S.144): "Bei Ich-schwachen Personen führt jedoch die durch die Wehrpflicht verursachte Zwangslage mehr oder weniger zu abweichendem Verhalten." 28 Auszugsweise zitierte Urteilsbegründung anhand eines Falles aus dem dienstinternen Strafurteilsmaterial zu §§ 15, 16 WStG des WBK UI (hier: Urteil des Amtsgerichts Iserlohn - 51 Ms 90174 - vom 1. Oktober 1974).

I. Abwesenheitsdelikte

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Köln mit der gespannten Familiensituation begründet. Die vorgenannte Untersuchungshaft soll auf den Angeklagten eine heilsame Wirkung gehabt haben. Der Angeklagte ist bislang schon verschiedentlich mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. (Es folgt die Aufzählung von drei Verurteilungen nach § 242 StGB, die hier im einzelnen nicht von Interesse sind.) Zum 2. Januar 1974 wurde der Angeklagte in die Winkelmann-Kaserne in Iserlohn zur Ableistung seines Wehrdienstes eingezogen. Bei der Bundeswehr hatte er sehr bald Schwierigkeiten. Er wird als schwungloser und unzuverlässiger Soldat beurteilt, der danach trachtet, Belastungen und der übernahme von Verantwortung aus dem Wege zu gehen. Er soll starken Gefühlsschwankungen unterliegen und recht leicht beeinflußbar sein. Am 11. März 1974 wurde ihm eine Disziplinarbuße von 100,- DM auferlegt, weil er sich am 21. Februar 1974 hatte krankschreiben lassen und anschließend zu seiner Freundin in Holland gefahren war, anstatt zu Hause zu bleiben. Am 18. April 1974 wurde er wieder mit einer Disziplinarbuße von 50,- DM belegt, weil er am 8. April 1974 im Anschluß an eine stationäre Behandlung nicht zur Truppe zurückgekehrt war, sondern einen Tag wegblieb. Am 29. April 1974 kehrte B. aus einem Wochenendausgang nicht zur Kompanie zurück. Vergeblich versuchte die Kompanie, ihn durch die Feldjäger zu ergreifen. Am 8. Juli 1974 erging gegen ihn Haftbefehl. Am 18. August 1974 konnte er von den Feldjägern in Krefeld festgenommen werden. Seit dem 19. August 1974 befindet er sich in Untersuchungshaft. Bis dahin hatte sich B. bei seiner Freundin, bei Bekannten und in der bereits früher erwähnten Kommune in Köln aufgehalten. Bis zur Hauptverhandlung befand sich B. in Untersuchungshaft. Der Angeklagte, der die getroffenen Feststellungen voll einräumt, motiviert sein Verhalten damit, daß die von seinem Kompaniechef geforderte Disziplin ihm zu streng sei und außerdem die Anforderungen in seiner Truppe zu hoch seien. Aus diesen sachlichen und persönlichen Gründen habe er sich abgesetzt, weil er den Wehrdienst nicht habe fortsetzen wollen ... Aus dem bisherigen Lebenslauf des Soldaten W. B. ist ersichtlich, daß ihm seine Familie aufgrund der dort herrschenden schwierigen Situation weder die notwendige Stütze in den Entwicklungsjahren noch die notwendige Orientierung für Pflichtbewußtsein hat vermitteln können. Hier kommen alle negativen Sozialfaktoren zusammen: Alkoholsucht des Vaters, beengte Wohnverhältnisse, Scheidung der Eltern, Frühkriminalität29 • Die schlechten schulischen Leistungen des B. und der Abbruch der beiden Lehrstellen steht im Einklang mit den dienstlichen Beurteilungen durch die Bundeswehr und der ihm zur Last gelegten Straftat. W. B. neigt offenbar dazu, stets bei Belastungen auf eine ihm angenehmere Lebensart auszuweichen. So ist es nicht verwunderlich, daß W. B. in sog. Kommunen Unterschlupf findet und die Kameradschaft 20 Weißbuch 1973/1974, Nr.196 (S.143): "Aus dem Vergleich einer Versuchs- und Kontrollgruppe ging hervor, daß Stellenwechsel, Verlauf der Lehr- oder Anlernzeit, Frühkriminalität und ungünstige soziale Entwicklungsbedingungen wesentliche Indikatoren für abweichendes Verhalten Wehrpflichtiger im Wehrdienst sind."

202

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

von Gammlern sucht. Die fehlende "Nestwärme" der Kindheit drückt sich weiterhin im Ausbruch aus dem Familienverband und dem eigenen übermäßigen Alkoholkonsum aus. Broken-home-Situationen wie diese sind bei einem Großteil der Truppenflüchter geradezu typisch, gepaart in einem geringen Schul-, Berufsund Einkommensniveau, vorausgegangene Heimerziehung des Delinquenten und/oder Streunen als häufige Form der Verwahrlosung im jugendlichen Alter. Für den Jäger W. B. trifft dies fast alles zu und führt zu seiner retardierten geistigen und seelischen Entwicklung und seinen "schädlichen Neigungen" im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG. Zahlenmäßig umfangreich sind auch die Fälle, in der die Truppenflüchter versuchen. sich der Rolle des Soldaten möglichst schnell durch aktive Flucht zu entledigen, um persönliche Schwierigkeiten zu beheben. Mit der pauschalen Kategorie "persönliche Schwierigkeiten" soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die die Delinquenz auslösenden Tatumstände und Motivationen überwiegend im sozialen Umfeld der Betroffenen zu suchen sind. Die Delinquenzfaktoren liegen hier also nicht ausschließlich in der Person des Truppenflüchters oder dessen eigenem sozialen Status. So erwähnen Wehrpflichtige häufig Verschuldung, Ratenzahlungen und allgemeinen Geldmangel als besondere Belastung während der Zeit des Wehrdienstes. Familiäre Konflikte innerhalb der Elternfamilie oder in der eigenen Familie treten nicht selten hinzu: Streitigkeiten mit den Schwiegereltern, Krankheiten von Familienangehörigen, emotionale Belastung der eigenen jungen Familie durch große Distanz zwischen Wohnung und Dienstort. Besondere Erwähnung bedarf dann auch noch eine Gruppe von Partnerkonflikten: Untreue der Ehefrau, Probleme mit dem Sexualpartner aufgrund längerer zeitlicher Trennung und dergleichen. Dazu nun je ein Beispiel dafür, wo Geldschwierigkeiten, familiäre Belastungen und Partnerkonflikte für die Delinquenz der betroffenen Soldaten mitauslösend gewesen sind: Der Angeklagte hat den Beruf eines Kellners erlernt. Jetzt arbeitet er als Postfacharbeiter bei der Deutschen Bundespost in Düsseldorf mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 1 500,- DM zuzüglich 430,- DM Kindergeld. Die erste Ehe des Angeklagten ist geschieden worden. Aus der geschiedenen Ehe hat der Angeklagte 2 Kinder, für die er monatlich nach seinen Angaben 300,- DM Unterhalt zahlen muß. Der Angeklagte ist wieder verheiratet. Aus seiner zweiten Ehe hat er ebenfalls 2 Kinder. Die Ehefrau des Angeklagten ist nicht berufstätig. Der Angeklagte ist als bisher nicht bestraft anzusehen. Für die Zeit vom 1. April 1973 bis zum 30. Juni 1974 ist der Angeklagte als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr einberufen worden. Aus familiären und wirtschaftlichen Gründen ist er von der Bundeswehr am 31. März 1974 entlassen worden.

I. Abwesenheitsdelikte

203

Am 30. Oktober 1973 kehrte der Angeklagte aus einem Wochenendurlaub nicht zu seiner Truppe zurück. Die Ehefrau des Angeklagten teilte der Kompanie fernmündlich mit, daß ihr Mann zu Hause bleiben und arbeiten müsse, da das Geld von der Bundeswehr nicht ausreiche. Der Angeklagte hatte nach seinen Angaben damals 250,- DM Unterhalt an seine beiden Kinder aus seiner ersten Ehe, 200,- DM Miete und noch sonstige Verbindlichkeiten zu zahlen. Der Angeklagte arbeitete als Kellner. Am 13. November 1973 wurde der Angeklagte von den Feldjägern festgenommen und zur Truppe zurückgebracht. Seit der Zeit hat der Angeklagte bis zu seiner Entlassung am 31. März 1974 seinen Dienst ordnungsgemäß verrichtet ...

Dieser dritte Fall des Soldaten H. 0.30 könnte moralisierend als Beispiel für zeitgemäße Güterabwägung der heutigen Generation abqualifiziert werden. Aber damit blieben außerhalb dieses Blickwinkels die bekannten Probleme des derzeitigen Einberufungssystems, der noch immer unzureichenden sozialen Sicherung junger Familien oder Fehlen von Kindergärten und die oftmals schleppende Bearbeitung von Eingaben bei den zuständigen Behörden oder die Lage auf dem Arbeitsmarkt für die Ehefrauen der Delinquenten. Sicher ist doch, daß gerade für die junge Familie durch die Einberufung des wehrpflichtigen Ehemannes und Vaters eine kritische wirtschaftliche Lage entstehen kann. Ganz gleich ob und wie die oben skizzierten staatlichen Unzulänglichkeiten später einmal gelöst werden und im Fall des H. O. durch vorzeitige Entlassung aus der Bundeswehr gelöst wurden, hat H. O. die Bundeswehr mit einer Vorstrafe verlassen mit dem Problem, seine Reintegration im zivilen Berufsleben zu erreichen. Anders gelagert ist der vierte Fall\'l1 des Soldaten E. B., wo akute familiäre Belastungen als wesentlicher Faktor seiner Delinquenz vorzufinden sind: Der zur Zeit der ihm zur Last gelegten Straftat 20 Jahre und 4 bzw. 8 Monate alte Angeklagte ist gemeinsam mit drei Geschwistern aufgewachsen. 1960 starb der Vater, der von Beruf Bergmann gewesen war. 1961 heiratete die Mutter den verwitweten Elektriker K. Sch., der drei Kinder aus seiner ersten Ehe hatte. Der zweiten Ehe der Mutter entstammen zwei weitere Kinder. Die Familie mußte zeitweilig in recht beengten Wohnverhältnissen leben. Der Angeklagte wurde 1959 eingeschult. Nach der 6. Klasse kam er auf die Sonderschule, aus der er im Sommer 1967 entlassen wurde. Eine Lehre als Kraftfahrzeugmechaniker mußte er im 2. Jahr abbrechen, weil er den theoretischen Anforderungen nicht gewachsen war. Seit 1969 arbeitete er als angelernter Schlosser bei der Firma S. in Kettwig mit einem monatlichen Netto-Verdienst von zuletzt 800,- bis 900,-DM. 30 Auszugsweise zitierte Urteilsbegründung aus dem dienstinternen Strafurteilsmaterial zu §§ 15, 16 WStG des WBK III (hier: Urteil des Schöffengerichts Detmold - 9 Ms 1/74 - vom 9. August 1974). 31 Auszugsweise zitierte Urteilsbegründung aus dem dienstinternen Strafurteilsmaterial zu §§ 15, 16 WStG des WBK III (hier: Urteil des Jugendschöffengerichts Essen - 52 Ms 32/74 - vom 5. Juni 1974).

204

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

Anfang Oktober 1972 heiratete der Angeklagte, nachdem er vorzeitig für volljährig erklärt worden war. Anlaß der Heirat war der Umstand, daß er von seiner Arbeitgeberin eine 3-Zimmer-Wohnung zur Verfügung erhielt. Die Ehefrau, die jetzt 20 Jahre alt ist, stammt aus einer 1969 geschiedenen Ehe und ist gemeinsam mit drei Brüdern aufgewachsen. Nach ihrer Entlassung aus der Schule arbeitete sie bis 1972 als Hausgehilfin. Ihre Stellung gab sie dann im Hinblick auf ihre Heirat auf, weil sie verständlicherweise nicht mit der Familie ihrer Arbeitgeberin für längere Zeit nach Österreich fahren wollte. Eine neue Stelle nahm sie nicht mehr an. Am 1. Oktober 1973 wurde ihr Sohn Stephan geboren. Der Angeklagte wurde zum 1. 4. 1973 zur Bundeswehr eingezogen. Er gibt an, bereits vor der Einberufung beantragt zu haben, seine Wehrpflicht in der Nähe von Kettwig abzuleisten. Zunächst mußte er jedoch in Hildesheim, Hannover und Wesendorf bei GUhorn dienen. Dies belastete die Ehe sehr. Zum 18.119.8.1973 fuhr der Angeklagte zum Wochenend-Urlaub nach Hause. Auf Bitten seiner Frau fuhr er am 19. 8. nicht zurück, fuhr vielmehr dann mit seiner Frau zu einer Schwägerin nach Gütersloh. Auch dort wollte er seine Frau, wie er sagt, aus Eifersucht nicht allein lassen; am 27.8.1973 brachte er seine Frau nach Kettwig zurück und kehrte erst an diesem Tag zu seiner Einheit zurück. Im September hatte er bis zur bevorstehenden Geburt seines Sohnes Urlaub. Auch nach dessen Geburt am 1. 10. 1973 blieb er in Kettwig, weil seine Frau ihn darum bat. Erst am 17.10.1973 kehrte er zu seiner Einheit zurück. Weil seine Frau im November sich erneut im Krankenhaus stationär behandeln lassen mußte, erhielt er Sonderurlaub zur Versorgung seines Sohnes bis zum 28. 10. 1973. Am 18. 10. 1973 kehrte Frau B. aus dem Krankenhaus nach Hause zurück. Der stellvertretende Kompanie-Chef, Oberleutnant G., hatte der Hausärztin Frau Dr. Schr. in Kettwig mitgeteilt, daß der Angeklagte bis zum 2. 1. 1974 Urlaub erhalte. An diesem Tag sollte er bei seiner Einheit anrufen. Das tat er erst einen Tag später, erreichte jedoch nur den Unteroffizier vom Dienst, der ihm nichts Bindendes sagen konnte. Am gleichen Tag erhielt er ein Telegramm, daß er sich sofort bei seiner Einheit zu melden habe. Er blieb jedoch zu Hause, bis er am 10. Januar 1974 von den Feldjägern abgeholt wurde. Ein Fürsorger der Bundeswehr hatte ihn vor Weihnachten ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß er am 28. 12. wieder zum Dienst erscheinen müsse, wenn er nichts anderes von seiner Truppe erfahren habe. Mitte Januar wurde der Angeklagte dann zu einer Bundeswehreinheit in Essen-Kray versetzt und hat jetzt wesentlich häufiger Gelegenheit, nach Hause zu fahren. Weitere unerlaubte Entfernungen sind seitdem nicht bekannt geworden. Von seinem Kompanie-Chef wird der Angeklagte zusammenfassend mit ausreichend beurteilt ... Die Täterpersönlichkeit des B. ist charakterisiert durch relativ niedrige Intelligenz und biographische Risikofaktoren, wie die unvollständige Familie, das Aufwachsen in beengten Wohnverhältnissen mit Geschwistern aus einer zweiten Ehe sowie sein eigenes Berufsversagen. Militärspezifische Belastungen scheinen überhaupt keine Rolle zu spielen, wenn man einmal von der nicht unwichtigen Tatsache absieht, daß durch die Einberufung die Ehepartner getrennt worden sind.

I. Abwesenheitsdelikte

205

Die ungünstige Entwicklung des Wehrpflichtigen sowie seine gegenwärtige familiäre Lage führten offenbar ganz wesentlich zu den Straftaten nach § 15 WStG. Sowohl der Soldat als auch seine Ehefrau haben nach der Darstellung des Gerichts in etwa vergleichbare Biographien. Es erscheint denkbar, daß das Motiv der Rollenhilfe hier wesentliches gruppenbildendes Merkmal war: Die jungen Ehepartner erwarteten gegenseitige Hilfe bei der Erfüllung der jeweiligen Rollenaufgaben als Ehemann und Vater bzw. als Ehefrau und Mutter. Zu den unbewältigten ehelichen Rollenaufgaben kamen die von beiden Partnern mitgebrachten und vermutlich unverarbeiteten personalen Probleme hinzu, so daß daraus fast folgerichtig delinquentes Verhalten des Wehrpflichtigen resultieren mußte, als diese problemschwangere Ehesituation durch die unfreiwillige Trennung der Ehepartner von außen zusätzlich belastet wurde. Die Tatsache des normgerechten Verhaltens nach einer heimatnäheren Dienstleistung des Soldaten erhärtet diese Diagnose. Der fünfte Fall3l! steht wie die anderen Fälle für häufig anzutreffende persönliche Schicksale wehrpflichtiger Soldaten, die durch ihr Fehlverhalten mit den §§ 15, 16 WStG in Konflikt geraten sind. Der jetzt 22 Jahre alte Angeklagte M. K. wurde mit 6 Jahren eingeschult und besuchte 8 Jahre die Volksschule. Er blieb in der 4. und 6. Klasse sitzen und wurde aus der 6. Klasse entlassen. Anschließend machte er eine 3jährige Lehre als Seitenspleißer, die er mit der Facharbeiterprüfung abschloß. Er arbeitete in der Folgezeit noch weitere 5 Jahre bei seiner Lehrfirma. Bevor er dann Anfang April 1972 zur Ableistung seines Wehrdienstes zur Bundeswehr eingezogen wurde, wechselte er zweimal seine Arbeitsstelle, und zwar aus finanziellen Gründen; zuletzt verdiente der Angeklagte etwa 1400,- DM netto. Am 4.9.1970 heiratete der Angeklagte; seine Ehefrau ist jetzt 19 Jahre alt. Das gemeinsame Kind wird im Juli dieses Jahres 4 Jahre alt. Der Angeklagte gehört zur Zeit der 2. Batterie des Flugabwehrbataillons in Borken an. Sein Wehrsold beträgt monatlich 141,- DM. Im Wege der Unterhaltssicherung erhält die Ehefrau des Angeklagten für sich und ihr Kind monatlich 612,- DM. Dieser Betrag ist deshalb nicht höher, weil der letzte Arbeitgeber nach den eigenen Angaben des Angeklagten die Lohnsteuerkarte und weitere Unterlagen vernichtet hatte, so daß der Verdienst des Angeklagten nicht in voller Höhe nachgewiesen werden konnte. Der Angeklagte mußte einen Wehrdienst von 15 Monaten ableisten. Wegen der mehrfachen Abwesenheit von der Truppe muß er jedoch nachdienen, und zwar nach der letzten Nachdienverfügung vom 15.1.1974 noch 69 Tage bis zum 17.4.1974. (Es folgt die Vorstrafe nach § 15 WStG und die Aufzählung der Zeiträume erneuter Abwesenheit.) Der Angeklagte gibt zu, in den erwähnten Zeiträumen seiner Einheit ferngeblieben zu sein. Er läßt sich weiter folgendermaßen ein: Bis November 1972 habe er seinen Wehrdienst ordnungsgemäß versehen. Die späteren 3% Auszugsweise zitierte Urteilsbegründung aus dem dienstinternen Straftatenmaterial zu §§ 15, 16 WStG des WBK!II (hier: Urteil des Schöffengerichts in Borken (Westf.) - 47 Ms 105/73 - vom 13. Februar 1974).

206

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

Vorfälle seien im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß er familiäre Schwierigkeiten bekam. Da zu diesem Zeitpunkt die vorhandenen Ersparnisse aufgebraucht gewesen seien, habe seine Ehefrau häufig Streit angefangen, weil zu wenig Geld dagewesen sei. Seine Ehefrau habe selbst nicht arbeiten können, da sie das damals noch nicht 3 Jahre alte Kind noch nicht in den Kindergarten bringen konnte, und weil die Mutter und auch die Schwiegermutter des Angeklagten das Kind tagsüber nicht aufnehmen konnten, weil seine Schwiegermutter selbst berufstätig sei und seine Mutter schon ein gelähmtes Kind habe betreuen müssen. Aus diesem Grunde habe seine Ehefrau ihn aufgefordert zu arbeiten, um so für mehr Geld zu sorgen. Deshalb habe er während der Zeiträume, in denen er vor dem 4. 6. 1973 seiner Einheit ferngeblieben sei, eine Arbeit aufgenommen und Geld verdient. Zu den hier in Rede stehenden Vorfällen sei es dann aber wegen persönlicher Schwierigkeiten gekommen. Als er im Juni 1973 nach Hause gekommen sei, habe es Krach gegeben. Sie habe ihm vorgehalten, was er zu Hause wolle, und gesagt, sie denke, er sei verurteilt und sitze hinter Gittern. Wegen dieses Verhaltens seiner Ehefrau und auch deshalb, weil seine Ehefrau das Kind allein in der Wohnung ließ, habe er die Nerven verloren und sich 13 Tage herumgetrieben. Als der Angeklagte dann später im Juli 1973 unerwartet nach Hause gekommen sei, habe er seine Ehefrau zusammen mit einem anderen Mann im Bett überrascht. Deshalb habe er völlig die Fassung verloren. Er habe sich in der Folgezeit wieder herumgetrieben und bei Freunden oder seinen Eltern geschlafen. Während der Verbüßung des Disziplinararrestes im August 1973 habe er über den Rechtsanwalt seiner Ehefrau mitgeteilt bekommen, daß jene Scheidungsklage erhoben habe. Nach Verbüßung des Arrestes habe er zunächst wieder nach Hause gewollt, um nach dem Kind zu sehen, weil er befürchtete, daß seine Frau das Kind wieder allein in der Wohnung lassen würde. Seine Ehefrau habe ihn jedoch nicht wieder in die Wohnung hineingelassen. Er sei nervlich am Ende gewesen und deshalb nicht wieder zu seiner Einheit zurückgekehrt. Er habe in der Folgezeit gelegentlich bei seinen Eltern übernachtet und Gelegenheitsarbeiten ausgeführt, um Geld zu verdienen ... In diesem vergleichsweise einfach gelagerten Fall tritt der Partnerkonflikt deutlich zutage. Der Kanonier M. K. bringt kein Wort der Anschuldigung gegen militärische Vorgesetzte vor; auch versucht er nicht, sein Verhalten durch Ausflüchte irgendwie zu beschönigen. Die Fälle seiner Abwesenheit beruhen offensichtlich auf dem Verhalten seiner Ehefrau und seiner Enttäuschung darüber. Nur allzuoft bestehen junge Ehen die belastende Situation der Trennung nicht, vornehmlich wenn der eine oder andere Partner zu labilen Reaktionen neigt. Nach meinen Feststellungen dürften in ca. 30 % der Fälle verheirateter Truppenflüchter das zwischenmenschliche Verhalten der Ehefrau, Verlobten oder Freundin stets mitentscheidendes Moment für die Delinquenz dieser Soldaten gewesen sein. Wie bei der stets multifaktorellen Determiniertheit der Delinquenten nur noch der aktuelle Auslöser Bundeswehr, d. h. die Wehrpflicht hinzuzukommen braucht, um in der Dienstentziehungskriminalität zu mün-

I. Abwesenheitsdelikte

207

den, sei nochmals abschließend am sechsten Fallal! des Panzerschützen K. V. aufgezeigt, der sich von der Truppe i. S. d. § 15 WStG in vier Fällen entfernte: Der im Zeitpunkt der Hauptverhandlung schon 21jährige Angeklagte kommt aus Verhältnissen, die in ihrem äußeren Bereich geordnet erscheinen. Aus der Ehe seiner Eltern sind 3 Kinder hervorgegangen. Die beiden älteren Geschwister sind inzwischen verheiratet und leben außerhalb der Familie. Der Angeklagte ist bei seinen Eltern in Herford groß geworden. Sein Vater soll im Übermaß dem Alkohol zusprechen und aggressiv veranlagt sein. Seine Mutter soll das bestimmende Moment in der Familie gewesen sein. In den frühen Kindheitsjahren wurde der Angeklagte verwöhnt, später jedoch insbesondere von seinem Vater zu hart angefaßt. Da beide Eltern berufstätig waren, war V. schon seit früher Kindheit weitgehend auf sich selbst angewiesen (Schlüsselkind). Er besuchte zunächst einen Kindergarten und wurde dann 1958 eingeschult. 1966 wurde er aus der Volksschule mit einem durchschnittlichen Abgangszeugnis entlassen. Anschließend befand er sich 3 Jahre in einer Autoschlosserlehre. Diese Lehre brach er aus nicht einsichtigen Gründen ab, angeblich weil er mit dem Chef nicht zurecht kam. In der Folgezeit arbeitet der Angeklagte auf mehreren Arbeitsstellen als Hilfsarbeiter. 3/4 Jahr war er ohne Beschäftigung und ließ sich von seinen Eltern ernähren. Am 26. Mai 1972 hat der Angeklagte seine derzeitige Ehefrau geheiratet. Bereits im Oktober 1972 war die erste gemeinsame Tochter der Eheleute V. geboren worden. Inzwischen haben die Eheleute ein zweites Kind. Das Verhältnis der Eheleute zueinander ist von vielerlei Schwierigkeiten gekennzeichnet. Sowohl V. als auch seine Ehefrau scheinen nicht über die notwendige Lebensorientierung zu verfügen. Insbesondere im Bereich der finanziellen Planung herrscht Durcheinander. Die Folge ist, daß V. inzwischen mehrere tausend Mark Schulden hat. Die finanzielle Unordnung führte auch dazu, daß die Mieten nicht gezahlt wurden und die Familie dauernd Gefahr lief, die Wohnung zu verlieren. Bis September 1972 erhielt V. seine Grundausbildung in Brakel. In dieser Zeit lebten seine Ehefrau und das erste Kind in Herford. Im Oktober 1972 wurde V. dann nach Borkum versetzt. Aus den vorgenannten Gründen wurde der Frau die Wohnung gekündigt und sie zog mit ihrem Kind widerwillig zu ihren eigenen Eltern nach Siegen. Da die Wohnverhältnisse nicht ausreichend waren, bot der Sozialbetreuer der Bundeswehr der Ehefrau an, in ein Heim der Bundeswehr für Mutter und Kind zu gehen. Mit dieser Regelung war gleichzeitig angestrebt, die räumliche Trennung der Eheleute abzumildern. Es war in Erwägung gezogen worden, V. deshalb gleichfalls nach Oldenburg zu versetzen. Frau V. lehnte dieses Angebot jedoch ab, weil sie evtl. einen Teil der Wohnkosten durch Arbeit hätte aufbringen müssen. Auch eine andere Wohnung in Siegen lehnte Frau V. ab. Im November 1972 zog sie deshalb in eine kleine Wohnung in Iserlohn. Die Möbel wurden überwiegend vom Sozialamt erstellt. Der Panzerschütze V. hat sich fortlaufend dem Dienst in der Bundeswehr entzogen. ss Auszugsweise zitierte Urteilsbegründung aus dem dienstinternen Straftatenmaterial zu §§ 15, 16 WStG des WBK III (hier: Urteil des Jugendschöffengerichts Iserlohn - 23 Ms 35/73 - vom 8. Januar 1974).

208

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

1. Erstmalig setzte er sich vom 4. bis zum 18. September 1972 von der Truppe

ab. Der Grund lag in familiären Schwierigkeiten. Der Frau war - wie zuvor geschildert - die Wohnung gekündigt worden, weil sie mit der Mietzahlung im Rückstand war. Außerdem drängten verschiedene Gläubiger auf die Zahlung von Raten und drohten Zwangsmaßnahmen an. V. blieb zu Hause und führte in dieser Zeit einige Gespräche mit den Gläubigem. Seine Einheit benachrichtigte er nicht, weil er Angst hatte, von den Feldjägern abgeholt zu werden. Am 18. September 1972 wurde er dann zwangsweise zur Kompanie zurückgebracht. Für diese Fehlhandlung wurde V. von der Bundeswehr mit einen Disziplinararrest von 12 Tagen bestraft. Diesen Disziplinararrest hat er verbüßt. Vom 6. bis 8. Oktober 1972 war V. dann wiederum eigenmächtig von der Truppe abwesend. Er hatte ein anderes Mädchen kennengelernt und war bei diesem geblieben. Dieser Fall ist nicht Gegenstand der Anklage.

2. Vom 11. Dezember bis zum 15. Januar 1973 war V. abermals eigenmächtig abwesend gewesen. In diesem Fall war er zu Hause geblieben, angeblich weil es seiner Frau nicht gut ging. Seine Frau war inzwischen wieder schwanger. Seine Frau war aber nicht so krank, daß sie seine Hilfe gebraucht hätte. Das nächste Mal war V. vom 12. bis zum 13. März 1973 abwesend. Angeblich um sich wiederum um seine Frau zu kümmern. Auch dieser Fall ist nicht Gegenstand der Anklage. 3. Ein weiteres Mal setzte sich V. vom 20. bis zum 31. März 1973 von der Truppe ab. Diese eigenmächtige Abwesenheit begründete er damit, daß er Angst vor Bestrafung durch die Bundeswehr gehabt habe und deshalb zu Hause geblieben sei. 4. Schließlich war V. vom 2. April bis zum 15. April 1973 eigenmächtig abwesend. Inzwischen war ihm alles gleichgültig geworden und eine Erklärung außer dieser allgemeinen Unlust zur Fortsetzung des Dienstes in der Bundeswehr hat sich nicht finden lassen ... V. war im Zeitpunkt der hier in Rede stehenden Straftaten 20 Jahre alt. Nach dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten des Bundeswehrkrankenhauses in Hamburg (Abteilung Neurologie und Psychiatrie) vom 21. August 1973, dem das Gericht folgt, war V. in seiner geistigen und seelischen Entwicklung so erheblich retardiert, daß er strafrechtlich einem Jugendlichen unter 18 Jahren gleichzustellen ist. Nach den Feststellungen des Gutachtens ist V. intellektuell nur schwach begabt (er hat IQ von 84 nach dem HamburgWechsler-Test und einen nur niedrigen Wissensstand) und ist in seiner geistig-seelischen Entwicklung deutlich zurückgeblieben. Darüber hinaus ist er sehr von seinen Emotionen und Stimmungen abhängig und läßt sich treiben. Er scheint unfähig zu sein, Erkenntnisse, die er gewonnen hat, in sinnvolle Handlungen umzusetzen und neigt vielmehr zu Kurzsch.lußhandlungen. So ist es auch zu verstehen, daß er sein bisheriges Leben in keiner Weise bewältigt hat ...

Dieser letzte Fall zeigt zum einen in aller Deutlichkeit die Verwobenheit der sozialen und personalen Merkmale des Delinquenten und sonstiger charakteristischer Merkmale, zum anderen, daß sich die Fälle der Truppenflucht - mit Einschränkungen - voneinander wenig unterscheiden. Insofern ist die Auswahl dieser sechs Fälle in der Tat reprä-

I. Abwesenheitsdelikte

209

sentativ. Außerdem sollte durch diese Kasuistik aus kriminologischer Sicht deutlich gemacht werden: Nicht die Durchführung des Dienstbetriebes, also die individuelle Gestaltung durch den jeweiligen Vorgesetzten, "provoziert" die Abwesenheitsdelikte; grundsätzlich waren für die Delinquenten persönliche Entwicklungsumstände und Milieufaktoren entscheidend. Natürlich wird es eine geringe Restgröße von Truppenflüchtern geben, die auch dienstliche Probleme als Motiv (falsches Verhalten von Vorgesetzten34, Angst vor Strafe, Schwierigkeiten im Umgang mit Kameraden, falsche militärische Verwendung u. ä.) ihrer Delinquenz bezeichnen. Im Grundsatz bestätigt die Auswertung des Strafurteilsmaterials zu §§ 15, 16 WStG jedoch die statistischen Erkenntnissen, daß bei der Eigenmächtigen Abwesenheit in etwa 50 Ufo die Lösung familiärer oder finanzieller Probleme im Vordergrund steht, in etwa 65 Ufo der Abwesenheitsdelikte durch passives "Fernbleiben" von der Truppe erfolgte, und daß in etwa 30 Ufo Partner- und SexualkonflikteH eine nicht unerhebliche Rolle spielen31• 4. Zusammenfassung

Mit der Darstellung und Diagnose der ausgewählten Strafurteilsfälle wird die sozialpsychologische Hypothese bestätigt, daß sowohl zahlreiche Persönlichkeitsmerkmale als auch eine Reihe von sozialen Umständen, also Umfeldvariablen, die Ursachen für die Abwesenheitskriminalität darstellen. Immer ist jedoch auch der militärspezifische Auslöser "Wehrpflicht" erkennbar, der gleichsam wie ein letzter Verstärker für das delinquente Verhalten wirkt. Mit anderen Worten: Die Situation einer Armee als solche begünstigt Abwesenheitsdelinquenz und ist neben den Faktoren, die in der sozialen Struktur und Persönlichkeit des Täters liegen (und die etwas anspruchsvoll als Ursachen bezeichnet werden können), als Auslöser für die Delinquenz der meist sozial und intellektuell Unterprivilegierten anzusehen. "Politisch-ideologische Motive oder dienstliche Beweggründe spielen nur eine untergeordnete Rolle38." Die Tatsache der häufigen Vorstrafen bei den Abwesenheitstätern - nach meiner Auswertung des Strafurteilsmaterials zu §§ 15, 16 WStG 34 Vgl. dazu die Ausführungen zum Führungsfehler "Nichterkannte private Probleme des Untergebenen", S. 163. 35 Siehe oben S. 194. 38 Siehe oben S. 202 ff. 37 Vgl. dazu auch die generellen Zahlen zum "Fehlverhalten wehrpflichtiger Soldaten", in: Weißbuch 1975/1976, Nr.273 (5.156). 38 So Weißbuch 1973/1974, Nr. 196 (5. 144).

14 Fiecller

210

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

für die Jahre 1973 und 1974 in etwa 40 % der Fälle - erscheint in der sozialpsychologischen "Hauptuntersuchung" nicht mehr; gerade aber die Frühkriminalität vieler Delinquenten sollte schon im Hinblick auf eine (noch zu entwickelnde) Täterprognose39 nicht unberücksichtigt bleiben. Der Anteil an Unteroffizieren oder gar Offizieren an der Abwesenheitskriminalität ist verschwindend gering; die überzahl der Delinquenten findet sich - man möchte fast sagen: natürlich - bei den wehrpflichtigen Soldaten. Nach diesen Erkenntnissen dürfte es erlaubt sein, die eingangs erhobene These40 als verifiziert anzusehen, wonach die Bundeswehr - zumindest in einigen Bereichen - eine besondere Art von Kriminalität aufweist, die man als situationsspezifisch, d. h. "systembedingtes" Verbrechen qualifizieren kann, weil es letztlich die Situation des Delinquenten im System der Armee ist, die zum aktuellen Auslöser dieser Kriminalität eines bestimmten Personenkreises wird. Insofern müßte komprimiert gesagt werden dürfen: In Teilbereichen der Armee, wo die Existenz spezieller juristischer Normen (hier z. B. §§ 15, 16 WStG) den Soldaten "kriminalisiert", macht der Wehrdienst kriminovalent, begünstigt die spezifische Situation den labilen Täter zur systembedingten Delinquenz. ß. dargestellt an der Devianz von Soldaten

in Form der Suicide und Suicidversucb.e

Bei der Betrachtung der verschiedenen Formen "abweichenden Verhaltens" in den Streitkräften (also ausnahmsweise ohne juristische Bewertung seiner Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit) fällt auf, daß "klassische" Delikte, wie Selbstverstümmelung, gleichgeschlechtliche Handlungen unter Soldaten oder der Mißbrauch der Befehlsgewalt durch Vorgesetzte, heute der Zahl nach relativ unbedeutend sind. Dagegen ist neben der dargestellten Abwesenheitskriminalität die soldatische Devianz auf dem Sektor der - natürlich straffreien - Suicide und Suicideversuche inzwischen zu einem ernstzunehmenden Problem in der Bundeswehr geworden41 • Aus dem vorliegenden statistischen Material zu diesem Problemkreis läßt sich vorerst folgendes ablesen und ableiten42 : Die Anzahl der Suicidversuche ist weiter gestiegen. Hatten die jährlichen Zunahmen 1973/74 je 14 Ufo betragen, so stieg die Zahl im Jahre 39 40 41 42

Vgl. Flach, S. 81 f. Siehe S. 32 und S. 46. Vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S. 27 ff. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S. 28 f.

11. Suizide und Suizidversuche

211

1975 um 7 % und erreichte damit einen Höchststand (875 Fälle). Seit 1968 hat sich damit die Zahl der Selbsttötungsversuche fast verdoppelt. Im Jahre 1975 wurden 97 Suicide erfaßt (1974: 87/1973: 96). Damit wurde die bisher höchste Zahl an Selbsttötungen erreicht. Dabei ergibt sich auf je 10000 Soldaten der jeweiligen Laufbahngruppe folgende Häufigkeit innerhalb der Vergleichsjahre43 : Laufbahngruppe Offiziere Unteroffiziere Mannschaften SaZ Mannschaften Wpfl

1975

Suicide 1974

1973

1,2 2,0 2,4 2,0

1,3 1,9 1,2 2,0

1,6 2,2 2,7 1,7

Suicidversuche 1975 1974 1973 1,7 6,2 16,2 28,7

0,8 6,1 18,5 24,7

1,1 6,7 14,7 22,2

Wieder einmal liegt die größte Häufigkeitsziffer bezüglich der Selbsttötungsversuche bei den wehrpflichtigen Soldaten. Mehr als die Hälfte dieser Suicidversuche wurde durch Einnehmen von Medikamenten begangen; die meisten Selbsttötungen erfolgten durch Schußwaffen und durch Erhängen. Es wird in der militärischen Führung bezweifelt, ob bei der großen Anzahl der gemeldeten Selbsttötungsversuche eine Tötungsabsicht vorlag44. Das gilt vornehmlich für die Fälle, in denen völlig unzureichende oder untaugliche Mittel angewandt wurden. Von im Jahre 1975 insgesamt 591 versuchten und 53 vollendeten Selbsttötungen, für die Angaben vorliegen, wurden folgende Motive ermittelt: Ennittelte Motive - schlechte Familienverhältnisse bzw. Schwierigkeiten im familiären Bereich - Liebeskummer - Depressionen und sonstige Krankheiten - Furcht vor Strafe im außerdienstlichen Bereich - sonstige Gründe privater Art - Gründe, die in irgendeiner Art mit dem Dienst in der Bw im Zusammenhang standen Insgesamt 43

44

14"

Versuche % Anzahl

Suicide % Anzahl

101

17,1 %

12

22,6 %

96

16,2 %

16

30,2 %

99

16,8 %

11

20,8%

32

5,4%

3

5,7 %

181

30,6%

10

18,9 %

82

13,9 %

1

1,8 %

591

100,0 %

53

100,0 %

Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.29. Vgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.3l.

212

4. Teil: Militärische Kriminaldiagnostik

Hiernach lagen die Gründe bei den Selbsttötungsversuchen zu 86 0/0 und bei den Suiciden zu über 98 % im außerdienstlichen Bereich. Bei den im Jahre 1975 erfolgten 82 versuchten Suiciden und 1 vollendeten Suicid, die in irgendeiner Weise mit dem militärischen Dienst in Verbindung standen, lagen folgende Gründe vor46 : Motive im Zusammenhang mit dem Wehrdienst - Wehrunwilligkeit bzw.

Entlassun~erzwingung

-

(davon nac abgelehntem KDV-Antrag) den Belastungen in der Bundeswehr nicht gewachsen Trennung von der Familie fühlten sich ungerecht behandelt Nichtbestehen von Lehrgängen Prüfungsangst Versetzungen sonsti~e Gründe bzw. Einzelheiten nicht ekannt

Insgesamt

Versuche % Anzahl

Suicide % Anzahl

1

100,0 %

-

-

-

-

-

-

60 (14)

73,2% (17,1 %)

1

1,2%

1

1,2%

1 3 1 2 13

1,2% 3,7% 1,2% 2,4% 15,9 %

-

82

100,0 %

1

(- )

(- )

-

-

-

I

100,0 %

In keinem Fall wurde gemeldet, daß Fehlverhalten von Vorgesetzten unmittelbarer Anlaß zur Tat gewesen wäre". Dem Verfasser erscheint es folgerichtig, die These, daß das Zusammenwirken sozialer und personaler Hintergrundfaktoren mit der militärischen Situation eine Disposition zu abweichendem Verhalten bewirkt, in die kriminologische Erklärung auch dieses Devianzphänomens mit einzubeziehen. Interpretiert man nämlich diese Form soldatischer Devianz trotz der schmalen empirischen Basis unter diesem Aspekt, dann müßte sich folgende vorsichtige Schlußfolgerung ziehen lassen: Auch diese spezifische Form des Fluchtverhaltens von Soldaten könnte im Kern mit dem Delinquentenbild der Abwesenheitstäter - vornehmlich der Fahnenflüchtigen i. S. d. § 16 WStG - übereinstimmen: Labilität, ein niedriger sozio-ökonomischer Status, Neigung zu Kurzschlußreaktionen, retardierte geistige und seelische Entwicklung usw. Auch hier scheint es nur noch eines konkreten Auslösers (besonders bei den Devianten mit akuter "Wehrunwilligkeit"), eines gleichsam letzten VerVgl. Jahresbericht über Besondere Vorkommnisse 1975, S.32. Der bemerkenswert hohe Prozentsatz beim Motiv der "Wehrunwilligkeit" bzw. "Entlassungserzwingung" beweist m. E. indirekt die S. 61 ff. aufgestellte These, daß "Wehrmotivation" ein wichtiger kriminovalenter Faktor ist, auch wenn es sich hier um eine straflose Devianzform handelt. 46

41

H. Suizide und Suizidversuche

213

stärkers zu bedürfen, um Suiciddevianz als nächstliegende Protestform in Gang zu setzen. Auch hier scheint zuzutreffen: Die "Hauptursache" für diese Delinquenz zuvorderst wehrpflichtiger Soldaten produziert nicht die Bundeswehr. Dafür sind in erster Linie soziale Hintergrundfaktoren verantwortlich, in Kombination mit ausgeprägten kriminovalenten Persönlichkeitszügen des einzelnen Soldaten. Aber im Zusammenwirken mit der spezifisch militärischen Situation in den Streitkräften, gekennzeichnet durch besonders rigide Verhaltensauflagen mit hohen Rollenerwartungen, kann die kriminovalente Gesamtkonstellation zuvorderst für diesen Kreis depressiver und labiler Soldaten im Selbstmord oder Selbsttötungsversuch münden. Diese spezifische Form der Truppenflucht mag zwar - wie in den zurückliegenden Jahren - unter dem zivilen Vergleichswert liegen(T. Nichtsdestoweniger gehört m. E. auch diese Variante militärischer Devianz - wie möglicherweise eines Tages auch die Kriminalität auf dem Sektor des Drogenkonsums von Soldaten (als Verstoß gegen das Rauschmittelgesetz), also die Flucht in die Droge _48, vor dem Hintergrund der sozialen Struktur und der delinquenzanfälligen Persönlichkeitszüge der Betroffenen zur kriminologischen Diagnose systembedingter Delinquenz. Empirisch breit angelegte und methodisch gut fundierte kriminologische Studien für die Sektoren Selbsttötungen/Suicidversuche und Drogenmißbrauch von Soldaten, die auch gesellschaftliche Kontextfaktoren einbeziehen sollten, tun Not.

So Weißbuch 1975/1976, Nr.273 (S.157). Der Sektor "Drogenkonsum und Drogenmißbrauch" wurde von Feser / Schenk, S. 94 ff. aus sozialpsychologischem Blickwinkel untersucht; u. a. mit dem - damaligen (1973/1974) - Ergebnis der "relativen Harmlosigkeit" der Modedroge Haschisch. Dies scheint mir nach neuesten Forschungsberichten in einem anderen Licht und ist als Beurteilung so sicherlich nicht mehr haltbar. Dennoch wenden sich Feser und Schenk zu Recht gegen eine Berichterstattung, die den relativ geringen Gebrauch von Modedrogen bei Soldaten (!) publizistisch überzeichnet und das wesentlich ernstere Problem des ständig steigenden Alkohol- und Tabakkonsums in den Streitkräften weitgehend unbeachtet läßt. 47

48

Fünfter Teil

Die Reaktion der Bundeswehr, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Gesellschaft auf die soldatische Normabweichung (Kriminaltherapie) Kriminaltherapie und Kriminalprophylaxe, also Behandlung und Vorbeugung, sind zwei aufs engste miteinander verknüpfte Zweige der Delinquenzbewältigung bzw. Kriminalitätsbekämpfung. Behandlung und Prophylaxe werden von den Kriminologen daher meist zusammen abgehandelt. Zum Zwecke der kriminologischen Systematik werden beide Wege, die Einwirkung auf den Delinquenten zu erreichen, hier getrennt behandelt in dem Wissen, daß sie ineinander übergehen und sich oftmals gleicher Methoden und Mittel bedienen1 • Das Ziel beider Wege bezüglich der Streitkräfte ist jedenfalls stets dasselbe: Zum einen Rechtsgutschutz, d. h. Verbrechensverhütung im Hinblick auf die Funktion der Bundeswehr, zum anderen Prävention der Kriminalität der Soldaten, d. h. Verbrechensverhütung im Hinblick auf den Täter. Oftmals wird vergessen, daß auch die Behandlungs- und Bekämpfungsdaten mit zur Kriminologie gehören. Schon die geschichtliche Entwicklung der Kriminologie wird ja maßgebend von Gedanken und Reformen auf dem Gebiet des Strafvollzuges beeinflußt. Wenn es auch nicht nur um den engen Bereich des Strafvollzuges geht, so ist auch die Poenologie und darüber hinaus jede Form der Reaktion auf Kriminalität, insbesondere der durch die gesellschaftlichen Kontrollorgane, Gegenstand der Kriminologiel!. Allerdings nicht in dem Sinne, daß die Kriminologie sich selbst Gedanken zu machen hätte über die zweckmäßigste Form der Verbrechensbekämpfung - dies ist Angelegenheit der Kriminalpolitik -; aber sie hat den damit befaßten gesellschaftlichen Organen und staatlichen Stellen Material auch über Art und Umfang der bisher gegen die Kriminalität eingesetzten Mittel und über deren Erfolg zu liefern. Im folgenden werden daher aus der Sicht einer Kriminaltherapie für die Bundeswehr zunächst die Reaktion auf die Normabweichung mittels 1 2

Vgl. zur Behandlung der Kriminalität: Mergen, S. 465 ff., 477. GöppingeT, S. 259 ff., spricht von "Vollzugsforschung".

1. Strafen und Strafvollzug

215

Strafen, Strafvollzug und Disziplinarmaßnahmen dargestellt, sodann die Frage nach weiteren "kriminaltherapeutischen" Möglichkeiten aufgeworfen. 1. Strafen und Strafvollzug

a) Nachdem das WStG in der Fassung vom 1. 9.1969 (BGBl. I S. 1502) durch das 1. Strafrechtsreformgesetz und das Einführungsgesetz zum StGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S.469) wesentlich geändert und zweimal neu bekanntgemacht worden ist, ist dadurch vor allem die weitere Anpassung des WStG an die Vorschriften des neuen Allgemeinen Teils des StGB erfolgt zum Zwecke der Vereinfachung der Strafdrohungen und zur Erweiterung der Möglichkeit, Geldstrafen und Strafarrest auch bei Straftaten von Soldaten zu verhängen. Nach § 10 WStG in der Fassung vom 1. 9.1969 durfte nämlich bei militärischen Straftaten auf Geldstrafe nach § 14 StGB a. F., dem jetzigen § 47 StGB, nicht erkannt werden. Das bedeutete das Verbot der Geldstrafe bei solchen Straftaten. Selbst die wahlweise Bestrafung mit Geldstrafe war ausdrücklich ausgeschlossen, soweit das WStG auf Strafdrohungen des Allgemeinen Strafrechts Bezug nahm (§ 33 Abs.2 Nr.2 WStG a. F., § 34 Abs. 2 WStG a. F., § 48 Abs.3 Nr. 3 WStG a. F.). Lediglich bei dem wegfallenden § 47 WStG "Fahrlässige Körperverletzung oder Tötung im Dienst" und bei nichtmilitärischen Straftaten war Geldstrafe mit der Maßgabe vorgesehen, daß sie nicht verhängt werden durfte, wenn die Wahrung der Disziplin eine Freiheitsstrafe erforderteS. Im Einklang mit der sozialen Wirklichkeit, wonach die heutigen Soldaten über eine ausreichende Besoldung verfügen und der nur historisch erklärbare Verzicht auf Geldstrafe bei den damals relativ kläglich besoldeten Soldaten nicht mehr zum Tragen kommt4, ist nunmehr nach § 10 WStG in der Fassung vom 24.5.1974 (BGBl. I S. 1213)5 die Verhängung von Geldstrafe bei militärischen Straftaten möglich - genauso wie die Verurteilung auf Geldstrafe bei Straftaten von Soldaten nach dem allgemeinen Strafrecht. Vergegenwärtigt man sich die große Bedeutung der Disziplinarbuße (lies: "Geldbuße") bei der Ahndung von Dienstvergehen, war es offensichtlich an der Zeit, die Unterscheidung zwischen militärischen und nichtmilitärischen Straftaten in ihrer Auswirkung auf den Verzicht oder die Verhängung von Geldstrafen aufzugeben. Dies ist nun geschehen; für die Verurteilung auf Geldstrafe gilt nunmehr ab 1.1.1975 bei militärischen Straftaten dasselbe wie bei den 4

Vgl. dazu Schölz, § 10 Rd.Nr.2 (S.88). Vgl. die seinerzeit berechtigte Kritik an der alten Regelung bei

5

Diese Fassung gilt mit Wirkung vom 1. 1. 1975.

3

Schwenck (2) S. 134.

216

5. Teil: Militärische Kriminaltherapie

nichtmilitärischen Straftaten von Soldaten. Damit ist einem der wesentlichsten kriminalpolitischen Anliegen der Strafrechtsreformgesetze, die Zurückdrängung kurzer Freiheitsstrafen zu erreichen, Genüge getan. Künftige Statistiken werden zeigen, ob die Befürchtung angebracht ist, daß militärische Straftaten von Soldaten durch die Verhängung von Geldstrafe unangemessen bagatellisiert werden, oder ob die Gerichte berücksichtigen, daß Freiheitsstrafe stets verhängt werden muß, wenn sie zur Wahrung der Disziplin geboten ist'. Dem Verfasser scheint, daß der staatliche Griff in das Portemonnaie für die Masse der gestrauchelten Soldaten eine bessere, d. h. pädagogisch wirksamere Bestrafung ist als eine Freiheitsstrafe wegen einer - oftmals von Soldaten als Kavaliersdelikt betrachteten - militärischen Straftat. Für die drei Vergleichsjahre (1973 -1975) ergibt sich hinsichtlich der Strafarten folgendes Bild: Rund 83 °/0 der Verurteilungen nach dem StGB ergaben Geldstrafen

(83,2 I 82, 3 I 83,9), knapp über 8 010 Freiheitsstrafen von weniger als sechs

Monaten (8,3 I 8,4 I 8,1); in durchschnittlich 8 Ofo der zivilen Kriminalität erfolgte eine Strafaussetzung zur Bewährung (8,0 I 8,3 I 7,7)1. Im Bereich des WStG haben sich die Anteile einzelner Strafarten gegenüber 1974 zum Teil sehr stark verändert. Die Ursache dieser Verlagerung liegt in der aufgezeigten Neufassung des WStG, wonach ab 1. Januar 1975 Geldstrafen zugelassen sind und Freiheitsstrafen unter sechs Monaten in Form von Strafarrest verhängt werden. So hat sich gegenüber 1974 der Anteil an Freiheitsstrafen in fast gleichem Maße verringert, wie im Jahre 1975 Strafarrest zugenommen und Geldstrafen ausgesprochen wurden. (Tab. siehe Seite 217) Die deutlichsten Verlagerungen sind demnach bei den Freiheitsstrafen und beim Strafarrest zu beobachten. Die Verminderung der Freiheitsstrafe zwischen 1974 und 1975 machte 29,4 010 aus; die Quote bei Strafarrest stieg dagegen um 18,2 Ofo. Hinzu kommt der Anteil von 10,7 Ofo an Geldstrafen, die im Jahre 1975 erstmals aufgetreten sind. Die Anteile der übrigen Strafarten haben sich kaum verändert. Strafaussetzung zur Bewährung erfolgte in diesem Bereich durchschnittlich mit 70 Ofo in den drei Vergleichsjahren (73,5/74,8 I 63,7)8. 9. e Zur Bewertung der spezial- und generalpräventiven Gesichtspunkte bei der Auslegung des Begriffs "Wahrung der Disziplin", vgl. Schälz, § 10 Rd.Nr. 11 ff. (S. 90 f.). 7 Dienstinterne Straftaten- und Strafverfolgungsstatistik des BMVg VRII7 -. 8

Dienstinterne Straftaten- und Strafverfolgungsstatistik des BMVg

I

Siehe auch die kritischen Überlegungen zum Institut der Strafaussetzung

VRII7 -.

1. Strafen und Strafvollzug

217

Strafarten bei den nach dem WStG verurteilten Soldaten Verurteilte Soldaten Art der Strafe

1975 % Anzahl

1974 %

1973 %

Freiheitsstrafe Strafarrest Geldstrafe Jugendstrafe Jugendarrest ZuchtmitteI. Erziehungsmaßregeln

2190 1319 525 475 301

44,7 % 27,0% 10,7% 9,7% 6,2%

74,1 % 8,8 % 9,6 % 6,0 %

72,6 % 10,3 % 9,9 % 5,8 %

85

1,7%

1,5 %

1,5%

Insgesamt

4895

-

100,0 % 100,0 % 100,0 %

b) Die zu Recht immer wieder geforderte Reform des militärischen Strafvollzuges 10 durch Behörden der Bundeswehr ist mit dem Gesetz zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts vom 21. 8.1972 (BGBl. I S.1481)11 sowie mit der sich anschließenden Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafe, Strafarrest, Jugendarrest und Disziplinararrest durch Behörden der Bundeswehr - Bundeswehrvollzugsordnung (BwVollzO)1Z und mit der Übergangsregelung der "Vorläufigen Bestimmungen über die Vollstreckung und den Vollzug von Freiheitsentziehung an Soldaten durch Behörden der Bundeswehr" vom 4. Dezember 1972 durchgeführt worden. Vor allem wurde damit vom Gesetzgeber der Notwendigkeit eines Einheitsvollzuges und der Forderung, den Vollzug mehr als bisher für die Ausbildung des Soldaten zu nutzen, Rechnung getragen. Die Verwirklichung des Grundsatzes des § 9 WStG, wonach der mit Strafarrest bestrafte Soldat in seiner Ausbildung zu fördern ist (und zwar primär durch Teilnahme am militärischen Dienst), bedarf nach Erfahrungen im Truppenalltag einer erheblich größeren Bereitschaft der am Vollzug beteiligten Personen, insbesondere des Disziplinarvorgesetztenl l. zur Bewährung bei militärischen Straftaten durch Schwenck, in: NZWehrr 1966, S. 4 ff. 10 Verdienterweise -wieder einmal Schwenck, in: NZWehrr 1970, S. 171 ff. und 1971, S. 53 ff. u § 49 WDO; Art. 5, 7 EGWStG; § 115 JGG. 12 Diese Rechtsverordnung ist am 3. 12. 1972 in Kraft getreten. 13 Vgl. dazu ausführlich die überlegungen mit therapeutischer Zielsetzung bei Schwenck, NZWehrr 1970, S.173 f.; offenbar aus dem Blickwinkel der Generalprävention Lingens, in: NZWehrr 1973, S. 138 ff. (S.141): "Die Teilnahme am Dienst darf nicht dazu führen, daß der Soldat in den Genuß der Mittagspause kommt."

218

5. Teil: Militärische Kriminaltherapie

Aber auch rechtliche und kriminologische Bedenken finden sich noch im Zusammenhang mit dem Vollzug von Freiheitsentziehung an Soldaten. Nach § 5 Abs. 3 Satz 2 WPflG sollen Wehrpflichtige die Zeiten nachdienen, in denen sie während des Wehrdienstes Freiheitsstrafen, disziplinaren Arrest oder Jugendarrest verbüßt haben, wenn diese Zeiten insgesamt dreißig Tage überstiegen haben. Aufgrund des Erlasses "Nachdienen von Wehrpflichtigen" (BMVg - P 11 -, Az: 24-04-01, vom 5.2.1964) besteht die Verpflichtung zum Nachdienen auch dann, wenn der Soldat während der Vollstreckung einer Freiheitsentziehung am militärischen Dienst teilgenommen hat. Sinn des § 5 Abs. 3 Satz 2 WPflG ist es sicherzustellen, daß der Wehrpflichtige seinen vollen Grundwehrdienst ableistet und die Truppe einen voll ausgebildeten Soldaten entläßt. Die Bestimmung selbst ist als eine Art Schadensersatzforderung der Bundeswehr zu verstehen, d. h. als Anspruch des Bundes an den wehrpflichtigen Soldaten, den von diesem durch eigenmächtige Abwesenheit und Verbüßung von Freiheitsentziehung schuldhaft versäumten Wehrdienst nachzuholen. Der Armee ist aber überhaupt kein Schaden entstanden, wenn der die Freiheitsentziehung verbüßende Wehrpflichtige während dieser Zeit wie alle anderen Soldaten an allen Diensten seiner Einheit teilgenommen hat. Der Nachdienerlaß ist insofern nicht haltbar, denn er wirkt sich aus der Sicht der Soldaten als zusätzliche "Bestrafung" aus und verstößt so gegen das Verbot der Doppelbestrafung u . c) Die Bewertung der soldatischen Trunkenheit im Straf- und Disziplinarrecht erfolgt nach den folgenden strafrechtlichen Maßstäben15 : (1) In bestimmten Fällen ist die Trunkenheit strafbegründend: "Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs sowie des Straßenverkehrs" (§§ 315a, c StGB) und "Trunkenheit im Verkehr" (§ 316 StGB) sowie Begehen einer Straftat im "Vollrausch" (§ 330a StGB). Außerdem ist das Führen eines Kraftfahrzeugs mit mehr als 0,8 Ofo Blutalkohol eine mit Geldbuße bedrohte Ordnungswidrigkeit (keine Straftat, sondern Verwaltungsunrecht). (2) Soweit eine sonstige Straftat unter Alkohol begangen ist, kann die Alkoholbeeinflussung - mit Ausnahme der unter der nachfolgenden Ziffer (3) bezeichneten Fälle - im Rahmen der Strafzumessung je nach Lage des Falles strafmildernd oder auch straferschwerend berücksichtigt werden. (3) Soweit der Alkoholgenuß im Rahmen der Beurteilung der Straftat die Vorwerfbarkeit der Tat beeinflußt, kann sie schuldausschließend (§ 20 StGB) oder schuldmindernd (§ 21 StGB) wirken. Die Annahme 14 lS

Vgl. weitere Kritikpunkte bei Lingens, a.a.O., S. 138 ff. Vgl. Stellungnahme S.4.

2. Disziplinarmaßnahmen

219

einer Schuldminderung nach § 21 StGB ist für den Soldaten jedoch ausgeschlossen, wenn die unter Alkoholeinfluß begangene Tat eine militärische Straftat nach dem Wehrstrafgesetz ist oder gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt oder - als Straftat nach allgemeinen Strafgesetzen - in Ausübung des Dienstes begangen ist und die Trunkenheit selbst verschuldet ist (§ 7 WStG). Hat die Trunkenheit einen solchen Grad erreicht, daß die Straftat im Vollrausch (= Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB) begangen ist, so erfolgt Bestrafung nach § 330 a StGB, falls der Vollrausch verschuldet ist. (4) Im Disziplinarrecht gelten für die Sanktionierung von Dienstvergehen im Prinzip die gleichen Grundsätze, da auch im Disziplinarrecht die Regeln des Schuldprinzips anzuwenden sind. 2. Disziplinarmaßnahmen

a) Die Reaktion der Bundeswehr auf die jährlich etwa 80 000 begangenen militärischen Dienstvergehen (§ 23 Abs.1 SoldatenG)16, die Basis des Eisberges militärischer Delinquenz im Bereich der Prädelinquenz, besteht in überwiegender Zahl in der Verhängung von einfachen Disziplinarmaßnahmen (§ 18 Abs.1 WDO). In weitaus geringerem Maße kommt es zu gerichtlichen Disziplinarmaßnahmen im Sinne der §§ 54 ff. WDO. Die einfachen Disziplinarmaßnahmen, die von den Disziplinarvorgesetzten nach § 18 Abs.1 WOO verhängt werden können, sind: 1. Verweis 2. Strenger Verweis 3. Disziplinarbuße 4. Ausgangsbeschränkung 5. Disziplinararrest. Ihre Verteilung auf die geahndeten Dienstvergehen ist aus nachfolgender Tabelle ersichtlich; hinsichtlich der Häufigkeit ihrer Verhängung standen "Disziplinarbuße" (§ 20 Abs. 1 WDO) und "Ausgangsbeschränkung" (§ 21 WDO) in den drei Vergleichsjahren an erster Stelle11. Einfache Diszi plinarmaßnahmen

1975

1974

1973

72.976

82.906

85.371

%

%

%

42,0% 27,9% 18,8% 7,0 % 4,3%

43,5% 28,4% 17,0 % 7,3% 3,8 %

43,4% 29,2% 16,4 % 7,1 % 3,9 %

Maßnahmen

Anzahl

Disziplinarbuße (§ 20 WDO) Ausgangsbeschränkung (§ 21 WDO) Disziplinararrest (§ 22 WDO) Strenger Verweis (§ 19 Abs. 2 WDO) Verweis (§ 19 Abs. 1 WDO)

30.659 20.326 13.726 I 5.112 3.153 1

16 Siehe 2. Teil, S. 38 ff.

220

5. Teil: Militärische Kriminaltherapie

Die Reaktion auf die Präkriminalität mit einfachen Disziplinarmaßnahmen verläuft also nicht etwa in der vom Gesetzgeber vorgezeichneten Steigerung vom mildesten zum härtesten Mittel, wonach man ein zahlenmäßiges übergewicht der Ahndung durch "Verweis" und die geringste Rate beim "Disziplinararrest" hätte vermuten können, sondern die Praxis zeigt eine völlig andere Gewichtung. Erkennbar scheint den Disziplinarvorgesetzten das Mittel der finanziellen Beschränkung des Delinquenten als die geeignetste Maßnahme, der schuldhaften Pflichtverletzung des Soldaten zu begegnen. Die Höhe der Disziplinarbuße lag z. B. im Jahre 1975 in 1083 Fällen über 200,- DM im Einzelfall, in allen anderen Fällen darunter18 • Auch leuchtet ein, daß das "Verbot, die dienstliche Unterkunft ohne Erlaubnis zu verlassen", vom Delinquenten als stark fühlbare Maßnahme des Vorgesetzten auf die Normabweichung gewertet wird, wenn man sich vergegenwärtigt, daß insbesondere der Wehrpflichtige mit seinem spezifischen Drang zur persönlichen Freizügigkeit bereits die Einschränkung durch den Wehrdienst an sich in der Regel als "persönliche Härte" empfindet. Die Dauer der verhängten Ausgangsbeschränkungen (§ 21 WDO) stellt sich wie folgt dar18 : Dauer der Ausgangsbeschränkung

1975 Anzahl %

1 - 7 Tage 8 - 14 Tage 15 - 21 Tage

5.696 11.104 3.526

28,0% 54,6% 17,4%

1974 %

1973 %

27,2% 53,7 % 19,1 %

24,8% 52,7 % 22,5%

Die Dauer des verhängten Disziplinararrestes, also einfache Freiheitsentziehung von mindestens drei Tagen und höchstens drei Wochen (§ 22 WDO) ist aus nachstehender Tabelle ersichtlichi9 : Dauer des einfachen Disziplinararrestes 3- 7 Tage 8- 14 Tage 15 - 21 Tage 17

18 19

1975 % Anzahl i 5.111 3.318 3.138

I

44,2% 28,7 % 27,1 %

1974 %

1973 %

41,4 % 28,9 % 29,7 %

36,6% 32,4% 31,0 %

Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1974, S.11 und 1974, S.l1. Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1975, S. 12 und 1974, S. 13. Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1974, S.13; 1975, S.12 und

1973, S.19.

2. Disziplinarmaßnahmen

221

Da der Disziplinararrest Freiheitsentziehung bedeutet, die nach Art. 104 Abs.2 GG nur durch richterliche Entscheidung erfolgen kann, bedarf der Disziplinarvorgesetzte, der Disziplinararrest verhängen möchte, der Zustimmung des zuständigen Truppendienstrichters; das Mitwirkungsverfahren ist in § 36 WDO geregelt20 • Zu den 11 567 Maßnahmen einfachen Disziplinararrests des Jahres 1975 kommen 1 361 Fälle "Disziplinararrest mit Disziplinarbuße" ; 130 Fälle "Disziplinararrest mit Ausgangsbeschränkung" und 668 Fälle "Disziplinararrest mit verschärfter Ausgangsbeschränkung". Der relative Anteil dieser "kombinierten" Disziplinarmaßnahmen betrug 15,7 0/0 (16,4 % / 9,8 Ofo) aller verhängten Disziplinararreste. Daraus geht hervor, daß die Disziplinarvorgesetzten bei unerlaubter Abwesenheit von Soldaten weiterhin von der in § 18 Abs. 2 WDO eingeräumten "Doppelverhängung" angemessen Gebrauch machen!1. Offenbar scheint in den meisten Fällen der Ahndung von Dienstvergehen der Verweis (§ 19 Abs.1 WDO), also der nur förmliche Tadel eines bestimmten pflichtwidrigen Verhaltens des Soldaten, nicht genügend zu fruchten. b) Die Disziplinarmaßnahmen im disziplinargerichtlichen Verfahren (§§ 54 ff. WDO) können mit Ausnahme der Dienstgradherabsetzung nicht gegen wehrpflichtige Soldaten, sondern nur gegen Soldaten auf Zeit und Berufssoldaten verhängt werden (§ 54 Abs. 3 WDO). Zuständig für die Verhängung sind - aufgrund einer Einleitungsverfügung (§ 86 WDO) der Einleitungsbehörde (§ 87 WDO) - die Wehrdienstgerichte (Art. 96 Abs. 4 GG, § 62 WDO}, bestehend aus den Truppendienstgerichten (§§ 63 - 72 WDO) als Gerichte erster Instanz und den Wehrdienstsenaten beim Bundesverwaltungsgericht (§ 73 WDO) als Berufungsgerichte. Die Interessen der Einleitungsbehörden vertritt ein Wehrdisziplinaranwalt (§ 73 WDO)u. Die gerichtlichen Disziplinarmaßnahmen erhöhten sich im Jahre 1975 zum Vorjahr um 32 Fälle. Anders als 1974 war "Beförderungsverbot" diesmal mit Abstand die häufigste Maßnahme, "Dienstgradherabsetzung" folgte an zweiter Stelle mit relativ hohem Anteil. Diese seltene, aber scharfe Reaktion auf die Verletzung von Dienstvergehen stellt sich in der Reihenfolge der Häufigkeit des Jahres 1975 wie folgt dar23 : !o Ober die Reichweite der richterlichen Mitwirkung vgl. Ipsen, in: NZWehrr 1968, 8.62 und Dau unter Bezugnahme auf den Beschluß des BVerfG vom 2. 5. 1967 in NZWehrr 1969, 8. 81 (84). 21 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1973, 8.19; 1974, 8.13 und 1975, 8.12. 22 Weitere Einzelheiten zum Verfahren bei der Verhängung einfacher und gerichtlicher Disziplinarmaßnahmen, vgl. Schwenck (2) 8. 124. 23 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1974, 8.12 und 14; 1975, 8.13.

222

5. Teil: Militärische Kriminaltherapie 1975 Anzahl %

Gerichtliche Disziplinar maßnahmen Beförderungsverbot (§ 56 WOO) Dienstgradherabsetzung (§ 57 WOO) Entfernung aus dem Dienstverhältnis (§ 58 WDO) Gehaltskürzung und Beförderungsverbot (§ 54 Abs. 2 WOO) Gehaltskürzung (§ 55WDO) Kürzung des Ruhegehalts (§ 59 Abs. 1 und 2 WDO) Aberkennung des Ruhegehaltes

1974 %

1973 %

100

32,1 %

24,6 %

15,0 %

78

25,0%

28,9%

23,4 %

48

15,4%

11,9%

7,3 %

36

11,5%

8,9%

8,0 %

29

9,3 %

15,0 %

37,6 %

14

4,5 %

5,7 %

6,8 %

2,2 %

5,0 %

1,8 %

7

i

Hier wurde im Jahre 1975, anders als in den Vorjahren, durch die Praxis in etwa die vom Gesetzgeber vorgezeichnete Linie der Verschärfung der Sanktionen (§ 54 Abs. 1 Ziffer 1 - 6 WDO) nachvollzogen. e) Kriminologisch ergiebiger ist die Betrachtung der Verteilung der Disziplinarmaßnahmen auf die dem hierarchischen Rollengefüge der Armee entsprechenden drei Laufbahngruppen Offiziere - Unteroffiziere - Mannschaften. Sie stellt sich für die Vergleichsjahre tabellarisch wie folgt dar (die Prozentzahlen für die Jahre 1974 und 1973 sind darunter angegeben)!4: Anteile der einfachen Disziplinarmaßnahmen nach Laufbahngruppen Gruppe Maßnahme

Offiziere % Anzahl

Unteroffiziere % Anzahl

Mannschaften % Anzahl

Verweis

152

69,7 % 57,5% 49,7 %

721

10,8% 11,3% 10,9%

2.280

3,5 % 2,9 % 2,9 %

strenger Verweis

42

19,2 % 15,9 % 22,4%

1.443

21,6% 23,6% 22,5%

3.627

5,5 % 5,7 % 5,2 %

Disziplinarbuße

20

3.309

49,4% 47,4% 47,0%

27.330

41,4% 43,1 % 43,2%

Aus~ngs-

-

9,1 % 20,7 % 21,3 %

531

7,9% 7,8% 9,6%

19.795

29,9% 27,5% 31,4%

691

10,3% 9,6% 10,0%

13.030

19,7 % 17,7% 17,3%

bese

änkung

Disziplinararrest

1,6 %

5

2,3 % 5,7 % 4,9%

223

3. Die Legitimität der Normen

Gegen Offiziere wurden also "Verweise" am häufigsten verhängt, wobei sich dieser Anteil relativ vergrößerte. Gegen Unteroffiziere und Mannschaften wurden dagegen am häufigsten Disziplinarbußen verhängt; dieser Anteil blieb relativ unverändert. Diese Unterschiedlichkeit in der Anwendung disziplinarer Mittel zeigt deutlich, daß Offiziere gegenüber einem "Verweis" in Zukunft bereits pflichtgemäß reagieren, während Mannschaften und ein großer Teil der Unteroffiziere uneinsichtig bloß "mit der Schulter zucken". Hier bestätigt sich indirekt das kriminologische Kürzel vom Täter in seinen - besseren - sozialen Bezügen, bei dem das mildeste Mittel disziplinarer Reaktion bereits Wirksamkeit zeigt. Bei den gerichtlichen Disziplinarmaßnahmen waren "Beförderungsverbot" bei Offizieren und Unteroffizieren die häufigsten Maßnahmen im Jahre 1975, wobei besonders bei den Unteroffizieren eine starke Zunahme dieser disziplinaren Maßnahme festzustellen ist25 • über die Häufigkeit der gerichtlichen Disziplinarmaßnahmen in den Laufbahngruppen gibt nachstehende Tabelle im einzelnen Aufschluß (wobei die Prozentzahlen für die Jahre 1974 und 1973 unterhalb der Prozentzahl des Jahres 1975 angegeben sind): Anteile der gerichtlichen Disziplinarmaßnahmen nach Laufbahngruppen Gruppe Maßnahme Gehaltskürzung

Offiziere % Anzahl 6

Unteroffiziere % Anzahl

18,7 % 27,4 % 39,3 %

23

8,5 % 14,9 % 38,6·%

Mannschaften % Anzahl

-

-

13,3 %

Gehaltskürzung und Beförderungsverbot

2

6,3% 13,6 % 10,7 %

34

12,5% 9,1 % 8,0 %

-

Beförderungsverbot

11

34,4% 40,9 % 25,0 %

88

32,6% 24,2 % 13,7 %

1

10,0% 11,8% 26,7 %

Dienstgradherabsetzung

5

15,6 % 13,6 % 14,3 %

69

25,6% 30,3% 24,0%

4

40,0% 29,4% 26,7%

Entfernung aus dem Dienstverhältnis

3

9,4 % 4,5 % 3,6%

42

15,6 % 11,6% 7,1 %

3

30,0% 23,5% 20,0%

-

24 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1975, 5.14 und 1974, 5.15 mit Zahlen des Vorjahres. 25 Jahresbericht über Disziplinarmaßnahmen 1975, 5.15 und 1974, 5.15 mit den Zahlen des Vorjahres.

224

5. Teil: Militärische Kriminaltherapie

Fortsetzung der Tabelle von Seite 223

Gruppe Maßnahme Kürzun~des

Ruhege alts

Aberkennung des Ruhegehalts

Offiziere Anzahl % 4

12,5 %

-

Unteroffiziere Anzahl % 10

3,7 % 6,2% 7,1 %

-

4

1,5% 3,7 % 1,5%

2

7,1 % 1

3,1 %

-

Mannschaften % Anzahl

-

5,9% 20,0% 29,4% 13,3 %

Die wesentlichsten anteilmäßigen Veränderungen in den Vergleichsjahren waren also bei den Offizieren mehr Dienstgradherabsetzung, Entfernung aus dem Dienstverhältnis und Kürzung des Ruhegehalts, bei den Unteroffizieren mehr Beförderungsverbote und mehr Entfernungen aus dem Dienstverhältnis, bei den Mannschaften Dienstgradherabsetzungen. Ober Erfolg oder Mißerfolg der im militärischen Bereich eingesetzten Mittel liegen keine publizierten Erkenntnisse vor. 3. Die Legitimität der Normen

Die Reaktion der Bundeswehr auf die Normabweichung ihrer Soldaten durch Disziplinarmaßnahmen, Strafen und Strafvollzug ist aber nur eine Seite der Medaille, sofern man ihre Rückseite betrachtend der Auffassung folgt, daß Normen der Zustimmung der ihnen unterworfenen Menschen bedürfen, also nicht ohne weiteres als autonom hingestellt werden können, und daß der Normcharakter dort in Frage gestellt sein darf, wo er gegen eine starke Mehrheit der Adressaten durchgesetzt werden muß. Nun ist dem Verfasser grundsätzlich kein Fall bekannt, in dem ein derzeit gültiges Gesetz in der Truppe in seiner Legitimität angezweifelt wird. Einzige Ausnahme ist die Norm des § 16 WStG, deren Verletzung hin und wieder von Soldaten als "Kavaliersdelikt" bagatellisiert, als Verletzung einer Organisationsnorm - vergleichbar der Nichtentrichtung von Steuern - bewertet wird!6. Es erübrigt sich hier, diesen rein subjektiven Perceptionen nachzugehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß nicht zuletzt die Norm des § 16 WStG geschaffen wurde, weil eine einsatzbereite, d. h. kampfbereite Armee sich nur dann verwirklichen läßt, wenn ausnahmslos jeder Soldat die ihm zugeteilte Rolle spielt, d. h. wenn jeder Mann zur rechten Zeit am rechten Ort zur Verfügung steht oder doch jederzeit erreichbar bleibt!7. 28 So auch Burg, "Stellt die Fahnenflucht nach § 16 Wehrstrafgesetz einen Treubruch dar?", in: NZWehrr 1973, S. 89 ff. mit der Forderung, die einhellige Auffassung in Rechtslehre und Rechtsprechung aufzugeben, wonach Fahnenflucht ein Treuebruch ist.

3. Die Legitimität der Normen

225

Gerade dieser Ausnahmefall zeigt jedoch, daß die Existenz und Ausgestaltung des (wehr)strafrechtlichen Normensystems den Soldaten um so mehr "kriminalisieren" kann, je weniger die Norm kraft ihrer Autonomie oder ihrer konkreten sozialen Realität überzeugend legitimiert ist28 • Diese Tatsache kann nicht ignoriert werden, da beispielsweise der fahnenflüchtige Soldat oftmals der ideologischen Unterstützung bestimmter Gruppen der Gesellschaft sicher sein kann. Normen werden immer von Menschen definiert und sind Ausdruck ihrer spezifischen Bedürfnisse, sozialen Grundhaltungen und persönlichen Interessen. Innerhalb einer offenen Gesellschaft können diese Einflußgrößen durchaus unterschiedlich sein, so daß es nie leicht sein dürfte, generell mit laienhaftem Verständnis zu sagen, was als "präkriminell" oder gar strafbar einzustufen ist. Delinquenz setzt eine Norm voraus, von der abgewichen wird. Gerade der wehrpflichtige Soldat ist Normen unterworfen, über deren Rechtund Zweckmäßigkeit nicht zuletzt die Parteien dieses Landes ausgiebig diskutiert haben. Die Legitimität der Normen äußert sich nun nicht in dauernden Manifestationen begeisterter Zustimmung. Sie besteht vielmehr in einem grundsätzlichen Vertrauens- und Richtigkeitsvorschuß, der staatlicher Gesetzgebung seitens der Bürger eingeräumt wird. In komplexen sozialen Systemen, wie sie Industriegesellschaften nun einmal darstellen, ist die Informations-Verarbeitungskapazität begrenzt. Der einzelne kann nicht mehr alles wissen und von jedem etwas verstehen. Passive Zustimmung ("permissive consensus"), Systemvertrauen, die sich gewöhnende Hinnahme des Bestehenden treten an die Stelle exakter Kenntnisse, überbrücken Orientierungsprobleme und Wissenslücken und wirken damit als Mechanismus zur Reduktion delinquenter Reaktionen. Die Normauffassung in Bundeswehr und Gesellschaft ist also auch ein kriminologisches Problem, weil juristische Normen und in der Gesellschaft gelebte Normen nicht immer deckungsgleich zu sein brauchen. Die erlassenen Gesetze dürfen nicht selbst kriminovalent sein29• Aufgabe des Kriminologen muß es m. E. daher auch sein, zu untersuchen, ob vor dem Hintergrund der allgemeingültigen Strafrechtsprinzipien im konkreten Fall die Geeignetheit der Normen für die freiheitliche und demokratische Freiheit gegeben ist. Im Bereich der Armee lösten derartige Legitimitätszweifel vor allem im Bereich des WStG nicht unbedeutende gesetzliche Korrekturen aus, wie beispielsweise die bereits aufgezeigte30 Änderung des § 10 WStG, 27 28

29 30

Vgl. dazu Fiedler (2) S.59. S.485. S.485. Siehe oben S. 215 f.

Mergen, Mergen,

15 Fiedler

226

5. Teil: Militärische Kriminaltherapie

durch die nunmehr mit einer langen - überholten - militärischen Tradition des Verbots der Geldstrafe gebrochen wurde. Ferner die Herabsetzung der Strafdrohung für Meuterei (§ 27 WStG), weil das alte Strabnaß (Gefängnis nicht unter einem Jahr) von den Gerichten bei der Strafbemessung nicht akzeptiert wurde31 ; auch das Ärgernis der "Strafe ohne Schuld" im alten § 22 Abs.3 WStG wurde beseitigt". Im Gegensatz dazu erfolgte eine teilweise Verschärfung des Tatbestandes der Wachverfehlung (§ 44 WStG) mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der militärischen AlltagspraxisH , also gegen die "Legitimität" zum Schutze der bewachten Personen und Sachen. Das derzeit gültige Wehrstrafgesetz aus dem Jahre 1957, reformiert durch das Erste Strafrechtsreformgesetz und vor allem durch Art. 27 EGStGB, beweist jedenfalls durch die bis dato relativ geringfügigen Korrekturen seine sorgfältige und flexible Konzeption ohne zeitbedingten Modernismus - und damit seine Legitimität. 4. Die Frage nach einer Freiwilllgenarmee

Ausgehend vom Ergebnis der sozialpsychologischen Devianzforschung durch die Wehrpsychologen Feser und Schenk" stellt sich die Frage nach weiteren kriminaltherapeutischen Möglichkeiten im Hinblick auf das eingangs genannte Ziel einer Kriminaltherapie für die Bundeswehr. Die beiden Verfasser sehen Schwachstellen im derzeit praktizierten Einberufungssystem der wehrpflichtigen Soldaten, das eine "Schlechtauslese" nicht zulasse und in dem "zumeist das Kriterium Bedarf vor Neigung und Befähigung rangiert"S4. Hinzu komme ein führungstechnisch noch immer "unvertretbares Defizit" an qualifizierten Unterführern3S • Mit diesen Unzulänglichkeiten des Musterungs- und Auslesesystems werde abweichendes Verhalten "unbewußt und ungewollt erleichtert". Und dies treffe dann zusammen mit einer in der zivilen Gesellschaft schwindenden Bewertung des Wehrdienstes als einer staatsbürgerlichen Pflicht. Die in der Einstellung der Öffentlichkeit allmählich bröckelnde Basis der allgemeinen Wehrpflicht habe zur Folge, daß die Wehrpflichtigen ihren Dienst mit starken Unlustgefühlen antreten. Sozialisationsbemühungen des Militärs seien vor diesem Hintergrund zum Scheitern verurteilt. Von einer sozialen Kontrolle der Wehrpflichtigen durch das So die amtliche Auskunft BMVg - VR II 7 -. Vgl. zur Neuordnung des Strafensystems insbesondere §§ 8 -14 a, § 22 Abs. 3 und § 44 wStG die Kommentierung durch Schötz, a.a.O. :sa Feser I Schenk, S. 142 H., 158 H. U Feser I Schenk, S. 144 f. II Vgl. die vollständigen Ausführungen zu diesem Problemkreis durch die Verfasser, S. 86 f. 11

IZ

4. Die Frage nach einer Freiwilligenarmee

227

militärische Führungspersonal könne man "kaum mehr ernsthaft reden"38. Bis hierher kann der Aussage der beiden Verfasser - abgesehen von einigen kritischen Anmerkungen im Detail - in etwa zugestimmt werden. Kritik ist aber angebracht für die Schlußfolgerungen, die Fese., / Schenk im letzten KapitelST "Konsequenzen und Trends" aus ihrer Analyse ziehen. Grob zusammenfassend läßt sich die Schlußfolgerung der Verfasser wie folgt darstellen: Der letzte Verursacher, "der wesentlichste strukturelle Grund" für die - seinerzeit - zunehmenden Fälle delinquenten Verhaltens in der Bundeswehr sei eben doch die allgemeine Wehrpflicht, die im übrigen gar nicht allgemein durchgehalten, sondern selektiv gehandhabt werde. Dieser Pflicht, deren gesellschaftliche Basis schwinde, die nicht nur bei uns, sondern auch in verbündeten Ländern immer mehr in Zweifel gezogen werde, leisteten die wehrpflichtigen Soldaten nur widerwillig Folge und "geraten auf dem Boden einer bestimmten persönlichen Entwicklung und spezifischer Bundeswehrgegebenheiten ziemlich unreflektiert in den Bereich der Abweichung". Der wehrpflichtige Soldat, so Fese., / Schenk, sei "das Hauptproblem der Bundeswehr". Die Lösung dieses Problems könne nur heißen: Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und Übergang zu einem Wehrsystem aus Freiwilligen und Berufssoldaten als "beste Alternative". Alles andere sei Manipulieren an Symptomen. Bis dieser Übergang bewerkstelligt sei, sollten alle organisatorischen Gegebenheiten, mit denen die Wehrpflichtigen gegenüber den Freiwilligen benachteiligt würden, beseitigt werden. Diese "totale Lösung" kann nicht unwidersprochen bleiben. Zunächst erscheint sie als ein etwas aufgepfropftes, nicht unbedingt zwingendes Resultat der Analyse. Das psychologische Material hätte, ergänzt um eine kriminologische Komponente, durchaus auch andere38, zumindest vorsichtigere Schlüsse zugelassen. Denn gerade Fese., / Schenk beschäftigten sich vornehmlich mit jener (kleinen) Gruppe von truppenflüchtigen Soldaten; die ob ihrer personalen und sozialen Anbrüchigkeit keineswegs repräsentativ für die Masse der (wehrpflichtigen) Soldaten der Bundeswehr ist. Des weiteren dürften die Gewichtungen nicht stimmen: Von der sozialpsychologischen Individualebene läßt sich nicht so ohne weiteres auf die Ebene der Kriminalitätsbewältigung eines so komplexen Systems, wie es die Streitkräfte darstellen, hinaufspringen. 38

37

Feser I Schenk, S. 158 ff. Feser I Schenk, S. 161 ff.

38 Vgl. dazu die Überlegungen zum nHerausfiltem" und Entlassen der Truppenflüchter aus dem Dienst in der Armee, S. 234.

15·

228

5. Teil: Militärische Kriminaltherapie

Der wehrpflichtige Soldat ist m. E. nicht das Hauptproblem der Bundeswehr; er ist eben nur delinquenzanfälliger als alle übrigen, weniger in Untergebenenpositionen "dienende" Soldaten. Hauptprobleme der Bundeswehr sind vielmehr die militärische Lage 39 , das Schritthalten mit der rasanten technischen und quantitativen Entwicklung des gegnerischen Militärpotentials40 usw. Ob die Bundeswehr einmal eine Freiwilligenarmee sein wird oder nicht, dafür sind doch viel zwingendere Faktoren - zuvorderst die Kostenfrage - maßgebend als "abweichendes Verhalten" wehrpflichtiger Soldaten, das letztlich ebenso wie im zivilen Bereich nur die Folgeerscheinung eines ständigen sozialen, kulturellen und normativen Prozesses und Konfliktes der Gesellschaft wie des einzelnen Individuums widerspiegelt4 1• Obwohl es sich in Kenntnis der Kriminalität und Präkriminalität in den Streitkräften auf den ersten Blick so darstellen mag: Eine Freiwilligenarmee ist keineswegs das Allheilmittel, das "systembedingte" und "wehrdiensteigentümliche" Verbrechen oder gar die allgemeine Kriminalität der Soldaten auszuschalten. Auch eine Freiwilligen- und/oder Berufsarmee kennt das - auch militärspezifische - Verbrechen an sich, wie ein Blick auf die Kriminalstatistik anderer westlicher Berufs- oder Freiwilligenarmeen sofort erkennen läßt42• Der Verfasser verkennt nicht die Vorteile von Freiwilligen-Streitkräften ohne spezifische Wehrpflichtprobleme, ohne sog. Wehrungerechtigkeit und im Einklang mit einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft. Gleichwohl erscheint ihm die immer wieder geforderte Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee aus mehreren Gründen sehr bedenklich: Abgesehen von den erheblichen Rekrutierungsproblemen, den sozialen Folgekosten einer Freiwilligen- bzw. Berufsarmee und dem Verzicht der grundgesetzlich verankerten allgemeinen Wehrpflicht würde die so mühsam erreichte gesellschaftliche Integration der Bundeswehr aufs Spiel gesetzt. Wieso ausgerechnet im soziologischen Getto einer Berufsarmee demokratischer, transparenter, und damit auch kriminoresistenter geführt werden sollte als es in der heutigen Bundes89 Weißbuch 1975/1976, Nr.29 (S.17): "Die Sowjetunion und mit ihr der Warschauer Pakt bereiten sich auf beide Erscheinungsformen eines Krieges und auf vielerlei Entwicklungsmöglichkeiten in seinem Verlauf vor." 40 Weißbuch 1975/1976, Nr. 44 ff. (S. 24 ff.) "Kräftevergleich". 41 Die Studie, offensichtlich nur aus der Perspektive des wehrpflichtigen Soldaten geschrieben, verdient dennoch mehr als Beachtung, weil die dort erarbeiteten sozialpsychologischen Deutungsmuster dem Disziplinarvorgesetzten eine Hilfestellung zu angemessenerem Führungsverhalten und besserem Verständnis der Rolle des Wehrpflichtigen bieten. 42 Vgl. Schwenck, "La criminologie militaire en Republique federale d'Allemagne", in: Revue de droit penal militaire 1970, S. 233 ff.

4. Die Frage nach einer Freiwilligenarmee

229

wehr geschieht43 , erscheint schwer einsehbar; das Gegenteil ist wahrscheinlicher. Der Verfasser bezweifelt auch die in anderem Zusammenhang aufgestellte Behauptung, daß in Staaten des Warschauer Paktes der Anteil der militärischen Kriminalität niedriger liege als in einem freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat mit pluralistischer Gesellschaftsstruktur 44 • Zum einen sind beide Gesellschaftsordnungen ohnehin nicht zu vergleichen aufgrund des repressiven Strafensystems totalitärer Staaten45 und dem wesentlich weniger spürbaren Unterschied in den sozialen Bezügen eines Soldaten im Vergleich mit denen eines Zivilisten", zum anderen ist östliches wissenschaftlich abgesichertes empirisches Material nicht erhältlich47, um einen Vergleich beispielsweise der general- und spezialpräventiven Wirkung beider Strafensysteme anzustellen. Im übrigen ist den Studien der soizalistischen Kriminologie zu entnehmen, daß es gleichartige kriminologische Phänomene wie im Westen und offenbar so etwas wie "systemneutrale" Kriminalitätsfaktoren gibt48 • Diese Erkenntnisse dürfen allerdings nicht dazu verleiten, die Frage nach einer neuen, wie auch immer gewichteten Wehrstruktur zu tabuieren, um vielleicht auch auf diese Weise alle erdenklichen therapeutischen Möglichkeiten auszuloten, die den Spannungsbereich delinquenter Verhaltensweisen von Soldaten vermindern könnten.

So die Behauptung von Feser / Schenk, S. 49 ff. Kühlig, S.56. 46 Lesenswert ist hierzu: Weck, "Wehrverfassung und Wehrrecht in der DDR" (1970). 48 Nicht einmal im "klassenlosen" China kann in der Armee auf äußere Zeichen hierarchischer Struktur verzichtet werden. Dies zeigt sich z. B. daran, daß dort zwar seit 1965 sämtliche Rangabzeichen der Soldaten abgeschafft sind, aber der Vorgesetzte und Offizier auf seiner Uniformjacke vier aufgenähte Taschen (also zusätzlich zwei Brusttaschen) trägt, der Untergebene aber nur zwei. 47 So fehlen z. B. im Statistischen Jahrbuch der DDR 1973 die bis dahin üblichen Statistiken über "Kriminalität und Täter". 48 Vgl. dazu den Erklärungsversuch bei Kaiser, S. 33 ff. 43

44

Sechster Teil

V orschläge für die Delinquenzvorbeugung und -verhütung im spezifisch militärischen Bereich (Kriminalprophylaxe) und ihre zweckmä6igsten Formen der Verwirklichung (Kriminalpolitik) I. Das Ziel In der heutigen Zeit weist manches, besonders das Ansteigen der Kriminalität im allgemeinen und einiger spezieller Deliktsarten im besonderen l , darauf hin, daß die Kriminalprophylaxe vernachlässigt worden ist. Man scheint in einigen Bereichen nur ansatzweise erreicht zu haben, von alters her bestehende Institutionen, wie Schule, Polizei, Justiz, Armee usw. den modernen Gegebenheiten einer sich rasch wandelnden Gesellschaftsstruktur anzupassen bzw. neue, durch die soziale Entwicklung notwendig gewordene Ausbildungsinhalte zu entwickeln und zu lehren sowie Einrichtungen zur effektiven Verbrechensverfolgung (Repression) zu schaffen!. Wo man die Ursachen oder Faktoren der Delinquenz kennt, kann das prophylaktische Bemühen zweckmäßigerweise darauf abgestellt werden, die kriminovalenten Faktoren oder Teilursachen auszuschalten. Jede Kriminalprophylaxe bedarf aber zunächst einer klaren Zielvorstellung, an der sich ihre Methoden, Mittel und Angriffsobjekte orientieren können und kontrollieren lassen. Für die Armee ergibt sich dieses Ziel aus der durch Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG festgelegten Kernaufgabe der Bundeswehr: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf". Damit ist zunächst die doppeltes Aufgabe der Armee festgelegt: Zum einen durch ihre Existenz die politische Handlungsfreiheit der Bundesregierung im Frieden, vor allem auch in Zeiten politischer Krisen sicherzustellen; zum anderen im Falle einer bewaffneten Auseinander1 Nachgewiesen u. a. durch Lange in einer Stellungnahme "Ansteigen der Kriminalität", Leserbrief, in: DIE WELT vom 9.5.1972,5.1. ! Vgl. zu letzterem Mergen, 5.481 ff. S Vgl. Weißbuch 1970, wo in Nr.63 die politische und in Nr.64 (5.38 f.) die militärische Aufgabe der Bundeswehr angesprochen ist; ebenso in Weißbuch 1971/1972, Nr. 28 - 30 (5. 24).

1. Das Ziel

231

setzung im Zusammenwirken mit den übrigen Mitgliedern des Verteidigungsbündnisses die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verbündeten zu garantieren. Die Aufstellung der Streitkräfte als Instrument der Verteidigung beinhaltet darüber hinaus eine nicht auf den ersten Blick erkennbare kriminalprophylaktische Aufgabe der Bundeswehr, nämlich ihre Soldaten, seien es Wehrpflichtige oder freiwillig Dienende, nicht nur sachgerecht auszubilden, sondern auch sie dazu anzuhalten, sich bei Erfüllung ihres Dienstes normgerecht zu verhalten, d. h. nicht einer eventuellen Delinquenzbereitschaft nachzugeben, also strafbare Handlungen oder mit Disziplinarmaßnahmen bedrohte dienstliche Pflichtverletzungen zu unterlassen. Anschaulichstes Beispiel dieser Zielsetzung im Hinblick auf eine reibungslose Funktion der Bundeswehr sind die bekannten Vorschriften der §§ 15 und 16 WStG, die für Verstöße gegen die Pflicht zur Präsenz strafrechtliche Sanktionen festsetzen und damit zusätzlich zum Schutze des Rechtsgutes "Bundeswehr" durch Prävention den unterworfenen Soldaten eine kriminalprophylaktische Richtschnur aufzeigen. Und selbst eine Normierung wie § 12 SoldatenG, in der der Soldat zur "Kameradschaft" verpflichtet wird, dient letztlich einer kraft Ausbildung, Präsenz und geistigem Zusammenhalt jederzeit "schlagkräftigen Truppe", die aufgrund ihrer politischen Aufgabe als Faktor der "Abschreckung" zur Friedenssicherung beitragen soll. Auf diese Leitgedanken für die Aufstellung einer optimal effizienten Bundeswehr zur Erhaltung und Verteidigung des demokratischen Rechtsstaates durch aus Einsicht disziplinierte, mitdenkend gehorsame und in ihrem Freiheitsraum nicht unnötig tangierte Soldaten ist letztlich die gesamte Wehrgesetzgebung (mit ihrer generalpräventiven Zielsetzung) ausgerichtet; an ihnen orientiert sich eine Kriminalprophylaxe der Bundeswehr als Verbrechensverhütung im Hinblick auf die Funktion der Streitkräfte und im Hinblick auf die Prävention der Delinquenz des Täters. Der Analytiker und Kritiker einer Sache muß nicht zugleich auch Lösungen mitliefern. Dennoch bleibt es unbefriedigend, wenn er es nicht wenigstens versucht. Der Leser dieser Arbeit, der bis hierher gefolgt ist, erwartet nunmehr handfeste Vorschläge für das, was konkret getan werden kann. Deshalb sollen alle kriminalprophylaktischen Mittel und kriminalpolitischen Wege, die sowohl seitens der militärischen Führung als auch im zivilen Bereich hinreichend Aussicht auf Erfolg versprechen, systematisch dargestellt werden.

232

6. Teil: Militärische Kriminalprophylaxe und Kriminalpolitik

ß. Die Mittel A. KRIMINALPROPHYLAKTISCHE MASSNAHMEN

IM MILITÄRISCHEN BEREICH

1. Empirische Untersudlungen und kriminologisdle Studien

In Kenntnis der im 3. Teil aufgezeigten kriminovalenten Faktoren des Wehrdienstes seien zunächst zehn Vorschläge für (Einzelfall-)Studien und empirische Untersuchungen zusammengestellt, die zur militärischen Delinquenzerkenntnis, aber auch zur künftigen Prophylaxe im oben abgegrenzten Sinne notwendig und tauglich erscheinen, wobei sich die Streitkräfte des bereits vorhandenen "Apparates"4 bedienen können. Allerdings dürfen bei allen vorgeschlagenen Maßnahmen nicht die aufgezeigten Ausgangsbedingungen und notwendigen Prämissen vernachlässigt werden, weil dies unweigerlich zu einer unkritischen Anwendung der Vorschläge im Sinne einer "Rezeptologie" führen würde. (1) Eine repräsentative sozialpsychologische Untersuchung zur Wehrmotivation bei delinquent gewordenen Soldaten, d. h. die erfahrungswissenschaftlich abgesicherte Erforschung, inwieweit motivationale Gründe der "Wehrunlust", "Staatsverdrossenheit" usw. sowie eine mangelhafte soziale Grundhaltung der Delinquenten eine entscheidende Rolle bei der Normabweichung gespielt haben. (2) Eine systematische kriminologische Erforschung des großen Bereiches der soldatischen Präkriminalität mit seinen vielfältigen situationsspezifischenDelinquenzarten einschließlich der disziplinarrechtlichen "Mehrfachtäter" und ihrer disziplinaren "Dauerdelinquenz". (3) Eine empirische Untersuchung zur Wehrdienstverweigerung von Soldaten, die den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer erst während der Dienstzeit stellen, um Erkenntnisse über mögliche "situationsbedingte" Motive solcher Antragsteller zu sammeln und für die militärische Prophylaxe auswerten zu können. (4) Die Sammlung und Auswertung empirischen Materials bei solchen

Soldaten, die in besonderer Weise im Umgang mit Waffen, Munition oder militärtechnischem Gerät mit Gesetzen und Dienstvorschriften in Konflikt geraten sind, um u. a. den Einfluß der Militärtechnik auf die soldatische Delinquenz sichtbar werden zu lassen.

(5) Die rechtzeitige Sammlung und Auswertung empirischen Materials zur Ausnahmesituation des "Handeins auf Befehl" bei solchermaßen