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German Pages 316 Year 2015
Sozialwissenschaftliche Schriften Band 50
Militär und Gewalt Sozialwissenschaftliche und ethische Perspektiven
Herausgegeben von
Nina Leonhard und Jürgen Franke
Duncker & Humblot · Berlin
NINA LEONHARD / JÜRGEN FRANKE (Hrsg.)
Militär und Gewalt
Sozialwissenschaftliche Schriften Band 50
Militär und Gewalt Sozialwissenschaftliche und ethische Perspektiven
Herausgegeben von
Nina Leonhard und Jürgen Franke
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 978-3-428-14581-2 (Print) ISBN 978-3-428-54581-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84581-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Gewalt hat viele Gesichter. Sie begegnet uns im privaten Bereich der Familie, in öffentlichen Räumen wie im Fußballstadion ebenso wie in institutionalisierter Form in Gestalt von Polizei und Militär. In den Sozialwissenschaften galt Gewalt lange Zeit als etwas Negatives, das individuell zu überwinden sei und ,moderne‘ Gesellschaften hinter sich zu lassen hätten. Im Anschluss an Popitz und andere hat sich mittlerweile jedoch die Einsicht nicht nur in die grundsätzliche „Verletzungsmächtigkeit“ wie „Verletzungsoffenheit“ des Menschen durchgesetzt, die zwar reguliert und eingehegt, aber niemals aufgehoben werden kann, sondern auch in den grundlegend ambivalenten Charakter von Gewalt: Gewalthandeln ist prinzipiell immer und überall möglich, kann Handlungsspielräume sowohl verschließen als auch eröffnen und destruktive wie konstruktive Folgen zeitigen. Wie Gewalt einzuordnen und zu bewerten ist, hängt demnach wesentlich vom Standpunkt ab, von dem aus das entsprechende Handeln, die beteiligten Akteure und die damit verknüpfte Herstellung, Verstetigung oder Verstärkung von Machtverhältnissen betrachtet wird. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gewaltphänomenen, um deren verschiedenartige Facetten mit ihren jeweiligen Implikationen erfassen und kritisch beleuchten zu können. Der Fokus des vorliegenden Bandes liegt auf der Beschäftigung mit bewaffneter Gewalt, wie sie durch Streitkräfte vorgehalten, organisiert und angewandt wird. Das Militär als Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols unterliegt dabei besonderen Zwängen, da staatliche Gewalt, um als legitim gelten zu können, kontrolliert werden muss; aus dieser Kontrolle erwächst wiederum Legitimation, die ihrerseits durch die der Gewaltausübung inhärenten Dynamiken gleichzeitig immer wieder abhanden zu gehen droht. Das so skizzierte Spannungsfeld zwischen Einhegung und Legitimation militärischer Gewalt, das nicht zuletzt die gesellschaftliche Verortung des Militärs als staatliche Organisation mit ihren Angehörigen bedingt, wird in den hier versammelten Beiträgen nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich mit Blick auf Deutschland und die Bundeswehr in den Blick genommen. Dabei werden Formen, Funktionsbedingungen und Entwicklungstendenzen militärischer Gewalterfahrung von den Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen (fach)disziplinären Blickwinkeln aufgegriffen. Eine allumfassende Behandlung des speziellen Beziehungsgeflechtes von Militär und Gewalt ist – bewusst – nicht angestrebt. Wie bei den drei vorherigen Bänden, die am Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg entstanden sind (Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlicher Perspektive, hg. von S. Bayer und V. Stümke 2008, SOS Band 44; Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven, hg. von S. Jaberg, H. Biehl, G. Mohrmann
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Vorwort
u. M. Tomforde, SOS Band 47; Soldaten im Einsatz. Sozialwissenschaftliche und ethische Reflexionen, hg. von S. Bayer und M. Gillner, SOS Band 49), besteht das Ziel vielmehr darin, Forschungserkenntnisse, die im Rahmen der Lehre in den verschiedenen Lehrgängen an der Führungsakademie mit deutschen und internationalen Offizieren eingebracht und diskutiert wurden bzw. werden, aufzubereiten und einem breiteren Publikum – innerhalb wie außerhalb der Bundeswehr – zugänglich zu machen. Seinem eigenen Selbstverständnis zufolge kommt der Fachbereich Humanund Sozialwissenschaften so seiner Vermittlungsfunktion an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Militär, zwischen (außer)universitärer Wissenschaftslandschaft und wissenschaftlich orientierter Bildung innerhalb der Streitkräfte nach. Zu den Beiträgen Unter der Rubrik Gewalt in historischer und religiöser Perspektive setzt sich Matthias Thieme kritisch mit der empirisch gestützten These des US-amerikanischen Wissenschaftlers Steven Pinkers auseinander, wonach die Gewalt im Verlauf der Geschichte abgenommen haben soll. Thieme zielt mit seinem Beitrag explizit nicht darauf ab, den Gegenbeweis zu den von Pinker aufgestellten Behauptungen zu führen. Sein Anliegen ist es vielmehr, dessen auf mehr als 1.000 Seiten entwickelten Argumentationsgang zu rekonstruieren und in seiner Gesamtheit zu diskutieren. Nicht nur die vielförmigen Facetten von Gewalt werden auf diese Weise verdeutlicht. Durch seine kritische Würdigung des von Pinker vorgenommenen Perspektivwechsels trägt dieser Beitrag gleichzeitig dazu bei, die Debatte um Zu- bzw. Abnahme von Gewalt innerhalb eines größeren raum-zeitlichen Rahmens zu verorten. Volker Stümke geht im Hinblick auf Gewalt und Krieg der Frage nach, welche Rolle Religionen in politischen Konflikten haben können und welche Gefahren bzw. Konfliktpotenziale damit einhergehen. Im Kontext dieser prekären und allgemein kontrovers diskutierten Fragestellungen werden durch ihn die jeweiligen Positionen von Politik und Religionen zunächst systematisch geordnet, um davon ausgehend normativ fundierte Verhaltensempfehlungen herauszuarbeiten. Zum Abschluss bricht Stümke die bis dahin auf der Makroebene behandelte Thematik auf die Individualebene herunter, indem er aus den zuvor aufgezeigten Erkenntnissen mögliche Konsequenzen für Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen aufzeigt. Die Rubrik Gewalt im Spannungsfeld von Militär, Staat und Gesellschaft startet mit einem Beitrag von Jürgen Franke zur zivilen und demokratischen Kontrolle militärischer Gewalt. Angesichts der in Politik und Wissenschaft postulierten zunehmenden Bedeutung demokratischer Kontrolle von Streitkräften und des gleichzeitigen Fehlens eines hierfür allgemein gültigen normativen Modells geht Franke den Fragen nach, was genau demokratische Kontrolle der Streitkräfte ist, anhand welcher Kriterien die Ausübung solcher Kontrolle erfasst und bewertet werden kann und welche Rolle ihr dabei für die Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen zu-
Vorwort
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kommt. Nach einer Erörterung der theoretischen Grundlagen wird abschließend am Beispiel Deutschlands das dort angewandte Modell vorgestellt und gleichzeitig der Beitrag der Inneren Führung für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Bundeswehr, Staat und Gesellschaft expliziert. Heiko Biehl setzt sich in seinem Beitrag mit den Einstellungen der Bevölkerung zu militärischer Gewalt auseinander. Er bedient sich hierzu des Ansatzes der „Strategischen Kulturen“, der einen internationalen Vergleich in diesen Fragen ermöglicht. Mit Blick auf die bundesdeutsche Kultur und ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigt er zunächst deren Wandel im Laufe der jüngeren Geschichte auf. Er diskutiert sodann die aktuellen Haltungen der deutschen Bevölkerung zum Einsatz von Streitkräften im Vergleich zu denen anderer europäischer Länder vor dem Hintergrund des in sicherheitspolitischen Debatten vielfach geforderten ,Normalverhaltens‘ in der Außen- und Sicherheitspolitik. Gemessen an den empirisch belegbaren Einstellungen der Bevölkerungen in anderen Ländern Europas liegt ein solches ,Normalverhalten‘ – so das zentrale Ergebnis seiner Analyse – hierzulande jedoch längst vor. Mit dem Wandel der bundesdeutschen strategischen Kultur und den Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt sich auch der zweite Beitrag von Jürgen Franke in dieser Rubrik, der der Frage nachgeht, welche Auswirkungen diese Veränderungen auf die Wechselbeziehungen zwischen Militär, Politik und Gesellschaft zeitigen. An die in seinem ersten Beitrag aufgezeigten normativen Grundlagen demokratischer Kontrolle bewaffneter Gewalt anknüpfend, diskutiert Franke, inwiefern die bisherigen Normen und Praktiken demokratischer Kontrolle über Streitkräfte und Sicherheitspolitik in Deutschland unter den gewandelten Bedingungen einer Bundeswehr als ,Armee im Einsatz‘ noch ausreichend sind und welche möglichen Konsequenzen dies für die Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen mit sich bringt. Nina Leonhard setzt sich aus einer wissenssoziologischen Perspektive mit den Implikationen der Zeitdiagnose der „postheroischen Gesellschaft“ im Anschluss an die Arbeiten von Herfried Münkler auseinander. Auf der Grundlage der verschiedenen Bedeutungsvarianten, die mit dem Begriff des Postheroischen einhergehen, analysiert sie insbesondere die expliziten wie impliziten Sinnzuschreibungen in Bezug auf Militär und Krieg und diskutiert die Folgen, die sich daraus für die Wahrnehmung und Deutung der zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland ergeben. Ihr Beitrag schließt vor diesem Hintergrund mit einem Plädoyer für eine erweiterte ,postheroische‘ Konzeptualisierung der gesellschaftlichen Verortung des Militärischen in der Bundesrepublik. Die Technisierung und Automatisierung des Krieges ist zwar kein neuzeitliches Phänomen. Die Kontroverse über semiautonome und halbautomatische technische Systeme in bewaffneten Konflikten wurden jedoch spätestens mit der ,Drohnen-Debatte‘ hierzulande wieder neu entflammt und ist somit hochaktuell. Dierk Spreen beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Automatisierung des Kriegsgeschehens vor
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Vorwort
dem Hintergrund der Sicherheitsordnung der Zivilgesellschaft. Ausgehend von deren zunehmender Relevanz in internationalen Sicherheitsoperationen arbeitet er die Rückwirkungen und Risiken dieser Systeme sowohl auf die Gesellschaften der Anwenderstaaten als auch auf den sicherheitspolitischen Ordnungsrahmen globalen Ausmaßes heraus. Die Rubrik Militärische Gewalt aus soldatischer Perspektive wird durch den Beitrag von Wolfgang Schmidt eingeleitet, der sich mit den Gewaltdispositionen der frühen Bundeswehr-Elite auseinandersetzt. Anhand historischer Quellen sowie psychohistorischer Analysen untersucht er ausgewählte prominente Führungspersönlichkeiten hinsichtlich ihrer Gewaltdispositionen. Anschaulich wird dabei herausgearbeitet, wie diese Akteure durch die Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkriegs geprägt wurden und welche Auswirkungen dies auf ihre Einstellungs- und Verhaltensmuster während ihrer aktiven militärischen Dienstzeit in der Nachkriegsrepublik hatte. Im Rahmen der ISAF-Mission der Bundeswehr in Afghanistan ging es angesichts einer sich zunehmend zuspitzenden Sicherheitslage für die dort eingesetzten Soldatinnen und Soldaten nicht mehr nur um das passive Erleben von Gewalt durch Anschläge, sondern auch um die bislang unbekannte Herausforderung, aktiv in Gefechte verwickelt zu werden und gegebenenfalls auch töten zu müssen. Maren Tomforde geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung den Gewalterfahrungen (inklusive dem Töten) im militärischen Kontext beigemessen wird und wie dies nach innen in die Streitkräfte und nach außen in die Gesellschaft hineinwirkt. Auf der Grundlage halbstrukturierter Tiefeninterviews mit Afghanistanrückkehrern richtet sie den Blick insbesondere auf die Art und Weise, wie die Soldaten selbst mit ihren (aktiven wie passiven) Gewalterfahrungen umgehen, d. h. diese subjektiv wahrnehmen und für sich sinnhaft deuten. In der letzten Rubrik Militärische Gewalt aus ethischer Perspektive beschäftigt sich Volker Stümke angesichts der zunehmenden Intensität militärischer Auslandseinsätze in seinem zweiten Beitrag mit der Frage nach dem moralischen und sittlichen Rüstzeug, mit denen die Bundeswehrsoldaten ausgestattet sein sollten, um diesen Herausforderungen möglichst gut begegnen zu können. Die daraus entwickelte Leitfrage wird aus evangelischer Perspektive unter Anlegung eines ethisch-normativen Ansatzes vom ,guten Soldaten‘ differenziert beantwortet. Im letzten Beitrag des Bandes setzt sich Hartwig von Schubert eingehend mit der völkerrechtlichen Einhegung von Gewalt auseinander. Ausgehend von der Annahme einer immer wieder drohenden Erosion staatlicher Autorität in der Weltgesellschaft plädiert er für eine Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere des Konfliktvölkerrechts, bei der Deutschland wegen seines gewachsenen Einflusses in der Weltpolitik eine tragende Rolle als Vorbild und Anwalt zukommen müsse. Für die Begründung seiner Thesen stützt sich der Autor auf philosophische, rechtstheoretische und friedensethische Elemente, die explizit zur weiteren Diskussion anregen sollen.
Vorwort
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Abschließend möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft bedanken, sich mit einem Beitrag an diesem Band zu beteiligen und uns als Herausgebern trotz der langen Phase von den ersten Ideen für dieses Buch bis zu dessen Fertigstellung die Treue gehalten zu haben. Unser Dank richtet sich darüber hinaus an den Verlag Duncker & Humblot: an den Verleger Florian R. Simon, der ohne zu zögern erneut einer Veröffentlichung in der Reihe „Sozialwissenschaftliche Schriften“ zugestimmt und damit erst ermöglich hat, sowie an Regine Schädlich, die uns in technischer Hinsicht hervorragend beraten und unterstützt hat. Hamburg, im Januar 2015
Jürgen Franke und Nina Leonhard
Inhaltsverzeichnis I. Gewalt in historischer und religiöser Perspektive Matthias Thieme Nimmt die Gewalt im Verlauf der Geschichte ab? Eine kritische Auseinandersetzung mit Steven Pinker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Volker Stümke Religionen als politische Gefahr – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Gewalt im Spannungsfeld von Militär, Staat und Gesellschaft Jürgen Franke Zivile und demokratische Kontrolle militärischer Gewalt. Begriffliche und theoretische Annäherungen an einen komplexen Untersuchungsgegenstand . . .
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Heiko Biehl Deutscher Sonderweg oder europäische Normalität? Gesellschaftliche Legitimation militärischer Gewalt im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jürgen Franke Demokratische Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik in Deutschland. Die Bundeswehr als ,Armee im Einsatz‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Nina Leonhard Militär und Krieg in der postheroischen Gesellschaft: Implikationen einer Krisendiagnose zivil-militärischer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Dierk Spreen Die Kriegsautomaten der Zivilgesellschaft. Semiautonome technische Systeme in bewaffneten Sicherheitsoperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
III. Militärische Gewalt aus soldatischer Perspektive Wolfgang Schmidt Gewaltdispositionen bei der frühen Bundeswehr-Elite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Maren Tomforde „Good shot“: Gewalterfahrungen von Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz 213 IV. Militärische Gewalt aus ethischer Perspektive Volker Stümke Ethische Normen für Soldaten im Umgang mit Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Hartwig von Schubert Frieden durch Recht. Die Ethik rechtserhaltender Gewalt und das Völkerrecht
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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
I. Gewalt in historischer und religiöser Perspektive
Nimmt die Gewalt im Verlauf der Geschichte ab? Eine kritische Auseinandersetzung mit Steven Pinker Von Matthias Thieme
I. Zwischen Obszönität und Halluzination: Das 21. Jahrhundert als friedlichstes Zeitalter? Als ich mit der Lektüre von Steven Pinkers neuer Geschichte der Menschheit beginne, geht der November 2012 seinem Ende zu. Die Welt hält den Atem an, denn im Nahen Osten eskaliert einmal mehr die Gewalt zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern. Auch im Kongo dreht sich die Spirale der Gewalt wieder schneller. Im deutschen Inland bleibt das neueste Familiendrama – diesmal ist die Kleinstadt Kruft nahe Koblenz betroffen – nicht allzu lange im Fokus der Medien. Angesichts der gefühlten Vielzahl solcher Taten scheint ein trauriger Gewöhnungseffekt eingetreten zu sein. Und da es Ende November ist, wird in offiziellen Akten landesweit der alljährliche Volkstrauertag begangen. Neuerdings wird dabei nicht nur der Toten der Weltkriege gedacht. Man gedenkt nun auch der deutschen Soldaten, die in den aktuellen Einsätzen ihr Leben gelassen haben, namentliche Erwähnung inklusive. Das diffuse Gefühl der Verunsicherung, das wir bei diesen Gedanken empfinden, rührt daher, dass wir glauben, hier nur die Spitze des Eisberges zu sehen. Die Wahrheit, so vermuten wir, ist noch viel schlimmer. Doch wir irren, zumindest nach der Meinung, nein, gar der Überzeugung des USamerikanischen Wissenschaftlers Steven Pinker: „Die Gewalt ist (…) zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert“.1 Selbstverständlich entsteht diese These nicht ex nihilo, Pinker führt immerhin auf über 1.000 Seiten aus, wie es dazu kam, dass die Gewalt mehr und mehr aus unserem täglichen Leben verschwand. Dennoch widerspricht seine Argumentation allem, was wir erleben. Sie steht in geradezu krassem Gegensatz zu allen Debatten, die wir über Gewalt führen. Hinter diesem Widerspruch steht die Frage, wie es eigentlich kommt, dass wir im 21. Jahrhundert so sehr in Angst leben? Liegt es nicht daran, dass wir auf 100 Jahre zurückblicken, die noch nie dagewesenes Leid über die Menschheit gebracht haben – angefangen bei den Millionen Toten der Weltkriege bis hin zu Terrorakten wie dem 11. September? Wie kann nun ein Wissenschaftler behaupten, dass wir uns alle nur geirrt hätten, dass wir die Fakten falsch 1
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Matthias Thieme
interpretiert, die Zahlen nicht hinreichend gewürdigt hätten, dass diese Angst nichts weiter sei als eine kognitive Fehlleistung? Wie kann Pinker schlussfolgern, wir wären nicht in der Lage, Gewalt rational zu betrachten und zu diskutieren? Doch bevor all diese Fragen beantwortet werden können, muss Steven Pinkers umfangreiche Argumentation genauer untersucht werden. Er zeigt eine Vielzahl von Trends auf, die allesamt belegen sollen, dass Gewalt nicht nur in allen gesellschaftlichen Bereichen, sondern auch in allen denkbaren Formen zurückgegangen ist. Entscheidend an dieser Darstellung ist, dass Pinker aus psychologischer Sicht erklärt, wie es zu dieser Entwicklung kam: Den inneren Dämonen der Menschen, wie Pinker sie bezeichnet, stellten sich bessere Engel gegenüber, die sich mehr und mehr behaupten konnten. Um diese Engel, aber auch um ihre Widerstreiter, die inneren Dämonen, soll es dann in der abschließenden kritischen Auseinandersetzung mit Pinker gehen.
II. Kognitive Fehlleistungen: Wie wir unsere eigene Geschichte missdeuten Auch im 21. Jahrhundert bleibt der Firnis der Zivilisation erstaunlich dünn. Das dürfte u. a. ein Grund sein, warum es so schwer fällt, die These zu akzeptieren, die Gewalt sei nicht nur zurückgegangen, sondern gar auf dem niedrigsten Wert seit Menschengedenken gesunken. Pinker glaubt dabei gar nicht an das grundsätzlich Gute im Menschen, im Gegenteil: Als Evolutions-Psychologe geht er davon aus, dass die viel zitierte Bestie, Klauen und Zähne blutig rot, auch tief in der Psyche des Menschen verwurzelt ist.2 Der Mensch hat eine nach wie vor ungebrochene Faszination für Gewalt3 und auch die entsprechende physiologische Ausstattung im Gehirn, diese Gewalt zur Anwendung zu bringen.4 Gewalt ist aber mehr als ein simpler animalischer Trieb. Faktoren wie Motiv, Situation, Erfahrungen, (Fehl)Funktionen des Gehirns sowie erlernte und gefestigte Verhaltensmuster spielen eine Rolle.5 Wer also Gewalt verstehen will, dem hilft es nicht weiter, wenn er auf ,das Böse’ verweist. Wir müssten akzeptieren, so Pinkers Befund, dass sich nicht die ,friedlichen‘ Gene im Laufe der Evolution durchgesetzt hätten, sondern dass es in unserem Inneren Dämonen gäbe, die zur Grundausstattung aller Menschen zu allen Zeiten gehörten.6 So neigen wir noch heute dazu, uns Dinge aneignen zu wollen, die sich im Besitz anderer Menschen befinden und dabei kommt es häufig zu Gewalt – man nennt das Raublust.7 2
Vgl. ebd., S. 713. Vgl. ebd., S. 717. 4 Vgl. ebd., S. 715 u. 718. 5 Vgl. ebd., S. 735 ff. 6 Vgl. ebd., S. 907 ff. 7 Vgl. ebd., S. 752 f. 3
Nimmt die Gewalt im Verlauf der Geschichte ab?
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Ein weiterer Pinker’scher Dämon, wenn auch ein eher spezifisch männlicher, ist das Streben nach Dominanz. In der Konkurrenz mit anderen dominanten Wesen kommt es zum Wettbewerb, bei dem es zwar nichts zu gewinnen gibt, aus dem aber auch die tödlichsten Konflikte erwachsen können.8 Selbst Staaten neigen dazu, mit anderen Staaten in einen Dominanzwettbewerb zu treten und die Geschichte hat gezeigt, dass daraus schreckliche Kriege entstehen können.9 Ein etwas weiter verbreiteter und geschlechtlich gleich verteilter Wesenszug ist das Bedürfnis nach Rache. Wenn Menschen etwas tun, von dem wir glauben, dass es böse ist, dann wollen wir, dass diesen Menschen ihre gerechte Strafe zuteilwird.10 Dahinter steckt die Überzeugung, dass bestimmte Verstöße gegen Verhaltensnormen nicht hinnehmbar seien. Bekommt der vermeintliche Bösewicht dann seine gerechte Strafe, stillt dies nicht nur unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit, es erfüllt uns bisweilen gar mit Befriedigung – sonst würde z. B. Actionkino nicht funktionieren.11 Während Rache zumindest abschreckend wirkt und u. U. sogar nützlich ist,12 ist Sadismus, die Lust an der Qual anderer Lebewesen, ohne Zweifel die objektiv abscheulichste Form der Gewalt.13 Doch auch diese lässt sich nicht damit erklären, dass einzelne Menschen vom Teufel besessen wären, denn Sadismus ist eine Vorliebe, die erworben werden kann und die mit der Zeit immer stärkere Reize braucht, um befriedigt zu werden – ähnlich wie der Fallschirmspringer, der aus immer größeren Höhen springt, damit er noch den Kick verspürt.14 Ideologie selbst ist zwar kein Dämon, den wir in uns tragen, aber wir sind von Natur aus anfällig, ihr zu verfallen. Wenn jemand bereit ist, absurde Dinge zu glauben – z. B. dass ein anderes Volk minderwertig wäre –, dann ist es oft nur ein kleiner Schritt bis zur Gräueltat.15 Dahinter steht der Wunsch nach Konformität und Zugehörigkeit, der oft stärker ist als das Wissen darum, was gut und vernünftig ist. Nicht nur berühmte Studien wie das Milgram- oder das Stanford-Prison-Experiment belegen dies, auch im Alltag erleben wir oft Situationen, bei denen es Menschen bewusst unterlassen, das Richtige zu tun.16 Fatal an diesen inneren Dämonen ist der Umstand, dass wir gelernt haben, sie zu verteidigen. Die Psychologie nennt dies die Moralisierungslücke: Täter und Opfer 8
Vgl. ebd., S. 761. Vgl. ebd., S. 775. Potenziell gewalttätiges Dominanzstreben in Verbindung mit Selbstüberschätzung, Unwissenheit und Ignoranz erkennt Pinker z. B. auch in den Ereignissen, die zum Irak-Krieg 2003 führten; vgl. ebd., S. 760 f. 10 Vgl. ebd., S. 783 ff. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd., S. 792. 13 Vgl. ebd., S. 810. 14 Vgl. ebd., S. 820 f. 15 Vgl. ebd., S. 824 ff. 16 Vgl. ebd., S. 826 ff. 9
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bewerten dasselbe Ereignis völlig unterschiedlich.17 Das mag banal klingen, ist es im Hinblick auf Gewalt aber nicht. Das Opfer wird das ihm widerfahrene Unrecht als unerträglich empfinden, während der Täter zwar weiß, dass seine Tat Unrecht war, aber dennoch rechtfertigende Gründe findet und sein Handeln als Ausnahme von der Regel darzustellen versucht. Dies kann Teufelskreise von Gewalt und Gegengewalt auslösen, weil sich jeder im Recht wähnt.18 Doch damit nicht genug: Die inneren Dämonen und auch die tückische Moralisierungslücke lassen sich – wenn überhaupt – nur eingeschränkt therapieren, denn dahinter verbergen sich die kognitiven Hilfsmittel unseres Gehirns, die uns auch klug machen.19 Wie ist es dem Menschen trotzdem gelungen, zu lernen nicht aggressiv zu sein?20 Dies führt zurück zu dem einleitend erwähnten Widerspruch, wie es überhaupt denkbar sein kann, von einem Rückgang der Gewalt zu sprechen, wenn uns doch die tägliche Erfahrung eines Besseren belehrt. Pinker argumentiert jedoch nicht mit subjektiver Erfahrung, er argumentiert mit Zahlen. Um aktuelle Daten mit historischen Quellen vergleichbar zu machen, berechnet Pinker jeweils eine Relation von n Toten pro 100.000 Menschen pro Jahr. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass sich nicht nur Epochen und Regionen hinsichtlich der Zahl der Toten vergleichen lassen, der Faktor n/100.000/Jahr macht auch anschaulich, wie sich bestimmte Formen der Gewalt entwickelt haben und welchen Anteil die jeweilige Kategorie der Gewalt an der Gesamtheit aller zu Tode gekommenen Menschen hat. Mit dieser Rechenmethode zeigt Pinker zunächst, dass die Gewalt insgesamt betrachtet bis zur heutigen Zeit von dreistelligen Zahlen vor 800 bis 1.000 Jahren auf durchschnittlich einen Mord pro 100.000 Menschen pro Jahr gesunken ist.21 Es entspricht also nicht den Tatsachen, dass früher alles besser war und die Menschen vor Jahrhunderten noch in Frieden und Harmonie lebten. Im Gegenteil: Menschen wurden aufgrund von Aberglauben grausam gefoltert, kleinste Delikte wurden mit dem Tod bestraft, Tier- aber auch Menschenquälerei ähnelte einem amüsanten social happening, Prügelstrafen für Kinder galten als Erziehungsmittel und auch die Tötung unpassender Neugeborener war nicht unüblich.22 Es war einem langsamen, aber doch stetigem Wandel der Empfindlichkeiten zu verdanken, dass Gewalt nicht nur Schritt für Schritt aus dem täglichen und öffentlichen Leben verschwand, sondern schlichtweg nicht mehr geduldet wurde – weder vom Staat noch von der Gesellschaft.23 Als Grund für diesen Wandel führt Pinker Entwicklungen an, aus denen 17
Vgl. ebd., S. 723 ff. Vgl. ebd., S. 796. 19 Vgl. ebd., S. 842 f. 20 Vgl. ebd., S. 714. 21 Vgl. ebd., S. 106 ff. 22 Vgl. ebd., S. 278 ff. 23 Vgl. ebd., S. 261 ff. u. 284. Pinker zeigt, dass, bedingt durch kulturellen Wandel, bestimmte Gewaltakte plötzlich nicht mehr gesellschaftlich akzeptiert werden. Die Debatte um 18
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er später die besseren Engel ableitet. So führte der Siegeszug der Wissenschaft zum Skeptizismus, zum Humanismus und schließlich zur Aufklärung.24 Begünstigt wurde dies zum einen durch den Buchdruck und die Verbreitung des Lesens sowie durch sich stärker verflechtende Handelsbeziehungen zwischen Einzelnen, Gruppen und auch Staaten.25 Der Staat selbst wurde zum Garanten des Wohlstandes, hatte das Gewaltmonopol inne und lernte mit der Zeit, dieses Monopol immer effizienter, vor allem aber auch effektiver anzuwenden.26 Doch wo bitte war der Rückgang der Gewalt, als die Weltkriege ausbrachen, Völkermorde begangen wurden, Tyrannen ihr Volk missbrauchten und Terroranschläge unzählige Tote forderten? Auch hier argumentiert Pinker mit Zahlen. Von den 20 schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte fanden nur drei (der Zweite Weltkrieg, die Stalin-Diktatur und Maos „Großer Sprung“) im 20. Jahrhundert statt.27 Extrapoliert man die Opferzahlen vergangener Kriege auf das heutige Bevölkerungsniveau, reihen sich die Weltkriege in eine ganze Reihe von Konflikten ein, die eine vergleichbar katastrophale Zerstörungskraft entwickelten.28 Betrachtet man noch die statistische Verteilung von Kriegen im Verhältnis zu ihren Opferzahlen, so werden Kriege immer unwahrscheinlicher, je mehr Opfer sie fordern – was einen Weltkrieg damit zwar astronomisch unwahrscheinlich, aber eben nicht unmöglich macht.29 Pinker wendet sich damit gegen den Glauben, Kriege unterlägen einer Gesetzmäßigkeit. Ferner muss man sich auch bewusst machen, dass rund die Hälfte der Millionen Toten des 20. Jahrhunderts nur einer Handvoll Männer zugerechnet werden können.30 Wären der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ohne einen Adolf Hitler zu einer derartigen Katastrophe geworden? Wären Millionen Russen auch ohne einen Josef Stalin elendig im Gulag verendet? Hätte die Volksrepublik China am Rande des Abgrunds ohne einen Mao noch den großen Sprung nach vorn gewagt? Da diese Gedanken eher spekulativ sind, wendet Pinker auch hier die Relation n/100.000/Jahr an. Alle wesentlichen Gewaltformen, vom Bürgerkrieg über Eroberungskriege, vom Genozid bis zum Terrorismus, zeigen allesamt einen signifikanten Abfall der statistischen Kurve in den letzten Jahrzehnten.31 Und die Bilanz der verRechte von Tieren oder, ganz aktuell, die Proteste in Indien, die sich gegen brutale Gewalt gegenüber Frauen wenden, können als Beispiel angeführt werden. 24 Vgl. ebd., S. 275 ff. 25 Vgl. ebd., S. 266 ff. Diesen Entwicklungen misst Pinker große Bedeutung zu, weil sich dadurch Empathie stärker ausprägen konnte. 26 Vgl. ebd., S. 133 ff. u. 186 ff. 27 Vgl. ebd., S. 298. 28 Die größte Katastrophe fand demnach im 8. Jahrhundert in China statt (An-LushanAufstand). Es folgte die Mongolen-Feldzüge des 13. Jahrhunderts und der Sklavenhandel im Nahen Osten ab dem 7. Jahrhundert. 29 Vgl. ebd., S. 309 ff. 30 Vgl. ebd., S. 296 ff. u. 375 ff. 31 Vgl. ebd., S. 290 ff. u. 441 ff.
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heerenden Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten dieser Welt liegt seit dem Zweiten Weltkrieg sogar bei null:32 Seitdem wurden keine Atombomben mehr gegen Staaten eingesetzt, im einst so kriegerischen Westeuropa ist Frieden eingekehrt, kein international anerkannter Staat wurde erobert, kein Staat expandierte durch Besetzung anderen Staatsgebietes, sogar die Zahl der Stellvertreterkriege ist mittlerweile auf null gesunken. Wir neigen jedoch nicht nur dazu, unsere Geschichte misszudeuten, wir tun dies laut Pinker auch mit unserer Gegenwart und ziehen daraus falsche Schlüsse für unsere Zukunft. Viele Dinge, die wir für selbstverständlich halten, mussten einen langen Weg durch die Geschichte zurücklegen:33 Oft ist uns nicht bewusst, dass gewalttätiger Rassismus und Hassverbrechen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verbreitet waren. Ob derartige Taten verwerflich sind, wird heute jedoch überhaupt nicht mehr infrage gestellt, dazu stehen sie viel zu deutlich im Gegensatz zu unserem Welt- und Menschenbild. Und so sehr Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit begründet sein mögen, so berechtigt ist auch der Hinweis, dass es hier bereits große Fortschritte gab:34 War Vergewaltigung in der Ehe vor wenigen Jahrzehnten noch nicht einmal als Verbrechen anerkannt, so ist sie heute ein derart starkes Tabu, dass sie nicht einmal in den brutalsten Videospielen zu finden ist.35 Noch irrationaler verhalten wir uns laut Pinker, wenn persönliche Ängste eine Rolle spielen: Die Sorge von Eltern, ihr Kind könne entführt und getötet werden, ist verständlich. Häufig mündet berechtigte Sorge aber, zum Teil getrieben durch die Medien, in hysterischer Überbehütung.36 Deutlicher wird das Argument am Beispiel des Terrorismus, hier sieht Pinker ein geradezu absurdes Verhältnis von öffentlicher Angst zu realem Schaden.37 Ähnlich wie der nächste Weltkrieg ist der nächste Anschlag der Größenordnung 9/11 nicht unmöglich, aber astronomisch unwahrscheinlich.38 Schaut man in der Tat hinter die Kulissen von 9/11 und Al-Quaida, stellt man fest, dass Zufälle und individuelle (Fehl)Entscheidungen diesen Anschlag erst möglich machten – und der durch 9/11 zum globalen Staatsfeind Nummer 1 erklärte Osama Bin Laden hatte abgesehen von der Finanzierung nichts mit dem tatsächlichen Anschlag zu tun.39 Mehr noch: Bin Ladens Bilanz als Krieger war bisweilen erbärmlich,40 sein Mythos rührte eher aus einer geschickten medialen Inszenierung, 32
Vgl. ebd., S. 376 ff. Vgl. ebd., S. 568 ff. u. 573. 34 Vgl. ebd., S. 584 ff. 35 Vgl. ebd., S. 595. 36 Vgl. ebd., S. 614 ff. Auch hier hat Pinker ein statistisches Ass im Ärmel: Um 100 Prozent sicher sein zu können, dass ein Kind entführt und getötet wird, müsse man es 750.000 Jahre unbeaufsichtigt im Freien spielen lassen. 37 Vgl. ebd., S. 511 ff. 38 Vgl. ebd., S. 547 ff. 39 Vgl. Wright (2007), S. 380 ff. u. 416 ff. 40 In seinem Buch Der Tod wird Euch finden führt Lawrence Wright zahlreiche Beispiele an, dass Bin Laden alles andere als ein erfolgreicher Krieger war; vgl. ebd., S. 127 ff., 147, 33
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den Lorbeeren anderer und insbesondere dem Schadenspotenzial, welches ihm die westliche Welt zuschrieb.41 Damit zurück zu der Frage, wie der Rückgang der Gewalt möglich war: Wie haben wir gelernt, weniger aggressiv, weniger gewalttätig zu sein? Was sind die besseren Engel, die unsere inneren Dämonen in Schach halten? Da wäre zunächst unsere Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren Gefühle nachzuempfinden, die uns davon abhält, Gewalt anzuwenden.42 Empathie befähigt uns, den Wert anderer Menschen, den Wert des Mensch-Seins an sich, zu erfassen – ganz im Sinne von Kant: der Mensch ist nicht Mittel sondern Zweck.43 Und wenn wir uns gelegentlich dagegen entscheiden, andere Menschen in den Kreis unseres Mit-Gefühls aufzunehmen, dann sind wir doch in der Lage, uns in Selbstbeherrschung zu üben.44 Pinker stellt fest, dass Selbstbeherrschung einen positiven Domino-Effekt hat, gleich einem Trend, der sich immer mehr in der Gesellschaft ausbreitet.45 Selbstbeherrschung kann demnach trainiert werden wie ein Muskel und ebenso kann sie durch Belastung auch ermüden.46 Der widersprüchlichste der besseren Engel ist aber zweifellos die Moral und ihre kleine Schwester, das Tabu. Moral ist etwas anderes als Gesetz, oft handelt es sich um etwas, das unausgesprochen bleibt, bei dem aber alle davon ausgehen, dass jeder das so sieht.47 ,Das machen alle so‘ und ,Das haben wir schon immer so gemacht‘ sind Ausdruck eines Konformitätsanspruchs, zu dessen Durchsetzung bisweilen sogar Gewalt als legitimes Mittel gesehen wird.48 Gleichzeitig veranlasst der Blick auf die Moral die Kritiker der Moderne zu Abscheu: Keine Woche vergeht, ohne dass sich Politiker in Skandale verwickeln, Menschen entwürdigen sich in Fernsehshows selbst und Millionen Zuschauer schauen gebannt zu. Wer gegen Gesetze verstößt, übt sich nicht etwa in Demut, sondern ruft seinen Anwalt an.49 Auch hier stellt Pinker fest, dass wir unsere eigene Entwicklung missdeuten, denn trotz des oft prognostizierten Verfalls der Moral ist unser Bewusstsein dafür, was gegen die Würde des Menschen verstößt, gestiegen.50 In nur wenigen Stunden, sprichwörtlich über Nacht, sorgten die unbedachten Äußerungen eines FDP-Politikers über die asiatische Herkunft seines Parteivorsitzenden zu einer heftigen Rassismus-Debatte. Ferner 175 ff. So gelang es ihm z. B. nicht, mit 100 (!) Kriegern ein einzelnes MG-Nest, welches eine afghanische Stadt bewachte, auszuheben. 41 Vgl. ebd., S. 327 ff. 42 Vgl. Pinker (2011). S. 850 ff. 43 Vgl. ebd., S. 856 ff. 44 Vgl. ebd., S. 877 ff. 45 Vgl. ebd., S. 903 f. 46 Vgl. ebd., S. 891 ff. 47 Vgl. ebd., S. 932 f. 48 Vgl. ebd., S. 923 ff. 49 Vgl. ebd., S. 943 ff. u. 1027. 50 Vgl. ebd., S. 977 ff.
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wäre es heute unvorstellbar, dass ein Bundespräsident in einer Rede erst die Gäste begrüßt und dann die ,lieben Neger‘.51 Wir wissen also um Normen und Regeln und wir achten darauf, dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Innerhalb dieser Grenzen ist es aber genau der als katastrophal empfundene Verfall der Moral, der sich so positiv auf den Rückgang der Gewalt ausgewirkt hat.52 Homosexuelle bekennen sich öffentlich, ohne dass dies noch ein Thema wäre, während die vor 30 Jahren herrschenden Moralvorstellungen dies nicht nur weitgehend undenkbar machten; ein öffentliches Coming-out hätte für den Betreffenden durchaus gefährlich werden können, angefangen bei gesellschaftlicher Ächtung bis hin zu Schikane und Gewalt. Heute dagegen verhindert die „Rolltreppe“53 der Vernunft, dass wir anderen Menschen die Rechte verwehren, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Die Vernunft ist gleichzeitig der letzte der besseren Engel, denn sie kann sich nur unter der Voraussetzung der Wirksamkeit der anderen Engel entfalten.54 Zieht man eine Bilanz, so muss man feststellen, dass der zunehmende Verzicht auf Gewalt nicht einer höheren Einsicht entsprungen ist; die hier nur grob skizzierten Entwicklungen sorgten dafür, dass der Gewinn für alle Beteiligten höher wurde, wenn sie auf Kooperation statt auf Gewalt setzten.55 Der Staat als Entsprechung des Hobbes’schen Leviathan hat das alleinige Gewaltmonopol und verhindert Gewalt per Gesetz,56 Handel mit gleichberechtigten Partnern erhöht den Wohlstand und das Vertrauen untereinander;57 Frauen befriedeten nicht mehr nur die Familienväter sondern zunehmend auch Politik und Öffentlichkeit,58 und Empathie und Vernunft zogen immer weitere Kreise, in die nun auch die mit eingeschlossen sind, die aufgrund von Nonkonformität bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur Zielscheibe von Gewalt geworden wären.59 Die Kritik an der Moderne mag nicht unberechtigt sein. Dennoch ist die Moderne nicht die gesellschaftliche Katastrophe, als die sie gern dargestellt wird. Und noch weniger ist sie das dunkle Zeitalter. Denn, das macht Pinker sehr eindrucksvoll deutlich, das dunkle Zeitalter haben wir heute weit hinter uns gelassen.
51 Pinker bezieht sich selbstverständlich nicht auf Heinrich Lübke, dem dieses Zitat zugeschrieben wird. Er führt Winston Churchill an, der bis heute verehrt wird. Dieser hielt z. B. den Einsatz von Giftgas für gerechtfertigt, wenn er sich gegen minderwertige Völker richten würde. Pinker will hier der Wahrnehmung begegnen, frühere Politiker wären besser gewesen; wahrscheinlich hätten sie heute eher Stürme der Entrüstung entfacht. 52 Vgl. ebd., S. 945 f. 53 Ebd., S. 566. 54 Vgl. ebd., S. 992. 55 Vgl. ebd., S. 1009. 56 Vgl. ebd., S. 1010 ff. 57 Vgl. ebd., S. 1012 ff. 58 Vgl. ebd., S. 150 ff. u. 1015 ff. 59 Vgl. ebd., S. 1022.
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III. Perspektivwechsel: Wie weit tragen Engelsflügel? Bereits Pinkers einleitende Feststellung, die Menschheit erlebe ihr friedlichstes Zeitalter, provoziert Widerspruch. Zu groß erscheint die Differenz zwischen eigener Wahrnehmung und Pinkers Behauptungen. Und im Zweifelsfall traut man doch eher der eigenen Wahrnehmung als den Thesen eines fremden Wissenschaftlers. So scheint es zunächst relativ einfach zu sein, Schwachstellen in Pinkers Argumentation aufzudecken. Da ist zunächst der Begriff der Gewalt. Grundsätzlich verbirgt sich dahinter ein vielschichtiges und komplexes Phänomen. Im jeweiligen Kontext wäre es erforderlich, genau zu definieren, was man unter Gewalt versteht.60 Genau das tut Pinker aber nicht. Dennoch, so stellt man rasch fest, kann man ihm begriffliche Unschärfe nicht vorwerfen, da Pinker Gewalt eben nicht in nur einem bestimmten Kontext untersucht, sondern sich an einem Gesamtüberblick zum Phänomen Gewalt versucht. Genau genommen untersucht er die Auswirkungen von Gewalt und versucht zu belegen, dass diese Auswirkungen heute weniger verheerend sind, als sie das zu früheren Zeiten waren. Dazu führt Pinker zahlreiche Statistiken, Logarithmen und Wahrscheinlichkeiten an, und, kaum überraschend, finden sich hier erneut vermeintliche Ansatzpunkte zu sachlicher Kritik. Wenn Pinker aus den Verletzungsmustern archäologischer Funde wie z. B. dem berühmtem ,Ötzi‘ schlussfolgert, es wäre in der Steinzeit an der Tagesordnung gewesen, andere zu erschlagen,61 ist dies letztlich nichts als Spekulation. An einer anderen Stelle stellt Pinker die praktisch gewaltfreie Kinderliteratur von heute der ganz und gar nicht gewaltfreien Märchenkultur beispielsweise der Gebrüder Grimm gegenüber.62 Doch was ist mit Fernsehen, Kino und Konsolen und den dort üblichen Darstellungen von Gewalt?63 Muss man diese neuen Entwicklungen nicht berücksichtigen? Historiker dürften Pinkers Darstellung des Mittelalters nur bedingt zustimmen,64 während Konfliktforscher vielleicht mit seiner Charakterisierung des 20. Jahrhun-
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Vgl. Tillmann (2012), S. 8 ff. Vgl. Pinker (2011), S. 25 ff. 62 Vgl. ebd., S. 50 ff. 63 Laut Möller/Krahé (2012), S. 67 ff., konsumieren Kinder nicht nur mehr gewalttätige Inhalte, sie tun dies auch immer früher. Ein Zusammenhang zwischen medialem Konsum und realer Gewaltanwendung bleibt aber umstritten; zur wissenschaftlichen Debatte Medien und Gewalt s. auch Plake (2004), S. 214 ff. 64 Für einen Überblick zum Mittelalter s. Müller (2008). Auch in den folgenden Jahrhunderten wurde nicht so blutrünstig gekämpft, wie Pinkers Darstellung vermuten lässt; vgl. Ortenburg (2005a), S. 15 ff. sowie Fiedler (2005a), S. 9. Je kostspieliger Soldaten wurden, desto größer waren die Anstrengungen, tödliche Kämpfe zu vermeiden; vgl. Fiedler (2005a), S. 183 ff. u. 209 ff. Dieser Trend setzte sich zunächst fort; vgl. ders. (2005b), S. 21, 228 ff. u. 294 ff., und kehrte sich erst um, als professionelle Soldaten und Söldner durch Wehrpflichtige ersetzt wurden; vgl. Ortenburg (2005b), S. 12 u. 86. 61
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derts nicht einverstanden wären.65 Bei der Entwicklung der Häufigkeit terroristischer Anschläge ist der Trend nicht so deutlich, wie Pinker ihn darstellt: Laut RAND Terrorism Database steigen die Angriffe seit 2000 mit Spitzenwerten in 2002 und 2004 bis 2006. Das entkräftet zwar nicht die Feststellung, dass die Zahl der Terroropfer rückläufig wäre, aber dabei waren vermutlich nicht die „besseren Engel“ aktiv, sondern eher Schutzengel. Auch die Quellen, die Pinker anführt, bedürfen durchaus einer kritischen Betrachtung. Zum Beispiel ist der Battle Death Dataset in Verbindung mit dem Human Security Report Project (HSRP)66 aufgrund seiner Datenbasis keineswegs unumstritten.67 Mit dem Conflict Data Project der Uppsala Universität (UCDP) stützt Pinker zwar seine Argumentation, jedoch sehen die beteiligten Forscher die weltweite Entwicklung der Gewalt keineswegs so optimistisch wie Pinker, sondern sind ganz im Gegenteil zutiefst besorgt: „Over the past few years (…) the number of armed conflicts has increased. (…) This is a cause for serious concern.“68 Vermutlich würde Pinker derartige Kritik des empirischen Teils seines Werkes ungerührt zur Kenntnis nehmen, denn sein Anliegen ist das Aufzeigen allgemeiner Trends im Hinblick auf Gewalt,69 und die Trägerfrequenz all dieser Trends ist der Rückgang der Todesopfer. Wesentlichen Anteil an dieser Feststellung hat die Relation n/100.000/Jahr, und auch diese Gleichung erscheint auf den ersten Blick höchst problematisch. Abgesehen von den ethischen Implikationen,70 werden bei der Beweisführung nicht die Ursachen der Gewalt respektive die Täter in den Mittelpunkt gestellt, es wird vielmehr nach den Wirkungen, dem Schaden, den (potenziellen) Opfern gefragt. Gerlach und Metz betrachten dagegen in ihren Untersuchungen Gewalt aus Sicht des oder der Täter bzw. in einem regional-kulturellen Zusammenhang. Ähnlich wie Pinker erkennen sie zwar, dass es gelungen ist, Gewalt zu zähmen, doch einen Rückgang erkennen beide nicht.71 65
Die moderne Konfliktforschung hat einerseits andere analytische Begriffe als Pinker und kommt zu anderen Zahlen; vgl. Bauer (2010), S. 275. Hinsichtlich der überlieferten Opferzahlen aus länger zurückliegenden Konflikten stellen sowohl Fiedler (2005a), S. 182 als auch Morris (2013) fest, dass diese Zahlen einer sachlichen Kritik nicht standhalten, da sie häufig zu hoch gegriffen seien. 66 Vgl. Pinker (2011), S. 445 f. 67 s. Pressemitteilung HSRP vom 15. 12. 2009: In einer Studie war kritisiert worden, das Battle Death Data Set berücksichtige nicht die Opfer, die an den Folgen von bewaffneten Konflikten sterben. Jener Studie wiederum wurden methodische Fehler vorgeworfen. Hier zeigt sich, dass Gewalt kein Phänomen ist, welches sich nur mit Zahlen erfassen lässt. Umgekehrt ist die Annahme unzulässig, dass Zusammenhänge, die sich statistisch nicht nachweisen lassen, nicht existieren. Zur Problematik direkte und indirekte Opfer von Massengewalt s. auch Gerlach (2011), S. 343 f. 68 http://www.pcr.uu.se/digitalAssets/142/142555_ucdp2012_english.pdf. 69 Vgl. Pinker (2011), S. 537. 70 Pinkers Formel belegt zwar den statistischen Rückgang der Gewalt, in absoluten Zahlen ist das nicht zwangsläufig der Fall. Damit besteht die Gefahr der Verharmlosung aktueller Opferzahlen. Pinker beteuert jedoch, sich dieser Problematik bewusst zu sein, bleibt aber (vorsichtig) optimistisch; vgl. ebd., S. 2011, 1027 ff. u. 1033. 71 Vgl. Gerlach (2011); Metz (2010).
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Doch führt seine eventuell fragwürdige Methodik dazu, dass Pinker in der Sache unrecht hat? Muss man anhand der bisweilen spekulativen Beweisführung zu dem Urteil kommen, dass es der Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten nicht gelungen wäre, zu einem besseren Umgang miteinander zu finden? Will man ernsthaft bestreiten, dass staatliche Ordnung, gemeinsamer Handel, die verbesserte Befähigung zur Vernunft oder auch die „Revolution der Rechte“72 Fortschritt bedeutet haben? Wohl kaum. Bei genauerem Hinsehen findet sich in Pinkers Rückblick auf die letzten Jahrhunderte auch nur wenig, was tatsächlich dem Stand der wissenschaftlichen Forschung widerspräche.73 Neu dagegen ist die Darstellung der kognitiven Prozesse, die sich hinter den Dämonen und Engeln verbergen. Doch lassen sich diese Prozesse auch auf Menschen übertragen, die vor 100, 500, 1.000 oder 5.000 Jahren gelebt hat? Oder anders gefragt: Ist Gewalt im 21. Jahrhundert tatsächlich denselben Mechanismen unterworfen wie etwa beispielsweise im Mittelalter? Aus heutiger Perspektive kann Gewalt nicht ohne die Angst vor derselben gedacht werden74 – gerade deswegen fällt es uns ja so schwer, Pinker zu glauben. Der Mensch im Mittelalter dagegen, dessen Leben eher einem täglichen Kampf ums Überleben glich, dürfte die Gefahren des Alltags um ein Vielfaches konkreter erlebt haben, als wir dies heute tun. Dieser Mensch hat – auch unter Berücksichtigung eines völlig anderen Weltbildes – Gewalt ganz anders erlebt und bewertet, als wir dies heute tun.75 Aus soziologischer Sicht ließe sich sogar argumentieren, dass es für einen Rückgang der Gewalt gar keiner Veränderung kognitiver Prozesse im Sinne einer Einsicht bedürfe: Hinter gesellschaftlicher Evolution lassen sich oft Handlungszwänge feststellen.76 Dahinter verbirgt sich die Frage, ob die Einsichten des Individuums überhaupt etwas mit Umdenken, Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel zu tun haben, oder ob vielmehr das Individuum dem gesellschaftlichen Wandel folgt.77 Bei der Auseinandersetzung mit Pinker muss man jedoch fragen, ob es wirklich Sinn macht, derartige Differenzierungen vorzunehmen. Die Antwort lautet: Nein. Pinker trennt eben nicht individuelle kognitive Prozesse und gesellschaftliche Entwicklung, wenn es um den Rückgang der Gewalt geht. Im Gegenteil: Wie bereits ausgeführt wurde, sieht er die besseren Engel in Wechselwirkung mit gesellschaftlichpolitischen Prozessen: Gewalttätige Handlungen werden zunächst von Einzelnen, später von der Gesellschaft insgesamt nicht mehr akzeptiert, dann vom Staat verboten und schließlich für alle undenkbar. Wie diese Wechselwirkungen im Detail ab72
Pinker (2011), S. 566. Die befriedende Rolle des modernen Staatswesens wird z. B. bei Metz (2010), S. 43 ff. oder Fiedler (2005b), S. 12 betont, eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Aspekt liefert Morris (2013). 74 Vgl. Metz (2010), S. 7 f. 75 Vgl. ebd., S. 29. 76 Vgl. Habermas (1976), S. 26 ff. 77 Vgl. Fiedler (2005b), S. 293 ff. 73
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laufen, untersucht Pinker nicht. Und da sich die von ihm festgestellten Tendenzen bis in die Gegenwart verfolgen lassen, spielt es für ihn auch keine Rolle, welchen Wirkmechanismen Gewalt zu einer bestimmten Epoche unterworfen war. Pinkers Beweisführung zu entkräften oder gar zu widerlegen, scheint also nicht zu gelingen, da er mit der Interpretation der vorliegenden Zahlen, Daten und Fakten in der Tat Neuland zu beschreiten scheint. Damit bleiben für eine kritische Auseinandersetzung noch Pinkers bessere Engel: Wie stark sind sie tatsächlich? Wie sehr können wir, wie sehr dürfen wir ihnen trauen? Wie wirkmächtig sind sie heute noch? Die Verweiblichung als besserer Engel überzeugt insgesamt am wenigsten.78 Der Zusammenhang zwischen Gewalt und der Rolle der Frau in der Gesellschaft lässt sich nicht aus Pinkers Argumentation ableiten. Gerade der Aspekt, mit dem Pinker bei allen anderen Engeln so sehr auftrumpft – Zahlen, Daten, Fakten – fehlt hier völlig. Darüber hinaus lässt sich bei der Verweiblichung auch kein wirklicher Trend feststellen – eher im Gegenteil. Die Fortschritte im Kampf für Frauenrechte sind nicht zu leugnen, doch auch in Europa sind diese Fortschritte noch sehr begrenzt. Auf dem afrikanischen Kontinent sind Frauenrechte nach wie vor ein Schwerpunktthema humanitärer Organisationen, und die Massenvergewaltigungen in Indien, teils mit Todesfolge, stützen zwar Pinkers These, dass eine Gesellschaft bestimmte Formen der Gewalt irgendwann nicht mehr zu akzeptieren bereit ist, dennoch passen diese Übergriffe nicht zu dem Bild eines Staates, der nach Demokratie, Fortschrittlichkeit und Modernität strebt. Der steigende Einfluss der Weiblichkeit dürfte eher der Rolltreppe der Vernunft79 zu verdanken sein und weniger einem eigenständigen Engel. Dass Vernunft dagegen in der Tat ein besserer Engel ist, gerade dann, wenn Selbstbeherrschung und Empathie noch mit von der Partie sind, scheint dagegen eindeutig zu sein. Die Vernunftbegabung des Individuums steht außer Frage, anders dagegen sieht es mit dem Vernunftpotenzial der Gesellschaft aus. Prinzipiell kann man zwar davon ausgehen, dass eine Gesellschaft sich vernünftig ,verhalten‘ kann,80 doch gerade spätkapitalistische Gesellschaften weisen genau den gegenläufigen Trend auf.81 Mit anderen Worten: Wir werden Zeugen einer paradoxen Situation. Das gute Werk der besseren Engel am einzelnen Menschen geht anscheinend zu Lasten der Gesellschaft. Die Schnelllebigkeit der Postmoderne nämlich fragt immer das Neue nach, Routine dagegen ist der Feind des Neuen. Wer nicht auf der Strecke bleiben will, passt sich an. Flexibilität wird zum zentralen Begriff.82 Individualisierung mag 78 Vgl. Pinker (2011), S. 1015 ff.: Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass empirisch gesehen Gewalt ein fast ausschließlich männliches Phänomen ist. Pinker leitet daraus ab, dass Frauen befriedend wirken würden. 79 Ein Familienvater, der sich eine Existenz aufgebaut hat, hätte rein rational mehr zu verlieren, wenn er das Risiko eines Konfliktes eingeht als der halt- und wurzellose Einzelgänger. 80 Vgl. Habermas (1976), S. 92 ff. u. 108 ff. 81 Vgl. ebd., S. 92; Jörke (2006), S. 498. 82 Vgl. Sennett (2000), S. 10 ff.
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zwar Freiheiten bieten, doch der Preis dafür ist fortschreitende Orientierungslosigkeit, bis das eigene Leben zum Stückwerk verkommt, welches bestenfalls temporär anschlussfähig sein kann.83 Das Gemeinsame macht keinen Sinn mehr. Dass solche Gedanken nicht einfach als Schwarzmalerei abgetan werden dürfen, zeigen Alltagsberichte deutscher Lehrer.84 Es scheinen sich Milieus zu bilden, die sich strukturell immer mehr von der Gesellschaft entkoppeln. Mehr noch: Der einst von Norbert Elias beschriebene Zivilisierungsprozess scheint sich in diesen Fällen geradezu umzukehren. Man entfernt sich von den Umgangsformen, die Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschritts sind und definiert sich über das Urwüchsig-Primitive.85 Freilich führt dies nicht dazu, dass wir plötzlich wieder ins Mittelalter zurückfallen. Dennoch stehen die eben beschriebenen Phänomene immer deutlicher im Widerspruch zu dem, was die besseren Engel eigentlich bewirken sollen. Selbst wer sich Vernunft sowie Selbstbeherrschung auferlegt und sich in andere hineinversetzen kann, tut dies eben nicht immer zum gegenseitigen Nutzen, sondern bisweilen in der Absicht, anderen zu schaden. Im virtuellen Raum sind sogar vom Raub bis hin zur Zerstörung eines Lebens Dinge möglich, die massiven Schaden anrichten, ohne dass es zur Gewaltanwendung kommt. Die größte Krise jedoch erlebt wohl der Leviathan, der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols. Die Regulierungswut staatlicher Instanzen greift derart um sich, dass Leuchtmittel-Kontrolleure, die den geächteten 100-Watt-Glühbirnen auf der Spur sind, ebenso denkbar werden wie Dachrinnenneigewinkel-Verordnungen der Europäischen Union (EU). Gleichzeitig scheint der Staat einer steigenden Anzahl von Entwicklungen völlig machtlos gegenüber zu stehen. Ganz gleich, ob es um wirksame Kontrollen der Finanzmärkte geht, um Lebensmittelkontrollen oder Unterbinden schamloser Preispolitik – es bleibt bei vollmundigen Ankündigungen. Kein Wunder, denn selbst scheinbar einfache Prozesse wie das Fertigen eines Kleidungsstücks sind heute derartig globalisierbar und flexibilisierbar, dass sie sich entweder von vornherein staatlicher Kontrolle entziehen oder sich in kürzester Zeit reorganisieren bzw. auslagern lassen. Und auch Gewalt scheint der Staat nicht mehr effektiv in den Griff zu kriegen. Das liegt zum einen daran, dass gerade die Exekutive beliebtes Ziel von Haushaltskürzungen ist, zum anderen auch daran, dass sich ein Staat den großangelegten Einsatz seiner Exekutive kaum noch leisten kann. Im Inneren haben Debatten um die Beteiligung der Wirtschaft an den Kosten für Polizeieinsätze begonnen, in der Außenpolitik steht außer Zweifel, dass ein Ende des ISAF-Einsatzes sowie die Zurückhaltung vieler Staaten bei neueren Konflikten auch der jeweiligen Kassenlage geschuldet sind. Damit relativiert sich das Drohpotenzial eines Staates deutlich, zumal Abschreckung im Zeitalter asymmetrischer Konflikte kaum noch
83 Vgl. ebd., S. 64. Sennetts Bewertung dieses Trends wird schon am Titel der englischen Originalausgabe deutlich: „The Corrosion of Character“. 84 Vgl. Möller (2012). 85 Vgl. ebd., S. 9 ff. u. 14 ff.
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Wirksamkeit entfalten dürfte.86 Hinzu kommt die geringe Effektivität im Zusammenspiel staatlicher Organe.87 Selbst dort, wo der Staat sein Gewaltpotenzial massiv einsetzt, verhindert dies bisweilen nicht den Anstieg von Gewalt.88 Damit scheint sich Gewalt grundsätzlich von Macht entkoppelt zu haben.89 Zumindest stimmt es nachdenklich, wenn besonders tödliche und darüber hinaus unberechenbare Gewalt, z. B. in Form von Amokläufen, gerade von den Macht- und Hilflosen ausgeht.90 Noch einmal sei betont, dass es hier nicht um den Gegenbeweis zu Pinker gehen soll. Keines der zuletzt angeführten Beispiele soll die besseren Engel grundsätzlich infrage stellen, zumal es auch nicht an positiven Gegenbeispielen mangelt. Aber darf man darüber hinwegsehen, dass die heutige Welt Möglichkeiten bietet, ungeahnten Schaden anzurichten, ohne körperliche Gewalt anzuwenden? Darf man ignorieren, dass Fehlleistungen einzelner Manager globale Krisen auslösen? Ist es nicht bedenklich, dass sich eine Nation wie die USA im Jahr 2013 durch einen Entschlossenheitswettbewerb zwischen den Parteien sehenden Auges in eine Handlungsunfähigkeit begibt? Und wie steht es mit der Gewalt selbst? Sie mag zwar statistisch zurückgegangen sein, sie mag ihre Erscheinungsformen verändert haben, aber wer beherrscht sie noch? Wer ist in der Lage, die Dämonen zu zähmen? Die besseren Engel werden von Pinkers statistischer Beweisführung eingeholt, weil der Einzelne immer weniger Anreiz hat, sich gegen Gewalt einzusetzen: Es scheint zwar nicht unmöglich, aber astronomisch unwahrscheinlich, dass er selbst zum Betroffenen eines spezifischen Problems wird. Nichtzuständigkeit ist mittlerweile zum Ausdruck eines weit verbreiteten und oft sorgsam kultivierten Selbstverständnisses geworden. Und der Staat, insbesondere aber die staatlichen Kollektive demonstrieren angesichts von Gewalt ein ums andere Mal Hilflosigkeit.91 Pinker selbst weist auf das Dilemma der Dämonen und Engel hin: Sie unterliegen denselben kognitiven Prozessen: Was uns klug macht, macht uns auch gefährlich. Und selbst dieses Paradox wird durch die Moralisierungslücke aufgelöst, bringt sie doch klug und gefährlich in Einklang. Sie ermöglicht das Einstehen und Eintreten für bestimmte Werte, ohne dass derjenige, der sie einfordert, sich selbst daran halten müsste – es gibt wohl kaum ein banaleres und dabei doch überzeugenderes Beispiel als Autofahren auf deutschen Straßen. Diese Feststellungen machen Pinkers Werk, wie bereits gesagt, keineswegs nichtig. Im Gegenteil: Es ist von höchster Bedeutung, die Entwicklung der Menschheit bis heute positiv zu sehen und das im Blick zu behalten, was wir richtig gemacht haben. Nur so erkennen wir die Bedeutung der besseren 86
Vgl. Gray (2010). Am Beispiel 9/11 eindrucksvoll geschildert bei Wright (2007), S. 387 ff. u. 416 ff. 88 Vgl. http://www.polizei-nrw.de/artikel__68.html. Hier wird trotz massiver Polizeipräsenz ein Anstieg von Gewalt im Umfeld von Fußballspielen dokumentiert. 89 Vgl. Arendt (2011), S. 14 u. 32 ff. 90 Vgl. ebd., S. 63 f. u. 67; Bründel (2012), S. 49; Freitag (2012), S. 64 ff. 91 Vgl. Bauer (2010), S. 276 ff. 87
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Engel, wissen ihr Wirken zu schätzen und sehen die Notwendigkeit, ihrer Erosion Einhalt zu gebieten.
IV. Fazit: Zwischen Glauben und Hoffnung Der Stoff des Unsichtbaren ist die Angst. Wir können Menschen ins All schießen, Atome spalten, ganze Bibliotheken auf Mikrochips speichern und DNA entschlüsseln. Doch gegen Terroristen, Amokläufer, Kinderschänder, Mörder und Verbrecher finden wir kein Mittel? Es scheint, als gäbe es unsichtbare Mechanismen, die sich nach wie vor unserer Kontrolle entziehen. Das erzeugt Unsicherheit und aus dieser Unsicherheit entsteht Angst vor genau den Dingen, die wir nicht begreifen. Medien und Politik tun ihr Übriges, indem sie uns schlaglichtartig immer wieder auf Gefahren aufmerksam machen. Öffentliche Akteure sind eifrig bemüht, Missstände zu beseitigen, die gar nicht erst hinterfragt werden. Dabei wird der schmale Grat zwischen Sinn und Unsinn oft ebenso entschlossen wie unbewusst überschritten. Allzu leicht erliegen wir dem Glauben, man müsse nur die richtigen Hebel in Bewegung setzen, um ein Problem zu lösen. Dieser Machbarkeitswahn treibt die vermeintliche Wohltat so sehr auf die Spitze, dass sie zur Plage wird. Ob es um alltägliche Dinge wie Gleichberechtigung92 geht oder um gefährliche wie Terrorismus93 – Hysterie, kognitive Fehlleistungen und schlichte Unwissenheit verhindern, dass wir viele Dinge so sehen und einordnen, wie sie tatsächlich sind. Hier liegt Steven Pinkers größter Verdienst: Es gelingt ihm, das hochkomplexe Phänomen Gewalt aus der intuitiv-emotionalen Umklammerung zu befreien. Er macht deutlich, welche kognitiven Prozesse dazu führten, dass dem ungezügelten Treiben innerer Dämonen mehr und mehr durch, wie er es nennt, „bessere Engel“ Einhalt geboten werden konnte. Ob ihm letztlich der Nachweis gelingt, dass die Gewalt immer weiter zurückgegangen ist und heute den niedrigsten Stand aller Zeiten erreicht hat, ist eher eine Glaubensfrage, die mit dem verbunden ist, was man unter Gewalt versteht: Betrachtet man ausschließlich den Trend der Todesopfer pro Jahr im Verhältnis zur Bevölkerung, so ist Pinker trotz aller Einwände gegen seine Beweisführung nicht zu widerlegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch heute durch Gewalt zu Tode kommt, ist um ein Vielfaches niedriger geworden. Betrachtet man Gewalt dagegen immer eng im Kontext ihres Entstehens, wird man zu keinem klaren Ergebnis kommen, weil sich Trends dann weder ableiten noch quantifizieren lassen.94 Ablehnen muss man Pinker, wenn man Gewalt als nicht quantifizierbares Phänomen begreift und den Täter in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, denn dann 92 Köhle (2013) berichtet über Kindergärten, in denen ,er‘ und ,sie‘ abgeschafft wurde, es gibt nur noch ,es‘. 93 Auf das Verhältnis von Angst und realen Schäden wurde bereits eingegangen. 94 Wolfgang Benz widerspricht in der Einleitung zu seinem Sammelband bereits der Annahme, die Toten des Stalinismus ließen sich mit denen des Holocaust vergleichen; vgl. Benz (2010), S. 7 ff.
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hätte der Zivilisierungsprozess auch einen absoluten Rückgang der Gewalt bewirken müssen. Zumindest dürften wir uns nicht so leicht tun, Gewalt zu rechtfertigen und uns über die damit im Zusammenhang stehenden ethischen Dilemmata hinwegzusetzen.95 Letztlich kann man Pinker die Plausibilität seiner Ausführungen aber nicht absprechen, insbesondere dann, wenn man die Entwicklung westlicher bzw. westeuropäischer Staaten betrachtet. Über einzelne Zusammenhänge wird sich, wie in der Wissenschaft üblich, streiten lassen, jedoch bleibt festzuhalten, dass nahezu alle Staaten Gewalt mehr und mehr in den Griff bekommen haben. Und dabei dürften genau die Mechanismen eine Rolle gespielt haben, die Pinker bildhaft als bessere Engel beschreibt. Pinkers Buch muss als ein Plädoyer für die Vernunft verstanden werden, als ein Versuch der Gegendarstellung zu den Schwarzmalern, die angesichts von Gewaltakten, insbesondere wenn sie durch mediale Aufmerksamkeit ,gewürdigt‘ werden, wieder und wieder den Untergang der westlichen Zivilisation heraufbeschwören. Pinkers Paradigmenwechsel lässt sich auf die simple Frage reduzieren, warum angesichts eines Gewaltpotenzials, mit dem sich die Welt mehrfach auslöschen ließe, nur ein relativ kleiner Anteil von Menschen unter Gewalt leidet: Was haben wir Menschen bisher richtig gemacht und warum? Gleichzeitig leistet Pinker mit seinem Werk einen wertvollen Beitrag zu einer Vielzahl von Debatten, insbesondere dann, wenn sie Gewalt thematisieren und dabei ins Unsachliche abdriften. Wer beispielsweise immer noch glaubt, man könne dem Terror den Krieg erklären, muss sich nicht nur den Vorwurf gefallen lassen, diese spezielle Form der Gewalt misszuverstehen, sondern sich auch der Frage stellen, ob der Aufwand für einen solchen ,Krieg‘ in einem vertretbaren Verhältnis zu einem möglichen Nutzen steht. Doch Pinkers Argumente greifen auch, wenn man diese Debatten aus der anderen Richtung führen will: Werfen wir Staaten oft nicht vorschnell vor, sie würden gedankenlos und übertrieben mit Gewalt intervenieren, sei es im Inland oder in den Krisengebieten der Welt? Doch die Kosten und Risiken einer bewaffneten Auseinandersetzung sind nicht nur enorm hoch, sie sind auch unüberschaubarer denn je. Gleichzeitig ist für Staaten der Gewinn für friedliches Agieren gestiegen.96 Leichtfertige Gewaltanwendung ist nicht unmöglich, sie wird aber immer unwahrscheinlicher. Kommt es doch zum bewaffneten Konflikt, zum Krieg, so ist Töten und Sterben nicht minder grausam und schrecklich als in den Schützengräben der Weltkriege, doch auch hier gilt, dass die Wahrscheinlichkeit, dabei ums Leben zu kommen, so gering ist wie nie zuvor.97 Aber 95
Vgl. Singer (1994), S. 388 ff. Vgl. Morris (2013), S. 392. 97 Im 2003 beginnenden Irakkrieg sowie den Jahren der US-Mission wurden weniger Soldaten und Zivilisten getötet, es gab weniger Verbrechen und auch die Kosten waren geringer als z. B. beim Buren-Krieg, den das britische Empire 100 Jahre davor führte; vgl. ebd., S. 426. 96
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dazu kommt es oft gar nicht mehr. Ob angesichts eines atomaren Iran, eines im Bürgerkrieg versinkenden Syrien oder eines unberechenbaren Nordkorea, immer wieder scheinen die Experten, die den nächsten großen Krieg ankündigen, der vielleicht alles auslöscht, glaubwürdiger zu sein als diejenigen, die uns ein friedliches Ende vorhersagen. Trotzdem sind wir immer noch hier. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten. Die Geschichte von Gewalt und Krieg ist aus heutiger Sicht eine Erfolgsgeschichte.98 Die oft und viel gescholtene Europäische Union ist vielleicht das beste Beispiel: Seit den 1990er-Jahren schließen sich Menschen zu einer größeren Staateneinheit zusammen, ohne Zwang, ohne Gewalt, ohne Krieg. „Zum vielleicht allerersten Mal in der Geschichte hat das Wort über das Schwert gesiegt.“99 Doch mehr als nur vorsichtigem Optimismus empfindet selbst Steven Pinker nicht. Die Entwicklung der Menschheit hat keinen Richtungspfeil,100 seine Beweisführung könnte jederzeit ad absurdum geführt werden.101 Die besseren Engel werden also auch durch Hoffnung getragen. Anlass, sich um sie zu sorgen, gibt es genug. Je weniger sich Staaten einer globalisierten Welt entziehen können, desto mehr, so scheint es, lassen die Engelsflügel Federn. Ein konkreter Anstieg der Gewalt leitet sich daraus zwar nicht ab, doch Pinkers Argument, Gewaltverzicht lohne sich immer, beschreibt die Realität heute nur noch unzureichend. Es gibt andere, komplexere Prozesse der Interaktion, und am Ende steht oft nicht gemeinsamer Nutzen, sondern ein klares Verhältnis von Gewinner und Verlierer. Damit tritt die Frage, ob Pinker mit dem Rückgang der Gewalt Recht oder Unrecht hat, in den Hintergrund. Interessant ist vielmehr die Frage, was getan werden kann, damit die besseren Engel sich (weiter) auswirken können: Ist eine globale Zivilisierung, ein weltdemokratischer Prozess102 die Lösung? Oder zeigt z. B. die Entwicklung der EU in den letzten Jahren beispielhaft die Grenzen dieses Prozesses auf? Muss man die Frage stellen, wie viele Freiheiten sich ein Staat erlauben kann, bis seine Sicherheit und gar seine Existenz in Gefahr sind?103 Vielleicht, würde Pinker vermutlich sagen, vielleicht aber auch nicht. In jedem Fall hat er berechtigten Anlass zu der Hoffnung gegeben, dass nicht jedes dunkle Kapitel der Menschheit ein Tunnel sein muss, an dessen Ende es nur noch mehr Tunnel gibt. Denn, um beim Bild des Tunnels zu bleiben, die besseren Engel weisen den Weg ins Licht. Es liegt an uns, ihnen zu folgen.
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Vgl. ebd., S. 403 ff. Ebd., S. 413. 100 Vgl. Pinker (2011), S. 1030) 101 Vgl. ebd., S. 536 ff. 102 Vgl. Gerlach (2011), S. 384 ff. 103 „The fruit of too much liberty is slavery“ – Cicero („The Republic“ 1.68 zit. nach Holland 2003, S. 389) kommt zu der Erkenntnis, dass die Freiheiten der Bürger Roms sowohl die Grundlage des Triumphs als auch Auslöser des Untergangs der Republik waren. 99
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Matthias Thieme
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Religionen als politische Gefahr – ein Überblick Von Volker Stümke Als Samuel Huntington 1993 die Frage aufwarf, ob nach dem Ende des Ost-WestKonflikts nunmehr ein Kampf der Kulturen drohe, der vor allem durch die Religionen als den wesentlichen Trägern von Kultur befeuert werde, hat er auf ein Problem aufmerksam gemacht, das in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit gerückt ist.1 Dass Religionen eine politische Gefahr darstellen können, wurde bestätigt durch die kriegerischen Konflikte im zerbrechenden Jugoslawien, im Südsudan sowie durch terroristische Angriffe auf Einrichtungen der USA, insbesondere am 11. September 2001. Auch der Bürgerkrieg in Nigeria zwischen Muslimen („Boko Haram“) und Christen hat die Kontur eines Religionskrieges. Andererseits hat es Gewaltkonflikte gegeben, bei denen die Frage nach der Religion keine dominante Rolle gespielt hat. So wurde der Völkermord 1994 in Ruanda von zumeist christlichen Hutu an ebenfalls christlichen Tutsi vollzogen; hier war nicht die religiöse, sondern die ethnische Zugehörigkeit ausschlaggebend.2 Auch die aktuelle Krise in der Ukraine ist zunächst nicht religiös, sondern politisch motiviert. Religionen können also eine politische Gefahr darstellen, aber inwiefern genau sie gefährlich sind, wird kontrovers diskutiert. Einige Aspekte dieser Diskussion möchte ich darstellen, indem ich zuerst frage, welche Rolle Religionen in politischen Konflikten haben können, und anschließend nach Faktoren suche, worin in denen das Konfliktpotenzial bestehen könnte. Danach möchte ich erörtern, wie sich Religion und Politik angesichts dieser Gefahr einander zuordnen sollen, wie also die Politik mit der Religion umgehen möge, und schließlich wie sich Religionen im politischen Umfeld verhalten sollten. In einem kurzen Ausblick sollen schließlich mögliche Konsequenzen für Soldaten der Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen gezogen werden. Da es sich um unabgeschlossene und komplexe Debatten handelt, habe ich nicht den Anspruch, Lösungen präsentieren zu können, sondern versuche, Positionen systematisch zu erfassen und voneinander abzugrenzen.
1 Vgl. Huntington (1996), S. 11. Im Vorwort seines viel zitierten Buches hält Huntington fest, dass bereits sein Aufsatz The Clash of Civilizations? von 1993 „mehr Diskussionen ausgelöst [habe] als irgendein anderer Zeitschriftenartikel seit den vierziger Jahren“. 2 Vgl. DesForges (2002), S. 70. Demnach gehörten etwa 64 Prozent der Bewohner Ruandas der katholischen Kirche und weitere 18 Prozent den protestantischen Kirchen an.
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I. Die Rolle von Religionen in politischen Gewaltkonflikten Die Frage nach der Bedeutung von Religionen in Konflikten wird in den politischen Konflikttheorien kontrovers beantwortet. Im Anschluss an den Friedensforscher Markus Weingardt3 lassen sich drei Positionen unterscheiden: Den bereits erwähnten Samuel Huntington zählt er zu den Primordialisten, die davon ausgehen, dass Religionen als identitätsstiftende Größen der Ursprung von Konflikten sind. Konflikte brechen an den Grenzen von Kulturkreisen auf, wo unterschiedliche, durch Religion geprägte Identitäten unter den Bedingungen der Globalisierung verstärkt aufeinander stoßen; Huntington spricht von „Bruchlinienkriegen“, die er als besonders gefährlich einstuft.4 Zwar wird hier richtig erkannt, dass Religionen gegenwärtig stark in Gewaltkonflikte involviert sind, aber abgesehen von den bereits notierten anders gelagerten Fallbeispielen ist auch fraglich, ob die Religion in den jeweiligen Kulturkreisen wirklich eine so entscheidende, inhaltlich einheitliche und politisch einflussreiche Größe ist. Gibt es nicht weitere Faktoren, die maßgeblichen Einfluss auf die Kultur ausüben, wie die nationale oder ethnische Zugehörigkeit, sowie die wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse und Partizipationsmöglichkeiten? Bejaht man diese Frage, dann wird Religion zu einem Faktor neben anderen, die einen Gewaltkonflikt befeuern können. Diese Position der Instrumentalisten wird unter anderem von dem Ethnologen Günther Schlee vertreten.5 Für ihn gehen Konflikte zumeist auf konkrete Verteilungskämpfe zurück, die dann eskalieren, wenn die Konfliktparteien jeweils nach Verbündeten suchen, und zwar so, dass sie eine „minimal winning coalition“6 aufbauen; die Gruppe muss also einerseits groß genug sein, um den Konflikt durch Gewaltanwendung gewinnen zu können, sie darf aber auch nicht zu groß werden, um den anschließenden Ressourcengewinn für den einzelnen nicht zu gering werden zu lassen. Die Religion ist wie die Ethnie oder die soziale Schichtung ein möglicher Faktor, um eine solche Koalition aufzubauen. Schlee spricht von Inklusions- und Exklusionsstrategien, mit denen Menschen in die eigene Gruppe integriert oder aus ihr ausgeschlossen werden7. Aber erst durch diese Maßnahme wird das jeweilige Instrument gleichsam scharf, erst wenn Religion zum exoder inkludierenden Identitätsmarker gemacht wird, spielt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensrichtung eine Rolle. Welcher Identitätsmarker relevant wird, steht – anders als bei den Primordialisten – nicht vorab fest, sondern hängt an den Interessen und Strategien der ursprünglich Konfligierenden: Schaffe ich es eher mit der Religion oder mit der ethnischen Zugehörigkeit, eine Koalition aufzubauen?
3
Vgl. zum folgenden Weingardt (2007), S. 22 ff. Huntington (1996), S. 400. 5 Vgl. zum Folgenden Schlee (2006). 6 Ebd., S. 41 im Anschluss an William Riker. 7 Vgl. ebd., S. 40 ff. 4
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Die Instrumentalisten stellen die Religion überzeugend als mögliches Eskalationsmittel bei Gewaltkonflikten dar. Damit sind sie flexibler aufgestellt als die Primordialisten und können auch andere Konflikt verschärfende Faktoren neben der Religion berücksichtigen. Die Schwäche dieser Deutung liegt darin, dass Instrumente keine Eigendynamik haben, sondern als bloßes Werkzeug allein vom Benutzer gesteuert werden. Man mag räsonieren, ob das für die ethnische oder soziale Zugehörigkeit zutrifft, denn auch da gibt es prägende geschichtliche Ereignisse oder ein Gruppenethos, die sich wohl nicht für jedwedes politisches Interesse instrumentalisieren lassen. Jedenfalls wird im instrumentalistischen Ansatz die Religion unterschätzt, denn sie rekurriert auf Quellen oder Überzeugungen, die eine eigene Kraft enthalten und freisetzen. Religionen können angesichts ihres eigenen Profils Konflikte nicht nur ver-, sondern auch entschärfen. Diese Einsicht wird von den Konstruktivisten vorgetragen, zu denen auch Markus Weingardt zählt. Mit zahlreichen Fallbeispielen unterstreicht er die Fähigkeit von Religionen, in Gewaltkonflikten deeskalierend zu wirken. So haben Muslime in Ruanda die verfolgten Tutsi vor ihren Mördern versteckt.8 Dieses Friedenspotenzial der Religionen resultiere daraus, dass Religion nicht ein passives und damit neutrales Mittel sei, sondern dass sie die Überzeugung von Menschen präge, so dass „religionsbasierte Akteure“ sich gegen Gewalteskalation und für den Frieden erfolgreich einsetzen.9 Dem frommen Engagement auf der einen Seite korrespondiere ein Vertrauensvorschuss auf der anderen Seite, diesen Akteuren werde nicht nur Fachkompetenz, sondern auch Glaubwürdigkeit attestiert10. Religion ist folglich nur dann umfassend bedacht, wenn sie sowohl als eine die Kultur prägende wie als Personen motivierende Kraft verstanden wird.11 Als erstes Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass, welcher Deutung man auch immer den Vorzug gibt, die Religion jedenfalls zu den prägenden Faktoren einer Kultur zählt. Sie wird daher im Konfliktfall häufig in die Auseinandersetzung verwickelt und kann dabei als Instrument verwendet werden, das den Konflikt weiter befördert und die Gewalteskalation unterstützt. Religion kann aber auch Akteure dazu motivieren, deeskalierende und den Frieden fördernde Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
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Vgl. Weingardt (2007), S. 310 ff. Vgl. ebd., S. 379 ff. 10 Vgl. ebd., S. 394 ff. 11 Stephanie van de Loo (2009) bestätigt von der praktischen Versöhnungsarbeit her grundsätzlich die Analyse Weingardts, allerdings differenziert sie, dass die Glaubwürdigkeit davon abhänge, „welche Rolle Religion im Allgemeinen und ihre spezielle Konfession bzw. Glaubensgemeinschaft im Besonderen bei den Menschenrechtsverletzungen selbst, also beispielsweise im Krieg, spielten“ (ebd., S. 329). Bei einem politisch motivierten Krieg sei die Wirkkraft der Religion weitaus höher als bei einem religiös aufgeladenen Konflikt, weil nunmehr Religion selbst ambivalent ist. Die religionsbasierten Akteure müssten in solchem Fall ihre eigene Motivation offenlegen und so zunächst einmal um Vertrauen werben. 9
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II. Was macht Religionen riskant? Der evangelische Theologe Rolf Schieder hat festgehalten, dass Religionen in der Moderne zwar nicht gefährlich, wohl aber riskant seien. Im Unterschied zu einer Gefahr, der man „hilflos ausgeliefert“ sei, könne man Risiken kalkulieren und minimieren.12 Demnach sei man einer Religion und ihrer Kraft gegenüber nicht machtlos, sondern könne sie beeinflussen – dabei hat er vor allem Bildungsprozesse im Blick. Damit steht Schieder der konstruktivistischen Position nahe. Er betrachtet wie Weingardt Religion von beiden Seiten aus, also als eine sowohl die Kultur prägende wie Personen motivierende Überzeugung. Zu den politisch bedrohlichen Faktoren der Religion zählt er vor allem ihren Umgang mit Macht; „Religion ist Machtmanagement“13. Darüber hinaus sei auch der Gehorsam der Glaubenden mit Risiken behaftet. Unter diesen beiden Begriffen soll nun umrisshaft skizziert werden, worin die Gefahrenpotenziale der Religion liegen. Dabei muss oberflächlich vorgegangen werden, weil der Allgemeinbegriff ,Religion‘ unscharf ist und weil man methodisch allzu leicht bestimmte Religionen vor Augen hat14. Viele Religionen sprechen von Gott und bekennen ihn als Schöpfer und als mächtigen, sogar allmächtigen Herrscher der Welt. Aber wie verhält sich diese Macht Gottes zur politischen Gestaltungskraft durch die irdischen Machthaber? Hier sind unterschiedliche Antworten denkbar, die nicht zuletzt darin differieren, welches Verständnis von Macht ihnen zugrunde liegt: Wird Macht stärker mit Gewalt, mit Autorität oder mit taktischem Geschick, wird sie mit verfügbarem Wissen, mit performativen Sprachakten oder mit persönlicher Ausstrahlung verbunden gedacht?15 Jedenfalls kann der Glaube an die Macht Gottes dazu verleiten, sich als Handlanger des Allmächtigen zu verstehen und im Namen oder Auftrag des Allmächtigen politische Optionen auch mit Gewalt durchzusetzen. Er kann sich aber auch zurückhaltender als kritische Relativierung der weltlichen Mächte durch prophetische Kritik oder besseres Wissen Geltung verleihen. Solches Selbstverständnis umfasst zum einen konkrete Kritik an einem Herrscher, der sich selbst überhebt, also die eigene Macht überschätzt und die Macht Gottes vergisst.16 Zum anderen zählen dazu strukturelle Erwägungen, welche Macht der Herrscher in welchen Bereichen habe; wie also im christlichen Kontext gesprochen imperium (weltliche Herrschaft) und sacerdotium (Kirche als Institution) mit ihren jeweiligen Befugnissen von Gott konzipiert wurden. Neben diesen Aspekt, wie die Macht kanalisiert wird, tritt als zweiter Gesichtspunkt 12
Schieder (2008), S. 5. Ebd., S. 40. 14 Die Debatten über den Religionsbegriff sind uferlos. Einen ersten Überblick bietet Wenz (2005). 15 Vgl. dazu Stümke (2014). 16 Vgl. Taubes (1993). Er liest den Brief des Apostels Paulus an die Römer herrschaftskritisch: In der damaligen Welthauptstadt ruft Paulus Jesus Christus als den wahren Herrscher der Welt aus und relativiert damit zugleich den Anspruch der weltlichen Machthaber als zeitlich und räumlich begrenzte Regierungsgewalt. 13
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die Frage, wie man sich die Macht Gottes näherhin denken soll. Die biblische Tradition spricht einerseits sehr pointiert von Gott als Liebe (1. Joh 4,8.16) und sie verbindet die Macht Gottes mit seiner Machtlosigkeit am Kreuz, die eine eigene Dynamik entfaltet (2. Kor 12,9: meine Kraft ist in den Schwachen mächtig):17 Aber sie redet andererseits auch vom eifersüchtigen Gott und von dessen Zorn, der entbrennt und dann Menschen vernichten kann.18 Außerdem gibt es in vielen Religionen Opfervorstellungen, die ebenfalls gefährlich sein können: Zwar durchbricht ein Opfer die Gewaltspirale, indem es die Gewalt – Gottes oder der Menschen – auf einen ,Sündenbock‘ umleitet;19 aber dieser Sündenbock könnte auch ein Mensch oder eine Menschengruppe sein. Beide Aspekte werden in vielen Religionen noch einmal verschärft durch Vorstellungen vom Ende der Welt, das der allmächtige Gott herbeiführen wird. Hier sollen sich die Verhältnisse endlich und endgültig umkehren, hier werden die Machtlosen belohnt, die Opfer entschädigt, die Täter hingegen fürchterlich bestraft werden. Dazu sollte man schon jetzt auf der richtigen Seite stehen. Die liberale Tradition hat diese Haltung im Rückgriff auf Friedrich Nietzsche als Ressentiment der Zukurzgekommenen verspottet;20 aber damit nimmt man weder die theologische Rede von der Gerechtigkeit Gottes ernst, noch schätzt man die Überzeugungskraft dieses Gedankens hoch genug ein. Verbindet sich dieser Gedanke mit einer apokalyptischen und dualistischen Weltsicht, wird es noch gefährlicher. Denn unter der apokalyptischen Bedingung, dass das Weltende unwiderruflich nahe bevorsteht und dass Gott sich dualistisch im Endsieg gegen das Böse durchsetzen werde, wird alles Handeln von dieser Vorstellung dominiert. Das kann dazu führen, dass die Frommen gelassen auf dieses Ende warten und sich nicht mehr um banale politische Verbesserungen kümmern, es kann aber auch die Folge zeitigen, dass sie sich an diesem Kampf gegen das Böse aktiv beteiligen. Solche Endzeitvorstellungen der Religion sind ebenso wie die Rede von der Macht Gottes riskant, aber sie sind nicht in jedem Fall politisch gefährlich, denn sie können gedeutet (beispielsweise verinnerlicht) und damit inhaltlich modifiziert werden. Blicken wir nun komplementär auf die religiösen Menschen und auf ihren Gehorsam gegen den mächtigen Gott. Dieser Gehorsam ist, so lautet eine bekannte Theorie,
17
Vgl. Sander (1999). Vgl. Dietrich/Link (1995), S. 77 ff. 19 Vgl. Girard (1994). Zumindest anzumerken ist, dass sowohl die Religionswissenschaften wie auch christliche Theologie betonen, dass Gott (und nicht der Mensch) als Subjekt der Opfer gedacht werde. Opfer sind keine Maßnahmen des Menschen, um einen zornigen Gott zu besänftigen, sondern von Gott eröffnete Möglichkeiten, die Schuld oder die Gewalt abzuladen und gleichsam aus der Welt zu schaffen. Vgl. Janowski (2013), S. 263 – 316. Aber damit kann eben nicht ausgeschlossen werden, dass solche Opfer missverstanden oder missbraucht werden – und auf diese Gefahr möchte ich hinweisen. 20 Vgl. Nietzsche (1887 [1988]), S. 270 f. Weber (2005) greift diese Rede vom Ressentiment auf und wendet sie auf das Judentum an, vgl. ebd., S 387 ff. 18
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besonders bei den monotheistischen Religionen gefährlich.21 Denn der eine und allmächtige Gott fordere absoluten Gehorsam. Der Mensch könne seine Aufmerksamkeit nicht auf verschiedene Gottheiten aufteilen, sondern sei ganz und gar dem einen Gott ausgeliefert. Zudem impliziere diese Konstellation Intoleranz gegen andere Religionen und Überzeugungen, weil und sofern der eine und wahre Gott nur Götzen, aber keine Götter neben sich haben könne. Andererseits gewährt der eine Gott dem Glaubenden die Gewissheit, sich in allen Dingen auf ihn verlassen zu können und nicht zum Spielball der Götter zu werden. Was es konkret heißt, diesem einen Gott gehorsam zu sein, hängt natürlich am Profil des Gottes und seiner Gebote. Fordern sie aktives Eingreifen in die Welt und den Kampf gegen die Götzen und ihre Diener oder rufen sie zur Aufmerksamkeit und zur inneren Einkehr? Bedacht werden sollte, dass die im Glauben vermittelte Gewissheit in den ,letzten Dingen‘ eine hohe Mobilisierbarkeit der Glaubenden impliziert – aber auch dieser Befund ist nicht eindeutig gefährlich, denn die Glaubenden können zu Massakern wie zu Friedensmaßnahmen bewegt werden. Religionen sind also politisch riskant, weil und sofern sie ein Potenzial enthalten, das zum einen politische Machthaber hinterfragen und kritisieren, zum anderen die Begrenztheit politischer Maßnahmen hervorheben und drittens die Glaubenden mobilisieren kann. Ob diese Beschreibung für alle Religionen zutrifft, wird damit nicht entschieden. Jedenfalls können diese bedrohlichen Ressourcen der Religion zur politischen Gefahr werden. Wie sollen sich Religion und Politik angesichts dieser Gefahr verhalten? Unter den gegenwärtigen Bedingungen ausdifferenzierter Gesellschaften in einer globalisierten Welt, in der Menschen mit unterschiedlichen und divergierenden kulturellen Prägungen zusammen leben, die also pluralistisch ist, ist diese Entwicklung brisant – und das wird nicht dadurch entschärft, dass die meisten Bürger in einer säkularen Gesellschaft wie in Deutschland der Religiosität kaum Bedeutung für ihre Entscheidungen im Alltagsleben zumessen.22 Man wünscht zwar, dass sich Religion aus der Politik heraushalten möge, aber das ist angesichts zunehmender Konflikte im Alltag mit religiösen Konnotationen nicht mehr als ein (un-) frommer Wunsch. Denn selbst wenn die religiösen Überzeugungen und Deutungen nicht konsensfähig, vielleicht sogar nicht einmal mehr anschlussfähig sein sollten, so sind doch die Folgen, die aus den religiösen Weltdeutungen stammen, real.23 Da na21 Diese Monotheismuskritik wurde schon von David Hume vorgestellt. Sie wird gegenwärtig unter anderen von Jan Assmann, Odo Marquard und Peter Sloterdijk vorgetragen. Vgl. dazu Stümke (2011), S. 9 ff. 22 Vgl. Pickel (2013), S. 65 – 101. Gert Pickel hat belegt, dass die religiösen Bindungen der Deutschen individuell (Glaubensdiffusion) und institutionell (Entkirchlichung) weiter abgenommen haben. Aber damit geht eine doppelte Gefahr einher, die er nicht eingehend dargestellt hat. Zum einen werden die fundamentalistischen Kräfte prozentual stärker, wenn die gemäßigten oder volkskirchlichen Anhänger zahlenmäßig abnehmen. Zum anderen droht eine religiöse Sprachlosigkeit, so dass sich die Gesellschaft nicht mehr mit den Fundamentalisten und auch nicht mehr über die Themen der Religion verständigen kann. 23 Vgl. Kippenberg (2012), S. 81 – 109. Er rekurriert auf das „Thomas-Theorem“, das Folgendes besagt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, dann sind sie in ihren
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mentlich der religiöse Fundamentalismus als besonders plakatives Beispiel für das religiöse Gefahrenpotenzial eine Erscheinung der Moderne ist,24 soll es im Folgenden um die Verhältnisbestimmung von Politik und Religion unter den gegenwärtigen Bedingungen der Moderne gehen.
III. Wie soll Politik mit Religion umgehen? Zu den konstitutiven Elementen der Moderne zählen die Trennung von Kirche und Staat und die damit verbundene Religionsfreiheit. Sie besagt, um eine Formulierung des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde aufzugreifen, dass „die Religion vom Staat freigegeben, in Freiheit gesetzt wird“.25 Das heißt für die Religion, dass sie zu einer gesellschaftlichen Größe wird. Sie lenkt nicht den Staat und wird auch nicht von ihm gelenkt. Für den Bürger umfasst die Religionsfreiheit positiv die Freiheit zur Religionsausübung seiner Wahl und negativ die Zusage, nicht gegen seinen Willen vom Staat religiös behelligt zu werden. Und für den nunmehr säkularen Staat, der keine religiösen Ziele verfolgt, sondern das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Menschen regelt, steckt darin die Forderung, sich neutral zu Fragen der Religion zu verhalten, um positive wie negative Religionsfreiheit gewähren zu können. Diese Neutralität kann restriktiv bzw. distanziert ausgelegt werden, so dass der Staat möglichst jede Berührung mit der Religion, ihren Symbolen und ihren Vorgaben vermeidet. Sie kann aber auch religionsfreundlich konzipiert werden, so dass der Staat den Religionen Freiräume eröffnet und sie in ihren Anliegen organisatorisch unterstützt, ohne sich inhaltlich einzumischen. Im ersten Fall wird Religion zur Privatsache erklärt, im zweiten Fall wird sie als eine die Kultur prägende Kraft, die von den Bürgern gewollt wird, angesehen. Soweit besteht seit den 1960er-Jahren weitgehender Konsens unter sowohl Juristen wie Theologen, unter Wissenschaftlern, Politikern und Kirchenvertretern. Dabei wurde seither in Deutschland, auf das ich mich nun konzentrieren werde, eine wohlwollende und kooperationswillige Neutralität gepflegt, was nur kurz durch die Stichworte Staatskirchenrecht, Religionsunterricht und Amtseid in Erinnerung gerufen werden soll. Aber nunmehr steht dieser Konsens vor den Herausforderungen einer inzwischen pluralistischen Gesellschaft sowie der von manchen Religionen sowie manchen ihrer Vertreter ausgehenden Gefahren. Die religiöse Lage in Deutschland ist also vielschichtiger und unübersichtlicher geworden. Zeitgleich ist den Menschenrechten eine immer größere Bedeutung zugemessen worden, so dass die persönliche Glaubensfreiheit gegenüber der institutionellen Religionsfreiheit an Gewicht gewonnen hat. Als Beleg sei darauf verwiesen, dass die Kirchen inzwischen Folgen real“ (ebd., S 86). Demzufolge wird ein Konflikt durch seine Deutung verändert, sofern aus dieser Deutung Reaktionen folgen. 24 Vgl. Armstrong (2007). 25 Böckenförde (2007), S. 13.
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die Zugehörigkeit zu ihrer Konfession nicht mehr als Einstellungsbedingung einfordern dürfen – abgesehen von verkündigungsnahen Berufen. Beim Priester darf man also weiterhin die katholische Kirchenzugehörigkeit fordern, beim Pflegepersonal in einer Caritas-Einrichtung hingegen nicht. Das individuelle Grundrecht auf Glaubensfreiheit wird damit höher gewichtet als die Rechte der Kirche als Körperschaft öffentlichen und darin eigenen Rechts. Jürgen Habermas hat in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001, also kurz nach den Anschlägen vom 11. September, einen wichtigen Impuls gesetzt, indem er gleichsam die wohlwollende Neutralität auf den politischen Diskurs ausdehnte. Liberale Politik dürfe die Begründungsaufgabe nicht einseitig den Glaubenden zumuten, die ihre Argumente in eine säkulare Sprache zu übersetzen hätten, um Gehör zu finden.26 Bei diesem Verfahren gehe nicht nur der religiöse Mehrwert mancher Argumente verloren, zudem würde die ungleiche Gewichtung der pluralistischen Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen und divergierenden Überzeugungen nicht gerecht.27 Wenn Religionen sich im öffentlichen Diskurs an die säkulare Sprache anpassen müssten, wäre dies eine restriktive Neutralität. Aber sie funktioniere nicht in einer pluralistischen Gesellschaft, weil sie einen Commonsense voraussetze, der nicht mehr gegeben sei. Habermas erhoffte sich durch diesen Vorschlag eine diskursive Einbindung der Religionen in die liberale Politik und damit eine Überwindung der stummen und Verstummen bewirkenden Gewalt von religiös motivierten Terroranschlägen.28 Denkt man diese Position weiter und folgt dem aktuellen Vorschlag des katholischen Theologen Hermann-Josef Große Kracht,29 dann ist bereits die Einbindung in die politischen Diskurse ein Gewinn für Politik wie Religion. Denn liberale Politik sei auf Meinungsbildungsprozesse angewiesen und die Religionsangehörigen fühlten sich mit ihren Überzeugungen anerkannt. Allein die Einbindung in die Diskurse hätte also eine Gewalt eindämmende Wirkung, so dass alle restriktiven Forderungen an die Religionen überflüssig seien. Religionen sind demnach dann gefährlich, wenn sie nicht politisch eingebunden sind. Um diese Gefahr zu minimieren, soll der Staat bei inhaltlicher Neutralität doch die Vernetzung der Religionen in die Gesellschaft wie in politische Diskurse hinein 26
Vgl. Habermas (2001), S. 20 ff. Vgl. ders. (2005), S. 36: „Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiert, ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht“. 28 Kippenberg (2008) weist darauf hin, dass religiöse Weltbilder in unsere säkulare Sprache und Denkungsart übersetzt werden müssen und plädiert dafür, im Fall von religiös motivierter Gewalteskalation einen „Weltbildübersetzer“ (ebd., S. 61) einzuschalten, der schon dadurch eskalierend wirken könne, dass er die unterschiedlichen Sprachen und damit auch die divergierenden Wahrnehmungen und Deutungen des Konfliktauslösers und dessen Verlaufs vermitteln kann. Das ist ein pragmatischer Lösungsvorschlag, der dann und deshalb hilfreich sein kann, weil und sofern das von Habermas bemerkte wechselseitige Nichtverstehen schon real ist. 29 Vgl. Große Krach (2012). 27
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unterstützen.30 Aber gilt dieses Wohlwollen allen Religionen oder muss es nicht inhaltlich an einen Commonsense gebunden werden, wie er in Deutschland durch die Grundrechte vorgegeben wird? Sicherlich ist Böckenfördes Einsicht immer noch richtig, dass unser liberaler Staat „von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“31, nämlich von einer zustimmenden Grundhaltung der Bürger zu ihrem Staat und seiner (freiheitlichen) Verfassung, die sich wiederum auf Überzeugungen stützt, wie sie insbesondere durch die christliche Religion evoziert und gestärkt worden sind. Aber eben diese Grundhaltung kann der Staat nicht selber herbeizwingen. Jeder Rekurs auf eine gemeinsam zu bekennende Wertebasis greift eine religiöse Form (nämlich das Bekenntnis) auf, tendiert zur Intoleranz und beschränkt damit die Freiheit. Vielmehr sind die Religionen aufgerufen, diese Grundhaltung zu unterstützen – in diesem Sinn hat Böckenförde in den sechziger Jahren für das politische Engagement katholischer Christen geworben und wirbt Habermas jetzt für die Beteiligung der Religionen mit ihren Gedanken in ihrer Sprache am politischen Diskurs. Der Ruf nach einem verbindlichen Wertegerüst sollte also zurückgewiesen werden. Aber dennoch ist ein inhaltlicher Minimalkonsens unverzichtbar, der über rechtliche Fixierungen hinausgeht. Er ergibt sich daraus, dass der politische Diskurs zwar zunächst nur formale Regeln vorgibt. Habermas redet vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments und von Herrschaftsfreiheit, hinter denen sich aber moralische Überzeugungen verbergen, worauf im Anschluss an Karl-Otto Apel vor allem Vittorio Hösle hingewiesen hat.32 Der Diskurs ist Hösle folgend am Fortbestand der Menschheit interessiert und will Verbesserungen für das Zusammenleben erreichen. Der Respekt vor der Person ist damit als inhaltlicher Konsens unverzichtbar. Er ist schon darin zur Geltung gebracht, dass disputiert (und nicht proklamiert oder gar geschossen) wird. Auch ein Ethos der Rechtsbefolgung ist darin impliziert, sofern der Diskurs darauf zielt, rechtliche Regeln für das Zusammenleben zu erstellen, die dann für alle gelten. Charles Taylor geht noch einen Schritt weiter, indem er den notwendigen Konsens im Anschluss an John Rawls als „overlapping consensus“ bezeichnet und als faktische Übereinstimmung auslegt.33 So sind die Menschenrechte weitgehend anerkannt, während sowohl ihre Begründung wie ihre konkrete Ausdeutung
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Schneider (2013) geht noch weiter, indem er einen Religionsdialog insbesondere zwischen Christen und Muslimen über die theologische Begründung und daraus folgend die vorbehaltlose Akzeptanz der Menschenrechte fordert (vgl. ebd., S. 41 – 46). Es müsse also ein theologisches bzw. religiöses Einverständnis erzielt werden, dass alle Menschen, namentlich auch die ungläubigen Atheisten, die gleichen Rechte haben. Damit geht auch Schneider davon aus, dass der Respekt vor jeder Person, die sich rechtlich in seiner Menschenwürde und seinen Menschenrechten niederschlägt, eine Bedingung des Diskurses markiert, die allerdings durchaus unterschiedlich begründet werden darf. 31 Das berühmte „Böckenförde-Votum“ findet sich in Böckenförde (1991), S, 112. 32 Vgl. Hösle (1990). 33 Vgl. Winkler (2012).
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strittig sind.34 Die Anerkennung muss also gar nicht erzwungen, sondern kann konstatiert werden – sofern die Menschenrechte „begründungsoffen“ vorgestellt werden.35 Die spezifischen Begründungen und Deutungen, zu denen selbstverständlich auch kritische Interpretationen zählen, dürfen nicht vom Staat, wohl aber von gesellschaftlichen Institutionen wie den Kirchen – und damit im Plural – vorgetragen werden. Und weil diese Diskurse nicht statisch, sondern dynamisch sind, gilt der Aufruf zur politischen Beteiligung an die Religionen stets neu.36
IV. Wie sollen sich Religionen im politischen Raum verhalten? Religionen sind riskant, weil sie auf das Ganze zielen und dabei eine hohe Motivationskraft freisetzen. Sie können politisch gefährlich werden, wenn ihre Aussagen instrumentalisiert werden, um direkte, strukturelle und auch kulturelle Gewalt zu legitimieren oder zu befördern.37 Werden sie hingegen in politische Diskurse integriert, so dass einerseits die Glaubenden mit ihren Überzeugungen ernst genommen und sie andererseits in die Verantwortung für das Gemeinwesen eingebunden werden, dann wird das Risikopotenzial der Religion als kritische und konstruktive Kraftquelle in der Gesellschaft und für die Politik nutzbar. Aber lassen das die Religionen mit sich machen? Sind also die Religionen bereit, den Glauben als eine Option anzuerkennen und auszugestalten?38 Sollen sie nicht nur vor einen politischen Karren gespannt werden, müssten sie von sich aus Ansätze zur politischen Beteiligung in einer pluralistischen Gesellschaft entwickeln können. Um nicht anderen Religionen ungefragt gute Ratschläge zu geben, möchte ich aus evangelisch-lutherischer Perspektive mit Blick auf das Christentum darlegen, welche Ansätze hier vorhanden sind und ausgebaut werden sollten. Näherhin geht es um das Verhältnis der christli-
34 Vgl. auch Menke/Pollmann (2007), S. 9 f. Ich bestreite nicht, dass es Rekurse auf die Menschenrechte geben kann, die eine Instrumentalisierung der Menschenrechte zur Durchsetzung eigener politischer oder religiöser Ziele vollziehen. Aber auch sie kommen eben nicht umhin, sich auf diese Rechte zu beziehen – und müssen sie dann eben anders auslegen … 35 Vgl. Huber (1996), S. 222 ff. 36 Auch diese Erwägung muss kritisch gegen den Rekurs auf einen abendländischen Wertekanon vorgebracht werden: Ein solcher Kanon, selbst wenn er einmal verbindlich gewesen sein mag, muss seine gegenwärtige Geltung neu zur Sprache bringen können – so dass Kirchen schlecht beraten wären, sich auf diese von ihnen erbrachte kulturelle Leistung in der Vergangenheit zurückzuziehen. Dass in unserer Gesellschaft diese kulturelle Mitgift inzwischen skeptisch beäugt wird, zeigt die Debatte um ein Religionsverfassungsrecht, das an die Stelle des überkommenen Staatskirchenrechts treten solle. 37 Vgl. zur Unterscheidung der drei Formen von Gewalt Galtung (1998). 38 Joas (2012) sieht die Herausforderung und die Chancen für das Christentum in der säkularer gewordenen Welt genau darin, die abnehmende kulturelle und gesellschaftliche Selbstverständlichkeit des christlichen Glaubens durch eine intellektuelle Darlegung der Merkmale dieser Überzeugung (namentlich: Liebesethos, Personalität, Spiritualität und Transzendenz) zu kompensieren.
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chen Religion zunächst zur Politik und zur Gesellschaft, dann zu anderen Religionen und schließlich zu den eigenen normativen Überlieferungen. a) Martin Luther hat das Verhältnis des Christen zur Obrigkeit und zur Gesellschaft durch seine Lehre von den zwei Regimenten und den drei Ständen strukturiert.39 Demnach soll der Christ nicht nur das weltliche Regiment mit seinen eigenen Aufgaben und Mitteln respektieren, er kann durch seinen Beruf in allen Bereichen der ständischen Gesellschaft dem Willen Gottes entsprechende gute Werke vollbringen – nicht nur als Mönch, sondern ebenso als Polizist oder Bauer. Weil Jesus Christus das Seelenheil des Glaubenden verbürgt, muss sich dieser nicht die Gnade Gottes verdienen, sondern kann sich ganz auf das Wohl seiner Nächsten fokussieren – durch spontane Hilfsbereitschaft wie durch Berufe, die dem Gemeinwohl dienen. Damit hat Luther gesellschaftliches Engagement der Christen gefordert, allerdings in einer statisch gedachten Gesellschaft. Der evangelische Theologe Eilert Herms hat Luthers Konzept aktualisiert und eine Vierfelderlehre entwickelt.40 Das Zusammenleben von Menschen geschieht auf vier Feldern, nämlich Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion. Die beiden ersten Felder regeln das Miteinander von Personen als Sicherung des Zusammenlebens und des Lebensunterhaltes, die beiden anderen zielen auf individuelle Handlungsgewissheit im technischen und im ethischen Bereich. Jedem Feld kommt eine relative Eigenständigkeit zu. Es gibt also jeweils bestimmte Aufgaben und Ziele (Frieden, Lebensunterhalt, Naturbeherrschung, Sinn), die erreicht werden sollen, und spezifische Mittel, die der jeweiligen Zielverfolgung dienlich sind (Recht, Markt, Forschung, Herzensbildung). Zugleich sind Menschen individuell wie gesellschaftlich darauf angewiesen, dass alle Bereiche abgedeckt werden. Darum sind Übergriffe für das Zusammenleben gefährlich – sei es, dass die Religion sich als Gesetzgeber profilieren, die Politik die Preise regulieren, die Wirtschaft den homo oeconomicus als wahres Menschenbild behaupten oder die Naturwissenschaft einen Gottesbeweis antreten will. Noch gefährlicher sind allerdings feindliche Übernahmen mit Totalitätsanspruch – also eine Politik, die auch die Wirtschaft, die Forschung und die Weltanschauung bestimmen will.41 Luther wie Herms haben das soziale Engagement der Christen theologisch wie anthropologisch begründet und mit Blick auf die jeweilige Gesellschaft konkretisiert. Dabei steht die Vierfelderlehre gegen jede Form von Totalitarismus und unterstützt eine pluralistische Gesellschaft. Von der Religion wie vom Staat wird verlangt, sich als ein Feld zu verstehen und die anderen Felder mit ihren Aufgaben neben sich 39
Vgl. Stümke (2007). Vgl. zum Folgenden Herms (1991). 41 Indem Herms die Eigenständigkeit der vier Felder betont, redet er nicht einer Eigengesetzlichkeit das Wort, sondern protestiert nur gegen die Dominanz beispielsweise der Religion auf fremden Terrain. Wer bestimmt und normiert das Handeln in den drei anderen Feldern, wenn es nicht die Religion darf? Hier gibt es drei Einflussgrößen, die sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen: Erstens haben die Handelnden mit ihren Überzeugungen Einfluss, zweitens ergeben sich Vorgaben aus den wahrzunehmenden Funktionen und drittens gibt es die normativen Vorgaben durch die Menschenrechte. 40
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zu akzeptieren42 – und das schließt absolute Ansprüche, wie sie beispielsweise von fundamentalistischen Kreisen im Christentum vertreten werden, aus. Zugleich werden die religiösen wie politischen Instanzen in die Pflicht genommen, weil Menschen auf die Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben angewiesen sind. Ein Rückzug der Religion aus der Gesellschaft in die Privatsphäre wäre also eine Verkürzung der Erfordernisse der Vielfalt um die Sinnfrage und die Herzensbildung. Dieser Fokus auf den Einzelnen verhindert zudem, wie dies auch schon in Luthers Berufsethik geschieht, ein beziehungsloses Nebeneinander der vier Felder: Der einzelne Christ wird seine Überzeugung auch in seinem Beruf und in seinem politischen Engagement zur Sprache bringen – nicht als inhaltliche Bevormundung, sondern infolge der Motivation seines Einsatz gemäß der Forderung des Propheten Jeremia 29,7: „Suchet der Stadt Bestes“. Eine diskursive Einbindung des christlichen Glaubens in Politik und Gesellschaft entspricht demnach dem Selbstverständnis des Christen. Allerdings wird man noch stärker als Herms die ,res mixtae‘ einbeziehen müssen, also die Schnittmengen der Felder; denn gerade hier müssen die Überzeugungen, beispielsweise von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen, mit den Eigendynamiken des Themenfeldes, beispielsweise den Forschungen am Embryo, austariert werden. Das verlangt aber auch eine dezidierte Einstellung des Christen zu seinen eigenen normativen Vorgaben. Dies wird uns daher am Ende noch einmal beschäftigen. b) Zuvor müssen wir bedenken, dass das Christentum nicht der einzige Akteur ist auf dem Feld der Religionen bzw. der Weltanschauungen. Neben anderen Konfessionen und Religionen geben auch atheistische und skeptische Positionen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und vermitteln Herzensbildung. Wie verhält sich die Kirche zu anderen Weltanschauungen? Auch hier hat Luther vorgedacht, indem er festschrieb, dass Religionen nur mit dem Mittel des Geistes, niemals aber mit politischen Gewaltmitteln, ihre Antworten präsentieren und die Menschen zu überzeugen suchen dürfen: „sine vi humana, sed verbo“.43 Dahinter steckt die Einsicht, dass nicht der Mensch, sondern Gott die Herzen der Menschen erreicht, und daraus resultiert eine zweite Selbstrelativierung der Kirche: Sie ist nicht Gott und tritt auch nicht an dessen Stelle. Das schließt missionarische Bemühungen nicht aus, begrenzt aber deren Vorgehen. Mit anderen Weltanschauungen in einen Dialog zu treten, impliziert, sich auch auf deren Argumente einzulassen. Die Erfahrung lehrt, dass es in einem solchen Prozess zu unterschiedlichen Formen gelebter Toleranz kommen wird, die in einer pluralistischen Gesellschaft durch das Zusammenleben vor Ort zumindest verstärkt, wenn nicht sogar schon zuvor geformt wird. Christen können in anderen Religionen etwas entdecken, dem sie Respekt zollen, weil es sie überzeugt. Anderes werden sie als vergleichbar mit eigenen Glaubensäußerungen 42
Die Konzeption der „Twin Tolerations“ von Alfred Stepan entwickelt ein ähnliches Konzept; vgl. Spieß (2012), S. 128. 43 Confessio Augustana Art. 28; zitiert nach Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [BSELK] (1979), 124, 21. Zu Luther vgl. z. B. WA 11, S. 268 f (Von weltlicher Obrigkeit von 1523) und WA 32, S. 150 ff (Predigt über Eph 6,10 ff. am 11. November 1530).
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anerkennen. Weiteres wiederum werden sie im engeren Sinne des Wortes tolerieren, also erdulden, weil es zwar ihrem Glauben widerspricht, aber als Äußerung einer Überzeugung ertragen werden muss. Aber es kann auch etwas geben, was man nicht bereit ist zu ertragen, wogegen man also Protest einlegt – aber immer noch mit den Mitteln des Geistes.44 c) Ich habe Toleranz als eine Erfahrung ausgewiesen und sie damit nicht als normative Forderung an die christliche Religion formuliert. Denn die Meinung, dass Buntheit und Vielfalt in jedem Fall eine Bereicherung darstellten und Toleranz, dieses fördernd, dann ebenfalls gut sei, teile ich nicht. Bei dieser Argumentation wird unterschlagen, dass es Konflikte zwischen religiösen Überzeugungen gibt und dass es Äußerungsformen von Religion geben kann, die andere nicht tolerieren können. Solche Konflikte brechen zunächst auf dem Feld der Religion auf, können aber bei ,res mixtae‘ durchaus zu gesellschaftlichen Kontroversen führen. Nicht Buntheit, wohl aber der Dialog ist in jedem Fall normativ zu fordern, weil er zu Modifikationen in den Religionen führen kann. Damit ist der letzte Aspekt angeschnitten: das Verhältnis der Religion zu ihren eigenen normativen Traditionen. Diskurse leben von der Bereitschaft, sich auch inhaltlich zu verständigen, also Kompromisse auszuhandeln. Kann christlicher Glaube angesichts seines Anspruchs auf Wahrheit von sich aus, also nicht nur aus opportunistischen Erwägungen, Kompromisse eingehen? Hier wird wiederum eine Selbstrelativierung verlangt, die besonders schwierig ist, weil die Gewissheit des Glaubens eng mit der Überzeugung von der Wahrheit der religiösen Aussagen verknüpft ist.45 An dieser Stelle kann ich derzeit noch keine Antwort vorlegen, sondern nur zwei Impulse, die mich beschäftigen. Der eine stammt von dem evangelischen Theologen Friedrich Gogarten, der davon sprach, dass der Christ im „fragenden Nichtwissen um das Ganze“ existiere.46 Neben der Heilsgewissheit des Glaubens, die keine Relativierungen erlaubt, steht das dogmatische Wissen des Glaubens, das nicht mit dieser Gewissheit verwechselt werden sollte.47 Hier 44 Vgl. zu den vier Formen der Toleranz Forst (2000). Er differenziert in Erlaubnis, Koexistenz, Respekt und Wertschätzung (vgl. ebd., S. 124 – 130) und hat bei diesen Haltungen jeweils die rechtlichen und gesellschaftlichen Akteure im Blick. 45 Vgl. Margalit (2011). In seinem Plädoyer für den Kompromiss nicht nur als Notlösung sondern als politischem Weg in einer pluralen Gesellschaft unterscheidet er zwei Politikverständnisse (vgl. ebd., S. 34 ff.): Während das ökonomische Verständnis keine Grenzen für Kompromisse kennt, weil alles mit dem Tauschäquivalent Geld umgerechnet werden könne, rekurriert das religiöse Verständnis auf die Heiligkeit Gottes, die bestimmte Bereiche oder Abschlüsse tabuisiert. Margalit plädiert selbst dafür, nur menschenverachtende Kompromisse auszuschließen, also den Verhandlungen und der Nachgiebigkeit einen großen Bereich einzuräumen. Dazu muss man allerdings auch der Religion verdeutlichen, dass ihre Tabuisierungen nur in engen Grenzen akzeptabel sind – und das darf nicht nur mit politischen, sondern sollte auch mit religiösen Erwägungen untermauert werden. Dazu dient hier der Rekurs auf die Gedanken von Gogarten und Benedikt XVI. 46 Gogarten (1958), S. 139. 47 Diese Unterscheidung wird von Beck (2008) nicht einbezogen. Daher kommt er zu der Forderung eines „toleranten Synkretismus von unten“ (ebd., S. 220), der zwar eine subjektive Religiosität akzeptiert, aber die Gewissheit von der Wahrheit und Tragfähigkeit dieses Glau-
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ist vielmehr eine Offenheit des Glaubens für neue Erkenntnisse angelegt, denn indem ich Fragen stelle, begebe ich mich in einen offenen Dialog.48 Um es klar zu pointieren: Die Gewissheit, dass Jesus Christus die Liebe Gottes zu mir verkörpert und verbürgt, steht auf einer anderen Stufe als theologische Gedanken über die Trinität oder die Schöpfung. Der andere Impuls lehnt sich an Papst Benedikt XVI. an, der dem Glauben den kritischen Dialog mit der Vernunft sogar empfiehlt, um einerseits eine Verkürzung der Vernunft um metaphysische Fragen, andererseits fundamentalistische Selbstabschließungen des Glaubens zu verhindern.49 Denn Fundamentalismen sind nicht nur für das Zusammenleben, sondern auch für den Glaubenden selbst gefährlich. Daher sollte der Glaube auch von sich aus interessiert sein, dieses Risiko zu minimieren. Glaube und Vernunft brauchen sich wechselseitig, um die jeweiligen „Pathologien“50 zu überwinden.51 Ich fasse zusammen: Religionen können politisch gefährlich sein, weil sie eine hohe Motivationskraft in sich tragen und instrumentalisiert werden können. Daher liegt es im Interesse sowohl der Politik wie der Gesellschaft und auch der Religion selbst, dieses Risiko durch eine Einbindung in die pluralistische Gesellschaft und ihre Diskurse zu minimieren. Solche Einbindung setzt von Politik und Gesellschaft die Bereitschaft voraus, die Themen und Argumente der Religion ernst zu nehmen. Von der Religion wird eine Selbstrelativierung erwartet, sie soll, mit Blick auf den christlichen Glauben formuliert, nicht alles bestimmen, sie hat auch nicht die Aufgaben Gottes zu übernehmen und sie sollte ihre Glaubensgewissheit vor fundamentalistischen Abschottungen schützen.
V. Ausblick: Säkulare Soldaten und gelebte Religionen Während es seit den 1960er-Jahren eine starke Tendenz zumindest in Westeuropa und in den USA gab, ein Absterben der Religion und den Übergang in eine rein säkulare Gesellschaft zu konstatieren, wird diese Entwicklung inzwischen durch zwei gegenläufige Beobachtungen relativiert und hinterfragt: zum einen durch die Festbens nicht mehr denken kann. Indem Gogarten (in der Tradition Wilhelm Herrmanns) den Grund des Glaubens von den Glaubenssätzen abhebt, kann man im Anschluss an seine Konzeption den berechtigten Impuls Becks gegen den Fundamentalismus aufgreifen, ohne die Grundlagen des christlichen Glaubens aufzugeben. 48 Damit greife ich auf die Impulse von Wiesel (1996) zurück, dass „jede Frage eine Kraft besitzt, welche die Antwort nicht mehr enthält“ (ebd., S. 19). Wiesel spricht dabei von der besonderen Würde der Frage an Gott, die damit auf das Ganze gerichtet ist und so den Menschen sich zu Gott erheben lässt. 49 Vgl. Benedikt XVI. (2007) und ders. (2012). 50 Ratzinger (2005), S. 56. 51 In diesem Sinn hat auch Hasenclever (2012) darauf verwiesen, dass eine reflektierte Auseinandersetzung der Religion mit ihrem Thema, das er als die Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen bezeichnete, verhindere, als Ideologie für einen Gewaltaufruf missbraucht zu werden.
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stellung, dass die Religion auch nach der Aufklärung fortbesteht, weil sie anscheinend doch bestimmte Aufgaben oder Funktionen (wie Kontingenzbewältigung52) erfüllt, zum anderen durch die erfahrbaren Begegnungen mit gelebter Frömmigkeit in einer globalen, aber nicht durchgehend säkularen Welt. Wer durch Handel, Urlaubsreisen oder andere Kontakte mit Menschen anderer Länder und Kulturen vernetzt ist oder zumindest in Kontakt gerät, wird auch auf unterschiedliche Formen gelebter Religiosität in unterschiedlicher Intensität stoßen – und dabei nicht nur andere Überzeugungen und Lebensformen kennenlernen, sondern zugleich auch die Relativität der eigenen Grundannahmen und Selbstverständlichkeiten bemerken. Das gilt auch für Soldaten der Bundeswehr, auf die ich mich nunmehr konzentrieren werde. Seit etwa zwanzig Jahren sind Soldaten der Bundeswehr nicht mehr ausschließlich mit der Landesverteidigung beauftragt, sondern werden beispielsweise auch für humanitäre Interventionen eingesetzt. Solche Auslandseinsätze stellen mancherlei belastende Anforderungen an die Soldaten, die nicht nur das militärische Handwerk, den teilweise strittigen politischen Auftrag und die gesellschaftliche Akzeptanz betreffen, sondern auch ihre eigene kulturelle, moralische und ebenso religiöse Identität tangieren. Wer als Soldat in einem Auslandseinsatz mit anderen kulturellen und weltanschaulichen Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten in Berührung kommt, wie es im Rahmen einer humanitären Intervention wohl kaum zu vermeiden ist, wird nicht nur beobachten, dass und wie solche religiösen und weltanschaulichen Grundannahmen die jeweilige Denkungsart prägen, sondern wird auch manche Spannungen bis hin zu Konfrontationen mit den eigenen Grundannahmen bemerken. Und diese Spannungen können nicht nur inhaltliche Unterschiede zwischen den Religionen betreffen, also Differenzen beispielsweise im Menschenbild offenlegen. Sie können auch die divergierende Einstellung zu Fragen der Religion und zu ihrer Relevanz tangieren, also beispielsweise die Überzeugungskraft und Bindewirkung säkularer Lebensentwürfe, rationaler Argumente und traditioneller Vorgaben. Der Soldat begegnet im Rahmen solcher Einsätze demzufolge nicht nur anderen Überzeugungen und Lebensentwürfen, sondern sie konfrontieren ihn zugleich mit seinen eigenen Überzeugungen und stellen ihn vor die ,Gretchenfrage‘. Daher stellt sich die Frage, ob und wie Soldaten auch auf diese religiöse Herausforderung vorbereitet werden sollten: Ist eine ,religiöse oder interreligiöse Kompetenz‘ für Soldaten in einem Auslandseinsatz erforderlich und sollte daher vorher ausgebildet werden?53 52
Vgl. Lübbe (1986). Um meine Behauptungen an einem Beispiel zu verdeutlichen: An der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg wurde empfohlen, solche interreligiösen Divergenzen (beispielsweise im multikulturellen Umfeld eines ,Blauhelmeinsatzes‘) durch einen Abgleich des Terminkalenders zu verdeutlichen und zugleich zu bearbeiten. Das ist ein praktikabler Ansatz und verdient daher durchaus Beachtung. In der Tat können so unterschiedliche religiöse Feiertage benannt und entsprechende Rücksichten formuliert werden. Die Ebene inhaltlicher Divergenzen wird also gut abgebildet. Aber wird auch ersichtlich, was ein Feiertag ist und welche Bedeutung er für den jeweiligen Menschen hat? Wird also der deutsche Soldat in seiner säkularen Gestaltung des Sonntags (ausschlafen, Brunch) nicht nur erkennen, dass andere Menschen schon am Freitag oder Sonnabend nicht arbeiten, sondern zudem bemerken, 53
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Schon die Formulierung als Frage und nicht als Forderung soll verdeutlichen, dass aus meiner Sicht zunächst einmal Diskussionsbedarf (aber nicht unbedingt auch Handlungsbedarf für die Bundeswehr) besteht. Drei durchaus gravierende Einwände ließen sich zunächst gegen die angefragte Forderung anführen: 1. Eine Ausbildung zu religiöser oder interreligiöser Kompetenz setzt eine Beschäftigung mit der Religion, ihren Themen und Überzeugungen voraus. Aber damit wird das Grundrecht auf (negative) Religionsfreiheit (Art. 4 GG) tangiert. Niemand, auch kein Soldat, darf dazu gezwungen werden, sich gegen seinen Willen mit Religion auseinanderzusetzen. 2. Eine reine Informationsvermittlung über bestimmte religiöse Überzeugungen wäre demgegenüber rechtlich unproblematisch, bliebe jedoch oberflächlich, sie würde zwar religiöses Wissen vermitteln, aber noch keine religiöse Kompetenz. Das Gespür für Religion wächst nicht automatisch mit, wenn das Wissen über Religion zunimmt.54 Abgesehen davon, dass selbst Religionsunterricht nur auf freiwilliger Basis erteilt werden darf, wäre vor allem die Relevanz einer solchen Veranstaltung fraglich. Sicherlich ist ein Zuwachs an Wissen fast immer begrüßenswert, aber unter den realen Bedingungen einer schon jetzt zeitlich wie inhaltlich übervollen Einsatzvorbereitung wäre diese Vorbereitungseinheit verzichtbar oder könnte in die längst etablierte interkulturelle Kompetenzausbildung integriert werden. 3. Ein eleganter Kompromiss könnte darin bestehen, der Militärseelsorge diese Themen anzuvertrauen. Aber es ist zum einen sehr fraglich, ob und inwieweit religiöse Kompetenz überhaupt vermittelt werden kann:55 nicht nur, weil, theologisch argumentiert, der Glaube an Gott eine Gabe des Geistes ist, die nicht in der Verfügungsgewalt von Menschen liegt, sondern auch, weil, sozialwissenschaftlich argumentiert, gesellschaftliche Prägungen zwar inhaltlich in einer pluralen Gesellschaft divergieren, aber in jedem Fall eine starke Wirkungskraft haben. Und wie es die Kirchen derzeit nur bedingt schaffen, das Interesse, sei es an der Religion, sei es am christlichen Glauben, zu erwecken oder zu verstärken, so dürfte auch die Militärseelsorge angesichts der gesellschaftlichen Großwetterlage nicht wirklich erfolgreich religiöse Kompetenz vermitteln können. Zum anderen könnte die Gefahr einer Vereinnahmung der Seelsorge durch militärische Interessen entstehen.
dass sie diesen Tag anders strukturieren (bessere Kleidung, kultische Handlungen)? Und wird er spüren, dass sich dahinter eine bestimmte Lebenseinstellung und konkrete Überzeugungen verbergen? 54 Um es im Anschluss an Max Weber (Brief vom 9. 2. 1909 an Ferdinand Tönnies) zu formulieren: Auch wer viel über Religion weiß, kann immer noch religiös unmusikalisch sein bzw. bleiben. Diese Rede vom „religiös Unmusikalischen“ wird aufgegriffen von Habermas (2001), S. 30. 55 Vgl. einführend Wegenast (2001), dort weitere Literatur.
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Das ernüchternde Ergebnis dieser Einwände: Zwar mag grundsätzlich eine religiöse oder interreligiöse Kompetenz wünschenswert sein, aber es gibt sowohl rechtliche und pragmatische wie auch theologische und sozialwissenschaftliche Bedenken, ob eine solche Kompetenz unterrichtet werden darf, soll und kann. Zugespitzt formuliert: Was verboten und überflüssig ist und was zudem nicht zielführend vermittelt werden kann, sollte nicht unterrichtet werden. Andererseits gibt es gravierende Argumente für die Unterstützung des explizit religiösen Kompetenzerwerbs: a) Das Verstehen von religiösen Aussagen, die Kompetenz, sich darüber hinaus in die Überzeugungskraft (also nicht nur in die demgegenüber peripheren Inhalte) einer Religion hineinversetzen zu können sowie die Fähigkeit, auch die eigenen (bewusst angeeigneten oder kulturell übernommenen) Überzeugungen zu erkennen und zu reflektieren, sind Schlüsselkompetenzen in der Begegnung mit den Meinungsführern anderer Kulturen. Indem so Missverständnisse vermieden und Berührungsängste abgebaut werden können, wird die (religiös motivierte) Anwendung von Gewalt reduziert. b) Dieses Verstehen ist durchaus reflexiv. Das ermöglicht es dem einzelnen Soldaten, seine eigene Positionierung in Fragen der Religion zu erkennen – es geht also gar nicht um ,Mission‘, wohl aber um Reflexion, also um ein bewusstes Selbsterkennen, das dann einen präziseren Zugang zu den religiösen Vorstellungen anderer Menschen eröffnet. Mit Blick auf die Bundeswehr könnte so die Tendenz zu einer technizistischen Weltsicht zumindest bemerkt und dadurch relativiert werden. Man muss dieser Weltsicht also nicht den Abschied geben, wohl aber sollte man bemerken, dass es auch andere Denkungsarten gibt. Und vielleicht ist eine religiös vertiefte Selbsterkenntnis sogar hilfreich, um traumatisierende Belastungen besser aushalten oder verarbeiten zu können. Diesen Gegenargumenten folgend wäre interreligiöse Kompetenz eben nicht nur ein ,donum superadditum‘, eine nicht erforderliche, aber durchaus hilfreiche Zusatzqualifikation, sondern eine Schlüsselqualifikation für die spezifischen neuen Einsatzszenarien von Soldaten. Wieder zugespitzt formuliert: Was Blutvergießen reduziert und ein besseres Verstehen der eigenen Position und ihrer Prämissen unterstützt, sollte auch vermittelt werden. Diese kontroverse Debattenlage kann und sollte nicht mittels Machtspruch oder aufgrund einer Einzelmeinung entschieden werden, sondern verdient, weiter verfolgt zu werden. Hilfreich wären empirische Befunde ebenso wie pragmatische Erwägungen. Eine solche möchte ich abschließend ergänzen, indem ich auf den evangelischen Theologen Rudolf Bultmann rekurriere, der mit seinem Programm der Entmythologisierung und der existentialen Interpretation der Bibel vor gut siebzig Jahren Theologie und Kirche nicht nur in Deutschland stark beeinflusst hat.56 Bultmanns Aus56 Vgl. Bultmann (1941 [1985]). Eine gute Einführung in die Theologie Bultmanns bietet nach wie vor Schmithals (1967).
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gangspunkt ist die Beobachtung, dass die Texte der Bibel für seine Zeitgenossen kaum nachvollziehbar seien, weil sie aus einer anderen Zeit stammten und auf ein anderes, inzwischen veraltetes Weltbild zurückgreifen. Dass die Welt in sieben Tagen entstanden sei, dass Krankheiten durch innere Dämonen verursacht würden oder dass wir (seit nunmehr über 2000 Jahren) unmittelbar vor dem Ende der Welt lebten, könne heute nicht mehr übernommen werden. Um die Aussagen der Bibel gegenwärtig verstehen zu können, aber auch um dem Anspruch der Bibel, das Wort Gottes zu verkündigen, gerecht zu werden, schlägt Bultmann ein zweistufiges Verfahren vor: • Entmythologisierung meint für Bultmann eine vorbehaltlose Kritik an den Aussagen der Bibel, die das antike Weltbild lediglich repristinieren, denn sie seien für uns ,erledigt‘. Sicherlich ist er in seinem Vorgehen allzu radikal gewesen und hat einer nichtwissenschaftlichen Weltwahrnehmung wenig Verständnis entgegen gebracht, dennoch ist die kritische Abhebung zeitbedingter Vorstellungen durchaus weiterführend. Die Unterscheidung von zeitbedingter und ablösbarer Hülle einerseits und wahrem Gehalt andererseits in die Auslegung der Bibel einzutragen impliziert, einen Schriftfundamentalismus auszugrenzen. • Die existentiale Interpretation ist das positive Komplement und soll die Aussagen der biblischen Texte über den Menschen, befreit von den mythischen Einkleidungen, zur Geltung bringen. Demzufolge bietet insbesondere das Neue Testament dem Menschen ein Selbstverständnis an und ruft ihn dazu auf, dem Gott zu vertrauen, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat. Durch diese Lesart hält Bultmann an der Relevanz (Suffizienz) und Heiligkeit der Schrift fest, bietet also ein theologisches und kein religionskritisches Verfahren. Inwiefern können Bultmanns Erwägungen auf das Thema religiöse Kompetenz übertragen werden? Weiterführend ist die Zweistufigkeit bzw. Komplementarität des Verfahrens, weil dadurch sowohl die nötige Distanz gewahrt wie die Relevanz erkennbar wird. Der kritische Umgang mit Religionen dürfte dabei unproblematisch sein. Hier würde Entmythologisierung besagen, die religiösen Themen und Fragestellungen von der kulturellen Einbettung, von Folklore und traditionellem Brauchtum zu unterscheiden. Auch die hier ausgeführten Gefahrenmomente von Religion sollen selbstverständlich zur Sprache kommen. Eine positive Lesart zu entwickeln, ist hingegen schwieriger, denn Bultmann hat sich auf eine konkrete Religion, auf den christlichen Glauben bezogen und dessen Aussagen samt deren Fundierung in einem Selbstverständnis neu zur Sprache gebracht. Religion hingegen ist zunächst einmal ein Allgemeinbegriff und der bietet kein konkretes Selbstverständnis. Jedoch gibt es Themen und Fragestellungen, wie beispielsweise die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Umgang mit Schuld und mit der eigenen Endlichkeit, nach dem unverdienten oder verdienten Glück und nach dem Guten, die als existenzielle Fragen auch von säkularen Menschen wahrgenommen werden sollten. Hinzu tritt, dass diese Themen in den Religionen nicht nur rational, sondern auch spirituell erfasst werden –
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und wären nicht auch mystische oder kosmische Erfahrungen selbst unter atheistischer Flagge denkbar?57 Literatur Armstrong, Karen (2007): Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam, München. Beck, Ulrich (2008): Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a. M. Benedikt XVI. (2007): Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. In: Dohmen, Christoph (Hrsg.): Die „Regensburger Vorlesung“ Papst Benedikts XVI. im Dialog der Wissenschaften, Regensburg, S. 15 – 26. – (2012): Ansprache seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag. In: Essen, Georg (Hrsg.): Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag, Freiburg i. B., S. 17 – 26. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1991): Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M., S. 92 – 114. – (2007): Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München. Bultmann, Rudolf (1941[1985]): Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung hg. von Eberhard Jüngel, München. DesForges, Alison (2002): Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda, Hamburg. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [BSELK] (1979), 8. Auflage, Göttingen. Dietrich, Walter/Link, Christian (1995): Die dunklen Seiten Gottes, Band 1: Willkür und Gewalt, Neukirchen. Forst, Rainer (2000): Gerechtigkeit und Vernunft. In: ders. (Hrsg.): Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt a. M., S. 119 – 143. Galtung, Johan (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Opladen. Girard, René (1994): Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf. Gogarten, Friedrich (1958): Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, 2. Auflage, Stuttgart. Große Kracht, Hermann-Josef (2012): Solide Säkularität. Diskursdemokratische Reflexionen zum Verhältnis von Religion und Republik im Zeitalter postmetaphysischer Politik. In: Gabriel, Karl/Spieß, Christian/Winkler, Katja (Hrsg.): Modelle des religiösen Pluralismus. His57 Vgl. Thies (2012), der diese Position bei Ernst Tugendhat vorstellt und als religiösen Atheismus bezeichnet.
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torische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven, Paderborn, S. 269 – 289. Habermas, Jürgen (2001): Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. – (2005): Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? In: ders./Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. B., S. 15 – 37. Hasenclever, Andreas (2012): Die Menschen führen Krieg und die Götter bleiben im Himmel. In: Delgado, Mariano/Holderegger, Adrian/Vergauwen, Guido (Hrsg.): Friedensfähigkeit und Friedensvisionen in Religionen und Kulturen, Stuttgart, S. 17 – 37. Herms, Eilert (1991): Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung. In: ders.: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen, S. 56 – 94. Hösle, Vittorio (1990): Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik, München. Huber, Wolfgang (1996): Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh. Huntington, Samuel (1996): Der Kampf der Kulturen, München. Janowski, Bernd (2013): Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn. Joas, Hans (2012): Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. B. Kippenberg, Hans G. (2008): Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München. – (2012): Religiöse Gewaltsprachen – religiöse Gewalthandlungen: Versuch einer Klärung ihres Verhältnisses. In: Berner, Knut/Lange, Sebastian/Röcke, Werner (Hrsg.): Gewalt: Faszination und Ordnung, Berlin, S. 81 – 109. Lübbe, Hermann (1986): Religion nach der Aufklärung, Graz. Margalit, Avishai (2011): Über Kompromisse – und faule Kompromisse, Berlin. Menke, Christoph/Pollmann, Arnd (2007): Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg. Nietzsche, Friedrich (1887 [1988]): Zur Genealogie der Moral. In: Colli, Giorgio/Montiari, Mazzino (Hrsg.): Kritische Studienausgabe, Band 5, München 1988, S. 245 – 412. Pickel, Gert (2013): Die Situation der Religion in Deutschland – Rückkehr des Religiösen oder voranschreitende Säkularisierung? In: Pickel, Gert/Hidalgo, Oliver (Hrsg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen? Wiesbaden, S. 65 – 101. Ratzinger, Joseph (2005): Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates; in: Habermas, Jürgen/Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. B., S. 39 – 60. Sander, Hans-Joachim (1999): Macht in der Ohnmacht, Freiburg i. B. Schieder, Rolf (2008): Sind Religionen gefährlich? Berlin. Schlee, Günther (2006): Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte, München.
Religionen als politische Gefahr
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II. Gewalt im Spannungsfeld von Militär, Staat und Gesellschaft
Zivile und demokratische Kontrolle militärischer Gewalt Begriffliche und theoretische Annäherungen an einen komplexen Untersuchungsgegenstand Von Jürgen Franke
I. Einleitung und Fragestellung Gewalt ist ein charakteristisches Merkmal des Militärs. Die Anwendung oder Androhung von bewaffneter Gewalt zur Realisierung politischer Zielsetzungen gehört zu den Wesensmerkmalen von Streitkräften.1 Alle Armeen verfügen über außerordentliche Mittel der Gewaltsamkeit, die jenseits der Möglichkeiten anderer organisierter sozialer Gruppen einer Gesellschaft stehen.2 Dies stärkt einerseits die politische Rolle des Militärs als Teil der staatlichen Exekutive, indem es die Machtposition des Souveräns sicherstellt. Andererseits besteht aufgrund der Existenz eines exorbitanten Gewaltpotenzials grundsätzlich die Möglichkeit, dass diese Gewalt auch gegen den Souverän selbst gerichtet werden kann, beispielsweise in Form eines Militärputsches. Zur Einhegung und Kontrolle dieser bewaffneten Gewalt bedarf es daher geeigneter Instrumente und wirkungsvoller Maßnahmen seitens des Staates bzw. der Regierung, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Staatsform und der Wehrstruktur des Landes sehr unterschiedlich gestaltet sein kann. Stets die Kontrolle ,von oben‘ über die Streitkräfte zu haben, sie in der bloßen Rolle als willfähriges Machtinstrument in der Hand des Souverän zu halten, ist der maßgebliche Zweck einer uneingeschränkten zivilen Kontrolle über Streitkräfte. Dies gilt für Diktaturen ebenso wie für demokratisch verfasste Gemeinwesen. Bei Letzteren kommt allerdings die Besonderheit hinzu, dass Streitkräfte grundsätzlich ein schwieriges Verhältnis zur Demokratie haben, das sich allein schon aus den unterschiedlichen Strukturen und Kommunikationsformen erklärt.3 Mögliche Konflikt- und Spannungsfelder begründen sich somit nicht nur über das Gewaltpotenzial des Militärs, was jederzeit die Möglichkeit und Gefahr eines Missbrauchs beinhaltet. Es sind auch die für Streitkräfte typischen hierarchischen Organisations1
Vgl. Wachtler (1988), S. 268. Vgl. Wildenmann (1968), S. 60. 3 Vgl. von Bredow (2003), S. 81. 2
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und Funktionsprinzipien, ausgerichtet auf die Anwendung organisierter (massiver) Gewalt zur Durchsetzung politischer Interessen, die vor einem freiheitlich demokratischen Wertehorizont zusätzliches Spannungspotenzial beinhalten.4 Zur Minimierung dieser Spannungen und zur Stabilisierung der Beziehungen zwischen Militär, Staat und ziviler Gesellschaft kommt in Demokratien neben der im Kontext mit ziviler Suprematie stets genannten zivilen Kontrolle der Streitkräfte daher eine weitere Überwachungsform zum Tragen, die als demokratische Kontrolle bezeichnet und vor allem wegen ihres normativen Ansatzes als unerlässlich angesehen wird. Demokratische Kontrolle über bewaffnete Gewalt sowie über ihre Agenturen und Akteure – dazu zählt beispielsweise auch die Regierung als Teil der staatlichen Exekutive – gehört zu den selbstverständlichen Grundlagen und Vorgaben an ein demokratisches Gemeinwesen. Erst im Zusammenspiel beider Formen, als sogenannte „democratic civilian control“, erwächst daraus schließlich ein System, welches Stabilität in demokratischen Staaten dauerhaft garantiert.5 Doch trotz eines in Demokratien implizit vorhandenen Grundverständnisses, das von einer umfassenden demokratisch-zivilen Kontrolle der Streitkräfte ausgeht, stellt man bei einer näheren Beschäftigung mit diesem Untersuchungsgegenstand fest, dass kein allgemein gültiges normatives Konzept solcher Kontrolle existiert. Vielmehr gibt es hierzu eine Vielzahl von Vorstellungen, die nicht nur unterschiedlich sind, sondern sich teilweise sogar widersprechen.6 Zugleich wird der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte eine zunehmende Bedeutung zugeschrieben. Hans Born7 geht sogar so weit zu behaupten, die Frage der demokratischen und parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte erlebe derzeit eine „Renaissance in alten und jungen Demokratien“ und nennt vier hauptsächliche Gründe für diese Entwicklung: 4 Das hier angedeutete Spannungs- und Widerspruchsverhältnis zwischen militärischer Gewalt und moderner gesellschaftlicher Entwicklungen mit der daraus abgeleiteten tendenziellen Unvereinbarkeit zwischen Militär und Gesellschaft wurde bereits durch Vertreter der klassischen Soziologie, wie Henri de Saint-Simon (1760 – 1825), August Comte (1798 – 1857), Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) oder Herbert Spencer (1820 – 1903), argumentativ nachgewiesen. In den 1960er-Jahren wurden diese unter der Bezeichnung Inkompatibilitätstheorem geführten Thesensammlungen durch den Friedens- und Konfliktforscher Wolfgang R. Vogt abermals aufgegriffen. In seinen Beiträgen verwies Vogt unter anderem auf die strukturelle und normative Unvereinbarkeit von Militär und ziviler Gesellschaft, da deren organisationsspezifische und kulturelle Grundlagen immer weniger untereinander vereinbar sind. Vgl. Vogt (1983), S. 21 – 57. Einen anschaulichen Überblick hierzu findet sich bei Croissant/Kühn (2011), S. 25 – 28. 5 Lambert (2009), S. 81 f. 6 Vgl. Born (2006), S. 125. 7 Hans Born ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces (DCAF). DCAF ist eine internationale Organisation mit Sitz in Genf und unterstützt Staaten, internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft in ihren Bemühungen um einen effektiven, wirksamen und legitimen Sicherheitssektor. DCAF geht in seiner Arbeit vom Grundsatz aus, dass zwischen Sicherheit, Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit ein Zusammenhang besteht und diese drei Elemente grundlegend sind für nachhaltigen Frieden seien. Für ausführlichere Informationen über Organisation und Aufgaben von DCAF s. www.dcaf.ch.
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(1) die allgemeine Tendenz zur Aufhebung der Wehrpflicht in europäischen Staaten mit der impliziten Sorge, dass Berufsarmeen schwieriger zu kontrollieren seien, (2) die gewandelte Rolle der Streitkräfte als „Instrument der Politik“, in deren Folge das Pflichtenheft der Streitkräfte durch weitere Aufgaben, insbesondere den Einsätzen im Ausland, bei gleichzeitiger Verringerung des Verteidigungsbudgets ständig anwuchs, was eine Anspannung im Verhältnis zwischen Politik und Militär bewirke, (3) die Internationalisierung militärischer Einsätze unter dem Oberbefehl supranationaler Organisationen, die damit einer internationalen demokratischen Kontrolle unterworfen werden müssten, und (4) die Neugestaltung der zivil-militärischen Beziehungen in den ehemaligen Ostblockstaaten nach demokratischen Prinzipien als Voraussetzung für die Mitgliedschaft dieser Staaten in westlich geprägten inter- und supranationalen Organisationen, deren Entwicklungsprozesse es zu begleiten und überwachen gelte.8 Angesichts der postulierten zunehmenden Bedeutung demokratischer Kontrolle von Streitkräften und des gleichzeitigen Fehlens eines entsprechenden allgemein gültigen normativen Modells ist das Ziel der nachfolgenden Überlegungen zu klären, was demokratische Kontrolle der Streitkräfte ist, anhand welcher Kriterien die Ausübung solcher Kontrolle erfasst und bewertet werden kann und welche Rolle ihr dabei für die Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen zukommt. Hierfür wird in drei Schritten vorgegangen: Zunächst erfolgt mit der allgemeinen Bestimmung der zivilen und demokratischen Kontrolle eine erste Annäherung an den überaus vielschichtigen Untersuchungsgegenstand, die nicht nur der Begriffsklarheit dient, sondern mit der zugleich die verschiedenen Facetten einer solchen Kontrolle aufgezeigt werden sollen. Im zweiten Schritt werden Zweck und Ziele der demokratischen und zivilen Kontrolle hinterfragt und danach Kriterien vorgestellt, die zur Überprüfung ihrer Wirksamkeit in der Praxis heranzuziehen sind. In einem dritten Schritt wird schließlich am Beispiel Deutschland das dort angewandte Modell vorgestellt. Vor dem Hintergrund der zusätzlich durch die negativen historischen Erfahrungen belasteten zivil-militärischen Beziehungen wird die Ausübung demokratischer Kontrolle über die militärische Gewalt in diesem Land analysiert und dabei aufgezeigt, welche Aufgabe der Inneren Führung als Führungs- und Organisationsphilosophie der Bundeswehr bei der Ausgestaltung dieser Beziehungen zukommt.
8
Vgl. Born (2006), S. 125 f.
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II. Bewaffnete Gewalt und demokratische Kontrolle: Eine Einordnung der Begriffe 1. Staatsgewalt und Gewaltmonopol Unter Staat als Begriff finden sich in der Literatur zahlreiche Erklärungsansätze. Die vielfältigen Angebote und Bestimmungsmuster werden oftmals nach einem modernen und einem traditionellen Grundverständnis differenziert: In einem modernen Politikverständnis handelt es sich beim ,Staat‘ im weitesten Sinne um die Gesamtheit der öffentlichen Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen in einem Gemeinwesen gewährleistet bzw. gewährleisten soll. Traditionellerweise wird Staat dagegen zumeist definiert durch drei Elemente, nämlich (1) Staatsgebiet, (2) Staatsvolk und (3) Staatsgewalt.9 Die vorgenommene Unterscheidung in modern und traditionell ist deshalb relevant, weil dadurch auf unterschiedliche Betrachtungsebenen Bezug genommen wird. So beschreibt das moderne Politikverständnis vornehmlich das Innenverhältnis, unter dem der Staat als Sphäre von Behörden und Regierungen (Staatsapparat) mit hoheitlichen Funktionen und politischer Macht erscheint, durch die er sich von der nichtstaatlichen Sphäre der Gesellschaft (z. B. Familie, Religion, andere soziale Gemeinschaften und freiwillige Vereinigungen, aber auch Eigentum, Markt und Erwerbsleben, kulturelle und politische Öffentlichkeit, einschließlich ihrer Kommunikationsmedien) abgrenzen lässt. Dagegen wird nach traditionellem Verständnis ein Staat in erster Linie von außen betrachtet und unter diesem Fokus als Zusammentreffen einer Staatsgewalt (die über den Staatsapparat rechtsförmig ausgeübt wird und nach innen und außen gerichtet ist), eines Staatsgebietes (mit feststehenden und extern anerkannten Grenzen) und als Staatsvolk (als die Gesamtheit der Angehörigen einer im weiteren Sinne ,politischen Gemeinschaft‘) definiert.10,11 Gleichwohl wird auch bei dieser klassischen Definition die innenpolitische Seite des Staatsbezugs mitthematisiert. Denn unter Staatsgewalt versteht man mithin die rechtsgebundene Machtausübung des Staates einerseits nach innen durch Gestaltung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und andererseits nach außen durch Unabhängigkeit gegenüber anderen Staaten: „Staatsgewalt [ist] die Anordnungs-, Befehls- und Zwangsgewalt des Staates und seiner Organe gegenüber allen auf seinem Staatsgebiet lebenden Menschen (Staatsbürger oder Fremde), die sich gründet auf das Gewaltmonopol des Staates im Innern und auf seine Souveränität nach außen.“12 Spätestens seit den staatstheoretischen Lehren von Thomas Hobbes mit seiner Idee vom Gesellschaftsvertrag (Leviathan), nach der alle Menschen unwiderruf9
Vgl. Nöhlen/Schultze (2005b), S. 944. Auf diese vom österreichischen Staatsrechtler Georg Jellinek bereits im Jahre 1900 entwickelte sogenannte „Drei-Elemente-Lehre“ begründet sich in vielen Nationen bis heute deren Staatsverständnis und hat in dieser Form auch im internationalen Völkerrecht Eingang gefunden. 11 Vgl. Offe (2007), S. 518 f. 12 Nohlen/Schultze (2005b), S. 948. 10
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lich und freiwillig ihr Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht auf den Souverän übertragen und dieser ihnen dafür im Gegenzug umfassenden Schutz gewährt, beruht Staatsgewalt bis heute auf dem Prinzip eines Macht- und Gewaltmonopols. Gewalt hat bekanntlich viele Gesichter. Als Begriff und Phänomen besitzt Gewalt aufgrund der unterschiedlichen Facetten und sozialen Zusammenhänge stark differierende Bedeutungen, die sich zudem im historischen Kontext verändern können. Entsprechend findet sich hier eine definitorische Vielfalt insbesondere in der Gewaltforschung und den Gewalttheorien.13 Im deutschen Sprachgebrauch ist dieser Begriff aufgrund der damit oft in Verbindung gebrachten Assoziationen wie Zwang, Leid, Verletzung oder Zerstörung gewöhnlich negativ konnotiert. In der lateinischen Sprache wird diese negative Form von Gewalt mit dem Wort violentia umschrieben und damit zugleich von der positiven Form potestas abgegrenzt. Während im Englischen der positive und negative Gewaltbegriff mit den Wörtern power (= potestas) und violence (= violentia) eine entsprechende Kennzeichnung und begriffliche Unterscheidung erfährt, finden wir diese Differenzierung im Deutschen nicht. Hier lässt sich der Begriff Gewalt jedoch auf das altdeutsche waltan (= walten) zurückführen, was so viel bedeutet wie: stark sein, herrschen.14 In seiner etymologischen Bedeutung ist der Begriff eher neutral geprägt, lässt in dieser ursprünglichen Bedeutung aber den Bezug zu Staatsgewalt oder Verwaltung deutlich stärker erkennen. Gewalt ist danach entweder die Manifestation von Durchsetzungsvermögen (potestas) oder die Ausübung roher Gewalt gegen Personen (violentia). Insofern wir also von Staatsgewalt sprechen, ist damit immer die Anwendung oder Androhung von physischem oder psychischen Zwang gegenüber Menschen als Manifestation von staatlichem Durchsetzungsvermögen (potestas) gemeint. In der Wortkombination Staatsgewalt lässt sich somit beim Wort Gewalt eine zweifache Bedeutungen herauslesen: In einem eher abstrakten Sinne meint Gewalt erstens in Anlehnung an Max Webers Herrschaftssoziologie so viel wie ,die Macht, über jemanden zu herrschen‘, also Gewalt als Herrschaftsmittel. Im konkreten Sinne des Wortes bedeutet Gewalt die „Anwendung von unmittelbarem physischem oder psychischen Zwang gegen Menschen“15 beispielsweise zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Dieses Durchsetzungsvermögen des Staates mittels legitimer Gewaltanwendung wird über sein Gewaltmonopol (und den dafür verfügbaren Instrumenten wie z. B. Polizei und Militär) sichergestellt. In der Vergangenheit wurde der Begriff der Staatsgewalt vielfach als absolute und ausschließliche Macht des Souveräns gleichgesetzt, der sich auf das Gewaltmonopol des Staates abstützt. Zweifellos finden sich auch heute noch zahlreiche Staats- bzw. Regierungsformen, in denen die Durchsetzung des Herrschaftswillens auf der Basis von Unterdrückung und direkter Gewaltanwendung gegenüber den Bürgern in diesen 13
Vgl. Stümke (2013). Vgl. Brockhaus Enzyklopädie (1989), S. 453. 15 Ebd. 14
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Ländern erfolgt. Dieses absolutistische Herrschaftsverständnis ist mit dem modernen Staatsverständnis nicht mehr vereinbar. In diesem steht Gewaltmonopol als Begriff für die Konzentration der Anwendung physischer Zwangsmittel beim Staat, der dabei jedoch selbst an Recht und Gesetz gebunden ist und auf diese Weise reguliert bzw. eingehegt wird: „Das staatliche Gewaltmonopol rechtfertigt (…) weder die alleinige noch absolute oder totalitäre Herrschaft des Staatsapparates; es begründet allein die oberste Befugnis des Staates und seiner Institutionen zur Setzung und (ggf. auch gewaltsamen) Durchsetzung der rechtmäßig getroffenen, allgemein verbindlichen politischen Entscheidungen.“16 Die auf diese Weise legitimierte Gewaltanwendung (potestas), die beim Staat und seinen Agenturen liegt, unterscheidet sich damit von der illegitimen Gewalt (violentia) nichtstaatlicher Akteure.17 Mehr noch ist sie zur Wahrnehmung der Staatsfunktion unverzichtbar: „Formen solch legitimer Gewaltanwendung richten sich zum einen als organisierte Gewalt im Falle zwischenstaatlicher Kriege nach außen und zielen darauf ab, die Souveränität eines Staates zu behaupten. Zum anderen wenden sie sich nach innen und finden sich hier etwa in der Form von Sanktionen und in den Bereichen der Justiz und des Strafrechts (…). Mit diesen Mitteln versucht der Staat, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und die Mitglieder seines Gemeinwesens zur Beachtung und Befolgung von Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bringen.“18 Vom Grundsatz her handelt es sich bei Staatsgewalt und deren Durchsetzung also um legitimierte Gewalt, die unter rationalen Abwägungen als unerlässlich für das Gemeinwohl der Bürger und sonstiger Bewohner eines Staates gilt. Das schließt jedoch nicht aus, dass es selbst in Demokratien in der praktischen Um- bzw. Durchsetzung staatlicher Gewalt einen Ermessungsspielraum gibt, bei dem die Grenzen faktisch oder zumindest im moralischen Empfinden der Bürger überschritten werden können. Spätestens hier kommt der Begriff der Kontrolle ins Spiel. Die vor allem in modernen Demokratien praktizierte Gewaltenteilung ist eine der wirksamsten Prinzipien gegen eine totalitäre Herrschaft des Staatsapparates, indem sie für Legalität und Rechtstaatlichkeit sorgt und damit hilft, der Willkür oder dem Machtmissbrauch seiner Agenturen vorzubeugen. Die Verteilung der staatlichen Gewalt auf mehrere Staatsorgane dient einerseits der Machtbegrenzung durch (gegenseitige) Machtkontrolle und andererseits der Aufteilung von komplexen Staatsfunktionen auf verschiedene Organe mit den drei ,Gewalten‘ Gesetzgebung (Judikative), Vollziehung (Exekutive) und Rechtsprechung (Legislative). Das Prinzip der Gewaltenteilung stellt gewissermaßen die oberste Form einer demokratisch legitimierten Kontrolle von staatlicher Gewalt dar. Dies leitet über zum nächsten Abschnitt, der sich mit weiteren Formen der Kontrolle von staatlicher und auch bewaffneter Gewalt beschäftigt.
16
Nohlen/Schultze (2005a), S. 311. Vgl. Kümmel (2002), S. 23. 18 Ebd. 17
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2. Civilian Control und demokratische Kontrolle Die Teilung von Staatsgewalt und deren unabhängige Kontrolle gehören zu den Grundprinzipien eines jeden demokratischen Staatswesens, was zugleich ein wichtiges Erfüllungskriterium für Demokratie und Rechtstaatlichkeit bildet. Gleiches gilt entsprechend für die Organe der Staatsgewalt und ihre Agenturen, dazu zählt beispielsweise auch die umfassende Kontrolle des Militärs. Dies ist jedoch nicht als besonderes Misstrauen des Souveräns gegenüber seiner Streitmacht zu verstehen. Zum einen gilt, wie eingangs aufgezeigt, die zivile Kontrolle des Militärs als unerlässliche Maßnahme zur Sicherstellung ziviler Suprematie und des Primats der Politik. Zum anderen legitimiert sich Kontrolle gewissermaßen aus sich selbst heraus, da die verschiedenen Formen von Kontrolle, beispielsweise die politische, die finanzielle oder juristische, „eng mit dem Leben einer Demokratie verbunden sind“19 und sie somit kein Alleinstellungsmerkmal für das Militär darstellen. Gleichwohl bleibt die Durchsetzung der zivilen oder gar demokratischen Kontrolle über das Militär grundsätzlich problematisch. Dies hängt unter anderem mit den eingangs schon kurz erwähnten militärspezifischen Funktions- und Organisationsprinzipien zusammen. Diese resultieren zwar hauptsächlich aus funktionsbedingten Überlegungen zur Effizienzoptimierung bewaffneter Gewalt, weisen damit aber zugleich den Wesenskern des Militärischen einschließlich des daran ausgerichteten Organisationsinteresses aus. Starke hierarchische Zentralisierung, straff geführte, ,top-down‘ gerichtete Befehlsorganisationen und Kommandostrukturen, das Prinzip von ,Befehl und Gehorsam‘ sowie der hohe Grad an Formalisierung und Ritualisierung sind typische Merkmale und Prinzipien aller Streitkräfte. Darüber hinaus handelt es sich beim Militär nicht nur um eine bürokratische Großorganisation, sondern gleichzeitig auch um eine korporative Institution, die ihre eigenen Interessen vertritt, ihre Organisationsmitglieder nach eigenen Vorstellungen und Idealen zu sozialisieren sucht und hierzu einen intensiv praktizierten kommunitären Umgang pflegt.20 Die funktionsbezogenen Organisationsprinzipien und -merkmale für sich allein genommen kennzeichnen aber nicht das eigentliche Problem bei der Ausübung demokratischer Kontrolle von Streitkräften. Dieses zeigt sich erst in Verbindung mit einer daraus erwachsenden spezifischen Militärkultur, durch die sich das Militär von seiner zivilen Umwelt unterscheidet und abgrenzt.21 Der Gemeinschaftgedanke einer hierarchisch organisierten, uniformierten Körperschaft sowie die grundsätzliche Verletzungs- und Todesmöglichkeit in Ausübung berufsständischer Pflichten im Staatsdient, in diesem Fall also die Anwendung organisierter Gewalt, bilden darin den zentralen Wertbezug.22 Disziplin, Formalismus und Konservatismus sowie Tradition/Konvention, Maskulinität und sozialräumliche Segregation finden sich als Wesensmerkmale trotz natio19 Hoffmann (1994), S. 13. Ausführlicher zur Legitimität der Kontrolle über Streitkräfte vgl. ebd., S. 11 – 17. 20 Vgl. Gareis/Haltiner/Klein (2006), S. 14 – 25; Grau (2001), S. 31. 21 Vgl. vom Hagen (2012a), S. 9. 22 Vgl. vom Hagen (2008), S. 387.
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naler Prägungen und Besonderheiten in nahezu allen Praxisformen von Streitkräften wieder und bilden damit die Grundlage einer weltumspannenden Militärkultur.23 Die spezifischen Gesinnungs- und Anschauungsmuster, die auf diese Weise das berufliche Leben in der militärischen Gemeinschaft regeln und prägen, stehen dabei oftmals im Widerspruch zu zivildemokratischen Grundwerten und Prinzipien. Nicht selten werden innerhalb der Praxisformen der Streitkräfte, also in den gelebten Militärkulturen, die zivilen Werte einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft von den Organisationsmitgliedern als störend oder gar schädlich empfunden und von daher abgelehnt, was eine grundsätzliche Spannung im Verhältnis zwischen Militär und ziviler Gesellschaft bewirkt. Der beim Militär immer wieder zu beobachtende Hang zur Selbstreferenz und Abschottung von der sie umgebenden Umwelt verstärkt diese Problematik noch und erschwert die Ausübung der demokratischen Kontrolle, unterstreicht gleichzeitig jedoch deren Notwendigkeit. Damit sind eine Reihe wichtige Gründe genannt, die unabhängig von der Legitimationsfrage dieser Maßnahmen für eine umfassende Kontrolle von Streitkräften sprechen. Die Bezeichnung umfassend meint hier, dass dazu mehrere Kontrollformen zur Anwendung kommen sollten, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Bedeutungen und Zwecke allerdings zu differenzieren sind. Als erste Form kommt die bereits im Zusammenhang mit ziviler Suprematie genannte zivile Kontrolle in Betracht, die umgangssprachlich häufig auch politische Kontrolle genannt wird. Politische und zivile Kontrolle sind nicht ganz dasselbe, gehören aber inhaltlich zusammen, da die politische Kontrolle als Teil der zivilen zu verstehen ist. In der englischsprachigen Militärsoziologie ist die Bezeichnung civilian control gebräuchlich, die, ins Deutsche übersetzt, beide Begriffe beinhaltet.24 Wie uns die Geschichte autoritärer Regime im 20. Jahrhundert lehrt, ist die zivile und politische Kontrolle des Militärs innerhalb von Demokratien eine notwendige, aber keine hinreichende Maßnahme.25 Zwar kommt es auch in diesen darauf an, dass zivile Suprematie und Primat der Politik gegenüber dem Militär durchgesetzt werden. Dies wird gewöhnlich dadurch erreicht, dass Streitkräfte „so in die Entscheidungsstrukturen des politischen Systems und in die Statushierarchie von gesellschaftlichen Institutionen einbaut [werden], dass andere Entscheidungsträger über ihnen stehen und andere Institutionen einen höheren Status genießen.“26 Doch damit bleiben Streitkräfte in einer Demokratie weiterhin ein Risikofaktor und wirken darüber hinaus wegen ihres ,undemokratischen Charakters‘ als Fremdkörper in der politischen Kultur und der zivilbürgerlichen Gesellschaft. Der Versuch einer stärke23
Vgl. dazu ebd., S. 389 sowie Tomforde (2009), S. 199 f. Vgl. von Bredow (2008), S. 35 f. 25 Vgl. Born (2006), S. 106. Als Beleg für diese Aussage führt Born die Despoten Hitler und Stalin an, die ihre Armeen ebenfalls „fest im Griff“ hatten und damit zivile und politische Kontrolle über diese ausübten. Er resümiert, dass diese Art der Kontrolle indessen bei Demokratien nicht wünschenswert sein kann; Kontrolle in demokratischen Gesellschaften könne legitimer Weise nur von gewählten Mitgliedern politischer Gremien ausgeübt werden. 26 von Bredow (2008), S. 45. 24
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ren Zivilisierung durch Demokratisierung von Streitkräften könnte zwar dazu beitragen, die grundsätzlich vorhandenen Antinomien in den Strukturprinzipien von Militär und funktionierender Demokratie aufzuweichen und damit die daraus erwachsenden Spannungen im Verhältnis zwischen Staat, Militär und Gesellschaft zu verringern. Dies käme faktisch jedoch einer Entmilitarisierung gleich, was dem Zweck und der Effizienz von Streitkräften wenig zuträglich wäre. Um schlagkräftige Streitkräfte trotz der damit einhergehenden militärspezifischen Besonderheiten demokratiekompatibel zu gestalten, bedarf es eines zusätzlichen normativen Elementes, das über die demokratische Kontrolle zum Tragen gelangt.27 Vorab sei angemerkt, dass es die demokratische Kontrolle (im Singular) nicht gibt, weder in der Theorie noch in ihrer praktischen Umsetzung. Demokratische Kontrolle ist vielmehr als mehrdimensionales Konzept zu verstehen, das in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten und auf verschiedenen formellen wie informellen Organisationsebenen zur Anwendung gelangt und daher von Land zu Land unterschiedlich gestaltet und praktiziert wird. Eine umfassende demokratische Kontrolle über bewaffnete Gewalt berücksichtigt neben der militärischen Führung gleichfalls auch die politische Exekutive, die über militärisch geführte Einsätze entscheidet, zumeist wird sie jedoch lediglich auf Streitkräfte bezogen. Auf einen kurzen Nenner gebracht umfasst demokratische Kontrolle demnach mithin „alle formalen Normen und Regeln, Gesetze und Vorschriften, mit denen die Organisation der Streitkräfte in das demokratische politische System und die Soldaten, allen voran das Offizierkorps, in die demokratische politische Kultur integriert werden sollen.“28 In den Sozialwissenschaften existieren allerdings unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie demokratische Kontrolle am besten funktioniere oder am wirkungsvollsten zu praktizieren sei. Mit zu den bekanntesten Theorien zählen die divergierenden Konzepte der USAmerikaner Samuel Huntington und Morris Janowitz, die nahezu zeitgleich Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika veröffentlicht wurden. Da es hierzu bereits zahlreiche Veröffentlichungen gibt, wird an dieser Stelle nicht dezidiert auf die beiden Modelle eingegangen, sondern auf die bestehende Literatur verwiesen.29 Nur so viel sei angemerkt, dass Huntington die Ansicht vertritt, die ,objektive‘ zivile Kontrolle („objective civilian control“), wie er sie tituliert, sei die einzig praktikable Form demokratischer Kontrolle.30 Sein hierzu entworfenes Separationsmodell, in dessen Mittelpunkt das Konzept vom militärischen Professionalismus steht, strebt dabei eine klare Trennung zwischen militärischer und politischer
27
Vgl. von Bredow (2003) S. 50 und dazu ausführlicher ders. (2008), S. 43 f. von Bredow (2003), S. 50. 29 Einen anschaulichen Vergleich dieser und weiterer Konzepte findet sich beispielsweise bei vom Hagen (2012b); deutlich ausführlicher mit dem Forschungsfeld Militär und Politik beschäftigt sich das Werk von Croissant/Kühn (2011). 30 Vgl. Huntington (1981 [1957]). 28
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Entscheidungsebene durch Maximierung des militärischen Professionsgrades an.31 Es sieht vor, dass die politische Führung die Ziele definiert und lediglich die Rahmenbedingungen für die militärischen Aktionen vorgibt, während das Militär anschließend für die militärische Umsetzung allein verantwortlich ist. Somit mischt sich die politische Führung weder in die militärischen Operationen ein, noch versucht die militärische Führung ihrerseits, Einfluss auf die politischen Entscheidungen zu nehmen. Der Offizier erscheint unter derartigen Bedingungen „als neutraler und anonymer Profi, der die Ziele der Politik sine ira et studio umzusetzen sucht“32. Das von Janowitz kurze Zeit später entwickelte Konzept des Konvergenzmodells stützt sich zwar ebenfalls auf militärischen Professionalismus ab, sieht allerdings eine Verknüpfung von politischer und militärischer Entscheidungsfindung vor und liest sich damit geradezu wie ein Gegenentwurf zu Huntingtons Separationsmodell.33 Als Soziologe versteht Janowitz die in der Theorie Huntingtons angestrebte klare Trennung zwischen Politik und Militär als unerreichbares Ideal, das allein aufgrund der Sozialisationseinwirkungen der sozialen Umwelt auf die Soldaten, vor allem auf die Offiziere, in der Praxis so nicht existieren würde. Er folgert daher, dass der Offizier der gesellschaftlichen und politischen Einflüsse auf sein Denken und Handeln sich stets bewusst zu sein habe und er dieses bei seinem Entscheidungsverhalten entsprechend verantwortungsvoll berücksichtigen müsse. An diesen beiden Beispielen lassen sich die unterschiedlichen gedanklichen Zugänge und Grundannahmen zur demokratischen Kontrolle besonders anschaulich vermitteln. Während im Konzept von Huntington eine demokratische Kontrolle über das Militär in erster Linie als politische Kontrolle ,von oben‘ verstanden wird, werden beim Ansatz von Janowitz die Sozialisationsauswirkungen einer demokratischen Gesellschaft auf das Militär bzw. der Soldaten bewusst mit einbezogen. Dadurch findet in seinem Modell neben der politischen Kontrolle ,von oben‘ eine zusätzliche demokratische Kontrolle von ,innen‘ über Professionalisierung Anwendung. Dieser Ansatz setzt allerdings ein anderes Verständnis von militärischem Professionalismus voraus, das sich nicht ausschließlich auf militärhandwerklichen Fähigkeiten eines ,anonymen und neutralen Profi‘ abstützt, sondern bei dem der Beruf des Soldaten (bzw. Offiziers) bewusst als politischer Beruf ausgewiesen wird.34 Mit der auf diese Weise systematisch vollzogenen Integration und gesellschaftlichen Legitimation des Militärs gelingt es nach Janowitz, eine Konvergenz der militärischen Werte und der professionellen Ethik der Offiziere mit der politischen Kultur ihrer Gesellschaft zu erreichen.35 31
Vgl. Croissant/Kühn (2011), S. 31 f.; vgl. dazu auch vom Hagen (2012b), S. 98 – 101. Born (2006), S. 131. 33 Vgl. hierzu Janowitz (1966 [1960]). 34 Parallelen im Verständnis vom Soldatenberuf als politischen Beruf findet man ebenfalls im deutschen Konzept der Inneren Führung mit der Figur des ,Staatsbürger in Uniform‘, auf das im nachfolgenden Abschnitt noch näher eingegangen wird. 35 Croissant/Kühn (2011), S. 32; vgl. dazu auch vom Hagen (2012b), S. 101 – 105. 32
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Interessanterweise hat sich der inklusive Ansatz von Janowitz in den Vereinigten Staaten nicht durchsetzen können. Dagegen wurde das Modell von Huntington mit dem dahinterstehenden Professionalisierungsideal, das von seinem Verständnis her „einen Ansatz ,radikaler‘ militärischer Professionalität dar[stellt]“36, in den Bereichen Politik und Militär fest etabliert: „Huntington beeinflusste die US-amerikanische Auffassung der zivil-militärischen Beziehungen maßgeblich. Über Jahrzehnte hinweg mussten US-amerikanische Offiziere seine Thesen praktisch auswendig lernen. Angesichts der Stellung der USA als Supermacht wurden Huntingtons These auch in vielen anderen, vor allem westeuropäischen Ländern adaptiert. Es scheint, dass das Modell der ,objektiven‘ Kontrolle oft als einziges Theorem vermittelt wird.“37
Diese Feststellung trifft auf Deutschland allerdings nicht zu. Schon bei den anfänglichen Planungsdebatten zum Selbstverständnis der Bundeswehr wurden Vorstellungen eines politikfernen Professionalisierungsideals, wie es bei Huntington vertreten wird, aus den historischen Erfahrungen mit Reichswehr und Wehrmacht überwiegend abgelehnt. Favorisiert wurde dagegen ein ähnlich inklusiver Ansatz bei den zivil-militärischen Beziehungen, wie dereinst von Janowitz angedacht, der dann später mit der Inneren Führung konzipiert wurde.38 Hinterfragt man die Gründe, die in einem Land bei der Wahl eines bestimmten Modells der zivilen und demokratischen Kontrolle ausschlaggebend sind oder waren, kommen gleich mehrere Aspekte in Betracht. So ist die Art und Weise der Kontrolle von Streitkräften natürlich zunächst einmal abhängig von der Staatsund Regierungsform des jeweiligen Landes.39 Darüber hinaus sind insbesondere die politische Kultur40 eines Landes, seine Geschichte und die historischen Erfahrungen im Umgang mit Militär und bewaffneter Gewalt ausschlaggebend für die kon36
vom Hagen (2012b), S. 100. Born (2006), S. 131. 38 Vgl. Heins/Warburg (2004), S. 58 f. 39 Damit sind nicht nur Unterscheidungen in die klassischen Haupttypen wie Monarchien, Aristokratien und Demokratien gemeint. Neben zahlreichen Mischformen gibt es auch innerhalb von Demokratien diverse Differenzierungen, so dass es bei einem länderübergreifenden Vergleich demokratischer Kontrolle von Streitkräften eigentlich angebracht wäre, hierbei auch die jeweiligen Regierungssysteme zu berücksichtigen. Die parlamentarische Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik zählt, wie schon der Name insinuiert, besonders in Ländern mit einem parlamentarischen Regierungssystem wie z. B. in Deutschland zu den wichtigen politischen Aufgaben des Parlaments. 40 Croissant und Kühn unterscheiden bei ihrer strukturellen Analyse der Zusammenhänge von politischer Kultur, Legitimität und Militärintervention die politische Kultur nach vier Abstufungen („Reifegrade“): „reif“, „entwickelt“, „niedrig“ und „minimal“. Je nach Entwicklungsstand der politischen Kultur (und damit zusammenhängend das Ausmaß von Legitimität ziviler Institutionen) bieten sich dem Militär verschiedenen Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme. Sie reichen von „nicht möglich“ bei Typ I („reif“) über „Einschüchterung der Autoritäten“ bei Typ II, „Austausch der zivilen Regierung durch eine andere zivile Regierung“ bei Typ III, bis zum „Ersetzen der zivilen Regierung durch eine Militärregierung“ bei Typ IV; siehe Croissant/Kühn (2011), S 36 f. 37
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krete Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen. Aufgrund der naturgemäß unterschiedlichen politischen, historischen, sozialen und kulturellen Hintergründe gestaltet sich folglich die zivile und auch demokratische Kontrolle in den jeweiligen Ländern verschieden. Die Art und Weise der zivilen und demokratischen Kontrolle gibt damit zugleich Aufschluss über das real existierende Beziehungsverhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Militär. In der Militärsoziologie bedient man sich daher zumeist dieses Kriteriums zur Erfassung und Bestimmung der zivil-militärischen Beziehungen eines Landes.41
III. Zivile und demokratische Kontrolle von Streitkräften in Theorie und Praxis 1. Zweck und Ziele der demokratischen und zivilen Kontrolle Fragt man nach Zweck und Zielen der demokratischen und zivilen Kontrolle, kommen gleich mehrere Punkte in Betracht, die sich nach ihrem funktionalen Kern vier Oberbegriffen, nämlich Schutz, Kontrolle, Steuerung und Stabilisierung, zuordnen lassen.42 Beim Schutz geht es im Wesentlichen um die Minimierung des Unterdrückungsrisikos der zivilen Macht durch die Streitkräfte. Wie bereits aufgezeigt, handelt es sich dabei um eine politische Risikovermeidungsstrategie, die in traditionsreichen Demokratien unbedeutend erscheint, in postsozialistischen Transformationsstaaten mit ungefestigten demokratischen Strukturen und in Ländern mit vormals Militärdiktaturen allerdings von existenzieller Bedeutung ist. Doch geht es unter dem Aspekt Schutz ebenfalls darum, einen Missbrauch der Streitkräfte zu politischen Zwecken zu verhindern, „sei dies im Innern oder außerhalb der nationalen Grenzen, im unilateralen Einsatz oder im Rahmen einer multilateralen Streitkraft“.43 Wie sich am Beispiel Deutschland besonders anschaulich verdeutlichen lässt, gewinnt dieser Punkt gerade in den gestandenen westeuropäischen Demokratien angesichts der teils gravierenden Veränderungen, hier vor allem in den Doktrinen der Sicherheits- und Außenpolitik und den damit einhergehenden Umwandlungen der Streitkräfte in professionelle Freiwilligenarmeen, zunehmend an Bedeutung. Danach erfolgt der Einsatz bewaffneter Truppen nicht mehr wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges ausschließlich als ultima ratio zur nationalen Selbstverteidigung, sondern im Rahmen einer Krisen- und Konfliktbewältigung bereits auch dann, wenn von der Regierungspolitik nicht näher bestimmte „Werte und Interessen Deutschlands den Einsatz der Bundeswehr erfordern“44, selbst ein Einsatz im Inneren wird dabei nicht ausgeschlossen.45 41
Zum Beispiel Croissant/Kühn (2011). Vgl. Carrel (1997), S. 9 – 13. 43 Ebd., S. 9. 44 BMVg (2006), S. 29. 45 Ebd., S. 72. 42
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Bei Kontrolle geht es um die Sicherstellung des staatlichen Machtmonopols über die legitimen Gewaltmittel und um Optimierung des Schutzwertes von Streitkräften, aber auch um sparsame und effiziente Verwendung der finanziellen Ressourcen für Streitkräfte.46 Unter dem Aspekt Steuerung lässt sich der Primat der Politik fassen. Mit ihm werden neben den Kontrollmechanismen wichtige Steuerungsfunktionen beim Einsatz von Streitkräften verbunden, nachdem „die demokratische Kontrolle über die Streitkräfte nach Ende des Kalten Krieges eine zusätzliche Dimension erhalten [hat], weil sich Streitkräfte nur schwer von ihrer traditionellen Angriffs- und Verteidigungsrolle lösen können und sich gegen neue Aufgabenzuweisungen im veränderten Sicherheitsumfeld sträuben“.47 Beim letztgenannten der vier Ordnungsbegriffe kommen im Zusammenhang mit Stabilisierung die zivil-militärischen Beziehungen ins Spiel. Denn ein wesentlicher Zweck der demokratischen und zivilen Kontrolle ist die Sicherstellung der Stabilität der zivilen und militärischen Beziehungen in Demokratien: „Zur Sicherstellung der Stabilität der zivil-militärischen Beziehungen gehört, dass dank demokratischer Kontrolle eine feste Verankerung der Streitkräfte in die Gesellschaft erreicht wird. Die Loyalität der Streitkräfte, insbesondere wenn es sich um eine Freiwilligenarmee handelt, ist sicherzustellen, indem ihnen in den Staatsfunktionen eine proportionale Bedeutung beigemessen wird, so dass ihre Angehörigen ein angemessenes Standing in der Gesellschaft genießen“.48 Kontrolle wird damit nicht als eine einseitige Kontrollaufsichtsmaßnahme von ziviler Seite über die Streitkräfte verstanden sondern als wechselseitiger Prozess, bei dem „zivile und militärische Seite gemeinsam die Verantwortung [tragen], dass den Anforderungen einer demokratischen Kontrolle konstruktiv entsprochen wird. (…) Wenn sich zivile und militärische Sicherheitsexperten in eine gemeinsame und konstruktive Erfüllung der Kontrollaufgaben teilen, werden Kommunikation und Dialog und ein gegenseitiger Wissensaustausch gepflegt.“49 Der Marburger Politikwissenschaftler Wilfried von Bredow gelangt in seinem Verständnis von demokratischer Kontrolle zu einem ähnlich weitreichenden Funktionsverständnis, wenn er formuliert: „Demokratische Kontrolle wird nicht als Maßnahmenbündel gegen eine der Gesellschaft fremd oder distanziert gegenüberstehenden Organisation aufgefasst. Sie funktioniert stattdessen über das Mittel der sozialen und politischen Integration.“50 Demokratische Kontrolle als Konzept zur Stabilisierung der zivil-militärischen Beziehung über den Weg der politischen und sozialen Integration von Streitkräften wird indes nicht in allen Demokratien gleichermaßen als selbstverständlich angesehen. Für Deutschland dagegen stellt Integration der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft das grundlegende Prinzip zur Regelung, Stabilisie46
Vgl. Carrel (1997), S. 10. Ebd. 48 Ebd., S. 12. 49 Ebd. 50 von Bredow (2008), S. 45. 47
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rung und Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen dar (siehe hierzu weiter unten). 2. Kriterien für demokratische Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik Die unterschiedlichen Verständnisse darüber, was demokratische Kontrolle beinhaltet, welche Kriterien dabei erfüllt sein müssen und welche Instrumente somit zur Anwendung gelangen, erschwert eine Systematisierung und Bewertung dieses Untersuchungsgegenstandes, insbesondere wenn es um theoretisch-normative ebenso wie um empirisch-deskriptive Aussagen zur Tauglichkeit bzw. Wirksamkeit eines bestimmten Konzeptes geht. Nach Hans Born lassen sich die in der Literatur anzutreffenden vielfältigen Konzepte zur demokratische Kontrolle über Streitkräfte und Sicherheitspolitik drei grundlegenden Ansätzen zuordnen, die er mit „oversight“, „good governance“ und „control“ bezeichnet. Hierüber kann eine erste grobe Systematisierung erzielt werden.51 Beim ersten Ansatz oversight wird Kontrolle „mit dem Setzen allgemeiner Leitlinien und Prinzipien für die Exekutive und deren Organe, darunter auch die Streitkräfte, gleichgesetzt“.52 In einer tabellarischen Übersicht werden von ihm die Institutionen und Kontrollebenen aufgelistet, die auf nationaler Ebene, beispielsweise in Form von Kontrolle, Aufsicht, Überwachung, Beanstandungen, alternative Sichtweise sowie auf internationaler Ebene durch Koordinierung und Legitimierung des internationalen Gebrauchs von Gewalt, demokratische Kontrolle ausüben.53 Beim zweiten mit good governance überschriebenen Ansatz handelt es sich ihm zufolge um ein Modell eines „zusammenhängenden Systems des demokratischen Managements der Sicherheitspolitik“, welches in erster Linie auf die qualitative Funktionsweise von Regierung und Parlament fokussiert.54 Beim dritten Ansatz steht der Begriff control im Mittelpunkt, der (ins Deutsche übersetzt: verwalten, steuern, befehlen oder anweisen) auf die reine Kontrolle als einseitige Aufsicht von oben nach unten abzielt. Born betont, dass jedes dieser drei Konzepte für sich Vorzüge beinhalte, da sie jeweils unterschiedliche Aspekten berücksichtigen: „good governance beruht auf einem systematischen Ansatz; das oversight-Konzept impliziert eine mehr 51
Vgl. Born (2006), S. 126. Ebd. 53 Als Institutionen bzw. Ebenen demokratischer Kontrolle werden darin aufgeführt: Exekutive (Präsident, Ministerpräsident, Verteidigungsminister, nationaler Verteidigungsrat), Legislative (Verteidigungsausschuss, auswärtiger Ausschuss, Haushaltausschuss), Justiz (zivile und militärische Gerichte), Unabhängige Beobachter (Parlamentsbeauftragte, Wehrbeauftragter, Inspektoren), Gesellschaft (Universitäten, wissenschaftliche Einrichtungen, Rechtshilfeorganisationen, NGOs, politische Parteien) und Internationale Ebene (weltweite und regionale Sicherheitsorganisationen, internationale Gerichthöfe, internationale Vereinigungen). Vgl. ebd., S. 127, Abb. 1. 54 Ebd., S. 126. 52
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grundsätzliche und umfassende Denkweise, und control schließlich bezieht sich auf die vorgesetzte Position von Regierung und Parlament im zivil-militärischen Verhältnis“.55 Die Überlegungen des Kanadiers Douglas Bland weisen in eine ähnliche Richtung. Zur erfolgreichen Gestaltung zivil-militärischer Beziehungen (oder eher: der zivilen Kontrolle über das Militär in Demokratien) bedarf es ihm zufolge sowohl struktureller als auch normativer Vorgaben. Er verwendet hierzu die anschaulichen Begriffe „Hardware“ und „Software“, die nach seiner Überzeugung gleichermaßen erfüllt sein müssen. Auch wenn er bei seinen Forderungen und Bedingungen in erster Linie neu entstandene Demokratien im Auge hat, sollten sie fraglos auch in traditionsreichen Demokratien uneingeschränkt Gültigkeit besitzen. Unter Hardware werden Aspekte wie die Schaffung geeigneter Gesetze, die Bildung von zivil dominierten Verteidigungsministerien, die Institutionalisierung von parlamentarischen Aufsichtsgremien und die Ernennung ziviler Verteidigungsminister erfasst. Die Software-Seite der zivilen Kontrolle über die Streitkräfte bezieht sich dagegen vor allem auf Aspekte zur Implementierung demokratischer Ideen, Wertvorstellungen, Grundsätze und Normen in die militärische und politische Kultur. Während die Hardware in neuen Demokratien vielfach gewährleistet sei, werde der Software im Rahmen von Demokratisierungsprozessen oftmals zu wenig Beachtung geschenkt.56 Mit seiner Unterscheidung zwischen Hard- und Software veranschaulicht Bland den unterschiedlichen Charakter der zivilen Kontrolle (statisch und dynamisch). So lässt sich demokratische und zivile Kontrolle einmal als ein Zustand der zivil-militärischen Beziehungen begreifen, der den Primat der Politik über das Militär durch gesetzliche, verfassungsrechtliche und strukturelle Vorgaben gewährleistet.57 Zum anderen kann demokratische Kontrolle aber auch als ein fortwährender Prozess verstanden werden, bei dem es darum geht, zivil-demokratische Werte und Grundsätze langfristig innerhalb der Organisation des Militärs zu verankern.58 Wilfried von Bredow ist ebenfalls überzeugt, dass sich demokratische Kontrolle über die Streitkräfte auf mehreren Ebenen entwickeln muss und sieht hierfür neben Militär und Politik zusätzlich die Medien und die politische Öffentlichkeit in der Pflicht. Ihm zufolge müssen für eine demokratische Kontrolle folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
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Ebd. Vgl. Bland (2001), S. 525 f. 57 Vgl. Croissant/Kühn (2011), S. 19. 58 Vgl. hierzu auch den unter gleicher Terminologie etwas anderen Ansatz von Croissant und Kühn. Bei deren Differenzierung geht es ausschließlich um zivile Kontrolle, die als Prozess verstanden „(…) all jene Maßnahmen der zivilen Autoritäten [erfasst], die darauf abzielen, ihre Kontrolle als Zielzustand der zivil-militärischen Beziehungen zu realisieren und zu erhalten. Im Einzelnen bedeutet dies (a) die Durchsetzung der zivilen Entscheidungsfähigkeit, (b) die Schaffung ziviler Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten über das Militär sowie (c) die Institutionalisierung dieser Mechanismen.“ Ebd. 56
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„Das politische System muss gesetzliche Möglichkeiten bieten, demokratische Kontrolle effektiv (z. B. über den Haushalt) auszuüben. Hier spielt vor allem das Parlament eine wichtige Rolle. Die Medien und die Öffentlichkeit müssen mehr als nur oberflächliches Interesse an den Streitkräften und ihren internen Betrieb zeigen; sie müssen in der Lage und gewillt sein, als Wächter zu wirken. Dazu braucht es Sachverstand, Empathie und Kritikfähigkeit (und zwar alles drei). Die Streitkräfte als Organisation müssen akzeptieren, unter dem Dach demokratischer Kontrolle zu agieren. Die Soldaten, insbesondere das Offizierkorps, müssen die Normen und Werte der Demokratie akzeptieren, verinnerlicht haben und willens sein, die Regeln demokratischer Kontrolle zu beachten.“59 Während die strukturellen Vorgaben vergleichsweise einfach zu realisieren und in Bezug auf Zielerreichung noch leicht zu überprüfen sind, gestaltet sich die Erfolgskontrolle bei den normativen Elementen der demokratischen Kontrolle deutlich schwieriger. Da viele Kriterien aus dem normativen Forderungskatalog nicht direkt messbar sind (wie beispielsweise die Forderungen nach Integration der Streitkräfte oder deren Verinnerlichung demokratischer Werte), können Aussagen zum Erfolg oder Misserfolg dieser Vorgaben und der dahinterstehenden Wirkungsprinzipien meist nur indirekt über weitere Indikatoren oder Bestimmungsmerkmale erfasst werten. Sie sind damit nicht wertneutral, sondern unterliegen aufgrund ihres normativen Charakters den spezifischen Wertvorstellungen (und Veränderungen) einer sie bestimmenden Kultur. Darüber hinaus baut deren Wirksamkeit bzw. Zielerreichung zumeist auf Zeit, ist somit nur über einen längeren und fortwährenden (Sozialisations-) Prozess zu erzielen, was Aussagen zum Erfolg oder Misserfolg zusätzlich erschwert. In Rahmen eines unter der Leitung von Laurent F. Carrel bereits Ende der Jahrtausendwende entwickelten länderübergreifenden Forschungsprojektes, das sich ausführlich der Thematik demokratischer und ziviler Kontrolle von Streitkräften widmete, wurde ein umfangreicher Kriterienkatalog für die Vergleich- oder Messbarkeit des Grades der demokratischen Kontrolle eines jeweiligen Landes sowohl für dessen Sicherheitspolitik als auch dessen Streitkräfte herausgearbeitet. Dieser Kriterienkatalog besteht aus acht „Oberbegriffen“, angefangen von „primären politischen Sachfragen“, „Hauptakteuren und Schlüsselfiguren“, „Zweck und Ziel“ demokratischer Kontrolle, „Instrumenten und Werkzeugen der Kontrolle“, über „gesellschaftspolitische Voraussetzungen“, differenziert spezifiziert nach Krisen-, Friedens- und Kriegszeiten, bis hin zu „Anforderungen und Grenzen“, bei den u. a. rechtsstaatliche und moralische Kriterien sowie Fragen zur Verhältnismäßigkeit, Effektivität und Effizienz ein Rolle spielen. Diese acht Oberthemen des Kriterienkatalogs werden in insgesamt 73 Einzelkriterien untergliedert und hierdurch operationa59
von Bredow (2003), S. 51.
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lisiert bzw. spezifiziert.60 Dieser umfangreiche Katalog bietet somit eine deutlich bessere Evaluierungschance gegenüber vielen anderen Konzepten mit eher abstrakt formulierten Forderungen. Zudem wird aufgrund der spezifischen Auswahl an Themen und Einzelkriterien die in anderen Untersuchungen häufig anzutreffende Dichotomisierung in eine politikwissenschaftliche oder soziologische Perspektive weitgehend vermieden.61 Dieses von der Forschergruppe um Carrel entwickelte Analyseschema verdient insofern besondere Beachtung, da es nicht nur seinem eigentlichen Verwendungszweck folgend zur Analyse der demokratischen Kontrolle der Armeen Mittel- und Osteuropas, sondern aufgrund seines universellen Charakters durchaus auch auf die Sicherheitspolitik und Armeen der traditionsreichen Demokratien Westeuropas anwendbar ist. Im Hinblick auf die strukturellen Veränderungen, die in den Armeen Westeuropas stattgefunden haben, ließe sich so anhand dieser Kriterien die Qualität der demokratischen Kontrolle in diesen Ländern neu bewerten. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die neben den sicherheitspolitischen insbesondere bei Reformen in allen Bereichen des Sicherheitssektors Berücksichtigung finden sollten, gewinnen darin insbesondere die Kriterien an Bedeutung, die unter der Rubrik „Gesellschaftspolitische Voraussetzungen“ geführt werden:62 • Rechtstaatlichkeit, • Bildung, öffentliches Interesse und Wissen, • Gegenseitiger Dialog unter allen Akteuren (Kommunikationskultur), • Transparenz der Themen, • Gegenseitige Verantwortung und Vertrauen (oder vertrauensbildende Maßnahmen), • Relative Stabilität in den zivil-militärischen Beziehungen, • Demokratische Kultur (politisch), • Effektive Kontrollinstrumente, 60
Vgl. Schaer (1997), S. 56 – 60. Eine Einordnung des Untersuchungsgegenstandes ,zivil-militärische Beziehungen‘ getrennt nach einer politikwissenschaftlichen und einer soziologischen Perspektive findet sich beispielsweis bei vom Hagen (2012): „Im politikwissenschaftlichem Verständnis wird überwiegend die normative Frage nach der politischen Kontrolle des Militärs über die Streitkräfte bzw. der Interventionsfähigkeit des Militärs in die zivile Politik in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt.“ Ebd., S. 88. vom Hagen verweist hierzu auf die Arbeit von Croissant/ Kühn (2011). Weiter heißt es: „Die soziologische Sichtweise auf die zivil-militärischen Beziehungen ist hingegen durch Fragen nach dem Militär als sozialem Feld sowie der Rolle von Öffentlichkeit und ziviler Gesellschaft in Fragen institutionalisierter Gewalt und Krieg gekennzeichnet.“ vom Hagen (2012), S. 88. Auch Ines-Jacqueline Werkner nimmt bei den Begriffsbestimmung in ihrem Beitrag eine vergleichbar lautende Unterscheidung vor, vgl. Werkner (2012), S. 2. 62 Vgl. Schaer (1997), S. 59 f. 61
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• Demokratische Tradition oder Wille zur Demokratie, • Kulturelle Geneigtheit zu Kontrollfragen (demokratische Kontrollmentalität), • Vorhandensein von Wehr- und Dienstpflicht. Eine ausführliche Erörterung der einzelnen Kriterien einschließlich ihrer Unterkriterien würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Aber auch so dürfte ihr Bezug zur demokratischen Kontrolle aufgrund der bisher dargestellten theoretischen Zusammenhänge ersichtlich werden. Dennoch sei an dieser Stelle nochmals auf den normativen Charakter einzelner Kriterien hingewiesen (z. B. bei demokratische Kultur, demokratische Tradition oder Wille zur Demokratie). Diese unterliegen den politischen und kulturspezifischen Besonderheiten der jeweiligen Länder und bedürfen somit einer eigens auf diese Verhältnisse zugeschnittenen Betrachtung, zumindest solange es hierfür keine allgemeingültigen ,Mindeststandards‘ gibt, wovon angesichts unterschiedlicher Vorstellungen selbst schon beim Demokratiebegriff in naher Zukunft aber nicht auszugehen ist. Andere hingegen, wie z. B. die Untersuchung der Kontrollinstrumente, sind universell anwendbar. Bei der Frage nach der effektiven Ausübung demokratischer Kontrolle spielen sie ebenfalls eine maßgebliche Rolle. 3. Instrumente demokratischer und ziviler Kontrolle Bei der Frage nach der Wirksamkeit demokratischer und ziviler Kontrolle ist nicht nur die zunächst grundlegende Entscheidung über Art und Form solcher Kontrolle entscheidend. Darüber hinaus bedarf es eines weiteren Blickes, wie diese Maßnahmen in der Praxis ausgeübt werden und welche Möglichkeiten und Mittel dabei zur Anwendung gelangen. Die Instrumente und Werkzeuge zur praktischen Umsetzung und Zielverwirklichung demokratischer und ziviler Kontrolle sind recht vielfältig und lassen sich nach verschiedenen Kriterien unterteilen. So kann beispielsweise unterschieden werden in streitkräfteinterne oder externe Kontrolle, in Kontrolle durch die Exekutive (Regierung und Verwaltung), die Legislative (Parlament), die Judikative (rechtliches und juristisches System) und nicht zuletzt in die ebenfalls wichtige Kontrolle durch die Öffentlichkeit und ihre Kommunikationsmedien (Medien, öffentliche Meinung, Interessengruppen).63 Darüber hinaus leisten zahlreiche Sicherheitsexperten in Wissenschaft und Forschung wichtige Beiträge zur Kontrolle, deren fundierte Erkenntnisse und Befunde zumeist allerdings einem vergleichsweise eher kleinem Fachpublikum vorbehalten bleiben.
63 Ausführlich vgl. Born (2006), S. 127 f.; Carrel (1997), S. 37 – 42; Schaer (1997), S. 59, Bland (2001), S. 532 – 536; grundlegend zur parlamentarischen Kontrolle in der Sicherheitsorganisation siehe Born/Juri/Johnsson (2005).
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III. Demokratie und Militär: Das deutsche Modell Die nachfolgenden Betrachtungen befassen sich mit den Prämissen und Formen demokratischer Kontrolle von Streitkräften in der Bundesrepublik. Aufgrund der historischen Erfahrungen Deutschlands gestalten sich die zivil-militärischen Beziehungen hierzulande im Vergleich zu den westeuropäischen Nachbarn als besonders prekär, was nicht nur in einem eher reservierten bis ablehnenden Verhältnis der Gesellschaft gegenüber allem Militärischen und einer (bisher zumindest) weitgehenden Zurückhaltung der Politik, was den Gebrauch militärischer Gewalt anbelangt, sichtbar wird, sondern auch in der besondere Art und Weise der demokratischen Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik zum Ausdruck gelangt.
1. Historische und rechtliche Implikationen bei der Wiederbewaffnung Deutschlands Bei den theoretischen Überlegungen zu den Konzepten demokratischer Kontrolle wurde deutlich gemacht, dass verschiedene Faktoren bei der Ausgestaltung der zivilmilitärischen Beziehungen maßgeblich sind; genannt wurden hierbei unter anderem die historischen Erfahrungen, die politische Kultur und die kulturellen Traditionen einer Gesellschaft. Überträgt man diese Erkenntnisse auf die Situation Deutschlands, insbesondere auf die Zeit der Planung und Aufstellung neuer deutscher Streitkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die historischen, politischen und kulturellen Hintergründe der deutschen Gesellschaft mitentscheidend bei der Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen und für die Art und Weise einer Kontrolle des Militärs. Die historischen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime und der Werterahmen des neu geschaffenen Grundgesetzes führten bei den Planungen der Bundeswehr zwischen 1950 und 1955 zu der klaren Erkenntnis, dass „ohne Anlehnung an die Formen der ehemaligen Wehrmacht grundlegend Neues“64 zu schaffen sei. Insbesondere aufgrund der negativen Erfahrungen mit Reichswehr und Wehrmacht musste im Falle einer deutschen Wiederbewaffnung – so die unter den damaligen politisch Verantwortlichen vorherrschende Überzeugung – ein Missbrauch der Armee sowie ihre Abschottung von der Gesellschaft als ,Staat im Staat‘ um jeden Fall verhindert werden. Die Bundeswehr wurde daraufhin als demokratiekompatible Armee konstruiert – und zwar dergestalt, dass sie nicht wie ein Fremdkörper in der Gesellschaft wirken oder gar selbst eine Bedrohung für die demokratische Grund- und Werteordnung darstellen würde. Insbesondere die auf der Werteordnung Deutschlands basierenden normativen Grundsätze der sogenannten 64
Die Redewendung beschreibt die inzwischen klassische Devise der Himmeroder Tagung zum ,Inneren Gefüge‘ der projektierten westdeutschen Streitkräfte vom Oktober 1950: „[Es] sind die Voraussetzungen für den Neuaufbau von denen der Vergangenheit so verschieden, daß ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute grundlegend Neues zu schaffen ist.“ Rautenberg/Wiggershaus (1985), S. 85.
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Inneren Führung, der Führungs- und Organisationsphilosophie der Bundeswehr, gelten bis heute als unverzichtbare Grundlage zur demokratischen Implementierung der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft. Die gesamte Organisation der Bundeswehr wurde auf dieses Ziel ausgerichtet, sowohl strukturell, personell als auch in ihrer Militärkultur. Auf eine kurze Formel gebracht lässt sich das multidimensionale angelegte Konzept Innere Führung begreifen als politischer Auftrag zur Umsetzung der Normen und Werte des Grundgesetzes für einsatzbereite Streitkräfte in der Demokratie und zur Verwirklichung des Staatsbürgers in Uniform. Die Einbindung der Bundeswehr in die rechtsstaatliche Ordnung, ihre Unterordnung unter den Primat der Politik und der parlamentarischen Kontrolle sowie der Anspruch, durch demokratische Kontrolle und gesellschaftliche Integration die Entwicklung einer militärischen Eigenkultur und eines soldatischen Sonderethos (sui generis) auszuschließen, bestimmen daher die Konzeption der Inneren Führung seit ihrer Entwicklung.65 2. Multiple Formen ziviler und demokratischer Kontrolle Beim deutschen Modell mit dem Konzept der Inneren Führung kommen verschiedene Formen ziviler und demokratischer Kontrolle zum Tragen. Zu den Prinzipien der demokratischen Kontrolle mit dem Ziel einer Demokratisierung von Streitkräften gehören neben einer strukturellen Einbindung in das politische und verfassungsrechtliche Ordnungssystem auch deren soziale und kulturelle Einbindung in die Gesellschaft. „Hier kommen soziale und kulturelle Integrationsmechanismen zum Ansatz, die beim Militär bereits auf der untersten Ebene des Soldaten einsetzen und mit deren Hilfe ein demokratischer Geist beim Militär Einzug erhalten soll. Konzeptionell liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass sich der Soldat weiterhin als Bürger mit grundsätzlich allen bürgerlichen Rechten und Pflichten begreift und sich in seinem gesellschaftlichen Denken und handeln nicht spezifisch von dem seiner zivilen Mitbürger unterscheidet (und sich damit als Angehöriger einer gleichen gesellschaftlichen Gemeinschaft versteht).“66 Auf diese Idee einer Verinnerlichung zivildemokratischer Werte und Prinzipien seitens des Soldaten baut das Konzept vom ,Staatsbürger in Uniform‘ auf, das letztlich Bürger und Soldat in einer Person vereinigt und mit diesem Bild den Soldatenberuf zu einem normalen Beruf (ohne Zuweisung eines Sonderstatus ,sui generis‘) in der Gesellschaft erklärt.67 65 Die in kursiver Schrift abgesetzten Vokabeln verweisen als Kernbegriffe auf das Grundkonzept der Inneren Führung, in deren Fokus die demokratische Einbindung der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft sowie die demokratische Kontrolle der Streitkräfte stehen. 66 Franke (2012a), S. 49. 67 Die vielschichtige Programmatik der Inneren Führung mit ihren darin ausgewiesenen vier Zielprozessen (1) Legitimation (Existenz und Auftrag von Streitkräften), (2) Integration (politische, gesellschaftliche und soziale Integration der Streitkräfte und Soldaten), (3) Motivation (zielt ab auf die Wehr- und Dienstmotivation: „Dienst aus Einsicht“ als staatsbürgerliches Motiv und „Identifikation mit der Aufgabe“ als soldatisches Motiv) und (4) Gestaltung der ,Inneren Ordnung‘ (umfasst das allgemeinen Wehrrecht und die ,soldatische Ordnung‘, gemeint sind damit die diversen Vorschriften, Weisungen, Erlasse und Verordnungen, welche
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Die Innere Führung ist historisch betrachtet das Leitkonzept zur demokratischen Formung und Ausgestaltung des Militärs in Deutschland.68 Deren Aufgabe als Leitbild besteht unverändert darin, die Integration der Bundeswehr sowohl in die freiheitlich-demokratische Staatsordnung wie in die pluralistische Gesellschaft herbeizuführen und zu sichern. Das Konzept nimmt dabei gleichermaßen drei unterschiedliche Beziehungseben in den Blick: (1) Die institutionelle Ebene (Makro-Ebene): Hier geht es um die Außenbeziehung der Bundeswehr ,als Ganzes‘ (Militär als Institution) zu Politik und Gesellschaft, wobei grundlegende Antworten zu politischem Auftrag und gesellschaftlicher Funktion der Bundeswehr sowie zur Art und Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen gegeben werden. Dieser Bereich ließe sich unter dem Oberbegriff Streitkräfte in der Demokratie zusammenfassen. (2) Die Organisationsebene (Meso-Ebene), bei der die militärischen Binnenbeziehungen im Fokus stehen (Militär als Organisation): Im Kern geht es auf dieser Ebene um den politischen Auftrag einer intern gesteuerten, demokratiekompatiblen Ausrichtung des gesamten Organisationsbetriebes; hierzu zählen beispielsweise innerbetriebliche Prozessabläufe, Organisationsstrukturen sowie Führungs- und Ausbildungsprinzipien, die sich soweit wie möglich an demokratische Prinzipien, Wertvorstellungen und Normen zu orientieren haben (Demokratie in den Streitkräften). (3) Schließlich richtet sich das Konzept auf der individuellen Ebene (MikroEbene) an den Soldaten selbst als Bürger, indem es Erwartungen an das soldatische Berufsbild formuliert. Auf dieser Ebene geht es um Erklärungsangebote, die beispielsweise die Spannungen betreffen, die sich aus den staatsbürgerlichen Rechten und den zugleich geltenden beruflichen Pflichten als Soldat ergeben können, sowie insbesondere das soldatische Berufsverständnis und damit einhergehende Fragen zur militärischen Berufsethik. Die subjektbezogene Ebene der Inneren Führung wird mit dem Begriff ,Staatsbürger in Uniform‘ erfasst. Der Staatsbürger in Uniform hat als ,Markenzeichen‘ der Inneren Führung diese über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht und soll auf dieser Ebene in Korrespondenz mit den beiden anderen Wirkungsebenen zur politischen und gesellschaftlichen Integration des Militärs beitragen.69 Die Innere Führung gilt bis heute nach den offiziellen Bekundungen der deutschen Politik als Garant für die demokratische Zuverlässigkeit und gesellschaftliche Integration der Bundeswehr. Als offizielle Leitkultur „umfasst (sie) die geistige und sittliche Grundlage der Streitkräfte“ und „durchdringt das gesamte militärische Leben“.70 Ihre Programmatik zielt darauf ab, dass das Militär die rechtstaatlich verdas soldatische Miteinander und den Dienstbetrieb regeln sollen) zielt dabei auf eine umfassende Demokratisierung und in diesem Sinne weitgehende Zivilisierung des Militärs, sowohl nach außen wie nach innen. Siehe hierzu im Einzelnen Franke (2012a), S. 59 – 74, 147 – 186). 68 Vgl. Croissant/Kühn (2011), S. 85. 69 Vgl. Franke (2012a), S. 381 – 383; ders. (2008), S. 281 – 283. 70 BMVg (2008), Ziffer 107.
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fasste demokratische Ordnung nicht nur äußerlich formal anerkennt (Demokratiefähigkeit), sondern dass die dahinter stehenden demokratische Grundsätze und Prinzipien darüber hinaus von allen Soldaten verinnerlicht werden und sie sich uneingeschränkt dazu bekennen (Demokratiewilligkeit). Dahinter steht die Idee, dass sich Demokratie nicht befehlen lässt. Äußere und innermilitärische demokratische Kontrolle ergänzen sich nach diesem Modell auf kongeniale Weise. Anzumerken ist, dass es sich bei der Programmatik der Inneren Führung, insbesondere mit dem Bild des Soldaten als Bürger in Uniform, um ein militärreformerisches Ideal handelt, welches der Realität nie ganz entsprach. Dennoch hat die Innere Führung – entgegen der Bedenken vieler ihrer Kritiker – auf lange Sicht zur einer beachtlichen Zivilität und demokratischen Konformität der bundesrepublikanischen Streitkräfte geführt.71 Dieser Erfolg wurde ihr weniger aufgrund ihrer offiziell zugewiesenen Rolle als Führungs- und Organisationsphilosophie zuteil, sondern ist vielmehr der Leitbildfunktion als übergeordnete Unternehmensphilosophie zuzuschreiben, die auf diese Weise die Militärkultur der Bundeswehr zumindest in der Vergangenheit maßgeblich bestimmte. 3. Instrumente der demokratischen Kontrolle deutscher Streitkräfte Mit den sozialen und kulturellen Integrationsmechanismen im Konzept der Inneren Führung wird in erster Linie die zuvor beschrieben Software-Seite der demokratischen Kontrolle (im Sinne einer streitkräfteinternen Kontrolle) bedient, während die strukturelle Einbindung der Streitkräfte in die Verfassung und deren Integration in das politische und gesellschaftliche System überwiegend die Hardware ausmachen (externe Kontrolle).72 Als externe Kontrolle im deutschen Konzept zivil-militärischer Beziehungen fallen gleich mehrere Faktoren ins Gewicht. An oberster Stelle ist hierbei zunächst das Grundgesetz zu nennen, das dem Bund mit seinen zivilen Organen die Hoheitsgewalt über das Militär verleiht und dabei zugleich auch Zweck und Auftrag von Streitkräften definiert (Art. 87a GG).73 Die im allgemeinen Sprachgebrauch vielfach als 71
Vgl. Mannitz (2007), S. 4; Bald (2005), S. 25. Die Einschränkung „überwiegend“ steht hier für die Erkenntnis, dass sich in einigen Bereichen keine eindeutige Trennlinie zwischen Hard- und Software ziehen lässt, weil diese beispielsweise eine wechselseitige Wirkung entfalten oder einander bedingen. Als ein Beispiel dafür sei der in der Programmatik der Inneren Führung verankerte freiheitlich-demokratische Werterahmen genannt, bei dem der Primat der Politik, die Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte und die Bindung an die rechtstaatliche Ordnung als unveränderliche Doktrin und Grundprinzipien der Inneren Führung zum kategorialen Imperativ für Streitkräfte in Deutschland erhoben werden; vgl. Franke (2008), S. 277 – 280; ders. (2012b), S. 377. 73 Die verfassungsrechtlich abgesicherten restriktiven Regularien zum Gebrauch von Streitkräften waren von Anbeginn im Grundgesetz implementiert, also schon zu einer Zeit, wo eine Wiederbewaffnung Deutschlands noch gar nicht zur Debatte stand. Insofern ist diese Maßnahme aus damaliger Sicht wohl eher als juristische Sicherheitsvorsorge gegen einen 72
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,Wehrverfassung‘ bezeichneten Ergänzungen des Grundgesetzes im Jahre 1956 (2. Wehrnovelle) etablieren dabei den verfassungsrechtlichen Rahmen zur Ausgestaltung des Verhältnisses von Militär und Politik in Deutschland unter den damaligen und bis heute gültigen gesellschaftspolitischen Prämissen zur Aufstellung von Streitkräften und deren Integration in die Demokratie. Die im Rahmen dieser und weiterer Wehrnovellen (1968: „Notstandsgesetze“, 2005: „Parlamentsbeteiligungsgesetz“) vollzogenen Änderungen im Grundgesetz gewährleisten nicht nur die demokratische und zivile Kontrolle der Bundeswehr, sondern liefern im Zusammenwirken mit den bestehenden Gesetzen, Rechtsverordnungen und Erlassen des Deutschen Wehrrechts zugleich die gesetzliche Legitimationsgrundlage zur Kontrolle durch die Exekutive, Legislative und Judikative. Dabei kommen folgende Kontroll-, Aufsichts- oder Überwachungsmöglichkeiten zur Anwendung:74 (1) Die Kontrollverantwortung der Exekutive (Regierung und Verwaltung): • Die Befehls- und Kommandogewalt (IBUK) über die Streitkräfte obliegt einem zivilen Mitglied der Regierung; im Frieden liegt diese bei dem/der Verteidigungsminister/in (Art 65a GG), im Verteidigungsfall bei dem/der Bundeskanzler/in (Art 115b GG). • Das Verteidigungsministerium wird durch zivile Staatssekretäre aus Verwaltung und Politik geführt. • Die Wehrverwaltung des Bundes stellt ein ziviles Kontrollelement innerhalb der Bundeswehr dar; sie entscheidet und wacht über den Haushalt der Streitkräfte (Art 87b Abs. 1 GG). • Militärische Spitzendienstposten (ab Dienstgrad Oberst) werden durch den Verteidigungsminister ernannt, Generäle können jederzeit auf Weisung des Verteidigungsministers in den vorzeitigen Ruhestand versetzt werden. (2) Die Aufsichtsverantwortung der Legislative (Bundestag): • Sonderregelungen im Haushaltsrecht, die eine Vergrößerung der Streitkräfte oder ihre Umorganisation ohne Billigung des Bundestages ausschließen (Art 87a Abs. 1 GG); • Mitwirkung in parlamentarischer Gremien zur Feststellung des Eintritts von Spannungs- und Verteidigungsfall (Art 80a Abs. 1; Art 115a Abs. 1 GG); • Kontrolle des Parlaments über den Einsatz der Bundeswehr im Innern (Art 87 a Abs. 4 GG);
erneuten Machtmissbrauch des Militärs zu interpretieren und weniger als Hinweis auf eine bereits angedachte Wiederbewaffnung. Vgl. Franke (2012a), S. 140. 74 Vgl. hierzu ebd., S. 148, 147 – 149; Coissant/Kühn (2011), S. 83 f.
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• Sicherstellung einer parlamentarischen Kontrolle von Bundeswehr und Regierung durch den Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages als Untersuchungsausschuss (Art 45b GG); • Einsatz des Wehrbeauftragen des Deutschen Bundestages zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der parlamentarischen Kontrolle über die Streitkräfte (Art 45b GG); • Bundeswehr als ,Parlamentsarmee‘: Zwar hat die Exekutive (Regierung) das Initiativrecht zum Auslandseinsatz bewaffneter Streitkräften; ihre jeweilige Entscheidung unterliegt jedoch einem konstitutiven Parlamentsvorbehalt, was bedeutet, dass diese der Zustimmung des Bundestages bedarf (Urteile BuVerfGer 1994 u. 2001, „Parlamentsbeteiligungsgesetz“ 2005). (3) Die Überwachungsverantwortung der Judikative (Gerichte): • In den Streitkräften gibt es keine ,Militärstrafgerichte‘ im eigentlichen Sinne; die Bundeswehrangehörigen müssen sich vor denselben Gerichten verantworten wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger auch. Dennoch existieren im Organisationsbereich der Bundeswehr Wehrdienstgerichte, die sog. Truppendienstgerichte. Die Bezeichnung erscheint etwas irreführend, da sie für Außenstehende eine eigene Militärjustiz suggeriert. Diese Einrichtungen fungieren aber lediglich als Dienstgerichte für Disziplinarverfahren gegen Soldaten und für Verfahren in Beschwerdeangelegenheiten von Soldaten.75 • Starke Verankerung demokratischer Normen und Werte im Deutschen Wehrrecht, über deren Einhaltung nicht nur die Soldaten selbst, hier insbesondere deren Vorgesetzte, sondern vor allem die von Amts wegen mit der Rechtspflege der Bundeswehr beauftragten Personen zu wachen haben. Hierzu gehören die Rechtsberater und Rechtslehrer in den Streitkräften, die Wehrdisziplinaranwälte und die Richter an den Wehrdienstgerichten. Das Wehrrecht ist Teil des öffentlichen Rechts und umfasst die Rechtsvorschriften über die Stellung und den Einsatz der Streitkräfte, die Rechte und Pflichten der Soldaten, das Wehrbeschwerde- und Wehrdisziplinarrecht, das Wehrstrafrecht, das Recht der Soldatenbeteiligung sowie über den Status und die Versorgung der Soldaten.76 75 Die beiden Truppendienstgerichte Nord und Süd sind erstinstanzliche Bundesgerichte und entscheiden über die ihnen nach der Wehrdisziplinarordnung und der Wehrbeschwerdeordnung zugewiesenen Rechtssachen aus dem Bereich der Bundeswehr. Die Truppendienstgerichte gehören zur Rechtspflege, die wie auch die Bundeswehrverwaltung und Militärseelsorge zu den zivilen Organisationsbereichen der Bundeswehr zählt. 76 Das Deutsche Wehrrecht orientiert sich dabei in erster Linie am Grundgesetz sowie am Parlamentsbeteiligungsgesetz. Weitere Grundlagen für das Deutsche Wehrrecht bilden das Soldatengesetz (SG), das Wehrpflichtgesetz (WPflG), die Vorgesetztenverordnung (VVO), die Wehrdisziplinarordnung (WDO), das Wehrstrafgesetz (WStrG), die Wehrbeschwerdeordnung (WBO) sowie das Wehrbeauftragtengesetz, vgl. Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Wehr recht (letzter Zugriff: 31. 03. 2014); zu den weiteren Grundlagen vgl. auch Franke (2012a), S. 157 – 159.
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Im deutschen Konzept zivil-militärischer Beziehungen tragen die drei Staatsgewalten mit ihren unterschiedlichen Kontrollformen (Kontrolle, Aufsicht, Überwachung) auf ihre Weise zur effektiven demokratischen Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik bei. Aufgrund der starken Einbindung des Bundestages in die Kontrollaufgabe durch das Grundgesetz wird in Deutschland der parlamentarischen Kontrolle eine hohe Bedeutung zugewiesen.77 Neben den klassischen drei Gewalten spielen bei der Aufsicht über die Waffenträger und Akteure der Außen- und Sicherheitspolitik in unserem demokratischen Gemeinwesen darüber hinaus die Massenmedien eine nicht unerhebliche Rolle. Sie repräsentieren über ihre Zuschauer, Leser und Hörer die politische Öffentlichkeit. Aufgrund der in funktionierenden Demokratien gewährleisteten Möglichkeit zur freien und unabhängigen Berichterstattung nehmen sie gewollt oder ungewollt Einfluss auf die Politik und haben damit eine kontrollierende Wirkung und Funktion. Indem sie beispielsweise auf Machtmissbrauch im Staat oder in der Gesellschaft aufmerksam machen, können sie erheblichen öffentlichen Druck auf die politischen Entscheidungsträger erzeugen, oft mit durchschlagendem Erfolg. Auf diese Weise üben sie gewissermaßen als Sprachrohr für die dahinterstehende breite Öffentlichkeit demokratische Kontrolle aus, weshalb sie auch als „vierte Gewalt“78 im Staat bezeichnet werden.
4. Demokratische Kontrolle durch soziale Integration des Militärs Die soziale Integration des Militärs bildet neben der politischen die zweite Säule im deutschen Konzept demokratischer Kontrolle von Streitkräften. Neben öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen und Veranstaltungen (z. B. „Tag der offen Tür“, „Öffentliches Gelöbnis“, Patenschaften der Truppe mit örtlichen Kommunen), die darauf abzielen, das Ansehen der Bundeswehr und die Präsenz bzw. Nähe der Truppe zur Bevölkerung zu befördern, soll die „tiefe Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft“79 sichergestellt werden. Dieser Integrationsgedanke einer engen und tiefen gesellschaftlichen Verankerung der Streitkräfte gewissermaßen als Schulterschluss von Armee und Gesellschaft wurde in der Vergangenheit insbesondere über die allgemeine Wehrpflicht hergeleitet.80 Damit ist die Annahme verbunden, dass mit Hilfe 77
Vgl. Croissant/Kühn (2011), S. 84. Leyendecker (2009). 79 Hierbei handelt es sich um ein Teilzitat des Bundeskanzlers Gerhard Schröder in seiner Festrede anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bundeswehr in Berlin. Er begründet diese „tiefe Verankerung in der Gesellschaft – und zwar in allen Schichten der Gesellschaft“ mit der Hilfsfunktion der Bundeswehr in Katastrophen und der Fähigkeit, „in schwierigen und lebensbedrohlichen Auslandseinsätzen Konflikte zu entschärfen, Hunger, Not und Elend zu bekämpfen (…) und Demokratie zu befördern“ sowie der Tatsache, dass die Bundeswehr nicht in der „verhängnisvollen Tradition des deutschen Militarismus“ stehe, sondern in der „Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit eigene und überzeugende Traditionslinien“ entwickelt habe. Schröder (2005), S. 2 f.; vgl. hierzu auch eine kritische Würdigung dieser Veranstaltung durch Kilian (2011), S. 553 f. 80 Vgl. BMVg (2006), S. 83. 78
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dieser Wehrform die gesellschaftliche Betroffenheit und Anteilnahme steigen, weil praktisch jeder männliche Bürger Deutschlands ab dem 18. Lebensjahr und seine Familie automatisch mit dem Thema Bundeswehr konfrontiert wurde. Außerdem werde über die Wehrpflichtigen das Militär mit dem demokratische Geist der Gesellschaft durchdrungen, so die Überzeugung der Verfechter der Inneren Führung, da auf diese Weise „die Menschen in der Bundeswehr (…) Teil der Gesellschaft mit ihrer Vielfalt, aber auch mit ihren Interessengegensätzen und Konflikten“81 darstellten. Die Bundeswehr wurde aus diesem Grunde vielfach als „Spiegelbild der Gesellschaft“82 bezeichnet, weil sie als Wehrpflichtigenarmee gewissermaßen wie ein sozialer Mikrokosmos die gesamte soziale und ideelle Breite der Gesellschaft repräsentiere und alle Bildungsschichten umfasse. Die empirischen Befunde zur tatsächlichen Rekrutierungslage in der Bundeswehr sprechen hierbei allerdings eine andere Sprache. Eine Analyse des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr aus dem Jahre 1998 ergab, dass sowohl bei den Wehrpflichtigen wie auch bei den Zeitsoldaten aufgrund der Selektion in der Personalauswahl nur bestimmte Gruppen der Gesellschaft vertreten seien, und kommt zu dem Schluss, dass hinter dieser allegorischen Begriffsverwendung wohl eher ein gesellschaftliches Wunschbild stecke, das so nicht der Wirklichkeit entspräche.83 Das Bild vom Staatsbürger in Uniform (als individuelle Komponente der Inneren Führung) korrespondiert mit der Idee vom wehrpflichtigen Bürger als „geborenen Vaterlandsverteidiger“, der geprägt wird von einer „gedoppelten, wechselseitig verschränkten Identität sowohl als ziviler Staatsbürger als auch soldatischer Waffenträger“.84 Als Konzept hat der Staatsbürger in Uniform nicht nur Leitbildcharakter für das (erwünschte) Selbstverständnis des Soldaten in der Bundeswehr als Armee in der Demokratie, von der Anlage her ist er gleichzeitig untrennbar mit dem alten Verteidigungszweck der Bundeswehr und dem Wehrpflichtgedanken verbunden.85 Zusammenfassend sind als die bestimmenden Merkmale im deutschen Konzept der zivil-militärischen Beziehungen und der demokratischen Kontrolle von Streitkräften folgende Punkte festzuhalten: Konzeptionell wurde die Bundeswehr bewusst als ,Parlamentsheer‘ und Wehrpflichtarmee konstruiert, die damit gleichermaßen politisch wie gesellschaftlich integriert sein würde (sollte). Der Primat der Politik und eine starke parlamentarische Kontrolle sind verfassungsrechtlich abgesichert, zur Vorsorge gegen eine Abspaltung der Armee von der Gesellschaft und der Herausbildung eines Sonderstatus (sui generis) soll sie als ,Armee des Volkes‘ tief in der Gesellschaft verankert sein. Zusätzlich soll über die Innere Führung und einem Berufs81
BMVg (2008), Ziffer 313. So jüngst noch im Februar 2010 durch den damaligen Wehrbeauftragen Reinhold Robbe; vgl. http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/portraet-reinhold-robbe-die-bun deswehr-ist-ein-spiegel-der-gesellschaft/1691866.html (letzter Zugriff: 01. 04. 2014). 83 Vgl. Kozielski (1998). 84 Wiesendahl (2002), S. 31. 85 Vgl. Wiesendahl (2002), S. 30; Franke (2012a), S. 381 f. 82
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verständnis als Staatsbürger in Uniform eine demokratische Kontrolle der Streitkräfte von innen heraus stattfinden (als professionelle Selbstkontrolle). Für Deutschland gilt dieses Konzept der Integration von Armee in Staat und Gesellschaft bis zum heutigen Tag als die politisch gewollte und gesellschaftlich getragene normative Vorgabe und zugleich Maxime für Streitkräfte in unserem demokratischen Gemeinwesen.86
IV. Ausblick: Für ein prozessorientiertes Verständnis demokratischer Kontrolle von Streitkräften Demokratische Kontrolle von Streitkräften steht als Begriff und Konzept für die Ausgestaltung und Stabilisierung der grundsätzlich problematischen Beziehungen zwischen Militär und ziviler Gesellschaft in Demokratien. Die Vorstellungen und daraus abgeleiteten Konzepte über demokratische Kontrolle von Streitkräften sind von Land zu Land unterschiedlich und deren Umsetzung bei der Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen steht zumeist im direkten Zusammenhang mit den jeweiligen historischen Erfahrungen, der politischen sowie der gesellschaftlichen Kultur eines Landes. Demokratische Kontrolle ist damit kein feststehender Begriff und auch kein allgemeingültiges Konzept, sondern eher als Prinzip zur Bewältigung einer zivil-militärischen Problematik zu begreifen, das jedoch in der Ausgestaltung der freien und souveränen Entscheidung des jeweiligen Landes unterliegt. Ungeachtet oder gerade wegen der aufgezeigten Problematik, dass es in der Frage solcher Kontrolle kein allgemeingültiges normatives Konzept gibt, findet sich eine Reihe länderübergreifender Bestrebungen und gemeinsame Projekte mit der Zielsetzung, das gegenseitige Verständnis von demokratischer Kontrolle in Bezug auf Sicherheitspolitik und Streitkräfte zu vertiefen. Hierbei wird zumeist der Versuch unternommen, eine solides theoretisches Fundament der Thematik zu legen, indem zunächst einheitliche Definitionen der oft vagen und austauschbaren Begriffe wie ,demokratische Kontrolle‘, ,zivile Kontrolle‘, ,demokratische Streitkräfte‘ und ,Demokratisierung des Militärs‘ vorgenommen werden; darüber hinaus werden bei diesen Projekten vielfach Kriterien zur Erfassung und empirischen Überprüfung demokratischer Kontrolle im Sicherheitssektor des eigenen bzw. des zu unterstützenden Partnerlandes entwickelt.87 86
An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass es sich beim deutschen Konzept der zivil-militärischen Beziehungen, insbesondere bei den normativen Vorgaben der Inneren Führung und den Vorstellungen zur Integration der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft, letztlich um Idealvorstellungen handelt, die in der Praxis nie ganz erreicht wurden, auch wenn man dem Ideal in der Vergangenheit in einigen Bereichen durchaus recht nahekam; siehe hierzu im Einzelnen Franke (2012a). Für eine Erörterung der spezifischen Frage, ob und inwieweit die Ausübung der demokratischen Kontrolle unter den veränderten Rahmenbedingungen heutzutage weiterhin funktioniert, siehe meinen Beitrag „Demokratische Kontrolle militärischer Gewalt – Die Bundeswehr als Einsatzarmee“ in diesem Band. 87 Hier lassen sich gleich mehrere gemeinsam durchgeführte Forschungsprojekte, aber auch Einzeluntersuchungen mit länderübergreifenden Vergleichen nennen: „Projekt Brü-
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Als Beispiel hierfür sei das von Laurent F. Carrel geleitete und unter Beteiligung schweizerischer und tschechischer Experten zustande gekommene, gemeinsame Forschungsprojekt genannt, bei dem es nicht darum ging, das in einer festverankerten Demokratie (Schweiz) langjährig erprobte und bewährte Rezept demokratischer Kontrolle der Streitkräfte lediglich in eine in dieser Hinsicht weniger erfahrene junge Demokratie (Tschechien) zu exportieren. Vielmehr sollte nach den Zielsetzungen des Projekts auch das bisherige Konzept der Schweiz hinterfragt werden. Carrell verweist, den Forschungsberichts einleitend, unter anderem auf die Erkenntnis aus einer im Sommer 1994 zur Thematik durchgeführten Veranstaltung des ,Marschall-Zentrums‘88, bei der die Berichterstatter festhielten: „In den meisten westlichen Staaten ist das Prinzip der demokratische Kontrolle der Streitkräfte so fest verankert, dass die Gründe für seine Bedeutung häufig übersehen oder als selbstverständlich betrachtet werden.“89 In traditionsreichen Demokratien sei man nach Ansicht Carrels versucht, „die Problematik als gelöst und die einseitig verstandene Zielsetzung der gründlich kontrollierten Streitkräfte und der auf demokratischen Weg formulierten Sicherheitspolitik als erfüllt zu betrachten.“90 Die Warnung vor den Gefahren und Folgen einer derartigen Entwicklungstendenz, die er hier mit Blick auf sein eigenes Land formuliert, lässt sich ohne weiteres auch auf Deutschland übertragen.91 Nur zu leicht besteht auch bei uns die Gefahr, dass wir dem Irrglauben unterliegen, wir hätten genügend Erfahrungen auf diesem Gebiet, unser parlamentarisches System sowie das Konzept der Inneren Führung seien genügend erprobt und hätten sich bewährt, womit dadurch bei uns, im Gegensatz zu den in Demokratie unerfahrenen Transformationsstaaten, alle anstehenden Probleme im Bereich einer demokratisch kontrollierten Armee längst gelöst seien.92 Übersehen wird dabei, dass sich angesichts der gravierenden sicherheitspolitischen Veränderungen globalen Ausmaßes Anfang der 1990er-Jahre, von deren Auswirkungen Deutschland unmittelbarweise betroffen ist, unweigerlich die Frage ckenschlag Tschechien-Schweiz“, Carrel u. a. (1997); „Demokratische Kontrolle im OSZEGebiet“, Cottey (2001); „Patterns in Liberal-Democratic Civil-Military Relations“; Bland (2001); „Zivil-militärische Beziehungen in Demokratisierungsprozessen: Argentinien und Uruguay im Vergleich“, Grau (2001); „Zivil-militärische Beziehungen in den baltischen Staaten“, Jermalavicius (2002); „Militär und Politik in Süd- und Mittelamerika“, Krämer/ Kuhn (2005); „Parlamentarische Aufsicht über den Sicherheitssektor. Prinzipien, Mechanismen und Praktiken“, Fluri (2005); „Zivil-militärische Beziehungen und Demokratie im neuen Europa“, Cottey (2007); „Oversight and Guidance: The Relevance of Parliamentary. Oversight for the Security Sector“. Born/Fluri/Lunn (2010), „Militär und zivile Politik“; Croissant/Kühn (2011). 88 Gängige Kurzform für: ,George C. Marshall Europäisches Zentrum für Sicherheitsstudien‘. Hierbei handelt es sich um ein deutsch-amerikanisches sicherheits- und verteidigungspolitisches Studienzentrum auf Universitätsniveau mit Sitz in Garmisch-Patenkirchen. 89 NATO-Brief, Oktober 1994, S. 13, zitiert in Carrel (1997), S. 6. 90 Ebd. 91 Vgl. ebd., S. 7. 92 Vgl. hierzu auch die etwas anderen Begründungen Carells, die sich speziell auf das politische und Milizsystem der Schweiz beziehen, ebd.
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nach der Tauglichkeit bzw. Wirksamkeit des deutschen Modells demokratischer Kontrolle stellt – und zwar nicht nur wegen der gewandelten Sicherheits- und Außenpolitik Deutschlands, bei der militärisch geführte Einsätze als Bestandteil eines umfassend angelegten Sicherheitskonzeptes zunehmend mehr auf internationalem Parkett stattfinden und damit die demokratische Kontrolle multinationaler militärischer Zusammenarbeit an Bedeutung gewinnt.93 Auch der Wandel der Bundeswehr von einer territorialen Verteidigungs- hin zu einer international operierenden professionellen Einsatzarmee hat(te) nicht nur strukturelle und personelle Konsequenzen für die Streitkräfte, sondern wirft zugleich die Frage auf, inwiefern die bisher wirksamen Mechanismen ziviler und demokratischer Kontrolle sich verändern oder sogar ausgehöhlt werden und welche Folgen dies für die Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen mit sich bringt.94 Das hiesige Verständnis von demokratisch-ziviler Kontrolle der Streitkräfte bezieht sich primär unverändert auf die Waffenträger selbst, verknüpft mit der historisch genährten Sorge, diese könnten sich dem politischen Willen und den demokratischen Werteprinzipien widersetzen. Entsprechend finden sich – wie zuvor im Beitrag aufgezeigt – zahlreiche Instrumente, die eine auf verschiedenen Ebenen mehrfach abgesicherte umfassende und gründliche Kontrolle der Streitkräfte garantieren. Hier müsste schon aus Effizienzgründen überprüft werden, inwieweit die durchaus auch kostenträchtigen Kontrollverfahren in ihrer gesamten Breite weiterhin unerlässlich sind, alldieweil die Streitkräfte in unserer festverankerten Demokratie den Primat der Politik mittlerweile vorbehaltlos akzeptieren dürften.95 Andererseits kann auf solche Kontrollen nicht verzichtet werden, „weil Streitkräfte sich nur schwer von ihren traditionellen Angriffs- und Verteidigungsrollen lösen können und sich gegen neue Aufgabenzuweisungen im veränderten Sicherheitsumfeld sträuben. Zivile Kontrolle stellt sicher, dass die Streitkräfte die ihnen zugewiesen neuen Aufgaben im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik bzw. der friedensfördernden Operationen im multilateralen Rahmen akzeptieren und diese auch effizient umsetzen.“96 Spätestens seit Inkrafttreten des Parlamentsbeteiligungsgesetzes (ParlBG) am 24. März 2005 unterliegt die Regierung beim Einsatz von Streitkräften im Ausland einer formalisierten, zweckbestimmten parlamentarischen Kontrolle, wodurch in der Praxis der Sicherheitsorganisation neben der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte auch die der Sicherheitspolitik Deutschlands erfasst wird.97 Fraglich bleibt allerdings, ob dieses Gesetz bewusst vor dem Hintergrund eines erweiterten Verständnisses demokratischer Kontrolle erlassen wurde oder es sich hierbei lediglich um eine pragmatische Verfahrensregelung handelt, die aufgrund der Vielzahl und der Bedeutung der vergangenen Jahren notwendig gewordenen parlamentarischen Entschei93
Vgl. Born (2006), S. 126. Vgl. Franke (2012b), S. 365 f. 95 Vgl. Carrel (1997), S. 6. 96 Ebd. 97 Zum Gesetzestext und den Verfahrensregelungen vgl. Scherrer (2010). 94
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dungen über die Entsendung deutscher Streitkräfte erforderlich geworden ist.98 Die geschichtsträchtigen Ereignisse der vergangenen 25 Jahre, die in Deutschland zu gravierenden Veränderungen seiner Sicherheits- und Außenpolitik führten, und in deren weiteren Verlauf der Bundeswehr eine neue Rolle als international operierenden Kriseninterventionsarmee zugewiesen wurde, begründen den Bedeutungszuwachs der demokratischen Kontrolle in allen Bereichen der nationalen Sicherheitsorganisation. Durch die zahlreichen Erneuerungen in diesem Bereich bedarf es zuvorderst jedoch eines erweiterten Verständnisses zum Begriff der demokratischzivilen Kontrolle, welches die Streitkräfte und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes gleichermaßen anspricht. „In fest verankerten, westlichen Demokratien kann es längst nicht mehr allein darum gehen, die Streitkräfte an demokratisch geführten Zügel zu nehmen, weil der Primat der Politik von diesen vorbehaltlos respektiert wird. Hier tritt im Gegenteil zusätzlich zur Aufsichtsfunktion, die in der Kontrolle mitenthaltene Schutz- und Steuerfunktion von Streitkräften in den Vordergrund. Ein Schutz vor unrechtmäßiger, politischer Einmischung in vereinbarte Kompetenzbereiche der Streitkräfte soll ebenso sichergestellt werden, wie die Möglichkeit, einen Streitkräfteeinsatz zu verhindern, der nicht mit absolut lebenswichtigen, nationalen (und überparteilichen) Interessen zu rechtfertigen ist.“99
In einem erweiterten Verständnis ist demokratisch-zivile Kontrolle der Streitkräfte danach nicht statisch, sondern als offener und zugleich dynamischer Prozess zu begreifen, der sich den verändernden Rahmenbedingungen anzupassen hat und damit immer wieder neu zu definieren ist. An diesem Prozess sind, wie im bisherigen deutschen Konzept vorgesehen und dem demokratischen Prinzip gehorchend, die Verantwortlichen der Politik, die politische Öffentlichkeit (besonders deren Kommunikationsmedien) und auch die Streitkräfte zu beteiligen, wobei der Politik hierbei als höchstem ,Inhaber der Macht‘ die größte Verantwortung zukommt, die allerdings unter einem erweiterten Verständnis von Kontrolle nicht einseitig ,von oben nach unten‘ wahrgenommen werden darf: Vor dem Hintergrund eines „pluralistischen und offenen Prozesses“, bei dem es keine „immerwährend gültigen Soll-Werte“ geben kann, besteht zwischen „Kontrolle und Macht keine einfache, lineare Subjekt-Objekt Beziehung, sondern ein komplexes, wechselseitiges System von Checks und Balances.“100 Dies zu erkennen und konkret in Bezug auf das Konzept der Inneren Führung umzusetzen, bleibt die Aufgabe, die sich hierzulande stellt.
98 Dieses geht so zumindest aus der Begründung des Gesetzentwurfs zum ParlBG hervor, vgl. hierzu Deutscher Bundestag (2005), S. 4. 99 Vgl. Carrel (1997), S. 6. 100 Ebd., S. 4.
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Deutscher Sonderweg oder europäische Normalität? Gesellschaftliche Legitimation militärischer Gewalt im internationalen Vergleich Von Heiko Biehl
I. Nun sag, wie hast Du’s mit der militärischen Gewalt? General Klaus Naumann war mal wieder in seinem Element. In einem Beitrag für die Tageszeitung Die Welt knüpfte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses an seine Thesen aus den 1990erJahren an und hielt bereits im Titel seines Essays fest: „Soldaten sind Kämpfer“.1 Diese Erkenntnis habe sich in der bundesdeutschen Gesellschaft noch nicht ausreichend durchgesetzt und es sei Zeit, dass sich dies ändere. Das internationale Umfeld sei ungewiss und unsicher, weshalb bewaffnete Einsätze der Bundeswehr wahrscheinlich blieben. Problematisch sei, dass diese Missionen ohne ausreichenden gesellschaftlichen Rückhalt erfolgten: „Der Soldat muss somit etwas tun, was große Teile der Gesellschaft als archaisch ansehen und am liebsten ächten würden: Er übt Gewalt im Auftrag dieser Gesellschaft aus, um anderen den Willen dieser Gesellschaft aufzuzwingen.“2 Aufgrund dieser prekären Aufgabe genüge es nicht, „dass die Gesellschaft die Leistung der Bundeswehr anerkennt, nein, sie muss mehrheitlich bejahen, was die Truppe tut. Es wäre ein Zeichen demokratischer Reife, wenn man sich hierzulande zu der Haltung der großen angelsächsischen Demokratien durchringen könnte. Es wird erbittert um die Entscheidung über den Einsatz gerungen, fällt sie aber, dann muss die überwältigende Mehrheit unseres Volkes hinter den Soldaten und ihren Familien stehen.“3 Die Ausführungen von General Naumann sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens aufgrund der zugrunde liegenden Auffassungen über die Stellung von Streitkräften in der Demokratie, zweitens hinsichtlich der impliziten Annahmen über die Haltung der westlichen Bevölkerungen zur militärischen Gewalt. In seinem Beitrag spitzt Naumann den Soldatenberuf und die gesellschaftlich-politische Funktion von Streitkräften auf den Kampf und die Anwendung militärischer Gewalt zu. Konsequenterweise findet das Konzept der Inneren Führung keine Erwähnung. Aus der Fokussierung auf den Kampf leitet Naumann wiederum Forderungen ab, die fraglich er1
[General] Naumann (2013). Ebd. 3 Ebd. 2
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scheinen: Weshalb genügt es nicht, dass die Bundeswehr weithin anerkannt ist, weshalb muss die Gesellschaft „mehrheitlich bejahen, was die Truppe tut“?4 Weshalb sollte es ein Zeichen demokratischer Reife sein, wenn aufgrund des von Naumanns geforderten rallying-’round-the-flag-Effekts die gesellschaftliche und politische Debatte über militärische Missionen nach dem ersten Schuss aussetzt? Unbeschadet der Tatsache, dass moderne Gesellschaften grundsätzlich nichts müssen, könnte es doch gerade ein Ausweis demokratischer Reife sein, auch über die letzten Fragen, über Krieg und Frieden, kontrovers zu diskutieren und demokratisch zu entscheiden. Genau dies geschieht hierzulande – ebenso wie bei den angelsächsischen Partnern.5 Bemerkenswert zweitens sind die Auffassungen über die gesellschaftlichen Haltungen zur militärischen Gewalt. Naumann wiederholt die in der sicherheitspolitischen Debatte und strategic community verbreitete Auffassung, wonach sich die Deutschen beim Einsatz militärischer Gewalt besonders schwer tun, während die Partner, vorneweg die angelsächsischen, ein unverkrampftes Verhältnis zu den Streitkräften und deren Missionen aufwiesen. Diese Einschätzung wird mit der Aufforderung verknüpft, die Deutschen sollten sich an die Normalität in den Partnerstaaten anpassen und den Einsatz von Streitkräften als probates sicherheitspolitisches Instrument anerkennen. Die in Naumanns Beitrag vertretenen Positionen sind nicht alleine aufgrund der Prominenz des Autors von Belang. Sie stehen stellvertretend für ein Normalisierungsnarrativ, das hierzulande die sicherheitspolitischen Debatten seit Ende des Ost-West-Konfliktes durchzieht.6 Angesichts der Persistenz der Argumentation lohnt deren sozialwissenschaftliche Analyse7 – zumal die Normalitätsbehauptung einen brisanten Punkt deutscher Außen- und Sicherheitspolitik trifft. Die von Adenauer eingeleitete Westbindung gilt bis heute als Garant einer stabilen und friedvollen Entwicklung Deutschlands als zuverlässiger Verbündeter in Europa. Das vereinte Deutschland ist weiterhin politisch fest eingebunden in die Europäische Union und in die Atlantische Allianz sowie gesellschaftlich und kulturell westlich geprägt. Distanzen zu den Partnern, nationale Alleingänge und Isolierungen im Bündnis, wie sie mit der Normalitätsbehauptung impliziert sind, gelten als Menetekel deutscher Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Angesichts dieser – auch politischen – Relevanz und Brisanz lohnt es sich, im Folgenden die Naumanns Ausführungen zugrunde liegenden Annahmen über das hiesige Verhältnis zur militärischen Gewalt mit den empirischen Befunden der militärsoziologischen Forschung abzugleichen und zu prüfen, ob die deutsche Bevölkerung tatsächlich größere Vorbehalte gegen den Einsatz von Streitkräften aufweist als die europäischen Nachbarn. Dazu wird der Strategische-Kulturen-Ansatz eingeführt, der die gesellschaftliche Haltung zur militärischen Gewalt systematisch erfasst und in der Folge einen substanziellen internationalen Vergleich ermöglicht. Die Forderung einer Normalisierung deutscher Sicherheitspolitik wird dabei als Versuch der Veränderung der strategischen 4
Ebd. Vgl. Bacevich (2013). 6 Vgl. zur Debatte Noetzel/Schreer (2007, 2008); Jarausch (2004), S. 306 u. 356; King (2011), S. 278 – 280. 7 s. bereits Geis (2005); Gordon (1994); Hellmann (1997); Wagener (2003, 2004, 2006). 5
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Kultur gedeutet (Abs. II.). Anschließend wird empirisch überprüft, wie sich die Bevölkerungen ausgewählter Staaten zu den Streitkräften, militärischer Gewalt und dem Afghanistan-Einsatz positionieren. Dabei wird zum einen betrachtet, inwieweit die Bestrebungen zum Wandel der strategischen Kultur erfolgreich waren und zum anderen inwieweit die Annahme eines deutschen Sonderwegs, der im Kontrast zur europäischen Normalität stehe, beleuchtet (Abs. III.). Im Ausblick werden die daraus erwachsenden Perspektiven für die deutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte skizziert (Abs. IV.).
II. Militärische Gewalt und Öffentlichkeit – sozialwissenschaftliche Perspektiven Der Beitrag von General Naumann ist im Kern ein Werben um öffentliche Anerkennung und Unterstützung. Der gesellschaftliche Rückhalt ist für Streitkräfte wesentlich, da militärische Gewalt stets legitimationsbedürftig ist. Der Sozialwissenschaftler Klaus Naumann sieht Gewalt ebenso wie Gewaltirritation als konstitutiv für die Moderne.8 Dadurch entstehe ein Spannungsverhältnis von ideeller Gewaltlosigkeit und faktischer Gewaltanwendung, nicht zuletzt durch Streitkräfte, „das einen dauerhaften Bedarf an Legitimation generiert“.9 Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Einsatz von Gewalt zunehmend kontrollieren und, insbesondere staatlich, sanktionieren. Dies bedeutet nicht, wie die leidvollen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zur Genüge gezeigt haben, dass innerstaatliche wie internationale Konflikte gewaltlos verlaufen. Aber der Einsatz von Gewalt ist zu legitimieren, was in Demokratien zuvörderst durch gesellschaftliche Unterstützung geschieht. Sicherheitspolitische Entscheidungen unterliegen dabei denselben demokratischen Prozessen und Dynamiken wie andere Politikbereiche. Hierzulande ist die Entsendung von Streitkräften zwar weitgehend der parteipolitischen Auseinandersetzung entzogen und die Bundestagsfraktionen, mit Ausnahme der Linken, sind bemüht, einen Entsendekonsens zu finden. Dennoch bestehen, wie die einschlägigen Umfragen belegen, merkliche Vorbehalte der Bürgerinnen und Bürger gegen bestimmte Missionen – seit geraumer Zeit vor allem gegen den ISAF-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.10 Diese politisch-gesellschaftliche Dimension ist verbunden mit der militärischen Ebene. Denn die Vorbehalte der Bevölkerung gehen nicht unbemerkt an den Soldatinnen und Soldaten vorbei – sie wirken vielmehr in die Streitkräfte hinein. Die Angehörigen der Bundeswehr sind sozial integriert, sie verfolgen aufmerksam gesellschaftliche Debatten und politische Entscheidungen. Zuweilen werden sie gar in ihrem unmittelbaren Umfeld mit diesen Themen konfrontiert. Die Soldatinnen und Soldaten wollen Politik wie Bevölkerung hinter sich wissen – und genau hierin liegt der Impetus für das Engagement von General Naumann. Militärsoziologische Untersuchungen ma8
Vgl. Naumann (2012), S. 129. Ebd. 10 Vgl. Bulmahn (2012), S. 31. 9
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chen dieses Anliegen verständlich, indem sie nachweisen, dass die öffentliche Meinung Einfluss auf die soldatische Motivation nimmt.11 Die in Naumanns Beitrag implizierte Relevanz der öffentlichen Haltung wird mithin nicht nur von den Angehörigen der Bundeswehr empfunden, sie ist durch die einschlägige Forschung belegt. Jedoch sind Differenzierungen hinsichtlich der Einordnung und Bewertung vonnöten, die dieser vor allem mit seiner Forderung nach Normalisierung vornimmt. 1. Wissenschaftliche und politische Positionierungen zur Normalisierungsthese Das von General Naumann bediente Normalisierungsnarrativ findet sich in erster Linie in der politischen Auseinandersetzung. Dort wird es verwendet, um die sicherheitspolitische Nutzung militärischer Mittel oder die Beziehungen zwischen Streitkräften und Gesellschaft zu beschreiben und zu beeinflussen. Im wissenschaftlichen Diskurs ist es weniger üblich. Dies liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass Begriffe wie Normalität bzw. normal im akademischen Sprachgebrauch unüblich sind und Fragen nach der Legitimation dessen, was als normal gilt, zwangsläufig provozieren. Aufgrund der fragwürdigen Implikationen hat bereits vor einiger Zeit Gunther Hellmann gefordert, die Dichotomie von Normalisierung und Militarisierung in der Diskussion zu überwinden.12 Auch Hanns Maull hält fest, dass „sehr unklar geworden ist, was heute ,normales‘ außenpolitisches Verhalten ausmacht“.13 Daneben hat Anna Geis auf die normativen Implikationen des Normalisierungsdiskurses dezidiert hingewiesen und die politischen Absichten und Interessen, die mit der Verwendung der Begrifflichkeit einhergehen, herausgearbeitet.14 Am nachdrücklichsten hat Martin Wagener den Normalisierungsbegriff in die wissenschaftliche Analyse eingebracht.15 Er geht dabei explizit von einem normativen Verständnis von Normalisierung aus, das zwei Facetten umschließt: den Einsatz von Streitkräften und die Verfolgung nationaler Interessen.16 In den Ausführungen Wageners dienen die europäischen Partner, voran Frankreich und Großbritannien, als Referenzen, an denen Deutschland sein Handeln ausrichten könne.17 Nach Wagener hat eine Normalisierung im Umgang mit militärischen Mitteln hierzulande insofern stattgefunden, als Einsatzbegrenzungen inhaltlicher, regionaler und legitimatorischer Art weggefallen seien.18 In dieser Hinsicht handele Deutschland bereits „wie andere Mittelmächte“.19 Dies schließe Kampfeinsätze ausdrücklich mit ein, die ein „besonders bedeutsamer As11
Vgl. Moskos (1968); Pietsch (2012). Vgl. Hellmann (1997). 13 Maull (2004), S. 19. 14 Vgl. Geis (2005). 15 Vgl. Wagener (2004). 16 Vgl. ebd., S. 90. 17 Vgl. ebd., S. 90, 101, 112. 18 Vgl. ebd., S. 101. 19 Ebd. 12
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pekt der Normalisierung“ seien.20 Die sicherheitspolitische Dimension der Normalisierung steht bei Wagener im Mittelpunkt, die gesellschaftliche Perspektive, das Verhältnis der Öffentlichkeit zu den militärischen Mitteln, streift er nur. So geht er nicht explizit auf die öffentliche Meinung zur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehr ein. Aber seine dahinter stehende Konzeption wird deutlich, wenn das Ausbleiben gesellschaftlicher Entrüstung trotz einer steigenden Zahl gefallener Soldaten als Facette der Normalisierung gewertet wird.21 Dazu trage bei, dass die deutsche Sicherheitspolitik verstärkt Risiken eingehe und mehr Opfer trage.22 Auch bei Rainer Baumann und Gunther Hellmann sowie Franz-Josef Meiers findet sich Normalisierung als Leitmotiv der Analyse.23 Wiederum werden Frankreich und Großbritannien als Referenzen und Orientierungspunkte gesetzt.24 Beide Arbeiten analysieren die Entwicklung der Bundeswehreinsätze seit 1990. In diesem Zusammenhang wird die öffentliche Unterstützung für die Missionen der Bundeswehr als steigend charakterisiert, wobei die grundlegenden Vorbehalte gegen Kampfeinsätze erhalten blieben.25 Meiers kommt deshalb in seiner Analyse zu einer eindeutigen, nämlich negativen Bilanz: „Von einer Normalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann jedoch keine Rede sein“.26 Im Gegensatz zur geringen Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen, die explizit mit der Analysekategorie Normalisierung arbeiten, ist der Terminus in der sicherheitspolitischen Diskussion seit rund zwei Jahrzehnten etabliert. Im Kern geht es dabei um eine Veränderung der strategischen Kultur, die die bundesdeutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik über mehrere Jahrzehnte geprägt hat. 2. Militärische Gewalt und der Strategische-Kulturen-Ansatz Der Strategische-Kulturen-Ansatz versteht den Umgang eines Landes mit militärischer Gewalt als kulturell bedingt.27 Demnach ist die Frage, wann ein Staat bzw. eine Gesellschaft, militärische Gewalt einsetzt, nicht alleine Ausdruck rationaler, interessegeleiteter und kalkulierender Überlegungen. Vielmehr spielen Normen, Werte und Präferenzen eine entscheidende Rolle. Jede Gesellschaft weist ein für sie typisches Set von Vorstellungen auf, wann, unter welchen Bedingungen, mit welchen Einschränkungen und bis zu welchem Maße sie bereit ist, militärische Gewalt einzusetzen. Diese Vorstellungen setzen den Rahmen, innerhalb dessen die politisch 20
Ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 107. 22 Vgl. ebd., S. 112. 23 Vgl. Baumann/Hellmann (2001); Meiers (2010), S. 203 f., 217. 24 Vgl. Baumann/Hellmann (2001), S. 19; Meiers (2010), S. 203 u. 217. 25 Vgl. Baumann/Hellmann (2001), S. 13, 19; Meiers (2010), S. 214 f., 217. 26 Meiers (2010), S. 217. 27 Vgl. grundlegend Snyder (1977); Johnston (1998); Gray (1999). 21
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Verantwortlichen in einer konkreten Situation Entscheidungen treffen.28 Die strategische Kultur wiederum ist geprägt von den spezifischen geschichtlichen Ereignissen und deren Verarbeitung im gesellschaftlichen Diskurs. Die bundesdeutsche strategische Kultur zeichnet sich vor allem durch zwei Züge aus:29 Zum einen ist die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik multilateral ausgerichtet. Das sicherheitspolitische und militärische Agieren ist fest eingebunden in die westlichen Bündnisse, zuvorderst in die NATO, zunehmend in die Europäische Union, sowie abgesprochen und koordiniert mit den Partnern und Alliierten. Zum anderen wirkt eine ,Kultur der militärischen Zurückhaltung‘.30 Diese ist keinesfalls gleichzusetzen mit dem Verzicht auf militärische Mittel, welche zur Verteidigung und als ultima ratio vielmehr existentieller Bestandteil deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind. Aber es besteht eine Präferenz der Zivilmacht Deutschland für friedliche Lösungen von Krisen und Konflikten sowie zivile Instrumente, politischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Natur.31 Beide Wesenszüge der strategischen Kultur sind auf die Erfahrungen der deutschen Geschichte, vor allem, wenn auch nicht ausschließlich aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, und deren politischer und gesellschaftlicher Verarbeitung in der Nachkriegszeit zurückzuführen. Die konsequente multilaterale Einbindung deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik soll nationalen Alleingängen und Dominanzstreben entgegenwirken und einen friedlichen Ausgleich sowie eine verlässliche Partnerschaft mit den europäischen bzw. westlichen Nationen gewährleisten. Die Skrupel beim Einsatz militärischer Gewalt sind Lehren aus den militärischen, politischen, zivilisatorischen und moralischen Abgründen des Zweiten Weltkriegs. Zumindest der offensive Einsatz militärischer Mittel gilt seitdem als kaum mehr zu verantworten. Verstärkt werden diese Haltungen durch die Lehren aus den jüngeren Konflikten. Die Kriege im Nahen Osten (insbesondere der Irakkrieg 2003) und in Afghanistan verfestigen in Teilen der deutschen und europäischen Öffentlichkeit die Präferenz für eine Zurückhaltung in internationalen Konflikten und beim Einsatz militärischer Gewalt. Beide Charakteristika der strategischen Kultur standen während der Ost-West-Konfrontation weitgehend im Einklang miteinander. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik war fest in die Atlantische Allianz eingebunden und orientierte sich konsequent an den westlichen Partnern. Die Bundeswehr war auf defensive Aufgaben beschränkt, auf Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet und als reine Verteidigungsarmee bzw. Abschreckungsarmee konzipiert. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist der 28
Vgl. Giegerich (2006), S. 40. Vgl. ders.; Longhurst (2004); Göler (2010); Junk/Daase (2013). 30 Das politisch instrumentalisierte Schlagwort Nie wieder Auschwitz bleibt bei dieser Betrachtung außen vor. Bis zum Kosovokrieg 1999 wurde es nicht als Legitimationsstrang deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Sinne militärischer Interventionen betrachtet; vgl. Giegerich (2006), S. 138 f.; Wolfrum (2013), S. 101 – 107. Eher galt es, durch Nie wieder Krieg den militärischen und kriegerischen Eigendynamiken und Eskalationen entgegen zu wirken, die zu den menschlichen und moralischen Abgründen führen, für die der Hinweis auf Auschwitz steht. 31 Vgl. zur ,Zivilmacht Deutschland‘: Maull (1990, 2007); Geis (2005). 29
Deutscher Sonderweg oder europäische Normalität?
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Gleichklang der beiden Wesenszüge bundesdeutscher strategischer Kultur immer seltener garantiert, zuweilen stehen diese gar in Widerspruch zueinander.32 Multinationale Militärmissionen und -interventionen prägen seit gut zwei Jahrzehnten das internationale Umfeld. Entsprechend steht die deutsche Sicherheitspolitik unter Druck, wenn sie einerseits an der Seite ihrer Partner und Verbündeten agieren will und anderseits dem Einsatz militärischer Gewalt zur Konfliktbearbeitung distanziert gegenüber steht. Sehr unterschiedlich fielen denn auch in den beiden letzten Jahrzehnten die Reaktionen aus: In einigen Fällen entschied sich die deutsche Politik für die Teilnahme an militärischen Missionen an der Seite der internationalen Gemeinschaft (u. a. Somalia, Bosnien, Kosovo, Afghanistan) und veränderte dabei den Auftrag und das Aufgabenspektrum der Bundeswehr grundlegend. Bei anderen Gelegenheiten verweigerte die deutsche Politik einen militärischen Beitrag (u. a. Golfkrieg 1990/91, Libyen 2011) und setzte auf Kompensationen oder Gegenmachtbildung (insbesondere Irakkrieg 2003). 3. Die Haltung der deutschen Gesellschaft zur militärischen Gewalt: Normalisierung als Versuch, die strategische Kultur zu ändern Die Neuorientierung deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist seit 1989 – 1991 durch das Normalisierungsnarrativ geprägt. Die Protagonisten der Normalisierung, wie General Naumann, verstehen die Zurückhaltung der deutschen Politik und Gesellschaft beim Einsatz militärischer Mittel als historisch bedingte Ausnahme, die es angesichts der weltpolitischen Veränderungen zu überwinden gelte.33 Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik sei an die Begebenheiten in den anderen europäischen Staaten anzupassen, was die Bevölkerung zu unterstützen, zumindest aber zu dulden habe. Bereits in seinem Buch „Bundeswehr in einer Welt im Umbruch“34 plädiert Naumann für eine Ausweitung militärischer Engagements. Schließlich gehörten „selbstverständlich“ auch militärische Mittel zur Konfliktbewältigung und Sicherheitsvorsorge.35 Es bestehe ein Zusammenhang zwischen dem Einsatz militärischer Mittel und den vermeintlichen internationalen Standards: „Wir werden in der Frage der Anwendung legitimer Gegengewalt aber umdenken müssen, wenn wir in dem von uns angestrebten vereinten Europa ein gleichberechtigtes Mitglied sein wollen.“36 Normalisierung sei folglich geboten, denn „anders zu sein, billigt uns niemand mehr zu“.37
32
Vgl. Meiers (2007), S. 638. Eine Apologetik dieses vermeintlichen Sonderweg findet sich bei Krippendorff (2010), S. 94 f., der genau wie die Protagonisten der Normalisierung den Deutschen eine Distanz zur militärischen Gewalt attestiert, die sie von ihren westlichen Partnern – nach seinem Urteil positiv – unterscheide. 34 [General] Naumann (1994). 35 Ebd., S. 77. 36 Ebd., S. 208. 37 Ebd., S. 210. 33
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Doch stimmen die mit dieser Position transportierten Prämissen? Fällt es den westlichen Partnern tatsächlich einfacher, militärische Gewalt einzusetzen und ihre Streitkräfte in internationale Missionen zu entsenden? Blickt man auf die internationalen Diskussionen und Entscheidungen im Vorfeld des Irakkrieges 2003 oder im Zuge des Afghanistaneinsatzes, dann sind erste Zweifel angebracht. Nicht nur Deutschland, auch andere europäische Staaten, waren nicht bereit, sich der Koalition der Willigen anzuschließen. Und selbst in Ländern wie Großbritannien oder Spanien, die sich am Irakkrieg beteiligten, gab es massiven gesellschaftlichen und politischen Protest. Zudem haben sich in den letzten Jahren länderübergreifend Zweifel am zu Ende gehenden ISAF-Engagement breit gemacht. Kanada, Australien, die Niederlande und Frankreich haben früh ihre Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Angesichts dieser Gegebenheiten ist die Frage berechtigt, ob sich die hiesige Situation womöglich weniger von der in anderen Staaten unterscheidet, als dies die Normalisierungsthese suggeriert. Im Folgenden werden deshalb die Haltungen zur militärischen Gewalt empirisch untersucht und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den europäischen Partnern herausgearbeitet.38
III. Empirie der strategischen Kultur: Einstellungen zur militärischen Gewalt im europäischen Vergleich In der Literatur finden sich verschiedene Auffassungen, wie strategische Kulturen zu operationalisieren und einer empirischen Überprüfung zugänglich zu machen sind.39 Diverse Kategorien werden betrachtet, anhand derer strategische Kulturen einzuordnen sind: Wo liegt die Definitionsmacht in sicherheitspolitischen Angelegenheiten? Wer darf über die Entsendung von Streitkräften entscheiden? Welche internationale Ausrichtung hat ein Land? An welchen Bündnissen und Allianzen orientiert es sich? Die Liste ließe sich noch verlängern. Entscheidend ist jedoch, dass allen Ansätzen eine Kategorie zu eigen ist: die Haltung zur militärischen Gewalt. Da diese auch im Fokus dieses Beitrags steht, werden im Folgenden die weiteren Kategorien strategischer Kulturen ausgeblendet und das Verhältnis zu militärischen Mitteln anhand von drei Bereichen untersucht: Erstens wird verglichen, welche Einstellung die befragten Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich zur militärischen Gewalt haben. Zweitens wird geprüft, welche Aufgaben sie den Streitkräften ihres Landes zuweisen, und drittens wird anhand des ISAF-Einsatzes illustriert, ob und wie sich diese grundlegenden Haltungen auf eine konkrete Mission niederschlagen. 38 Die Auswertungen konzentrieren sich dabei auf die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger – wohlwissend, dass gesellschaftliche Legitimation weitere Facetten umschließt. Von Relevanz und Interesse wäre der gesellschaftliche Diskurs, wie er sich im Austausch zwischen Politik, Medien und Bevölkerung konstituiert. Die Begrenzung auf die Haltungen der Bürgerinnen und Bürger erscheint aber berechtigt, da diesen – wie bereits dargelegt – eine wesentliche Funktion in Demokratien zukommt und zudem gerade aus der Bundeswehr heraus immer wieder Klagen über den vermeintlich unzureichenden Rückhalt in der Bevölkerung zu vernehmen sind. 39 s. etwa Giegerich (2006); Biehl et al. (2013).
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1. Datenbasis: Strategische Kulturen in Europa Die nachfolgend präsentierten Befunde basieren auf Arbeiten, die am ehemaligen Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) begonnen und am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften (ZMSBw) fortgesetzt worden sind. Im Rahmen eines umfassenden und langfristigen Projekts wurden die strategischen Kulturen in Europa durch einen Vergleich der Eliten- und Bevölkerungsebene analysiert. Hierzu wurden, aufbauend auf ein eigens entwickeltes Analyseraster, die strategischen Kulturen ausgewählter Staaten in zwei Modulen systematisch erfasst. Im ersten Modul wurden die auf Elitenebene gesetzten, langfristigen sicherheits- und verteidigungspolitischen konzeptionellen Grundsätze in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie dem EU-Beitrittskandidaten und NATO-Partner Türkei analysiert.40 Im zweiten Modul wurden Umfragen zu den sicherheitspolitischen Einstellungen in acht europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich, Schweden, Spanien, Tschechien, Türkei) durchgeführt. Auf diesen Umfragen fußen die anschließend präsentierten Befunde.41 Diese Länderauswahl erlaubt es, die Annahme eines deutschen Sonderwegs empirisch zu überprüfen. So werden mit Frankreich und Großbritannien die Partner in Europa betrachtet, die die zentralen Referenzen des Normalisierungsnarrativs bilden. Der Vergleich zu weiteren europäischen Staaten, die seltener in den Blick geraten, zeigt an, ob die deutsche Öffentlichkeit besondere Vorbehalte gegen den Einsatz militärischer Mittel an den Tag legt. Die internationalen Bevölkerungsumfragen fußen auf einem identischen Fragenkatalog. Mit der Durchführung war das Meinungsforschungsinstitut Ipsos beauftragt.42 Jeweils ca. 1.000 Personen pro Land wurden im Rahmen einer computergestützten Telefonumfrage (C.A.T.I. = Computer Assisted Telephone Interviewing) befragt. Die Grundgesamtheit sind die jeweiligen Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren. Die Telefoninterviews wurden zwischen dem 6. Oktober und dem 6. Dezember 2010 durchgeführt. Dabei kamen Muttersprachler zum Einsatz, um die Akzeptanz und Qualität der Erhebung zu gewährleisten. Die Teilnahmebereitschaft divergierte zwischen den verschiedenen Staaten, wobei diese in Frankreich mit 22 Prozent am höchsten und in Großbritannien mit 14 Prozent am geringsten war (Werte jeweils bezogen auf die Nettostichprobe). Die Variablen und Indikatoren der Umfragen ermöglichen es, die hier verfolgten Fragestellungen zu untersuchen. So wurde erhoben, wie die Befragten grundsätzlich zum Einsatz militärischer Gewalt stehen. Daran anknüpfend wurden die Haltungen zu diversen Streitkräfteaufgaben sowie zur ISAF-Mission in Afghanistan erfasst.
40
Vgl. Biehl et al. (2013). Vgl. ebd. 42 Weitere methodische Angaben finden sich in Ipsos (2011). 41
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2. Die Haltung zu militärischer Gewalt – Deutschland im europäischen Vergleich In der Internationalen Politik gibt es eine Reihe von Instrumenten, um sich einzubringen und seine Interessen durchzusetzen. Diese reichen von diplomatischen Kontakten bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt. Die Mittel sind völkerrechtlich unterschiedlich legitim und unterschiedlich legitimiert. Mit Blick auf die europäischen Bevölkerungen stellt sich die Frage, welche Unterstützung der Einsatz militärischer Mittel findet. Die Auswertungen zeigen Differenzen zwischen den betrachteten Staaten, wenn es um den Einsatz von militärischer hard power43 geht. Item: „Mein LAND sollte zur Lösung internationaler Krisen und Konflikte auch militärische Mittel einsetzen.“ (Angaben in Prozent) Deutschland Frankreich
Schweden
51
30
19
Großbritannien Österreich
59
27
14
75
16
9
Spanien
47
21
32
Türkei
44
29
27
Tschechien
51
31
18
29
21
50
39 stimme vollkommen/eher zu
25 teils/teils
37 lehne eher/vollkommen ab
Datenbasis: Internationale Befragungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 2010. Auswertungen gewichtet.
Abbildung 1: Einstellungen zum Einsatz militärischer Mittel
Die europäischen Bevölkerungen tragen den Einsatz von Streitkräften im unterschiedlichen Maße mit, wobei sich teilweise erhebliche Diskrepanzen zwischen den Befragten aus den acht Staaten zeigen. Zudem ist bei der Interpretation der Befunde zu berücksichtigen, dass das gewählte Item noch recht zurückhaltend formuliert ist: Es geht darum, auch militärische Mittel, also neben anderen, zur Lösung internationaler Konflikte einzusetzen. Dennoch ist die grundlegende Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt alleine in Großbritannien mehrheitsfähig. Dort spricht sich die Hälfte der Befragten dafür aus, gegebenenfalls Streitkräfte zu entsenden. Der Befund bestätigt die vorliegenden Erkenntnisse zur britischen Öffentlichkeit, die stärker als die kontinentaleuropäischen Militäreinsätze befürwortet.44 Gespalten ist das Mei43 44
Nye (2004). Vgl. Jacobs (2008).
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nungsbild in der Türkei, wo sich jeweils gleich große Bevölkerungsanteile für und gegen militärische Gewaltmittel aussprechen und ein Viertel sich einer dezidierten Festlegung enthält. In den sechs restlichen Staaten ist jeweils eine Mehrheit gegen die militärische Lösung von Konflikten: In Tschechien befürwortet nur jeder dritte Befragte, in Spanien nur jeder Vierte militärische Konfliktbearbeitung. Vorbehalte bestehen insbesondere in Deutschland und Österreich, aber auch die Bevölkerungen in Schweden und – entgegen verbreiteter Annahmen – in Frankreich zeigen sich reserviert, wenn es um den Einsatz von Gewaltmitteln geht. Die Zurückhaltung der französischen Öffentlichkeit zeigte sich bereits in den Transatlantic-Trends-Studien.45 Die in der Bundesrepublik und in der Bundeswehr verbreitete Wahrnehmung, dass die Frankreich ein ähnliches (unbefangenes) Verhältnis zur militärischen Gewalt wie Großbritannien pflege, muss folglich korrigiert werden. Dies mag für den Bereich der politischen Eliten gelten, wie die Interventionen in Libyen, Mali und der Zentralafrikanischen Republik jüngst belegten.46 Es trifft aber nicht für die Bevölkerung zu. Bei den französischen Bürgerinnen und Bürgern sind ähnliche Vorbehalte vorhanden wie in den anderen kontinentaleuropäischen Bevölkerungen. Die Anwendung militärischer Gewalt – zumal mit offensivem Charakter – trifft in den europäischen Öffentlichkeiten auf manifeste Bedenken. Diese Einschätzung bestätigt ein weiteres Item, das die Rechtfertigung von Krieg erfasst. Item: „Unter bestimmten Bedingungen ist Krieg notwendig, um Gerechtigkeit zu erlangen.“ (Angaben in Prozent) Deutschland Frankreich
Tschechien Türkei
72
15
12
56
16
28
75
11
14
24
13
62
Schweden Spanien
63
19
19
Großbritannien Österreich
65
19
16
64
14
22 49
stimme vollkommen/eher zu
32
19 teils/teils
lehne eher/vollkommen ab
Datenbasis: Internationale Befragungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 2010.
Abbildung 2: Einstellungen zum Krieg zur Erlangung von Gerechtigkeit
45 46
s. auch ebd. (2008). So auch Jonas/von Ondarza (2010), S 173 f.; Irondelle/Schmitt (2013).
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Die grundlegende Legitimation von Krieg wird in den europäischen Gesellschaften unterschiedlich bewertet. Nur die britische Bevölkerung unterstützt das Statement, dass unter bestimmten Bedingungen Krieg notwendig sei, um Gerechtigkeit zu erlangen, mit deutlicher Mehrheit. Zwei Drittel der dortigen Befragten stimmen dieser Aussage zu, ein Viertel lehnt sie ab. Mit relativer Mehrheit befürwortet ansonsten nur die türkische Bevölkerung Krieg als legitimes Mittel, wogegen sich aber auch ein Drittel ausspricht. In den anderen Staaten überwiegt die Ablehnung. In Tschechien und Schweden stimmen immerhin noch über 20 Prozent der Befragten dem Item zu, in den anderen Ländern sind es weniger. Wiederum zeigt sich in der französischen Bevölkerung ein ähnliches Meinungsbild wie in der deutschen. Auch dies ist ein Beleg dafür, dass die französischen Bürgerinnen und Bürger Vorbehalte gegen den Einsatz militärischer Gewalt hegen. In der Gesamtschau beider Items zeigt sich, dass es in den kontinentaleuropäischen Staaten wesentliche Vorbehalte gegen militärische hard power gibt. Hiervon weicht die türkische Öffentlichkeit etwas und die britische deutlich ab. In den Bevölkerungen dieser beiden Länder ist eine grundlegende Bereitschaft zur Lösung internationaler Konflikte durch Waffengewalt vorhanden. Diese ist aber nicht gleichzusetzen mit der Unterstützung für jedweden Waffengang. Wie die Haltungen zum ISAF-Einsatz zeigen (s. u.), können auch dort Vorbehalte gegen bestimmte Missionen oder die Übernahme gewisser Aufgaben für die eigenen Streitkräfte bestehen. Weitergehende Analysen belegen, dass die Haltung zur militärischen Gewalt eine eigene Dimension sicherheitspolitischer Einstellungen bildet.47 Faktorenanalysen zeigen, dass die beiden präsentierten Items die gleiche Disposition erfassen und recht hoch auf einem gemeinsamen Faktor laden. Daher kann die Dimensionalität der Haltung zur militärischen Gewalt mittels Faktorladungen länderübergreifend verglichen werden. Die Faktorwerte sind standardisiert, d. h. ihr Mittelwert beträgt über den gesamten Datensatz gerechnet 0. Die Faktorwerte für die Länder können deshalb verglichen werden. In einer graphischen Aufbereitung ergibt sich folgendes Bild: UK
CZE
-0,79
-1
0,05
-0,52
TUR Akzeptanz militärischer Gewalt
0
0,11
FRA 0,2
AUT 0,63
+1
0,21
ESP/SWE DEU Ablehnung militärischer Gewalt
Datenbasis: Internationale Befragungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 2010.
Abbildung 3: Vergleich der Faktorwerte Dimension militärische Gewalt
Zwischen den Bevölkerungen bestehen wesentliche Unterschiede in der Frage der militärischen Gewaltanwendung. Die Frage nach militärischen Einsätzen und der grundlegenden Legitimation von Krieg wird von den Bürgerinnen und Bürgern Europas unterschiedlich beantwortet. Am nachdrücklichsten befürworten die Briten 47
s. Biehl et al. (2011), S. 51 – 54.
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den Einsatz von hard power. Auch in der türkischen Bevölkerung findet sich noch breite Unterstützung. Im deutlichen Abstand hierzu positionieren sich die restlichen Bevölkerungen, wobei sich Tschechen, Spanier und Schweden in ähnlicher Art und Weise äußern. Zudem ist – entgegen einer verbreiteten Wahrnehmung – kein Unterschied zwischen den Befragten in Deutschland und Frankreich festzustellen. Die größten Vorbehalte gegen militärische Gewalt äußern vielmehr die Österreicher. Im internationalen Vergleich bestehen insgesamt bemerkenswerte Unterschiede. Jedoch präsentiert sich Deutschland dabei keineswegs als Ausnahme. Diese stellt vielmehr die britische Bevölkerung dar, die militärischer Gewalt stärker das Wort redet. Deutschland befindet sich im mittleren Bereich der Skala gemeinsam mit seinen kontinentaleuropäischen Partnern. 3. Wozu militärische Gewalt? Die Akzeptanz von Streitkräfteaufgaben Timothy Edmunds hat in einem wegweisenden Aufsatz dargelegt, welche Funktionen die europäischen Streitkräfte seit Ende des Kalten Krieges übernommen haben.48 Er unterscheidet fünf zentrale Aufgabenfelder. Erstens behält die Verteidigung ihren zentralen Stellenwert bei. In deklaratorischer und legitimatorischer Hinsicht gilt diese Aufgabe weiterhin als zentral, wenngleich sie nur für wenige Streitkräfte von praktischer Relevanz ist und deren Strukturen, Organisationen und Ausrüstung dominiert (etwa in Griechenland, der Türkei und manchen osteuropäischen Staaten). Zweitens stehen einige Armeen für militärische Interventionen und Kampfeinsätze bereit. Für andere Staaten sind solche Einsätze wiederum nur unter engen politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Restriktionen möglich. Drittens sind Peacekeeping- und Stabilisierungsmissionen für die meisten europäischen Armeen zur Hauptaufgabe geworden. Die Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan lassen das ganze Spektrum solcher Missionen erkennen, die fließend in Kriegseinsätze übergehen können. Viertens sind Streitkräfte dazu da, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie leisten Unterstützung für Polizei und andere Sicherheitskräfte und sichern zunehmend Großereignisse ab. Fünftens verweist Edmunds insbesondere mit Blick auf die jungen Staaten in Ost- und Südosteuropa darauf, dass Streitkräfte eine wichtige Funktion beim Nationbuilding übernehmen.49 Damit ist nicht die Rolle im Rahmen internationaler Interventionen gemeint. Vielmehr dienen Streitkräfte heutzutage immer noch dazu, die innere Verfasstheit und die Nationalstaatswerdung zu unterstützen. Sie sind in diesem Sinne ein wesentliches nationales Symbol oder gar Schule der Nation, wie bei der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert.50
48
Vgl. Edmunds (2006). Vgl. ebd., S. 1073. 50 Vgl. Kantner/Sandawi (2012).
49
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Die von Edmunds identifizierten Aufgaben unterscheiden sich in mehrerlei Hinsicht: Sie sind nicht gleichermaßen wahrscheinlich, sie verlangen abweichende Fähigkeiten, Strukturen, Organisation und Ausbildung und sie sind politisch sowie militärisch unterschiedlich heikel. Zugleich sind sie gesellschaftlich im verschiedenen Maße akzeptiert und legitimiert. Aus Umfragen ist bekannt, dass hierzulande genuine Verteidigungsaufgaben und humanitäre Hilfsleistungen bei den Bürgern auf größeren Zuspruch treffen als militärische Interventionen und Kampfeinsätze.51 Im Folgenden wird geprüft, inwieweit die europäischen Bevölkerungen die diversen Aufgaben an die Streitkräfte mittragen: Wollen sie ihre Armeen auf die klassischen Verteidigungsaufgaben beschränkt sehen? Wie hoch ist die Unterstützung für die Missionen multinationaler Konfliktbewältigung, die die internationale Sicherheitspolitik seit 1990 prägen? Werden solche Missionen nur mitgetragen, solange sie friedvoll verlaufen oder unterstützen die Bürgerinnen und Bürger auch robustere Mandate? Wie ist der Rückhalt für Einsätze im Innern? Gerade von ihnen kann die Bevölkerung unmittelbar betroffen sein; umso wichtiger erscheint daher der gesellschaftliche Rückhalt. Um diese Fragen zu beantworten, wurden in den internationalen Umfragen erhoben, welche Aufgaben die Streitkräfte übernehmen sollen. Dabei wurden insgesamt zehn Einsatzarten unterschieden. Diese reichen von klassischen Verteidigungsaufgaben, über Hilfsmaßnahmen und Einsätze im Inneren bis hin zu verschiedenen Szenarien internationaler Missionen. Wie die Auswertungen zeigen, treffen die Aufgaben auf unterschiedliche Akzeptanz und werden nicht von allen Bevölkerungen gleichermaßen mitgetragen. Tabelle 1 Einstellungen zu verschiedenen Streitkräfteaufgaben52 Landesverteidigung Bündnisverteidigung Evakuierung Staatsbürger Humanitäre Hilfe Verhinderung Völkermord Stabilisierungseinsätze Kampf gegen Terrorismus Präventiv gegen Bedrohung Versorgung mit Rohstoffen Einsatz im Innern
DEU
FRA
GB
AUT
SWE
ESP
CZE
TUR
88 55 84 95 71 51 46 50 33 42
92 75 90 97 93 59 87 60 47 80
98 81 96 88 85 80 84 86 61 72
78 36 86 98 60 55 37 40 49 54
94 58 81 91 83 53 60 68 39 50
89 61 88 93 87 60 72 55 72 82
94 78 93 95 85 76 73 71 68 52
90 62 73 84 72 73 73 81 68 78
Datenbasis: Internationale Befragungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 2010. Prozentangaben aus Summe „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“. Auswertungen gewichtet.
51
Bulmahn (2012). Die Bezeichnungen LAND und STREITKRÄFTE dienen im Folgenden als Platzhalter. In den Interviews wurden die jeweiligen Bezeichnungen für die Länder und Streitkräfte verwendet. 52
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Die Bürgerinnen und Bürger sehen die Streitkräfte in der Verantwortung für eine ganze Reihe von Aufgaben: Landes- und Bündnisverteidigung, humanitäre Hilfsaktionen, die Evakuierung von Staatsbürgern aus Krisengebieten, die Abwehr von Genoziden und auch Stabilisierungseinsätze finden den mehrheitlichen Zuspruch der deutschen wie der anderen europäischen Bevölkerungen. Zurückhaltender sind die Deutschen, wenn die Bundeswehr im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und gegen bedrohliche Staaten eingesetzt werden soll. Die größten Vorbehalte gibt es hierzulande, wenn mit militärischen Mitteln wirtschaftliche Interessen, wie die Rohstoffversorgung durchgesetzt werden sollen. Das Meinungsbild in den anderen europäischen Staaten unterscheidet sich in einigen Punkten, aber nicht grundlegend von dem hiesigen. Landes- und Bündnisverteidigung werden überall mehrheitlich unterstützt, ebenso humanitäre Hilfen, die Abwehr eines Genozids und die Evakuierung von Staatsbürgern im Krisenfall. Nur in Österreich, das der EU, aber nicht der NATO angehört, sieht die Bevölkerungsmehrheit Bündnisverteidigung nicht als Aufgabe des Bundesheeres. Die österreichische Bevölkerung steht zudem der Beteiligung am Kampf gegen den internationalen Terrorismus und dem Vorgehen gegen drohende Staaten besonders distanziert gegenüber. Zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen will die Hälfte der acht betrachteten Bevölkerungen Streitkräfte eingesetzt sehen, die andere Hälfte lehnt dies ab. In der Gesamtschau zeigt sich zum einen, dass die Präferenzen der deutschen Öffentlichkeit sich innerhalb dessen bewegen, was als kontinentaleuropäische Norm bezeichnet werden kann. Die Befunde widersprechen ausdrücklich der zuweilen anzutreffenden Vermutung, die deutsche Gesellschaft sei pazifistisch gestimmt.53 Dies ist ganz offenkundig nicht der Fall. Sie wendet sich nicht grundlegend gegen militärische Gewalt. Im Gegenteil: Sie stimmt den meisten Streitkräfteaufgaben ausdrücklich zu. Allerdings lehnt die deutsche Bevölkerung MisFrage: Welche Aufgaben sollten die STREITKRÄFTE Ihrer Meinung nach übernehmen? Stimmen Sie einer Übernahme der folgenden Aufgaben durch die STREITKRÄFTE zu oder lehnen Sie dieses ab? Die STREITKRÄFTE sollten eingesetzt werden, … – um einen militärischen Angriff auf STAAT abzuwehren. – um einem Verbündeten zu helfen, der angegriffen wurde. – um STAAT Staatsbürger aus Krisengebieten zu evakuieren. – um die Opfer einer Naturkatastrophe mit Nahrungsmitteln zu versorgen und medizinische Hilfe zu leisten. – um einen Völkermord zu verhindern. – um die Lage in einer Krisenregion zu stabilisieren. – um sich am Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu beteiligen. – um gegen Länder, die uns bedrohen, militärisch vorzugehen. – um die Versorgung STAAT mit Energie und Rohstoffen zu sichern. – zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung innerhalb STAAT. Antwortkategorien: 1: Stimme vollkommen zu, 2: Stimme eher zu, 3: Teils-teils, 4: Lehne eher ab, 5: Lehne vollkommen ab 53 So auch Dorn (2009); Gauland (2012); [General] Naumann (2013); Geis (2014); zustimmend: Krippendorff (2010); zu den Hintergründen vgl. Jarausch (2004), S. 356 f.; von Bredow (2008), S. 151 – 154.
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sionen mit offensivem Charakter ab. Diese Haltung vertritt sie entschiedener als die Bevölkerung der meisten Partnerstaaten, aber sie steht damit keinesfalls allein. Dies verdeutlicht auch der nachstehende Vergleich der Einstellungen zur ISAFMission. Die bislang betrachtete grundlegende Bereitschaft zu einem Einsatz der Streitkräfte hat den Vorteil, dass die Einstellungen allgemein und losgelöst vom konkreten Einsatz erfasst werden. Sicherheitspolitische Debatten werden – zumal in der breiteren Öffentlichkeit – aber nicht alleine anhand von Prinzipien und abstrakten Aufgaben diskutiert, sondern oftmals anlässlich konkreter Einsätze und Missionen. Im Folgenden wird deshalb untersucht, wie sich die Bevölkerungen zum Engagement ihres Landes in Afghanistan verhalten (alle betrachteten Nationen sind, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, an der ISAF-Mission beteiligt). Dazu wurde zum einen erfasst, ob sie das Engagement grundlegend fortsetzen oder beenden wollen, und zum anderen, welche Aufgaben ihre Streitkräfte dort übernehmen sollen. Zu berücksichtigen ist, dass die Umfragen Ende 2010 durchgeführt wurden, also vor der Entscheidung der NATO, Kampftruppen bis 2014 aus Afghanistan abzuziehen. Tabelle 2 Haltung zum ISAF-Engagement54 Fortführung ISAF Beendigung ISAF
DEU
FRA
GB
AUT
SWE
ESP
CZE
TUR
39 41
38 47
55 38
32 53
52 25
48 42
47 34
63 24
Datenbasis: Internationale Befragungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 2010. Prozentangaben aus Summe „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“. Auswertungen gewichtet.
Hinsichtlich der Bereitschaft, den ISAF-Einsatz fortzuführen bzw. zu beenden, zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Ländern. Die höchste Zustimmung zum ISAF-Engagement findet sich in der Türkei, gefolgt von Großbritannien und Schweden. Aber auch in diesen Ländern gibt es Bevölkerungsanteile von einem Viertel bis über einem Drittel, die für die Beendigung plädieren. Mehrheitliche Zustimmung ist daneben in der Tschechischen Republik und in Spanien zu verzeichnen. Die deutsche Bevölkerung ist hingegen gespalten: etwa gleich große Anteile befürworten eine Fortführung bzw. eine Beendigung des Engagements. In Frankreich und insbesondere in Österreich sprechen sich wiederum Mehrheiten für den Abzug der eigenen Soldaten aus. 54 Frage: Bitte sagen Sie mir, ob Sie den folgenden Positionen zur Beteiligung der STREITKRÄFTE an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) zustimmen oder ob Sie diese ablehnen. a) STAAT sollte sich mit den STREITKRÄFTEN weiter an der ISAF-Mission in Afghanistan beteiligen und den Aufbau des Landes weiter unterstützen. b) Die STREITKRÄFTE sollten den ISAF-Einsatz in Afghanistan umgehend beenden und alle Soldatinnen und Soldaten aus dem Land abziehen.
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Noch aussagekräftiger werden die Daten, wenn im zweiten Schritt die Befragten die Möglichkeit haben, ihre Haltung zu konkreten Aufgaben der Streitkräfte in Afghanistan kundzutun. Dabei werden drei Aufgabenfelder unterschieden: erstens das humanitäre Engagement, das sich auf den Wiederaufbau des Landes und der Infrastruktur konzentriert, zweitens Stabilisierungsbemühungen, die sich der Etablierung von Ordnungsstrukturen und dem Aufbau von Streitkräften und Polizei widmen, sowie drittens genuine Kampfhandlungen gegen die Taliban. Tabelle 3 Haltung zu Aufgaben im ISAF-Einsatz55 Wiederaufbau Unterstützung Sicherheitskräfte Kampfeinsätze
DEU
FRA
GB
AUT
SWE
ESP
CZE
TUR
74 64 20
74 63 37
60 81 63
62 39 7
76 65 36
76 65 29
76 69 35
61 70 35
Datenbasis: Internationale Befragungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 2010. Prozentangaben aus Summe „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“. Auswertungen gewichtet.
Wie die Tabelle 3 ausweist, unterscheiden sich die Haltungen der diversen Bevölkerungen zu allen drei Aufgabenfeldern substanziell. Die Beteiligung der eigenen Armee an Wiederaufbaumaßnahmen findet hierzulande wie bei den anderen Bevölkerungen mehrheitliche Zustimmung. Die Unterstützung der Sicherheitskräfte wird von den Bundesbürgern, wie von den anderen Befragten, mehrheitlich mitgetragen, wobei sich aber zwei Ausreißer zeigen: In Österreich befürworten nur 39 Prozent der Befragten eine Beteiligung ihrer Armee an der Unterstützung afghanischer Sicherheitskräfte. In Großbritannien und der Türkei wiederum wird dies als Kernauftrag des ISAF-Kontingents angesehen und erfährt im Vergleich der Aufgabenfelder die höchste Zustimmung. Die deutlichsten Unterschiede gibt es in der Haltung zu Kampfeinsätzen. Diese sind für fast zwei Drittel der britischen Befragten eine selbstverständliche Aufgabe. Hierbei fällt der gravierende Abstand zu den anderen Nationen auf. In Deutschland, Frankreich, Spanien, der Tschechischen Republik und der Türkei sprechen sich zwischen einem Fünftel und einem Drittel für diese Einsätze aus, während sich in Österreich kaum Befragte finden, die ihre Streitkräfte im Kampf sehen wollen. Mithin deckt insbesondere die Frage nach Kampfeinsätzen merkliche Differenzen zwischen den europäischen Öffentlichkeiten auf. Während dies insbesondere für die britischen Bürgerinnen 55 Frage: Bitte sagen Sie mir, ob Sie den folgenden Positionen zur Beteiligung der STREITKRÄFTE an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) zustimmen oder ob Sie diese ablehnen. c) Die STREITKRÄFTE sollten in ihrem Afghanistan-Einsatz vornehmlich Wiederaufbauarbeit leisten. d) Die STREITKRÄFTE sollten in ihrem Afghanistan-Einsatz die afghanische Armee und Polizei bei der Herstellung von Ordnung und Sicherheit unterstützen. e) Die STREITKRÄFTE sollten in Afghanistan auch für Kampfeinsätze gegen die Taliban eingesetzt werden.
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und Bürger eine zentrale Aufgabe ihrer Streitkräfte darstellt, lehnt dies die hiesige Bevölkerung entschieden ab. Mit dieser Haltung stehen die deutschen Bürgerinnen und Bürger jedoch nicht alleine. Im Gegenteil: Von den acht betrachteten Ländern findet sich in sieben keine Mehrheit für die Beteiligung der eigenen Soldaten an der Bekämpfung der Taliban. Das deutsche Meinungsbild entspricht folglich dem europäischen Standard, allerdings auf eine andere Art und Weise, als dies die Normalisierungsthese suggeriert. Nicht der vorbehaltlose Zuspruch zum offensiven Einsatz von Streitkräften ist derzeit europäische Norm, sondern die distanzierte Haltung zur militärischen Gewalt.
IV. Perspektiven der bundesdeutschen strategischen Kultur Im Fokus dieses Beitrages stand das Verhältnis der Deutschen zur militärischen Gewalt. Der Strategische-Kulturen-Ansatz kann erklären, weshalb dieses Verhältnis mittlerweile als problematischer erscheint als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Die beiden Wesenszüge der bundesdeutschen strategischen Kulturen, Nie wieder Krieg und Nie wieder allein, konnten bis 1990 im Bündnis mit den NATO-Partnern und der Bundeswehr Verteidigungsarmee zur Deckung gebracht werden. Seitdem internationale Militärmissionen die sicherheitspolitische Agenda dominieren, ist diese Kongruenz nicht mehr garantiert. Seither stehen die Vorbehalte der Deutschen gegen den offensiven Einsatz militärischer Gewalt mitunter im Widerspruch zu der Absicht, mit den transatlantischen und europäischen Partnern gemeinsam zu handeln. Wie die internationalen Umfragen aber zeigen, bestehen in den anderen kontinentaleuropäischen Ländern vergleichbare Ambivalenzen. Somit beruht die von General Naumann und anderen Vertretern der strategic community vorgebrachte Aufforderung, die deutsche Gesellschaft solle ihr Verhältnis zur Anwendung militärischer Gewalt normalisieren und sich an den europäischen Standard anpassen, auf einer – bewusst oder unbewusst – verzerrten Wahrnehmung der Situation bei den Partnern. Die Skepsis der hiesigen Bevölkerung gegenüber militärischen Mitteln entspricht viel eher einem europäischen Muster als etwa die unbefangenere Position der britischen Öffentlichkeit. Die Vertreter der Normalisierung deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik stützen sich folglich auf eine Fehleinschätzung, um den Wunsch der meisten Deutschen nach einem Ausgleich und gemeinsamen Handeln mit den europäischen Verbündeten anzusprechen. Aufgrund der hierzulande wie in anderen europäischen Staaten bestehenden Diskrepanz zwischen den Präferenzen der Öffentlichkeit und einer militärisch aktiven Sicherheitspolitik stehen die Abstimmungsprozesse und das gemeinsame Vorgehen in der NATO und in der EU stets vor den gleichen Herausforderungen. Bereits im Jahre 2003 hat die Europäische Sicherheitsstrategie der EU das Ziel postuliert, die Europäer sollten sich durch eine robuste strategische Kultur auszeich-
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nen, die ggf. den Einsatz militärischer Gewalt einschließt.56 Hinsichtlich dieser Zielstellung besteht unter den Bürgerinnen und Bürgern der europäischen Staaten jedoch kein Einvernehmen. Gerade in der entscheidenden Frage von militärischer Gewaltanwendung, von Krieg und Frieden, sind sie uneins – die Präferenzen der Bevölkerungen stehen daher in einem gewissen Spannungsverhältnis zur sicherheitspolitischen Praxis einiger Staaten57 sowie zu den von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten gesetzten Ansprüchen. Letztlich bestehen drei Optionen, wie mit diesen Diskrepanzen umgegangen werden kann: 1. Die Spannungen zwischen der sicherheitspolitischen Praxis und dem militärischen Engagement einiger europäischer Staaten und dem Willen ihrer Bevölkerungen werden akzeptiert und bleiben bestehen. Dies kann aber in eine fehlende Unterstützung für militärische Missionen münden, deren Folgen Politik, Streitkräfte und Soldaten zu tragen haben. 2. Die politische Führung wirbt intensiv für ihre strategischen Ambitionen und versucht, die Bürgerinnen und Bürger von der Notwendigkeit und dem Nutzen militärischer Gewalt stärker zu überzeugen. Dies setzt einen entsprechenden politischen Willen voraus, erfordert eine entschiedene politische Führung und überzeugende Legitimation. Ziel wäre dabei eine Änderung der sicherheitspolitischen Präferenzen der Bürger und in der Folge deren Unterstützung für eine robuste strategische Kultur. Angesichts der nachgewiesenen Stabilität von sicherheitspolitischen Einstellungen58 ist es aber fraglich, ob die intendierten Veränderungen einträten oder ob es nicht im Gegenteil zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Distanz zur militärischen Gewalt käme. 3. Die Politik kann die strategischen Ambitionen absenken und ihre Sicherheitspolitik am Willen der Bürger (vulgo: Wähler) ausrichten. Dies bedeutete eine parlamentarisch kontrollierte, multilateral ausgerichtete und in Organisationen eingebundene, international engagierte Sicherheitspolitik, die sich aber beim Einsatz militärischer Mittel zur Konfliktlösung zurückhält. Angesichts der jüngsten Entscheidungen der deutschen Politik, die ISAF-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, am Libyenkrieg nicht teilzunehmen und nur überschaubare Kontingente in die diversen Konflikte in Afrika und im arabischen Raum zu entsenden, erscheint die dritte Option durchaus wahrscheinlich. Für einige Beobachter zeichnet sich im internationalen Raum eine post-interventionistische Ära ab, die vermutlich von größerer Zurückhaltung bei militärischen Engagements geprägt sein wird.59 Den Vorstellungen von General Naumann entspricht diese Art der sicherheitspolitischen Normalisierung sicherlich nicht. Die deutsche Öffentlich-
56
Vgl. ESS (2003). Vgl. Jonas/von Ondarza (2010). 58 Vgl. Page/Shapiro (1992); Isierna et al. (2002). 59 Vgl. Giegerich/Kümmel (2013). 57
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keit wie die anderen kontinentaleuropäischen Bevölkerungen dürften diese Entwicklung jedoch begrüßen.
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Demokratische Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik in Deutschland Die Bundeswehr als ,Armee im Einsatz‘ Von Jürgen Franke
I. Einleitung und Fragestellung „In Demokratien pflegt man implizit von einer uneingeschränkten zivilen Kontrolle über die Streitkräfte auszugehen. Wäre sie nicht in dieser absoluten Weise gegeben, so müsste die jeweilige Demokratie als unvollkommen gelten.“1
In Wissenschaft und Politik besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass zivile und demokratische Kontrolle über das Militär und dessen Einsatz zu den unabdingbaren Notwendigkeiten einer modernen Demokratie zählen.2 Die Art und Weise der Ausübung solcher Kontrollen in einem Staatswesen ist dabei allerdings abhängig von der jeweiligen Staats- und Regierungsform eines Landes, seiner Politik, Geschichte und Kultur und gestaltet sich dementsprechend unterschiedlich.3 Gleichzeitig können über die jeweiligen Normen und Praktiken der Aufsicht über die Streitkräfte in einem demokratischen Gemeinwesen Rückschlüsse auf die Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen eines bestimmten Landes gezogen werden, da hierüber das Verhältnis zwischen Militär, Politik und ziviler Gesellschaft weitgehend bestimmt wird. In der Bundesrepublik ist mit dem Konzept der Inneren Führung neben der formal zivilen und strukturell abgesicherten politischen Kontrolle über die Streitkräfte (Primat der Politik, zivile Besetzung der militärpolitischen Spitzenpositionen) zusätzlich eine demokratische Kontrolle vorgesehen, die dreifach abgesichert ist: 1) mit der demokratischen Kontrolle über die Bundeswehr ,von oben‘ (über den Bundestag und seine parlamentarischen Kontrollorgane), 2) durch eine gesellschaftsintern angelegte demokratische Kontrolle ,von unten‘ (über die kulturelle und politische Öffentlichkeit und deren Kommunikationsmedien) und 3) über die streitkräfteinterne (Selbst-)Kontrolle, die mit der Inneren Führung verwirklicht werden soll (Integration, Sinnstiftung, Staatsbürger in Uniform). In diesem speziell auf die deutsche Situation nach 1945 ausgerichteten Konzept sind zivil-demokratische Werte und 1
Born (2006), S. 125. Zu den Begründungszusammenhängen und Begriffsbestimmungen der zivilen und demokratischen Kontrolle vgl. den ersten Beitrag von mir in diesem Band. 3 Vgl. Born (2006), S. 125. 2
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Normen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ebenso eingeflossen wie kollektive negative Erfahrungen der Gesellschaft im Umgang mit dem Militär in der Weimarer Republik und während der nationalsozialistischen Herrschaft. Die konzeptionellen Überlegungen beim bundesrepublikanischen Modell wurden auf die damalige gesellschaftspolitische Situation in der Phase der Wiederbewaffnung Deutschlands ausgerichtet, bei der es darum ging, den Vorbehalten und Sorgen der Bevölkerung, dass sich die Streitkräfte bei einer Wiederbewaffnung erneut von der Gesellschaft abschotten könnten oder sich die schrecklichen Ereignisse aus den vergangenen zwei Weltkriegen wiederholen könnten, in Form einer mehrfach abgesicherten Kontrolle über die Waffenträger zu begegnen, indem diese durch entsprechende Normen und Praktiken konzeptionell verankert wurden. Die deutsche Nation baut und vertraut seitdem unverändert auf dieses Konzept demokratischer Kontrolle über die Waffenträger und ihre Einsätze. Der Einsatz bzw. die Androhung von bewaffneter Gewalt mittels Streitkräften erfuhr allerdings für die Bundesrepublik Deutschland Anfang der neunziger Jahre eine völlig neue Dimension. Während es für die Bundeswehr in ihrer Rolle als territoriale Verteidigungsarmee zur Zeit des Ost-West-Konflikts zum Glück niemals zum Kriegseinsatz kam, gehören heute in ihrer neuen Rolle als international operierenden Einsatzarmee Auslandseinsätze zum militärischen Alltag. Die teilweise unter kriegsähnlichen Bedingungen anzutreffende Einsatzrealität steht dabei im krassen Gegensatz zur friedensgewohnten Lebenswelt Deutschlands, wodurch sich die spezifische Erfahrungswelt der Soldatinnen und Soldaten von der sie umgebenden Zivilgesellschaft unterscheidet. Das Differenzkriterium ist hier im Gegensatz zu der vorherigen Rolle der Bundeswehr als Verteidigungsarmee die tägliche Präsenz bewaffneter Gewalt. Dieser Wandel der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee hatte strukturelle und personelle Konsequenzen für die Streitkräfte, die so umfassend und erheblich waren, dass diese eigentlich einem Neubeginn der Bundeswehr gleich kommen. Dies berührt jedoch implizit Fragen nach den Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Wechselbeziehungen zwischen Militär, Politik und Gesellschaft. Sollten hier Abweichungen erkennbar werden, wovon auszugehen ist, führt dieses unweigerlich zur Anschlussfrage, inwiefern diese Veränderungen sich auf die bisher wirksamen Mechanismen ziviler und demokratischer Kontrolle auswirken oder diese dadurch gar ausgehöhlt werden. Ziel dieses Beitrags ist es daher zu prüfen, ob die bisherigen Normen und Praktiken demokratischen Kontrolle über Streitkräfte und Sicherheitspolitik in Deutschland unter den gewandelten Bedingungen einer Bundeswehr als ,Armee im Einsatz‘ noch ausreichend sind und welche Folgen dies für die Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen mit sich bringt. Die nachfolgende Analyse der demokratischen Kontrolle von Bundeswehr und deutsche Sicherheitspolitik geschieht aus zwei Perspektiven, die damit den Untersuchungsgegenstand unterschiedlich gewichten. Zum einen geht es um die Frage der Funktionsfähigkeit gegenwärtiger demokratischer Kontrollmechanismen, womit die wechselseitigen Abhängigkeiten von Staat und Militär im Fokus stehen. Zum anderen wird betrachtet, welche
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Auswirkungen demokratische Kontrolle auf die Militärkultur nimmt und wie damit die Beziehungen zwischen Bundeswehr und Gesellschaft heutzutage gestaltet werden. In conclusio geht es in der Gesamtbetrachtung beider Perspektiven um die Untersuchung des Problems der demokratischen Einbindung und Kontrolle der Bundeswehr in ihrer neuen Rolle als Einsatzarmee sowohl auf gesellschaftlicher, innerstaatlicher wie internationaler Ebene.
II. Bundeswehr als ,Armee im Einsatz‘: Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Kontrolle Die Bundeswehr erlebt mit Beginn der ersten Auslandseinsätze und dem Voranschreiten der multinationalen Zusammenarbeit den radikalsten Wandel seit ihrem Bestehen. Die geopolitischen Veränderungen und sicherheitspolitischen Reaktionen führten zu einer Transformation der Bundeswehr von einer ehemals klassischen Verteidigungs- zu einer global operierenden Kriseninterventionsarmee. Riskante Auslandseinsätze in innenpolitischen Friedenszeiten prägen derzeit den Alltag der Bundeswehr und führen zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Lebensrealitäten zwischen Soldaten und zivilen Bürgern. Gleichzeitig wird die Bundeswehr immer kleiner, viele Kasernen wurden oder werden geschlossen, ganze Standorte aufgelöst. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt und die Bundeswehr stellt mittlerweile eine Freiwilligenarmee dar, die als ,Dienstagentur des Staates‘ fernab der Heimat ihre Aufträge zumeist ohne größere Beachtung der bundesdeutschen Gesellschaft erfüllt. Die Bundeswehr verschwindet damit mehr und mehr aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Deren ,Joberledigung‘ wird bestenfalls mit einem „freundlichem Desinteresse“4 seitens der Bevölkerung begleitet, und wo kämpferische Handlungen stattfinden, werden diese von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt.5 Diese Entwicklungen werfen die Frage auf, ob die bisherigen Formen und Maßnahmen ziviler und demokratischer Kontrolle in Deutschlands unter den veränderten Rahmenbedingungen noch bzw. in gleicher Weise wie bisher wirksam sind. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass in den heutigen Auslandseinsätzen deutsche Streitkräfte nicht mehr national eingesetzt, sondern ausschließlich unter europäischem oder internationalem Oberbefehl geführt werden. Daraus ergibt sich die Frage, ob und wie eine demokratische Kontrolle auf diesen Ebenen außerhalb der nationalen Zuständigkeit überhaupt zur Anwendung gelangen kann. Betrachtet man die verschiedenen Dimensionen demokratischer Kontrolle, lassen sich hierzu folgende Thesen aufstellen:
4 5
Köhler (2005). Vgl. Biehl (2007); vgl. auch dessen Beitrag in diesem Band.
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1. Erste These: Politische und demokratische Kontrolle ,von oben‘ ist weiterhin gewährleistet Der Primat der Politik gegenüber der Bundeswehr steht auch unter den veränderten Rahmenbedingungen außer Frage. Die mit der Wehrverfassung verfassungsrechtliche Verankerung der Wehrhoheit des Bundes stellt weiterhin die politische Kontrolle über die Bundeswehr sicher, auch in deren heutigen Funktion als Einsatzarmee. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz von 2005 beinhaltet nicht nur eine verfassungsrechtliche Implementierung der Out-of-area-Einsätze, sondern bestätigt nochmals den Primat der Politik unter der neuen Auftragslage der Bundeswehr. Dennoch hat sich auf dieser Ebene qualitativ etwas verändert, wodurch die bisherigen Formen demokratischer Kontrolle in Deutschland gleichsam auf allen drei Ebenen (von ,oben‘, von ,unten‘ und von ,innen‘) berührt werden. Zur Verdeutlichung dieser Veränderungen bedarf es zunächst eines kurzen historischen Rückblicks. Zur Zeit des Kalten Krieges war die damalige Bundeswehr, oder allgemeiner formuliert: der Gebrauch bewaffneter Gewalt, im Unterschied zu heute kein Mittel der Politik. Im Gegenteil diente die Bundeswehr, als territoriale Verteidigungsarmee konzipiert, ausschließlich dem Erhalt der Souveränität des Staates und zum Schutze der Gesellschaft und sollte auch erst dann zum Zuge kommen, nachdem die Politik der Abschreckung versagt hätte. Die Notwendigkeit zur Existenz und zum Auftrag der Bundeswehr konnte somit unmittelbar aus dem Not- und Selbstverteidigungsgedanken der Nation abgeleitet werden, was ihr eine zweifelsfreie politische und gesellschaftliche Legitimation bescherte.6 Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung 1989 – 91 wurde Deutschland und seine europäischen Nachbarstaaten zunehmend mit den Folgen innerstaatlicher und regionaler Konflikte, der Destabilisierung und des inneren Zerfalls von Staaten und der damit vielfach einhergehenden Entstaatlichung von Gewalt konfrontiert. Als weitere Folgen staatlicher Erosionen kam es zur weltweiten Proliferation von Massenvernichtungswaffen und zur Entstehung der mittlerweile global agierende Terrorismusbewegung Al-Qaida, die zusammen mit den innerstaatlichen Konflikten eine ernstzunehmende Bedrohung für Deutschland und seine europäischen Nachbarstaaten darstellen. Deutschland sucht den aktuellen Risiken und Bedrohungen mittels einer vorausschauenden Sicherheitspolitik zu begegnen, bei dem ein auf diese jeweils abgestimmtes Instrumentarium zur Anwendung kommen soll, welches diplomatische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische, polizeiliche und militärische Mittel beinhaltet, „wenn geboten, auch bewaffnete Einsätze“.7 Im derzeit umfassend gedachten Ansatz der ,vernetzten Sicherheit‘, der neben den klassischen Feldern der AußenSicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik die Bereiche Wirtschaft, Umwelt, Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik erfasst, stellt der Gebrauch militärischer 6 7
Vgl. Wiesendahl (2002), S. 26 – 29. BMVg (2006), S. 29, nachfolgend Weißbuch genannt.
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Mittel allerdings nur eine von mehreren Optionen zur Begegnung der vielfältigen Risiken und Bedrohungen dar. Der Einsatz militärischer Gewalt erfolgt damit heutzutage nicht mehr als ultima ratio, d. h. wie unter den Bedingungen des Kalten Krieges ausschließlich nur dann, wenn die Politik der Abschreckung versagt hätte, sondern bereits immer schon dann, wenn es die staatliche äußere Sicherheitsvorsorge (in einem ,erweiterten‘ Verständnis) erfordert oder vitale Staatsinteressen8 auf dem Spiel stehen.9 Die Frage jedoch, ob eine Maßnahme zur Durchsetzung dieser Interessen zwingend der Anwendung militärischer Mittel bedarf oder auch mit zivilen Instrumenten Erfolg verspricht, liegt im Ermessen und damit in der Verantwortung der Politik. Für den Einsatz der Bundeswehr existiert heute kein Automatismus mehr, wie er früher für den Spannungs- und Verteidigungsfall noch eindeutig geregelt war. Militärische Auslandseinsätze unterliegen daher heutzutage einem permanenten politischen Legitimationszwang und darüber hinaus einem moralischen Rechtfertigungsgebot, das vor allem immer dann gefordert ist, wenn das Leben von Menschen auf dem Spiel steht, gleich ob als Soldaten oder Zivilisten. Da jeder militärische Einsatz neben nachvollziehbaren Begründungslogiken aber auch einem gewissen sicherheits- und außenpolitischen Kalkül der regierungsverantwortlichen Exekutive unterliegt, lässt sich die Gefahr eines Missbrauchs oder zumindest leichtfertigen Einsatzes der Bundeswehr „als Instrument einer umfassend angelegten und vorausschauenden Sicherheits- und Verteidigungspolitik“10 nicht gänzlich ausschließen – besonders dann nicht, wenn es sich dabei, wie jetzt bei der Bundeswehr, um eine professionelle Freiwilligenarmee handelt. Somit kommt einer verantwortungsvoll ausgeübten parlamentarischen Kontrolle über die Einsatzpolitik der Exekutive für laufende oder anstehende militärisch geführte Auslandsmissionen unter den heutigen Rahmenbedingungen nicht nur eine höhere Bedeutung zu, sondern sie ist unter dem Primat der Politik zugleich auch eine moralische Bringschuld des Souveräns gegenüber seinen Soldaten. Eine weitere qualitative Veränderung lässt sich in Bezug auf die Art und Weise der politischen Kontrolle über das Militär in Auslandseinsätzen konstatieren. Die bei Auslandseinsätzen immer wieder zu beobachtende besondere Tragweite und die teilweise gravierenden politischen Auswirkungen durch Handlungen von Soldaten (z. B. die gewaltsamen Ausschreitungen infolge der Verbrennung von Koran-Bücher durch US-amerikanische Soldaten in Afghanistan im Februar 2012) könnten mittelfristig zur Erosion der bislang in der Bundeswehr praktizierten Auftragstaktik beitragen. Auftragstaktik heißt: Soldaten bzw. militärische Führer setzen einen ihnen gegeben militärischen Auftrag nach eigenem Ermessen so in konkrete Handlungsentscheidungen bzw. Befehle um, dass damit der übergeordnete Auftrag möglichst optimal erfüllt wird. Die Idee dieses seit Jahrzehnten in deutschen Armeen praktizierten 8
Mit Staatsinteressen sind hier die Interessen Deutschlands gemeint, die allerdings im Weißbuch 2006 nicht eindeutig definiert werden, zumindest nicht in ihrer Angrenzung bezüglich der Mittelauswahl für deren Durchsetzung oder Erhalt. Vgl. Meyer (2007), S.32 f. 9 Vgl. Weißbuch (2006), S. 23, 29. 10 Ebd., S. 70.
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und bewährten Prinzips der Auftragstaktik geht von der Annahme aus, dass der Soldat die konkrete Situation vor Ort besser einzuschätzen vermag, als eine entfernt sitzende übergeordnete Kommando-/Befehlsstelle, und er daher eigenverantwortlich im Sinne der übergeordneten Führung zu handeln hat. Dabei kann bzw. muss der Soldat vor Ort gegebenenfalls sogar vom ursprünglich gegebenen Auftrag abweichen, wenn plötzliche Lageänderungen dies erfordern und bei Befolgen der ursprünglich gegebenen Befehlslage der Erfolg des Unternehmens gefährdet würde. Das damit grundsätzlich behaftete Risiko falscher oder unangemessener Entscheidungen einzelner Soldaten ist angesichts der politischen Tragweite militärischer Handlungen in Auslandseinsätzen heutzutage allerdings deutlich größer einzuschätzen, da bestimmte militärische Maßnahmen, verstärkt durch eine aufmerksame mediale Öffentlichkeit, unter Umständen erheblichen politischen Schaden bewirken können, selbst wenn die Handlungen aus militärischer Sicht weitgehend gerechtfertigt erscheinen mögen (Beispiel: Bombardierung der Tanklastzüge in Kunduz 2009). Eine politische Kontrolle der deutschen Streitkräfte in Auslandseinsätzen erscheint damit umso notwendiger, ist aber zugleich durch deren Exterritorialität deutlich schwieriger zu gestalten, was ihr eigentliches Dilemma beschreibt. Dies ist weniger ein technisches Problem, wie die politisch begleitete militärische Operation der USAmerikaner gegen Osama bin Laden eindrucksvoll verdeutlich hat.11 Vielmehr setzt dieser Anspruch bei den politischen Akteuren in den sicherheitspolitischen Entscheidungsgremien neben der politischen auch eine militärfachliche Qualifikation voraus, da bei einer stärkeren Direktive von oben politische und militärische Erfordernisse gleichermaßen berücksichtigt werden müssten. Eine stärkere politische Kontrolle von Streitkräften im vorgenannten Sinne würde allerdings die ursprüngliche Auftragstaktik zunehmend in Richtung Befehlstaktik verändern und damit nicht nur ein ,altbewährtes‘ Führungsprinzip deutscher Streitkräfte infrage stellen. Gleichzeitig würde der militärische Führer vor Ort stärker von seiner moralischen Verpflichtung entbunden, als ,Staatsbürger in Uniform‘ die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der ihm überantworteten militärischen Aufträge zu hinterfragen und letztlich die ethische Verantwortung für sein Handeln als Soldat zu übernehmen.12 Auf diese Weise ginge eine stärkere politische Kontrolle von oben zu Lasten der noch aufzuzeigenden binnenmilitärischen Dimension demokratischer Kontrolle, welche derzeit in der Bundeswehr (noch) durch das Prinzip der normativen Selbstkontrolle des Militärs als Organisation (Innere Führung) und des Soldaten als Staatsbürger in Uniform gewährleistet werden soll. Im Zusammenhang mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von 1994 und 2001 zur Rechtmäßigkeit der Entsendung deutscher Truppen in Out-of area-Einsätze wurde nochmals bekräftigt, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, für 11 Zu den technischen Möglichkeiten einer erweiterten Kontrolle von Soldaten, aber auch den Risiken einer auf diese Weise stärker vernetzten Operationsführung siehe auch den Beitrag von Dirk Spreen in diesem Band. 12 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Volker Stümke in diesem Band zu den ethischen Normen des Soldaten im Umgang mit bewaffneter Gewalt.
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deren Einsatz im Ausland in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ein konstitutiver Beschluss des Bundestages erforderlich ist.13 Die Idee eines ,Parlamentsheeres‘, demgegenüber das Parlament über eine demokratische Kontrollund Entscheidungsfunktion verfügt, wurde allerdings schon von Anfang an in der Bundeswehr durch eine verfassungsrechtliche Einbindung der Streitkräfte und durch die Schaffung der parlamentarischen Kontrollorgane verfolgt (Primat der Politik, Haushaltskontrolle, Verteidigungsausschuss, Wehrbeauftragter). Insofern wurde mit den juristischen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in dieser Beziehung zumindest konzeptionell kein Neuland betreten. Die Bezeichnung der Bundeswehr als ,Parlamentsarmee‘ wurde hingegen erstmalig durch das Bundesverfassungsgericht 1994 in seinem Urteil über die Auslandseinsätze der deutschen Streitkräfte im Rahmen der kollektiven Verteidigung im Bündnis eingeführt.14 Dennoch erhält die parlamentarische Kontrolle mit der rechtlichen Klärung der Auslandseinsätze auf oberster Bundesebene und der Bekräftigung der Bundeswehr als ,Parlamentsarmee‘ im Vergleich zu vorher ein deutlich höheres politisches Gewicht. Dieser Bedeutungszuwachs liegt weniger in der parlamentarischen Kontrolle über die Streitkräfte selbst begründet, die sich unverändert darstellt. Dagegen hat eine effektive Aufsicht des Bundestages über die Verwendung und Entsendung von Truppen politisch heute einen ganz anderen Stellenwert als noch zu Zeiten des Kalten Krieges, wo es allenfalls auf nationale Ebene um die Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls ging. Deutschland hat sein Konzept demokratischer Kontrolle von bewaffneter Gewalt den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen angepasst, indem auf der Ebene der Legislative eine verstärkte demokratische Kontrolle nicht nur über die Streitkräfte, sondern auch über die Sicherheitspolitik und ihre Organe stattfindet. Durch die Kontrolle der Kontrolleure im Sinne einer „Wacht über die Wächter“15 wird damit der Einsatz bewaffneter Gewalt in und durch Deutschland einer doppelten demokratischen Kontrolle unterzogen, welche nicht nur dem Schutz der Streitkräfte vor Missbrauch durch die Politik, sondern gleichzeitig der gesellschaftpolitischen Legitimation weltweiten Einsätze der Bundeswehr dienlich ist. Die parteiübergreifende Aufsicht politischer Mandatsträger über den zweckbestimmten Einsatz von Streitkräften gewinnt schon deshalb an Bedeutung, weil die ursprünglich im Konzept angedachte demokratische Kontrolle von unten durch die Gesellschaft aus mehrfachen Gründen nicht mehr richtig zu greifen scheint. 2. Zweite These: Demokratische Kontrolle ,von unten‘ verblasst Da sich das inklusive Konzept der zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland gleichermaßen auf die politische wie die gesellschaftliche Integration von Streit13
Vgl. Croissant/Kühn (2011), S. 84. Vgl. Rühl (2003), S. 30 f. Zum Begriff der Parlamentsarmee und deren Realisierung in einer kritischen Auseinandersetzung vgl. auch Meyer (2006). 15 Kümmel (2003). 14
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kräften abstützt, gilt es zu prüfen, inwieweit die gesellschaftsbedingten Voraussetzungen zur demokratischen Kontrolle ,von unten‘ durch die Auswirkungen des gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Wandels betroffen sind. ,Von unten‘ bezieht sich in diesem Fall auf die nichtstaatliche Sphäre der Zivilgesellschaft, umgangssprachlich ist damit das Volk gemeint. Hierzu zählen die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, ihre Familien, die Gemeinschaften und freiwillige Vereinigungen, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen etc. – kurz: die kulturelle und politische Öffentlichkeit einschließlich ihrer Kommunikationsmedien. Zieht man zur Überprüfung die bei Andreas Schaer als gesellschaftspolitische Voraussetzungen aufgelisteten Kriterien16 für demokratische und zivile Kontrolle von Sicherheitspolitik und Streitkräften heran, lässt sich für die Situation in Deutschland feststellen, dass im Kriterienkatalog einige Bedingungen aufgeführt werden, die mittlerweile in diesem Land so nicht mehr existieren oder nur bedingt erfüllt werden. Sofort ins Auge fällt das ursprünglich auch im deutschen Konzept zur gesellschaftlichen Integration von Streitkräften als sehr wichtig erachtete Kriterium einer allgemeinen Wehr- oder Dienstpflicht. Zwar wurde die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland 2011 formal nicht völlig abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt; faktisch kommt dies allerdings einer Abschaffung gleich, zumal die Rekrutierungsorganisation für Grundwehrdienstleistende nicht mehr existiert und auch das Personal dafür in der neuen Struktur nicht mehr vorgehalten wird. Als weitere Kriterien werden im Zusammenhang mit Streitkräften und Sicherheitspolitik Bildung, öffentliches Interesse und Wissen, eine existierende Kommunikationskultur in Form eines gegenseitigen Dialogs unter allen Akteuren sowie die Transparenz der Themen angeführt.17 Eine funktionierende demokratische Kontrolle über Streitkräfte und Sicherheitspolitik durch die Gesellschaft setzt danach eine an Sicherheits- und Militärpolitik sowie an Streitkräfte und ihre Einsätze interessierte sogenannte „aufmerksame Öffentlichkeit“18 voraus. Die regelmäßig von unabhängigen Meinungsforschungsinstituten durchgeführten Befragungen zum Meinungsbild der Gesellschaft über die deutsche Sicherheitspolitik, über die Kenntnisse der Bevölkerung zur Bundeswehr, ihr Zustimmungsverhalten zu deren allgemeinen Aufgaben und zu konkreten Einsätzen vermitteln in dieser Hinsicht allerdings ein ambivalentes Bild. Auch mit der sicherheits- und militärpolitischen Kommunikationskultur in 16 In dem länderübergreifenden Forschungsprojekt wurden insgesamt elf Kriterien als relevant für die Entwicklung bzw. Funktionalität ziviler und demokratischer Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik in einem Land erachtet: Rechtstaatlichkeit, Bildung, öffentliches Interesse und Wissen, gegenseitiger Dialog unter allen Akteuren (Kommunikationskultur), Transparenz der Themen, gegenseitige Verantwortung und Vertrauen (oder vertrauensbildende Maßnahmen), relative Stabilität in den zivil-militärischen Beziehungen, demokratische Kultur (politisch), effektive Kontrollinstrumente, demokratische Tradition oder Wille zur Demokratie, kulturelle Geneigtheit zu Kontrollfragen (demokratische Kontrollmentalität) sowie das Vorhandensein von Wehr- und Dienstpflicht. Vgl. Schaer (1998), S. 59 f. 17 Ebd., S. 59. 18 Rattinger/Holst (1998), S. 30.
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Deutschland ist es nicht weit her. So wird das Fehlen einer breiten öffentlichen Diskussion über die Einsätze, die Rolle und Zukunft der Bundeswehr selbst „im zweiten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung von Fachpolitikern, Wissenschaftlern und Journalisten vielfach moniert“.19 Angesichts eines grundlegend geringen öffentlichen Interesses an Fragen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands, das seit langem durch die Befunde in der Meinungsforschung konstatiert wird, dürfte allerdings der vielfach auch von Seiten der Politik und vom Militär geforderte gesellschaftliche Dialog mit der vermehrten Kommunikation sicherheits- und verteidigungspolitischer Fragen in der Öffentlichkeit wenig Veränderungen bewirken. Selbst eine vorübergehend stärkere Beschäftigung der Bürger aufgrund spektakulärer Ereignisse oder akuter Bedrohungen würde vermutlich aufgrund der bisherigen Befunde zum Meinungsbild und Einstellungsverhalten in Deutschland das Interesse, das Wissen und das Urteilsvermögen der Bevölkerung insgesamt nur unwesentlich beeinflussen. Insofern ist die im Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr vom Oktober 2010 erneut ausgesprochene Empfehlung, nach der ein „grundsätzlicher gesellschaftlicher Diskurs über die Bundeswehr, ihren Auftrag und ihre Einsätze zu führen“ sei, zu dem „auch eine von Beginn an transparente Diskussion über Entscheidungen zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte [Hervorhebung J.F.]“20 gehöre, möglichweise nur schwer umzusetzen, da sich dieser gesellschaftliche Diskurs vor dem vorgenannten Hintergrund kaum initiieren ließe.21 Zumindest beim Kriterium Gegenseitige Verantwortung und Vertrauen gibt es keine negative Bilanz. In diesem Bereich kann im Gegenteil sogar noch eine Steigerung attestiert werden. Die Vorbehalte aus der Zeit als Verteidigungsarmee, welche die Bundeswehr im Verständnis der Bevölkerung als notwendige, aber nicht sonderlich geliebte staatliche Einrichtung erscheinen ließ,22 sind spätestens seit Anfang der 1990er-Jahre einer überwiegend positiven Wertschätzung in der Öffentlichkeit gewichen. Das Ansehen der Bundeswehr stieg mit den Erfolgen der ersten zunächst bis 1999 ausschließlich friedlich geführten Auslandseinsätze – ein Trend, der auch nach der Jahrtausendwende anhielt und sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Die Bundeswehr erfährt unter der Bevölkerung nach aktuellen Befunden der Meinungsforschungsinstitute derzeit als Institution eine so hohe Wertschätzung wie nie zuvor seit ihrer Aufstellung und genießt bei ihr zudem ein hohes Maß an positivem Vertrauen in der Aufgabenwahrnehmung, was als vertrauensbildende Maßnahme unbestritten eine günstige Entwicklung darstellt.23 Allerdings vermag dieses Kriterium allein 19
Mannitz (2007), S. 39. Strukturkommission der Bundeswehr (2010), S. 28. 21 Vgl. Franke (2012a), S. 375. 22 Dennoch sollte aus dieser Feststellung kein geschlossenes Meinungsbild der Bevölkerung abgeleitet werden. Dieses war damals schon ambivalent, und trotz ablehnender Haltungen und Vorbehalte wurde die Notwendigkeit der Bundeswehr aus dem damaligen nationalen Notwehr- und Verteidigungsgedanken heraus mehrheitlich nicht infrage gestellt. Vgl. ebd., S. 312 – 328. 23 Vgl. ebd., S. 360 f. 20
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die zuvor aufgezeigten Wissens- und Interessensdefizite der Bevölkerung kaum zu kompensieren, so dass unter diesen Bedingungen eine wirksame demokratische Kontrolle von Seiten der Bevölkerung wenig wahrscheinlich erscheint. Dass eine demokratische Kontrolle ,von unten‘ dennoch nicht völlig unterbleibt, liegt an den nicht zu unterschätzenden Einflussmöglichkeiten der Massenmedien. 3. Dritte These: Demokratische Kontrolle ,von innen‘ schwindet Mit ihrem gewandelten Auftrag und der hierauf ausgerichteten umfassenden Strukturreform erfuhr die Bundeswehr den radikalsten Einschnitt seit ihrem Bestehen. Die Bundeswehr ist seit dem 1. Juli 2011 eine reine Freiwilligenarmee. Dieser Übergang zu Freiwilligenstreitkräften stellt eine Zäsur in den bisherigen zivil-militärischen Beziehungen dar, von der Bundeswehr, Politik und Gesellschaft gleichermaßen betroffen sind.24 Darüber hinaus wird durch diesen Wandel der Wehrstruktur die im deutschen Konzept vorgesehene innermilitärische demokratische Kontrolle massiv berührt. Mit dem Wegfall der Wehrpflicht und dem vermehrten Rückzug der Bundeswehr, sowohl aus der Fläche als auch aus dem öffentlichen Bewusstsein, sind nicht nur wichtige Integrationsmechanismen verschwunden; mit dem gewandelten Auftrag und den strukturellen Anpassungen der Streitkräfte verändert sich auch deren Organisationskultur. Die Bundeswehr als professionelle, international operierende Einsatzarmee, die nur noch aus Zeit- und Berufssoldaten besteht25, unterliegt mittlerweile völlig anderen Bedingungen im Vergleich zu ihrer Rolle als territorial ausgerichtete Abschreckungs- und Verteidigungsstreitmacht, die ihr bis 1990 zugeschrieben wurde und die dazu als Wehrpflichtigenarmee konzipiert war. Zum einen unterscheiden sich die zur Deckung des Personalbedarfs vorgesehenen Selektions- und Rekrutierungsmechanismen der Bundeswehr als professionelle Freiwilligenarmee von denen der damaligen Wehrpflichtigenarmee erheblich, da das Organisationsinteresse der Streitkräfte nun in erster Linie an der militärischen Auftragserfüllung ausgerichtet ist und Fragen wie beispielsweise Wehrgerechtigkeit, Quotenerfüllungen und hoher Ausbildungsaufwand (durch die quartalsweisen Auffüllungen mit ,neuen‘ Grundwehrdienstleistenden) der Vergangenheit angehören. Stattdessen zählen nach den Vorstellungen der Organisation heute eher militärfachliche und charakterliche Potenziale, wodurch die bisherige und in der ,alten‘ Bundeswehr stets positiv betonte soziale Heterogenität beim Personal allmählich verblassen könnte.26 Durch die Selektionen in der Personalauswahl und bei den Aufstiegskarrieren vor allem des 24
Vgl. Franke (2012b). Der Anteil der freiwillig länger dienenden Grundwehrdienstleistenden (FWDL) im Personalkörper der Bundeswehr wird hier ebenfalls unter dieser Kategorie geführt, da der Status des FWDL auf Freiwilligkeit und einer arbeitsvertragsrechtlichen Vereinbarung beruht und damit dem eines Zeitsoldaten nahezu entspricht. 26 Vgl. Biehl (2008), S. 15 f. 25
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Führungsnachwuchses könnte somit ein sozial zunehmend homogener erscheinender Personalkörper heranwachsen, dem die Neubesinnung auf alten Korpsgeist und Kämpfertum wichtiger erscheint als beispielsweise eine gewisse militärische Zivilität und demokratische Tugenden. Eine veränderte Militärkultur mit der Konzentration auf vornehmlich militärhandwerkliche Fähigkeiten und Fertigkeiten würde eine demokratische Kontrolle ,von innen‘ nicht nur erschweren, sondern damit zugleich das Ende der Ära des Staatsbürgers in Uniform einleiten. Zwar gibt es weiterhin die Innere Führung, die im Jahr 2008 mit der Herausgabe der neuen Vorschrift ZDv 10/127 aktualisiert und somit ,von oben‘ nochmals bekräftigt wurde. Die Leitkultur der Inneren Führung richtete sich schon in der ,alten‘ Bundeswehr „in radikaler Form gegen den antidemokratischen, eigenbestimmten militärischen Traditionalismus“28 und sollte damit ein Wiedererstarken in der ,neuen‘ Bundeswehr eigentlich verhindern. Doch die Innere Führung hat unter den veränderten Rahmenbedingungen erheblich an Überzeugungskraft verloren, da ihre Kernprogrammatik nach wie vor dem ursprünglichen Konzept entspricht, ohne dass eine grundlegende Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen erfolgte: „Weil dem grundlegenden Strukturwandel der Bundeswehr kein erkennbarer Wandel ihrer Leitkultur folgte, kam die Innere Führung in eine prekäre Lage, die zur Aushöhlung ihres Sinngehaltes und zum eklatanten Stellenverlust in der Bundeswehr beiträgt.“29 Als Freiwilligenarmee und „Instrument deutscher Sicherheitspolitik“30 unterliegt die Bundeswehr dem Trend der militärischen Professionalisierung in Form einer umfassenden Strukturreform, die mit Ausnahme der vorgenannten Leitkultur den gesamten Organisationsbereich der Bundeswehr erfasste. Doch ging es dabei nicht lediglich um marginale Anpassungen einzelner Organisationsbereiche, wie beispielsweise bei den diversen Heeresreformen in den Jahren zuvor. Die Veränderungen betrafen die Bundeswehr vielmehr in ihrem gesamten Wesen, sowohl quantitativ als auch qualitativ, und waren so evident, dass sie damit praktisch einem Neubeginn in den Streitkräften gleichkamen. In der Phase der Identitätsfindung zur neuen Rolle der Bundeswehr erwies sich die Konzeption der Inneren Führung für viele Soldaten als wenig hilfreich, zumal es sich bei den Mannschaften, Unteroffizieren und jüngeren Offizieren überwiegend um eine Generation handelt, die erst nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in eine bereits veränderte Bundeswehr eingetreten ist und damit kaum noch einen Bezug zu den historischen Hintergründen der mit der Inneren Führung verknüpften Ideale besitzt. Die gelebte Organisationkultur wird daher hauptsächlich über die in den Auslandseinsätzen gewonnen praktischen Erfahrungen der Soldaten geprägt. Sie unterliegt insbesondere dem Einfluss des Einsatzes in Afghanistan und der dort relevanten militärischen Feldlager-Subkultur und geht vor dem Hintergrund der dort
27
BMVg (2008). Wiesendahl (2011), S. 16 f. 29 Ebd., S. 18. 30 Weißbuch (2006), S. 70.
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gemachten Erfahrungen eigene Wege.31 Neben der Konfrontation der Soldaten in den Einsätzen mit alltäglicher Gewalt, die als Sozialisationserfahrungen auf ihre Weise die Militärkultur prägt, trägt die zuvor beschriebene Legitimationsproblematik der Einsätze ihren Teil zur Herausbildung einer spezifischen „Einsatzkultur“ bei.32 Die Ziele heutiger Auslandseinsätze bleiben nicht nur für Außenstehende häufig im Unklaren, selbst für Soldaten erschließt sich die Sinnhaftigkeit der von der Politik der Bundeswehr zugewiesenen Aufträge nicht immer sofort und schon gar nicht zweifelsfrei. Insbesondere die oft sehr allgemein formulierten übergeordneten politischen Absichten, wie beispielsweise der für Afghanistan erteilte Auftrag zur ,Stabilisierung und Demokratisierung‘ des Landes, erscheinen angesichts der vor Ort anzutreffenden Einsatzrealität zu abstrakt, als dass sich hieraus konkrete militärische Aufträge ableiten ließen. Mitunter sind Soldaten daher gezwungen, sich auf den professionellen Wesenskern ihrer Tätigkeit zu konzentrieren, um auf diese Weise die Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes zumindest für sich selbst zu erschließen. Auf den Wegen einer sich auf diese Weise entwickelnden geistigen Neuausrichtung in einer vornehmlich einsatzorientierten Bundeswehr ist daher oftmals kein Platz für den Staatsbürger in Uniform, der sich die Sinnhaftigkeit und auch Notwendigkeit seines soldatischen Dienens in der Vergangenheit noch unmittelbar aus dem nationalen (Selbst-)Verteidigungsgedanken erschließen konnte. Diese Leitfigur wird militärintern immer öfter infrage gestellt, von vielen Soldaten als Relikt einer vergangen Epoche und damit als überholt angesehen, oder sie wird schlichtweg durch das Leitbild des Kämpfers ersetzt, weil dieses nach Meinung seiner Befürworter eher den Einsatzerfordernissen und dem Wesenskern des Soldaten entspräche.33 31 Wiesendahl (2011), S. 18; vgl. Tomforde (2010), S. 206 – 212. Nach Elmar Wiesendahl fallen bei der geistigen Neuausrichtung und Identitätsbildung der Streitkräfte hauptsächlich zwei Denkströmungen ins Gewicht, die von ihm als „Sparta“ und „Athen“ bezeichnet werden. Maßgeblich für die Positionierung ihrer jeweiligen Anhänger seien unterschiedliche Perzeptionen des Einsatzbildes, die damit auch die beiden Denkschulen polarisieren. Die Anhänger der Denkschule „Sparta“ sehen die „ neue Einsatzwirklichkeit der Bundeswehr durch Krieg und Kampf geprägt, wie breit und unterschiedlich sich das tatsächliche Einsatzspektrum der Krisenintervention auch immer gestaltet.“ Vgl. Wiesendahl (2011), S. 20. Die Anwendung militärische Gewalt stünde im Mittelpunkt ihres Denken und Handelns, womit sie die Streitkräfte auf ihren eigentlichen Wesenskern zurückführen würden. Die Vertreter der Denkschule „Athen“ gingen dagegen von einem Einsatzszenario aus, das deutlich breiter angelegt ist, indem darin Krisen- und Konfliktbewältigung mit dem Ziel von Gewalteindämmung und nachhaltiger Friedenskonsolidierung im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen würden. Vgl. ebd., S. 19 – 21. Der politische Balanceakt während des Afghanistan-Krieges, die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Luftschlag bei Kunduz, aber auch die Umwandlung der Bundeswehr zur Berufsarmee bestärken Wiesendahls Sorge, dass die Bundeswehr bereits „mit Meilenstiefel auf dem Weg nach Sparta“ sei und damit bei ihrer Identitätssuche eine Entwicklung einschlagen würde, die fatale Folgen für eine „Armee in der Demokratie“ und für die Integration von Bundeswehr und Gesellschaft hätte. Vgl. ebd., S. 21 – 24. 32 Ausführlicher zu den Ausprägungen und theoretischen Hintergründen der „Einsatzkultur (en)“ vgl. Tomforde (2010); s. hierzu auch deren Beitrag in diesem Band. 33 Vgl. Franke (2012a), S. 383 – 398. Die langjährigen Erfahrungen des Verfassers in der Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg bekräftigen diesen Eindruck in
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Eine derartige Entwicklung hätte allerdings fatale Folgen nicht nur für die gesellschaftliche Integration der Streitkräfte, sondern auch für das bisherige Selbstverständnis der Bundeswehr als ,Armee in der Demokratie‘. Steht doch der Staatsbürger in Uniform als Sinnbild und Selbstverständnis einmal für „den frei denkenden wehrhaften Demokraten, der sich vorbehaltlos zur freiheitlichen Werte- und Grundordnung bekennt und als Soldat bereit ist, sein Land zu verteidigen und dessen Werte, insbesondere Frieden, Freiheit und Menschenrechte, zu sichern.“34 Er steht auch als Leitbild und Zielgestalt für „den gebildeten, politisch wachen und interessierten, eigenständigen und rational denkenden Menschen als verantwortungsbewussten Staatsbürger, der die politischen Zusammenhänge begreift, hieraus Rückschlüsse auf sein berufsbezogenes Umfeld ziehen kann und sich den Bedingungen und Folgen seines soldatischen Handelns stets bewusst ist.“35 Eine Abkehr vom Staatsbürger in Uniform durch Rückbesinnung und Reduktion der soldatischen Identität ausschließlich auf Krieg und Kämpfertum bedeutete zugleich auch den Abschied vom Konzept der demokratischen Kontrolle ,von innen‘. 4. Vierte These: Demokratische Kontrolle in multinational geführten Einsätzen fehlt oder ist oft nur unzureichend Unbestritten haben die neuen Risiken und Bedrohungen für Deutschland ihren Ursprung in regionalen und auch globalen Entwicklungen, die oft weit jenseits der eigenen Landesgrenzen liegen. Ihnen wirkungsvoll und nachhaltig zu begegnen, gelingt meist nur durch ein auf Zusammenarbeit abgestimmtes gemeinsames Konzept multinationaler oder internationaler Sicherheit, zumal nationale Einzelaktionen kaum Aussicht auf Erfolg hätten. Zudem stößt angesichts weit gespannter Bedrohungsszenarien und immer enger werdender Haushalte die internationale Sicherheitspolitik rasch an finanzielle Grenzen, was den Zwang zu multinationalen Kooperation noch erhöht.36 Eine umfassende und wirksame Kontrolle des sicherheitspolider Praxis und unterstreichen damit zugleich die These Wiesendahls (2011) von einer geistigen Neuausrichtung der Bundeswehr in Richtung „Sparta“. In zahlreichen Diskussionen und Gesprächen mit militärischen Teilnehmern aus dem Lehrgang General-/Admiralstabsdienst National (LGAN) oder dem Stabsoffizierlehrgang (SOL) haben viele Soldaten unter Berufung auf ihre Einsatzerfahrungen überzeugt die Position vertreten, dass das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform überholt sei und es an der Zeit wäre, sich auch beim soldatischen Selbstverständnis auf den Wesenskern des Militärischen zu konzentrieren. Aufgrund des Primats der Politik – so die entsprechende Begründungslogik – lägen die Entscheidungen für militärische Einsätze einzig und allein in der Verantwortung der Politik, und da es sich hierbei um Entscheidungen handele, die auf legitime Weise zustande gekommen sind, seien sie durch das Militär politisch nicht mehr zu hinterfragen. Aufgabe der Soldaten sei es vielmehr, sich um eine möglichst professionelle Umsetzung des politisch erteilten Auftrags an die Streitkräfte zu bemühen. 34 Franke (2008), S. 282. 35 Ebd., S. 282 f. 36 Vgl. Naumann (2011), S. 11.
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tischen Sektors auf der internationalen Ebene und der multinational geführten Einsätze wäre unter diesen Konstellationen sicherlich eine wünschenswerte und zugleich notwendige Sache; sie stößt jedoch auf zahlreiche, teils unüberwindbare Schwierigkeiten, die vielfach jenseits nationaler und auch internationaler Möglichkeiten stehen. Hans Born bringt das Problem auf den Punkt, wenn er feststellt, dass die demokratische Kontrolle auf der internationalen Ebene „unterentwickelt und unvollständig“ ist: „Internationale oder regionale Sicherheitssysteme wie die Vereinten Nationen oder die NATO verfügen über keine oder nur schwache parlamentarische Gremien, was zu einem demokratischen Defizit auf internationaler Ebene führt.“37 Darüber hinaus würden viele nationale Parlamente kaum wissen, so seine These, welche Haltungen ihre Vertreter in internationalen Organisationen gegenüber Friedensmissionen einnehmen. Durch das Fehlen oder die Schwäche internationaler Organisationen in Verbindung mit den schwachen nationalen Kontrollen würde es dadurch sogar zu einem „doppelten demokratischen Defizit“ (auf nationaler und internationaler Ebene) kommen.38 Als Kontrollorgane auf der internationalen Ebenen dienen internationale und supranationale Vereinigungen und Sicherheitsorganisationen; aus westeuropäischer Sicht zu nennen sind hier in erster Linie die Vereinten Nationen (VN), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Europäische Union und das Atlantische Bündnis (NATO) sowie internationale Gerichtshöfe, wie der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Ständige Internationale Gerichtshof (IStGH), beide mit Sitz in Den Haag. Die Kontrolle dieser Organisationen und Institutionen beschränkt sich zumeist auf die Koordinierung und Legitimierung des Gebrauchs von internationaler militärischer Gewalt. Angesichts souveränitätspolitischer Hürden, vieler nationaler Vorbehalte und Eigeninteressen einzelner Mitgliedsstaaten beispielsweise im Sicherheitsrat, Uneinigkeiten in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Nichtanerkennung oder Nichtbeachtung von Beschlüssen und Verfügungen des Internationalen Gerichtshofes (selbst durch Mitgliedsstaaten) gerät selbst diese zu keiner leichten Aufgabe. Weltpolitisch bedeutsame Konflikte, wie beispielsweise in Libyen, Syrien oder zuletzt in der Ukraine, decken schonungslos die Grenzen dieser Einrichtungen und ihre Schwächen als internationale Kontrollorganisation auf. Eine parlamentarische Kontrolle über internationale Sicherheitspolitik und über Streitkräfte in Friedensmissionen auf der internationalen Ebene gestaltet sich zudem schwierig, da entsprechende Gremien hierfür entweder nicht existieren oder sie durch unzureichende Sanktionsmöglichkeiten (Beispiel: Europäisches Parlament) zu schwach ausgeprägt sind. Eine internationale demokratische Kontrolle über die Streitkräfte setzt zudem Bündnisse voraus, die ausschließlich von demokratischen Staaten gebildet werden, deren Streitkräfte eine derartige Kontrolle auch akzeptieren. Ganz abgesehen davon, dass es selbst unter diesen Staaten zu unterschiedlichen Vorstellungen darüber kommt, was unter ,Demokratie‘ und einer entsprechend de37 38
Born (2006), S. 128. Ebd.
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mokratischen Kontrolle der Streitkräfte zu verstehen ist und welche Mindeststandards darin erfüllt sein müssen, nehmen an internationalen Friedenmissionen häufig auch Streitkräfte teil, in deren Ländern demokratische Werte keinen besonders hohen Stellenwert genießen.39 Neben den anzutreffenden, aber nicht unüberwindbaren Struktur- und Organisationsproblemen der demokratischen Kontrolle wird mit dem letztgenannten Aspekt zugleich das derzeit wohl schwierigste, wenn nicht gar unlösbare Problem der demokratischen Kontrolle über multinational geführte Einsätze aufgeworfen, wodurch zugleich das normative Dilemma in dieser Frage deutlich gemacht wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Kontrollen ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung für Effektivität und damit auch Effizienz dieser Maßnahmen auf der supranationalen Ebene. Da das Verständnis und die Vorstellungen zur Ausübung der demokratischen Kontrolle – wie aufgezeigt – nationalspezifischen Einflüssen unterliegen und damit sehr unterschiedlich ausfallen, dürften in diesen Fragen, insbesondere bei der faktischen Ausübung solcher Kontrollen, vorerst wohl keine wesentlichen Fortschritte oder gar Durchbrüche zu erwarten sein, auch wenn eine stärkere Verantwortung internationaler Gremien bei der Ausübung demokratischer Kontrolle unbestritten wünschenswert wäre. Als Konsequenz kommt der nationalen demokratischen Verantwortung damit auch auf der supranationalen Ebene eine gleichsam unverändert hohe Bedeutung zu. Für Deutschland unterstreicht diese Erkenntnis nochmals die Forderung nach einer Überprüfung und Intensivierung der demokratischen Kontrolle über die Sicherheitsorganisation des eigenen Landes.
III. Fazit: Plädoyer zur Wiederbelebung einer umfassenden demokratischen Kontrolle In den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland wurde die neu aufzustellende Bundeswehr einem gesellschaftspolitischen Konzept unterstellt, bei dem sie als ,Armee in der Demokratie‘ militärische Schlagkraft und demokratische Zivilität in sich zu vereinigen hatte. Einmal aufgrund der historischen Erfahrungen mit einem von deutschen Streitkräften geplanten und durchgeführten Vernichtungskrieg und zum zweiten wegen der noch jungen freiheitlich-liberaldemokratischen Verfassung, welche die vitalen Grundrechte eines jeden Menschen an oberste Stelle setzte, wurde von Anbeginn das System und der Gebrauch von militärischer Gewalt in Deutschland einer doppelten externen wie internen demokratischen Kontrolle unterworfen, die auf dreifache Weise abgesichert wurde. Neben der politischen und parlamentarischen Kontrolle von oben (Regierung und Parlament) und einer demokratischen Kontrolle von unten (zivile Öffentlichkeit und deren Kommunikationsmedien) sollte eine demokratische Kontrolle von innen (Selbstkontrolle des Militärs) der Abschottung des Militärs von der Gesellschaft und der Herausbildung eines militärischen Ei39
Vgl. von Bredow (2003), S. 52.
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genlebens entgegenwirken. Das Konzept demokratischer Kontrolle in Deutschland baut daher auf die politische und soziale Integration des Militärs in Staat und Gesellschaft sowie auf eine militärische Organisationskultur (Innere Führung), bei der demokratische Werte mit den militärischen Erfordernissen in Einklang gebracht und nicht als ,unmilitärisch‘ abgetan werden sollen. Der enge Schulterschluss zwischen Armee und Gesellschaft sollte über die Wehrpflicht erzeugt werden. Die Verteidigung des Vaterlandes wurde damals als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe deklariert, die die Bande zwischen ziviler und militärischer Welt enger zu knüpfen verhalf; gleichzeitig sollte mit den Wehrpflichtigen ein ziviler Geist in die Bundeswehr Einzug erhalten. Mit der Jahrtausendwende haben sich die Rahmenbedingungen für Politik, Gesellschaft und Militär derartig verändert, dass die bisherigen Maßnahmen und Instrumente im deutschen Konzept demokratischer Kontrolle nur noch zum Teil greifen. Aus diesem Grunde ist dringend Handlungsbedarf angezeigt, der in einer Revitalisierung und Erweiterung der demokratischen Kontrolle zum Ausdruck kommen müsste. Es gibt gleich mehrere Gründe, die eine Renaissance und Neujustierung der demokratischen und parlamentarischen Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik in Deutschland erforderlich machen: Der erste betrifft die geringer werdende Teilhabe und Teilnahme der Gesellschaft an Sicherheitspolitik und militärisch geführten Einsätzen. Zwar zeigte die Bevölkerung in Deutschland immer schon ein distanziertes Verhältnis zur Bundeswehr; eine gesellschaftliche Teilhabe war aber über die damalige vergleichsweise hohe Präsenz der Streitkräfte in der Fläche und im öffentlichen Leben insbesondere über die Wehrpflicht zwangsläufig gegeben. Zudem war ein Bedrohungsempfinden der Bevölkerung durch die innerdeutsche Grenzziehung und die hohe Präsenz der in Westdeutschland stationierten alliierten Streitkräfte allgegenwärtig, wodurch eine persönliche Betroffenheit beim Bürger erzeugt wurde. Der Auftragswandel der Bundeswehr und die jüngste Strukturreform mit der Verabschiedung von der Wehrpflicht und der Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee führen gewissermaßen zu einer ,Privatisierung‘ der Streitkräfte und ihrer Einsätze durch den Staat (zumindest in der Perzeption der Gesellschaft), die damit nicht mehr länger einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung und Teilhabe unterliegen.40 Mit Blick auf die Erfahrungen unserer europäischen Nachbarstaaten, die sich im Gegensatz zu Deutschland schon einige Jahre früher von der allgemeinen Wehrpflicht verabschiedet haben, dürfte dieser Effekt – wie bei diesen auch – eine weitere Vergrößerung der bereits vorhandenen Distanz zwischen Bundeswehr und Gesellschaft zur Folge haben.41 An Reaktionen und Vorschlägen an die Adresse der Politik, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, mangelt es nicht. Unter anderem wird hierzu die Empfehlung ausgesprochen, Auslandseinsätze nicht länger als Selbstzweck darzustellen und einfach hinzunehmen. Vielmehr müssten diese an den verteidigungs- und friedens40 41
Vgl. Naumann (2009), S. 79. Vgl. Franke (2012b), S. 366; Kilper (2011); Biehl/Giegerich/Jonas (2011).
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politischen Auftrag des Grundgesetzes rückgebunden und in die Institutionen bundesdeutscher Politik zurückgeholt werden.42 Der zweite Grund für die Notwendigkeit, das bisher etablierte System demokratischer Kontrolle der Streitkräfte einer Revision zu unterziehen, betrifft den Umbau der Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee. Ist eine Freiwilligenarmee schwerer zu kontrollieren als eine Wehrpflichtarmee? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, auch wenn der Trend zur Aufhebung der Wehrpflicht in vielen westeuropäischen Ländern nach der Jahrtausendwende sich zunehmend durchsetzte und Beobachter dieser Entwicklung dieses schon seit längerem befürchten.43 Mittlerweile wurde die Wehrpflicht in den meisten europäischen Ländern ausgesetzt oder abgeschafft.44 Für die These spricht, dass es sich bei Freiwilligenarmeen im Gegensatz zu Wehrpflichtenstreitkräften um geschlossene Systeme handelt. Dies trifft auch für die Bundeswehr zu. Zwar unterliegt das Ergebnis ihres Wirkens auch weiterhin der Kontrolle durch Politik und Öffentlichkeit und kann als Output durch diese bewertet werden. Was jedoch innerhalb dieses geschlossenen Systems passiert oder wie diese Leistung zustande gekommen ist, wird dabei nicht transparent gemacht. Die Bundeswehr läuft unter diesen Bedingungen leicht Gefahr, innerhalb der Gesellschaft zu einer ,black box‘ zu geraten. Die über die allgemeine Wehrpflicht zumindest strukturell verankerte soziale Öffnung der Streitkräfte gegenüber der Gesellschaft ist mit dem Wandel zur Freiwilligenarmee weitgehend verschwunden, und damit auch die soziale und ideelle Breite der Gesellschaft, die über die Wehrpflichtigen in der Bundeswehr zumindest ansatzweise vertreten war.45 Mit dem Wegfall der Wehrpflicht und der Umstellung der Bundeswehr zur Freiwilligenarmee fallen wichtige Integrationsmechanismen fort. Insofern bedarf es neuer integrationstheoretischer Überlegungen und Maßnahmen, die sich nicht nur in einem zeitlich engen Zusammenhang mit der jetzigen Strukturreform erschöpfen sollten, sondern mit denen eine auch auf die neuen Bedingungen ausgerichtete Entwicklung einer spezifischen Militärkultur wirkungsvoll begleitet werden kann. Fest steht bereits jetzt, dass eine Bundeswehr als Freiwilligenarmee, sofern sie im Bewusstsein der Gesellschaft künftig als undurchsichtige und undurchlässige Einrichtung wahrgenommen würde, es schwer haben dürfte, die von politischer Seite immer noch vorgegebene gesellschaftliche Integrationsforderung zu erfüllen.46 Gegen die These einer erschwerten demokratischen Kontrolle spricht, dass Freiwilligenarmeen gewöhnlich einer professionellen Selbst42
Vgl. Kommission „Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ (2011), S. 4. Vgl. Born (2006), S. 125. 44 Bis 1989 hatte nur Großbritannien eine Freiwilligenarmee, sämtliche anderen europäischen Länder verfügten über Wehrpflichtigenstreitkräfte. Im Jahre 2012 hatten sich dagegen 22 von 30 betrachteten Ländern in Europa von der Wehrpflicht verabschiedet und sind zu Freiwilligenstreitkräften übergegangen. Deutschland und Griechenland gehörten mit zu den letzten Ländern, die diesen Wechsel vollzogen haben. Vgl. Franke (2012a), S. 225. 45 Schließlich hat die Bundeswehr in der Vergangenheit rund 70 Prozent ihres Nachwuchsen an Zeit- und Berufssoldaten aus den Wehrpflichtigen rekrutiert. 46 Franke (2012b), S. 376. 43
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kontrolle unterliegen und sie diese wie andere Professionsberufe auch als Eigenkontrolle praktizieren. Gehorsam und Loyalität gegenüber den politischen Institutionen, der Verfassung und den Gesetzen wird heutzutage als ethische Grundhaltung eines jeden Berufssoldaten vorausgesetzt.47 Doch dieser Gedankengang entspricht weitgehend einem exklusiven Ansatz zivil-militärische Beziehungen und einer objektiven Kontrolle des Militär, wie sie in den 1950er-Jahren von Huntington entworfen wurden und mit der eine apolitische Haltung beim Soldaten einhergeht.48 Mit dem Integrationskonzept der Inneren Führung und dem Selbstverständnis vom Staatsbürger in Uniform ist diese Vorstellung allerdings nicht vereinbar, auch wenn die gelebte Organisationskultur der Bundeswehr in diese Richtung zu gehen scheint. Für eine künftige demokratische Kontrolle von innen müsste daher zunächst gesellschaftspolitisch (nicht militärisch) geklärt werden, wie das innere Gefüge der Bundeswehr künftig auszusehen hat. Bis dahin bedarf die Bundeswehr einer umso intensivierten externen demokratischen Kontrolle sowie der Begleitung der sich derzeit entwickelnden Militärkultur durch eine aufmerksame Öffentlichkeit. Die bisher bestehenden Konzeptionen demokratischer Kontrolle zu überdenken, erscheint drittens schließlich aufgrund des gestiegenen Bedarfs an demokratischer Begleitung und Überwachung sicherheitspolitischer Entscheidungsprozesse erforderlich. Die Bundeswehr galt über Jahrzehnte hinweg in Deutschland als Institution, die das Monopol der Gewaltanwendung ausschließlich zum Erhalt staatlicher Souveränität und zum Schutz von Staat und Bürgern innehatte.49 Der Einsatz bewaffneter Gewalt war aufgrund der verfassungsrechtlich legitimierten Zweckbestimmung eindeutig geregelt und limitiert. Das Überschreiten dieser Grenzen oder ein Missbrauch bewaffneter Gewalt war allenfalls durch das Militär selbst denkbar. Daher konzentrierte sich die demokratische Kontrolle in Deutschland lange Zeit ausschließlich auf das Militär. Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung hat sich auch die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik Deutschlands verändert. Die Begriffe Sicherheit und Verteidigung wurden jetzt als Anpassung an die regionalen und globalen Entwicklungen in den Folgejahren deutlich weiter gefasst. Bei der Abwehr neuer Risiken und Bedrohungen für Deutschland geht es nicht mehr ausschließlich um das elementare Interesse an der Bewahrung von Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger Deutschlands und der Unversehrtheit des Staatsgebietes, sondern um neue Herausforderungen wie die Krisenvorsorge in entfernten Regionen, die Terrorismusbekämpfung oder den freien und ungehinderten Welthandel, die ebenfalls als nationale Interessen hervorgehoben werden.50 Die Bundeswehr in ihrer neuen Rolle als Einsatzkräfte ist damit ein ,roleplayer‘ unter mehreren. Bewaffnete Gewalt gerät damit zum „sicherheitspolitischen Kapital“51 der Exekutive (Regierung), die über 47
Vgl. Born (2006), S. 130. Vgl. Huntington (1981 [1957]); s. hierzu auch den anderen Beitrag von mir in diesem Band. 49 Vgl. auch Born (2006), S. 128. 50 Vgl. Weißbuch (2006), S. 28. 51 Biehl (2008), S. 13. 48
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deren Einsatz aus der politischen Interessenlage heraus entscheidet. Problematisch für die Legitimierungen der weltweiten Einsätze ist allerdings, dass der Interessenbegriff in den sicherheitspolitischen Dokumenten (Weißbuch von 2006 und auch schon in dem von 1994) äußerst „schwammig“52 verwendet wird und aus dem aktuellen Grundlagendokument nicht detailliert hervorgeht, wo und wann ein Streitkräfteeinsatz zwingend notwendig ist und wo und wann es zur Schadensabwehr erforderlich wäre, auch zivile Mittel einzubeziehen oder lieber ganz auf das Militär zu verzichten.53 Die deutsche Sicherheitspolitik unterliegt damit bei der demokratischen Kontrolle gleich einem doppelten Defizit. Zum einem wird aufgrund der im Weißbuch wenig detaillierten Aussagen eines Streitkräfteeinsatzes zur Wahrung und Durchsetzung deutscher Interessen die zweifelsfreie Legitimierung der militärisch geführten Einsätze erschwert. Zum anderen zeigt die deutsche Bevölkerung kaum Interesse weder an den als ,deutsch‘ deklarierten Interessen noch am Sinn und Zweck von Bundeswehreinsätzen, was im umgekehrten Fall den öffentlichen Druck auf die Entscheidungsträger und die Legitimierungsnotwendigkeit derartiger Einsätze deutlich erhöhen könnte. Eine demokratische Kontrolle der Sicherheitspolitik durch die Gesellschaft erfolgt allenfalls noch über die Medien als politische Öffentlichkeit sowie über die „aktive Öffentlichkeit“54, welche die Gruppe der politisch informierten und bewusst handelnden Bürgerinnen und Bürger beschreibt, die aber allenfalls einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmacht. Demokratische Kontrolle von Sicherheitspolitik und Streitkräften wird, so scheint es, zunehmend mehr auf die Ebene des Parlaments verlagert. Bleibt zu hoffen, dass die in den politischen Gremien und Ausschüssen beheimateten Akteure sich ihrer besonderen Verantwortung als Mandatsträger bewusst bleiben und die parlamentarische Kontrolle von Sicherheitspolitik und Streitkräften angesichts zunehmender Einsätze nicht zur politischen Alltagsroutine verkommt. Literatur Biehl, Heiko (2007): Zustimmung unter Vorbehalt. Die deutsche Gesellschaft und ihre Streitkräfte. In: Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Innere Führung im 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins, Paderborn, S. 103 – 116. – (2008): Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee. Konturen eines gehemmten Wandels. In: Kümmel, Gerhard (Hrsg.): Streitkräfte im Einsatz. Zur Soziologie militärischer Interventionen, Baden-Baden, S. 9 – 20. Biehl, Heiko/Giegerich, Bastian/Jonas, Alexandra (2011): „Aussetzung der Wehrpflicht. Erfahrungen und Lehren westlicher Partnerstaaten“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ), Heft 48, S. 31 – 38.
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Meyer (2007), S. 2. Vgl. ebd., S. 32. 54 Etzioni (2009), S. 193. 53
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Born, Hans (2006): Demokratische Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik. In: Gareis, Sven Bernhard/Klein, Paul (Hrsg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft; 2., akt. u. erw. Aufl., Wiesbaden, S. 125 – 134. Bredow, Wilfried von (2003): Neue Rollen für die Streitkräfte und das Konzept der demokratischen Kontrolle; in: Odenthal, Hans W./Bangert, Dieter E. (Hrsg.): Demokratische Kontrolle von Streitkräften, Bonn, S. 35 – 54. Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin. – (2008): ZDv 10/1 – Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr, Bonn. Croissant, Aurel/Kühn, David (2011): Militär und zivile Politik, München. Etzioni, Amitai (2009): Die aktive Gesellschaft. Eine Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse, Wiesbaden. Franke, Jürgen (2008): Das Menschenbild der Inneren Führung. In Bayer, Stefan/Stümke, Volker (Hrsg.): Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin, S. 273 – 292. – (2012a): Wie integriert ist die Bundeswehr? Eine Untersuchung zur Integrationssituation der Bundeswehr als Verteidigungs- und Einsatzarmee, Baden-Baden. – (2012b):Gesellschaftliche Integration und demokratische Legitimation der „neuen“ Bundeswehr. In: Möllers, Martin H.W./van Ooyen, Robert Chr. (Hrsg.): Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2012/2013, Frankfurt a. M., S. 365 – 378. Huntington, Samuel P. (1981 [1957]): The Soldier and the State: The Theory of Civil-Military Relations, Cambridge. Kilper, Tanja (2011): Diktat der Mehrheit: Beispiel Niederlande. Zur Entfremdung von Politik, Militär und Gesellschaft und deren Folgen. In: if – Zeitschrift für Innere Führung, Heft 2, S. 37 – 42. Köhler, Horst (2005): Einsatz für Frieden und Sicherheit. Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 10. Oktober 2005 in Bonn, http:// www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_ Rede.html (letzter Zugriff: 01. 04. 2014). Kommission „Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ (2011): Strukturreform reicht nicht – Bundeswehrreform braucht Politikreform, IFSH, http://www.ifsh.de/pdf/pro fil/Strukturoptimierung.pdf (letzter Zugriff: 30. 11. 2014). Kümmel, Gerhard (2003): Wer wacht über die Wächter? Streitkräfte, Staat und Gesellschaft in Deutschland – eine sozialwissenschaftliche Perspektive. In: Odenthal, Hans W./Bangert, Dieter E. (Hrsg.): Demokratische Kontrolle von Streitkräften, Bonn, S. 63 – 76. Mannitz, Sabine (2007): Der Funktions- und Legitimationswandel der Bundeswehr und das „freundliche Desinteresse“ der Bundesbürger. In: Schoch, Bruno/Heinemann-Grüder, Andreas/Hippler, Jochen/Weingardt, Markus/Mutz, Reinhard (Hrsg.): Friedengutachten 2007, Berlin, S. 39 – 50.
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Militär und Krieg in der postheroischen Gesellschaft: Implikationen einer Krisendiagnose zivil-militärischer Beziehungen Von Nina Leonhard
I. Einleitung Militär und Krieg gehörten hierzulande lange Zeit zu den Randbereichen soziologischer Reflexion. Wenig erstaunlich ist es daher, dass dieses Themenfeld auch in einschlägigen Überblicksbänden zu soziologischen Gesellschaftsbegriffen1 oder soziologischen Gegenwartsdiagnosen2 bislang keine Rolle spielte. Umso aufschlussreicher ist die Beobachtung, dass seit einigen Jahren in der Forschungsliteratur ebenso wie in politischen Kommentaren und im Feuilleton im Zusammenhang mit Militär und Krieg immer wieder von Deutschland als ,postheroischer Gesellschaft‘ die Rede ist. Zentraler Referenzpunkt hierfür sind die öffentlich breit rezipierten Arbeiten des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler. Abgeleitet aus der US-amerikanischen Debatte um „casualty shyness“ und „postheroic warfare“3 hat er den Begriff des Postheroischen in seinen Arbeiten über den Wandel des Krieges4 aufgegriffen und so entscheidend dazu beigetragen, diesen im Verlauf des letzten Jahrzehnts in der Semantik der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu verankern. Die Existenz einer solchen die zivil-militärischen Beziehungen betreffenden Zeitdiagnose illustriert vor dem Hintergrund des Wandels der Bundeswehr von einer ,Verteidigungsarmee‘ zu einer ,Armee im Einsatz‘5 den veränderten Stellenwert des Militärischen in der Bundesrepublik. Zugleich deutet sie auf einen Paradigmenwechsel im Bereich der Sozialwissenschaften hin: Militär und Krieg sind dabei, zu einem nicht nur empirisch untersuchten, sondern auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht anerkannten und in diesem Sinne ,legitimen‘ sozialwissenschaftlichen For1
Kneer/Nassehi/Schroer (2000 [1997]; 2001). Schimank/Volkmann (2007 [2000]); Volkmann/Schimank (2006 [2002]). 3 Die These einer „postheroischen Kriegführung“ („postheroic warfare“) wurde Mitte der 1990er-Jahre in prominenter Weise von Luttwak (1995) eingeführt. Zur Frage der besonderen Opferscheu („casualty shyness“ bzw. „casualty aversion“) westlicher Demokratien s. die Ausführungen von Smith (2005) sowie den Überblick bei Kümmel/Leonhard (2004), S. 134 ff., mit entsprechenden Literaturverweisen. 4 Z. B. Münkler (2006; 2008; 2012). 5 s. hierzu z. B. Biehl (2008). 2
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schungsfeld zu werden.6 Auf die Hintergründe dieses Wandels soll hier nicht weiter eingegangen werden. Eine wissenssoziologische Perspektive einnehmend, gilt das Augenmerk vielmehr dem Bedeutungsgehalt der mit der Begrifflichkeit des Postheroischen verknüpften Analyse. Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen zielen darauf ab, allgemeine Entwicklungstrends zu identifizieren, welche die gesellschaftliche Ordnung insgesamt prägen, und diese durch einen bestimmten Begriff auf den Punkt zu bringen. ,Erfolgreich‘ sind sie dann, wenn sie den sogenannten Zeitgeist treffen und zu Leitbegriffen öffentlicher Selbstverständigung werden7 – wie dies auch bei dem hier betrachteten Beispiel der Fall ist. Folgt man Matthias Junges Überlegungen zum sozialen Gebrauch der Metapher, lässt sich eine derartige begriffliche (Er)Fassung sozialer Phänomene als metaphorisches Handeln verstehen: Metaphern implizieren die Übertragung einer Bedeutung auf etwas anderes8 und schlagen auf diese Weise „eine Struktur der Orientierung in den Raum möglicher Handlungen“.9 Eine solche Übertragung liegt bei zeitdiagnostischen Gesellschaftsbegriffen insofern stets vor, als ,Gesellschaft‘ in materiell anfassbarem Sinne an sich nicht existiert, sondern erst durch den kommunikativen Bezug darauf zu einem Teil sozialer Wirklichkeit werden und eine bestimmte Wirkung entfalten kann. Die Wahl einer Metapher – hier: die der postheroischen Gesellschaft – eröffnet „jeweils den Zugang zu einer bestimmten Welt“, wodurch zugleich „alle anderen möglichen Welten (…) dadurch eingeklammert und zurück gestellt“ werden.10 Eine durch bestimmte Begrifflichkeiten veranschaulichte Zeitdiagnose schafft mit anderen Worten soziale ,Tatsachen‘, da dadurch – um das berühmte Thomas-Theorem11 aufzugreifen – eine bestimmte Situationsdefinition vorgenommen wird, an der sich das Handeln orientiert und so reale Konsequenzen zeitigt. 6 Zur „Kriegsverdrängung“ speziell in der Sozialtheorie s. Joas/Knöbl (2008). Als Beleg für das neuerliche sozialwissenschaftliche Interesse an Fragestellungen, die Militär und Krieg betreffen, sei auf die Reihe von Überblicksdarstellungen und Sammelbänden verwiesen, die in den letzten Jahren entstanden sind, wie z. B. Knöbl/Schmidt (2000); Kernic (2001); Heins/ Warburg (2004); Gareis/Klein (2006 [2004]); Apelt (2010); Croissant/Kühn (2011); Leonhard/Werkner (2012 [2005]); Spreen/Trotha (2012a). Zu den mittlerweile entstandenen sozialtheoretisch fundierten Ansätzen einer Soziologie des Krieges s. etwa die Arbeiten von Spreen (2008), Warburg (2008), Kruse (2009) oder Kuchler (2013). 7 Darüber, inwiefern zeitdiagnostische Beschreibungen eine mittels sozialwissenschaftlicher Methoden empirisch belegbare ,Realität‘ abbilden, ist damit noch nichts gesagt. Entscheidend für den Erfolg einer durch eine bestimmte Begrifflichkeit auf den Punkt gebrachten Zeitdiagnose ist vielmehr, dass sie im Rahmen öffentlicher Selbstverständigungsdiskurse aufgegriffen und verwendet wird. 8 Junge (2010), S. 269 et passim. 9 Ebd., S. 271. 10 Ebd., S. 272. 11 „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ („Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“) Thomas (1928), S. 572.
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An diese sozialkonstruktivistische Prämisse anknüpfend, möchte ich mit Blick auf die Rede von der postheroischen Gesellschaft im Folgenden der Frage nachgehen, welche Definition der zivil-militärischen Beziehungen mit der von Münkler geprägten Begrifflichkeit vorgenommen wird – und welche anderen möglichen Interpretationen bezogen auf das Militär und seine gesellschaftliche Verortung dadurch beiseite gerückt werden. Hierfür werde ich zunächst auf den Begriff des Postheroischen und den damit verbundenen Bedeutungsraum eingehen und aufzeigen, dass Militär und Krieg dabei wichtige, aber keinesfalls die einzigen geläufigen Bezugspunkte sind (Kap. II.). Im Anschluss daran erfolgt eine Diskussion der Implikationen, die speziell mit einer Bewertung der zivil-militärischen Beziehungen aus einer postheroischen Perspektive einhergehen (Kap. III.), wobei die Aspekte, die durch dieses Deutungsangebot sichtbar gemacht werden, denen gegenüber gestellt werden, die so aus dem Blickfeld geraten. Ziel ist es zu zeigen, dass mit der Rede von der postheroischen Gesellschaft die Verantwortung für die seit einigen Jahren öffentlich wiederholt beklagte ,Entfremdung‘ zwischen Militär und ziviler Umwelt vorrangig auf Seiten der Gesellschaft verortet wird. Die spezifischen Bedingungen einer durch die Auslandseinsätze bedingten „Remilitarisierung“12 der Bundeswehr ebenso wie die Frage nach deren politischer Legitimität werden dabei ausgeblendet. Genau darin liegt die namentlich in militäraffinen Kreisen zu beobachtende Popularität dieses Konzepts und daran angelehnter Vorstellungen. Demgegenüber soll unter Rückgriff auf die zuvor erwähnten alternativen Deutungen abschließend ein Vorschlag für eine erweiterte postheroische Perspektive auf die zivil-militärischen Beziehungen skizziert werden.
II. Zum Begriff des Postheroischen Wenn man die Begriffe ,postheroisch‘ und ,Postheroismus‘ in eine der Suchmaschinen im Internet eingibt, erhält man ganz unterschiedliche Treffer: Da geht es um „postheroische soziale Bewegungen“13, um „postheroischen Unterricht“14, aber auch um den (Status)Verlust militärischer Helden und den Aufstieg von Helden des Alltags15. Auch im Bereich der Sozialwissenschaften hat man die Metapher des Postheroischen in den letzten Jahren verschiedentlich aufgegriffen. Zwischen den jeweiligen Anwendungsformen gibt es allerdings kaum wechselseitige Bezugnahmen, obgleich durchaus Gemeinsamkeiten festzustellen sind. Betrachtet man vor diesem Hintergrund den Handlungskontext, der dabei in den Blick genommen wird, lassen sich im Wesentlichen zwei zentrale, nämlich eine auf alltägliches und eine auf außeralltägliches Handeln bezogene Verwendungsweisen unterscheiden. Letztere, die unter anderem durch die Arbeiten von Münkler repräsentiert wird, steht in Rela12
Haltiner (2004). Jungle World vom 14. 07. 2011. 14 Taz vom 17. 04. 2013. 15 Taz vom 28. 08. 2013; Cicero vom 15. 01. 2014.
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tion zu Fragen von Militär und Gewalt, Tod und Sterben und wird daher im Folgenden als ,kriegerische‘ Fassung des Postheroischen bezeichnet; im anderen Fall stehen dagegen ,zivile‘ Handlungs- und Erfahrungskontexte im Vordergrund. Beide Varianten werden in den nächsten beiden Abschnitten kurz vorgestellt. 1. Die zivile Fassung des Postheroischen Soweit ich sehen kann, wird der Begriff des Postheroischen in prominenter Weise erstmals von Dirk Baecker in seinem „Vademecum“ zum „postheroischen Management“ verwendet.16 Es handelt sich um ein Plädoyer für die Abkehr von der unternehmerischen Orientierung an einer heldengleichen, d. h. einsam an der Spitze stehenden und alle wichtigen Entscheidungen treffenden Führungspersönlichkeit. Spätestens in einer zunehmend global agierenden und sich beschleunigenden Welt, so die damit verbundene These, sei unternehmerisches Handeln, das sich nach einem solchen Führungsleitbild ausrichtet, obsolet geworden. Notwendig sei daher ein neuer, ,postheroischer‘ Führungstypus. Baecker beschreibt diesen als einen Manager, der sich in erster Linie als Teil einer Gruppe und weniger als ,heroischer‘ Macher denn als Ermöglicher sieht in dem Bewusstsein, dass in einer komplexen Welt wie der heutigen nichts sicher ist. Wohlwissend, dass es auch anders sein könnte, trifft er Entscheidungen, die er deshalb auch wieder zu revidieren bereit ist. „Postheroisches Management ist so gesehen nichts anderes als ein Management, das sein Heldentum nicht mehr in der Verfügung über Kapitalvermögen und einer Inszenierung entsprechender Risikobereitschaften und Verantwortung sucht, sondern einen neuartigen Spürsinn für die sachlichen und sozialen Dimensionen der Organisation von Arbeit und der Verteilung von Verantwortlichkeit entwickelt, die damit einher geht. Das geht nur unheroisch, weil grandiose Gesten nicht geeignet sind, andere zur Mitarbeit anzuregen.“17
Baeckers postheroischer Manager lässt sich folglich als eine Art Krisenheld beschreiben – als jemand, der in der Lage ist, unter den Bedingungen grundsätzlicher Unsicherheit sowohl entscheidungs- als auch anpassungsfähig zu bleiben, ohne sich übermäßig gegenüber anderen zu profilieren, und der genau dadurch eine Führungsfunktion erfüllen kann. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Uwe Schimank, der den Begriff des Postheroischen mit Bezug zur Politik verwendet.18 Wie Baecker für den Manager in der Welt der Unternehmen konstatiert Schimank ein Ende des Heroischen für die im Feld der Politik handelnden Akteure. Er hebt in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Erosion von Vorstellungen einer (unbegrenzten) politischen Gestaltungsmacht ab, wie sie angesichts jüngster Krisen – wie z. B. die des Euro – und der dort zu beobachtenden Komplexität nochmals verstärkt zutage getreten seien. Schimank plädiert vor diesem Hintergrund für ein verändertes – ,posthe16
Baecker (1994). Ebd., S. 18 f. 18 Schimank (2011).
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roisches‘ – Verständnis von Politik und politischer Entscheidungspraxis, das er mit dem Begriff ,Coping‘ zu fassen versucht. Postheroisches (politisches) Handeln im Sinne von Coping bedeutet demnach, im Wissen um die „exorbitant[e] Komplexität der Entscheidungssituation“ dennoch Entscheidungen auf der Grundlage einer „Rest-Rationalität“ zu treffen, „anstatt sich fatalistisch nur noch treiben zu lassen“.19 Als drittes und letztes Beispiel seien Kaspar Maases Überlegungen zur „postheroischen Generationsbildung“ genannt.20 Maase bezieht sich hier auf Generationsphänomene der 1990er-Jahre. Bei diesen handele es sich – exemplarisch veranschaulicht an der Generation Golf 21 – im Wesentlichen um medial geschaffene Konstrukte, mit denen keine über die generationelle Selbstthematisierung hinausreichenden Ansprüche verbunden seien – anders als noch bei den sogenannten 1968ern, die Maase deshalb als die „letzte heldenhafte Generation in diesem Land“ qualifiziert.22 Wenngleich etwas kritischer konnotiert, wird hier also auch in kultureller Hinsicht mit Blick auf das Postheroische das Moment der Selbstbescheidung angesprochen, das Baeckers postheroischen Manager wie Schimanks postheroisches Coping in der Politik gleichfalls kennzeichnet. Eine postheroische Haltung – so könnte man demnach zusammenfassen – basiert also auf der (bewussten) Distanzierung gegenüber (Ideal)Vorstellungen von exponierten Einzelakteuren, die Machbarkeit, Steuerbarkeit und Zurechenbarkeit verkörpern. Sie setzt stattdessen auf Bescheidenheit, Pragmatismus sowie „nüchterne Ehrlichkeit“23 und steht für ein besonderes Maß an Flexibilität. In diesem Sinne lässt sich die postheroische Haltung als angemessene Antwort auf die Unübersichtlichkeit, Schnelllebigkeit und die dadurch geforderte beschleunigte subjektive Wandlungsbzw. Anpassungsfähigkeit verstehen, wie sie für die heutige (westliche) Moderne – bekanntermaßen auch als „Postmoderne“ oder „Zweite Moderne“ bezeichnet – schon seit langem als kennzeichnend beschrieben wird.24 Zugleich wird in der skizzierten ,zivilen‘ Lesart des Postheroischen das Heroische, ohne jeweils im Einzelnen immer ausbuchstabiert zu werden, mit etwas verbunden, das über sich selbst und das Sein im Hier und Jetzt hinausweist – im Gegensatz zum postheroischen Subjekt, das sich im Kern auf sich und die Welt in alltäglicher Reichweite konzentriert. Solche Vorstellungen finden sich auch in der zweiten, ,kriegerischen‘ Fassung der beiden Begrifflichkeiten. Wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, erfolgt hier durch 19
Ebd., S. 460. Maase (2003). 21 Illies (2000). 22 Maase (2003), S. 78. 23 Schimank (2011), S. 462. 24 s. z. B. Beck (1986; 2007); Rosa (2005). Genau diese These vertritt auch Martin Dornes (2010), wenn er aus psychoanalytischer Perspektive einen Wandel der gesellschaftlichen Psychostruktur hin zur Herausbildung einer „postheroischen Persönlichkeit“ postuliert, die sich „von einer ,heroischen‘ Unterdrückung eigener Impulse ebenso verabschiedet“ habe wie von „einem ,heroischen‘ Aus- und Durchhalten einmal getroffener (Lebens-)Entscheidungen“ und sich daher durch größere Beweglichkeit auszeichne. Vgl. ebd., S. 1009. 20
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die Koppelung mit dem Konzept des Opfers allerdings eine aufschlussreiche Präzisierung und gleichzeitige Zuspitzung der Idee des Heroischen wie des Postheroischen. 2. Die kriegerische Fassung des Postheroischen Eine erste Verwendungsweise des Postheroismus-Begriffs in Bezug auf Militär und Krieg findet sich hierzulande im Kontext der Beschäftigung mit der Entstehung und Entwicklung von Erinnerungskultur(en) in Deutschland sowie in Europa bzw. der (westlichen) Welt. So qualifiziert z. B. der Historiker Martin Sabrow Deutschland als eine „postheroische Gedächtnisgesellschaft“.25 Er hebt damit zum einen auf den „Aufstieg der Erinnerung zur Pathosformel unserer Zeit“26 und die damit verbundene Diskreditierung des Vergessens als mögliche Form des Umgangs mit gewaltbelasteten Erfahrungen ab.27 Zum anderen verweist er auf die Entwicklung öffentlicher Gedenkpraktiken, die sich durch eine „Verschiebung von der Heroisierung zur Viktimisierung“ auszeichne: Anstelle des „kühnen Helden“ konzentriere man sich seit den 1970er- sowie insbesondere seit den 1980er-Jahren auf das „leidende Opfer“.28 Die Verankerung des Wertes der Menschenrechte als zentralen, universalistisch ausgerichteten Bezugspunkt westlicher Kulturen, mit der unter anderem der Holocaust als zentraler erinnerungskultureller Bezugspunkt etabliert wurde, habe für diese Entwicklung eine maßgebliche Rolle gespielt.29 Für den uns hier interessierenden Kontext ist dabei nicht zuletzt die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom (aktiven) Tun – Opfer im Sinne von sacrificium – auf das (passive) Erleiden – Opfer im Sinne von victima – entscheidend:30 Während beim heroischen Gedenken derer gedacht wird, die selbst Opfer erbracht haben, konzentriert sich das postheroische Gedenken vornehmlich auf die (ohne aktives eigenes Zutun) zu Opfern Gewordenen. An dieser Unterscheidung zwischen sich (aktiv) aufopfernden Helden und (passiv) erleidenden Opfern setzt auch Herfried Münkler31 mit seinen Überlegungen zur postheroischen Gesellschaft an, die er, wie anfangs bereits kurz erwähnt, im Rahmen 25
Sabrow (2013). Ebd., S. 312. 27 Vgl. hierzu auch König (2008), S. 44 f. 28 Sabrow (2013), S. 314. 29 Vgl. hierzu auch Assmann (2013), S. 94. Die Folgen dieses Trends der Opferzentrierung werden bereits seit längerem sowohl unter dem Schlagwort der „Opferkonkurrenz“ („concurrence des victimes“) als auch als „Politik der Entschuldigung“ („politics of regret“) diskutiert; vgl. Chaumont (1997) sowie Olick (2007). Speziell in Bezug auf Deutschland konstatiert Sabrow etwa mit Blick auf die Debatte um die deutschen Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs einen ,neuen‘ Opferdiskurs, da dieser anstelle früherer Selbstviktimisierungen auf eine umfassende, die Perspektive der Täter wie Opfer gleichermaßen berücksichtigende Vergangenheitsvergegenwärtigung angelegt sei, die selbst als Ziel betrachtet wird; vgl. Sabrow (2013), S. 321. 30 Zu den verschiedenen Bedeutungskomponenten des Begriffs des Opfers (sich opfern bzw. Opfer werden) s. Münkler/Fischer (2000). 31 Insbesondere Münkler (2006), S. 301 – 354. 26
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seiner Arbeiten zu Wandlungsprozessen im Bereich von Krieg und Kriegführung in Auseinandersetzung mit der entsprechenden US-amerikanischen Forschungsliteratur entwickelt hat. Die in diesem Zusammenhang vorgestellte These lautet, dass westliche Industriegesellschaften wie die Bundesrepublik oder die USA nach dem Zweiten Weltkrieg zu Gesellschaften geworden sind, die durch die schwindende Bereitschaft gekennzeichnet sind, sich (für andere) aufzuopfern und diese Bereitschaft in besonderer Weise zu ehren.32 Das bereits bei Baecker, Schimank und Maase angesprochene ,postheroische‘ Moment der (Selbst)Bescheidung von Handlungsreichweiten wird hier also gewissermaßen als abnehmende bzw. mangelhaft ausgeprägte sakrifizielle Disposition thematisiert. Als Ursachen für diesen Wandel führt Münkler kulturelle, demographische sowie technologische Einflussfaktoren an: In kultureller Hinsicht thematisiert er den im 20. Jahrhundert nochmals beschleunigten Säkularisierungsprozess, d. h. den Bedeutungsverlust von Religion oder religionsähnlichen Weltbildern bzw. Ideologien und somit von kollektiv verbindenden und verbindlichen Ideen und Werten. Das Schwinden solcher religiöser Potenziale habe den Verlust genau jener Ressourcen zur Folge, „die für eine heroische Aufladung einer Gesellschaft unverzichtbar sind.“33 Denn die Bereitschaft, sich für etwas oder jemand anderes aufzuopfern, setze religiöse Überhöhung und somit ein Moment der Transzendenz voraus. In demographischer Hinsicht wird von Münkler die Verringerung der Sterblichkeitsrate durch eine verbesserte Gesundheitsversorgung und einen allgemein höheren Lebensstandard sowie der Trend zur Kleinfamilie mit (nur) ein bis zwei Kindern angeführt, die dafür im Zentrum der materiellen wie ideellen Aufmerksamkeit stehen.34 All dies habe zu einer Aufwertung des Individuums und des Lebens eines jedes Einzelnen zulasten einer dem Kollektiv zugutekommenden Opferbereitschaft beigetragen. In technologischer Hinsicht verweist Münkler schließlich auf die Erfindung der Atombombe, mit der das Ende der Vorstellung eingeleitet worden sei, dass durch das eigene Opfer andere gerettet werden könnten. Das klassische Konzept der Landesverteidigung, das auf der „Idee der Stellvertretung“35 beruht, sei damit ad absurdum geführt worden. Alles in allem sind es jedoch weniger die Ursachen als insbesondere die Folgen dieser Entwicklung, denen Münklers Interesse gilt. Ausgehend von der Feststellung, dass mit dem Ende der Ost/West-Blockkonfrontation ,klassische‘ zwischenstaatliche Kriege durch asymmetrische Konfliktformen (Selbstmordanschläge, Terrorismus) abgelöst worden seien,36 macht er eine Gleichung zwischen Kriegsform und gesellschaftlicher Verfasstheit auf: Je größer das in einer Gesellschaft vorhandene Heroisierungspotenzial ist, das heißt der Grad der gesellschaftlichen Verankerung von 32
Ebd., S. 310 et passim. Ebd., S. 316. 34 Vgl. ebd., S. 318 f. 35 Ebd., S. 313. 36 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Münklers Thesen zum Wandel des Krieges s. die Beiträge in der Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik (2008), Band 19 Heft 1. 33
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(kriegerischem) Heldentum und Opferbereitschaft, desto kriegsbereiter ist demnach diese Gesellschaft – und umgekehrt. Unter kursorischem Rückgriff auf die soziologischen Konzepte von Ferdinand Tönnies37 differenziert Münkler dabei zwischen „heroischen Gesellschaften“, „unheroischen Gesellschaften mit einer kleinen heroischen Gemeinschaft in ihrer Mitte“ und Gesellschaften, die „mit totalitären Mitteln in eine große heroische Gemeinschaft“ umgeformt werden.38 Auf dieser Grundlage entwickelt er eine historisch begründete Gesellschaftstypologie: Den ersten Typus stellen „heroische Gesellschaften“ dar, die den europäischen Nationalstaaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachempfunden sind. Jene zeichneten sich durch patriotischen Überschwang und somit dadurch aus, dass Heldentum und Opferbereitschaft Teil allgemeiner gesellschaftlicher Wertvorstellungen waren. Dieser Typus von Gesellschaft fand laut Münkler spätestens mit dem Ersten Weltkrieg sein Ende. Der zweite, mit totalitären Mitteln in eine heroische Gemeinschaft umgeformte Typus von Gesellschaft wie zur Zeit des ,Dritten Reiches‘ in Deutschland oder die Sowjetunion zur Zeit des Stalinismus ist dadurch gekennzeichnet, dass das Hauptziel des politischen Lebens die bewaffnete Verteidigung der Gemeinschaft und ihre bündnispolitische Expansion darstellt. Dies setzt von jedem Einzelnen eine quasi grenzenlose Verfügbarkeit und uneingeschränkte Opferbereitschaft zugunsten der Gemeinschaft und deren Interessen voraus. Der dritte Typus ist die unheroische Gesellschaft mit einer kleinen heroischen Gemeinschaft in ihrer Mitte, wobei die Grenzen zwischen der Wertorientierung der heroischen Minderheit und der sie umgebenen unheroischen Mehrheit laut Münkler gewahrt bleiben.39 Bei diesem Typus handelt es sich um das Modell westlicher Zivilgesellschaften, wie sie sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs namentlich in den USA und in (West)Europa aus den zuvor skizzierten Gründen entwickelt haben. Als postheroisch bezeichnet Münkler diese Gesellschaften, weil Heldentum und Opferbereitschaft ihre einstige Bedeutung verloren haben.40 Das spezielle Problem postheroischer Gesellschaften besteht Münkler zufolge nun darin, dass diese – im Gegensatz zu den anderen beiden Typen – zwar selbst eine relativ geringe Kriegsbereitschaft aufweisen und damit weitgehend ,ungefährlich‘ sowohl für die Masse ihrer eigenen Mitglieder als auch für andere Gesellschaf-
37 Tönnies (1991 [1887]) führt die Begriffe ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ ein, um zwischen zwei Grundtypen sozialer Bindung zu unterscheiden: Gesellschaft beruht auf dem interessegeleiteten Zusammenschluss von Individuen („Kürwillen“), Gemeinschaft auf der gemeinsamen Orientierung an einem übergeordneten Zweck („Wesenswillen“). Münkler greift diese Unterscheidung zur Benennung seiner Gesellschaftstypen auf, ohne jedoch näher auf die damit verbundenen gesellschaftstheoretischen Überlegungen – Willens- und Bewusstseinsakte der Individuen als Grundlage von sozialer Wirklichkeit – einzugehen. Entsprechend bleiben bei Münkler auch die Konstitutionsbedingungen der je nach Typus unterschiedlich starken sakrifiziellen Dimension im Dunklen. 38 Münkler (2006), S. 329. 39 Vgl. ebd., S. 328 f. 40 Vgl. ebd., S. 310.
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ten sind.41 Zugleich liegt darin ihre besondere Verletzlichkeit gegenüber Angriffen kleiner heroischer Minderheiten begründet, wie sich dies etwa bei den Selbstmordattentätern vom World Trade Center in New York gezeigt habe. Diese erhöhte Verwundbarkeit könnten postheroische Gesellschaften auch durch ihre technologische Überlegenheit nur bedingt kompensieren. Wenn sie ihre eigenen, auf Freiheit und Pluralismus ausgerichteten Grundsätze bewahren wollten, bleibe ihnen nichts anderes übrig, als diesem Dilemma mit „heroische[r] Gelassenheit“ zu begegnen.42 Die außenpolitischen Implikationen, die diese Diagnose umfasst und die auf die besondere Verletzlichkeit ebenso wie die mangelnde Interventionsbereitschaft43 moderner westlicher Gesellschaften abhebt, möchte ich im Weiteren nicht näher diskutieren.44 Vielmehr soll der Fokus auf die innenpolitische Dimension, genauer gesagt: auf die gesellschaftliche Verortung des Militärischen in Deutschland gelegt werden, die mit Münklers These der fehlenden Opferbereitschaft, aber auch mit Sabrows Überlegungen zur Opferzentrierung einhergeht.
III. Implikationen einer postheroischen Zeitdiagnose der zivil-militärischen Beziehungen 1. Stärken eines postheroischen Blicks auf die zivil-militärischen Beziehungen Sabrow sowie insbesondere Münkler beschreiben moderne westliche Gesellschaften wie die Bundesrepublik als Gesellschaften, die sich selbst in erster Linie als Zivilgesellschaften verstehen und Krieg bzw. (staatlich) organisierter Gewaltanwendung gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt sind.45 Sie lenken damit den Blick auf das Dilemma, das hierzulande im Rahmen des Umgangs mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte zutage getreten ist: Einerseits erfordert die für moderne westliche Gesellschaften charakteristische Berufung auf universale Werte und Bündnisverpflichtungen mitunter ein militärisches Engagement jenseits nationalstaatlicher bzw. bündnispolitischer Grenzen. Andererseits besteht aufgrund des zivilen Selbstverständnisses eben dieser Gesellschaften eine Abneigung gegen den Einsatz gewaltvoller Mittel.46 Dass militärisches En41
Vgl. ebd., S. 337. Ebd., S. 354. 43 s. z. B. Wevelsiep (2011). 44 So wäre beispielsweise zu fragen, ob hier nicht letztlich das Bild friedfertiger westlicher Demokratien gegenüber kriegerischer Nichtdemokratien reproduziert wird und/oder inwiefern dies empirisch haltbar ist. Zur Diskussion um die These des „demokratischen Friedens“ s. z. B. Geis (2001); Müller (2002). 45 Zum Konzept der Zivilgesellschaft (im Gegensatz zur „Kriegsgesellschaft“; vgl. Kruse 2009) und seiner Bedeutung unter globalen Bedingungen vgl. Spreen (2012). 46 Vgl. hierzu auch Apelt (2012). 42
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gagement in der heutigen weltpolitischen Konstellation überdies zu einer politischen Option unter mehreren geworden ist, die ergriffen werden kann (oder auch nicht),47 erschwert die politische Legitimation solcher Einsätze zusätzlich. Dies gilt insbesondere dann, wenn Menschen (ob Mitglieder der eigenen Streitkräfte oder Angehörige der Bevölkerung im Einsatzland) dabei zu Schaden kommen, ohne dass der konkrete politische Nutzen deutlich wird – was angesichts der Komplexität aktueller Einsatzszenarien sehr häufig der Fall ist.48 Die Frage nach dem Sinn militärischer Einsätze, die unter diesen Bedingungen grundsätzlich virulent ist, und die Schwierigkeit einer ,postheroischen‘ Gesellschaft, eine angemessene, d. h. kollektiv möglichst breit anschlussfähige Antwort darauf zu finden, zeigten sich besonders deutlich im Rahmen der Debatte um das „Ehrenmal“ der Bundeswehr, das 2009 als zentraler Gedenkort für die Toten der Bundeswehr in der Nähe des Bendlerblocks, dem Sitz des Bundesministeriums der Verteidigung in Berlin, errichtet wurde.49 Die Schaffung eines solchen Ortes war infolge einsatzbedingter Todesfälle unter deutschen Soldaten gewissermaßen notwendig geworden. Denn durch die bis dato bestehenden Gedenkorte nationalen Rangs, welche die Folgen von Krieg und militärischer Gewaltanwendung erinnern (die den „Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ gewidmete Neue Wache sowie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin), wurde das zentrale Merkmal der toten Soldaten der Auslandseinsätze nicht erfasst: dass diese ihr Leben im aktiven Einsatz für ein höheres Gut – wie ,Frieden‘ oder ,Menschenrechte‘ – und nicht als (Gewalt erleidende) Opfer verloren hatten.50 Zugleich ließen die öffentlichen Reden ebenso wie die Stellungnahmen des Ministeriums klar erkennen, wie sehr man Anklänge an das heroische, auf Selbstopferung abzielende Soldatengedenken vergangener Zeiten (in der Weimarer Republik sowie insbesondere während des Nationalsozialismus) vermeiden wollte – gemäß der „Basiserzählung“ der Bundesrepublik, man habe aus der Geschichte gelernt,51 jedoch ohne zu wissen, wie man an die Soldaten und ihre Leistungen jenseits der bekannten historischen Formen des politischen Totenkultes erinnern und ihren Tod somit legitimieren sollte.52 Das dabei zum Ausdruck kommende Problem, das Handeln der Soldaten einschließlich der damit verbundenen tödlichen Konsequenzen symbolisch einzuordnen und zu deuten, illustriert sowohl den von Münkler postulierten Verlust der fraglosen Würdigung (aktiver) Opferbereitschaft
47
Vgl. Biehl (2008), S. 13; Naumann (2008), S. 109 f. In Bezug auf die Frage, ob die Bevölkerungen westlicher Demokratien Opfer grundsätzlich ablehnen oder ob deren Opferscheu nicht (auch) von den (tatsächlich) erreichten bzw. zu erwartenden Zielen abhängt, s. die Überlegungen von Smith (2005); zu den konkreten Einstellungen der europäischen Bevölkerungen in Bezug auf verschiedene Formen militärischer Gewaltanwendung s. den Beitrag von Biehl in diesem Band. 49 Vgl. Hettling/Echternkamp (2008); Leonhard (2011). 50 Leonhard (2011), S. 130. 51 Vgl. Herz (1997), S. 251. 52 Vgl. Leonhard (2011), S. 139. 48
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als auch den von Sabrow beschriebenen Wandel der Orientierung weg vom tapferen Helden hin zum leidenden Opfer. Insbesondere mit Letzterem lässt sich darüber hinaus gut die Sensibilisierung der öffentlichen Berichterstattung über die Afghanistan-Mission für die Belastungen des Einsatzes53 – Stichwort: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) – und somit das erfassen, was der Sozialpsychologe Phil Langer als „Psychopathologisierung“54 gewaltvoller Erfahrungen bezeichnet hat: Soldaten werden in der Öffentlichkeit vornehmlich als physisch oder psychisch Versehrte oder als Getötete thematisiert, um die ihre Hinterbliebenen trauern.55 Im Mittelpunkt steht somit das Leiden der Soldaten bzw. der ihnen Nahestehenden, die entsprechend als Opfer kriegerischer Gewalt (im Sinne von victima) verstanden werden können. Dies wiederum erlaubt es, das zivilgesellschaftliche Selbstverständnis der Bundesrepublik, das in hohem Maße auf Gewaltverzicht beruht, zu bestätigen, da die ,Täter‘-Perspektive so ausgeklammert wird. Durch die Verschärfung der Sicherheitslage in Afghanistan ab 2008, durch die der Einsatz der Bundeswehr auch in der öffentlichen Wahrnehmung zum ,Krieg‘ mutierte, hat sich dies sogar noch verstärkt. Dies zeigte auch die Debatte um die (materielle wie symbolische) Unterstützung von Einsatzrückkehrern bzw. ,Veteranen‘, die seit 2010 durch Interessensverbände ehemaliger Soldaten initiiert und 2011 vom damaligen Verteidigungsminister de Maizière politisch aufgegriffen wurde.56 Ausgehend von der „Gewalt- und Kriegsvergessenheit“57 moderner (westlicher) Gesellschaften lassen sich anhand der Unterscheidung zwischen postheroischer Mehrheit und heroischer Minderheit in Anknüpfung an Münkler schließlich gut die Diskrepanzen zwischen der soldatischen Erfahrungswelt des Einsatzes und den Diskursen über Deutschlands militärisches Engagement in Politik und Öffentlichkeit veranschaulichen, die von politischen Repräsentanten wie von Angehörigen der Bundeswehr wiederholt als ,fehlende gesellschaftliche Anerkennung‘ thematisiert worden sind:58 Mangelhafte gesellschaftliche Unterstützung ist demnach für Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vor allem dann problematisch, wenn diese sich gemäß der Vorgaben der Inneren Führung als ,Staatsbürger in Uniform‘, die ihre Legitimation aus dem politischen Willen und dem Rückhalt der Bevölkerung beziehen, verstehen (sollen), aber das Gefühl haben, dass das, was sie tun, nicht ausreichend gewürdigt wird. Vor allem dieser Punkt erklärt die bereits zur Amtszeit von Verteidigungsminister Franz Josef Jung (2005 – 2009) einsetzende „Identitätspoli53
Vgl. Herzog et al. (2012). Langer (2013). 55 s. hierzu auch den Beitrag von Tomforde in diesem Band. 56 s. hierzu Holle (2014). 57 Spreen/Trotha (2012b), S. 15, Anm. 15. 58 Exemplarisch hierfür ist das vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler (2005) geprägte Wort vom „freundlichen Desinteresse“ der deutschen Bevölkerung gegenüber der Bundeswehr. 54
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tik“59 von militärischen und politischen Akteuren wie dem Bundeswehrverband oder dem Wehrbeauftragten, aber auch der beiden Kirchen (vor allem repräsentiert durch die Militärseelsorge), die darauf abzielt(e), Ausdrucksformen der Anerkennung für Soldaten der Bundeswehr zu institutionalisieren. Neben der schon erwähnten Errichtung des „Ehrenmals“, das explizit mit dem Anspruch verbunden war, die gesellschaftliche Integration der Bundeswehr und ihrer Angehörigen zu versinnbildlichen,60 ließe sich hier auch die Einführung von Auszeichnungen (wie z. B. die seit 2010 bestehende Einsatzmedaille „Gefecht“) anführen, die eine besondere Würdigung der im Einsatz erbrachten Leistungen darstellen sollen. Nicht zuletzt haben diese konkreten identitätspolitischen Bemühungen Niederschlag auf der sprachpolitischen Ebene gefunden, beispielsweise im Ausdruck des ,Gefallenen‘, der, wie Angelika Dörfler-Dierken61 im Einzelnen herausgearbeitet hat, als „Ehrentitel“62 für die gewaltsam im Einsatz ums Leben gekommenen Soldaten seit Oktober 2008 als legitim etabliert wurde. Ebendiese Identitätspolitik, die – folgt man den Ergebnissen der empirischen Einstellungsforschung – an der Haltung der deutschen Bevölkerung in weiten Teilen vorbeigeht,63 lässt zugleich jedoch die Blindstellen erkennen, die mit der Fokussierung auf das zivilgesellschaftliche Selbstverständnis und die damit verbundenen Diskrepanzen zwischen postheroischer (gesellschaftlicher) Mehrheit und heroischer (militärischer) Minderheit einhergehen. Dies wird vor allem deutlich, wenn man den Vergleich zu anderen – älteren – Konzeptualisierungsversuchen der Beziehungen zwischen Militär und (ziviler) Gesellschaft zieht. 2. Blindstellen eines postheroischen Blicks auf die zivil-militärischen Beziehungen Die von Münkler vorgeschlagene Differenzierung zwischen postheroischer Mehrheit und heroischer Minderheit macht auf die Unterschiede zwischen dem Militär und der zivilen Umwelt aufmerksam, die das soziologische Nachdenken über den gesellschaftlichen Ort des Militärs, beginnend mit Auguste Comte, Herbert Spencer und anderen, von Anfang an mitbestimmt haben.64 In der bundesdeutschen Militärsoziologie wurde die zentrale Frage der Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit von Militär und industrialisierter Gesellschaft insbesondere von Wolfgang Vogt um 1980 herum erneut aufgegriffen und mit Blick auf die damalige Situation der Bundewehr 59
Dörfler-Dierken (2010). Vgl. BMVg (2009), S. 43. 61 Dörfler-Dierken (2010). 62 Ebd., S. 152. 63 Zum „Mythos“ des fehlenden gesellschaftlichen Rückhalts, der die Unterschiede zwischen den Einstellungen der Bevölkerung zur Bundeswehr als Institution und den der Bundeswehr übertragenen militär- und sicherheitspolitischen Aufgaben verwischt, vgl. Biehl (2011), S. 78 f. 64 Vgl. Wachtler (1983); Kruse (2010); Joas/Knöbl (2008), S. 93 ff. 60
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eingehend diskutiert.65 Vogt hebt darauf ab zu zeigen, dass sich das Militär aufgrund seiner Funktionslogik in vielfacher Hinsicht von der zivilen Umwelt unterscheidet. Diese Differenzen lassen sich ihm zufolge nicht auflösen, sondern können in demokratisch verfassten Gesellschaften nur ,beherrschbar‘ gemacht werden. Im Kontext der Bundeswehr kommt der Frage nach zivil-militärischen Gemeinsamkeiten und Differenzen zeit ihres Bestehens eine zentrale Bedeutung zu. Denn die Konzeption der Inneren Führung schreibt, wie zuvor bereits angedeutet, die ,Integration‘ des Militärs in Staat und Gesellschaft gewissermaßen vor: um die politische Kontrolle der Streitkräfte aufrechtzuerhalten und deren demokratische Einbindung normativ zu gewährleisten.66 Im Anschluss an die von Münkler und anderen vertretene These, dass postheroische Gesellschaften nicht oder nur bedingt bereit sind, die Opferbereitschaft anderer – hier: der Angehörigen ihrer Streitkräfte – zu würdigen, lässt sich nun eine aufschlussreiche Umkehrung beobachten: Die bis in die 1990erJahre hinein auch in den Sozialwissenschaften hochgehaltene Forderung, das Militär – also die Bundeswehr – müsse sich in die zivile Gesellschaft integrieren und somit an zivilen Werten und Normen orientieren, ist im Verlauf der letzten Jahre zu einer Forderung an die Gesellschaft geworden, sich von der liebgewonnenen Illusion (zivil)gesellschaftlicher Gewaltfreiheit zu lösen und die Realitäten von Gewalt und Krieg anzuerkennen, mit denen ihre Soldatinnen und Soldaten schon seit langem konfrontiert sind. In der mit dem Begriff des Postheroischen verbundenen ,kriegerischen‘ Zeitdiagnose werden mit anderen Worten die zwischen Militär und ziviler Gesellschaft bestehenden Kommunikationsschwierigkeiten, die auf normativen wie funktionalen Differenzen beruhen, auf Seiten der Gesellschaft verortet. Zugespitzt formuliert ist demnach die Gesellschaft, da sie postheroisch geworden ist, ,das Problem‘ und müsste bzw. sollte ihr zivilgesellschaftliches Selbstverständnis korrigieren, um sich auf die realen, d. h. gewaltvollen Gegebenheiten der heutigen Zeit einstellen zu können. Die Seite des Militärs – in der Rolle der heroischen Minderheit verstanden – bleibt dabei jedoch mehr oder weniger ausgespart – so als ob das, was Streitkräfte tun und womit sie beauftragt werden, stets dasselbe war bzw. ist. Dass die Einsätze, an denen deutsche Soldatinnen und Soldaten gegenwärtig beteiligt sind, einen anderen Charakter haben als die zwischenstaatlichen oder auch kolonialen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts, wird durch die Analysen zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Krieges von Münkler und anderen67 gleichfalls anschaulich belegt. In der Militärsoziologie ist der damit einhergehende Wandel des Auftrags und der Aufgaben der Streitkräfte westlicher Demokratien anhand von Schlagwörtern wie „Konstabulisierung“ oder „Hybridisierung“ 65
Vogt (1980). BMVg (2008). Vgl. hierzu auch den Beitrag zur demokratischen Kontrolle in Deutschland von Franke in diesem Band. 67 Inwiefern die asymmetrischen Konfliktformen der Gegenwart historisch tatsächlich ,neu‘ sind, wie die Rede von den „neuen Kriegen“ (Kaldor 2000; Münkler 2002) nahelegt, kann und soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden (s. oben, Anm. 36). 66
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beschrieben worden:68 um herauszustellen, dass Soldaten in heutigen Einsätzen sowohl kämpfen als auch schützen, sowohl drohen und abschrecken als auch verhandeln und moderieren sollen. Ende der 1990er-Jahre wurde dies zeitdiagnostisch anhand des Topos des „postmodernen Militärs“ eingehend diskutiert.69 Anhand der dort verwendeten Begrifflichkeiten lässt sich die Besonderheit des hier diskutierten metaphorischen Gebrauchs des Postheroismus-Begriffs nochmals verdeutlichen: Beim postmodernen Militär liegt das Augenmerk auf den Streitkräften, deren Aufgaben, Strukturen und kulturelle Merkmale sich aufgrund geänderter Bedrohungslagen und gesellschaftlicher Entwicklungen mitunter massiv wandeln. Bei der postheroischen Gesellschaft ist es die Gesellschaft, die sich wandeln muss oder zumindest sollte, während das Militär das macht, was es immer schon gemacht hat: nämlich im staatlichen Auftrag Kriege bzw. (Kampf)Einsätze zu führen, wofür Soldaten ihr eigenes und das Leben anderer riskieren, weshalb ihnen ein besonderes Anrecht auf Ehre bzw. Anerkennung zukommt. Entscheidend für diese gleichsam statische Sicht auf das Militär ist die Qualifikation des Opfers, das deren Mitglieder erbringen: „[D]er Held [ist] keineswegs zwangsläufig ein Krieger; es gibt auch die ,Helden des Alltags‘, deren Heroentum sich nicht im Kampf mit Waffen und in der Tötung des Gegners erweist. Aber die Vorstellung vom Helden ist doch zumeist eng mit Gewalt und Krieg verbunden. In jedem Falle aber ist für die Attribution des Heroischen der Gedanke des Opfers zentral: Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens.“70
Derartige Opfer lassen sich Münkler zufolge als Gabe verstehen.71 Postheroische Gesellschaften könnten mit Gaben dieser Art jedoch nichts anfangen, sondern interpretierten sie stets als eine verdeckte Art des Tausches. Gemäß dieser Logik werden Soldatinnen und Soldaten für die Risiken, die mit den Auslandseinsätzen einhergehen, materiell – durch „Auslandsverwendungszuschlag“ und eventuelle Versorgungsansprüche bei Verwundung und Tod – entschädigt. Da das Risiko für Leib und Leben jedoch materiell nicht aufgewogen werden kann, muss zwangsläufig jeder Versuch der Entschädigung vergebens bleiben.72 Insbesondere die damit angesprochene Idee des existenziellen, eigenes oder fremdes Leben umfassenden Opfers, das Soldaten erbringen, weist eine bemerkenswerte Anschlussfähigkeit auf zu existenzialistischen Vorstellung von Politik als Kampf gegen den Feind und von Krieg als gewaltförmiger Fortsetzung der Politik, wie sie von manchen Soldaten, aber auch einigen Wissenschaftlern neuerdings vertreten werden.73 Eine Überhöhung des Soldatentums und ihrer Träger ist damit nicht not68
Z. B. Haltiner (2001); Haltiner/Kümmel (2008); Kümmel (2012). Z. B. Moskos (2000); von Bredow (2001). 70 Münkler (2012), S. 175. 71 Münkler (2008), S. 27. 72 Ebd., S. 27 f. 73 s. die Beiträge in Böcker/Kempf/Springer (2013); Bohn/Bohrmann/Küenzlen (2011). 69
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wendigerweise verbunden, liegt aber durchaus nahe. Und genau darin besteht die wesentliche Schwachstelle der postheroischen Zeitdiagnose der zivil-militärischen Beziehungen: Indem das zeitlos gültige Opfer von Soldaten betont und die fehlende gesellschaftliche Anerkennung dieser Opferbereitschaft kritisiert wird, gibt es praktisch keine Möglichkeit, den Ort des Militärischen in modernen, durch Individualisierung und funktionale Differenzierung gekennzeichneten sowie auf ,Zivilität‘ ausgerichteten Gesellschaften anders zu bestimmen, als ihm einen Status sui generis zuzuschreiben und eine gesellschaftliche Sonderstellung für Soldatinnen und Soldaten zu reklamieren. Geht man dagegen mit Moskos und anderen74 davon aus, dass die konkrete Gestalt des Militärs sowohl von der jeweiligen sicherheitspolitischen Lage als auch von aktuellen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Prozessen bestimmt wird, und nimmt man vor diesem Hintergrund zugleich ernst, was von Münkler und Sabrow, aber auch von Baecker, Schimank und Maase unter dem Label des Postheroischen verhandelt wird, ergibt sich eine andere Frageperspektive: Wie könnten oder sollten Streitkräfte unter ,postheroischen‘ gesellschaftlichen Bedingungen aussehen? Anders formuliert: Inwiefern ist das, was nicht nur bei der ,kriegerischen‘, sondern auch bei der ,zivilen‘ Lesart postheroischer Phänomene thematisiert wird, für den Bereich des Militärs relevant?
3. Postheroische Streitkräfte in einer postheroischen Gesellschaft? Aufschlussreiche Einsichten hinsichtlich einer möglichen ,Postheroisierung‘ von Streitkräften lassen sich etwa bei Dinah Schardts Analyse des Umgangs mit Tod und Verwundung in der Bundeswehr finden.75 Auf der Grundlage von Telefoninterviews mit Bundeswehr-Angehörigen, die mit der Vor- sowie Nachbereitung der Auslandseinsätze befasst sind, sowie entsprechender Dokumente arbeitet sie heraus, wie stark die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Missionen als krisenhafte Erfahrung für die dort eingesetzten Soldatinnen und Soldaten wahrgenommen und institutionell kommuniziert wird. Ausgehend von der Annahme, dass Soldaten als Mitglieder einer kriegsverdrängenden Gesellschaft Tod und Verwundung als ,normale‘ Begleiterscheinungen des Soldatenberufs ihrerseits verdrängen, hebe der institutionelle Diskurs auf die Reflexion der individuellen Krisenhaftigkeit aufgrund von (potenzieller) Überforderung durch die direkte bzw. indirekte Konfrontation im Einsatz mit außeralltäglichen Ereignissen ab, zu denen Gewalt, Armut sowie insbesondere Verwundung oder Tod zählen. „Die auftretenden Kontingenzen im Umgang mit Todesfällen werden auf die subjektive Wahrnehmung des Soldaten zurückgerechnet und genau dort auch wieder behoben: die Individualität des Soldaten wird vom Problem zur Lösung.“76 74
Moskos (2000); Biehl (2008). Schardt (2011; 2012). 76 Schardt (2011), S. 22. 75
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Die organisationsinterne Strategie des Umgangs mit Todes- und Verwundungsfällen besteht nach Schardt folglich weder darin, diese zu verdrängen, noch sie inhaltlich zu begründen, sondern als individuell auftretende ,Krisen‘ – etwa in Form einer Posttraumatischen Belastungsstörung – zu vergegenwärtigen, als solche anzuerkennen und so zu überwinden.77 Entgegen der von Langer thematisierten Gefahr einer Psychopathologisierung78 lautet Schardts Fazit vor diesem Hintergrund, dass der Umgang mit den Herausforderungen gegenwärtiger Einsätze zumindest aus der Sicht der von der Bundeswehr hierfür beauftragten Experten (Angehörige des Zentrums Innere Führung in Koblenz, Psychologen, Militärseelsorger etc.) inzwischen selbst ,postheroische‘ Züge aufweist79 – im Sinne der zuvor skizzierten ,zivilen‘ Fassung: Soldatinnen und Soldaten werden weder als ,tapfere Helden‘ thematisiert, die selbstlos in den Einsatz ziehen, noch als ,hilflose Opfer‘. Die entsprechenden Diskurse beschreiben diese vielmehr als Individuen, die durch die Erlebnisse im Einsatz wie nach ihrer Rückkehr in ihre ,alte‘, aber zugleich oftmals fremd80 gewordene Sozialwelt in Deutschland mitunter selbst in eine Krise geraten, aber durch die Anerkennung und in diesem Sinne ,Bewältigung‘ dieser Krisenerfahrung nicht daran zugrunde gehen.81 Inwiefern die Ergebnisse von Schardts Studie auf die Bundeswehr als Ganzes übertragbar sind und insbesondere auch die Selbstwahrnehmungen der Soldatinnen und Soldaten widerspiegeln, muss an dieser Stelle offen bleiben.82 Dies gilt vor allem dann, wenn man in Rechnung stellt, dass Streitkräfte – anders als es die dichotome Unterscheidung zwischen ,Militär‘ und ,Gesellschaft‘ und die daraus abgeleitete Gegenüberstellung von ,heroischer Minderheit‘ und ,heroischer Mehrheit‘ impliziert – 77
Vgl. ebd., S. 5. s. weiter oben; Langer (2013). 79 Vgl. Schardt (2012), S. 27 f. et passim. 80 Zur Problematik des Heimkehrens s. die klassischen Überlegungen von Schütz (2011 [1945]). 81 Als weiteren Indikator für diese reflexive Form der Erfahrungsverarbeitung kann man auf die Vielzahl (auto)biographischer Veröffentlichungen – z. B. Brinkmann/Hoppe (2010), Timmermann-Levanas/Richter (2010), Baumann et al. (2011), Würich/Scheffer (2014) – verweisen, die in den letzten Jahren entstanden sind und die zugleich mit einer wachsenden (massen)medialen Thematisierung des Einsatzes der Bundeswehr auch in Literatur (z. B. Kurbjuweit 2011) sowie in Film und Theater (vgl. Schardt 2012, S. 38) und somit jenseits des militärischen Kontextes im engeren Sinne einhergehen. Versteht man gesellschaftliche Integration als Inanspruchnahme und Austausch von Wissensbeständen (vgl. Leonhard 2014, S. 200 ff.), lassen sich diese Ansätze eines zivil-militärischen ,Dialogs‘ über den AfghanistanEinsatz auch als Möglichkeit deuten, die Kluft zwischen den verschiedenen „Welten“ innerwie außerhalb der Bundeswehr (vgl. Bohnert 2013) zu verringern und so die vielfach diskutierte ,Integration‘ der Bundeswehr in die Gesellschaft zu befördern. 82 Darüber hinaus wären die Folgen zu diskutieren, die mit einer vornehmlichen Zuordnung der z. B. von Warburg (2010) sowie Apelt (2012) aufgezeigten strukturellen Dilemmata des Soldatseins auf der individuellen Ebene einhergehen. Zum allgemeinen Problem gesellschaftlicher Subjektivierung – wenn auch unter ökonomischen Vorzeichen diskutiert – s. Bröckling (2007). 78
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keineswegs in sich geschlossene, homogene Gebilde darstellen. Vielmehr sind Militärorganisationen bekanntermaßen durch mannigfaltige Binnendifferenzierungen gekennzeichnet, welche sich unter den Bedingungen verstärkter ,Einsatz‘- und somit Kampffähigkeit mitunter auch in symbolpolitischen Machtkämpfen um das ,richtige‘ Bild des Soldaten niederschlagen.83 Die Frage der Kampf- bzw. Opferbereitschaft verschärft dabei die (zumeist ohnehin bestehenden) Differenzen zwischen ,kämpfenden‘ und ,unterstützenden‘ Einheiten bzw. Personengruppen, was letztlich dazu führen kann, dass trotz aller Bemühungen um ,postheroisches‘ Krisenmanagement die Unterscheidung zwischen einer ,heroischen‘ Minderheit und einer ,unheroischen‘ Mehrheit auf andere Weise, nämlich innerhalb der Streitkräfte selbst, (neu) generiert wird.84 Jenseits solcher letztlich nur empirisch zu klärenden Fragen eröffnen die von Schardt aufgezeigten Befunde im Vergleich zum zuvor skizzierten Bild der postheroischen Gesellschaft aber in jedem Fall eine ,andere‘ Sichtweise auf den Ort des Militärischen in der Bundesrepublik. Folgt man Armin Nassehi85 darin, dass der „Ausnahmezustand“ heutzutage den „Normalfall“ darstellt, lässt sich die bei Schardt skizzierte Logik des Umgangs mit Tod und Verwundung als ,Krise‘ nicht nur als charakteristisch für die heutige Moderne mit ihrer grundsätzlichen Krisenhaftigkeit verstehen, deren Bewältigung „Gelassenheit“86 und somit eine ,postheroische‘ Haltung im Sinne von Baecker, Schimank und anderen gewissermaßen nahelegt (und so – möglicherweise – wiederum ihr eigenes ,heroisches‘ Moment entfaltet).87 Vielmehr erscheint das Wissen um die Begrenztheit eigenen Handelns einschließlich der Möglichkeit des Scheiterns unabhängig von (besten) Anstrengungen und Absichten für Streitkräfte in demokratisch verfassten Gesellschaften angesichts von Aufträgen, deren Erfolg bzw. Nichterfolg in der Regel nach Kriterien bestimmt wird, die jenseits des eigenen – hier: militärischen – Macht- und Einflussbereiches, nämlich bei den politisch Verantwortlichen und der politischen Öffentlichkeit liegen, geradezu unabdingbar. Ohne die von Münkler zu Recht herausgestellten „universalethischen Imperative“88 zu negieren, für die Soldatinnen und Soldaten heutzutage im Rahmen globaler Einsätze einstehen und wodurch sie idealiter zu Repräsentanten eines „gewaltbewältigenden Weltmilitärs“89 werden, das einen Beitrag für die Konstitution einer 83
Vgl. vom Hagen (2013), S. 43. In der Bundeswehr wird dies u. a. anhand der Unterscheidung zwischen „Drinnis“ und „Draussis“ thematisiert. Vgl. Seifert (2013) sowie Bohnert (2013); zu innermilitärischen Statusverschiebungen infolge neuer identitätsstiftender Berufsbilder aus professionssoziologischer Sicht s. Apelt (2006). 85 Nassehi (2012). 86 Ebd., S. 44. 87 So zumindest ließe sich auch Münklers Forderung nach „heroischer Gelassenheit“ interpretieren. Vgl. Münkler (2006), S. 354 bzw. ders. (2015). 88 Münkler (2008), S. 26; ähnliche Überlegungen wurden bereits von Burk (2002) thematisiert; vgl. hierzu auch vom Hagen (2005), S. 85 ff. 89 Spreen (2012). 84
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„Weltzivilgesellschaft“90 leistet, wäre mit Blick auf gegenwärtige Debatten um das soldatische (Selbst)Bild der Bundeswehr91 zu überlegen, ob ein soldatisches Selbstverständnis als ,postheroischer Krisenheld‘ nicht insgesamt anschlussfähiger ist als eine vornehmliche Betonung der ,heroischen‘ soldatischen Opferbereitschaft, die eine (Re)Aktivierung des Bildes des Soldaten als Kämpfer impliziert und so nicht nur organisationsinterne Statuskämpfe verschärft, sondern die Streitkräfte dadurch vor allem von der zivilen Umwelt separiert.
IV. Schlussbetrachtung Ziel der vorangegangen Ausführungen war es, die Implikationen aufzuzeigen, die mit der Verwendung der Postheroismus-Metapher im Allgemeinen sowie mit Blick auf ihren Gebrauch in Bezug auf das Feld von Militär, Gewalt und Krieg im Besonderen verbunden sind. Die ,postheroische‘ Interpretation der zivil-militärischen Beziehungen, für die namentlich die Arbeiten von Herfried Münkler stehen, macht auf die gesellschaftliche Ausblendung von Krieg und militärische Gewaltanwendung und die daraus resultierenden Schwierigkeiten aufmerksam, die sich für Soldatinnen und Soldaten ergeben, die vom Staat mit der Androhung bzw. Anwendung von Gewalt betraut werden und auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen sind bzw. diese erwarten. Im Zentrum dieser Perspektive steht das bundesrepublikanische Selbstverständnis als Zivilgesellschaft, das angesichts der Einsatzrealität der Bundeswehr als defizitär klassifiziert wird aufgrund seiner postulierten Blindheit gegenüber der durch Soldatinnen und Soldaten verkörperten universalethischen Opferbereitschaft. Diese Lesart der sozialen Wirklichkeit ist in militärnahen Kreisen auf besonderes Echo gestoßen, da sie gute Argumente für eine militärbezogene Identitätsund Interessenpolitik liefert, die realiter neben der Errichtung eines nationalen Ehrenmals für die Toten der Bundeswehr und der Schaffung einsatzbezogener Auszeichnungen auch zu Ansätzen einer bis dato unbekannten ,Veteranenpolitik‘ geführt hat. Die metaphorische Beschreibung der deutschen Gesellschaft als ,postheroisch‘ (re)produziert jedoch gleichzeitig Erwartungen, die kritisch zu betrachten sind: Vorstellungen einer politische, soziale und kulturelle Differenzen überwindenden Vergemeinschaftung, die mit Krieg bzw. dem Einsatz militärischer Gewalt traditionellerweise verknüpft sind und die nicht nur Münklers Dreier-Typologie begründen, sondern auch bei an die deutsche Öffentlichkeit gerichteten Appellen zu größerer Solidarität mit der Bundeswehr92 auftauchen, gehen an den Funktionsbedingungen heu90
Ebd. s. hierzu etwa die Beiträge in Dörfler-Dierken/Kümmel (2010); Bohn/Bohrmann/ Küenzlen (2011); Hartmann/von Rosen/Walther (2012); Böcker/Kempf/Springer (2013); Biehl (2014/2015); Naumann (2014/2015). 92 Als Beispiel hierfür sei auf die Forderung des vormaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, General a.D. Klaus Naumann (2013), S. 10, hingewiesen (s. hierzu auch den Beitrag 91
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tiger Gesellschaften und ihrer Streitkräfte vorbei.93 Der nicht zuletzt von Münkler in die Diskussion um die gesellschaftliche Stellung der Bundeswehr eingebrachte Opferbezug, durch den sich Soldatinnen und Soldaten qua Beruf von ,normalen‘ Bürgern unterscheiden, verdeckt den tiefgreifenden gesellschaftlichen Bedeutungswandel, den das Militär als einstiger Motor der ,klassischen Moderne‘ seit dem späten 20. Jahrhundert durchlaufen hat, eher als er ihn erhellt.94 Berücksichtigt man dies und führt in diesem Sinne die ,zivile‘ Perspektive auf das Postheroische mit der ,kriegerischen‘ zusammen, lässt sich möglicherweise nicht nur ein Bild des Militärs und der Leistungen seiner Angehörigen entwerfen, das sowohl für Soldatinnen und Soldaten als auch für deren ziviles Umfeld Anknüpfungspunkte bietet. Auch könnten auf diese Weise die Fallstricke umgangen werden, die die Diskussionen um Militär und Krieg hierzulande so häufig prägen: dass unter Rückgriff auf die deutsche Geschichte – namentlich die Wehrmacht und den Zweiten Weltkrieg – militärische Gewaltanwendung entweder grundsätzlich diskreditiert wird oder unter Verweis auf die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Krieges95 grundsätzlich legitimiert wird. Möglicherweise lehrt uns das Nachdenken über die Metapher des Postheroischen genau das: dass es die klaren Unterscheidungen zwischen Held und Opfer, zwischen sacrificium und victima sind, die nicht mehr anschlussfähig für die Zukunft sind und daher der Vergangenheit angehören sollten.96 Literatur Apelt, Maja (2012): Das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte. In: Spreen, Dierk/Trotha, Trutz von (Hrsg.): Krieg und Zivilgesellschaft, Berlin, S. 219 – 237. – (Hrsg.) (2010): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten, Wiesbaden. – (2006): Einige Überlegungen zur (Ent-)Professionalisierung des Soldatenberufs. In: Hagen, Ulrich vom (Hrsg.): Armee in der Demokratie. Zum Verhältnis von zivilen und militärischen Perspektiven, Wiesbaden, S. 125 – 139. Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München. Baecker, Dirk (1994): Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin. von Biehl in diesem Band): „Es genügt nicht, (…) dass die Gesellschaft die Leistungen der Bundeswehr anerkennt, nein, sie muss mehrheitlich bejahen, was die Truppe tut. Es wäre ein Zeichen demokratischer Reife, wenn man sich hierzulande zu der Haltung der großen angelsächsischen Demokratien durchringen könnte: Es wird erbittert um die Entscheidung über den Einsatz gerungen, fällt sie aber, dann muss die überwältigende Mehrheit unseres Volkes hinter den Soldaten und ihren Familien stehen [Hervorhebungen N.L.].“ 93 Vgl. hierzu Nassehi (2012), S. 38 ff. 94 Mit Blick auf die mittlerweile verloren gegangene Funktion des Militärwesens als Instanz gesellschaftlicher Beschleunigung vgl. Rosa (2005), S. 311 ff. 95 Vgl. Neitzel/Welzer (2011), S. 395 – 422. 96 Für wertvolle Kommentare zu früheren Fassungen dieses Textes danke ich Heiko Biehl, Jürgen Franke sowie Harald Schmid.
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Die Kriegsautomaten der Zivilgesellschaft Semiautonome technische Systeme in bewaffneten Sicherheitsoperationen Von Dierk Spreen
I. Thema und Fragestellung Die Technisierung der Gewalt im Krieg ist seit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges ein Dauerthema in den Erinnerungskulturen der modernen Nationen.1 Erstaunlich ist dies insofern, als bereits während der Napoleonischen Kriege – also zur Zeit des Anbruchs der sozialen Moderne – „gewaltige“ Artilleriezüge nicht unüblich waren, die „den Widerstand der einzelnen Punkte maschinenartig niedermähen“.2 Bis dahin hatte die Entwicklung der Pulverwaffen auch schon deutlich sichtbare Spuren im Festungs- und Städtebau und damit in der Architektur des Sozialen hinterlassen.3 Dies zeigt, dass die Technisierung des Krieges in den Konzepten strategischer Experten längst eine Rolle spielte – spätestens wohl seit die Türken die Mauern Konstantinopels 1453 sturmreif geschossen hatten. Das kollektive Gedächtnis dagegen erinnert sich der technisierten Gewalt vor allem im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen und der atomaren Abschreckung. Maschinengewehr, Grabenkampf, Materialschlacht, Panzervorstoß von ,Cambrai‘, U-Boot-Krieg, strategischer Bombenkrieg und atomarer Holocaust sind hier nur einige Stichworte.4 Die Bedeutung technischer Destruktionsgewalt in der öffentlichen Erinnerungskultur hat zwei Ursachen. Erstens ist sie eine Folge der Veröffentlichung des Krieges mit Beginn der Moderne. Zweitens rückten die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges die technische Gewaltdimension des modernen Krieges ins kollektive Gedächtnis. Die Moderne machte die Gesellschaft zu einem Akteur des Krieges. Für den Krieg wurde das Soziale mobilgemacht. In den kriegsbezogenen politischen „Basiserzäh-
1 Zu den Begriffen Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis vgl. u. a. Reichel (1999), S. 13 – 21. 2 Clausewitz (1952), S. 569. 3 Vgl. Neumann (1994). 4 Der Festungsbau war immerhin ein beliebtes Thema in der bürgerlichen Kaffeehausöffentlichkeit des 17. und 18. Jahrhunderts. Allerdings ging es hierbei nicht so sehr um die Praxis des Krieges und die Schrecken der Gewalt, sondern um die rationale Ordnung der Dinge und die Strukturierung der Körperverhältnisse; vgl. Eichberg (1989), S. 394 – 399.
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lungen“5 des 19. Jahrhunderts spielen Kriegsmythen folglich eine zentrale Rolle6 – im Wesentlichen allerdings ohne dass eine Erinnerung an die Wirkung der Waffentechnologie mitgeführt worden wäre. In Deutschland zumindest ist dies eine Wirkung des romantischen Kriegsdiskurses, der seit Beginn des 19. Jahrhunderts das Bild des Krieges für ein Jahrhundert bestimmte. Krieg erschien hierin als eine Sache „der Moral“, nicht „des Materials“.7 Erst der Realitätsschock der Materialschlacht vor nun einem Jahrhundert fügte dem kollektiven Gedächtnis die technische Dimension hinzu. Seitdem aber verlässt sie es aber auch nicht mehr. Es wäre allerdings falsch, diesen Realitätsschock als Ursache für eine notwendig friedensorientierte Haltung anzusehen. Schon während des Ersten Weltkrieges bildete sich eine apologetische Redeweise, die den ,kalten‘ Krieger und ,sachlichen‘ Heros feierte. In der Zwischenkriegszeit konnte diese Sichtweise sich dann als Leitdiskurs der Kriegserinnerung durchsetzen. Eine paradigmatische Figur dieses Typus schildert Ernst Jünger in der Schrift Das Wäldchen 125.8 Hierbei wird die durchrationalisierte Aktion eines Scharfschützen auf der „Pirsch“ beschrieben. Bernd Hüppauf fasst die Tötungsszene wie folgt zusammen: „Der Text spricht vom Töten ohne persönliche Beteiligung und Motivation, nicht vom Töten eines Sadisten, Folterers oder triumphierenden Siegers. (…) In dem Erlebnis verschwindet die ethisch definierte Grenze. Das Gewissen ist abwesend.“9 – Kurz: Der Schütze handelt wie ein Automat. Vor dem Hintergrund dieser skizzierten Geschichte manifester kollektiver Kriegserinnerung, die seit dem Ersten Weltkrieg auch die Mechanisierung der Schadenszufügung und des Tötens beinhaltet, verwundert die derzeitige Diskussion über unbemannte Kriegsautomaten wie Drohnen und Roboter doch ein wenig. Befürchtet wird, dass diese Technologien eine gänzlich neue Qualität der Gewaltausübung mit sich bringen würden. Insgesamt werden eine moralische Verrohung und das Herabsetzen der Schwelle zur Gewaltanwendung als Risiken der Verdrohnung identifiziert. „Bug Splat-Ideologie“ breite sich aus, so etwa die Drohnenkritikerin Jutta Weber.10 In der Zeit beschwört der Kommunikationswissenschaftler Byung-Chul Han „Regeln der Tötung“, die sich aus einem „Sichgegenüberstehen der Kämpfenden“ am Boden ergeben und die nun – im Rahmen der Automatisierung des Krieges aus der Luft – weiter unter Druck geraten würden.11 Die „technische Schlacht“ (Ernst Jünger) ist allerdings ein ziemlich alter Hut.12 Es ist nicht einmal etwas Neues, dass automatisierte und programmierte Routinen beim 5
Vgl. Schwab-Trapp (1997). Vgl. Dörner (1996). 7 Vgl. Spreen (2008), S. 152 – 155. 8 Jünger (1978), S. 301 – 438. 9 Hüppauf (2014), S. 121. 10 Weber (2012), S. 31 f. Weber erläutert: Bug Splat ist ein Videospiel für Kinder, „bei dem möglichst viele braune sehr flinke Käfer eliminiert werden sollen.“ 11 Han (2012). 12 Jünger (1981), S. 185. 6
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Töten mehr als nur ein wenig nachhelfen. Schon Norbert Wieners im Zweiten Weltkrieg entwickelter antiaircraft (AA) predictor stellt nichts anderes als ein automatisches Feuerleitsystem dar, das das Abschießen von Flugzeugen erleichtert, indem es die möglichen Manöver des anfliegenden Mensch-Maschine-Systems berechnet.13 Zudem ist es ein Mythos, dass das ,Medium‘ – also Land, Meer oder Luft – diskursiv unvermittelt die normative Dimension der Kriegführung diktieren würde, wie es etwa Han behauptet. Nicht nur in der Luft und unter der Meeresoberfläche wurde ein Vernichtungskrieg geführt; auch am Boden fand dieser statt. Die deutsche Kriegführung im Osten war weit davon entfernt, den Gegner vor dem Tötungsakt wie der Jäger sein Wild „anzusprechen“.14 Dafür bereitete in der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt der nationalkonservative Modernisierungsdiskurs den Boden. Er propagierte eine gefühlskalte „Dissoziationsmentalität“, die für rationalisierte Kriegshandwerker angemessen erschien und die „die Bindungen an die universellen Ideen der politischen und ästhetischen Traditionen löste“.15 Warum also die Diskursexplosion über ,Killermaschinen‘ im Krieg? Wieso können Kriegsbilder beschworen werden, die der Realität des durchtechnisierten Kriegsgeschehens schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr entsprechen? Was motiviert das plötzliche Interesse für ein Geschehen, das im Allgemeinen in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit eher geringe Aufmerksamkeit auf sich zieht? – Es fällt schwer, auf derartige Fragen eine griffige Antwort zu formulieren, weil die zivil-militärischen Verhältnisse sich inzwischen deutlich komplexer darstellen, als dies noch zur Zeit der klassischen Nationalstaaten oder in der Epoche der atomaren Abschreckung der Fall war (Primat der Territorialverteidigung). Eine solche Antwort soll im Folgenden aber auch gar nicht versucht werden, sondern die Befürchtungen zur Automatisierung des Kriegsgeschehens werden vielmehr als Anlass genommen, die globale Sicherheitsordnung der Zivilgesellschaft näher zu beleuchten, um sich der strukturellen Rolle anzunähern, die halbautomatische und semiautonome Systeme in Sicherheitsoperationen spielen. Ist deren Aufstieg nur ein Effekt technischer Entwicklung, oder ,passen‘ diese Systeme auch in eine veränderte weltpolitische Sicherheitslage, die funktional und normativ eine zivilgesellschaftliche Ordnungsstruktur darstellt? Erweisen Kampfdrohnen und -robots sich also als die Kriegsmaschinen der Zivilgesellschaft? Wächst die Automatisierungstendenz im technologischen Entwicklungspfad einem politisch-militärischen Anforderungsprofil gewissermaßen zu? Der Diskurs über eine neue ,Militarisierung‘ der Gesellschaft hat dagegen eine große strukturelle Schwäche. Suggeriert wird, dass sich hinter dem Rücken der Demokratie eine Entwicklung vollziehe, die den Wertefundamenten des zivilen Lebens zuwider laufe und sie letztlich beschädigen könnte. Mit anderen Worten: Bewaffnete Drohnen zielen eigentlich auf ,uns‘. Damit wird ein vertrautes politisches Risikosze13
Vgl. Galison 2001. Han (2012). 15 Hüppauf (1996), S. 90; vgl. ders. (2013); Spreen (2008), S. 160 – 225; ders. (2011a). 14
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nario aufgespannt – nämlich die durch ,militärische Logik‘ und ,totale Überwachung‘ bedrohte zivilgesellschaftliche Freiheit. Allerdings hat Michel Foucault die in diesem Szenario zum Ausdruck kommende Machtvorstellung – Macht als ,Unterdrückung‘ und ,Repression‘ – einer so grundlegenden Kritik unterworfen, dass dahinter nicht zurückgegangen werden kann. Für Foucault war es wichtig, die Produktivität von Machtdispositiven in Modernisierungsprozessen herauszustellen.16 An die Denkbewegung Foucaults wird im Folgenden im Sinne einer funktionalen Betrachtung angeschlossen: Statt sowohl bewaffnete Drohnen und Robots als auch unbewaffnete Aufklärungs-, Überwachungs- und Kommunikationssysteme primär als Bedrohung für die liberale Zivilgesellschaft zu betrachten, wird vielmehr gefragt, inwiefern diese Systeme im Weltnomos dieser Zivilgesellschaft eine Funktion übernehmen. Das heißt: Inwiefern lassen sich Drohnen und Robots aus dem globalen Ordnungskrieg erklären, den die Zivilgesellschaft als Zivilgesellschaft heute führt? Hierzu wird folgendermaßen vorgegangen: Zunächst wird die globale Sicherheitsordnung als politisch-normative Struktur weltgesellschaftlicher Gewaltbewältigung inklusive ihrer paradoxen Anforderungen rekonstruiert (Abschnitt II. und III.). Anschließend wird nach der Einpassung halbautomatischer und semiautonomer Systeme in diesen sicherheitspolitischen Bezugsrahmen gefragt. Dabei wird nicht nur auf Drohnen und Roboter fokussiert, sondern sowohl weltraumgestützte als auch nahleiblich-infanteristische Systeme werden in die Betrachtung mit einbezogen (Abschnitt IV.). Abschließend wird eine Bewertung möglicher Risiken und Rückwirkungen versucht (Abschnitt V.).
II. Die Sicherheitsordnung der Weltzivilgesellschaft An dieser Stelle greife ich eine Perspektive auf die weltgesellschaftliche Ordnungsproblematik wieder auf, die ich an anderer Stelle ausführlich entwickelt habe.17 Sie soll hier nur in gebotener Kürze referiert werden und vor allem dazu dienen, den sicherheitspolitischen Kontext der Entwicklung und des Einsatzes von Halbautomaten in bewaffneten Konfliktszenarien zu adressieren. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation und des Blocksystems hat sich eine Struktur der Internationalen Beziehungen herausgebildet, die historisch in dieser Form beispiellos ist. Die Internationalen Beziehungen werden durch eine globale präventive Sicherheitsordnung restrukturiert, die ein Machtdispositiv und eine Diskursordnung ist, aber keine Institution oder Organisation darstellt. Das heißt, dieses Dispositiv und die es konstituierenden Diskurse und Normbezüge formulieren einen globalen Rahmen, innerhalb dessen sich internationale Akteure verorten. Das gilt für die Vereinten Nationen, ebenso wie für die USA (die allerdings eine Sonderrolle einnehmen). Gleiches gilt auch für Nationalstaaten und transnationale Staatenverbände 16 17
Vgl. Foucault (1976). Vgl. Spreen (2008), Kap. F; ders. (2010; 2011b; 2012a).
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sowie für Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für die Akteure und Organisationen des weltpolitischen Systems stellt diese Sicherheitsordnung so etwas wie das Strukturprinzip ihrer systeminternen Umwelt dar, d. h. sie orientieren und beziehen sich auf diese Sicherheitsordnung, konstituieren und perpetuieren sie dadurch zugleich.18 Die Funktion dieser Sicherheitsordnung liegt in der globalen Regulierung physischer Gewalt. Die Weltgesellschaft hält vielfältige strukturelle „Orte der Gewalt“19 offen. Es bedarf daher einer gewaltbewältigenden Gewalt, die dafür sorgt, dass die spezifisch codierten Kommunikationsbezüge der globalen Funktionssysteme einigermaßen ohne die Einmischung gewaltinduzierter „organischer“ Störungen ablaufen können.20 Auf globaler Ebene gibt es aber keinen Staat, der diese Aufgabe durch die Monopolisierung der legitimen Gewalt und die Garantie fundamentaler Bürgerrechte wahrnehmen könnte. Auch die bloße Summe der Staaten leistet dies nicht, da in einer reinen Staatenstruktur Anarchie herrscht und neben Bürgerkriegen oder Staatszerfallskriegen auch mit zwischenstaatlichen Kriegen zu rechnen ist. Die Vereinten Nationen wiederum bilden keinen Ersatz für einen Weltstaat, da sie selber über keine Gewaltmittel verfügen, sondern nur den Einsatz von Zwangsgewalt durch Staaten legitimieren können. Diese Legitimation ist allerdings von weltpolitischen Konstellationen und Entscheidungen des Weltsicherheitsrates abhängig. Es gibt also keinen Rechtsautomatismus im Falle des Verstoßes gegen das in der UN-Charta festgehaltene Gewaltverbot. Daher konkurriert das UN-System hier mit einem internationalen ,Sheriff‘ – nämlich den USA –, der sich mit der Nationalen Sicherheitsdoktrin von 2002 für diese moralische Rolle selbstermächtigt und den dafür notwendigen politischen Rahmen geschaffen hat.21 In regional begrenzten Rahmen können auch andere Akteure eine ähnliche Rolle wahrnehmen – man denke etwa an die NATO im Kontext des Kosovokrieges. Dieser komplexe und durch vielfältige politische und normative Spannungsverhältnisse gekennzeichnete Ordnungsrahmen steuert den globalen Einsatz „gewaltbewältigender Gewalt“ im Sinne von Heinrich Popitz.22 Das heißt, es gibt eine globale Ordnungsform, die physische Gewalt wirkungsvoll sanktionieren kann. Diese Ordnungsform ist weder ein anarchisches Staatensystem, noch ein Weltstaat, noch ein Weltimperium, noch eine Weltorganisation. Aber sie wirkt global und nicht nur regional. Diese Sicherheitsordnung besteht aus normativen Institutionen und Formulierungen (z. B. UN-Charta, Völkerrecht, US-Sicherheitsdoktrin von 2002), aus multilateralen Institutionen und Semi-Institutionen (Weltsicherheitsrat, Sicherheitspart18
Damit greife ich einen theoretischen Vorschlag von Schirmer (2007), S. 136 f, auf. Niklas Luhmann führt das Theoriekonstrukt der inneren Systemumwelt in Bezug auf das Wirtschaftssystem ein und meint damit den Markt; vgl. Luhmann (1988), S. 91 ff. 19 Spreen (2012a), S. 60 – 68. 20 Luhmann (1974), S. 124 f. 21 Vgl. Gray (2004); Kagan (2003), S. 43. 22 Popitz (1992), S. 65.
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nerschaften etc.) und aus einem global wirksamen Sicherheitsdiskurs, der ihre Einheit konstituiert. Dieser Sicherheitsdiskurs ist vor allem durch den Präventionsgedanken, durch die Inklusion privater Akteure, durch einen Managementhabitus sowie durch eine Tendenz zur Entgrenzung gekennzeichnet. Das heißt im Einzelnen: Sicherheit erscheint bereits im Falle zunehmender Risikolagen gefährdet. Sicherheit ist keine rein staatliche Angelegenheit, sondern staatliche Akteure kooperieren mit Sicherheitsfirmen und Friedensunternehmern (häufig NGOs), welche allerdings strukturell den ökonomischen Imperativ berücksichtigen müssen (,Profit‘ oder ,Finanzierung‘). Sicherheit meint keineswegs das Gleiche wie ,Frieden‘, sondern sie reguliert die Normalität von Gewalt innerhalb bestimmter akzeptabler und möglichst optimierter Parameter. Und Sicherheit ist immer auch ,erweiterte Sicherheit‘, d. h. sie bleibt nicht auf den Kernbereich militärischer und politischer Sicherheit beschränkt, sondern umfasst ökonomische, migrationspolitische und ökologische Aspekte.23 Inwiefern kann diese globale Sicherheitsordnung als eine politische Ordnungsform der Zivilgesellschaft, also als ein zivilgesellschaftlicher Weltnomos verstanden werden? – Mein Argument ist, dass der zivilgesellschaftliche Charakter sich in normativen Strukturprinzipien ausdrückt, die eine Stellungnahme gegen Verletzung, Entrechtung und Diskriminierung darstellen. Diese Prinzipien lassen sichtbar werden, dass sich globale Sicherheitspolitik auf zivilgesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und einen entsprechenden Werterahmen bezieht, der auf eine ,Zivilisierung der Weltpolitik‘ zuläuft.24 Es geht nicht um bloße Absicherung von ,Machtpolitik‘. Zu politischen Kernproblemen globaler Ordnung wurden in den letzten Jahrzehnten vielmehr Themen wie die Geltung fundamentaler Menschenrechte, die Beruhigung notorischer Konfliktzonen und die Sicherung des Friedens, demokratische Staatenbildung in Krisengebieten und die Unterstützung guter Regierungsführung (good governance). Im Rahmen der Globalisierung von Sicherheit trägt zwar ein „Weltmilitär“25 zur Bekämpfung gewaltsamer Störungen bei. Dieses Militär agiert aber nicht aus sich heraus, sondern bleibt funktional an das politische System und normativ an den Gewalthegungsimperativ der Zivilgesellschaft gebunden.26 Militärische Gewaltoptionen stellen dabei auch für die globalen Sicherheitsakteure zuerst eine Vermeidungsalternative dar. Sichernde Gewaltausübung wird nicht glorifiziert, sondern als ,letztes Mittel‘ und ,kleineres Übel‘ angesehen. Vor diesem Hintergrund konstituiert sich globale Sicherheit trotz wiederholter militärischer Stellungnahmen gegen Gewaltphänomene als ein zivilgesellschaftlicher Weltnomos. Von besonderem Interesse für die weitere Argumentation ist das strukturelle Legitimationsproblem militärischer Gegengewalt. Die westlichen Zivilgesellschaften 23 Vgl. u. a. Brock (2005); Buzan et al. (1998); Foucault (2004); Schmidt-Semisch (2002); Trotha (2003; 2010). 24 Brock (2003). 25 Spreen (2012b). 26 Vgl. Kohl (2009); Spreen (2012a).
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kommen um die Erfahrung der Gewalt des Krieges nicht herum, auch wenn sie sie wesentlich als Medienereignis wahrnehmen. Allerdings bringen die Medien Gewalt als ein Phänomen zur Erscheinung, das beim Publikum andere Wirkungen erzielt als die fiktive Gewalt in Unterhaltungsangeboten. Die gezeigte Realgewalt produziert Erschütterung, Mitleiden, Empörung und vor allem sehr viel Skepsis.27 Diese zur Darstellung gebrachte Gewalt ist daher etwas Besonderes in der alltäglichen Aufmerksamkeitsökonomie von Zivilgesellschaften. Ins Wohnzimmer übertragene Bilder realer Gewaltkosten der eigenen Sicherheit passen nicht in den zivilen Normen- und Wertekanon. Sie erscheinen als eine Störung und ein Aufbrechen der Normalität. Solche Bilder durchbrechen die Deutungsmaschinerie der Zivilgesellschaft, d. h. sie sperren sich gegen die sofortige Bezeichenbarkeit. Weil die Möglichkeit, sie kriegsapologetisch aufzufassen, in der zivilen Diskursordnung nicht besteht, führen sie regelmäßig zur öffentlichen Infragestellung des ,robusten‘ Sicherheitsengagements. Denn anders als in Kriegsgesellschaften wird der Krieg von der Diskursordnung des Ausnahmezustands getrennt. Dadurch wird die Möglichkeit heroischer und kriegsgesellschaftlicher Deutungen verstellt.28 Gegnerische Nichtkombattanten gelten folglich als beinahe ebenso schutzwürdig wie die eigene Zivilbevölkerung.29 Dabei können alle medialen Abblendungs- und Verharmlosungsstrategien Opferbilder nicht verhindern, weil sie von der Gegenseite wiederum als strategisches Mittel benutzt werden.30 Um die öffentliche Zustimmung nicht zu verlieren, muss sich die militärische Sicherheitsoperation daher den Normen und Erwartungen der zivilen Öffentlichkeit und ihres Publikums unterwerfen.31 Militärische Sicherheitsmittel erscheinen in der Öffentlichkeit daher prinzipiell als problematisch, obwohl sie Zivilität nicht bedrohen, sondern schützen. Dies gilt gerade auch im Fall von sogenannten ,Kollateralschäden‘.
III. Paradoxe Rahmenbedingungen militärischer Sicherheitsoperationen Aus der normativen Struktur der globalen Sicherheitsordnung ergeben sich paradoxe Anforderungen an militärische Operationen. Die erste resultiert aus der Differenz zwischen Krieg als Sicherheitsmittel und polizeilicher Verbrechensbekämpfung. Dieser Unterschied besteht darin, dass militärische Gewalt als Mittel der Politik einer strikten normativen Diskriminierung unterliegt. Im zivilgesellschaftlichen Wertehorizont sind militärische Mittel nur im Rahmen einer globalen Konflikt- und Gewaltbewältigung rechtfertigbar. Das aber heißt, dass sie eine Polizeifunktion überneh-
27
Ausführlich dazu: Spreen (2008), S. 266 – 270. Vgl. Münkler (2012); Kruse (2012). 29 Vgl. McInnis (2002), S. 138; Schörnig (2012), S. 196. 30 Vgl. Ignatieff (2001), S. 184 f. 31 Vgl. McInnis (2002), S. 149. 28
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men.32 Der „polyvalente Soldat“33 ist ein Friedenskämpfer, in dessen Rolle militärische, polizeiliche und sozialarbeiterische Aufgaben und Kompetenzen verschmelzen. Dennoch stellt der militärische Kampf nach wie vor eine Kernkompetenz dar, da Out-of-Area-Missionen nicht zur erweiterten Straßenverkehrsregulierung unternommen werden, sondern in der Regel dazu dienen, in einer Konfliktregion einen Feind zu bekämpfen. Gewalteinsatz im Kontext eines solchen Kriegskontextes bedeutet aber, dass prinzipiell Gewalt gegen alle feindlichen Kombattanten legitim ist. Nach individueller Schuld und Schuldverstrickung dieser Kombattanten wird grundsätzlich nicht gefragt. Auch Entlastungsgründe, die die individuelle Schuld mildern könnten, interessieren nicht im bewaffneten Konflikt. Als eine auf feindliche Kombattanten gerichtete Gewaltsamkeit vernichtet der Krieg daher notwendigerweise auch Unschuldige, wie zum Beispiel Wehrpflichtige oder zum Dienst Gepresste.34 Dies verträgt sich aber nicht mit der globalen Gendarmenrolle und ist ein erheblicher Faktor, der das oben benannte strukturelle Legitimationsdefizit verschärft. Nicht neu ist zudem die Einsicht, dass im Kontext der Absicherung einer Besatzung gegen Widerstand (,Counterinsurgency‘) die Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und Partisanen, die gewissermaßen in ihrer zivilen Umgebung ,schwimmen‘, schwierig, ja manchmal unmöglich ist. Frustration und Hilflosigkeit führen zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Strafaktionen oder rohen Schlägen, bei denen dann in aller Regel auch Nichtkombattanten Schaden nehmen. Natürlich stellen Outof-Area-Einsätze zu Lande wie etwa die Operation Enduring Freedom (OEF) oder die International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan faktisch besatzungsähnliche Situationen dar, womit man sich auch die mit Besatzungskonstellationen verbundenen Legitimationsprobleme einfängt. Eng damit zusammen hängt das spezifisch soldatische Anomierisiko, das sich soziologisch gesehen im Kontext von normativ hybriden, militärisch-polizeilichen Operationen notwendig ergibt. Gemeint ist das politische Risiko, dass es im Kontext solcher Einsätze zu Handlungen oder Operationen seitens der Soldatinnen und Soldaten kommt, die politischen Skandalcharakter sowohl in der nationalen als auch in der Weltöffentlichkeit entfalten oder unter der lokalen Bevölkerung für erhebliche Legitimationsdefizite sorgen können. Derartige Skandale können sich natürlich aus der Überschreitung von Verhaltensregularien ergeben. Viel interessanter sind aber solche Vorfälle, die lediglich aus dem Widerspruch zwischen einem ,robustem‘ Engagement und den öffentlichen Erwartungen resultieren. Sie machen sichtbar, dass das Militär genau dann, wenn es im Rahmen seiner ,Kernkompetenz‘ zum Einsatz kommt, in der Zivilgesellschaft schon als quasi ,abweichend‘ beobachtet wird. Das Handeln kämpfender Soldatinnen und Soldaten „kann im rechtlichen und politischen Sinne legal sein. Was sie tun, gilt in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit
32
Vgl. Trotha (2010). Kümmel (2005), S. 60. 34 Vgl. Preuß (2003), S. 81. 33
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trotzdem als problematisch.“35 Die öffentlichen Folgeeffekte beider Sorten von Vorfällen können die politischen Absichten eines Einsatzes beschädigen oder zumindest seine Legitimität in Frage stellen.36 Sie sind daher aus politischer Sicht ein Risiko. Zusätzlich macht die weitgespannte und ambitionierte normative Rahmung dieser Out-of-Area-Operationen – Stabilisierung, Demokratisierung und Wiederaufbau – die militärische Situation im Falle ernsthaften Widerstands nicht einfacher. Vielmehr bringt er die regulären Soldaten der Interventionsmächte in eine extrem paradoxe Situation. Sie sollen ,Herzen‘ gewinnen, Sozialarbeit leisten und interkulturelle Handlungskompetenz beweisen, müssen aber jederzeit damit rechnen, aus dem Hinterhalt niedergestreckt zu werden oder einem Selbstmordattentäter zum Opfer zu fallen, der ihnen die Hand reicht.37 Nun sind auch Soldatinnen und Soldaten Menschen, die ihr Leben nicht verlieren möchten, weshalb im Zweifelsfall der Finger am Drücker locker sitzt. Mit einer gewissen Opferquote unter unschuldigen Nichtkombattanten ist daher von vornherein zu rechnen. Allerdings verträgt sich diese Paradoxie schlecht mit dem politisch vorgegebenen Zweck, denn das Töten von Zivilisten widerspricht dem Erarbeiten von Vertrauen und erschwert damit Stabilisierung, Demokratisierung und Wiederaufbau. Als Folge davon scheint sich permanent eine ,Niederlage‘ (lies: Nichterreichen des angestrebten Zwecks) abzuzeichnen, was ebenfalls die öffentliche Meinung zu untergraben droht. Stellt man zusätzlich zu der medialen Gewalterfahrung (siehe oben) auch noch diese vier Aspekte in Rechnung – Differenz zwischen Polizei und Militär, widerstandsgesättigte Besatzungskonstellation, Anomieproblematik und ambitionierte normative Rahmung – dann zeigt sich, dass die sowohl in der öffentlichen als auch in der veröffentlichten Meinung zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber militärischen Operationen nicht verwunderlich ist. Dieses Legitimationsdefizit verweist auf den „Teufelskreis der Gewaltbewältigung durch Gewalt“.38 Im Falle von Sicherheitskriegen und gewaltsamen Out-of-Area-Einsätzen erzeugt diese Gewaltbewältigung ein aufdringliches ethisches Dilemma, denn unvermeidbar trifft die zwecks Gewaltbewältigung eingesetzte Gewalt auch Unschuldige. Auch durch mehr Öffentlichkeitsarbeit wird man diese Legitimationsprobleme nicht aus der Welt schaffen können, denn sie resultieren gerade aus dem zivilgesellschaftlichen Charakter des neuen Weltnomos. Eine bruchlose Legitimation kriegerischer Gewalt ist dagegen nur im Rahmen einer „Kriegsgesellschaft“39 denkbar, die entsprechend 35
Apelt (2012), S. 219. In der Tat zeigen die Zahlen genau das: Kämpft die Bundeswehr, sinken die Akzeptanzraten; vgl. Franke (2012), S. 374 f. Im Vergleich zu anderen Nationen erweist sich das Verhältnis der zivilen Gesellschaft zum Militär gerade in Deutschland als besonders ambivalent; vgl. Kümmel (2012), S. 209 ff. Siehe hierzu auch den Beitrag von Heiko Biehl in diesem Band. 37 Vgl. Warburg (2008), S. 320 – 338. 38 Popitz (1992), S. 61 ff. 39 Kruse (2012). 36
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ihres militaristischen Organisationsprinzips auch kriegsapologetische Ideologien entwickeln und die Vernichtung des Feindes glorifizieren kann. Dieser paradoxe Rahmen schlägt sich in einer spezifischen Technisierungstendenz nieder, die einerseits den Siegeszug semiautonomer Kriegsmaschinen und andererseits die umfassende Vernetzung der im Kampf befindlichen Soldatinnen und Soldaten zur Folge hat. Beides zielt darauf ab, das Verhalten der Akteure der eigenen Seite möglichst detailliert kontrollieren zu können. So können politische Risiken, die sich aus den paradoxen Rahmenbedingungen militärisch-polizeilicher Sicherheitsoperationen ergeben, zumindest teilweise vermieden oder wenigstens abgemildert werden. Dies soll nun genauer untersucht werden.
IV. Der kontrollierte Krieg der Halbautomaten Abbildung 1 zeigt Barack Obama, Hillary Clinton, Joe Biden, Robert Gates und weitere hochrangige Regierungsvertreter, Geheimdienstexperten und Militärs im Situation Room des Weißen Hauses, wie sie die Live-Übertragung des Einsatzes der Navy Seals gegen den Al-Qaida-Führer Osama bin Laden in Abbottabad am 2. Mai 2011 verfolgen. Der US-Präsident sitzt auf einem Holzstuhl, den er sich hatte bringen lassen. Neben ihm, im präsidialen Sessel, sitzt Brigadegeneral Brad Webb. Veröffentlicht wurde das Bild schon Anfang Mai 2011. Es steht natürlich auch im Kontext des Wahlkampfes und soll die Entschlossenheit der demokratischen Führung demonstrieren, Amerikas Hauptfeind zu erledigen.
Abbildung 1: Ein Blick in den Situation Room. Anlass der Versammlung ist der US-Einsatz gegen Al-Qaida-Führer Osama bin Laden 2011 (Quelle: dpa, Foto: Pete Souza)
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Im hiesigen Zusammenhang ist das Foto allerdings aus einem anderen Grunde interessant, denn es versinnbildlicht einen engen kommunikativen Zusammenhang zwischen politischer Führung, militärischer Operationsleitung und den Einsatzkräften in Pakistan. Dieser Zusammenhang hat sicherheitspolitische, technologische und organisatorische Voraussetzungen und stellt eine neue Führungskultur dar. Die politischen Voraussetzungen bestehen eben in den paradoxen Rahmenbedingungen, in die das globale Sicherheitsdispositiv politische und militärische Akteure setzt, nämlich ein Legitimationsdefizit in der Öffentlichkeit und ein daraus resultierendes Kontrollbedürfnis. Zu den technologischen Voraussetzungen gehören globale Kommunikationssysteme, die eine Echtzeit-Verschaltung zwischen höheren und höchsten Führungs- und Verantwortungsebenen mit den im Einsatz befindlichen Soldatinnen und Soldaten ermöglichen. Bezeichnenderweise war der Kontakt bei der Geronimo-Operation für ca. 20 Minuten unterbrochen, was für „ein paar nervenaufreibende Momente“, so CIA-Chef Leon Panetta, gesorgt habe.40 Zu den organisatorischen Voraussetzungen zählt die vernetzte Operationsführung, die alle Bereiche der Kriegführung in Echtzeit vernetzt und zugleich koordiniert. Vor einigen Jahren erwarteten Beobachter im Kontext des Paradigmenwechsels zur vernetzten Operationsführung noch flache Hierarchien und eine lagegerechte kollektive Selbstadjustierung der Kampfeinheiten vor Ort. Selbständigkeit und Anpassungsfähigkeit schienen die neuen Tugenden zu sein, die auch in der militärischen Ausbildung vermittelt werden sollten.41 Aber die Realität sieht vielfach anders aus. So zeigt das Foto zwar eine flache Kommunikation – der Präsident ist live dabei –, aber eben keine Autonomie des Teams vor Ort. Wirklich selbstständig agiert dieses vielmehr nur im Falle einer unterbrochenen Verbindung. Network Centric Warfare und vernetzte Operationsführung vergrößern vielmehr die Durchgriffsmöglichkeiten höherer Führungsebenen auf die unmittelbare operative Ebene.42 Die erweiterten Kontrollmöglichkeiten haben zur Folge, dass im Rahmen politisch sensibler Operationen die zivile Führung in das militärische Mikromanagement eingreifen und die Operation unter Umständen abbrechen kann. Das Bild zeigt beides: erstens einen mit taktischen Führungsaufgaben betreuten General und zweitens die Anwesenheit ziviler Regierungsexperten inklusive der höchsten politischen Verantwortungsebene. Im Bild erscheint die tatsächlich bestimmende Gewalt bescheiden am Rand, aber genau das drückt den Kontrollmechanismus aus: Der Präsident war dabei, er vertraut seinem kompetenten Team, aber er übt eine begleitende Kontrolle aus und trägt die letzte Verantwortung. Dieser Kontrollzuwachs höherer Führungsinstanzen wird durch die Einführung weltraum- bzw. luftgestützter globaler Echtzeitkommunikation, unbemannter semiautonomer Waffensysteme und neuer infanteristischer (Aus-)Rüstungen ermöglicht. Halbautomaten wie Drohnen oder Robots bezeichnen schon ihrem Begriff nach die 40
http://www.n-tv.de/politik/Obama-sah-Toetung-nicht-live-article3251811.html. So etwa Kaufmann (2006). 42 Vgl. Singer (2010a), S. 349; Warburg (2008), S. 311.
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Abhängigkeit von Entscheidungen, die sie dirigieren. Sie sind Avatare im Realen. Leibhaftige Soldaten dagegen können sich, aus welchen Gründen auch immer, über Befehle hinwegsetzen. Darüber hinaus können Halbautomaten ohne externe Entscheidung keinen Schaden anrichten. Sie kreisen, fahren herum, bewegen Güter, sammeln Informationen oder lassen sich von findigen Partisanen zerstören. Das kostet zwar ein paar Dollar oder Euro, aber ein politischer Schaden – d. h. jener Schaden, der gewählte und professionelle Repräsentanten als Systemakteure und Träger entsprechender Leistungsrollen primär interessiert – bleibt jedenfalls aus. Genau deshalb wird es auf dem bestehenden Technologieniveau auch keine vollautomatischen Kampfmaschinen geben – jedenfalls nicht in dem bezeichneten Kontext globaler Sicherheitsoperationen. Das Risiko für Fehlentscheidungen ist viel zu groß, weil das Verhalten unter Realitätsbedingungen „in der Regel nicht vorhersagbar ist“.43 Semiautonome Waffensysteme kommen dagegen dem politischen Kontrollinteresse sehr entgegen. Bezüglich der Systemtypen lässt sich im Einzelnen zeigen, wie sie mit dem politischen Kontrollinteresse korrespondieren: Satellitensysteme: Satelliten sind Automaten im Erdorbit. Einen großen Teil ihrer Funktionen erledigen sie selbstständig, aber sie verfügen selbstverständlich über einen Empfänger, durch den der Kommandozugriff von der Bodenstation aus möglich ist. Weltraumgestützte Kommunikations-, Erdbeobachtungs- und Navigationssysteme werden als Schlüsselelemente globaler Krisenintervention betrachtet.44 Solche Satellitensysteme bieten ortsunabhängige und zeitlich uneingeschränkte Möglichkeiten zu breitbandiger Datenübertragung und Kommunikation.45 Sie erlauben präzise Positions- und Zeitbestimmungen, die Generierung digitaler Geländedaten sowie Aufklärung und Überwachung.46 Im militärischen Bereich ist dies für Kommunikations-, Steuerungs- und Führungsstrukturen, Echtzeit-Kenntnis und prognostische Entscheidungshilfen von tragender Bedeutung. Letztlich sollen mittels leistungsfähiger digitaler Datenverarbeitung und Vernetzung aller relevanten Informationen aktuelle Modelle bzw. Lagebilder zu einem beliebigen Raumausschnitt erstellt werden können.47 Im Rahmen laufender Sicherheitsoperationen ermöglichen Satellitensysteme sowohl eine schnelle und weltweite Informationsgewinnung als auch eine global vernetzte Koordination. Satellitensysteme sind daher die Voraussetzung einer global wirksamen vernetzten Operationsführung.
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Burkhard (2012), S. 157. Vgl. Petermann et al. (2003), S. 17; Weyer (2008), S. 230. 45 Vgl. Hartmann (2006), S. 146 – 150. 46 Schon der Weltraumpionier Herman Noordung (eigentlich Herman Potocˇnik) vergaß nicht, die militärischen und polizeilichen Möglichkeiten der Aufklärung aus dem Weltraum in Betracht zu ziehen. Weltraumstationen, so Noordung 1929 (!), eignen sich sowohl als Basis für Waffensysteme als auch als Zentrum für ein Überwachungssystem, das die ganze Erdoberfläche einem kontrollierenden Blick unterwirft. Niemandem kann es gelingen, „vor solchen ,Argusaugen‘ seine Absichten zu verbergen“; Noordung (1929), S. 158. 47 Vgl. Lange (2004), S. 10 – 13. 44
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Drohnen: Bei Drohnen handelt es sich um ferngelenkte, semi-automatische Flugobjekte, die beobachten und/oder zerstörerisch wirken können.48 Bedingt durch die Möglichkeiten der globalen Echtzeitkommunikation werden sie teilweise von Operateuren gelenkt, die auf der anderen Seite der Welt an einem Steuerungsterminal sitzen und sich in ihrem Dienst fließend abwechseln können. Solche Drohnen können sehr lange über einem Gebiet kreisen, es beobachten und gegebenenfalls auf es einwirken. Im Kern handelt es sich bei Drohnen um vollmanövrierfähige Beobachtungs-, Kommunikations- und Killersatelliten unterhalb des Orbits.49 Während militärische Aufklärungsdrohnen auch in der Öffentlichkeit weitgehend unproblematisch erscheinen, streitet man sich über die bewaffneten Versionen. Die politischen Vorteile liegen darin, dass eigene Opfer reduziert werden können, die eigenen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz insgesamt einen besseren Schutz genießen und dass eine sehr präzise Einwirkung auf Ziele möglich wird, wodurch Kollateralschäden ebenfalls vermeidbar erscheinen. Ein weiterer Vorteil ergibt sich daraus, dass Drohnen in Zonen eingesetzt werden können, die nicht offiziell als Kriegsgebiet definiert sind. Ein solcher „verdeckter Krieg ohne Ort und Schlachtfeld“50 kann weitgehend vor der Öffentlichkeit verborgen werden. Wie die US-amerikanische Praxis in Waziristan oder im Jemen zeigt, können die Einsätze bewaffneter Drohnen auch sehr gut in einer Grauzone zwischen Militär und Geheimdienst ,verschwinden‘. Bewaffnete Drohnen offerieren der zivilen Politik damit die charmante Chance auf eine ,leise‘ Aufstandsbekämpfung außerhalb des normalen journalistischen Wahrnehmungsbereichs und unterhalb der massenmedialen Aufmerksamkeitsschwelle. Sie bieten zudem globale Einsatzmöglichkeiten, ohne dass größere Materialmengen und Truppenverbände verschoben werden müssten. Weiterhin sind sie vergleichsweise kostengünstig. Insgesamt erweitern Drohnen das politische Optionsfeld in den kriegerischen Bereich hinein – und zwar ohne dass die Politik damit in der Regel verbundene negative Folgen wie eigene Tote, die Verwicklungen einer Besatzungspolitik oder eine kritische Öffentlichkeit einkaufen muss.51 Zudem sind Drohnen konstitutiv kontrollbedürftig und daher aus der Sicht ziviler Verantwortungsträger eine Art ,besserer Soldat‘. Roboter: Roboter sind programmierte, teilautonome und bewegliche Systeme am Boden. Sie können sich laufend, hüpfend, rollend oder auf Ketten im Gelände bewegen. Sie agieren nicht in einem atopischen Raum, sondern sie müssen sich in sich verändernden und im Detail unbekannten Räumen orientieren. Roboter agieren in der Welt, nicht über ihr. Das stellt im Vergleich zu Drohnen erheblich höhere Anforderungen an die Verarbeitung und Bewertung sensorischer Rauminformationen und 48
Marschflugkörper dagegen steuern sich selbst ins Ziel. Die US-Luftwaffe erprobt die vollmanövrierfähige Weltraumdrohne Boeing X-37 B – eine kleinere und unbemannte Version des ausgemusterten Space Shuttle. Auch auf und unter dem Wasser sind Drohnen unterwegs. 50 Hüppauf (2013), S. 501. 51 Vgl. Schörnig (2012), S. 194 f.; Singer (2010b). 49
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reduziert die Bewegungsfähigkeit und Operationsgeschwindigkeit.52 Mit vollautomatischen Kampfrobotern ist allein schon aufgrund aus diesen Anforderungen herrührender technischer Schwierigkeiten in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.53 Das Einsatzspektrum von Kriegsrobotern reicht von Aufklärung, Patrouille, Transport (pack bot), Minenräumen bis hin zum Kampf. Im Bereich des Bodenkampfes mindern Roboter einerseits das Risiko eigener Opfer und erweitern andererseits die Möglichkeit der Aufklärung und Waffeneinwirkung. Allerdings sind Roboter deutlich verwundbarer als Drohen und erst recht Satelliten. Sie können leicht ohne große Schäden in feindliche Hände fallen, so dass die Gefahr eines unerwünschten Technologietransfers besteht. Da semiautonome Roboter ebenfalls konstitutiv weisungsabhängig sind, stellen allerdings auch sie aus Sicht politischer Interessen ,bessere Soldaten‘ dar. Was man sich zudem sehr gut vorstellen kann, sind begrenzt wirksame automatische Routinen unterhalb der Aggressionsschwelle, die dann einsetzen, wenn die Verbindung unterbrochen wird – zum Beispiel automatische Rescue- und Rückzugsroutinen, wenn die begleitenden Soldatinnen oder Soldaten verwundet werden und in Sicherheit gebracht werden müssen. Die Möglichkeiten für Automatismen sind groß genug, um die weitere Entwicklung zu motivieren und zu finanzieren. Intelligente Kampfanzüge: Wie bereits angedeutet, ist der Einsatz vollautomatischer Roboter mit (zu) vielen Risiken verbunden. Entweder wird ihr Verhalten in komplexen und schnell variierenden Umgebungen unvorhersehbar oder es bleibt zu vorhersehbar.54 Im ersten Fall gefährden sie die politische Missionslegitimation, im zweiten Fall werden sie zum militärischen Risiko. Daher ist eine engere MenschMaschine-Kooperation wahrscheinlich.55 Eine solche Kooperation kann durch intelligente Kampfanzüge für die Infanterie erleichtert und optimiert werden. Zudem ver52
Vgl. Weiss (2012), S. 167 f. Derzeit gibt es am Boden keine vollständig autonomen und beweglichen Kriegsmaschinen. Die drei der Automatisierung entgegenstehenden Schlüsselbereiche sind nach Lora Weiss Wahrnehmung, Test und Interoperabilität. Selbst den besten Robotern fehlt die Fähigkeit, sensorische Informationen „in Echtzeit zu verarbeiten und auf dieser Grundlage intelligent zu handeln“ (ebd., S. 167). Weiterhin gibt es „keinen allgemein akzeptierten Weg, ein autonomes System jeder erdenklichen Situation auszusetzen, der es in der wirklichen Welt begegnen könnte.“ (ebd.) Und schließlich ist die Zusammenarbeit mit anderen Robotertypen sowie mit bemannten Systemen und Menschen ein Problem; vgl. ebd., S. 170 ff. 54 Ron Arkin (2012) meint, dass vollautomatische Systeme, die „besseren Soldaten“ seien, denn diese hätten einen einprogrammierten „ethical governor“, der Kriegsverbrechen zuverlässig verhindern kann. Allerdings bietet ein solcher governor viel zu viele Möglichkeiten zu seiner Überlistung und senkt damit die militärische Effizienz. Ein schießwütiger automatischer Cowboy dagegen würde den Anomiefaktor im Rahmen globaler Ordnungseinsätze gravierend erhöhen und wäre politisch kontraproduktiv (siehe dazu auch weiter unten). Denkbar wäre höchstens eine strenge techno-ethische Blockade im Sinne Arkins, die nur durch einen menschlichen Override-Befehl außer Kraft gesetzt werden kann. Das aber wäre kein Vollautomat mehr. 55 Vgl. Burkhard (2012), S. 158. 53
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bessern solche Kampfanzüge die Einbettung der Soldatinnen und Soldaten in die vernetzte Operationsführung. Intelligente Kampfanzüge nähern das Soldatenbild dem des „Cyborg Soldier“56 an und erhöhen die Kontrollmöglichkeit seitens übergeordneter Führungsebenen.57 Wie die Navy Seals in Abbottabad können sie mit den höchsten Führungsebenen inklusive der zivilen Verantwortungsebene verbunden werden. Beispiele für solche Kampfanzugsysteme sind der Infanterist der Zukunft – Erweitertes System (System IdZ) der Bundeswehr58 oder der aktuell für die USArmy in der Entwicklung befindliche Tactical Assault Light Operator Suit (TALOS). Letzterer stellt ein intelligentes Kampanzugsystem inklusive Rüstung und Exoskelett-Unterstützung dar.59 Waffensysteme wie bewaffnete Drohnen oder Roboter mindern einerseits die Gefahr von Kollateralschäden und sie reduzieren das Verletzungsrisiko für die eigenen Soldatinnen und Soldaten, was wiederum auch in Konfliktsituationen normadäquates Verhalten der Soldatinnen und Soldaten wahrscheinlicher macht. Andererseits sind sie konstitutiv kontrollbedürftig und tragen so dazu bei, dass das militärische Geschehen für die Politik funktional bleibt. Weltraum- und luftgestützte Kommunikations- und Aufklärungssysteme einerseits sowie intelligente Kampfanzüge andererseits ermöglichen zudem eine erhöhte Kontrolle über die menschlichen Akteure auf der unmittelbar operativen Ebene. Zusammengefasst kommt die aktuelle Technisierungswelle des Krieges durch a) Kommunikations- und Aufklärungsautomaten, b) semiautonome Waffensysteme und c) die Cyborgisierung des soldatischen Körpers den paradoxen Anforderungen sehr entgegen, die sich im Kontext von normativ stark gerahmten Sicherheitsoperationen ergeben.60 Die Betonung liegt dabei auf ihrer politisch-normativen Rahmung. Diese Rahmung verweist auf das strukturelle Legitimationsdefizit solcher Sicherheitsoperationen, das im zivilgesellschaftlichen Weltnomos schlicht unhintergehbar bleibt. Dieses gegenseitige Sich-Entgegenkommen zivilgesellschaftlicher Weltsicherheit und technologischer Entwicklung bleibt allerdings nicht ohne Risiken und Rückwirkungen, auf die abschließend eingegangen werden soll.
V. Risiken und Rückwirkungen Derzeit heiß diskutiert wird erstens das Problem einer gewissenslosen Rationalisierung des Tötens, das Bernd Hüppauf schon in Bezug auf den Ersten Weltkrieg als Problem identifiziert hat (siehe oben). Im Kontext seelsorgerischer Problemwahr56
Gray (1997), S. 195 – 211. Zur soziologischen Annäherung an die Cyborggesellschaft vgl. Spreen (2014). 58 Vgl. Ley (2010). 59 Vgl. McGarry (2014). 60 Weitere Gründe – etwa ökonomische oder kulturelle – sind damit keineswegs ausgeschlossen; vgl. Schörnig (2012). 57
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nehmung werden Rückwirkungen auf die eigenen Soldatinnen und Soldaten befürchtet (,Senken der Gewaltschwelle‘), die nicht einfach von der Hand gewiesen werden können.61 Zweitens entstehen gerade für Drohnenoperateure Risiken einer psychischen Versehrung, die aus einer paradoxen Verkopplung widersprechender sozialer Formen resultieren. Denn Drohnenoperateure befinden sich im Krieg. Durch die hochauflösenden Kameras ihrer Drohnen sind sie nah dran am blutigen Gewaltgeschehen. Gleichzeitig kehren sie täglich wie andere Arbeitnehmer auch – nicht aber wie Soldaten im Einsatz – zu ihrer Familie zurück und kümmern sich um die Hausaufgaben ihrer Kinder usw. Dieser alltägliche Wechsel zwischen einer mit existenziellen Erfahrungen und hoher dauerhafter Konzentration belasteten Leistungsrolle und der familialen Lebenswelt stellt einen extremen Stressfaktor dar, der zu posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) führen kann.62 Drittens werden die bezeichneten Strukturänderungen erhebliche Auswirkungen auf die Führungsmodelle und -traditionen haben, denn sie ziehen eine Entantwortung des Soldaten nach sich. Dies betrifft auch die deutschen Konzepte der Inneren Führung, des Bürgers in Uniform und der Auftragstaktik. Die Verknüpfung zwischen politischer Verantwortung und soldatischem Handeln vor Ort führt zu Kontrollmodellen, die eine Überwachung militärischer Operationen durch zivile Instanzen beinhalten – zum Beispiel das Modell der „assertive control“ nach Peter Feaver.63 Konzepte, die dagegen auf Selbststeuerung und auf die liberale Idee der Führung der Führungen setzen, erscheinen als politisch riskant. Viertens kann im Zusammenhang mit der Rationalisierung des Tötens die politische Versuchung entstehen, eine Art ,halbautomatische Gewaltherrschaft‘ zu errichten. Tendenzen hierzu lässt der US-amerikanische Drohnenkrieg in Waziristan erkennen. Der Einsatz erfolgt nicht im Kontext von Kampfoperationen am Boden, sondern er gestaltet sich als Menschenjagd aus der Luft, wobei die Definition des feindlichen Kämpfers erheblich ausgeweitet wurde und Verdächtige bereits aufgrund ihres Bewegungsprofils angegriffen werden können (signature strikes). Über die Kollateralschäden der Hellfire-Angriffe sind keine genauen Daten erhältlich, aber kritische Beobachter gehen von einer erheblichen Anzahl getöteter Nichtkombattanten bzw. Zivilisten aus, die sich in der Nähe identifizierter Ziele aufgehalten haben oder versehentlich getroffen wurden. In dieser Einsatzpraxis manifestiert sich damit das Prinzip der Kollektivhaftung bzw. einer „räumlichen Definition von Feindschaft“.64 Dieses Prinzip kommt auch darin zum Ausdruck, dass über dem Gebiet ständig das Summen der unsichtbaren Predator oder Reaper vernommen werden kann, womit die gesamte Bevölkerung zum Objekt einer psychologischen Kriegführung gemacht wird. Die rechtliche Legitimationsgrundlage der US-amerikanischen Praxis in Waziristan 61
Vgl. Koch (2012); Schubert (2012). Vgl. Singer (2010a), S. 344 – 347; ders. (2010b). 63 Feaver (1996); vgl. Hagen (2005), S. 79 f. 64 Galling-Stiehler (2013), S. 100.
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(,Selbstverteidigung‘) sieht sich daher zunehmend internationaler Kritik ausgesetzt.65 Aus einer derartigen Entgrenzung des Drohneneinsatzes kann gerade in Krisengebieten und Unruhezonen eine tiefgreifende Vertrauenskrise in die weltzivilgesellschaftliche Ordnungspolitik erwachsen.66 Psychologische Kriegführung und eine ausgedehnte Einsatzpraxis wie in Waziristan beschädigen den übergreifenden Anspruch auf die prinzipielle Konsensfähigkeit der zivilgesellschaftlichen Werteordnung, weil das Bemühen darum, Schuldige von Unschuldigen zu trennen, mit zunehmender Dauer des Drohneneinsatzes und zunehmender Häufigkeit ziviler Opfer immer fraglicher erscheint. Vielmehr droht ,die Drohne‘ zum Symbol einer tödlichen Praxis zu werden, die den Diskurs aufkündigt. Die US-Regierung hat zwar angekündigt, dass strengere Einsatzegeln implementiert werden sollen,67 aber man darf davon ausgehen, dass ein erheblicher Legitimationsschaden bereits angerichtet wurde. Fünftens besteht das Risiko, dass unbemannte Maschinen entwickelt werden und zum Einsatz kommen, die nicht einfach nur autonome Aufklärungs- oder Hilfsaktionen ausführen, sondern die autonom töten. Die Übertragung der Entscheidung über Leben und Tod auf eine Künstliche Intelligenz aber produziert – und zwar gänzlich unabhängig von der genauen Ausgestaltung der Entscheidungsregeln68 – eine Vernichtungsmaschine. Sie tötet nicht nur einzelne oder mehrere Individuen, sondern sie übermittelt eine generelle Botschaft. Diese Botschaft besagt, dass man das Leben seiner Feinde grundsätzlich für nicht wertvoll genug erachtet, um sich mit eigenen Entscheidungen darüber zu befassen. Eine solche Botschaft kündigt die Einheit der Gattung auf; sie wäre im tiefsten Sinne des Wortes menschenverachtend und dementiert den normativen Rahmen der globalen Sicherheitsordnung vollständig. Im Sinne der Nachhaltigkeit und Glaubwürdigkeit der globalen humanitären Werteordnung wäre ein umfassender Bann solcher – inzwischen immerhin am Machbarkeitshorizont aufscheinender – Systeme sinnvoll.69 Sechstens entsteht mit der Entwicklung von Drohnen und Robotern natürlich ein Proliferationsrisiko, das allerdings kaum mehr aufzuhalten sein dürfte. Es ist schier ein Wunder, dass bislang noch kein spektakulärer Terroranschlag mittels Drohnen verübt wurde, obwohl schon die Rote Armee Fraktion einen Anschlag mittels einer Kamikaze-Drohne plante.70 Das Gesamtbild, das sich also aus soziologischer Sicht zu den bewaffneten Halbautomaten zeichnen lässt, ist – wie könnte es anders sein – ein ambivalentes. Einerseits kommen diese Systeme den spezifischen Anforderungen, die sich im Kontext des globalen Sicherheitsdispositivs der Zivilgesellschaft stellen, sehr entgegen. Andererseits bringen sie Risiken und Rückwirkungen mit sich, die im Rahmen dieser 65
Vgl. Matern (2013); Rötzer (2012), S. 206; Weber (2012). Stroh (2013), S. 91. 67 Vgl. Matern (2013). 68 Das gilt auch für Konstrukte wie Ron Arkins „ethical governor“; vgl. Arkin (2012). 69 Altmann (2012) gibt einen Überblick über die Struktur der Debatte. 70 Vgl. Rötzer (2012), S. 207 – 213. 66
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Ordnung neue, gewichtige Probleme hervorrufen. Eines dürfte aber klar geworden sein: Die Vorstellung, dass die Kriegführung mittels Satelliten, Drohnen, Robotern und vollvernetzten Soldatinnen und Soldaten in erster Linie eine Gefährdung der Zivilgesellschaft selbst darstellt, ist wenig überzeugend. Das Kritikraster, das diese Vorstellung formuliert, greift zu kurz. Vielmehr zeigt sich, dass die Rahmenbedingungen einer sowohl zivilgesellschaftlichen als auch globalen politischen Sicherheitsordnung und die Tendenz zu semiautonomen Waffensystemen einander gegenseitig entsprechen. Satelliten, Drohnen, Robots und cyborg soldiers sind die technische Antwort auf ein politisches Problem – und zwar auf das strukturelle Legitimationsproblem militärischer Sicherheitsmittel. Es geht um die politische Kontrollierbarkeit des Kriegsgeschehens, was zugleich immer auch heißt, dass es für die Politik um die Bedingungen der Möglichkeit militärischer Handlungsoptionen geht. Literatur Altmann, Jürgen (2012): Der Kriegsmaschine Grenzen setzen. Rüstungsbegrenzung für bewaffnete unbemannte Fahrzeuge. In: Marsiske, Hans-Arthur (Hrsg.): Kriegsmaschinen. Roboter im Militäreinsatz, Hannover, S. 215 – 229. Apelt, Maja (2012): Das Gewaltdilemma moderner Streitkräfte. In: Spreen, Dierk/Trotha, Trutz von (Hrsg.): Krieg und Zivilgesellschaft, Berlin, S. 219 – 237. Arkin, Ron (2012): Sind Roboter die besseren Soldaten? In: Marsiske, Hans-Arthur (Hrsg.): Kriegsmaschinen. Roboter im Militäreinsatz, Hannover, S. 141 – 144. Brock, Lothar (2003): Verlassene Baustellen. Global Governance im Zeichen des Krieges. In: Fues, Thomas/Hippler, Jochen (Hrsg.): Globale Politik. Entwicklung und Frieden in der Weltgesellschaft. Festschrift für Franz Nuscheler, Bonn, S. 58 – 89. – (2005): Neue Sicherheitsdiskurse. Vom „erweiterten Sicherheitsbegriff“ zur globalen Konfliktintervention. In: Wissenschaft und Frieden, Heft 4, S. 18 – 21. Burkhard, Hans-Dieter (2012): Lasst die Maschinen machen. Wie intelligent ist Künstliche Intelligenz? In: Marsiske, Hans-Arthur (Hrsg.): Kriegsmaschinen. Roboter im Militäreinsatz, Hannover, S. 147 – 173. Buzan, Berry/Wæver, Ole/Wilde, Jaap de (1998): Security. A New Framework For Analysis, Boulder. Clausewitz, Carl von (1952): Vom Kriege. Hinterlassenes Werk. Vollständige Ausgabe im Urtext mit historisch-kritischer Würdigung von Dr. Werner Hahlweg, 16. Auflage, Bonn. Dörner, Andreas (1996): Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: Zur Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen, Reinbek bei Hamburg. Eichberg, Henning (1989): Festung, Zentralmacht und Sozialgeometrie. Kriegsingenieurwesen des 17. Jahrhunderts in den Herzogtümern Bremen und Verden, Köln. Feaver, Peter (1996): The Civil-Military Problematique: Huntington, Janowitz, and the Question of Civilian Control. In: Armed Forces & Society, Band 23 Heft 2, S. 149 – 178. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977 – 1978, Frankfurt a. M.
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III. Militärische Gewalt aus soldatischer Perspektive
Gewaltdispositionen bei der frühen Bundeswehr-Elite Von Wolfgang Schmidt
I. Einleitung und Fragestellung „Es geht bei der Ausrüstung der Luftwaffe mit A-Bomben und A-Raketen darum, ein Verteidigungs-deterrent [sic!] zu schaffen. Während der Angreifer seine Angriffe auf das militärische Potential richten wird, muss der Verteidigungs-deterrent [sic!] darauf abgestellt sein, den Feind in seiner Bevölkerung und Wirtschaftskraft dort zu treffen (also ausgemachte Terrorwirkung). Unter diesen Aspekten muss die Ausstattung der Luftwaffe mit A-Bomben erfolgen. Durch entsprechende Dislokation und ein entsprechendes hardening muss sichergestellt sein, dass bei einem feindlichen A-Angriff einige Verteidigungswaffen überleben, um den vernichtenden Schlag gegen den Lebensraum des Feindes zu führen“.1
Es ist nicht bekannt, ob der erste Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant (später General) Josef Kammhuber, mit solchen Ausführungen zur Lage am 5. März 1959 die anwesenden 14 Generale, fünf Obersten und vier Oberstleutnante überrascht hat. Wir kennen die Reaktion der Besprechungsteilnehmer nicht. Im Übrigen wurden diese Sätze als persönliche Bemerkungen des Inspekteurs etikettiert und es wurde darum ersucht, sie als streng vertraulich zu betrachten. Möglicherweise hielt sich die Überraschung aber deshalb in Grenzen, weil hierin das damals aktuelle strategische Dispositiv des NATO-Bündnisses zum Ausdruck gebracht wurde. Aufgrund ihrer inneren Logik setzte die Strategie der sogenannten „Massiven Vergeltung“ allerdings nicht nur eine umfassende Abstützung auf Nuklearwaffen voraus, sondern sie beinhaltete aus Gründen der Glaubwürdigkeit die Fähigkeit zum Zweitschlag2 – weniger euphemistisch formuliert: die Fähigkeit zur Vergeltung. Mit dem Wort „Terrorwirkung“ war zweifellos zum einen genau das gemeint, um was es eigentlich zu gehen schien und auch angesprochen wurde, nämlich den „Lebensraum des Feindes“ umfassend zu „vernichten“. Der Feind war die Sowjetunion, eine mit Blick auf die Zeitumstände im Kalten Krieg wohl kaum weiter zu erläuternde Perzeption.3 Zum anderen werden in diesen Sätzen aber auch militärisch-funktionale Schlussfolgerun1
Bundesarchiv (abgekürzt zit. BArch), BL 1/14653, Tagebuch Inspekteur Luftwaffe, Notiz über Besprechung mit den Generalen der Luftwaffe am 5. 3. 1959. 2 Vgl. Greiner/Maier/Rebhan (2003). Zur Rolle der Bundesrepublik Deutschland vgl. Thoß (2006); Steinhoff/Pommerin (1992). 3 Vgl. Wiggershaus (1993).
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gen angesprochen, die aus professioneller Perspektive als erforderlich angesehen wurden und auf ungeteilte Akzeptanz stoßen mochten – und wenn nicht, dann musste dafür Sorge getragen werden, dass solches Denken zum Allgemeingut werde. Wie sonst sollte man folgende Anweisung Kammhubers verstehen: „Alle Offiziere der Luftwaffe sind damit vertraut zu machen, dass die Luftwaffe mit dem Ziel aufgestellt wird, einen Atomkrieg zu führen. Ein konventioneller Krieg ist bei der russischen Überlegenheit an konventionellen Waffen nicht denkbar“.4 Die wohl anzunehmende Übereinstimmung der Besprechungsteilnehmer mit diesen Vorstellungen wird dadurch erklärlich, dass ein Gutteil dieser Offiziere zwei Generationenkohorten angehörte, die in den 1890er-Jahren und um 1910 Geborenen, für die das Zeitalter der Extreme zwischen 1914 und 1945 den zentralen militärischen Handlungs- und Erfahrungsrahmen darstellte. Die meisten von ihnen bekleideten schon vor 1945 den Rang eines Generals oder höheren Stabsoffiziers und waren demzufolge mit den Anforderungen und Folgen eines Luftmachteinsatzes, wie er sich im Zeitalter der Weltkriege herauskristallisiert hatte, nicht nur prinzipiell sondern durch eigene Kampf- und Stabserfahrungen höchst vertraut5. Insgesamt waren bis Ende 1957 von der Bundeswehr 44 Generale und Admirale ernannt worden, die solche Ränge schon in der Wehrmacht erlangt hatten. Mit Stand von 1956 hatten 31 Generale, 100 Oberste und 84 Oberstleutnante den ehemaligen General- bzw. Admiralstäben der Wehrmacht angehört.6 Kammhubers Bemerkungen werfen jedoch grundsätzlichere Fragen auf. Wo liegt der Ursprung zumindest einer solchen Gewaltsemantik? Immerhin stammten die Worte von einem Spitzenvertreter jener Bundeswehr, deren verfassungsrechtliche Rolle doch eng auf die Defensive und Nothilfe innerhalb eines Bündnisses westlicher Demokratien zugeschnitten war. Mithin gab die Friedensbindung des Militärs geradezu die normative Begründung für Auftrag und Aufgaben der Armee ab.7 Finden wir solche zumindest sprachlich zum Ausdruck gebrachten Gewaltdispositionen nun allein in der Biografie des Protagonisten, oder ist mit Blick auf die Zeit- und Milieuheimat der ersten Bundeswehr-Elite – hier verstanden als eine weitgehend homogene Erlebnisgeneration extremster Gewalthandlungen – vielmehr von einer milieuspezifischen, kollektiven und am Ende gar generationsübergreifenden Streuung auszuge4 BArch, BL 1/14653, Tagebuch Inspekteur Luftwaffe, Notiz über Besprechung mit den Generalen der Luftwaffe am 23. 6. 1959. 5 Unter den Teilnehmern der Besprechung waren u. a. Generalmajor Hermann Plocher, Jg. 1901, Generalmajor Martin Harlinghausen, Jg. 1902, Generalmajor Joachim-Friedrich Huth, Jg. 1906, Brigadegeneral Johannes Steinhoff, Jg. 1913, Brigadegeneral Johannes Trautloft, Jg. 1911, Brigadegeneral Max Ibel, Jg. 1896, Brigadegeneral Sigismund Freiherr von Falkenstein, Jg. 1903, Oberst Kurt Kuhlmey, Jg. 1913, Oberst Helmut Mahlke, Jg. 1913, Fliegerführer in der Deutschen Luftwaffe bis 1945. Zur Entwicklung des Luftkrieges im Zeitalter der Weltkriege vgl. Murray (1999); Boog (1993). 6 Vgl. Bald (1999). 7 Vgl. von Bredow (2000). Zum politischen Prozess in der Aufrüstungsphase vgl. Ehlert (1993).
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hen?8 Haben wir es dabei mit „karriereorientierten, traditionsgebundenen Gewalttechnokraten mit einer durchgängig opportunistischen Grundhaltung“9 zu tun, wie Martin Kutz es aus streitkräftekritischer Perspektive prägnant und generell für die militärischen Spitzenvertreter der Aufbaugenerationen der Bundeswehr formuliert hat? Mehr noch lässt sich fragen, ob sich hinter der zunächst einmal unterstellten Gewaltdisposition zwei Soldatentypen formieren, die sich im Zeitalter der Weltkriege herausbildeten und die wenigstens bis in die Aufbaujahre der Bundeswehr ihre Prägungen zur Entfaltung brachten. Nach Kutz, dessen Formationen als Referenz- und Kontrastfolie nachfolgender Ausführungen dienen, zeigte sich der eine Typus als emotionsloser und kalt kalkulierender Gewalttechnokrat, „dem alles nur Mittel zum Zweck ist und dessen Zwecke keinerlei ethischen Begründung bedürfen“, wohingegen der zweite Typus ein „völkisch, nationalistisch, rassistisch-antisemitisch geprägter Menschenschlächter“ sei, gleichsam die Definition des politischen Soldaten der Wehrmacht.10 Unter Berücksichtigung erfahrungsgeschichtlicher Ansätze, wie sie in der modernen Militärhistoriografie11 seit geraumer Zeit zur Anwendung kommen, befragen wir zunächst einmal das eingangs zitierte biografische Beispiel mit Bezug zum zeitlichen Kontext und in fallweiser gruppenbiografischer Verrechnung nach dem Herkommen solcher Gewaltdispositionen. Mit Joseph Kammhuber als eine Art ,Leitfossil‘ für das Spitzenoffizierkorps der frühen Bundeswehr sollen weiterhin die Ursachen und Rahmenbedingungen des generationellen militärischen Gewalthandelns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet werden. Vor der von Martin Kutz aufgespannten Referenzfolie sollen schließlich die Wirkmechanismen dieser Strömungsgrößen mit Blick auf die normativen Bedingungen der Bundeswehr und die militärischen Herausforderungen in den ersten beiden Jahrzehnten des Kalten Krieges diskutiert werden.
II. Generationelle Kriegserfahrungen des Ersten Weltkrieges Der Protagonist Joseph Kammhuber12 stand 1959 im 63. Lebensjahr. 1914 war er kriegsfreiwilliger Soldat geworden, bis seine erste Dienstzeit 1945 im Range eines Generals der Flieger endete. Damit stand er an der Spitze der Altersskala der von der Bundeswehr übernommenen ehemaligen Generale und Admirale der Wehrmacht. Der jüngste war 48 Jahre alt. Das durchschnittliche Alter der einzelnen Dienstgrade 8 Zum Generationenkonzept in der Geschichtswissenschaft allgemein vgl. u. a: Weisbrod (2005); Jureit (2006). Zum Generationenkonzept in der Militärgeschichte vgl. u. a. Hammerich/Schlaffer (2011). 9 Kutz (2007), S. 69. 10 Beide Zitate von Kutz (2008), S. 268. 11 Zum Spektrum moderner militärhistorischer Ansätze vgl. Echternkamp/Schmidt/Vogel (2010). 12 Zu den biografischen Ausführungen vgl. Schmidt (2011).
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lag bei 57 Jahren.13 Die erste Generalsriege der Bundeswehr entstammte unter berufsbiografischer Perspektive einer Epoche, die historiografisch heute unter der Chiffre ,Zeitalter der Weltkriege‘ firmiert und die nichts anderes bedeutet, als eine Zeit der „Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt“, wie es kaum treffender im Untertitel einer beachtenswerten Studie von Volker Berghan zu lesen steht.14 Aufgewachsen in der spätwilhelminischen Zeit mit ihrem immer stärker auch gesellschaftlich anwachsenden Militarismus gehörte Kammhuber zu jener Schüler- und Studentengeneration, die 1914 vom durchaus nicht alle sozialen Schichten gleichermaßen befallenden ,August-Erlebnis‘ ergriffen worden war. Am 24. August meldete er sich als Kriegsfreiwilliger bei der Ersatzkompanie des königlich-bayerischen 3. Pionierbataillons in Augsburg. Nach der Erinnerung ihm nahestehender Personen habe er mehrfach in verschiedenen Münchner Kasernen versucht, als Kriegsfreiwilliger auch bei der Infanterie angenommen zu werden – zunächst jedoch vergebens, was möglicherweise mit seiner jugendlichen Erscheinung sowie seiner nicht gerade großen und robusten Statur zusammenhing. Für ihn sollte es jedenfalls eine tränenreiche Erfahrung gewesen sein. Nachdem aber die erklärtermaßen „aus Begeisterung“ getroffene Meldung „zu den Waffen“ geklappt hatte, erwies sie sich als ein in jeder Hinsicht einschneidender Schritt im Leben des 18jährigen, der nach eigenem Bekunden „beste Aussicht hatte das Gymnasium mit Auszeichnung zu absolvieren und [ihm] beste Unterlagen für ein erfolgreiches Hochschulstudium zu schaffen“.15 Die Realität des Krieges, die er während der schweren Kämpfe vom Frühjahr bis zum Sommer 1915 im lothringischen Priesterwald (Pont-à-Mousson, Département Meuthe-et-Moselle) u. a. mit einer Verschüttung durch Minenquetschung, Nervenschock und Behandlung in einem Nervenkrankenhaus erlebte, bewirkte offenbar keine erkennbare Distanzierung vom Soldatsein, so wie beispielsweise bei jenem Abiturienten, der, ebenfalls Augustfreiwilliger, sechs Monate später geschrieben hatte: „Mit welch überschwänglichen Gefühlen bin ich in diesen Krieg gezogen, liebe Mutter. Und jetzt sitze ich hier, von Grauen geschüttelt“.16 Kammhuber hingegen entschied sich für eine Laufbahn als aktiver Offizier, jetzt endlich bei der Infanterie – ähnlich wie der nur um ein Jahr ältere Ernst Jünger. Die Parallelität dieser beiden Biografien im Ersten Weltkrieg mag Zufall gewesen sein. Sie demonstriert freilich ein augenscheinlich verbreitetes Muster innerhalb dieser Alterskohorte. Mehr noch sollten Militär und Krieg beide Lebensentwürfe zwar in unterschiedlicher zeitlicher wie qualitativer Dimension, im Grunde jedoch nachhaltig bestimmen: mehr literarisch im Sinne des kriegerischen Nationalismus bei dem einen,17 eher kriegshandwerklicher 13
Vgl. Bald (1999), S. 51. Hierzu exemplarisch Berghan (2002). s. hierzu auch die Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes „Zeitalter der Weltkriege“. 15 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv (abgekürzt zit. BayHStA KA), OP 54819, Schreiben Leutnant Josef Kammhuber an Bayer. 20. Infanterieregiment, 7. 6. 1919. 16 http://www.stmuk.bayern.de/blz/web/erster_weltkrieg/7.html (letzter Zugriff: 10. 12. 2014). 17 Hierzu vgl. Kiesel (2013). 14
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Natur bei dem anderen. Nach Ausbildungskursen zum Offizier stand Leutnant Kammhuber 1917 wieder an der Westfront. Die lapidaren Einträge in seinem Personalbogen vom Stellungskampf in Lothringen, Doppelschlacht Aisne-Champagne, Stellungskampf am Chemin des Dames und Abwehrschlacht bei Verdun von März 1917 bis August 1918 markieren Zentralorte von Gewalt und Tod für Hunderttausende. Vor Letzterem blieb Kammhuber zwar verschont, nicht jedoch vor einer „hochgradigen Nervenreizung“ mit anschließendem Lazarettaufenthalt in der Heimat. Ausweislich seiner ersten Friedensbeurteilung vom 1. August 1919 hatte er sich davon „noch nicht ganz erholt“.18 Reduziert auf Zahlen, umfasste sein Kriegserlebnis im Ersten Weltkrieg 14 Monate als Pionier bzw. Infanteriezug- und Kompanieführer im Truppendienst an der Front und einen Monat in der Etappe des besetzten Gebiets. In der Heimat brachte er 25 Monate bei der Ausbildung zu, vier Monate war er krank und sieben Monate diente er in sogenannten Schonungsstellen beim Ersatzbataillon. Psychohistorische Analysen, die die motivationalen Aspekten historischer Prozesse untersuchen,19 bemessen den Dispositionsrahmen Erster Weltkrieg als einen gewichtigen Agenten bei der Formierung tief gründender und weitreichender individueller Gewaltdispositionen. Im Lichte des eben beschriebenen Gewalterfahrungsrahmens scheint dabei der Brief von Kammhubers Schwester an den Minister für Militärische Angelegenheiten aus dem Jahr 1919 um Belassung ihres Bruders beim Militär eine erkenntnisleitende Spur zu legen. „Vater und Mutter tot, der jüngste Bruder noch in der Schule ich ebenso ohne größeren. Stehen wir nun gänzlich blos [sic!] da. Sollen wir jetzt anfangen, zu verzweifeln, wie waren wir froh, dass unser Bruder für uns sorgen kann, und jetzt sollen wir wieder in die alte Sorge zurückgeschleutert [sic!] werden, o [sic!] wie soll das so weitergehen? Ich flehe Ew. Hochwohlgeboren an, unsern Ernährer doch in seiner Stelle zu lassen oder ihm einen lebenslänglichen Verdienst zuzuweisen. Mit Mühe und Not schafften wir seine Uniform an, die sehr teuer kam, ja wir machten sogar Schulden deswegen, und nun soll alles umsonst sein? Ich apelliere [sic!] an Ihren Gerechtigkeitssinn und bitte Sie untertänigst, stehen Sie uns bei, Hilfe tut not. Mein Bruder weis nicht, dass ich Ew. Hochwohlgeboren schreibe. Er steht da in stummer Verzweiflung und hofft, dass das Militär doch noch bestehen bleibt“.20
Abgesehen davon, dass die offenbar prekären familiären Umstände ein gewichtiger Beweggrund nach sozialer Sicherheit gewesen sind, scheint namentlich der letzte Satz aufzuzeigen, dass Kammhubers Kriegs- und jetzige Kriegsfolgenerfahrungen eine Form seelischer Verwundung hervorriefen, die ihn tatsächlich und für andere erkennbar traumatisiert hatten. In der Beurteilung des Regimentskommandeurs steht entsprechend: „hat sich von seiner Kriegsbeschädigung (Nervenchoc [sic!] durch Verschüttung) noch nicht ganz erholt“.21 Die psychohistorische Analyse bewertet aufgrund dieses Umstandes zusammen mit dem offenkundigen Fehlen äuße18
BayHStA KA, OP 54819. Zu diesem Forschungsfeld vgl. u. a. Dörr (2010). 20 BayHStA KA, OP 54819, Brief, 19. 3. 1919. 21 BayHStA KA, OP 54819, Beurteilung, 29. 7. 1919.
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rer Anerkennung als Offizier und sozialer Sicherheit die dann doch erfolgte Wiedereinstellung als Soldat in die Reichswehr als psychische Stabilisierungsfunktion. Es handelte sich also um eine Bewältigungsstrategie, die jedoch „in der Umkehr von Ohnmacht und Macht und in einer aggressiven Vermeidung von Unterlegenheit unter Betonung seiner Grandiosität“22 bestand. Sicherlich gehörte die primäre Gewalterfahrung im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg zu den gewichtigen Prämissen in der Biografie dieses Protagonisten und vieler seiner Altersgenossen. Vor ihren flächendeckenden Ausschlägen in der Weimarer Republik als konfliktreiches politisches und gleichsam gesellschaftliches Phänomen konnte wohl keiner die Augen verschließen.23 Sie fanden auch ihren kulturellen Niederschlag, der sich bis hinein in die Literatur entlang der politischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien der Zeit bewegte. Von Ernst Jüngers die soldatische Gewalt gleichsam als anthropologische Männlichkeitsmetapher im Geiste des soldatischen Nationalismus verherrlichende Publikationen war schon die Rede. Für die nationalistisch-faschistische Sichtweise mögen die Werke des Schriftstellers Erich Edwin Dwingers herhalten, der Alterskohorte der bisher hier erwähnten Protagonisten angehörend und ebenfalls Kriegsfreiwilliger von 1914. Das andere, pazifistische Spektrum bediente Erich Maria Remarque, auch der 1890er-Jahre- und Kriegserlebnisgeneration 1914/18 zugehörig. Besonders in seinem Roman Der Weg zurück beschrieb dieser die doppelbödige Sichtweise bestimmter staatstragender Eliten und kontrastierte dagegen eindringlich den Zustand der Veteranen – etwa wenn eine seiner aus dem Kriege zurückgekehrten, traumatisierten Soldatenfiguren physische Gewalt und somit etwas anwandte, was ihm zuvor zur legitimierten, alltäglich praktizierten Notwendigkeit geworden war, ihn aber im Nachkrieg nun vor den Richterstuhl führte: „Weshalb musste er denn gleich schießen, fragt er [der Richter – W.S.], so furchtbar schlimm war es doch nicht, dass das Mädchen mal mit jemand anders im Café war. Es war für ihn schlimmer, als ein Schuss in den Magen, sage ich. Warum? Weil das Mädchen das einzige war, was er hatte. Er hatte doch auch noch seine Mutter, wirft der Staatsanwalt ein. Die kann er doch nicht heiraten, erwidere ich. Weshalb musste er denn unbedingt heiraten, fragt der Vorsitzende, ist er nicht noch zu jung? Er war ja auch nicht zu jung, um Soldat zu werden, entgegne ich. Und heiraten wollte er, weil er sich nach dem Krieg nicht wieder zurechtfand, weil er Angst vor sich selbst und seinen Erinnerungen bekam und einen Halt suchte. Das war ihm dieses Mädchen. (…) Wollen Sie uns nun sagen, weshalb Sie den Revolver bei sich hatten? Albert schweigt. Den hat er doch immer bei sich, sage ich. Immer, fragt der Vorsitzende. Natürlich, erwidere ich, genau so wie sein Taschentuch und seine Uhr. Der Vorsitzende sieht mich erstaunt an. Ein Revolver ist doch etwas anderes als ein Taschentuch. Richtig, sage ich, das Taschentuch brauchte er nicht so nötig. Das hat er manchmal auch nicht bei sich gehabt. Und der Revolver? Der hat ihm ein paarmal das Leben gerettet. Den trägt er seit drei Jahren bei sich. Das ist seine Gewohnheit vom Felde her. (…) 22 23
Horn (2011), S. 452. Zum Problemkontext vgl. Büttner (2008); Weinrich (2013).
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Aber Sie haben doch einen Menschen getötet, sagt der Vorsitzende eindringlich. Ich habe schon viele Menschen getötet, antwortet Albert gleichgültig. Der Staatsanwalt springt hoch. Der Geschworene hört auf an seinen Nägeln zu kauen. Was haben Sie getan, fragt der Vorsitzende atemlos. Im Kriege, werfe ich rasch ein. Das ist doch etwas ganz anderes, erklärt der Staatsanwalt enttäuscht. Da hebt Albert den Kopf. Wieso ist das etwas anderes? Der Staatsanwalt erhebt sich. Wollen Sie etwa den Kampf fürs Vaterland mit Ihrer Tat hier vergleichen? Nein, erwidert Albert, die Leute, die ich damals erschossen habe, haben mir nichts getan. Unerhört, sagt der Staatsanwalt angewidert und wendet sich zum Vorsitzenden, ich muss doch sehr bitten. Doch der ist ruhiger. Wohin kämen wir, wenn alle Soldaten so denken wie Sie, sagt er. Das stimmt, sage ich, aber dafür sind wir nicht verantwortlich. Hätte man dem da – ich zeige auf Albert – nicht beigebracht, auf Menschen zu schießen, dann hätte er es jetzt auch nicht getan.“24
Aber reichte die hier als gesellschaftliches Phänomen in kulturellem Format geschilderte Gewalterfahrung in Krieg und Nachkrieg allein aus, um Joseph Kammhuber Jahrzehnte später zu solch gigantischen Gewaltprojektionen unter Nuklearkriegsbedingungen zu führen, wie sie eingangs zitiert sind? In gewisser Weise spielten sie tatsächlich eine Rolle. Geradezu augenfällig spiegelt sein Sprachduktus von 1959 eine Kontinuität des Denkens in den Kategorien des „Totalen Krieges“ wieder, wenn er expressis verbis „den vernichtenden Schlag gegen den Lebensraum des Feindes zu führen“ als Ziel hervorhebt. Zweifellos verbirgt sich hinter solchen Einlassungen die Vorstellungswelt des Generalobersten Erich Ludendorff, von 1916 bis 1918 Erster Generalquartiermeister der deutschen Obersten Heeresleitung und faktischer ,Militärdiktator‘ des Deutschen Reiches sowie Autor des in den 1930er-Jahren viel beachteten Buches „Der Totale Krieg“.25 Weil der Erste Weltkrieg gezeigt habe, dass nicht mehr nur Armeen sondern auch die Völker den unmittelbaren Kriegshandlungen unterworfen seien, bedinge das Wesen des Totalen Krieges Ludendorffs Überzeugung nach nicht nur eine Entschlossenheit des ganzen Volkes, welche durch diktatorische Mittel herbeizuführen sei, sondern bedeute vielmehr eine Form der Kriegführung nach dem Motto „wie du mir so ich dir“.26 Speziell durch die modernen Luftstreitkräfte, mit denen „Bomben aller Art (…) über die Bevölkerung“ abgeworfen werden könnten, habe der Krieg „an Vertiefung gewonnen“.27 Genau dies, die Führung eines Luftkriegs unter den Bedingungen des Totalen Krieges, umschreibt den zentralen Erfahrungsraum, innerhalb dessen sich Joseph Kammhuber dann zwischen 1930 und 1945 bewegte.
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Remarque (1931), S. 282 – 283. Ludendorff (1935). Zur Biografie vgl. Nebelin (2011). 26 Ludendorff (1935), S. 6. 27 Ebd., S. 5.
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III. Generationelle Erfahrungen in der Zeit von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg Die Reichswehr, der aufgrund der Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles u. a. die Luftkriegsmittel verboten worden waren, hatte 1924 in Kooperation mit der Roten Armee in Lipezk südlich von Moskau ein geheimes Flugausbildungszentrum gegründet.28 Zu den gut 200 dort bis 1933 ausgebildeten Offizieren gehörte 1930/31 auch Kammhuber, der so die Militärfliegerei erlernte. Deswegen war er im Sommer 1933 auch einer von jenen 76 Offizieren der Aufbaugeneration der nationalsozialistischen Luftwaffe und saß dann über Jahre hinweg an einer zentralen Stelle der Aufrüstung im Reichsluftfahrtministerium.29 Unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Kriegspolitik spielte der Angriffsgedanke bei der Luftkriegskonzeption und der Luftrüstung eine zentrale Rolle.30 Zunächst noch defensiv eingestellt, reflektierte die Aufrüstungsplanung der Luftwaffe ab 1935 zunehmend die Angriffsoption im Rahmen der Offensive. In seinem unter dem Titel Organisationsstudie 1950 verfassten Organisationsplan schlug der damalige Oberstleutnant i. G. Kammhuber einen zwischen 1937 und 1942 aufzustellenden Friedensumfang von 12 Kampf-, vier Stuka-, sechs schweren und vier leichten Jagdgeschwadern vor, wobei die schweren Jäger ausschließlich für Angriffszwecke gedacht waren. Dies entsprach einem Verhältnis von 5,5 zu 1 zwischen Luftangriffs- und Luftverteidigungsflugzeugen. Im Kriegsfalle sollten die Zahlen verdoppelt werden, wonach der Schwerpunkt eindeutig mit 44 Kampf- und 8 Jagdgeschwadern auf dem Angriff lag.31 Mit der sogenannten Risiko-Luftwaffe verfügte Hitler über ein Machtmittel, das für einen Krieg zwar noch nicht ausreichte, sich aber als außenpolitisches Drohinstrument hervorragend einsetzen ließ. Hitler genügte das Planungsziel der Organisationsstudie 1950 freilich nicht. Er verlangte 1939 vielmehr die Verfünffachung der Fliegerkräfte bis 1942, eine allein schon technisch und rüstungspolitisch unlösbare Aufgabe. Selbst ein daraufhin auf ein Drittel dieses Vorhabens von Kammhuber als nunmehrigem Chef des Organisationsstabes der Luftwaffe reduziertes ,Notprogramm‘ hielten die Amtschefs im Reichsluftfahrtministerium für nicht durchführbar. Als die Entscheidung zu Ungunsten des Kammhuber-Programms ausfiel, erbat dieser ein ihm auch gewährtes Truppenkommando.32 Damit stand er jedoch keineswegs in Opposition zu den grundsätzlichen Zielvorstellungen der gewaltsamen Angriffs28 Zum Gesamtkomplex der deutsch-russischen Militärkooperation in der Zwischenkriegszeit vgl. Zeidler (1993). 29 Völker (1967). 30 Vgl. hierzu die 1935 erlassene Dienstvorschrift Luftkriegführung (LDv 16). Zur Bedeutung des Angriffs u. a. Kapitel I, Nr. 9 u. 10: „Aufgabe der Wehrmacht im Kriege ist die Brechung des feindlichen Willens. Der Wille der Nation findet in der Wehrmacht seine stärkste Verkörperung. Die feindliche Wehrmacht niederzuringen ist daher vornehmstes Ziel im Kriege. Aufgabe der Luftwaffe ist es, durch Führung des Krieges zur Luft im Rahmen des Gesamtkrieges diesem Ziel zu dienen“. 31 Boog (1982), S. 137. 32 Ebd., S. 230 – 231.
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politik Deutschlands, sondern bewies im funktionalistischen Sinn lediglich ein gewisses Maß an generalstabsmäßigem Realitätssinn, so wie es auch sein Altersgenosse Adolf Heusinger tat, der spätere erste Generalinspekteur der Bundeswehr.33 In Abwandlung jedenfalls von dessen nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegter, durchaus auch als erinnerungspolitische Handlung zu verstehende Schrift Befehl im Widerstreit34 könnte man bei Kammhuber formulieren: ,Gehorsam im Widerstreit‘. Gerade im Handlungs- und Erfahrungsraum Krieg von 1939 bis 1945 sollte sich dieses scheinbar nicht zu sprengende Loyalitätsdispositiv immer wieder zeigen und zu gewaltsamen Ausschlägen unterschiedlicher Intensität führen. Zur Illustration sei hier ein – sicherlich – anekdotenhaftes Beispiel angeführt, von dem der Spiegel 1957 seinen Lesern zu berichten wusste: „Am 29. März 1945 traf General Kammhuber [damals „Sonderbeauftragter für die Bekämpfung der viermotorigen Feindflugzeuge“ – W.S.] zum letzten Mal mit seinem Obersten Befehlshaber Hitler zusammen. Es ging um die Frage, ob die Jägerproduktion noch nach Süddeutschland verlegt werden sollte. Kammhuber fand das sinnlos. Er sagte zu Hitler: ,Der Krieg ist sowieso verloren’. Der Führer nahm bedächtig seine Brille ab: ,Das weiß ich auch, aber ich will bis zum Äußersten kämpfen’. Soldat Kammhuber gehorchte“.35
Wie bei vielen seiner Generationsgenossen zeigte sich also auch bei Kammhuber neben Einsatzbereitschaft und trotz augenscheinlich rationalem Erkennen der militärischen Lage eine hohe Loyalität gegenüber einem Regime, das die Gewaltkultur zur Grundlage seiner Existenz und seines Handelns gemacht hatte.36 Speziell die traumatische Erfahrung vom November 1918, von der die militärische Milieuheimat um Kammhuber besonders betroffen gewesen war, und die sogenannte DolchstoßLegende entfalteten Jahrzehnte später ihre Langzeitwirkung in Form eines immer ra-
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Der Berufsweg von Adolf Heusinger (1897 – 1982) glich in weiten Bereichen dem von Joseph Kammhuber. Auch er war Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, durchlief die getarnte Generalstabsausbildung in der Reichswehr und diente Anfang der 1930er-Jahre gemeinsam mit Kammhuber im Truppenamt der Reichswehr. Von 1937 bis 1944 arbeitete er (seit 1940 deren Chef) in der Operationsabteilung des Oberkommando des Heeres. Faktisch war er das planerische und operative Gehirn u. a. des Krieges gegen die Sowjetunion und wichtiger militärischer Berater Hitlers. Gleichwohl gehörte er am Rande zum weiteren Kreis der späten Militäropposition gegen Hitler. Nach 1945 bei nachrichtendienstlichen Einrichtungen der USStreitkräfte unter Vertrag, beriet er mit anderen Bundeskanzler Konrad Adenauer in Fragen der westdeutschen Aufrüstung. Von 1957 bis 1961 war er der erste Generalinspekteur der Bundeswehr sowie dann bis zu seinem Dienstzeitende 1964 Vorsitzender des Ständigen Militärausschusses der NATO in Washington. Zur Biografie vgl. das teilweise nicht ganz von apologetischer Bewunderung freie Buch von Meyer (2001). 34 Heusinger (1950). 35 Der kleine General (1957), S. 24. 36 Aus der Fülle der dazu vorliegenden Literatur und zum Zusammenhang zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus sei exemplarisch verwiesen auf Wehler (2009); Frei (2013); Messerschmidt (1969); Förster (2007); Hamburger Institut für Sozialforschung (2002).
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dikaler geführten und nicht enden wollenden Krieges.37 In der Rückschau, und vielleicht auch als eine Art Entlastungsstrategie für versäumtes Handeln, führte mancher aus der Generalsriege gar an, die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, als Kriegsziel von den Alliierten 1943 formuliert, habe den aussichtslosen Kampf selbst derer zur patriotischen Pflicht gemacht, die dem Regime inzwischen distanziert gegenüberstanden.38 Gleichwohl zählte unser Protagonist nicht zu den ideologisierten Fanatikern in der Endphase des Krieges, wie etwa Oberst Hajo Herrmann oder Generalmajor Dietrich Peltz. Jene gehörten als Angehörige der Jahrgänge 1913/14 zu der durch den Nationalsozialismus besonders stark geprägten und demzufolge durch die Bereitschaft zu extensiven Gewalthandlungen gekennzeichnete Offiziersgeneration. Um angesichts wachsender Benzinknappheit auf der einen und zunehmender Intensität der Luftangriffe auf der anderen Seite noch einen Schutzschild über Deutschland aufrechterhalten zu können, schlugen beide beispielsweise vor, die US-amerikanischen Bomber an einem Tag durch 1.500 Jagdflugzeuge mit jungen, kaum ausgebildeten Piloten rammen zu lassen und diese so zum Absturz zu bringen. Dahinter stand die menschenverachtende Überlegung, dass die Amerikaner bei hohen eigenen Verlusten wohl die Angriffe aussetzten. Die zu erwartenden Totalverluste an deutschen Flugzeugführer nahm man dabei nicht nur billigend in Kauf, sondern bezog dies willentlich in die eigene Strategie ein.39 Kammhuber bezeichnete solche Himmelfahrtkommandos als „Selbstmordunsinn“.40 Im Lichte der an den Tag gelegten Regimeloyalität mutet eine solches Argument freilich ,rational‘ an, ganz im Sinne des von Kutz beschrieben Typus des emotionslosen Gewalttechnokraten. Entgrenztes Gewalthandeln oder zumindest deren Organisation scheint Kammhubers Sache damals nicht gewesen zu sein. Blickt man jedoch auf das Kollektiv der frühen Bundeswehr-Elite, so offenbart sich bei dessem Alters- und Milieugenossen, dem ersten Inspekteur des Heeres der Bundeswehr, sehr wohl eine diesbezügliche Dimension. Dabei ist die Biografie von Hans Röttiger (1896 – 1960) im Gewalthandlungskontext des Zweiten Weltkrieges durchaus komplex, augenscheinlich geradezu gegensätzlich. Auf der einen Seite stehen Befehle, die ihn sowohl als „emotionslose (n), kalt kalkulierende(n) Gewalttechnokraten“ wie auch als Typus eines „völkisch, nationalistisch, rassistisch-antisemitisch geprägte(n) Menschenschlächter(s)“ im Kutz’schen Sinne auszuweisen scheinen.41 Als Chef des Generalstabes des XXXXI. Armeekorps hatte Röttiger im Dezember 1941 in Russland verfügt: 37 Zur Rolle des Ersten Weltkrieges vgl. Krumeich (2010). Zur deutschen Kriegführung vgl. Kunz (2005) und Zimmermann (2009). Zur Nachwirkung auf die Bundeswehrelite vgl. Naumann (2007). 38 Vgl. Meyer (1982), S. 581. 39 Wenngleich innerhalb eines anderen Handlungsrahmens, gleichwohl die Gewalthandlungen an den eigenen Soldaten besonders augenfällig herausstellend, sei auf die Rolle der Wehrmachtjustiz hingewiesen. Vgl. Messerschmidt (2005). 40 Boog (2008), S. 830 – 831. 41 Kutz (2008), S. 268.
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„Zerstörung aller landesüblicher Schlitten, soweit sie nicht von der eigenen Truppe benötigt werden. Wegnahme des gesamten Viehs; notfalls erschießen und verbrennen. Aufstellung von Zerstörkommandos für die abseits der großen Straßen liegenden Dörfer“.
Zweieinhalb Jahre später ordnete er in einem von ihm als Chef des Generalstabes des Oberbefehlshabers Südwest bei den Rückzugsoperationen in Italien an: „Zerstörungen aller Art müssen viel mehr mit sadistischer Phantasie durchgeführt werden. Unter Einsatz des letzten Pioniers und auch von schnell hierin belehrten Soldaten anderer Waffen muss jede Straße, jede Brücke oder sonstiger Kunstbau restlos zerstört werden. Auch Sprengen von Häusern in engen Ortschaften zur Verstopfung der Straße ist anzuwenden“.
Und schließlich: „Todesurteile gegen ital. Soldaten können die beabsichtigte abschreckende Wirkung nur erzielen, wenn auch deren Durchführung möglichst vielen Soldaten vor Augen geführt wird. Es genügt daher nicht, dass die Todesurteile verlesen werden, sondern sie sind vor den Einheit, welcher der Verurteilte angehörte, zu vollstrecken“.42
In diesen Befehlen zeigte sich der erste Inspekteur des Heeres der Bundeswehr als ein milieuspezifischer Angehöriger einer Generation, deren Zeitheimat das Gewalthandeln im Sinne des von Kutz beschriebenen Offiziertyps scheinbar gleichsam zum Allgemeingut erhoben hatte.43 Gewaltexzesse etwa gegen die italienische Zivilbevölkerung oder Infrastruktur wurden per Befehl legitimiert. Andererseits bestimmte wenigstens 1945 nicht die bei vielen anderen Generalskameraden zu Tage getretene Regimeloyalität und deren Begründungen Röttigers Handeln, als er entgegen den Vorstellungen des Oberbefehlshabers West mit ganz wenigen anderen schon im April Verhandlungen zwecks Teilkapitulation in Italien aufnahm und dabei Verhaftung und Androhung eines Standgerichts in Kauf nahm.44 Mehr noch gehörte Röttiger als Zeuge im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ebenfalls zu den ganz wenigen Offizieren, die zunächst zugaben, „die Wehrmacht habe im Ostkrieg an Judenerschießungen mitgewirkt“45, womit er seinen ehemaligen Vorgesetzten schwer belastete. Zusätzlich durch seinen Loyalitätsbruch bei Kriegsende beschwerte er jetzt durch diese Zeugenaussage auch seine bisherigen Gruppenbeziehungen, indem er damit im Widerspruch zur allgemeinen Marschrichtung stand, die darauf abzielte zu betonen, zwischen Wehrmacht und Einsatzgruppen habe es keine arbeitsteilige Zusammenarbeit gegeben. Doch die alten Rangstrukturen trugen noch und die Milieuspezifika taten ein Übriges. Nach Gesprächen im Kameradenkreis und im Kreuzverhör widerrief Röttiger seine Aussage. Zudem entschloss er sich – wohl aus Loyalität und sicher wider besseren Wissens – im Entnazifizierungsverfahren gegen sei42 Für alle drei Zitate: BArch, BW 2/25535, Leiter des Bundescharchiv-Militärarchivs an Oberst Dr. Heidegger, BMVg Fü S VII 8 vom 26. 1. 1968. 43 Einblicke in die Gewaltdispositionen deutscher Generale im Zweiten Weltkrieg liefert Neitzel (2006). Zum Gewalthandeln bzw. zum Gewalthandlungsrahmen in der Wehrmacht aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive vgl. auch Neitzel/Welzer (2011); Römer (2012). 44 Vgl. von Lingen (2004), S. 47. 45 Ebd., S. 89.
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nen ehemaligen Oberbefehlshaber Kesselring 1952 dazu, dessen These vom völkerrechtswidrigen Krieg der italienischen Zivilbevölkerung gegen die deutsche Wehrmacht zu stützen – eine reine Gefälligkeitserklärung. Denn auf dieser These fußte die Verteidigungslinie, wonach die Maßnahmen der deutschen Besatzer lediglich Reaktionen auf kriegsvölkerrechtliches Fehlverhalten der Besetzten gewesen seien. Wie nachhaltig der Loyalitätsbruch für Röttiger ausfiel, zeigte sich bei dessen Einstellung in die Bundeswehr 1956. Nicht nur eine angeblich mangelnde militärische Eignung, sondern vielmehr dessen militärisch-nonkonformes Verhalten bei Kriegsende sowie das Auftreten als Zeuge beim Nürnberger Tribunal disqualifizierten ihn in den Augen der ,Regimeloyalen‘. Besonders harsch und eindeutig urteilte der von vielen verehrte und bis hinein in die Bundeswehr noch einflussreiche ehemalige Generalfeldmarschall Erich von Manstein: Nicht nur, dass er Röttigers Eigenmächtigkeiten zu Kriegsende als „Meuterei“ ablehnte. Dieser habe, so Manstein, auch deshalb nicht das Zeug zum Heeresinspekteur, „weil er nie ein Kommando geführt und nicht mal ein Ritterkreuz habe“.46 Bei allem Unterschied hinsichtlich ihrer Regimeloyalität 1945 waren Röttiger und Kammhuber gleichwohl beide rationale Gewalttechnokraten, die am Ende sehr viel mehr verband als trennte. Innerhalb des Referenzrahmens Kriegsvorbereitung und Kriegführung kam bei Kammhuber ein Talent besonders zum Tragen, das unter dem Blickwinkel rationaler Gewaltdispositionen von nicht zu unterschätzender Bedeutung zu sein scheint – seine ausgesprochen gute Befähigung zu Planung und Organisation. Es war offenbar Teil seines Wesens, systematisch zu planen mit dem Ziel, die Agenda dann exakt abzuarbeiten und den einmal beschrittenen, für richtig gehaltenen Weg trotz Einwände anderer oder geänderter Umstände nicht zu verlassen. Noch im hohen Alter soll er den Erinnerungen ihm nahe stehender Personen zufolge selbst die Urlaubsreisen penibel vorbereitet und auch bei schlechtem Wetter die für diesen Tag vorgesehene Bergtouren konsequent durchgeführt haben. Seine Dienstzeit ab 1933 bis hinein in die Luftwaffe der Bundesrepublik Deutschland führte ihn jedenfalls überwiegend zu Verwendungen mit hohem Organisationsanspruch – etwa von 1937 bis 1939 als Chef des Organisationsstabes im Generalstab der Luftwaffe, 1939 als Chef des Generalstabes einer Luftflotte, zwischen 1940 und Ende 1943 als Organisator der Nachtjagd im Rahmen der Reichsluftverteidigung und 1944/45 als Oberbefehlshaber einer Luftflotte. Schließlich leitete er ab 1956 den Aufbau der Bundes-Luftwaffe. Er sei eine „technisch-organisatorische Kapazität“ – so 1961 die Einschätzung von Verteidigungsminister Franz Strauß, als es darum ging, Kammhuber in den für den Inspekteur einer Teilstreitkraft eigentlich nicht vorgesehenen Rang eines Viersterne-Generals zu befördern.47 Zweifellos zählten Aufbau, Organisation und Führung der Nachtjagd zu den wesentlichen Strömungsgrößen im Erfahrungsraum Krieg, innerhalb dessen Kammhubers ohnehin schon ausgeprägte Kompetenz zur Bewältigung komplexer Organisa46 47
Zit. n. von Lingen (2011), S. 402. BArch, Pers 1/283, Beurteilung vom 23. 2. 1961.
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tionsprozesse vollends zu Geltung kam. Sie bildeten auch eine wichtige Referenzfolie für sein späteres Handeln beim Aufbau der Bundes-Luftwaffe. Angesichts der bereits ab 1940 zunehmenden Einflüge britischer Bomber in das Reichsgebiet bei Nacht und dem absehbaren Scheitern der bodengestützten Luftverteidigung durch die Flakartillerie war die Luftwaffe gezwungen, eine Nachtjagdorganisation aufzubauen. Aufgrund der technischen Faktoren, die die großräumige Zusammenarbeit zwischen Flugmelde- und Funkmessdienst, Flak- und Scheinwerferregimentern und den Jagdflugzeugen bestimmten, wurde zur einheitlichen Führung eine Nachtjagddivision aufgestellt, zu deren Kommandeur man den Oberst Josef Kammhuber bestellte.48 Mit großem Engagement entwickelte und organisierte er das komplexe Zusammenspiel dieser Organisation und erhielt zur Durchsetzung seiner Vorstellungen zunächst große Rückendeckung durch Hitler: „Wenn Sie [Kammhuber – W.S.] Schwierigkeiten mit Todt [Rüstungsminister – W.S.] haben, wenden Sie sich an mich [Hitler – W.S.].“49 Ehemalige enge Mitarbeiter erinnerten sich in dieser Zeit an ihn als einen Mann, der „rücksichtslos auf Ziele fixiert, von deren Legitimität er überzeugt“ gewesen sei. Mit „Brutalität, List und Tücke“, zu denen sich auch Auseinandersetzungen mit Hitler und Göring sowie „Scharmützel mit höheren Stäben und Konflikte mit der Industrie“ gesellten,50 hatte Kammhuber bis September 1942 zwar eine große Nachtjagdorganisation geschaffen; durch die den angreifenden britischen Verbänden allerdings kaum mehr als höchsten vier Prozent an Verlusten zugefügt wurde.51 Mit den vernichtenden Nachtangriffen auf Köln und Hamburg 1943, denen die Nachtjagd nur wenig entgegensetzen konnten, sank der Stern Kammhubers. „Wegen schwerer Differenzen mit Hitler und Göring am 15.9.43 zunächst als Kommand. General, am 15.11.43 auch als General der Nachtjagd abgelöst“52 – so seine Angaben auf dem handschriftlichen Lebenslauf, den er 1956 seiner Bewerbung um Einstellung in die Bundeswehr beifügte. Immerhin hatte man ihn seit 1940 über drei Generalsstellen hinweg zum General der Flieger befördert.
IV. Generationelle Gewaltdispositionen im Lichte nuklearer Kriegsszenarien Mit Blick auf die Berufsbiografie Josef Kammhubers wird man aus psychohistorischer Perspektive dessen Persönlichkeitsstruktur vermutlich nicht fehlinterpretieren, wenn man ihn als „einen äußerlich angepassten, in der Verfolgung mancher Ziele aber rücksichtslosen Egomanen mit deutlich spürbarer aggressiver Energie“ 48 Zum Aufbau der Nachtjagdorganisation im Rahmen des Luftkrieges über Europa vgl. Boog (1990). 49 Der kleine General (1957), S. 22. 50 Falck (2003), S. 169 u. 228. 51 Zur Nachtjagd im Rahmen des Luftkriegs über Europa 1943 – 1944 vgl. Boog (2001). 52 BArch, Pers 1/283, Handschriftlicher Lebenslauf, 1. 3. 1956.
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beschreibt.53 Hierbei handelt es sich um Charaktereigenschaften, die sich unter den Bedingungen des Nationalsozialismus mit seiner durch Gewaltbereitschaft und Größenideen idealisierten Herrenmenschenideologie zum zeittypischen Profil eines Gewaltakteurs weiterentwickeln konnten. Gepaart mit einer durch die Regimeloyalität bis 1945 gezeigten Anpassungsbereitschaft nach oben, wirkte das zuvor skizzierte Profil eines Gewaltakteurs bis hinein in die Bundeswehr. Unter dem Begriff der „Heimatluftverteidigung“ trat Kammhuber 1956 in den seit Beginn der 1950er-Jahre laufenden Planungsprozess westdeutscher Streitkräfte ein. Unterhalb der außen- und sicherheitspolitischen Dimension galt es nach den Vorstellungen eines militärischen Expertenausschusses, also ehemaligen Offizieren, die sich im Auftrag von Bundeskanzler Konrad Adenauer im Oktober 1950 zu einer Tagung im Kloster Himmerod zusammenfanden, darum, eine deutsche Militärorganisation „als Teil eines Zweckverbandes zur Verteidigung Europas“ zu schaffen.54 Wenige Wochen nach seiner Einstellung in die Bundeswehr erklärte Kammhuber einem politischen Kommentator des Süddeutschen Rundfunks gegenüber auf die Frage nach Luftabwehr-Heimatverteidigung: „Das war meine Bedingung zum Wiedereintritt in die Luftwaffe. (…) Sinn der Heimatluftverteidigung ist der Schutz unseres Vaterlandes“.55 Weil unter den Bedingungen von Ost/West-Konflikt und Kaltem Krieg die nationale Sicherheit offenbar nur mehr innerhalb eines euro-atlantischen Bündnisses gewährleistet werden konnte, war den Streitkräfteplaner von Beginn an klar, dass eine neue Armee nur unter Anlehnung an Paten-Mächte vonstattengehen könne. Aufgrund der technologischen Leistungsfähigkeit kamen dazu eigentlich nur die USA in Frage. Diese sollten speziell das strukturelle und operative Profil der westdeutschen Luftstreitkräfte nachhaltig beeinflussen. Kammhuber war klug genug zu erkennen, dass für die Realisierung deutscher Vorstellungen zunächst wenig Spielraum übrig blieb. Als Gestaltungsrahmen, über den er für die zukünftige Luftwaffe glaubte noch verfügen zu können, stellte er sich eine nationale, integrierte Heimatluftverteidigungsorganisation aus Fliegern, Flak und Fernmeldewesen vor.56 Aufgrund der Annahme massiver Angriffe mit ca. 3.500 Flugzeugen im Rahmen einer sowjetischen Aggression57 und seiner Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg habe der Schwerpunkt bei der Luftverteidigung zu liegen. Doch die Patin, die US-Air Force, sah dies anders. Anfang 1958 erhielt Kammhuber vom stellvertretenden Stabschef der US-Air Force, General Curtis LeMay, eindeutige Hinweise auf die Frage, was die beste Form der Verteidigung der USA, Europas und Westdeutschlands gegen Russland sei: „Ich bin von jeher der Auffassung gewesen, dass auch die beste Verteidigung niemals in Bezug auf ihre Wirksamkeit einem gut geführten Angriff gleichkommen kann. Darüber hin-
53
Horn (2011), S. 451. Rautenberg/Wiggershaus (1977), S. 42. 55 BArch, BL 1/14647, Tagebuch Inspekteur Luftwaffe, Vermerk vom 18. 9. 1956. 56 BArch, BL 1/14647, Tagebuch Inspekteur Luftwaffe, Vermerk zu einem Interview vom 28. 9. 1956. 57 Zum Kriegsbild vgl. Lemke (2006), S. 151 – 153. 54
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aus bin ich gerade in unserer heutigen Zeit der Auffassung, dass nur die ,offensive Verteidigung‘ zu einem brauchbaren Erfolg führen kann“.58
In mehrfacher Hinsicht sollten die Umorientierung der NATO-Strategie und die unverhohlen eindrücklichen Hinweise der Amerikaner Folgen für die Luftwaffe allgemein und für Kammhuber besonders haben. Verzugslos hatte dieser die neuen Bedingungen adaptiert und sich besonders nachdrücklich für die nukleare Bewaffnung der Luftwaffe im Rahmen der als defensiv deklarierten Bündnisstrategie eingesetzt. Er hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, dass ein deutscher Bündnisbeitrag insgesamt „mit der größtmöglichen Zahl und Stärke an Waffen (d. h. Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen)“ ausgestattet sein müsse59 – und das im Wissen um die verheerende Wirkung eines nuklearen Schlagabtausches in Mitteleuropa, wie es die Stabsrahmenübungen CARTE BLANCHE (1955) und LION NOIR (1957) demonstriert hatten. Reaktionen aus der deutschen Öffentlichkeit alarmierten besonders die Stäbe der Territorialverbände, die zusammen mit den Zivilschutzkräften unmittelbar mit den Folgen atomarer Einsätze konfrontiert gewesen wären und die deshalb mit Rücksicht auf schwerwiegende psychologische Folgen selbst bei Übungen forderten: „Es muss unseren Verbündeten klar gesagt werden, dass Atombomben auf deutsche Siedlungen, soweit sie vom Feind besetzt sind, nicht abgeworfen werden dürfen. Es wäre unmöglich, eine derartige Maßnahme der deutschen Bevölkerung zu erklären“.60
Selbst im Pentagon wurden schon in den späten 1950er-Jahren Stimmen laut, die fragten, wie weit man in einem globalen Atomkrieg wirklich beim Kernwaffeneinsatz gehen dürfte. Eine Übung hatte gezeigt, dass zur Bekämpfung mehrerer tausend Ziele innerhalb der ersten 15 Stunden auf beiden Seite etwa sieben Millionen Kilotonnen zur Wirkung gebracht würden, davon in den ersten drei Stunden bereits die Hälfte. Was dieser Masseneinsatz „would do to the weather, to crop cycles, to human reproduction, to the population of all areas of the world“, war nicht mehr zu prognostizieren.61 Die Forderung lautete dementsprechend: Neuberechnung der militärisch erforderlichen Ziele und Entwicklung so genannter ,clean bombs‘. Kammhuber wusste von diesen US-amerikanischen Bewertungen und teilte sie dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages mit – aber nicht um auf die nukleare Bremse zu drücken. Im Gegenteil versuchte er damit eine freilich dann nicht erreichte Mehrheit unter den Abgeordneten für die Anschaffung des Marschflugkörpers Matador zu erreichen, wenn er von der „sauberen Atombombe“ sprach, „die in ihrer Wirkung auf den Sprengteil beschränkt ist, der radioaktive Staub fällt weg“.62 Im Übrigen korrespondierten die nuklearen Vorstellungen und Forderungen eines Teils der militärischen mit denen der politischen Elite – zumindest mit denen, die in 58 BArch, BL 1/14648, Tagebuch Inspekteur Luftwaffe, Bericht über Besuch in Washington am 10./11. 2. 1958. 59 Zit. n. Thoß (2006), S. 454. 60 Zit. n. ebd., S. 725. 61 Zit. n. ebd., S. 609. 62 Zit. n. ebd.
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regierungsamtlicher Verantwortung standen und cum grano salis einen ähnlichen generationellen Hintergrund hatten. So suchte etwa Verteidigungsminister Franz Josef Strauß im Zusammenhang mit Berlinkrise und Mauerbau 1961 den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy und dessen Verteidigungsminister Robert McNamara zu bewegen, einige Atomwaffen über der Ostsee oder einem Truppenübungsplatz in der DDR zur Demonstration westlicher Stärke explodieren zu lassen. Dass ein großer Atomschlag zu einem frühen Zeitpunkt notwendig sei, wäre jedenfalls „vorherrschende Ansicht“ damals in Bonn gewesen. Mehr noch erklärten deutsche Diplomaten ein solches Vorgehen damit, die Bundesrepublik dürfe nicht den Verdacht bei ihren Allianzpartnern wie beim potentiellen Gegner bestärken, „dass sie risikoscheu sei“.63 Tatsächlich kam es bekanntermaßen nicht zu einer solchen Eskalation. Gleichwohl hatte Kammhuber mit der strikten Ausrichtung der Luftwaffe auf die atomare Kampfführung seinem Minister Strauß bündnispolitisch kräftig unter die Arme gegriffen. Auch wenn es nicht ganz schlüssig belegt werden kann, so dürfte dies mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Strauß sich vehement im Bundeskabinett und im Bundespersonalausschuss für eine dann tatsächlich erfolgte Beförderung Kammhubers zum Viersterne-General einsetzte, ein Dienstgrad, der, wie bereits erwähnt, für den Inspekteur einer Teilstreitkraft eigentlich nicht vorgesehen war.64 Was auf den ersten Blick als weiterer Beleg für einen kalt kalkulierenden Gewalttechnokraten ohne ethische Grundhaltung herhalten könnte, entpuppt sich auf den zweiten Blick jedoch als eine sehr viel komplexere Gemengelage, unter der die erste militärische Bundeswehrelite insgesamt stand. Das atomare Dilemma in dieser antagonistischen Epoche ließ sich aus vielerlei Gründen von der Bundeswehrgeneralität nicht einfach wegdiskutieren. Da gab es zunächst die Bedrohungsperzeption aus dem Osten und den bündnis- und verteidigungspolitischen Rahmen, innerhalb dessen die erst kurz zuvor aufgenommene Bundesrepublik gerade in dieser Frage militärisch noch kaum etwas mitzureden hatte. Und die Biografie tat ein Übriges. Auf der einen Seite erzwang das atomare Dilemma zwar eine ,revolution in military affairs‘; jedoch waren die ersten Führungskader geprägt von traditionellen und konventionellen Methoden, Strukturen und Erfahrungen der bisherigen Kriegführung. Die Erbschaft der deutschen Wehrmacht schien in gewisser Weise ein angesichts des nuklearen Potenzials, seiner unerhörten Zerstörungskraft und der daraus resultierenden strukturellen Unwahrscheinlichkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, das Territorium der Bundesrepublik militärisch erfolgreich verteidigen zu können, unvermeidliches militärpolitisches wie militärhandwerkliches Umdenken nachgerade unmöglich zu machen. Das gesamte bisherige Berufsbild schien dadurch in Frage gestellt. Obwohl Hans Röttiger und Josef Kammhuber trotz alternativer Werdegänge gleichwohl in den Auffassungen eines modernen Führungsstils und technisch flexibler Kriegführung im Zweiten Weltkrieg bei modernen, technikbestimmten Waffen – Panzer und Luftstreitkräfte – Schnittmengen aufwiesen, zogen beide in der Atomfrage un63 64
Zit. n. Bald (2005), S. 59. Vgl. Schmidt (2011), S. 378 – 379.
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terschiedliche Folgerungen. Nachdem der Deutsche Bundestag 1958 die Ausrüstung der Bundeswehr mit nuklearfähigen Trägerwaffen gebilligt hatte, sah Röttiger eine Schwierigkeit darin, dass Deutschland im Kriegsfalle Gefahr liefe, dann zum atomaren Gefechtsfeld zu werden, wenn die Verteidigungslinie nicht so weit östlich wie möglich läge. Die bewegliche Landkriegführung mit starken Panzerverbänden schien dies lösen zu können, wobei folgender Grundgedanke dahinter stand: „Der Feind muss wissen, dass er bei Überschreiten der Grenze keine Zone findet, der von Seiten der westlichen Verteidigung nur untergeordnete Bedeutung zugemessen wird, dass vielmehr sofort bei Überschreiten der Grenze mit aller Macht zugeschlagen wird. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, dass der Westen Positionen verschenkt, die dem Angreifer später, auch unter dem Einsatz nuklearer Mittel, nicht wieder abgenommen werden können“.65
Für die Luftwaffenführung kam ein solches Festhalten an einer überwiegend herkömmlichen Operationsführung, lediglich dosiert begleitet von taktischen Atomwaffen, einem rückwärtsgewandten Glasperlenspiel gleich. Weil es nach dem atomaren Schlagabtausch „nichts mehr zu operieren gibt – außer in Krankenhäusern“, seien „herkömmliche Landoperationen eine Illusion“, so die Stellungnahme Kammhubers auf Studien des Heeres und der Marine über die künftige strategische Konzeption 1959.66 Angesichts der sowjetischen Überlegenheit im konventionellen Bereich, schien ihm eine eigene konventionelle Kampfführung nachgerade sinnlos zu sein.67 Man mag dies für „Sadismus“ halten, wie es in einer Randbemerkung des Führungsstabes des Heeres auf diese Bewertung zu lesen ist.68 Aber hatte es bei aller in der schwierigen Persönlichkeit Kammhubers liegenden Problematik tatsächlich etwas mit einer sadistischen Gewaltdisposition zu tun, wenn dahinter die Auffassung stand, dass „allein durch eine Saturierung des Westens mit A-Bomben (…) Krieg zu vermeiden ist“ – mithin das Rational einer lückenlosen Abschreckung?69 Nebenbei bemerkt: Ob lückenlose Abschreckung oder lediglich atomar unterstützte herkömmliche Verteidigung – in jedem Fall blieb die Realisierung an die Verfügbarkeit nuklearer Waffen gebunden. Das NATO-Hauptquartier schätzte im Sommer 1960, dass das Bündnis selbst noch 1964 nicht in der Lage sein werde, einen sowjetischen Durchbruch mit herkömmlichen Landoperationen zu verhindern. Scheiterte die Kriegsverhinderung durch Abschreckung, dann würden selbst die Ergebnisse eines auf Mitteleuropa begrenzten Krieges nach Einschätzung eines jüngeren Brigadegenerals der Bundeswehr, immerhin der Chef des Stabes der Bundeswehr, Folgendes bedeuten:
65
Zit. n. von Lingen (2011), S. 405. Zit. n. Thoß (2006), S. 726. 67 BArch, BL 1/14653, Tagebuch Inspekteur Luftwaffe, Besprechung mit Generalen der Luftwaffe am 23. 6. 1959. 68 Zit. n. Thoß (2006), S. 726. 69 BArch, BL 1/14649, Tagebuch Inspekteur Luftwaffe, Notiz über Kommandeurbesprechung am 20. 6. 1958. 66
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„Die Durchführung einer derartigen Planung bedeutet jedoch unweigerlich das Ende der Deutschen Nation, vielleicht auch Europas. Der paradoxe Fall würde Wirklichkeit: ein Teil der Armee übersteht und erringt einen fraglichen ,Sieg‘, die Nation jedoch, die verteidigt werden soll, ist im wesentlichen ausgetilgt (mindestens beim jetzigen Stand unserer Luftschutzvorbereitungen). Das Obsiegen der freien Welt über die Unfreiheit führt also nach diesen Untersuchungen über ein Golgatha des deutschen Volkes“.70
Es war eine vielschichtige Zwickmühle, in der die frühe Bundeswehrelite im Hinblick auf die Nuklearkriegführung steckte. Es handelte sich um eine Situation, die sich keineswegs erschöpfend mit dem Verdikt „karriereorientierter und opportunistischer Gewalttechnokraten“ abtun lässt. Zweifellos erkannten die meisten die darin enthaltene finale Gewaltdimension, mit der sie umzugehen gezwungen waren, wenn auch aufgrund der in ihren Biografien hinterlegten Gewalterfahrungen in durchaus unterschiedlicher Art und Weise. Entlang der Gespräche, die der US-amerikanische Soziologe Hans Speier mit Angehörigen dieser ranghohen deutschen Offiziersgeneration führte, urteilt Klaus Naumann wohl zurecht, dass wenn „sie [die ersten Generale der Bundeswehr – W.S.] nüchterne Erwägungen über atomaren Einsatzmöglichkeiten, Präventivkriegsoptionen oder präemtive Schläge an[stellten)], (…) sie rasch in den Verdacht des amoralischen Expertentums [gerieten]. Äußerten sie aber Skrupel oder gar Ablehnung gegenüber der Nuklearstrategie des Bündnisses, das seit Dezember 1954 grundsätzlich und nicht nur im extremen Notfall auf Atomwaffen setzte, oder bewerteten sie die Atomwaffen als eine nicht kriegsentscheidende Waffe, so galten sie dem amerikanischen Sozialforscher rasch als Repräsentanten alten konventionellen Denkens“.71
Zuzustimmen ist sicherlich auch Naumanns weiteren Folgerung, dass nur eine Minderheit bereit war, ihr bisheriges professionelles Selbstverständnis infrage zu stellen, und dass sich nur bei wenigen „bereits politische Fragen an(deuteten), die in die Zukunft der 1960er Jahre wiesen, in denen es darum ging, das Abschreckungskonzept in eine flexibilisierte und politisierte Gesamtstrategie zu überführen, die der Politik mehr außenpolitische Handlungsfähigkeit versprach und ihr sicherheitspolitisch wenigstens die Chance gab, ihren Primat überhaupt wahrnehmen zu können – wenn sie denn wollte“.72
Als Hardliner einer massiven Vergeltungsstrategie betrachtete Kammhuber solche Entwicklungen zwar mit Skepsis und Sorge. Aber allein daraus zu schließen, er setzte militärische Gewalt vor den Primat des Politischen, ginge doch etwas zu weit. Ihm war es durchaus gegeben, in militärpolitischen Dimensionen zu denken, 70 Bericht Chef des Stabes der Bundeswehr an Verteidigungsminister Franz Josef Strauß über seinen Besuch in Fontainebleau und Paris am 3./4. und 16. 8. 1960. Zit. n. Thoß (2006), S. 727. 71 Naumann (2007), S. 143. Im Auftrag der Rand Corporation hatte der Deutsch-Amerikaner und Emigrant Hans Speier in den 1940er- und 1950er-Jahren Interviews mit ehemaligen Generalen der Wehrmacht geführt. Zweck der Befragung war es u. a. auszuloten, welche aus dieser Personengruppe für eine Verwendung in zukünftigen westdeutschen Streitkräften in Frage kommen könnten. 72 Ebd., S. 164.
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welches ihm von Verteidigungsminister Strauß attestiert worden war.73 Das Normengerüst seines politischen Denkens mit Blick auf die Zeit- und Milieuheimat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dabei natürlich überwiegend von machtpolitischen Ordnungsvorstellungen bestimmt gewesen. Welches Politikverständnis mochte er sonst haben, wenn er seine Kommandeure dazu anhielt, der Soldat habe „in jedem Fall (…) der politischen Führung zu helfen, die gesteckten Ziele zu erreichen. Er hat sich politischen Entscheidungsfragen unterzuordnen“.74 Von politischer Partizipation war nicht die Rede. Hier war er ganz Angehöriger seiner Generationskohorte, die ihre Zeit- und Milieuprägungen nicht abstreifen konnte. Doch wenn er innerhalb seines politischen Dispositivs davon sprach, dass „die Bundesrepublik zu einem zweitrangigen Partner der NATO degradiert (würde), falls die Bundeswehr nicht mit Atomwaffen ausgerüstet wird“75, dann zielte dies auf die Stärkung des deutschen politischen Gewichts im Bündnis und letztlich auf die Teilhabe bei der Frage nach der Rolle von Nuklearwaffen ab.
V. Schlussbetrachtungen Abschließend gilt es, die Spurensuche nach den Gewaltdispositionen der frühen Bundeswehr-Elite im Rahmen der Nuklearstrategie um einen Ausblick in die politische Dimension zu weiten und um zu einer Positionsbestimmung zu gelangen. Denn ganz offensichtlich hat die konstatierte Gewaltdisposition nicht zu realem Gewalthandeln geführt. Waren es die Einsicht in die nichtreversible Finalität eines nuklearen Schlagabtausches oder der normative politische Rahmen, der die Regie dabei übernommen hatte? Zunächst einmal ist es unstrittig und historiografisch hinreichend erforscht, dass sich die Operationsplanungen der NATO und demzufolge diejenige der Bundeswehr im Falle eines Krieges bis in die 1980er-Jahre hinein auf den Einsatz von Nuklearwaffen abstütze – und das beim tatsächlichen Einsatz im Wissen um das damit einhergehende Armageddon.76 Doch ebenso unstrittig ist, dass das als Einhegungskonzept zu verstehende verfassungsrechtliche demokratische Regelwerk, dem die Bundeswehr als „Spätheimkehrer bundesdeutscher Staatlichkeit“77 seit 1955 unterlag, trotz immer wieder vorgekommener Reibungen, Konflikte und Skandale tatsächlich wirkte. Schon 1954 benannte Kanzler Adenauer vor dem Deutschen Bundestag den Rahmen und die Rolle für die zukünftigen Offiziere der westdeutschen Streitkräfte:
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„In Deutschland (…) wird die Armee unter dem Gesetz stehen, das vom Bundestag erlassen wird. Über seine Ausführung werden alle, die in Deutschland politische Mitverantwortung tragen, gemeinsam wachen. (…) Die Armee hat in der Gegenwart nicht mehr die zentrale Stellung, die sie in der alten Gesellschafts- und Staatsform besaß. (…) Das Offizierskorps ist kein exklusiver Bund, der politische Ambitionen verfolgt (…) und in entscheidenden Momenten das Schicksal der Nation in der Hand hält. Nicht zuletzt unter der Einwirkung der Technik wird das Soldat-Sein zu einem Beruf, der gleichgeachtet neben anderen Berufen steht. Er erfüllt seine wichtigen Funktionen in der demokratisch geordneten Gesellschaft, aber (…) er beherrscht sie nicht.“78
Die Bändigung der bewaffneten Macht durch ein demokratisches Regelwerk war der eine Teil der Antwort des Staates darauf, Streitkräfte nicht mehr zu einer Last oder gar Gefährdung der sozialen Ordnung werden zu lassen. Gleichwohl konnte die Durchsetzung des politischen Primats über das Militärische durchaus ein langwieriger Prozess sein. Ein Beleg dafür ist, wenngleich nicht mehr im unmittelbaren Zusammenhang mit den hier näher betrachteten Gewaltdispositionen der frühen Bundeswehr-Elite stehend, der hartnäckige Kampf Helmut Schmidts gegen eine augenscheinliche militärische Autonomie in der Atompolitik – genauer gesagt in der Frage des Einsatzes von sogenannten Atomminen.79 Den anderen Teil übernahm die in die Armee hinein gerichtete Konzeption der Inneren Führung mit dem Staatsbürger in Uniform als seinem Leitbild, wobei dies bei der hier zur Verhandlung gestandenen Personengruppe zugegebenermaßen kaum auf positives Verständnis oder gar Resonanz gestoßen war.80 Beide Elemente können zusammen genommen jedoch durchaus als ein Gewalthemmungs- vielleicht sogar als ein Gewaltverhinderungskonzept verstanden werden. Mit Blick auf die Berufsbiografien der frühen Bundeswehr-Elite darf aber nicht deren durchaus bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen politischen Bedingungen kleingeredet werden. Insofern ist Martin Kutz‘ Bewertung von den karriereorientierten Gewalttechnokraten mit durchgängig opportunistischer Grundhaltung durchaus schlüssig – und zwar auch unter den strukturellen Rahmenbedingungen des demokratischen Staates: „Der politische Opportunismus der Gründergeneration der Bundeswehr und die politischideologischen Angebote der Aufstellungszeit (waren) wichtige Voraussetzungen des gelungenen Aufbaus der Bundeswehr. (…) Der ökonomische Aufstieg Westdeutschlands und die dadurch ermöglichte soziale und wirtschaftliche Integration der ,Verlierer‘ des Zusammenbruchs des NS-Regimes, zu denen ja auch die Berufssoldaten der ,braunen Jahre‘ gehört hatten. Erstmals war Demokratie erfolgreich in Deutschland und Erfolg überzeugt Opportunisten jeglicher Ausrichtung am meisten“.81
78
Deutscher Bundestag. Stenografische Berichte, 61. Sitzung, 2. WP, 15. 12. 1954, S. 3134. Vgl. Bald (2008). 80 Zur Entwicklungsgeschichte der Inneren Führung und dem Staatsbürger in Uniform aus biografischer Perspektive vgl. Schlaffer/Schmidt (2007). Zur Inneren Führung und dem Staatsbürger in Uniform ,in der Praxis‘ vgl. u. a. Schlaffer (2006); Nägler (2010). 81 Kutz (2007), S. 72. 79
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Doch selbst dieser Befund vermag die Tatsache nicht zu erschüttern, dass die Ordnung des demokratischen Staates den zweifellos vorhandenen Gewaltdispositionen der frühen Bundeswehr-Elite einen Riegel zur Gewalthandlungsebene vorgeschoben hat. Gleichwohl lässt sich aber auch nicht beiseiteschieben, dass die Gewalterfahrungen die Generation der frühen Bundeswehrelite an den Krieg gefesselt und als lebensgeschichtliche Konstellation nachhaltig Denken und Handeln bestimmt hat. Und nicht nur diese! Oberst Reinhard Hauschild, zwar nicht dieser ersten, hohen militärischen Gründergeneration selbst anhörend, sondern als 1921 Geborener besonders durch den Zweiten Weltkrieg geprägt, hat diesem Umstand in seiner fiktionalen Figur des Hauptmanns Brencken einen literarischen Ausdruck gegeben und damit gleichzeitig eine Selbstauskunft für sich und seine Generation abgelegt: „Meine Generation ist an den 2. Weltkrieg gekettet, ob sie es wahrhaben will oder nicht.“82 Die Bindungskraft des Krieges und ihrer darin ausgeübten Gewalthandlungen endete zwar vordergründig mit dem Ausscheiden dieser Generationen aus dem aktiven Dienst der Bundeswehr spätestens in den 1970er-Jahren. Dennoch blieben viele nicht nur im Unterbewusstsein bis an ihr Lebensende darin gefangen. Ein Beispiel hierfür ist Günther Rall (1918 – 2009), von 1971 bis 1973 ebenfalls Inspekteur der Luftwaffe, der zwei Drittel seiner 2004 erschienenen Lebenserinnerungen der von 1936 bis 1945 währenden Dienstzeit als Fliegeroffizier im Zweiten Weltkrieg widmete. Dabei steht der kriegerische Erfolg mit 275 Abschüssen im Zentrum der Erzählung, wobei er dem Leser durchaus nicht die ihn damit bedrückenden Last verschweigt, einschließlich ihm wichtiger Rechtfertigungsgründe: „Für die Öffentlichkeit, namentlich für die Öffentlichkeit in den USA, bin ich in dieser Gemeinschaft [der ehemaligen Jagdflieger – W.S.] etwas Besonderes: ,The highest scoring living ace‘, der lebende Jagdflieger mit den meisten Luftsiegen. Die mich dafür bewundern, dass ich 275 Abschüsse erzielte, wissen nichts vom Krieg. Sie wissen nicht, was es für ein ganzes Menschenleben bedeutet, dass man in jungen Jahren töten musste, um nicht selbst getötet zu werden. Sie kennen das plötzliche Entsetzen nicht, das mich beim Zusammensein mit ehemaligen Gegnern überfällt, die heute gute Freunde sind: 60 Jahre früher, und wir hätten mit allen Mitteln versucht, uns gegenseitig auszulöschen. Sie kennen die einsamen Stunden nicht, in denen ich an diejenigen denke, die durch mich und um mich gefallen sind: es waren die Besten und Wertvollsten ihrer Generation. Sie kennen die Scham und die Trauer des Überlebenden nicht. Sie wissen nicht, wie es ist, mit seinem Glück zu hadern und sein Lebtag nicht fertigzuwerden mit der Frage: Warum all die anderen? Warum nicht Du? Ich gäbe viel darum, diese sechs von 86 Jahren meines bisherigen Lebens, die mich für manche zu einer Attraktion machen, wieder loszuwerden“.83
Dennoch, oder gerade weil die Prägekraft der Gewalt so nachhaltig erscheint, sind Rall die Erinnerungen an seine sehr viel länger währende Dienstzeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihn bis an die Spitze der Bundesluftwaffe geführt hatte, im Rahmen seiner biografischen Selbstbefragung deutlich weniger Seiten wert. Mithin ist dies ein Beleg dafür, dass er trotz seiner herausgehobenen Stellung ein zumindest gerin82 83
Hauschild (1974). Vgl. hierzu auch Naumann (2001). Rall (2004), S. 330 – 331.
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geres Gespür für die Historizität der eigenen Diensterfahrung in der Nachkriegsrepublik hatte. Strukturell freilich war der im Zeitalter der Weltkriege geformte und in den Nachkrieg etwa über biographische Kontinuitäten hinüber geführte Gewalthandlungsrahmen für die Bundeswehr mit dem Ende des Kalten Krieges obsolet geworden. Dafür traten neue Gewalthandlungsformate auf und begründeten neue Herausforderungen für die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland. Literatur Bald, Detlef (1999): Alte Kameraden. Offizierskader der Bundeswehr. In: Breymayer, Ursula/ Ulrich, Bernd/Wieland, Karin (Hrsg.): Willensmenschen. Über deutsche Offiziere, Frankfurt a. M., S. 50 – 64. – (2005): Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 – 2005, München. – (2008): Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Der Primat des Politischen über das Militärische 1965 – 1975, Berlin. Berghan, Volker (2002): Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt, Frankfurt a. M. Boog, Horst (1982): Die deutsche Luftwaffenführung 1935 – 1945. Führungsprobleme, Spitzengliederung, Generalstabsausbildung, Stuttgart. – (1990): Der anglo-amerikanische strategische Luftkrieg über Europa und die deutsche Luftverteidigung. In: ders./Rahn, Werner/Stumpf, Reinhard/Wegner, Bernd (Hrsg.), Der globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiative 1941 – 1943, Stuttgart, S. 429 – 565. – (Hrsg.) (1993): Luftkriegführung im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Herford. – (2001): Strategischer Luftkrieg in Europa und Reichsluftverteidigung 1943 – 1945. In: ders./ Krebs, Gerhard/Vogel, Detlef (Hrsg.), Das Deutsche Reich in der Defensive. Strategischer Luftkrieg in Europa, Krieg im Westen und in Ostasien 1943 – 1944/45, Stuttgart/München, S. 3 – 415. – (2008): Die strategische Bomberoffensive der Alliierten gegen Deutschland und die Reichsluftverteidigung in der Schlussphase des Krieges. In: Müller, Rolf-Dieter (Hrsg.), Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945, 1. Halbband: Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht, München, S. 777 – 884. Bredow, Wilfried von (2000): Demokratie und Streitkräfte. Militär, Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden. Büttner, Ursula (2008): Weimar. Die überforderte Republik 1918 – 1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart. Der kleine General (1957). In: Der Spiegel vom 11. 12. 1957, S. 18 – 32. Dörr, Nikolas R. (2010): Zeitgeschichte, Psychologie und Psychoanalyse, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 4. 2010, http://docupedia.de/zg/Zeitgeschichte_Psychologie_ und_Psychoanalyse?oldid=84673 (letzter Zugriff: 10. 12. 2014).
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„Good shot“: Gewalterfahrungen von Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz Von Maren Tomforde „Für die Institution Bundeswehr wie auch die deutsche Nachkriegs- und Nachmauergesellschaft bedeutet diese Erfahrung militärischer Gewalt etwas wesentlich Neues [Hervorhebung M.T.].“1
I. Einleitung Im Jahre 2009 traf ich zum ersten Mal einen Soldaten, der in Afghanistan im Gefecht einen anderen Menschen von der feindlichen Seite getötet hatte. Dieser Offizier erzählte mir von seinen Gefechts- und Gewalterfahrungen, von seinen Emotionen direkt nach dem Kampf sowie von seinen Gedanken zu seinem ISAF-Einsatz nach der Rückkehr nach Deutschland. Mein wissenschaftliches Interesse für die Frage nach Wahrnehmung und Interpretation der Gewalterfahrungen seitens der Bundeswehrsoldaten, die nunmehr die Opfer- wie die Täterperspektive innehaben, war durch das emotional sehr aufgeladene, intensive Gespräch endgültig geweckt. Die Erfahrung militärischer Gewalt im Rahmen des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr stellt nicht nur für die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre Streitkräfte etwas grundlegend Neues dar, sondern auch und insbesondere für die Einsatzsoldaten selbst. Denn es sind die Soldaten2, die die Anwendung von Gewalt professionell als Teil ihres Dienstes für die Bundeswehr seit Jahrzehnten theoretisch einübten, diese jedoch erstmalig seit dem Ende des zweiten Weltkrieges selbst aktiv in Gefechten in Afghanistan wieder anwenden mussten. Durch diese aktive Gewaltanwendung im Afghanistaneinsatz lässt sich in der Tat ein „konstitutiver Bruch“3 verzeichnen, der sich durch die Werte-Diskrepanz zwischen einer „postheroischen deutschen Gesellschaft“4 und den Streitkräften im robusten Einsatz ergibt.5 Aufgrund der sich 1
Langer (2013), S. 70. Aus vereinfachenden Gründen wird im Folgenden das generische Maskulinum verwendet, welches sich gleichermaßen auf Frauen bezieht. 3 Ebd., S. 71. 4 Münkler (2007). 5 Siehe hierzu auch den Beitrag von Leonhard in diesem Band. 2
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immer weiter zuspitzenden Sicherheitslage auch im Norden Afghanistans ging es für die Bundesehrsoldaten spätestens seit 2009 nicht mehr nur um das passive Erleben von Gewalt durch Anschläge, sondern auch um die Herausforderung, aktiv in Gefechten kämpfen und gegebenenfalls auch töten zu müssen. Im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes steht die Leitfrage, wie die Soldaten mit dieser selbst ausgeübten Gewalt umgehen. Nach wie vor findet die Täterperspektive in der Forschung gegenüber der Opferperspektive wenig Beachtung. Soldaten mit Gefechtserfahrungen vereinen meistens beide Perspektiven in sich und sind somit einer doppelten Belastung ausgesetzt. Wie erfahren und verarbeiten die Soldaten das Gefecht, die Angst, die ständige Anspannung, Verwundung, das Töten und den Tod? Welchen Stellenwert nimmt die Gefechtserfahrung unter den Soldaten ein und welche die Gefechtsmedaille als förmliche Anerkennung für die durchlebten Gefahren? Welche Rolle spielen die viel beschworene Kameradschaft sowie der Kameradenhumor in Gefechtssituationen und danach? Wie verändert die Gewalterfahrung das Selbstverständnis der Soldaten? Werden die Soldaten dadurch zu dumpfen Kämpfern und Kriegern fern jeglicher Werte und Normen?6 Der vorliegende Beitrag fokussiert sich auf Basis halbstrukturierter Tiefeninterviews mit Afghanistanrückkehrern ganz bewusst auf die subjektiven Wahrnehmungen und Interpretationen militärischer Gewalt von Einsatzsoldaten. Das Töten gehört nach wie vor zu den verstecktesten Phänomenen moderner Kriege, da viele Kulturund Sozialwissenschaftler eine Hemmschwelle haben, das Töten zu thematisieren und zu erforschen. Diese Hürde soll hier überwunden werden. Es wird beleuchtet, wie Gefechte, das Töten und andere Gewalterfahrungen von den Einsatzsoldaten wahrgenommen, interpretiert und mit Bedeutung versehen werden und Einfluss auf das soldatische Selbstverständnis nehmen.7 Mit anderen Worten geht es hier explizit nicht darum zu erforschen, mit welchen Problemen oder gar Traumatisierungen die Soldaten aus dem Einsatzland Afghanistan nach Hause zurückkehren. Vielmehr soll mittels der ,Stimmen der Soldaten‘ beleuchtet werden, welche symbolische Bedeutung den Gewalterfahrungen (inklusive dem Töten) im militärischen Kontext beigemessen wird und wie diese nach innen in die Streitkräfte und nach außen in die Gesellschaft hineinwirken. Um diese Perspektive der Soldaten und deren gemeinsame Konstruktion von Bedeutung der erfahrenen und selbst ausgeübten Gewalt beleuchten zu können, gliedert sich der Beitrag wie folgt: Zunächst wird auf den Zusammenhang von Gewalt und Kultur eingegangen, da Gewalt – wie soziales Verhalten allgemein – in einem kulturellen Kontext erlernt, tradiert und interpretiert wird. In unserem Falle geht es um 6
Es drängen sich noch viele weitere wichtige Fragen auf, die in diesem Aufsatz aus Platzmangel leider nicht behandelt werden können. Zum Beispiel würden die Rolle von Frauen in Gefechtssituationen, die indirekt wahrgenommene Gewaltanwendung oder Fragen nach der Legitimation der Gewaltanwendung vor sich selbst sowie dem sozialen Umfeld zu weiteren spannenden Themenfeldern zählen. Vgl. z. B. Schut/van Baarle (2015). 7 Vgl. Weiss/Six-Hohenbalken (2011), S. 4; Ajimer/Abbink (2000).
Gewalterfahrungen von Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz
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die Frage der Deutung von Gewalt im Kontext von Bundeswehrkultur sowie der gewaltablehnenden8 Kultur der deutschen Gesellschaft. Nach dem ethnologischen Blick auf den Gewaltbegriff werden die Datenbasis sowie die Rahmenbedingungen der Forschung erläutert. Es folgt die Analyse des empirischen Datenmaterials, anhand dessen die multiplen Dimensionen und Wahrnehmungen des Gefechts, des Tötens und Sterbens aus emischer Sicht der Soldaten aufgezeigt werden. Dabei wird u. a. auf die besondere Rolle der Kameradschaft eingegangen. Insbesondere in Gefahrensituationen kann sie Züge familiärer Bindungen aufweisen und Extremerfahrungen auffangen bzw. verarbeiten helfen. Der spezifische soldatische Humor, der auch im Gefecht die Soldaten zum Lachen bringt, wird hier als integraler Bestandteil der intern existierenden Bewältigungs- und Deutungsmechanismen interpretiert. Abschließend folgt eine Auseinandersetzung mit den multiplen Facetten der Rückkehr, die u. a. durch Wiedereingliederungsschwierigkeiten, Traumatisierungen und einem psychopathologisierten Diskurs seitens der wiederaufnehmenden Gesellschaft geprägt sein kann. Ferner sind Themen wie Sinn und Legitimität des Einsatzes, gesellschaftliche Anerkennung, Trauern und Gedenken, aber auch Deutungen der existenziellen Gewalterfahrung und des soldatischen Selbstverständnisses nach der Heimkehr von Bedeutung.
II. Gewalt und Kultur Gewalt ist ein sehr komplexes Phänomen, dessen Entstehungsgründe sich nicht eindeutig und einfach erklären lassen. Viele verschiedene Faktoren können bei der Entstehung und auch Deutung von Gewalt eine Rolle spielen. Aufgrund der Vielschichtigkeit sowie soziokulturellen Kontextabhängigkeit kann keine Gewalt-Theorie alle Aspekte dieses Phänomens erklären. So existiert eine Vielzahl wissenschaftlicher Erklärungsansätze, die die Entstehung von Gewalt auf verschiedene Arten und Weisen erörtern.9 Für die Untersuchung konkreter Gewalthandlungen ist in jedem Einzelfall ein Zusammenspiel aus individuellen und sozio-kulturellen Faktoren zu berücksichtigen. Als Grundannahme wird Gewalt oftmals als ein moralisches Übel betrachtet, das es zu vermeiden gilt und das in allen Gesellschaften auf der ganzen Welt mit klaren Regeln belegt ist. Unter bestimmten Umständen kann Gewalt allerdings notwendig, entschuldbar und dann sogar positiv belegt sein.10 Gewalt ist als komplexes Phäno8 Einerseits lehnen die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft Gewalt strikt ab, andererseits sind wir alltäglich mit der „performativen Qualität von Gewalt als Zuschauer“ konfrontiert (Schmidt/Schröder 2001, S. 5 f.) und setzen uns der Omnipräsenz von Gewaltdarstellungen in den Medien aus. 9 s. z. B. Gudehus/Christ (2013); Collins (2011); Keegan (1995); Riches (1986); Galtung (1975). 10 Der Gewalteinsatz der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan ist, sofern er entlang der sogenannten Rules of Engagement im Rahmen der ISAF-Mission verläuft, rechtlich legitim und abgesichert und wird in den gegebenen Fällen als notwendig erachtet. Moralphilosophisch
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men immer auch kulturell geprägt, findet zunächst in unseren Köpfen statt und erfährt dort seine Bedeutung.11 Um eine differenzierte und holistische Sichtweise auf Gewalt zu erhalten, müssen unterschiedliche Formen dieses ambivalenten Phänomens untersucht und miteinander verglichen werden. In diesem Artikel wird Gewaltanwendung und deren Deutung seitens der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan aus einer Innenperspektive beleuchtet. Dabei stehen die Wahrnehmungen und Verarbeitungsprozesse von Gewalterfahrungen seitens der Militärangehörigen im Mittelpunkt. Im Folgenden findet der minimalistische Gewaltbegriff im Sinne von Gewalt als reine körperliche Verletzungsmacht (force) Anwendung, da der Fokus im Weiteren auf der „zielgerichteten direkten physischen Schädigung von Menschen“12 im Einsatz liegt. Ethnologische Feldforschung in gewaltsamen settings erlaubt einen Fokus auf die kognitiven Aspekte, auf die Äußerungen und Narrationen zum Thema Gewalterfahrungen und somit ein ontologisches Verständnis von Gewalt.13 Es ist eine herausfordernde Forschungsaufgabe, Gewalt nicht per se als böse (oder gut) zu werten, sondern der moralischen Herausforderung zum Trotz zu erforschen, wie Menschen anderen Menschen Gewalt zufügen, sie sogar töten können und welche Bedeutung sie diesem Akt beimessen. Durch die Gespräche mit gewalterfahrenen Interviewpartnern können auch beim Forscher Bilder im Kopf entstehen. Diese lassen den Wissenschaftler zum Teil nicht mehr los, setzen sich in dessen Unterbewusstsein fest und können ihn bis in die Träume verfolgen. Feldforschungen und Interviews zum Thema Gewalt sind somit auch für die Forscher eine gewaltsame Erfahrung: „(…) to the degree that during fieldwork anthropologists are confronted with serendipitous, unsettling violence, violence in fieldwork is always a violent experience. (…) In witnessing violence, the researcher becomes a part, often intimate, of what is being studied, and therefore complicit in the further unfolding of events. (…) The violence finds its way into the body of the researcher.“14 bleibt die Frage offen, die auch im Rahmen dieses Aufsatzes nicht beantwortet werden kann und soll, ob die Anwendung von Gewalt uneingeschränkt rechtens ist oder nicht doch beispielsweise auch als Teil eines neoimperialistischen Unterfangens seitens der westlich geprägten Welt in Afghanistan gedeutet werden kann. Vgl. Kühn (2014); Gerner (2011); Tomforde (2009). Zur ethischen Implikation siehe auch die Beiträge von v. Schubert und Stümke in diesem Band. 11 Vgl. Schmidt/Schröder (2001). 12 Nunner-Winkler (2004), S. 26. 13 Vgl. Weiss/Six-Hohenbalken (2011), S. 3; Collins (2011); Ajimer/Abbink (2000). 14 Ghassem-Fachandi (2009), S. 4 – 5. An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass diese Forschung in zusätzlicher Hinsicht für mich eine Herausforderung bedeutete, da ein Interviewpartner mir gegenüber eine Morddrohung ausgesprochen hat. Der Soldat erzählte mir freimütig von einer Situation in einem Dorf in Afghanistan, in dem er das Gefecht gesucht habe, obwohl dies zu vermeiden gewesen wäre. Die Situation hätte offensichtlich auch friedlich gelöst werden können; durch seine ,Gefechtsgier‘ (siehe weiter unten) mussten laut eigener Darstellung Menschen sterben. Der Soldat drohte mir mit dem Tod, wenn ich über diesen Vorfall berichten und diesen mit ihm in Verbindung bringen würde. Hier offenbarte sich mir die ,böse Fratze der Gewalt‘.
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Gewalt wird von allen Beteiligten gedeutet, um sie zu verstehen und ihr einen Sinn zu verleihen. Gewalt ist somit niemals bedeutungslos. Stattdessen ist sie integraler Bestandteil unseres menschlichen Seins und hat als kulturelles Produkt auch eine kreative Dimension.15 In der Ethnologie liegt somit eine kontextabhängige Herangehensweise zu Gewalt vor. Gewalt und die damit zusammenhängenden Erfahrungen sind demnach immer in größere symbolische Zusammenhänge eingebettet. Diese entstehen auf den unterschiedlichen kulturellen Ebenen einer Gesellschaft und sollten dementsprechend im „contested space of intersubjectivity“16 untersucht und verstanden werden. In ethnologischen wie auch in anderen sozialwissenschaftlichen Studien wird sich zumeist auf die (Perspektive der) Opfer konzentriert; die Täter werden dabei häufig übersehen oder ausgeblendet.17 Dennoch trägt nicht nur das Opfer einer Gewalttat, sondern auch derjenige, der Gewalt verübt und Schmerzen zufügt oder gar Leben auslöscht, kulturelle Bewertungsmaßstäbe für sein Verhalten in sich.18 Soldaten werden als Bürger in einer Gesellschaft sozialisiert, die Gewalt prinzipiell ablehnt. Gleichzeitig erfahren Soldaten eine zweite Sozialisation in die militärische Subkultur, in der sie als Repräsentanten des Staates unter klar eingegrenzten Regeln Gewalt anwenden sollen. Damit stellt sich die Frage, nach welchen kulturellen Bewertungsmaßstäben sie ihr Handeln im Einsatz einordnen. Für die Wahrnehmung, Deutung und Bewertung von Gewalterfahrungen im Auslandseinsatz spielt aber nicht nur die zum Teil diametral entgegengesetzte Sozialisation als Bürger der deutschen Gesellschaft einerseits und als Angehöriger der Streitkräfte andererseits eine Rolle. Auch der situative Rahmen prägt die Art und Weise, wie ein Gewaltereignis eingeordnet wird. Als zum Beispiel die ersten Soldaten in den Jahren 2002 und 200319 Opfer von Anschlägen wurden, konnten diese in einem als Friedens- und Stabilisierungseinsatz wahrgenommenen Erlebnisse offenbar psychisch weniger gut verarbeitet werden, als Gefechtserfahrungen ab 2007/2008. Bereits in diesen Jahren wurden Anschläge und Gefechte auch für die Bundeswehrsoldaten im Norden Afghanistans immer häufiger zur Regel, denn zur Ausnahme.20 Unter den sich ab 2008/2009 verschlechternden Rahmenbedingungen wurde die Gewaltanwendung im Einsatz nicht nur rechtlich legitim, sondern von den Soldaten sukzessive auch in soziokultureller Hinsicht akzeptiert. Diesen Schritt hat die deutsche Gesellschaft zu Hause nicht vollziehen können, da sie mit den Gefährdungen des Einsatzlandes nicht direkt konfrontiert war und ist. 15
Vgl. Whitehead (2004); Schmidt/Schröder (2001). Jackson (2002) S. 39. 17 Ben-Ari (2011), S. 55 f. 18 Vgl. Demir (2013), S. 9 f. 19 2002 starben acht, 2003 fünf Soldaten in Afghanistan. Vgl. http://www.bundeswehr.de/ portal/a/bwde/!ut/p/c4/DcJBDkAwEAXQs7hAZ2_nFtg0o0b7o_mkRROnJ-_JLD_ qg6gXDmqWUaaAfmluaas53WJSol5KX08 L0OxAbwWklZvRhVQOYvdvQw3Ju KnlbHLuQ_cB0U_KLg!!/ (letzter Zugriff: 01. 12. 2014). 20 s. z. B. Sedlatzeck-Müller (2012). 16
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Die Wahrnehmung und Deutung von Gewalt, die den Charakter einer interpretativen Mehrdeutigkeit aufweist, hängt jeweils von der Perspektive der Beteiligten des sogenannten Dreiecks der Gewalt (bestehend aus Tätern, Opfern und Beobachtern/ Zeugen) ab.21 Wie die Gewaltanwendung in Afghanistan seitens der Bundeswehrsoldaten interpretiert wird, soll im Folgenden auf der Grundlage eigener Forschungsergebnisse vorgestellt werden.
III. ,Stimmen der Soldaten‘: Die Datenbasis Der vorliegende Beitrag beruht auf unterschiedlichem Datenmaterial. Einerseits fußt er auf den Erkenntnissen, die ich im letzten Jahrzehnt durch meine ethnographischen Forschungen über die Auslandseinsätze auf dem Balkan sowie in Afghanistan gewonnen habe.22 Andererseits beruhen die hier diskutierten Ergebnisse auf 30 halbstrukturierten Tiefeninterviews mit Afghanistanrückkehrern23 sowie auf zahlreichen Fokusgruppeninterviews und Gruppengesprächen zum Themenbereich ,Gewalterfahrungen in Afghanistan‘, die ich in verschiedenen Seminarformaten mit Soldaten durchgeführt habe. Die Interviews wurden nicht per Tonband aufgezeichnet, um den Interviewpartnern während des Gesprächs ein so natürliches Umfeld wie möglich zu garantieren und ,sozial erwünschte‘, weil aufgezeichnete Aussagen zu vermeiden. Stattdessen wurden die Antworten zu den Fragen sowie die selbst gewählten Geschichten der Soldaten während der Interviews direkt mitgeschrieben und zentrale Aussagen nach Möglichkeit wörtlich aufgenommen.24 Die Aussagen der Gruppengespräche wurden stichpunktartig notiert und später per Gedächtnisprotokoll ergänzt. Meine Interviewpartner haben sich allesamt freiwillig und außerhalb ihrer Dienstzeit zu den privat organisierten Gesprächen bereit erklärt.25 Die Interviews dauerten in der Regel zwei Stunden oder länger. Nicht selten wurden mir weitere potenzielle Gesprächspartner seitens der bereits Interviewten genannt. Auch wurde ich direkt von Soldaten angesprochen, die von meiner Untersuchung gehört hatten und die gerne interviewt werden wollten. Meine Gesprächspartner waren in den meisten Fäl21
Riches (1986). Der Brite David Riches (1947 – 2011) war einer der bedeutendsten Vertreter der Ethnologie der Gewalt und hat mit seiner Anthologie The Anthropology of Violence das Forschungsfeld der Gewalt auch ethnologisch erfassbar gemacht. 22 s. z. B. Tomforde (2015 a u. b). 23 Hier wird bewusst der Terminus ,Afghanistanrückkehrer‘ verwendet, da sich nicht alle Interviewpartner selbst als Veteranen definieren. Vgl. Sussebach (2014). 24 Die im Text zitierten Interviewpassagen wurden leicht redigiert, um Floskeln zu beseitigen, wenn diese zur Bedeutung der Aussage nichts Wesentliches beitragen, sondern den Lesefluss stören. Nichtsdestotrotz wurde versucht, die Formulierungen der Soldaten so exakt wie möglich wiederzugeben. 25 An dieser Stelle sei allen Soldaten herzlich gedankt, die meine Forschung unterstützt und mir wertvolle Einblicke in ihre Erfahrungen sowie Gedankenwelt erlaubt haben.
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len männliche Offiziere im Alter zwischen 30 und 50 Jahren; nur wenige Frauen26 mit Gefechtserfahrung konnten befragt werden. Somit weist meine Untersuchung eine deutliche Verzerrung auf: Meine Interviewpartner waren nicht die 18 – 30-jährigen Mannschaftssoldaten und Feldwebel, die vorwiegend an den Gefechten in Afghanistan direkt beteiligt waren. Stattdessen konzentriert sich meine Studie auf die militärischen Führer. Es werden insbesondere die Offiziere mit Einsatz- und Gefechtserfahrung, die derzeit Anfang bis Mitte 30 Jahre alt sind und in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Bundeswehr und ihr Orientierungs- und Wertesystem maßgeblich prägen werden. Mit Blick auf Bundeswehrkultur und insbesondere auf die Frage, inwiefern die Gewalterfahrungen die Bundeswehr soziokulturell verändern werden, hält eine Untersuchung der zukünftigen Elite somit zentrale Einsichten bereit. „The study of elites provides a useful focus for addressing a range of core anthropological and sociological concerns including language and power; leadership and authority; status and hierarchy; ideology and consciousness; social identities and boundary-maintenance; power relations, social structure and social change.“27
Neben der Perspektive der gewalterfahrenen Offiziere, die durch die eigenen Interviews abgedeckt wird, werden im weiteren Verlauf selbstredend auch ,Stimmen‘ der anderen Dienstgradgruppen in der Analyse mitberücksichtigt. Es liegt mittlerweile eine Vielzahl an Afghanistan-Memoiren von Bundeswehrsoldaten vor, in denen die anderswo nicht zu verbalisierenden Gewalterfahrungen in eine narrative Form übertragen und (re-)interpretiert wurden.28 Neben diesen (auto-)biografischen Zeugnissen werden auch direkte Zitate aus Dokumentationen, Projekten und Inter-
26 Dies ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass ich nur wenige Frauen mit Gefechtserfahrung während der Forschung kennengelernt habe. Andererseits sind weibliche Soldaten gerade in den Schutzkompanien außerhalb der Feldlager sehr selten tätig. So hatten zum Beispiel mehr als zwei Drittel der Soldatinnen des 22. Kontingents im Jahre 2010 in Afghanistan Unterstützungsfunktionen und verrichteten somit ihren Dienst weitestgehend innerhalb des Feldlagers. Langer et al. (2011), S. 12, haben allerdings während einer empirischen Studie im Jahre 2010 in Afghanistan herausfinden können, dass ein geschlechterspezifischer Unterschied zwischen gewalterfahrenen Männern und Frauen statistisch nicht nachzuweisen sei. Beide Gruppen zeigten eine ähnliche Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt nach einer Gewaltexposition. Mit anderen Worten weisen die Daten darauf hin, dass „die reale physische Erfahrung von militärischer Gewalt geschlechtsspezifische Sozialisationseffekte tendenziell nivelliert“ (ebd., S. 15). Dieser Befund wurde auch von meinen männlichen Gesprächspartnern unterstützt, die während des Kampfes keine geschlechterspezifischen Unterschiede ausmachen konnten. 27 Shore (2002), S. 9. 28 s. z. B. Brinkmann/Hoppe/Schröder (2013); Clair (2012); Sedlatzek-Müller (2012); vgl. Kleinreesink/Moelker/Richardson (2012). Der israelische Historiker Yuval Noah Harari (2004), S. 19, geht davon aus, dass Feldmemoiren seitens der niedrigeren Dienstgrade („junior ranks“) zu den wohl einflussreichsten historischen Texten zählen, die je geschrieben wurden. Das Bild des Krieges in der westlichen Öffentlichkeit wurde maßgeblich durch diese Texte mitgeprägt.
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viewmaterial anderer Autoren29 Eingang in den vorliegenden Text finden. Auf diese Weise können die eigenen Daten durch weitere Perspektiven ergänzt werden. Da es sich bei einer Forschung im Umfeld militärischer Gewaltanwendung um zum Teil sehr heikle, oftmals sehr persönliche und intime Erfahrungen handelt, wurden die Namen der Interviewpartner anonymisiert und bewusst keine Angaben zum Einsatzort, zum Einsatzzeitraum oder zur Einheit gemacht. Im Vorfeld der Interviews wurde allen Gesprächspartnern absolute Anonymität garantiert. Daher müssen Angaben über die Soldaten ausgespart bleiben, die von insidern zur Identifizierung der Gesprächspartner genutzt werden könnten.
IV. Das Gefecht: Die multiplen Dimensionen „Einige werden die Tage und Stunden trotz aller Last auch vermissen. Sie werden sich nie wieder so lebendig fühlen wie in den Stunden nach einem erfolgreich geführten Gefecht und wie in der ersten Nacht nach Rückkehr in das Feldlager beim Trinken ,auf gute Freunde‘. Sie werden vielleicht auch nie wieder Kameradschaft in solch hoher Intensität spüren. Aus Sicht mancher Soldaten, die den Zweck einer Armee als ,zum Gefechte‘ verstehen, können die Tage in Kunduz vielleicht die letzten gewesen sein, in denen sie ihren Beruf nach ihrem Bilde ausüben konnten.“30
Im Folgenden wird eine Innenperspektive auf die multiplen Dimensionen des Gefechts31 geworfen, von der omnipräsenten Angst, der tatsächlichen Gefechtserfahrung über die Lust am Töten und die ,Gier‘ nach der Gefechtsmedaille bis hin zur Konzeptualisierung des Feindes. Zu Beginn meiner Interviews stellten sich die Soldaten vor und beschrieben die Art ihres Einsatzes. Ungefragt nannten die meisten Interviewpartner sehr präzise die Anzahl der Feuergefechte sowie der IED32-An29
Besonders positiv hervorzuheben sind hier die Projekte von Koelbl (2014, 2011) und Würich/Scheffer (2014). Auch der Herausgeberband von Brinkmann/Hoppe/Schröder (2013) zeigt wichtige Innenperspektiven auf. Insgesamt liegt neben wissenschaftlichen Untersuchungen mittlerweile eine große Bandbreite an Dokumentationen, Berichten, Fotoausstellungen, Dokumentar- und Spielfilmen, Radiobeiträgen, Theaterstücken oder auch Graphic Novels zum Afghanistan-Einsatz vor. Es wäre eine Forschung an sich wert, diese mannigfachen Auseinandersetzungen mit dem Afghanistaneinsatz zu beleuchten. 30 Hauptmann W. (2013), S. 59. 31 Als Gefecht wird zumeist ein kurzer, bewaffneter Zusammenstoß feindlicher Kräfte verstanden. Im Afghanistaneinsatz wurde der Gefechtsbegriff mit Blick auf die Verleihung der sogenannten „Gefechtsmedaille“ zum Teil weiter ausgelegt, da sie auch verliehen wird für das Erleiden von terroristischer oder militärischer Gewalt unter hoher persönlicher Gefährdung, vgl. Zimmermann (2014). So wird beispielsweise auch die Einsatzmedaille „Gefecht“ an die Insassen eines Fahrzeugs verliehen, wenn es auf eine IED aufgefahren und beschädigt worden ist. Interview mit Hauptmann 26, Afg. 2012. Die zitierten Interviewpassagen nennen den Dienstgrad des Soldaten, die Nummer des Interviews sowie die Jahreszahl des Afghanistaneinsatzes. 32 IED steht für Improvised Explosive Devices. Gemeint sind Sprengfallen, die mit günstigen Mitteln relativ leicht zu bauen sind. Rückzugsräume der Aufständischen bzw. regie-
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schläge, mit denen sie während ihres Einsatzes konfrontiert waren: „Ich war in acht Feuergefechten und wir haben 17 IEDs geborgen.“33 Auf Nachfrage, ob sich die Soldaten gegenseitig die Zahl der Feuergefechte und Anschläge auch so präzise nennen oder über diese Gefechtserfahrungen sprechen würden, antworteten die meisten Soldaten, dass diese Erfahrungen im alltäglichen Umgang miteinander nicht oft zur Sprache kämen. Eingeweihte bzw. insider wüssten anhand der Angabe des Kontingents, des Einsatzortes sowie des Aufgabengebietes, was der andere im Einsatz gemacht und erfahren habe, ohne dass darüber en détail gesprochen werden müsste. Das heißt, dass die Soldaten, die Kampferfahrungen gesammelt haben, davon nicht erzählen müssen, da die ,Rahmendaten‘ ihres Einsatzes dies bereits aussagen. Die Kameraden wissen voneinander, wer an welchem Gefecht teilgenommen und wer prekäre Situationen durchlebt hat. Gefechtserfahrung zu haben, bedeutet jedoch nicht automatisch, mehr Anerkennung zu bekommen unter den Kameraden. Die Soldaten unterscheiden genau zwischen der aktiven Teilnahme an einem Gefecht und einem IED-Anschlag, der von offizieller Seite auch als Gefechtssituation gewertet wird. Ferner wird die Professionalität im Kampf und im Umgang mit den Folgen des Gefechts bewertet. Schwächen oder auffälliges Verhalten sprechen sich unter Soldaten schnell herum und werden (in den meisten Fällen) intern thematisiert und im Notfall auch sanktioniert. Somit haben wir es in Nordafghanistan, wenn wir den Gewaltdeutungen seitens der interviewten Soldaten Glauben schenken, anscheinend nicht mit dem Phänomen des von Harald Welzer beschriebenen „Eskapismus im Krieg“ zu tun, der die sich im Krieg eröffnende Chance der „unbestraften Unmenschlichkeit“ nutzt.34 Stattdessen wird offenbar differenziert mit den Gefechtserfahrungen umgegangen und genau geguckt, welcher ,Qualität‘ ein Gefecht war, wie die Beteiligung eines jeden Soldaten aussah und wie im Nachhinein damit umgegangen wird. Die ersten Interviews zu Gewalterfahrungen im Afghanistaneinsatz wurden für die vorliegende Studie im Jahre 2009 geführt, erste Gruppengespräche über die sich verschlechternden Sicherheitsbedingungen und ihre Auswirkungen für die Militärs bereits ab 2007. Für die Gewalterfahrung fanden die Soldaten anfangs keine Worte, keine präzisen Beschreibungen. Stattdessen wurde das Töten vom Gegner noch umschrieben: der Feind wurde „ausgelöscht“, „platt gemacht“, „ins Nirvana geschickt“, aber nicht „getötet“.35 Erst seit 2010 wird offen und direkt vom Töten gesprochen – anfangs löste dies unter einsatzunerfahrenen Kameraden sogar Schock und Verwunderung aus. Das ,Karfreitagsgefecht‘ in Isa Khel südlich von Kunduz vom April 2010 mit drei gefallenen und acht verwundeten Bundeswehrsoldaten stellt diesbezüglich eine Zäsur dar. Was sich bereits im September 2009 durch die angeordnete Bombardierung der beiden Tanklastzüge in Kunduz abzeichnete, wurde rungsfeindlicher Kräfte werden mit solchen Sprengfallen gesichert. Mittels IED kann der Feind auch leicht in einen Hinterhalt gezwungen werden. 33 Hauptmann 30, Afg. 2010. 34 Welzer (2005), S. 199. 35 s. auch de Libero (2014); Apelt (2009).
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durch das Karfreitagsgefecht nun für alle sichtbar und war nicht länger zu leugnen: Die Bundeswehr nimmt in Afghanistan aktiv an Gefechten teil und tötet auch Menschen. Mittels der ,Stimmen der Soldaten‘ werden im Folgenden die wichtigsten Dimensionen dieser Gefechtserfahrungen beleuchtet. 1. Die Angst, die ,Feuertaufe‘ und die besondere Kameradschaft In veröffentlichen Interviews36 sowie in den selbst durchgeführten Gesprächen wird seitens der Soldaten oft über das Thema Angst gesprochen. Allerdings wird Angst nicht als ein alles umspannendes und verhinderndes Phänomens erlebt, sondern als eine Begleiterscheinung, mit der es umzugehen gilt.37 Ihr Selbstverständnis als international einsetzbarer, professioneller Einsatzsoldat verlangt Soldaten den bewussten Umgang mit der Angst ab. Als ich persönlich im Jahre 2004 im ,Camp Warehouse‘ (der ISAF-Militärbasis) in Kabul war, wurde eine Rakete auf den deutschen Teil dieses internationalen Feldlagers abgefeuert. Mich verwunderte die Tatsache, dass die Soldaten nach dem Anschlag sowie nach dem Verlassen der Schutzbunker weder über den Anschlag noch über die Angst vor Verwundung und Tod sprachen, obwohl einer ihrer Kameraden verletzt worden war. Auf Nachfrage wurde mir wiederholt mitgeteilt, dass die Gefahr eines Anschlags in der Tat omnipräsent sei. Jeder würde auf die eine oder andere Weise Angst haben, darüber müsse man nicht sprechen. Es sei Teil der Bewältigungsstrategie, die Angst vor Verwundung und Tod in den Hintergrund zu rücken und sie nicht zu nah an sich heranzulassen. Den Soldaten sei auch bewusst, dass sie sich durch die einsatzvorbereitende Ausbildung nur bedingt auf die Konfrontation mit Gefecht, Verwundung und Tod vorbereiten könnten. Die Realität stelle sich meist anders dar als die Vorbereitung. Insbesondere die Vorgesetzten würden nicht so sehr um ihr eigenes Leben fürchten, sondern um das ihrer Unterstellten: „Im Gefecht und die Angst zu Sterben? Die anderen Jungs heil nach Hause zu bringen und der Verantwortung als Führer gerecht zu werden, ist wichtiger als die Angst um das eigene Überleben.“38
Es wird nicht nur bewusst mit der Angst vor der omnipräsenten Gefahr umgegangen, in der Gefechtssituation bleibt dafür auch kaum Zeit und Raum: „Zuweilen werde ich gefragt, ob ich nicht auch Angst vor Verwundung und dem Verlust des eigenen Lebens hatte. In dieser Situation definitiv nicht. Das lag aber nicht daran, dass ich mich wie ein Supermann fühlte, sondern war dem Umstand geschuldet, dass ich gar keine Zeit hatte, Angst zu haben.“39 36
Vgl. Koelbl (2011). Der Soziologe Randall Collins (2011), S. 106, spricht von einem Kontinuum zwischen Angst und Anspannung sowie zwischen Kompetenz und Inkompetenz, welches im Kampf zum Tragen kommen kann. 38 Major 18, Afg. 2011. 39 Hauptmann S./Trenzinger (2013), S. 31 f. 37
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Die Angst vor dem Gefecht sowie vor Verwundung und Tod ist zu Beginn des Einsatzes noch am größten. Erst wenn der erste Anschlag bzw. das erste Gefecht unversehrt überstanden ist, weicht die Angst vor dem Unbekannten und dem Scheitern einem professionellen Umgang mit gefährlichen Situationen.40 „Seit wir vor knapp drei Wochen in Afghanistan angekommen waren, warteten wir auf das erste richtige Gefecht, auf den ersten Anschlag. Wie ein Damoklesschwert hing diese böse Erwartung über uns, lauerte auf uns. Wir wussten, dass wir ihm nicht entgehen konnten. Nur, dass wir den Zeitpunkt nicht selbst bestimmen würden.“41
Die Angst ist dementsprechend ein omnipräsentes, jedoch kein lähmendes Phänomen in einem Kriegseinsatz. Die Sorge, einen Kameraden verlieren zu können, scheint zum Teil größer zu sein, als die Angst um die eigene Unversehrtheit. Die besondere Bedeutung von Kameradschaft in einem Einsatz wird so deutlich.42 Sie wird in den Interviews als das wertvollste Gut beziehungsweise als eine Art Sozialversicherung beschrieben.43 Auch Jonathan Shay unterstreicht die hohe Bedeutung der kleinen Kampfgemeinschaft auf Basis der Erfahrungen des Vietnamkrieges: „Als Zivilisten können wir den Schmerz eines Soldaten nicht aus dessen Situation heraus begreifen. Der Kampf weckt eine Leidenschaft für gegenseitige Fürsorge unter den gemeinsamen Kampfgefährten, die nur mit den frühesten und tiefsten familiären Bindungen zu vergleichen ist.“44
Einige Vietnamveteranen hielten sich sogar bereits für tot, „und zwar dann, wenn ein enger Freund gefallen war.“45 Diese quasi-familiären Bindungen im Kampfeinsatz reichen so weit, dass die Angst vor Gefahren vor dem Bedürfnis in den Hintergrund tritt, die Kameraden zu schützen und unterstützen: Die Kameraden sind während des Einsatzes fern der Heimat und fern des eigenen sozialen Umfeldes die wichtigste Bezugsgröße und stellen eine emotional hoch besetzte soziale Primärgruppe dar. Dank ihrer können herausfordernde Situationen gemeinsam ausgehalten, überstanden und verarbeitet werden. Dieses bedeutende Band zwischen den Kameraden existiert jedoch meist nicht über das Gefechtsfeld oder den Einsatzort hinaus. In einem ,gewaltlosen‘ setting sind die vereinenden Rahmenbedingungen nicht mehr gegeben und individualistische Werte gewinnen wieder an Bedeutung.46 „Nach einem Anschlag ist das debriefing sehr wichtig. Allerdings darf man sich nicht nur um die ,Opfer‘, die Schießer kümmern. Auch die Vorgesetzten/Führer, die Verantwortung tragen mussten, müssen gesondert beachtet werden. (…) Für einen Vorgesetzten ist es in ge40
Vgl. Collins (2011), S. 107 f. Hauptmann W. (2013), S. 39. 42 Vgl. King (2013); siehe auch Kühne (2006). 43 Vgl. Focken (2013), S. 74; Koelbl (2011). 44 Shay (1998), S. 78. 45 Ebd., S. 92. 46 Vgl. Gray zit. nach Arendt (1970), S. 67. 41
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fährlichen Situationen besonders schwierig, Verantwortung zu tragen und dann die richtigen Entscheidungen zu treffen. (…) So ein gemeinsames Gefecht oder ein gemeinsam überlebter Anschlag nivelliert die Unterschiede zwischen den Dienstgraden. Jeder der Kameraden erfüllt eine wichtige Aufgabe. Dieses Sich-hundert-Prozent-aufeinander-verlassen-können ist wirkliche Kameradschaft.“47
Neben den zentralen Aussagen über den Wert der Kameradschaft zeigt das obige Zitat eine interessante militärische Perspektive auf: Die Schützen werden hier im debriefing nach dem Gefecht als Opfer definiert, die der besonderen Betreuung bedürfen. Obwohl der Kampf zum Kerngeschäft des militärischen Handwerks zählt, ist den Soldaten offenbar bewusst, dass der tatsächliche Einsatz von Waffengewalt nicht ohne nachträgliche Aussprache und Betreuung geschehen darf. Soldaten, die getötet haben, kehren eher traumatisiert in die Heimat zurück als andere.48 Bilder von Gefechtssituation können immer wieder ,hochkommen‘ gepaart mit Fragen nach Sinn und Legitimation des Tötens im Besonderen und des gesamten Einsatzes im Allgemeinen. Nicht immer wissen die Soldaten nach einem Gefecht, ob sie einen Menschen getötet haben oder nicht. Dieses Nichtwissen kann ebenso zu irritierenden Schuld- und Schamgefühlen führen wie die Gewissheit, dass der Soldat jemanden erschossen hat. Nichtsdestotrotz „stecken die meisten Soldaten die Gewalterfahrung weg. Nach dem Motto ,Wir sind Soldaten‘. Es kommt allerdings auf die Vorgesetzten an, ob sie nach dem Gefecht viel mit den Soldaten reden und sich um Dissoziation kümmern.“49 2. IEDs und Professionalität Neben der viel angesprochenen Angst waren auch Sprengfallenanschläge mittels der bereits beschriebenen IED ein durchgängiges Thema in meinen Interviews. Alle Soldaten, die in den letzten Jahren im Norden Afghanistans außerhalb der Feldlager unterwegs waren, hatten auf die eine oder andere Weise mit IED zu tun. Ein Soldat erzählte sogar, dass er als Kompaniechef am Ende des Kontingents – quasi als Teil des Abschiedsrituals – die letzte aufgefundene Sprengfalle entschärfen durfte. Wie es der omnipräsente Soldatenhumor erforderte, detonierte gleich nach der Entschärfung noch ein zweites IED – von der zweiten Sprengfalle hatten die Soldaten ihrem Chef nichts erzählt und ihm dadurch noch einmal einen gehörigen Schrecken eingejagt. Die stressabbauende Rolle des sehr speziellen Soldatenhumors wird auch im folgenden Zitat deutlich. Es liefert zudem Einblicke in die grausame Seite des Krieges: „Letztes Jahr am 5. September wurden wir von einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Ein afghanisches Auto mit Kölner Kennzeichen fuhr auf meine Kolonne zu, unser Fahrer sagte noch: Mensch, guck mal, der kommt aus Köln. Aber der Wagen hielt nicht an – und auf einmal gingen fünfzig Kilo Sprengstoff unter unserem Dingo hoch. Wir wurden von 47
Oberstleutnant 10, Afg. 2009. Zimmermann (2014). 49 Interview mit Dr. Zimmermann, Leiter des Psychotraumazentrums am Bundeswehrkrankenhaus in Berlin, 10. Juni 2011. 48
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der Straße gefegt und rollten den Hang hinab, ich hatte Verbrennungen an der Hand, im Gesicht, am Ellenbogen, am Bein, außerdem Verletzungen von mehreren Steinen am Hinterkopf. Mein Richtschütze hatte Splitter im Gesicht, weil der Bildschirm der Bordmaschinenwaffe implodiert ist, auch die anderen Kameraden waren verletzt. Das ist der Moment, wo man ganz tief durchatmen muss: Was habe ich in der Heimat gelernt? Also haben wir die Kameraden aus dem Fahrzeug geborgen, und ich als Zugführer habe die Koordinierung der Kräfte vor Ort übernommen. Ich wusste, wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir setzen uns an den Straßenrand und weinen, oder wir versuchen das Ganze zu kompensieren und ein bisschen zu verkaspern. Ich bin die zweite Variante gefahren, und das war gut so. Man macht kleine Scherze und sagt vielleicht zu einem Kameraden: Fang nicht an, das Gras anzukokeln.“50
Der Soldatenhumor macht vor dem Gefecht nicht halt: „Du hast gezuckt als das Geschoss direkt an Deinem Ohr vorbeiging, Du Weichei.“51 So wird humorvoll mit der Tatsache umgegangen, dass der Kamerad auch hätte getroffen werden können. Da er nicht verwundet wurde, kann darüber gescherzt werden. Der Soldatenhumor lockert die angespannte Situation auf, überbrückt Dienstgradgrenzen und bestätigt gleichzeitig Werte wie Tapferkeit, Mut und Männlichkeit. Diese besondere Art von Humor dient der Angst- bzw. Krisenbewältigung und kann als solche als Bestandteil professionellen Handelns angesehen werden. Bis zum Jahre 2009 wurden in der Regel alle Dienstposten der Bundeswehr in Afghanistan besetzt, auch wenn die Soldaten nicht immer die erforderlichen Qualifikationen mitbrachten oder sonstige persönliche oder dienstliche Gründe dagegen sprachen. Seitdem die Gefechte in Kunduz zunahmen, wurde mehr auf die richtige Besetzung offener Stellen geachtet und ein Dienstposten auch schon einmal unbesetzt gelassen. Stattdessen wurden bereits kampferfahrene Soldaten im Rahmen des offensiven Vorgehens gegen feindliche Kräfte eingesetzt – „ein Schritt hin zu mehr Professionalität und weg von der reinen Dienstpostenbesetzung, die im Zweifelsfall Leben kosten kann“.52 Es sind auch nicht immer nur die am besten ausgebildeten Soldaten mit den höchsten Dienstgraden, die sich im Einsatz bewähren. Immer wieder wurde von den Interviewpartnern unterstrichen, dass sich das Können einiger erst im Einsatz in fordernden Situationen zeigte: „Im Kriege kommt der ,graue unscheinbare‘ Soldat zum Tragen und zeigt dort seine Qualitäten. Manche Mannschaftssoldaten wachsen im Einsatz über sich hinaus. Das ist schon beeindruckend.“53
Spätestens während des Afghanistaneinsatzes haben die deutschen Streitkräfte und insbesondere die Einsatzsoldaten den ,übenden Raum‘ des Kalten Krieges verlassen. An dessen Stelle sind nunmehr vielfältigste Erfahrungen in den Einsatzgebie50
Feldwebel Förster zit. nach Koelbl (2011), ohne Seitenangabe. Hauptmann 30, Afg. 2010. 52 Hauptmann 15, Afg. 2009. Für eine rezente Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Professionalisierung für die Streitkräfte siehe King (2013). 53 Hauptmann 25, Afg. 2010. 51
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ten, inklusive realer Kampferfahrungen getreten. Durch die Konfrontation mit Kampf ist die Bundeswehr quasi auf dem Gefechtsfeld gezwungen worden, sich zu professionalisieren und von lieb gewonnenen Denkmustern zumindest zeitweilig Abschied zu nehmen. Grenzen zwischen den Dienstgradgruppen wurden aufgeweicht und Qualifikationen haben einen höheren Stellenwert bekommen. Inwiefern diese Erfahrungen und neuen Handlungsmuster langfristig über den ISAF-Einsatz hinaus zur Entwicklung einer postmodernen Bundeswehrkultur beitragen, bleibt allerdings abzuwarten.54 3. Gefechtsgeräusche und die (in)direkte Konfrontation mit dem Gefecht Vor dem ersten Gefecht ist die Anspannung unter den Soldaten meistens groß und Fragen und Zweifel ob der eigenen Qualifikation können aufkommen. Wenn der Beschuss beginnt, realisieren die meisten erst kurze Zeit später, dass es sich bei den ungewohnten Lauten um Kampfgeräusche handelt. Je gefechtserfahrener die Soldaten werden, desto mehr lernen sie die einzelnen Geräusche zu unterscheiden und diese sekundenschnell den einzelnen Waffenarten zuzuordnen.55 „Man merkt das gar nicht. Erst hört man es pfeifen, dann haben wir Einschüsse im Dingo gesehen. Beruhigend war, in der Situation in Kunduz jemand Vertrautes in der OPZ [Operationszentrale – M.T.] gesprochen zu haben. Nach dem Gefecht sind die insurgents abgehauen. Es sind einige liegen geblieben und haben sich nicht geregt. Das war in 400 – 500 Metern Entfernung. Es war zu heikel, den insurgents hinterher zu gehen und die Leichen zu inspizieren. Auf deutscher Seite waren keine Verletzten. Es war sehr enttäuschend, dass sich nach dem Gefecht die Vorgesetzten nicht für die Situation oder das Befinden der Kameraden interessiert haben. In meinem Auto waren drei Treffer, während des Gefechts habe ich das gar nicht mitbekommen. Während des Gefechts laufen gewisse Automatismen ab wie z. B. der Magazinwechsel, die man während der Ausbildung gelernt hat.“56
Im Kampf herrscht offenbar eine andere Zeitlichkeit vor. Es wird fast automatisiert gehandelt, wenn bei dem Soldaten kein Gefechtsschock eintritt. Automatisierte und in der Ausbildung immer wieder geübte Handlungsabläufe finden Anwendung. Das vom Körper ausgeschüttete Adrenalin sorgt für eine erhöhte Wachsamkeit und Durchhaltefähigkeit: „Erst nach drei Stunden merkt man, dass das Gefecht Stunden und nicht Minuten gedauert hat und man lange nichts getrunken hat.“57 Ebbt der Beschuss ab und das Gefecht ist beendet, muss der Körper zunächst einmal auf ,Normalbetrieb‘ umstellen. In dieser Situation kann es vorkommen, dass der angestaute Stress sich durch unaufhaltsames Lachen oder eine große Erschöpfung oder große ,Feierlaune‘ Raum verschafft. 54
Vgl. Tomforde (2015 b); Hajjar (2014). Vgl. Clair (2012). 56 Major 20, Afg. 2010. 57 Major 20, Afg. 2010. 55
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„Als ich im Dingo saß, begann die physische und psychische Anspannung ganz allmählich nachzulassen. Ich spürte förmlich, wie der Motor meines Körpers langsam herunterfuhr und vom Gefechtsmodus unbewusst auf Normalbetrieb umschaltete.“58
Wenn die Möglichkeit geboten ist, wird nach einem Gefecht meistens ein sogenanntes debriefing durchgeführt. Neben taktisch-operativen Themen werden auch persönliche Befindlichkeiten angesprochen – der direkte Vorgesetzte hat hier eine besondere Verantwortung gegenüber seinen Untergebenen. Er muss nicht nur während des Kampfes sicherstellen, dass seine Soldaten erfolgreich durch ein Gefecht geführt werden, sondern er muss auch nach dem Kampf die psychische Gesundheit seiner Unterstellten im Blick behalten. Während der Interviews wurde immer wieder deutlich, dass die Vorgesetzten diese Verantwortung ernst nehmen und sie teilweise schwer auf ihnen lastet: „Nachdem wir in diesen ausweglosen Hinterhalt geraten waren und ich weder vor noch zurück wusste und ich auch nicht wusste, wie ich meine Männer da heil wieder herausbekomme, wollte ich alles hinschmeißen. Auch danach noch habe ich wochenlang darüber nachgedacht, nach Hause zu fliegen. Ich hatte das Gefühl für meine Männer versagt zu haben, obwohl mir alle bestätigten, dass es nicht so war. Das nagt noch heute an mir.“59
Auch diejenigen Soldaten, die unterstützende Tätigkeiten im Feldlager und somit ,nur‘ indirekt Berührung mit Gefechtshandlungen haben, erleben die Zeit der Gefechte als einschneidendes Erlebnis. Die Zeit wird so intensiv erfahren, dass meist noch Jahre nach dem eigentlichen Ereignis die Daten und selbst die Uhrzeiten von bestimmten Vorkommnissen bis auf den heutigen Tag sehr präsent sind.60 Ein Interviewpartner sagte zu diesem Phänomen, dass ein jeder von uns sich auch daran erinnern würde, wo er oder sie am 11. September 2001 zur Zeit der Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA gewesen sei. Anderen gewalterfahrenen Soldaten wiederum „fehlen jetzt ganze Tage komischerweise“.61 Die extreme Gewalterfahrung bringt offenbar eine andere Zeitlichkeit und eine emotional besetzte Form der Erinnerung mit sich, die entweder jedes Detail noch Jahre später genau vor Augen führt oder im Gegenteil ganze Tage ,auslöschen‘ kann. Während des Einsatzes gibt es neben den direkten Gewalterfahrungen auch indirekte Formen der Gewalt, denen Militärangehörige ausgesetzt sein können. Die meisten Soldaten, die ihren Dienst weitestgehend im Feldlager verrichten, erfahren die Gewalt ,nur‘ indirekt durch Erzählungen aus erster oder zweiter Hand über Anschläge und Gefechte. Gewaltnarrationen wohnt eine potenziell verstörende Macht inne. Die Soldaten in Afghanistan, einschließlich derjenigen, die hauptsächlich im Feldlager ihren Dienst verrichteten, wurden immer wieder mit verwundeten oder gar getöteten Kameraden konfrontiert. Dies ist eine Erfahrung, die zum Teil genauso intensiv und herausfordernd sein kann wie ein direktes Gefechtserlebnis. 58
Müller (2013), S. 142. Hauptmann 30, Afg. 2010. 60 Vgl. Hauptmann, S./Trenzinger (2013), S. 20. 61 Langer (2013), S. 74.
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„Dann war wieder ein IED-Anschlag auf einen SanTPZ. Schnell kam die Nachricht, dass ein Kamerad KIA [killed in action – M.T.] war. Wir haben für alle Kameraden Codenamen, um nicht den richtigen Namen übermitteln zu müssen. Aber dann kam in der OPZ die Nachricht mit Code und dass es ein Offizier war. Ich war raschelig, unruhig, ich wusste, das hatte eine andere Qualität. Dann wurde der Name von der Ärztin bestätigt. Es war ein guter Kamerad von mir. Ich war extrem betroffen. Hatte hohen Puls, Herzrasen und war trotzdem mit Orgkrams in der OPZ voll beschäftigt. Da habe ich einfach nur noch funktioniert, mit dem Bewusstsein, dass ich gerade einen guten Freund verloren habe. (…) Da konnte ich nicht mehr, die 5 – 6 Minuten habe ich für mich gebraucht, dann konnte es weitergehen. Danach bin ich wieder in die OPZ, weil ich meine Kameraden nicht hängenlassen wollte, aber ich habe mich weiterhin alle 30 Minuten rausnehmen müssen [der Interviewpartner zeigt seine Gänsehaut, die er während des Erzählens ob der Intensität des Erlebnisses nach wie vor bekommt – M.T.]. Irgendwann ist der Pfarrer in die OPZ gekommen. Wir standen dann kurz draußen. Schweigend. Dann haben wir uns in den Arm genommen und zusammen geweint. Das war menschlich-männlich. (…) Der weitere Verlauf war recht professionell, wir haben uns auf die Arbeit konzentriert. Nach 5 – 6 Stunden habe ich mit meiner Freundin telefoniert. Ich habe nur gesagt: ,Der Tag war nicht so gut, aber ich erzähle es dir morgen.‘ Sie hat gemerkt, da stimmt was nicht, aber auch nicht weiter gefragt. Die nächsten zwei Tage war durch Berichte schreiben geprägt und wir haben die Ehrenwache organisiert. Im Stundenrhythmus haben wir Kameraden zwei Tage lang abwechselnd Totenwache vor dem TPZ gehalten. Dort steht man ohne zu sprechen in Habachtstellung, das hilft. Für die Totenwache meldet man sich freiwillig, die Listen waren sofort voll. Schließlich haben wir den gefallenen Kameraden vom TPZ zum Hubschrauber für die Überführung begleitet und Abschied genommen. Diese Tage waren von Professionalität und der Gewissheit des letzten Weges geprägt. Als Fazit kann ich festhalten, dass es eine schwierige Erfahrung war, aber nun weiß ich, dass ich funktioniere und ich weiß, wann ich mich rausnehmen muss. (…) Ich bin nicht dankbar für diese schlimme Erfahrung. Aber dankbar, dass ich sie mit diesem Kontingent erleben durfte. Wir haben uns gegenseitig aufgefangen. Wenn wir uns nun treffen, wird der erste Toast zu Ehren von M. [dem gefallenen Soldaten – M.T.] ausgesprochen, weiter reden wir dann nicht darüber.“62
Die Fähigkeit, offen zu trauern und den Schmerz des Leids zu spüren und auch zuzulassen, schwächt die Soldaten offensichtlich nicht nur, sondern ist ein Teil der wichtigen und mittlerweile anerkannten Trauerarbeit. Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum schreibt in der Einleitung zur Neuauflage der griechischen Tragödie Bacchae: „Wenn sie weinen, zeigen diese Menschen ihre Würde.“63 Durch die Gewalterfahrung in Afghanistan hat sich sowohl bei denen, die Gewalt direkt als auch bei denen, die Gewalt indirekt erfahren haben, eine ,Kultur der Trauer‘ entwickelt. Es ist mittlerweile legitim, offen zu trauern, zu weinen und zu gedenken. Das gemeinsame Abschiednehmen hat eine positive kulturelle Bewertung erfahren, sowohl auf der offiziellen Ebene der Organisation Bundeswehr als auch auf inoffizieller Ebene der Soldaten.64 Neben dem im November 2014 offiziell eröffneten „Wald der Erinnerung“ nahe Potsdam gibt es auch inoffizielle Gedenkrunden und 62
Hauptmann 23, Afg. 2010. Zit. nach Williams (1990), S. XL. 64 de Libero (2014); Zimmermann (2014). 63
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-orte, die von einzelnen Einheiten bzw. Verbänden oder Einsatzsoldaten im Einsatzland und in Deutschland gepflegt werden. Somit stellen die Einsatzsoldaten längst nicht mehr nur eine Erfahrungsgemeinschaft, sondern immer mehr auch eine wichtige Erinnerungsgemeinschaft dar.65 Diese Erinnerungsgemeinschaft gedenkt gemeinsam und auf vielfältige Art und Weise meist unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit und fern des offiziellen Ehrenmals der Bundeswehr am Bendlerblock in Berlin den Gefallenen und Verwundeten. Ferner werden auch gemeinsam die Momente erinnert, in denen Kameraden nur um Haaresbreite Anschlägen entgangen sind. Somit lässt sich die viel beschworene „Generation Einsatz“66 nicht zuletzt als eine Erinnerungsgemeinschaft verstehen. Im Zuge des gemeinsamen Gedenkens werden situativ bestehende Differenzierungen zwischen gefechts- bzw. einsatzerfahrenen und -unerfahrenen Soldaten sowie zwischen Einsatzland und Heimatstandort nivelliert. Der Generationenbegriff wird sowohl von den Soldaten selbst als auch von Sozialwissenschaftlern67 somit als eine Gedächtniskategorie verstanden, „mit der das Nachwirken ebenso wie die Rekonstruktion von Vergangenem in den Blick genommen werden kann“.68 Angesichts einer weitestgehend fehlenden öffentlichen Auseinandersetzung mit den vielfältigen menschlichen Kosten des ISAF-Einsatzes wählen die Soldaten informelle Foren und Ausdrucksweisen, um den Opfern des Einsatzes zu gedenken. Trotz aller Unterschiede stellen sie eine (Erinnerungs-)Gemeinschaft dar, die durch die Gewalterfahrung geprägt ist und die der Toten auf ihre ganz eigene inoffizielle Weise gedenkt.69 4. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und emotionale Disparitäten70 Durchgängig in den Erzählungen zum ISAF-Einsatz war die Erzählung von ,Sowohl- als-auch‘-Eindrücken: Der Einsatz war „sowohl die besch… Zeit, als auch die beste Zeit in meinem Leben“71, „Ich hatte sowohl Angst vor dem Gefecht, als auch das Bedürfnis, das Gelernte endlich einmal anzuwenden“72, „Ich hatte sowohl das absolute Bedürfnis nach Hause zurückzukehren, als auch den Drang sofort wieder 65
Vgl. Leonhard (2010). s. u. a. Tomforde (2015 a); Seiffert (2013); Brinkmann/Hoppe (2010); Tomforde (2009). 67 Siehe oben. 68 Leonhard (2010), S. 327. 69 Vgl. de Libero (2014). 70 Der Philosoph Ernst Bloch (1985) hat als Erster den Begriff der Ungleichzeitigkeit verwendet. Mit Blick auf das Nebeneinander verschiedener Stufen gesellschaftlichen Fortschritts hat er versucht, die Attraktivität des Nationalsozialismus kritisch zu ergründen. Seit den 1980er-Jahren wird Blochs These der Ungleichzeitigkeit auch auf gesellschaftliche Prozesse angewandt, die durch Simultaneität und Multidimensionalität geprägt sind. s. z. B. Albrecht (1991). 71 Major 27, Afg. 2011. 72 Oberstleutnant 2, Afg. 2009. 66
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nach Afghanistan zurückzumüssen.“73 Es scheint ein Charakteristikum des Afghanistaneinsatzes im Allgemeinen, aber auch der Gefechtssituationen im Besonderen zu sein, dass sie durch Mehrdeutigkeit sowie Multidimensionalität gekennzeichnet sind. Nach den Interviews mit den Militärs lässt sich konstatieren, dass der Einsatz in Afghanistan für die Soldaten nicht nur Leid, Schrecken und Trauer mit sich gebracht hat, sondern auch mit sehr intensiven und zum Teil sogar äußerst schönen Erfahrungen einherging. Es ist gerade die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die die Soldaten immer wieder erstaunt und auch zum Teil über Jahre hinweg emotional an diesen Einsatz bindet. Über den Beginn der deutschen Operation Halmazag, die der Aufstandsbekämpfung und Raumsicherung im Dorf Quatliam nahe Kunduz dienen sollte, schreibt der Kommandeur der Task Force Kunduz 2010/2011 z. B. Folgendes: „Als wir um kurz vor 09.00 Uhr den Dorfrand von Quatliam erreichen, bietet sich mir ein erstaunliches Bild: Vor einer Lehmmauer ist ein großer Teppich ausgerollt, auf dem Major W. [ein afghanischer Partner-Offizier – M.T.] eher liegt als sitzt und seine Waffe neben sich abgelegt hat. Völlige Gelassenheit ausstrahlend, spricht er entspannt mit einigen Dorfbewohnern, die Tee und ein paar Sahnebonbons mitgebracht haben. Die traute Teerunde lässt sich von den immer wieder sporadisch zu hörenden Sturmgewehrsalven nicht stören, die das Vorrücken unserer Truppen im Ort kennzeichnen.“74
Auch beeindruckende Sonnenauf- und untergänge und wunderschöne friedliche Landschaften vor oder nach einem Angriff gehören zur Erfahrungswelt der Soldaten im Gefecht, über die sie erzählen und auch selbst schreiben: „Als ich höre, dass sich die Ankunft des Ministers vermutlich um zwei Stunden verschieben wird, habe ich plötzlich Zeit (…). Langsam werde ich mir der Stille bewusst, die mich umgibt. Eine Stille, die nur durch die hellen Schreie im Tal spielender Kinder unterbrochen wird. Dort, wo meine tapferen Soldaten vier Tage im Kugel- und Granathagel aushielten und alle Angriffe des Feindes zurückschlugen, dort, wo Sprengsätze detonierten und Bomben niedergingen, Menschen verwundet wurden oder starben, beobachtete ich jetzt Bauern, die im Licht der langsam sinkenden Sonne wieder ihre Felder bestellten. (…) Für heute zumindest herrscht Frieden. Noch nie habe ich den Frieden so empfunden wie an diesem 4. November.“75
Eine weitere und besondere Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kommt auf, wenn die Soldaten Kontakt mit ihren Familien in der Heimat haben: „(…) und die Welt zu Hause Lichtjahre entfernt zu sein scheint. Die zu Hause feiern besinnlich Weihnachten oder andere Feste, während uns in Afghanistan die Kugeln um die Ohren fliegen und wir einfach nur ausgelaugt sind. Da ist es dann manchmal schwer, einen rich-
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Hauptmann 29, Afg. 2013. von Blumröder (2013), S. 85. 75 Ebd., S. 102 f. Über diese vier Tage im November der Operation Halmazag hat auch Johannes Clair (2012) ein Buch aus seiner Sicht als Stabsgefreiter verfasst. 74
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tigen Kontakt hinzubekommen. Der extreme Schlafmangel, die Anspannung und der Stress brennen sich dauerhaft in die Gesichter ein. Das verstehen die zu Hause nicht.“76
Die Kameradschaft hilft oftmals diese Unterschiede zu überbrücken, die zwischen den beiden Erfahrungswelten Heimat und Einsatzland aufkommen. „Kameraden sind wichtige Ansprechpartner. Nach einem Gefecht sind sie die wichtigsten Vertrauten. Ich muss erst überlegen, was ich nach einem Anschlag meiner Frau zu Hause erzähle. Meine Kameraden waren ja selbst dabei oder wissen wie es draußen aussieht. Was wir gemeinsam erlebt haben, verbindet uns miteinander, aber es trennt uns auch von den Daheimgebliebenen, von unserer Familie.“77
Die Soldaten erzählen ihren Familien nach einem Gefecht die Rahmendaten des Kampfes, da die oftmals gut informierten Partnern bzw. Partnerinnen diese ohnehin kennen und ihnen diese nicht zu verschweigen sind. Laut der Interviewten wird während des Einsatzes und oftmals auch nach der Heimkehr die emotionale Seite des Erlebten ausgeblendet. Die Soldaten wollen die Familie durch Erzählungen über Ängste und eventuelle Zweifel nicht mehr als nötig beunruhigen. Sie wissen, dass sie sich verändert haben, wollen durch diese Veränderung jedoch nicht automatisch als Traumatisierte dastehen. Je (einsatz-)erfahrener die Soldaten sind, desto eher wissen sie, dass sie nach der Rückkehr nach Hause viel Geduld mit sich und ihren Familien aufbringen müssen. Eine Wiedereingliederung in die deutsche Friedensgesellschaft sowie die Überwindung des durch die Rückkehr bedingten Kulturschocks, der offenbar von vielen durchlebt wird, erfordert Zeit und Rücksichtnahme beider Seiten.78
5. Gefecht und Emotionen: Spaß am Töten oder Gefechtsgier? In Afghanistan durchleben die Soldaten zum Teil Extremsituationen, die nur bedingt mit den Daheimgebliebenen geteilt werden können bzw. die in Deutschland in einem weitestgehend friedlichen Umfeld nur schwer nachvollzogen werden können. Während der Interviews wurde immer sehr emotional und detailreich von den direkten und auch indirekten Gewalterfahrungen berichtet. Viele zeigten während des Gesprächs körperliche Reaktionen, die sie selbst thematisierten: Gänsehaut, Händezittern, Kopfschmerz, abrupte Nervosität und plötzlich aufkommende Appetitlosigkeit. Wir haben es hier mit einem Wiederaufflackern von Emotionen zu tun, die während der eigentlichen Ereignisse in Afghanistan in potenzierter Form erlebt worden sind. Bereits Jonathan Shay schreibt nach seinen Interviews mit Vietnamveteranen, dass US-amerikanische Frontveteranen dem Gefecht eine „Verzückung“, „einen Rausch 76
Hauptmann 20, Afg. 2010. Oberstleutnant 8, Afg. 2009. 78 Vgl. Weibull (2012), S. 58 ff. Die schwedische Ethnologin Louise Weibull spricht in diesem Zusammenhang auch von einer sogenannten „post-deployment disorientation“, die unbestritten mehr Rückkehrer nach Auslandseinsätzen heimsucht, als eine diagnostizierbare posttraumatische Belastungsstörung. 77
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des Gefechts“ zuschreiben würden, der „besser als Sex“ sei.79 Als eine Reaktion auf die Gefahr während eines Gefechts setzen die Adrenalindrüsen im Körper Adrenalin und weitere Hormone frei, die diese ,Hochgefühle‘ biologisch begründen können: „Ich habe mich noch nie so gut gefühlt wie nach einem Gefecht. Das hängt wohl auch mit der Ausschüttung von Endorphinen zusammen. Man ist einfach froh, dass man noch lebt und alles gut überstanden hat. So ein Gefecht ist eine sehr, sehr intensive Erfahrung, die ich hier in Deutschland auch vermisse. Das Gefechtserlebnis führt zu ganz unterschiedlichen Reaktionen, bei mir eben zu positiven. Ich bin aber auch mein ganzes Leben lang schon auf der Suche nach Extremerfahrungen.“80
Wichtig ist dabei festzuhalten, dass diese „Faszination des aggressiven Rausches“81, der zur gegebenen Zeit jeden Menschen ergreifen und im Fall von Soldaten zu einer gewissen ,Gefechtslust‘ führen kann, oftmals nur für die Dauer des Kampfes anhält und schon kurze Zeit danach z. B. in Schuldgefühle und Gewissenskonflikte umschlagen kann.82 Diese zum Teil bohrenden Selbstzweifel, die schnell in unausgesprochene Schuldgefühle umschlagen können, werden im folgenden Zitat deutlich: „Als ich an diesem Abend auf meinem Feldbett lag, gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf: Hätte ich den Anschlag verhindern können? Was hätten wir anders oder besser machen können? Wofür ist Flo gefallen und wie geht es Flos Familie? Werden alle Verwundeten wieder gesund? Wie geht es meinen Männern? Was wird aus meinem Zug? Auch wenn man von seinen Vorgesetzten immer gesagt bekommt, dass man an dieser Situation nichts hätte ändern können, bleibt doch immer ein Funke Selbstzweifel im Raum. In den folgenden drei Tagen, in denen wir aus dem aktiven Dienst genommen wurden, fühlte ich mich persönlich wie ein Häufchen Elend. Mir gingen diese Fragen und Gedanken nicht aus dem Kopf und der Schutzpanzer, den ich mir in den Gefechtssituationen übergezogen hatte, lag plötzlich neben meinem Feldbett – und ich selbst stand nun nackt da und musste für mich ganz alleine mit der Lage klarkommen.“83
Neben der ,Gefechtslust‘ berichteten meine Interviewpartner durchweg von dem Phänomen der ,Gier nach Gefechtserfahrung‘, von der sie sich z. T. selbst deutlich zu distanzieren suchten. Offensichtlich gibt es Einsatzsoldaten, die sich nach Gefechtserfahrung sehnen und das Gelernte anwenden möchten – vielleicht als Konsequenz der zuvor erlebten Gewalt, aber auch durch das Verlangen nach einer ,Gefechtsmedaille‘: „Ich habe ein absolutes Unverständnis gegenüber Kameraden, die das Gefecht suchen. Zum Teil muss man Kameraden ausbremsen, die unbedingt die Erfahrung wollen, das ist dann schon grenzwertiges Verhalten. Da müssen auch schon mal Entscheidungen zurückgenommen werden und Aktionen, die nicht sein müssen, wieder abgesagt werden. Alles andere ist 79
Shay (1998), S. 138; Bourke (1999); vgl. Clausewitz (1980), S. 72. Major 22, Afg. 2010. 81 Moeller (1992), S. 88. 82 Ebd. 83 Müller (2013), S. 143.
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verantwortungslos. Auf der anderen Seite ist die Gefechtslust vielleicht auch irgendwie menschlich, wenn man zig Verletzte und Tote gesehen und zig Anschläge überlebt hat. Der Kommandeur hat hier eine besondere Verantwortung. (…) Einsatzsoldat-Sein ist kein Job wie jeder andere, er produziert aber auch nicht automatisch wertelose Kämpfer. Im Gegenteil, im Gefecht sowie in Konfliktgebieten ist soziale Kompetenz von großer Bedeutung. Man muss aufeinander achten und ist absolut aufeinander angewiesen. Der Führer muss wechseln können zwischen Führen im Gefecht und Beurteilungen schreiben im Feldlager im Büro. Das gehört zur Normalität, Realität. Diejenigen, die Gefechtserfahrung haben, haben kein Verständnis für die Gier nach der Gefechtsmedaille und damit auch nicht für die ,Gier nach Anerkennung‘.“84
Hier muss offensichtlich zwischen zwei Phänomenen unterschieden werden: zwischen der ,Gefechtslust‘ und der ,Gier nach der Gefechtsmedaille‘. Die Gefechtslust kann ,soldatisch‘ begründet sein: Das monate- und jahrelang Erlernte, welches zum Kern des militärischen Handwerks zählt, will angewandt werden – erst recht, wenn Soldaten Verwundung und Tod bei eigenen Kameraden erlebt haben. Davon ist klar die ,Gier‘ nach einer Gefechtsmedaille und nach (offizieller) Anerkennung85 zu unterscheiden. Den Soldaten ist bewusst, dass den gefechtserfahrenen Kameraden im Kreise der Bundeswehr ein Maß an Respekt vor dem Erlebten und Überlebten gewiss ist. Nicht wenige würden gerne zu diesem Kreis, der etwa 5.000 Soldaten umfasst,86 gehören, und einige von ihnen suchten vor diesem Hintergrund besonders in den Jahren 2010/2011 offensiv das Gefecht. Andere eignen sich Gefechtserfahrung symbolisch z. B. in Form von Narrationen über den Einsatz oder durch Kleidung an: Die Soldaten, die Gefechtserfahrung haben, sprechen nicht sofort über ihre Gewalterfahrungen im Einsatz; sie haben sie. Die, die sie nicht haben, sprechen z. T. in ,WirForm‘ von der Erfahrung und schließen sich somit bewusst in den Kreis der Erfahrungsträger mit ein. Auch wurde seitens der Befragten viel und despektierlich von Soldaten erzählt, die das Feldlager in Afghanistan nur selten bis gar nicht verlassen haben, nichtsdestotrotz eine für das Gefecht aufgerüstete Uniform für ihre Tätigkeit im Feldlager trugen: „Einsatz ist nicht gleich Einsatz. Diejenigen, die die größten Heldengeschichten erzählen, waren nur im Feldlager.“87 Somit wird einmal mehr deutlich, dass die elementare Erfahrung des Kämpfens von zentraler Bedeutung für das soldatische Selbstverständnis ist – auch zu Zeiten hybrider und multipler Her84
Hauptmann 23, Afg. 2010. s. das Interview mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière: http:// www.faz.net/aktuell/politik/inland/thomas-de-maiziere-im-gespraech-giert-nicht-nach-anerken nung-2092201.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff: 01. 12. 2014). 86 Diese Zahl hat ein einsatz- und gefechtserfahrener Offizier errechnet, der ungefähr einschätzen konnte, wie viele Soldaten pro Kontingent in Gefechte involviert waren, wie viele von ihnen das zweite, dritte oder vierte Mal im Einsatz waren und der wusste, in welchen Jahren die Bundeswehr in Afghanistan „im aktiven Gefecht“ stand. Vgl. Zimmermann (2014). Die offiziellen Zahlen seitens des BMVg über die Anzahl der verliehenen Gefechtsmedaillen geben diesbezüglich keine klare Auskunft, da die Medaille z. T. aufgrund sehr unterschiedlicher Kriterien verliehen worden ist und ein und derselbe Soldaten auch mehrmals in einem Gefecht gestanden haben kann. 87 Major 20, Afg. 2010. 85
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ausforderungen. Die im Kampf gemachten Erfahrungen werden zum „Gravitationszentrum“ für die Selbstbilder der Soldaten – auch derjenigen, die nur indirekt mit dem Geschehen verbunden sind.88 Für die Mehrheit der heutigen Soldaten bedeutet der Bezug auf dieses Gravitationszentrum jedoch nicht ein simpler Rückfall auf einfache, gewaltsame Handlungskonzepte, die mit fragwürdigen, tradierten Leitbildern soldatischen Handelns kombiniert werden.89 Den vielzähligen Interviews und Gruppengesprächen meiner Untersuchung zufolge scheint stattdessen ein hybrides und multifunktionales Selbstbild vorzuherrschen, für das der Kampf zentral, aber nicht alles entscheidend ist. Nichtsdestotrotz müssen – nicht zuletzt unter dem Aspekt demokratischer Kontrolle von Streitkräften – (soldatische) Identitäten mit Blick auf potenziell gefährliche Entwicklungen90 stets im Auge behalten werden.91
V. Das Töten: Ungewissheit, Freude über das eigene Überleben und ,die Sinnsuche danach‘ „Der Schütze war erst 20 Jahre alt. Er hat am meisten geschossen. Dann war Ruhe im Karton. Er hat wahrscheinlich erst später realisiert, dass er Leben ausgelöscht hat.“92
Vom Standpunkt kultureller Normen stellt das Töten immer einen Grenzfall dar, da der Hauptzweck kultureller Normung sozialen Verhaltens in der Bändigung und Einschränkung des Tötens besteht. „Keine Gesellschaft könnte überleben, in der das Töten nicht entscheidend eingeschränkt und unter strengste Sanktionen gestellt würde.“93 An dieser Stelle soll der Frage nachgegangen werden, was die Soldaten fühlen und denken, wenn sie diese Grenze überschreiten und ,Leben auslöschen‘. Wie legitimieren sie das Töten vor sich selbst, wie interpretieren sie es und wie gehen sie emotional damit um?94 Der eigentliche Akt des Tötens ist unterrepräsentiert in wissenschaftlichen Abhandlungen bzw. in der akademischen Diskussion um Gewalt und Krieg. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Töten scheint ein ähnliches Tabu darzustellen wie die Handlung selbst.95 Wenn ISAF-Soldaten nach Deutschland zurückkehren, werden sie nun des Öfteren lapidar von Freunden und
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Haltiner/Kümmel (2008), S. 51. Warburg (2010), S. 72 f. 90 Siehe das Buch Soldatentum von Böcker/Kempf/Springer (2013), welches auf z. T. reaktionäre und essenzialistische Weise fragwürdige Werte- und Normbezügen für Soldaten aufwirft. 91 Vgl. Haltiner/Kümmel (2008), S. 51. 92 Major 20, Afg. 2010. 93 Assmann (1995), S. 57. 94 Vgl. Bar/Ben-Ari (2005), S. 133. 95 Vgl. Mann (2014), S. 151; Bar/Ben-Ari (2005), S. 134; s. auch Bourke (1999). 89
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Verwandten gefragt „Hast du getötet?“96 anstelle der sonst üblichen Frage „Wie war es denn?“. Durch gewisse räumliche Distanzen, die in den meisten Gefechten gegeben sind, wissen die Soldaten oftmals nicht, ob sie im Gefecht tatsächlich jemanden verwundet oder getötet haben. In kriegerischen Auseinandersetzungen ist eine diesbezügliche Sicherheit in den seltensten Fällen gegeben: „Ich hatte gerade durch das Zielfernrohr meines Gewehrs das Vorfeld beobachtet, entsicherte reflexartig und feuerte vier Schüsse auf das sich bewegende, grau gekleidete Ziel ab. Die Person schien ruckartig zu Boden zu gehen, der graue Fleck war weiterhin an ein und derselben Stelle zu sehen. ,Good shot‘ sagte mein amerikanischer Kamerad Chris, der, während ich im Graben lag, neben mir auf einem Weg kniete, durch sein Fernglas spähte und seinen Kautabak mit einem Grinsen ausspukte. Ich frage mich bis heute, ob ich getroffen habe oder ob ich einfach nur der Mauer gegenüber einen ordentlichen Schrecken eingejagt habe.“97
Nicht immer wissen die Soldaten nach einem Gefecht, ob sie einen Menschen getötet haben oder nicht. Dieses Nichtwissen kann ebenso zu irritierenden Schuld- und Schamgefühlen führen wie die Gewissheit, jemanden erschossen zu haben. Das obige Zitat verdeutlicht anhand des Ausspruchs „Good shot“ eine weitere Dimension des Gefechts, die auch in meinen eigenen Interviews wiederholt angeklungen ist: Der Kampf gehört zum soldatischen Handwerk, das sich im Gefecht erproben und anwenden lässt. Wie in jedem anderen Beruf wird auch im Militär gutes Handwerk honoriert und über die besten Werkzeuge, sprich Waffentypen, gesprochen und diskutiert. Für einen Zivilisten, der mit diesem Handwerk nicht vertraut ist und nur Verwundung und Tod als Ergebnis der Tätigkeit sieht, ist diese Sichtweise befremdlich oder gar abschreckend.98 „Most cases of killings in modern wars are impersonal.“99 So erzählen auch die interviewten Soldaten davon, dass ihnen der Akt des Tötens im Gefecht einerseits durch die immanente Gefahr seitens des Gegners und andererseits durch die größtenteils unübersichtliche Lage während eines Gefechts nicht schwer gefallen sei. Während eines Gefechts stehen sich oftmals eben nicht Mensch zu Mensch unmittelbar schießend gegenüber, sondern die Sicht auf das (Deckung suchende und/oder sich bewegende) Gegenüber kann durch (große) Entfernungen, das Gelände, Büsche, Häuser etc. erschwert sein. Man spricht hier auch von dem sogenannten „fog of combat“.100 So beschreibt ein Oberstabsgefreiter ein Gefecht in einem Dorf im Raum Kunduz: „Der feindliche Beschuss war teilweise so stark, die Bebauung so dicht, dass wir schnell den Überblick verloren, wer wo auf wen schoss.“101 Dass ein Kon96 Ein Heimkehrer, der seinen Freunden ernsthaft über die Kriegserfahrungen berichtete, saß nach kurzer Zeit nur noch alleine im Raum – das Erzählte war für die Zuhörerschaft offensichtlich nicht zu ertragen gewesen. Vgl. Shay (1998). 97 Hauptmann, L. (2013), S. 107. 98 Vgl. Mann (2014). 99 Bar/Ben-Ari (2005), S. 134. 100 Ebd., S. 135. 101 Focken (2013), S. 63.
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trahent (tödlich) getroffen wird, macht nur das Versiegen des Gegenfeuers bemerkbar – die freie Sicht auf den zu tötenden Gegner haben in den meisten Fällen nur Scharfschützen (und die auch nicht immer) – oder Spielfilmhelden. Somit bleibt die Erfahrung des Tötens für einen Großteil der gefechtserfahrenen deutschen Soldaten offenbar relativ abstrakt. Interessanterweise werden selbst Scharfschützen mittels des Blickes durch das Zielfernrohr vor einer zu direkten Konfrontation mit dem Akt des Tötens geschützt.102 „Es hilft, dass wir nicht wissen, wer getroffen hat und wer nicht. Das entlastet. Wenn die Opfer eindeutig Terroristen sind, dann ist das Töten okay. Dafür sind wir da. Dies ist Teil unseres Auftrages und unseres Jobs. Das Töten ist legitim, wenn man den Feind trifft. Ich habe keine ethischen Bedenken. Ich habe immer noch die Bilder der getöteten Terroristen im Kopf. Die wollen uns Böses, also gehen wir gegen die Bösen vor.“103
Die Umschreibungen, die lange Zeit für das Töten verwendet wurden und an eine Sprachlosigkeit grenzten, lassen sich u. a. mit einer Scheu und dem Legitimationsdruck seitens der Gesellschaft begründen.104 Das Töten in unseren hochentwickelten Sozialsystemen ist mit „(…) Tabuisierungsmechanismen, Begriffsmaskierungen, Ignorierungen, Verleumdungen, Verharmlosungen und anderweitigen Benennungen gekennzeichnet. Ein derartiger terminologischer Aufwand beruht auf einer tiefen Ablehnung des Tötens, die den meisten Menschen innewohnt. Gleichzeitig geben aber die vorherrschenden Kampfbedingungen den Entwurf ab, andere töten zu müssen, um selbst zu überleben – ein Dilemma.“105
Somit erfahren die Soldaten das Töten auf eine sehr widersprüchliche Weise.106 Es kann eine Bandbreite an (emotionalen) Reaktionen vorliegen zwischen Gefechtslust und Triumph einerseits und Sinnsuche, Schuldgefühl, Mitleid und Reue andererseits. Unmittelbar nach dem Kampf stellt sich die Freude darüber ein, überlebt und eventuell stattdessen den Feind getötet zu haben. Verstörende Gedanken, Sinnfragen und Schuldgefühle ergeben sich meist erst mit einem zeitlichen Abstand, denn auch für die Soldaten kann dem Blutvergießen und Töten „eine ominöse Komponente des Heillosen“107 anhaften. Oftmals wird in einer chaotischen Situation gekämpft – dort gibt es keine Ordnung. Gefechte treten auch unerwartet durch plötzlichen Beschuss des Gegners auf. So kommt bei einigen Soldaten nach dem Gefecht die Frage auf, ob sie während des Kampfstresses richtig gehandelt haben. Diese Fragen können zu moralischen Erschütterungen bei den Soldaten führen. In den meisten sozialwissenschaftlichen Studien werden die Opfer von Gewalt beleuchtet, weniger die Täter. Während des ISAF102
Bar/Ben-Ari (2005); vgl. Collins (2011), S. 583 ff. Oberstleutnant 5, Afg. 2009. 104 Vgl. Leifsen (2011); Apelt (2009), S. 159. 105 Ungerer (2010), S. 101. 106 Vgl. Bar/Ben-Ari (2005), S. 133. 107 Stietencron (1995), S. 51.
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Einsatzes in Afghanistan wurden die Soldaten nicht nur zu Opfern, sondern eben auch zu Tätern. Für einige Soldaten ist diese Perspektive nur schwer zu ertragen und kann, neben moralischen Fragen, Gefühle von Schuld, Scham, Aggressivität, Sprach- und Hilflosigkeit hervorrufen. Weitere Folgen können die Störung des eigenen Sozialverhaltens sowie der Impulskontrolle sein.108 Viele Soldaten können dennoch mit dem Töten im Kampf gut umgehen – erst recht, wenn der Feind klar identifiziert worden ist und die Sicherheit vorherrscht, erfolgreich gegen sogenannte insurgents vorgegangen zu sein. Allerdings muss immer wieder die uns naturgegebene biologische Hemmung zum Töten überschritten werden.109 „Menschen wollen nicht töten“110 – auch Soldaten nicht.111 „Our common humanity and this biological mechanism make killing a difficult task that inevitably leads to feelings of guilt and pain.“112 Wenn nun Soldaten einen anderen Menschen töten, kann durch diese Handlung die uns innewohnende Menschlichkeit infrage gestellt werden. Hier kommt der gesellschaftlichen Legitimation für die Gewaltanwendung eine besondere Bedeutung zu. Ist die Zustimmung der eigenen Gruppe für das Töten im Kollektiv (Tötungsgebot) gegeben, kann das kulturelle Konstrukt des Tötungsverbotes überwunden und auch angemessen verarbeitet werden. Wie in meinen Interviews deutlich wurde, stellen deutsche ISAF-Soldaten zum Teil nicht nur Sinn und Zweck des Einsatzes infrage, sondern wissen auch um die mangelnde Legitimierung des robusten Einsatzes seitens der deutschen Bevölkerung.113 Im folgenden Fazit geht es um die Heimkehr der Soldaten in die deutsche Gesellschaft und um die Frage, wie die Bevölkerung die gewalterfahrenen Kämpfer konzeptualisiert und in ihre eigenen Reihen wieder aufnimmt.
VI. „Wir sind doch keine Freaks“ – Heimkehr in die Gesellschaft Der Afghanistaneinsatz ist für die Mehrzahl der Soldaten nach ihrer Rückkehr nach Deutschland noch lange nicht abgeschlossen. Meine Interviewpartner betonen wiederholt, dass sie die Bilder des Einsatzes stets begleiten würden – in Träumen, aber auch tagsüber wären sie regelmäßig präsent. Das bedeutet, dass die ISAF-Mission, auch wenn sie Ende 2014 offiziell beendet ist, in den Köpfen der Beteiligten noch eine ganze Weile nachwirken wird. Trotz dieser Bilder und der inkorporierten 108
Interview mit Dr. Zimmermann, 10. Juni 2011. Vgl. Collins (2011); Grossman (1995). 110 Ungerer (2010), S. 95. 111 Im Zweiten Weltkrieg haben 80 bis 85 Prozent der US-amerikanischen Soldaten offensichtlich nicht auf den Feind geschossen. Diese Hemmschwelle wurde in der Folge durch eine bessere Ausbildung während des Korea- und Vietnam-Krieges stark reduziert. Grossman (2009); vgl. Collins (2011), S. 70 ff. 112 Bar/Ben-Ari (2005), S. 134. 113 Vgl. Wanner/Bulmahn (2013). 109
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Gewalterfahrung, die die Soldaten prägen, ist es den Rückkehrern wichtig zu betonen: „Wir sind doch keine Freaks.“114 Damit verdeutlichen die Soldaten selbst, dass es zwar traumatisierte115 Rückkehrer gibt und auch Soldaten, die zunächst Probleme116 mit der Wiedereingliederung in die Friedensgesellschaft und in den ,Alltagsmodus‘ haben – dadurch möchten sie allerdings nicht pauschal zu „freaks“ degradiert werden. Selbstredend hat der Afghanistaneinsatz die Beteiligten verändert, erst recht, wenn eine direkte oder indirekte Konfrontation mit Gewalt und Krieg gegeben war.117 Ein Stabsfeldwebel unterstrich in einem Gespräch: „Es ist klar, dass man verändert aus dem Einsatz wiederkehrt. Wer unverändert nach Hause kommt, ist krank.“118 Die rückkehrenden Soldaten müssen nach ihrer Ankunft in Deutschland mit zweierlei Phänomenen umgehen: Erstens müssen sie die Bilder von Gefecht, Verwundung, Tod, großer Armut und für das eigene Wertegefüge nur schwer zu akzeptierende Verhaltensweisen seitens Teilen der afghanischen Kriegsgesellschaft verarbeiten. Zweitens müssen sie den Schritt zurück in die Heimatgesellschaft finden, die aus ihrer Sicht im Gegensatz zum Einsatzland in vielerlei Hinsicht von Überfluss, Oberflächlichkeit und Zeitverschwendung geprägt sei. Diese Zeit des Übergangs119 zwischen Einsatz- und Heimatland, die mehrere Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmen kann, kann von dem bereits erwähnten ,Rückkehrerkulturschock‘ geprägt sein. Wenn sich die eigenen Wertemaßstäbe durch Armut und Not in Afghanistan verschoben haben, fällt es den Soldaten besonders schwer, sich den Verhältnissen der Heimatgesellschaft wieder anzupassen. In den meisten Geschichten von heimkehrenden Soldaten wird thematisiert, dass sich durch die Konfrontation mit Armut, Gewalt und Tod eine Dankbarkeit für Kleinigkeiten eingestellt habe. Dies wird auch im Buch Operation Heimkehr120 deutlich, in dem unterschiedliche Bundeswehrangehörige über ihre Deutungen des Einsatzes sowie von ihren eigenen Veränderungen nach der Rückkehr aus Afghanistan berichten. Ähnliche Erfahrungen 114
Hauptmann 29, Afg. 2013. Erfahrungen der Gewalt können potenziell traumatisieren, allerdings führen sie nicht zwangsläufig zu einer PTBS. Wer durch welches Ereignis wann und auf welche Weise traumatisiert wird, hängt immer von unterschiedlichsten Faktoren ab. „Thus the killing is at times banal and not traumatic; it is not too easy, nor too hard to bear.“ Bar/Ben-Ari (2005), S. 150. 116 Jonathan Shay (1998), S. 17, stellt fest, dass die Kriegserfahrungen der Vietnamveteranen den Begebenheiten ähneln, die Homer bereits in dem antiken Epos Ilias dargestellt habe – auch dort wurde von Wiedereingliederungsproblemen berichtet, die Jahre andauern können. In diesem Sinne unterstrich ein Vietnamveteran: „Ich habe wirklich zwanzig Jahre lang nicht geschlafen …“. 117 s. auch Langer et al. (2011), S. 16. 118 Stabsfeldwebel 7, Afg. 2009. 119 Die einsatzerfahrene deutsche Marine weiß um diese Wiedereingewöhnungsschwierigkeiten. Wenn möglich, fährt sie nach einem geographisch entfernt liegenden Einsatz wie vor der Küste Somalias einen sogenannten „Europäisierungshafen“ an, um den Soldaten die Rückgewöhnung an die westlich geprägte Lebensweise vor der Heimkehr in die Familie zu erleichtern. 120 Würich/Scheffer (2014). 115
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beschreibt der Leiter des Psychotraumazentrums am Bundeswehrkrankenhaus in Berlin aus der Sicht eines Soldaten: „Ich komme nach Hause, aber es will keiner hören, was mir passiert ist, keiner versteht mich und meine neue Wertebildung durch den Einsatz. Ich habe Leidvolles erlebt, ich will verstanden werden, während das Umfeld nicht interessiert ist. Man hatte eine krasse Zeit im Einsatz und hier in Deutschland kümmert man sich um ,Deutschland sucht den Superstar‘. Alles ist so banal, der Konsumrausch etc.“121
Soldaten, die Gefechtserfahrungen haben und direkt mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert waren, schätzen oftmals das eigene Zuhause mehr und haben eine Stärkung des eigenen Wertegerüsts erfahren – Tugenden wie Ehrlichkeit, Höflichkeit, Verlässlichkeit und auch das Füreinander-Dasein zählen nun (wieder) mehr. Gefechtserfahrungen können ein Selbstgefühl auslösen, mittels dessen die „eigene Ganzheit“ wiedergewonnen wird.122 Unterdrückte oder brachliegende Seiten der eigenen Persönlichkeit werden unter den gänzlich anderen Bedingungen der gewalttätigen Auseinandersetzung wieder- bzw. ausgelebt: „Oder anders gesagt: daß wir wieder als ganzer Mensch leben, wenn wir zur bewußten, sozusagen lichten Seite auch die verdrängte unbewußte, dunkle Seite unseres Selbst leben können. Sie besteht gleichermaßen im Töten wie im Getötetwerden. Und genau diese ,Befreiung zur Ganzheit‘ scheint die lustvolle Attraktivität der Aggression auszumachen. Mit unserer vielfältigen und wie auch immer bedingten latenten Gewaltlust empfinden wir uns erst als ,vollständige Menschen‘.“123
Ob der Tatsache, dass Soldaten nach einem Einsatz den Schritt weg von dem Gewaltgebot und den Kriegsszenarien hin in die Gesellschaft mit dem Gewaltverbot und der Friedensnorm schaffen müssen, werden Krieger in vielen Kulturen bewusst resozialisiert.124 Dies geschieht oftmals durch reinigende Rituale mit dem Ziel, die Krieger von ihren belastenden Bildern zu befreien, die Gewalt zu neutralisieren und ihnen den Weg zurück in die ,Normalität‘ zu ebnen. Die Soldaten als gleichzeitige Täter und Opfer von Gewalt müssen reintegriert und die sozialen Beziehungen zu ihnen neu aufgenommen und definiert werden.125 Der portugiesische Ethnologe Paulo Granjo hat durch seine Feldforschung im Bürgerkriegsland Mozambik aufgezeigt, wie die Gemeinden in den vergangenen Jahren prioritär dafür sorgten, dass die rückkehrenden Soldaten mit ihren traumatisierenden Erlebnissen und ihren möglichen Schuldgefühlen konfrontiert wurden. Dies geschah durch reinigende Riten, die von jeher, bis heute, auf der lokalen Exegese von Schicksalsereignissen beruhen: „They [the rituals – M.T.] allow, simultaneously, the confinement of post war actions as an exceptional situation and expurgate the individual veteran from being in danger and being 121
Interview mit Dr. Zimmermann, 10. Juni 2011. Moeller (1992), S. 89. 123 Ebd. 124 Schwelling (2010); s. auch Shay (1998). 125 Vgl. Stietencron (1995), S. 51. 122
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considered a danger to the community. It allows him to be proclaimed a new man, entitled to a fresh start inside the community. In addition to its importance for the individual reintegration of veterans, the generalized performance of such rituals also played and plays an important role in allowing the community members to accept previous enemies/veterans as ,people like the others‘.“126
Für die psychische Gesundheit dieser Heimkehrer ist es zentral, von der Gesellschaft akzeptiert und als ,ein Mensch wie jeder andere‘ wieder aufgenommen zu werden. Granjo zeigt hier den Unterschied zu den heimkehrenden US-amerikanischen Soldaten nach dem Vietnamkrieg auf, die von der Gesellschaft maximal akzeptiert wurden, jedoch immer den Status des ,Anderen‘ behielten. In Mozambik verhelfen die Reinigungsrituale denjenigen, die Unglück oder eben auch brutalste Formen der Gewalt erlebt haben, den Status einer ,normalen Person‘ wiederzuerlangen und dadurch in die Gesellschaft reintegriert werden zu können. Diese rituelle Reinigung, die sowohl im privaten als auch öffentlichen Raum stattfindet, thematisiert die traumatisierenden Ereignisse im Gegensatz zu westlicher Psychotherapie explizit nicht.127 Eine inhaltliche Thematisierung der Kriegsgräuel wird als gefährlich sowohl für den rückkehrenden Soldaten als auch für die wieder aufnehmende Gesellschaft gewertet. Stattdessen wird den Veteranen durch rites de passage128 eine offizielle Wiederaufnahme in die Gemeinschaft, „a fresh start“, ermöglicht.129 Selbstredend können Rituale aus einem fernen Land wie Mozambik, die sich in dem dortigen soziokulturellen Glaubenskontext über Jahrhunderte entwickelt haben, nicht einfach auf westliche Gesellschaften übertragen werden. Nichtsdestotrotz können wir von Granjos Fallbeispiel lernen, dass es für die psychische Gesundheit rückkehrender Soldaten sowie für ihr Selbstwertgefühl von zentraler Bedeutung sein kann, dass die Gesellschaft diese Männer und Frauen als ,normale Menschen‘ wieder reintegriert und sie nicht zu ,psychopathologisierten Fremden‘ oder „marginal men“130 werden lässt. In der deutschen Gesellschaft werden die Soldatinnen und Soldaten oftmals als Besondere markiert, „damit die Erfahrungen als Besondere ausgeschlossen werden können“131 und nicht durch die direkte Konfrontation mit der erlebten Gewalt und unter Mühen als ,Normalität‘ in die eigene Lebenswelt aufgenommen werden müssen. Es findet mit anderen Worten keine gesellschaftliche Integration der Gewalterfahrungen statt, sondern eine Abwehr durch Psychopathologisierung der Betroffenen. Der Sozialwissenschaftler Phil Langer sieht dementsprechend die gewalterfahrenen ISAF-Soldaten als Außenseiter bzw. „Nichtintegrierbare aus dem gesellschaft-
126
Granjo (2007), S. 382. Ebd., S. 386 f. 128 Van Gennep (1909). 129 Granjo (2007), S. 382. 130 Park (1928); vgl. Mannitz (2013). 131 Langer (2013), S. 86. 127
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lichen Diskurs abgesondert“.132 Die betroffenen Militärs würden re-viktimisiert und ihre Erfahrungen von der Gesellschaft als abnormal ausgegrenzt, statt integriert und re-interpretiert zu werden. „Aus psychoanalytischer Sicht liegt es nahe, von ,Schiefheilung‘ durch individualisierende Psychologisierung des Subjektes von eigentlich auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Erfahrungen zu sprechen.“133 Für diese (postheroische)134 Gesamtgesellschaft sei „die Gewaltabstinenz das entscheidende Moment der gesellschaftlichen Kohäsion in der Moderne“.135 Die Problematisierung der Gewalterfahrungen hilft, den gewaltablehnenden, gesellschaftlichen Wertekanon aufrechtzuerhalten. Durch die traumatisierende Sicht auf rückkehrende Soldaten, die sich auch in zahlreichen Spielfilmen, TV-Serien und Theaterstücken verdeutlicht, schützt sich die Gesellschaft vor einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den Gewalterfahrungen der Soldaten. Gewalterfahrungen werden nicht nur in Erzählungen „gespeichert“ und in Sprache „archiviert“, sondern auch in Körper, Bewegungen, Gesten, (inoffizielle) Rituale und Objekte inkorporiert.136 Diese im „Körper und in die Handlungen eingeschriebenen Gewalterfahrungen“ können gar, wenn sie nicht thematisiert oder gegebenenfalls therapiert werden, durch nichtdiskursive, unbewusste soziale Praktiken an das eigene soziale Umfeld oder gar an folgende Generationen weitergegeben werden.137
VII. Fazit Ziel des vorliegenden Beitrags war es, die subjektiven Wahrnehmungen und Interpretationen militärischer Gewalt von Soldaten zu erforschen. Durch den emischen Blick auf Gewalterfahrungen von ISAF-Soldaten in Afghanistan soll für ein besseres Verständnis dieses Phänomens eine weitere Facette von Gewalt beleuchtet werden. Im Zentrum der Forschung stand die Frage, wie Soldaten nicht nur als Opfer, sondern nun auch als Täter Gewalt interpretieren, verarbeiten und mit Bedeutung belegen. Wie die Interviews mit gefechtserfahrenen Bundeswehrsoldaten aufgezeigt haben, wird Gewalt auch im Kontext des Militärs sehr unterschiedlich gedeutet. Sie kann sowohl schreckliche als auch positive Seiten haben. So verstörend Gewalterfahrungen in einem Augenblick sein mögen, für viele Soldaten stellt die Konfrontation mit Gewalt nur Teil eines komplexen Ganzen während des Einsatzes und in der Zeit danach dar. Die Streitkräfte vertreten das Gewaltmonopol des Staates nach 132
Ebd., S. 84. Ebd., S. 83. 134 Mit zunehmender Gewalt im Auslandseinsatz, sehen die nächsten Angehörigen, Partner bzw. Kinder die Soldaten im Auslandseinsatz als Helden an – eine Kategorie, die bis 2007 auch bei den Soldatenfamilien keine Rolle spielte. Vgl. Tomforde (2015 b). 135 Reemtsma zit. nach Langer (2013), S. 71. 136 Bendix (1996), S. 169. 137 Pichler (2011), S. 187; vgl. Weiss/Six-Hohenbalken (2011), S. 7; Shay (1998), S. 263 f. 133
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außen. Als Angehörige dieser Organisation des Staates werden die Soldaten in der Gewaltanwendung ausgebildet und per Parlamentsmandat in z. T. robuste Einsätze wie nach Nordafghanistan entsandt, wo in Gefechten die erlernte Gewalt angewandt werden muss. Für die Soldaten stellt Gewalt das ,Gravitationszentrum‘ dar, auf Basis dessen nicht nur die militärische Kernausbildung stattfindet, sondern um das sich auch die soldatische Identität rankt. Das Ein- und Ausüben militärischer Gewalt ist elementarer Bestandteil des Berufsverständnisses eines professionellen Soldaten. Somit gilt es zu verstehen, dass für viele Militärs Gewalt nichts automatisch Traumatisierendes, sondern Teil ihres Berufes sowie ihres professionellen Selbstverständnisses ist. Soldaten können in der Regel mit Gewalterfahrungen als integraler Bestandteil ihres soldatischen Auftrags im Einsatzland gut umgehen. „Mit dem Militär existiert eine gewaltsame Körperschaft, für die just die elementare Erfahrung des Kämpfens, Tötens und Sterbens von zentraler Bedeutung für ihr Selbstverständnis ist. Selbst in der bürokratischen Militärorganisation des Friedensbetriebs bleibt dieses kampforientierte Selbstverständnis durch Einsatzerfahrung, durch Legenden, durch explizit normative Forderungen sowie durch die Pflege kriegerischer Traditionen erhalten. Als politische Institution des Staates und der Gesellschaft prägt das Militär sowohl Soldaten als auch Zivilisten und erzeugt den homo militaris.“138
Dass dieser homo militaris viel mehr als nur ein ,dumpfer Krieger‘ oder gar ,freak‘ ist und Gewalt im Auslandseinsatz auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen erfährt und interpretiert, hat der vorliegende Beitrag aufgezeigt. Die Gewalterfahrung ist nicht automatisch traumatisierend und wird nicht zum Anlass genommen, sich von den Werten und Normen der heimatlichen Friedensgesellschaft zu entfernen. Gefechtserfahrungen werden seitens der Kameraden anerkannt. Nichtsdestotrotz wird genau geprüft, unter welchen Umständen diese Gefechtserfahrungen gesammelt worden sind und wie mit diesen umgegangen wird. Der Status eines Soldaten unter Gleichgesinnten erhöht sich offenbar nicht durch die erhaltene Gefechtsmedaille oder ein kämpferisches Auftreten, sondern durch die tatsächlich gemachten Einsatzerfahrungen, die sich unter den Kameraden herumsprechen. Der ,postmoderne‘ bzw. ,postheroische‘ Kämpfer ist kein martialischer Soldat, sondern ein (kultur-) sensibler, professioneller und kritischer Staatsbürger in Uniform.139 Die Gewalterfahrung kann bei Soldaten (in unterschiedlichen Zeitfenstern) zu Hochgefühlen und Euphorie, zu Schuldgefühlen, Sinnfragen und Selbstzweifeln oder auch zu einem geänderten Wertegefüge oder im schlimmsten Falle auch zu Traumatisierungen führen. Nach der Rückkehr suchen die Soldaten in Form von z. B. selbst verfassten Einsatzmemoiren, Mitgliedschaften in Veteranenvereinen oder Motorradclubs, einsatzbezogenen Tätowierungen, kleinen ,AfghanistanSchreinen‘ im eigenen Wohnzimmer oder persönlichen Gedenktagen nach Wegen, um ihre Emotionen zu verarbeiten, ihre Geschichten zu erzählen, ihre Legitimation
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vom Hagen (2014), S. 47. Vgl. Tomforde (2015 a); Hajjar (2014).
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für das Kämpfen im Einsatz zu erhalten und über die Normalität der Gewaltpräsenz im Einsatz zu berichten.140 „Violence does not only belong to the realm of the pathological but is woven into the very fabric of normal everyday life. Thus we do not see violence as something that is inherently pathological or traumatic. One needs to proceed with a careful phenomenological account of violence from the perspective of agents.“141
Dem allgemein gängigen Bild des posttraumatisierten Soldaten muss ein vielschichtiges entgegengesetzt werden – weg von Psychostigmatisierung hin zu einer komplexen Innenansicht des Umgangs mit dynamischen und sich stets verändernden Gewalterfahrungen. Dieses Innenbild der Gewalterfahrungen und -deutungen seitens der Soldaten wird uns wiederum erlauben, Gewalt als komplexes Phänomen besser zu verstehen. Aus diesem Grunde ist es umso wichtiger, kulturadäquate Mittel und Wege zu finden, gewalterfahrene Soldaten in die deutsche Friedensgesellschaft als vollständige Mitglieder zu reintegrieren und ihre Erlebnisse gemeinsam aufzuarbeiten, um Traumatisierungen jedweder Art vorzubeugen. Die deutsche Gesellschaft steht den Rückkehrern nicht selten hilflos gegenüber, hin- und hergerissen zwischen Angst vor Remilitarisierung durch die Gefechtserlebnisse und Mitleid vor den seelisch Geschädigten. Die Bevölkerung darf in diesem Zusammenhang allerdings nicht als monolithischer Block wahrgenommen werden, auch wenn sie von Sozialwissenschaftlern in Abgrenzung zum Militär gerne als solche beschrieben wird.142 Gerade in den Jahren seit 2009 wurde die (mediale) Auseinandersetzung mit den Kriegserfahrungen des ISAF-Einsatzes immer differenzierter und zeigte die unterschiedlichsten Facetten der Gefechtsrealität, des Einsatzalltages sowie der Heimkehr fern von Traumatisierung auf.143 Es ist wichtig, dass diese differenzierte Sichtweise nach der offiziellen Beendigung der ISAF-Mission Ende 2014 nicht wieder abebbt und die rückgekehrten Soldaten mit ihren Erfahrungen und omnipräsenten Bildern von Gewalt nicht alleine gelassen werden. Es ist für die Soldaten und ihr Selbstverständnis wichtig, dass sie nicht pauschal als ,freaks‘ wahrgenommen werden. Das Verlassen des ,übenden Zwischenraums‘ des Kalten Krieges hat organisationskulturell dazu beigetragen, dass sich die Militärs und damit zwangsweise auch die Organisation Bundeswehr professionalisiert und in Richtung postmoderne Streitkräfte144 gewandelt haben. Im Zentrum dieses Wandlungsprozesses stehen die (relativ wenigen) Soldaten, die tatsächlich in Gefechten gestanden haben. Aber auch für 140
Vgl. Zimmermann (2014); Kleinreesink/Moelker/Richardson (2012). Bar/Ben-Ari (2005), S. 151. 142 Vgl. King (2013), S. 429. 143 Ein gutes Beispiel für ein differenziertes Bild der Einsatzrealität ist der zweiteilige Dokumentarfilm Unser Krieg, der im Oktober 2013 im ZDF ausgestrahlt wurde. Teil dieses facettenreichen Dokumentarfilms sind nicht nur offizielle Aufnahmen seitens der Journalisten, sondern auch Bildmaterial, welches von den Soldaten selbst durch Camcorder am Helm und dem Smartphone erstellt worden ist. Durch diese unterschiedlichen Quellen wird ein komplexerer Einblick in den Einsatzalltag in Afghanistan ermöglicht. 144 Moskos/Williams/Segal (2000), S. 1 – 2. 141
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alle anderen einsatzerfahrenen und einsatzunerfahrenen Soldaten besitzt diese neue Erfahrung militärischer Gewalt eine wesentlich verändernde und für alle Beteiligten herausfordernde Wirkkraft in sowohl positiver als auch negativer Hinsicht. Dieser Wirkkraft können und dürfen sich auch die Organisation Bundeswehr sowie die deutsche Gesellschaft nicht entziehen. Die deutsche Gesellschaft hat somit eine hohe Verantwortung gegenüber den Soldaten, die sie als Parlamentsarmee in kriegerische Konflikte entsendet hat und vielleicht in Zukunft noch senden wird. Literatur Aijmer, Goran/Abbink, Jon (Hrsg.) (2000): Meanings of Violence: A Cross Cultural Perspective, Oxford. Albrecht, Richard (1991): The Utopian Paradigm – A Futurist Perspective. In: Communications, Band 16 Heft 3, S. 283 – 318. Apelt, Maja (2009): Die Paradoxien des Soldatenberufs im Spiegel des soldatischen Selbstkonzepts. In: Jaberg, Sabine/Biehl, Heiko/Mohrmann, Günter/Tomforde, Maren (Hrsg.): Auslandseinsätze der Bundeswehr: Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven, Berlin, S. 143 – 162. Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt, München/Zürich. Assmann, Jan (1995): Ägypten und die Legitimierung des Tötens: Ideologische Grundlagen politischer Gewalt im Alten Ägypten. In: Stietencron, Heinrich von/Rüpke, Jörg (Hrsg.), Töten im Krieg. Freiburg/München, S. 57 – 85. Bar, Neta/Ben-Ari, Eyal (2005): Israeli Snipers in the Al-Aqsa Intifada: Killing, Humanity and lived Experience. In: Third World Quarterly, Band 26 Heft 1, S. 133 – 152. Ben-Ari, Eyal (2011): Public Events and the Japanese Self-Defense Forces: Aesthetics, Ritual Density and the Normalization of Military Violence. In: Six-Hohenbalken, Maria/Weiss, Nerina (Hrsg.), Violence expressed: An anthropological Approach, Surrey/Burlington, S. 55 – 69. Bendix, Regina (1996): Zur Ethnographie des Erzählens im ausgehenden 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Völkerkunde, Band 92 Heft 2, S. 169 – 184. Bloch, Ernst (1985): Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. Blumröder, Christian von (2013): Operation „Halmazag“. In: Brinkmann, Sascha/Hoppe, Joachim/Schröder, Wolfgang (Hrsg.): Feindkontakt: Gefechtsberichte aus Afghanistan, Hamburg u. a., S. 75 – 103. Böcker, Martin/Kempf, Larsen/Springer, Felix (Hrsg.) (2013): Soldatentum: Auf der Suche nach Identität und Berufung der Bundeswehr heute, München. Bourke, Joanna (1999): An Intimate History of Killing: Face-to-Face Killing in Twentieth Century Warfare, New York. Brinkmann, Sascha/Hoppe, Joachim (2010) (Hrsg.): Generation Einsatz: Fallschirmjäger berichten ihre Erfahrungen aus Afghanistan, Berlin.
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IV. Militärische Gewalt aus ethischer Perspektive
Ethische Normen für Soldaten im Umgang mit Gewalt Von Volker Stümke „Soldaten sind Mörder!“ – Der in diesem Tucholsky-Zitat zum Ausdruck gebrachte Vorwurf sollte von Soldaten der Bundeswehr ernst genommen und nicht nur larmoyant oder entrüstet beklagt werden.1 Schließlich wird hier – in bewusst provokanter und rechtlich nicht korrekter Formulierung – ein wahrer Impuls zur Sprache gebracht: Ja, es stimmt, dass Soldaten Mörder sind. Zwar gilt das faktisch nicht für alle Soldaten, denn es gibt Dienstposten (sei es im Maschinenraum eines Schiffes, sei es als Fernmelder oder als Koch), auf denen ein Soldat wohl nicht schießen muss. Aber dass Soldaten andere Kombattanten töten, ist unstrittig. Und dass es Soldaten gibt, die auch Zivilisten oder Kriegsgefangene getötet haben, dürfte ebenfalls unstrittig sein. Solche Soldaten darf und sollte man sogar als Mörder bezeichnen, denn hier geht es nicht um eine juristische Würdigung, sondern um den Protest gegen eine Gefahr des Soldatenberufs. Ein Offizier an der Führungsakademie hat mir berichtet, dass er den Auftrag hatte, Massengräber im Kosovo zu verifizieren. Als er mit seinen Männern ein solches Grab öffnete und tote Frauen, Kinder und Alte entdeckte, die mit militärischer Munition getötet worden waren, wurde ihm die Wahrheit der Behauptung evident, auch wenn der Befund juristisch nicht hinreichend belastbar war. Wer dieses Massaker verübt hat, war ein Mörder – und sehr wahrscheinlich waren es Soldaten. Bundeswehrsoldaten sind der Wahrheit und zugleich der Provokation dieses Satzes in den letzten Jahren besonders intensiv ausgesetzt, weil sie in Auslandseinsätzen mit der Gewalt von Soldaten doppelt konfrontiert worden sind: Sie wurden eingesetzt, um solche mörderischen Soldaten zu bekämpfen und sie mussten dazu selbst bereit und fähig sein, militärische Gewalt anzuwenden, möglichst ohne selbst zu Mördern zu werden. Beide Aspekte rufen die Frage nach der moralischen Legitimität des soldatischen Handelns hervor – und werden damit zum Thema der politischen, 1 Vgl. dazu Hepp, Michael/Otto, Viktor (1969). – Mit diesem Einstieg möchte ich Soldaten der Bundeswehr auf keinen Fall beleidigen, wohl aber provozieren, nämlich dazu anregen, nicht mit juristischer Besserwisserei noch mit larmoyanter Klage auf dieses Zitat zu reagieren, sondern mit den aufgezeigten ethischen Differenzierungen. Die Äußerungen des Bundesjustizministers Heiko Maas, dass die Formulierungen im Strafgesetzbuch § 211 f. zu Mord und Totschlag reformbedürftig seien, weil sie weniger auf die Merkmale der Tat als vielmehr auf Charakteristika des Täters ausgerichtet seien, verdeutlichen zudem, dass eine rein juristische Replik auf den zitierten Vorwurf zu kurz greift. Vgl. dazu das Interview von Heribert Prantl und Robert Rossmann mit Heiko Maas in: Süddeutsche Zeitung vom 8./9. Februar 2014, S. 6.
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näherhin der Friedensethik.2 Während es im ersten Aspekt darum geht, inwiefern militärische Gewalt als ultima ratio ethisch zu rechtfertigen ist, wird zweitens darüber reflektiert, wie man als Soldat kämpfen und töten kann, ohne die rechtliche oder moralische Kontrolle über sein Handeln zu verlieren – und dann aus niederen, eigennützigen Motiven zu töten, sprich: zu morden. Die erste Frage nach der Legitimität militärischer Gewaltanwendung möchte ich hier nicht weiter verfolgen. Die katholische wie die evangelische Kirche haben in den letzten Jahren in Veröffentlichungen3 dargelegt, dass die klassische kirchliche Lehre vom gerechten Krieg aus der Perspektive christlicher Ethik nicht mehr vertreten werden sollte und man stattdessen einen Paradigmenwechsel zum gerechten Frieden zu vollziehen habe. Dennoch könne der Einsatz rechtserhaltender Gewalt bis hin zu militärischen Maßnahmen unter präzise zu erfüllenden Bedingungen, die man aus der Lehre vom gerechten Krieg extrahierte, ohne damit diese Lehre insgesamt zu rehabilitieren, als geringeres Übel angesehen und damit ethisch legitimiert werden. Mit Blick auf das Eingangsvotum formuliert: Wenn Soldaten im Rahmen einer humanitären Intervention dafür kämpfen, dass ein Massaker beendet wird, dann führen sie zwar keinen gerechten Krieg, denn sie richten Übel an. Aber ihre Gewaltausübung ist im Vergleich mit dem Morden der anderen Soldaten das geringere Übel und kann daher aus christlicher Perspektive als Nothilfe akzeptiert werden.4 Dass ein solcher Kampf zwar nicht gerecht, aber dennoch geboten sein kann, spüren übrigens auch viele Bundeswehrsoldaten, für die entsprechende Einsätze belastend sind – und zwar nicht nur als gefährlicher Auftrag, sondern auch als Grenzerfahrung, die in unserer Gesellschaft kaum artikulierbar ist.5 Es soll nicht bestritten werden, dass manche Auslandseinsätze zumindest von den Soldaten vor Ort als Krieg erfahren werden können, auch wenn es sich um einen internationalen oder nicht internationalen bewaffneten Konflikt handelt.6 Aber die Belastung geht auch 2 Ethik wird damit definiert als Lehre von der persönlichen Moral und von den gesellschaftlichen Sitten. Mit dieser Definition wird ein weitgehender terminologischer Konsens innerhalb der deutschsprachigen evangelischen Theologie und Philosophie aufgegriffen. Moral meint demnach wie Sitte die Ausrichtung menschlichen Handelns auf das (persönliche oder gesellschaftlich) Gute, während Ethik als wissenschaftliche Reflexion auch als Moralphilosophie bzw. als Sittenlehre bezeichnet werden kann. Friedensethik markiert (wie auch Wirtschaftsethik oder Medizinethik) einen Bereich der Angewandten Ethik, in der analysiert wird, welche konkreten moralischen oder sittlichen Normen in diesem Bereich gelten sollen. 3 Vgl. das Hirtenwort der deutschen Bischöfe „Gerechter Friede“, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2000), und die Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007). Zum Hirtenwort vgl. Heinz-Justenhoven, Gerhard/Schumacher, Rolf (2003). Zur Denkschrift vgl. Stümke (2009). 4 Dass direkte körperliche Gewalt bisweilen das geringere Übel sein kann, habe ich dargelegt in: Stümke (2013). 5 Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2013), S. 37 – 40; dort findet sich weitere Literatur. 6 Diese Spannung zwischen dem unmittelbaren Empfinden der Soldaten vor Ort einerseits (Krieg) und der rechtlichen Begrifflichkeit andererseits (internationaler bewaffneter Konflikt)
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nach innen: Wer Gewalt mit Gegengewalt bekämpft, bleibt in der Gewaltspirale verstrickt und steht in der Gefahr, selbst zum Mörder zu werden. Nunmehr greift die zweite Fragerichtung: Mit welchen moralischen und sittlichen Eigenschaften sollte ein Soldat der Bundeswehr ausgestattet sein, damit er diese Herausforderung möglichst gut meistert? Diese Frage möchte ich aus der Perspektive evangelischer Sozialethik beantworten7 – und zwar in drei Schritten: Ich möchte zunächst zwei ethische Normierungen entfalten, die unter den Bedingungen von Auslandseinsätzen, für Soldaten der Bundeswehr besonders wichtig sind, um dann in einem dritten Schritt die für meine Tradition unerlässliche Orientierung am Gewissen auf diese beiden Normierungen anzuwenden.
I. Die Pflicht der Rechtsbefolgung Pflichten sind die subjektive Rückseite von objektiven bzw. intersubjektiven Normen. Die entsprechende ethische Norm lautet also, dass Soldaten sich an das geltende Recht zu halten haben. Das Problem unrechter oder ungerechter Gesetze ist in personalethischer Perspektive eine Herausforderung an das Gewissen und wird daher im dritten Gedankengang aufzugreifen sein. Zunächst einmal meint Recht das geltende Recht, also die jeweiligen Gesetze. In diesem Sinne hat die Friedensdenkschrift der evangelischen Kirche den Einsatz militärischer Gewalt an das Recht gebunden. Nur als rechtserhaltende Gewalt (und selbstverständlich nur, wenn die entsprechenden Kriterien rechtserhaltender Gewalt erfüllt sind), kann der militärische Einsatz von Soldaten ethisch akzeptiert und legitimiert werden.8 Das Recht ist ein zentrales Gut gesellschaftlichen Zusammenlebens weltweit und sollte daher nicht durch Übertretungen bis hin zu Verbrechen missachtet werden. Das gilt auch hinsichtlich der Gewaltanwendung, also für das staatliche Gewaltmonopol, das u. a. durch Soldaten verkörpert wird. Zur Rechtsbefolgung des Soldaten gehört konstitutiv das Gebot, nicht mehr und nicht anders Gewalt anzuwenden, als (moralisch und rechtlich) erlaubt ist. Nur so bleiben Soldaten in ihrem Handeln bis hin zum Töten verlässlich. darf nicht vorschnell aus falscher Rücksicht gegen die Soldaten preisgegeben werden, weil damit ein völkerrechtlicher Konsens aufgegeben würde und das Kriegsverbot auch begrifflich am Ende wäre. Anders Matthias Reichelt (2011) fordert: „Wenn Krieg ist, dann muss Krieg auch gedacht und zur Sprache gebracht werden dürfen“, S. 59 f. Aber dass Krieg ist, leitet Reichelt nur von den Erfahrungen der Soldaten im Auslandseinsatz her; und die können sich zumindest in der rechtlichen Einordnung ihrer Erlebnisse täuschen bzw. unpräzise sein. Und so wie – rechtlich gesehen – Soldaten, die sich in der Grenzen legaler Gewaltanwendung bewegen, keine Mörder sind, so sind – ebenfalls rechtlich gesehen – die Kämpfe in Afghanistan kein Krieg. Daher muss von Soldaten auch in diesem Fall Ambiguitätstoleranz gefordert werden. 7 Die Betonung der evangelischen Perspektive ist nicht abwertend gegenüber anderen christlichen Perspektiven gemeint, sondern soll umgekehrt keinen Deutungsanspruch über sie formulieren. Wenn es inhaltliche Übereinstimmungen gibt, so ist das für mich erfreulich. 8 Vgl. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), 3. Kapitel (Gerechter Friede durch Recht).
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Rechtsbefolgung gilt aber nicht nur für Soldaten in Auslandseinsätzen, sondern betrifft beispielsweise auch Vorschriften für Vorgesetzte und Untergebene im Grundbetrieb. Sie meint die Akzeptanz der geltenden Rechtssätze – fern der Heimat wie in der Kaserne. In diesem Sinn wird in der gegenwärtigen evangelischen Ethik die zentrale Bibelstelle aus Röm 139 gleichsam unter demokratischen Bedingungen ausgelegt: Nicht mehr die von Bürgern auf Zeit gewählte Person, wohl aber das Amt der Obrigkeit ist von Gott angeordnet und wird daher von den Christen respektiert, denn es hat die Aufgabe, ein geordnetes und friedliches Zusammenleben zu erhalten und zu fördern – mit dem Mittel des Rechts, dessen Durchsetzung und Erhalt gewaltbewehrt ist.10 Und so gilt auch für das Amt des Soldaten, dass es als Bestandteil der staatlichen Exekutive (Obrigkeit) Respekt verdient. Der einzelne Soldat hingegen verdient dann (und nur dann) Respekt, wenn er sich dementsprechend – und das heißt rechtskonform – verhält. Ein mörderischer Soldat hingegen missbraucht das Amt und die darin implizierte Vollmacht zur Anwendung militärischer Gewalt. Warum ich die Pflicht der Rechtsbefolgung gegenwärtig betone, möchte ich durch persönliche Erfahrungen in Seminaren an der Führungsakademie verdeutlichen. Ich beobachte bei manchen Offizieren eine Tendenz, genau dann auf Ethik zu rekurrieren, wenn die Limitierung soldatischer Gewaltanwendung aufgeweicht werden soll, sich hingegen von jeglicher ethischen Argumentation zu distanzieren, wenn die in Frage stehende Gewaltausübung rechtens ist. Konkret: Rechtlich erlaubte Kollateralschäden werden nicht hinterfragt, hier verbittet man sich moralische Bedenken. Das rechtlich klare Folterverbot hingegen wird gern und im Rückgriff auf ethische Argumente unterlaufen. Dazu werden sowohl der Rekurs auf denkbare Folgen wie eine Abwägung zwischen den Gütern der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens und auch eine Reinterpretation der Menschenwürde als oberster Norm unseres Grundgesetzes vorgetragen. Demgegenüber halte ich fest, dass Rechtsbefolgung
9 Röm 13, 1 – 7 (Luther-Bibel 1984): „(1) Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. (2) Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes, die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. (3) Denn vor denen, die Gewalt haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. (4) Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zu gut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut. (5) Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. (6) Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. (7) So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem Steuer gebührt, Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.“ 10 Selbstverständlich wird der Christ auch einer obrigkeitlichen Person Respekt entgegenbringen, aber nicht, weil sie besondere Ehre verdient, sondern weil jeder Person eine unantastbare Würde zukommt. Die Unterscheidung von Amt und Person eröffnet eine Würdigung jeder Person unabhängig von ihren Ämtern und Werken. Sie erlaubt gleichermaßen eine Bewertung der Ämter unabhängig von den Personen, die sie innehaben.
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auch dann für Soldaten verpflichtend ist, wenn es für sie oder ihre Kameraden gefährlich werden könnte. Dass diese Pflicht in ein Dilemma führen kann, darf nicht verschwiegen werden. Näherhin gibt es zwei Formen solcher Dilemmata, die man der begrifflichen Schärfe wegen auseinanderhalten muss, auch wenn sie in der Realität häufiger zusammenfallen. Zum einen können rechtliche und moralische Normen konfligieren – man spricht dann von einem synchronen Dilemma. Beispielsweise konnte eine Taschenkarte mit den entsprechenden Verhaltensvorgaben („rules of engagement“) die Nothilfe von UN-Soldaten für Zivilisten angesichts einer drohenden ethnischen Säuberung in Srebrenica rechtlich mit dem Hinweis auf die politische Neutralität des Militärs verbieten, obwohl sie moralisch geboten ist.11 Auf dieses Problemfeld werde ich im dritten Punkt näher eingehen, weil es sich auf einen Gewissenskonflikt zuspitzt. Zum anderen kann es vorkommen, dass die geltenden (moralischen wie rechtlichen) Normen in der aktuellen Situation nicht (mehr) greifen – nun handelt es sich um ein diachrones Dilemma. Beispielsweise wird in der aktuellen Folterdebatte behauptet, dass die klare Rechtslage bei manchen Verhören nicht mehr zeitgemäß sei. Nun besteht politischer Handlungsbedarf, nämlich diese althergebrachten Vorschriften anzupassen oder aber bewusst an ihnen festzuhalten. An dieser Stelle ist der Soldat zunächst gefordert, den entstandenen Handlungsbedarf zu artikulieren und seine Alternativen vorzuschlagen und mit (gern auch moralischen) Argumenten zu untermauern. Bezüglich möglicher Lösungen ist er allerdings als Bürger in Uniform wie jeder andere Bürger auf den Rechtsweg gewiesen. Ob und gegebenenfalls wie die Gesetze angepasst werden können, darf nicht der Soldat eigenmächtig entscheiden oder gar umsetzen, sondern es entscheiden die demokratisch gewählten Vertreter der Gesellschaft. Aber es ist in einer offenen und pluralen Gesellschaft nicht ungewöhnlich, dass solche Debatten geführt werden, so dass man Soldaten zugleich dazu ermutigen kann, ihre politischen Überzeugungen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Zudem bedarf der betroffene Soldat in der konkreten Situation neben der Kenntnis der Rechtslage auch der moralischen Urteilskraft, um die Situation richtig wahrnehmen und beurteilen zu können. Moralische Urteilskraft meint die Fähigkeit, die relevanten rechtlichen und moralischen Normen in der jeweiligen Situation zu erkennen, abwägen und anwenden zu können. Sie ist nicht die Legitimation einsamer Entscheidungen ,aus dem Bauch heraus‘.12 Dazu zählt auch, die Unterscheidung von Konflikt und Dilemma zu beherzigen,13 also nicht jedes Problem gleich als ausweg11
Vgl. Gillner (2004), S. 87. Vgl. dazu Gillner (2002). 13 Bei einem Konflikt wie einem Dilemma stehen zwei ethische Normierungen gegeneinander. Können diese beiden klar hierarchisiert werden, spricht man von einem Konflikt, für den es eine klar bessere Lösung gibt. So ist es ethisch geboten, einen Menschen aus Lebensgefahr zu retten, auch wenn man dabei einen Sachschaden verursacht. Bei einem Dilemma 12
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loses Dilemma zu bezeichnen, in dem man keine Gebote mehr kennen müsse und daher über die Maße Gewalt anwenden dürfe. Ich fasse zusammen: Ein guter Soldat kennt die geltenden Rechtsbestimmungen und weiß sich verpflichtet, sie zu befolgen. Er oder sie wird in einem Einsatz nur dann und nur so viel Gewalt anwenden, wie erlaubt ist. Und er oder sie wird auch im soldatischen Alltag, bei Übungen und in der Ausbildung die durch das Recht markierten Grenzen beachten und sie nicht durch den ständigen Rekurs auf eine vermeintliche Notlage und auf eine Einsatzrealität, die angeblich keine Rücksichtnahmen kenne noch zulasse, unterlaufen und damit das Recht (als Prinzip und als Gesetz) aushöhlen. Wenn es Bedarf gibt, Gesetze anzupassen (was in unserer offenen Gesellschaft nicht ungewöhnlich ist), dann wird der Soldat als Bürger in Uniform wie jeder andere Bürger auch den Rechtsweg wählen, also durch politische Überzeugungsarbeit auf diese Änderungen hinwirken.
II. Die Tugend der Affektkontrolle Die zweite ethische Normierung, wieder mit Blick auf die einzelnen Soldaten, ist keine Norm im engeren Sinn, sondern die Tugend der Affektkontrolle. Der Begriff ist insbesondere durch den Friedensforscher Dieter Senghaas in den Fokus gerückt worden. Für ihn gehört die Affektkontrolle zu den sechs Faktoren des zivilisatorischen Hexagons, das für ein friedliches Zusammenleben unverzichtbar sei.14 Solche Selbstbeherrschung ist zudem Grundlage für die Fähigkeit zu deeskalieren, also Konflikte möglichst friedlich zu regeln und Gewalt zu minimieren. Es ist meines Erachtens charmant, genau diesen Begriff auf Soldaten anzuwenden, weil damit (als Anspruch und Wirklichkeit) verbunden wird, dass Soldaten sich dem Frieden verpflichtet fühlen – auch dann, wenn sie Gewalt anwenden müssen und dürfen. Diese Tugend steht dafür ein, dass Gewalt nicht nur im Rahmen des Rechts, sondern auch mit Augenmaß und nicht unbeherrscht eingesetzt wird. Inhaltlich weist der Begriff eine Schnittmenge zu den klassischen soldatischen Tugenden der Tapferkeit und insbesondere der Besonnenheit auf. Tapferkeit ist schon für Platon die Tugend, die der Seele zugeordnet wird.15 Sie offenbart sich
hingegen sind die ethischen Werte, Güter oder Tugenden (weitgehend) gleichrangig, so dass keine Lösung eindeutig präferiert werden kann. 14 Vgl. Senghaas (1975), S. 196 – 223. Wie bereits angemerkt, nennt Senghaas sechs Faktoren, die für einen dauerhaften Frieden notwendig sind: Gewaltmonopol, Affektkontrolle, soziale Gerechtigkeit, Konfliktkultur, demokratische Partizipation und Rechtsstaatlichkeit. 15 Platon hat vier zentrale Tugenden in seiner Staatslehre vorgestellt. Dabei wird die Gerechtigkeit als Tugend des Zusammenlebens gefasst. Die verbleibenden drei Tugenden werden zugleich den drei Ständen wie den drei Bestandteilen des Menschen zugeordnet:
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zwar im Vollzug, aber sie prägt zuvor die innere Einstellung des Soldaten, indem er nicht tollkühn ist, also nicht zur Eskalation von Gewalt beiträgt. Für den Körper ist demgegenüber die Tugend der Besonnenheit gefordert, und dieser Charakterzug lässt sich mit Blick auf das Militär als Selbstdisziplin konkretisieren. Gemeint ist, dass der Soldat seinen Körper im Griff hat. Beides betont auch die Affektkontrolle, wobei sie die platonische Unterteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist überwindet und insbesondere die Wechselwirkung zwischen den seelischen Affekten und den körperlichen Äußerungen in den Blick nimmt. Dieses Bewusstsein, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gefordert zu sein, ist, nach meiner Einschätzung und nach meinen Erfahrungen, bei den Soldaten, zumindest bei den Offizieren der Bundeswehr, gut ausgeprägt.16 Sie geben sich weder feige noch tollkühn, sie wissen um die Verletzbarkeit des Körpers und der Seele, sie reden nicht verächtlich über neue Veteranen oder über Kameraden, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.17 Und die durchaus zu beobachtende solBesonnenheit
Nährstand
Körper
Tapferkeit
Wehrstand
Seele
Weisheit
Lehrstand
Geist
Vgl. zu Platons Ethik auch die gute Übersicht bei Härle (2011), S. 54 – 57. Vgl. Schardt (2012). Schardt interpretiert den Befund einer „gut funktionierenden interdisziplinären Fürsorge für den Soldaten und einer angemessenen Vorbereitung auf den Eintritt von Tod und körperlicher wie auch seelischer Verwundung“ (ebd., S. 33) als Merkmal einer postheroischen Gesellschaft, die in der Bundeswehr gut rezipiert worden sei (siehe hierzu auch den Beitrag von Leonhard in diesem Band). – Soeben erschienen ist Brunner (2014). Brunner konstatiert, dass die Anzahl deutscher Soldaten, die unter PTBS leiden, überraschend niedrig sei (vgl. ebd., S. 152), und dass auch der Umgang mit PTBS in Bundeswehr, Gesellschaft und Politik weitaus offensiver und differenzierter sei als beispielsweise in den USA. Dass es auch kritische Stimmen zu diesem Befund gibt, die eine hohe Dunkelziffer vermuten, soll ebenso wenig in Abrede gestellt werden wie die ethische Mahnung, dass jedes Opfer daran erinnert, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll. Aber ich behaupte, dass die Bundeswehr diese Thematik sensibel und differenziert vor Augen hat. 17 Daher teile ich die Einschätzung von Jochen Bohn nicht. Bohn (2001) zufolge fehle „den nachwachsenden Offizieren der nüchterne Blick auf das eigene Ich und die eigene Idee (…). Das Selbstbewusstsein der jungen Soldaten ist nicht mehr kritische Selbsterkenntnis, ihre Selbständigkeit nicht mehr die Fähigkeit, das Angemessene ohne fremde Stütze erkennen und tun zu können. Vielmehr verbirgt sich hinter Selbstbewusstsein und Selbständigkeit allzu oft pubertäre, beinahe narzistische [sic!] Selbstüberschätzung“ (ebd., S. 49). Damit seien die Soldaten allerdings nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, die vergleichbar durch „Beliebigkeit“ und „Verweichlichung“ gekennzeichnet sei (ebd., S. 48). Bohns pejorative Wahrnehmung der Soldaten ist seiner sehr eigenwilligen Perspektive geschuldet, nämlich einer Wiederbelebung der Lehre vom Katechon (2. Thess 2,6 f), wie sie Carl Schmitt vorgetragen hatte. Der Kämpfer gegen das säkulare Chaos, der damit das Vordringen der bösen, gegen Gott gerichteten Kräfte aufhalten möge und der dazu wie der Souverän Schmitts an keinerlei Gesetze gebunden sei, solle nunmehr durch einen neuen Typus von Soldaten verkörpert werden. Vgl. ebd., S. 53 u. 55. Solche Soldaten, die sich als „Aufhalter“ des dämonischen Chaos verstehen und sich daher an kein Recht und an keine Pflicht (vgl. ebd., S. 56) mehr halten müssen, sind für mich – den vorstehenden Darlegungen zufolge – keineswegs akzeptabel, vielmehr wären es ideologisch 16
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datische Larmoyanz fokussiert sich nicht auf diese harten Anforderungen, sondern eher auf das vermeintliche gesellschaftliche Desinteresse, das diese neuen Formen von Tapferkeit und Besonnenheit, also die Affektkontrolle der Soldaten, nicht hinreichend würdige.18 Notwendig ist diese Selbstdisziplin vor allem angesichts der Herausforderung in Auslandseinsätzen, sehr schnell unterschiedliche Rollen einnehmen und zwischen ihnen wechseln zu müssen – insbesondere im Kontakt zu Kämpfenden, zur Zivilbevölkerung, zu offiziellen Stellen und zu Medienvertretern. Natürlich gibt es keine Garantie, dass sich Soldaten in prekären Situationen immer tapfer und besonnen verhalten werden, aber nach meiner Überzeugung sind sie zumindest gut darauf vorbereitet. Ich fasse zusammen: Ein guter Soldat verfügt über Affektkontrolle. Er lässt sich also weder von seinen Emotionen und Affekten leiten, noch verdrängt er sie. Vielmehr kennt er sie und weiß um ihre Macht. Aber er hat sich dahin gehend geschult, sie in prekären Situationen beherrschen zu können, um sich hernach mit ihnen auseinanderzusetzen und sie bearbeiten zu können.
III. Das wohlunterrichtete Gewissen Der dritte Gedankengang soll dem Begriff des Gewissens gewidmet sein. Für Martin Luther gilt, dass ein Soldat mit gutem, wohl unterrichtetem Gewissen besser kämpft als ohne.19 Luther meint mit ,besser‘ zunächst die gesteigerte Effektivität des Kämpfenden; in diesem Sinn ist seine Behauptung bereits in der griechischen Philosophie aufgestellt und unter anderem von Carl von Clausewitz aufgegriffen worden.20 Aber diese praktische Auswirkung ist für Luther dreifach an das wohl unterrichtete Gewissen zurückgebunden. Weil diese Einsicht Luthers nach wie vor weiterführend ist, soll sie am Ende meiner Ausführungen vorgestellt werden. Das Gewissen des Soldaten ist wohl unterrichtet, wenn es erstens die Sinnhaftigkeit des eigenen Berufes erkennt. Für einen Christenmenschen ist der Beruf das regelmäßige Betätigungsfeld, in dem der Christ die von Gott gebotene Nächstenliebe in seinem Handeln zum Ausdruck bringen kann. Das lutherische Berufsethos geht davon aus, dass der Christ in sehr vielen Berufen seinen Glauben leben kann, nämlich bei allen Arbeiten, die dem Gemeinwohl dienlich sind. Nicht nur als Pfarrer oder aufgeladene Kämpfer, die sich nur durch ihre spezifische Weltsicht von Glaubenskriegern oder Terroristen unterscheiden. 18 Vgl. dazu den Beitrag von Heiko Biehl in diesem Band. 19 Vgl. Luther (1526): „Denn wer mit gutem, wohlunterrichtetem Gewissen kämpft, der kann auch gut kämpfen, zumal es nicht fehlen kann, dass, wo ein gutes Gewissen ist, auch ein großer Mut und ein tapferes Herz ist; wo aber das Herz tapfer und der Mut getrost ist, da ist auch die Faust desto machtvoller und Mann und Ross munterer und gelingen alle Dinge besser und fügen sich auch alle Umstände und Sachen desto besser zum Sieg, welchen Gott denn auch gibt“ (WA 19, S.623 f.). 20 Vgl. zum Folgenden Stümke (2007), S. 280 – 310.
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Ärztin, sondern auch als Soldat oder Kauffrau, als Politikerin oder Kellner kann der Christ dem Ruf Gottes in die Nachfolge entsprechen. Dass der Soldatenberuf dieses Kriterium erfüllt, leitet Luther aus dem Schutzgedanken ab: Nicht das verbotene Töten eines anderen, sondern der Schutz der Gesellschaft durch die Verteidigung vor Angreifern, die Gewalt anwenden, macht diese Tätigkeit zu einem ,guten Werk‘. Und mit Blick auf das Heute wäre zu modifizieren, dass die Sicherheit nicht nur der Gesellschaft insgesamt, sondern auch jedes Menschen (human security) schützenswert ist. Ein wohl unterrichtetes Gewissen weiß zudem zweitens um die Grenzen des Berufes. Es war der Mönch Luther, der aus seiner Anfechtungserfahrung die Gewissheit gewann, dass er durch seine guten Werke, also konkret durch die Berufsausübung eines Mönchs, nicht werde vor Gottes Gericht bestehen können. Allein der Glaube an Jesus Christus, allein die Zuversicht, dass Gott dem Sünder in Christus vergibt und sich mit ihm versöhnt, gibt dem Gewissen eine feste Grundlage, sorgt also mit Luther gesprochen für die Gewissheit des Herzens. Nicht der Beruf, sondern diese Gewissheit formt die Person, in deren Handeln sich diese Gewissheit dann Ausdruck verschafft. Mit Blick auf den Soldatenberuf ergibt sich daraus nicht nur eine Fundierung der Affektkontrolle in der Glaubensgewissheit, sondern zudem die Möglichkeit, mit Schuld umgehen zu können – sei es als berufliches Versagen, sei es als Erfahrung der Machtlosigkeit, sei es in einem Dilemma. Ein wohl unterrichtetes Gewissen weiß um die Möglichkeit des Scheiterns menschlichen Handelns – auch des gut gemeinten und präzise einstudierten. Und es weiß zugleich, dass damit die Würde des Scheiternden nicht ebenfalls zerstört ist, denn sie ruht im Urteil Gottes, das sich nicht an die Werke, sondern an das Vertrauen auf Jesus Christus gebunden hat. Drittens kennt das wohl unterrichtete Gewissen die Rahmenbedingungen beruflichen Handelns, es weiß also, welche Tätigkeiten zur Berufsausübung gehören und welche verboten sind. Luther bringt es auf den Punkt und ich stimme ihm zu, wissend, dass es auch innerhalb der evangelischen Kirche andere Stimmen gibt: Der Beruf des Richters ist gut, ein bestechlicher Richter hingegen übt den guten Beruf schlecht aus. Und das kann man auch für den Soldatenberuf durchdeklinieren. Der Beruf des Soldaten ist gut. Aber ein Soldat, der vergewaltigt, mordet oder foltert – und es hat Soldaten gegeben, die Mörder oder Vergewaltiger oder Folterer geworden sind – missbraucht den guten Beruf zu bösen Taten. Welche Tätigkeiten nun konkret zum Handlungsspielraum des Soldaten gehören und wo die Grenze verläuft, kann nicht zeitlos festgelegt werden, weil sich sowohl die Handlungsoptionen von Soldaten wie die moralischen Empfindlichkeiten in einer Gesellschaft im Lauf der Geschichte ändern.21 An dieser Stelle greift wieder der Rekurs auf das Recht, das idealiter diese Grenzen benennt. Das Recht bringt also in der Form von Gesetzen zur Sprache, welche Handlungen in einer konkreten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit erlaubt bzw. verboten sind. 21 Vgl. zu den Handlungsoptionen Kutz (2006) und zu den moralischen Empfindlichkeiten Taylor (1994).
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Nun ist auch das Recht nicht ohne Fehler. Es hat erstens Lücken und kann nicht im Voraus alle möglichen Fälle kasuistisch regeln. Daher gehört zum wohl unterrichteten Gewissen nicht nur die Kenntnis der Gesetze, sondern auch die Urteilskraft, diese Gesetze situationsadäquat anzuwenden. Diesen Aspekt habe ich im ersten Gedankengang (unter dem Stichwort Rechtsbefolgung) betont. Darüber hinaus kann es zweitens zum Konflikt zwischen dem Gewissen und bestimmten Gesetzen kommen. Denn es kann Gesetze geben, die sei es objektiv oder im subjektiven Empfinden, sei es an sich oder angesichts konkreter Fälle, die jedenfalls unrecht oder ungerecht sein können – im Unterschied zum Recht, das als Struktur und als Funktion anzuerkennen und zu befolgen ist. Dieser Konflikt findet für den Soldaten bei allen vorgestellten Möglichkeiten faktisch im Gewissen statt: Mein Gewissen sagt mir, dieses Gesetz sei an sich oder in der konkreten Situation unrecht. Aus evangelischer, besser: aus christlicher Perspektive gilt, dass man seinem Gewissen folgen soll, selbst wenn man sich damit gegen Gesetze oder Normen stellte. Aber wir wissen auch, dass sich ein Gewissen irren kann oder dass sich ein unbehagliches Gefühl, dass sich Angst oder Unsicherheit als Gewissensurteil ausgeben können. Daher möchte ich einige Prüfkriterien für das Gewissen vorstellen:22 1. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung gibt mit den Grundrechten eine Selbstbegrenzung des Gesetzgebers vor. Daher kann zunächst einmal davon ausgegangen werden, dass ein Widerspruch des Gewissens gegen ein Gesetz die Ausnahme darstellt. Damit unterstreiche ich die klassische Regel in dubio pro auctoritate, wobei ich aber als Autorität nicht eine Person, sondern das geltende Recht ansehe. Aber indem diese Einsicht als Regel formuliert wird, ist zugleich anerkannt, dass es Ausnahmen geben kann.23 2. Ob nicht der Regelfall, sondern die Ausnahme vorliegt, kann durch die Anwendung weiterer Kriterien präzisiert werden: a) Ruft das Gewissen im Widerspruch zum Gesetz zu mehr oder brutalerer Gewalt auf (wie beispielsweise bei der Anwendung von Folter), dann ist Vorsicht angeraten. b) Sind zusätzliche Annahmen (z. B. über die politische Lage oder die Pläne anderer Akteure) notwendig, um das vom Gewissen geforderte Handeln zu plausibilieren, dann spricht das gegen diese Handlung. Handelt es sich hingegen 22
Vgl. zum Folgenden Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (1997). 23 Jeff McMahan (2010) hat mit Recht betont, dass Soldaten eher dazu neigen, die Legalität und Legitimität ihres militärischen Handelns anzunehmen als sie zu hinterfragen. Daraus zieht er den Schluss: „In den Fällen allerdings, in denen sie ihren Krieg als ungerecht beurteilen, sollten sie ihrem Urteil trauen“ (ebd., S. 130). Überträgt man diese Erwägung auf die Mikroebene, wird man sie nicht in gleicher Schärfe, wohl aber mit derselben Intention vortragen können. Es droht also nicht die Gefahr, dass der Rekurs auf einen Gewissensvorbehalt die Bundeswehr überschwemmen und damit militärisches Agieren gefährden könnte. Es besteht eher die Tendenz, den Ruf des Gewissens durch pragmatische oder funktionale Erwägungen zu unterdrücken.
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um einen konkreten Widerspruch, eine bestimmte Tat oder ein klar benennbares Unterlassen, dann spricht dies für das Votum des Gewissens. c) Kann sich das vom Gewissen geforderte Verhalten auf die Menschenwürde und auf klar benennbare Menschenrechte berufen, spricht dies für das Urteil des Gewissens. Natürlich gibt die Anwendung dieser Prüfkriterien keine Garantie des Gelingens, zumal schon die Antwort auf diese Prüffragen nicht einheitlich ausfallen muss. Eine Gewissensentscheidung bleibt immer ein Wagnis, das man nicht durch rechtliche Kriterien aufheben kann. Die Kriterien sollen daher nur zur eigenen Gewissensprüfung beitragen, wollen und können aber das eigene Urteil nicht ersetzen. Auch Luther hat gewusst, dass ein Gewissen nicht immer richtig urteilt, schließlich ist auch das Gewissen nicht unbeeinträchtigt von der Sünde des Menschen.24 Dementsprechend spricht er zum einen von der Unterrichtung des Gewissens, geht also davon aus, dass hier Bildungsprozesse stattfinden müssen. Zum anderen – und damit schließt sich der Gedankengang des evangelischen Theologen – gehört das Wissen um die Möglichkeit des Irrens, des Scheiterns und des Versagens zum christlichen Gewissen.25 Auch diesen Gedankengang fasse ich zusammen: Ein guter Soldat verfügt über ein wohl unterrichtetes Gewissen. Er weiß, dass sein Beruf ein Ausdruck der Nächstenliebe ist, sofern er Menschen vor ungerechter oder unangemessener Gewalt beschützt – notfalls durch den Einsatz von Gegengewalt. Er hat zudem verinnerlicht, dass seine Menschenwürde nicht durch seinen Beruf und seine Handlungen verwirklicht oder verwirkt wird, sondern allein am Urteil Gottes hängt. Und er weiß überdies, dass jeder Beruf Grenzen hat, deren Überschreitung seine gut gemeinten Werke zu bösen Taten verfälschen wird. Zum Abschluss die Frage: Gibt es solche guten Soldaten wirklich oder handelt es sich nur um ein Idealbild? Zwar handelt es sich in der Tat um ein Idealbild, wissenschaftlich formuliert: um eine normative Vorgabe, wie ein Soldat sein soll, damit man ihn aus ethischer Perspektive ,gut‘ nennen kann.26 Aber diese Sozialfigur entstammt 24
Vgl. Bayer (2003), S. 160 – 176. Vgl. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007): „In Situationen, in denen Verantwortung für eigenes oder fremdes Leben zu einem Handeln nötigt, durch das zugleich Leben bedroht oder vernichtet wird, kann keine noch so sorgfältige Güterabwägung von dem Risiko des Schuldigwerdens befreien“. 26 Stefan Gerber (2013), S. 58, hat behauptet, es sei utopisch, „sich den kämpfenden Staatsbürger als einen an abstrakte Wertvorgaben gebundenen Soldaten vorzustellen“. Vielmehr werde er sich an Personen, also näherhin an anderen deutschen Soldaten mit Kampferfahrung, orientieren – und daher sollten auch einzelne Wehrmachtssoldaten, die keine Kriegsverbrecher waren, als Beispiel anerkannt werden. Nun kommt Gerber nicht umhin, die realen Unterschiede zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den gegenwärtigen Einsätzen zuzugestehen. Daher werde der Soldat auch von einzelnen Aktionen abstrahieren und vielmehr die gleichsam handwerklichen Werte und Tugenden des Wehrmachtsoldaten verinnerlichen, vgl. S. 59 f. – Abgesehen davon, dass es sich um eine widersprüchliche Argumentation handelt, halte ich es für zumutbar, dass Soldaten der Bundeswehr sich bei der Frage nach dem guten Verhalten in einem Einsatz primär an Werten, also an ethischen Vorgaben und nicht an 25
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nicht nur dem Elfenbeinturm, sondern hat eine große Schnittmenge mit dem „Soldaten für den Frieden“, den Wolf Graf von Baudissin als Leitbild für die Soldaten der Bundeswehr gezeichnet hat und an dem sich die Soldaten in den letzten Jahrzehnten erfolgreich orientiert haben.27 Aus ethischer Perspektive hat dieser Soldat also nicht ausgedient und ist nicht durch einen Kämpfer oder Krieger – und sei er noch so demokratisch – ersetzt worden.28 Literatur Bayer, Oswald (2003): Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen. Bohn, Jochen (2011): Pflichterfüllung nach dem Ende der Ideen. In: ders. et al. (Hrsg.): Die Bundeswehr heute: Berufsethische Perspektiven für eine Armee im Einsatz, Stuttgart, S. 43 – 58. Brunner, José (2014): Die Politik des Traumas. Gewalterfahrungen und psychisches Leid in den USA, in Deutschland und im Israel/Palästina-Konflikt, Berlin. Ebeling, Klaus/Seiffert, Anja/Senger, Rainer (2002): Ethische Fundamente der Inneren Führung, SOWI-Arbeitspapier 132, Strausberg. Franke, Jürgen (2012): Wie integriert ist die Bundeswehr? Eine Untersuchung zur Integrationssituation der Bundeswehr als Verteidigungs- und Einsatzarmee, Baden-Baden. Gerber, Stefan (2013): Selbstblockaden. In: Böcker, Martin et al. (Hrsg.): Soldatentum. Auf der Suche nach Identität und Berufung der Bundeswehr heute, München, S. 41 – 61. Gillner, Matthias (2002): Praktische Vernunft und militärische Professionalität (WIFIS aktuell 23), Bremen. – (2004): Die Einsatzarmee in der Perspektive ethischer Reflexionen zu Innerer Führung (Teil II). In: Kutz, Martin (Hrsg.): Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden, S. 83 – 92. Härle, Wilfried (2011): Ethik, Berlin. Heinz-Justenhoven, Gerhard/Schumacher, Rolf (Hrsg.) (2003): Gerechter Friede – Weltgemeinschaft in der Verantwortung. Zur Debatte um die Friedensschrift der deutschen Bischöfe, Stuttgart. Hepp, Michael/Otto, Viktor (Hrsg.) (1996): Soldaten sind Mörder. Dokumentation einer Debatte 1931 – 1996, Berlin. Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (1997): Gewissensentscheidung und Rechtsordnung. Eine Thesenreihe der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD Texte 61), Hannover. Personen orientieren, zumal (wie gezeigt) die Orientierung an Personen ohne Rückgriff auf Werte nicht möglich ist – und dann ist der direkte Weg vorzuziehen. Es geht also nicht darum, ob Soldaten im Umgang mit Gewalt auf Personen oder Werte anzusprechen sind, sondern darum, welche Werte einen guten Soldaten kennzeichnen. 27 Vgl. Ebeling/Seiffert/Senger (2002), S. 21 – 23. 28 Vgl. dazu Franke (2012).
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Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.) (2013): „Selig sind die Friedfertigen“. Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, Hannover, S. 37 – 40. Kutz, Martin (2006): Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt. Luther, Martin (1526[1897]): Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können. In: WA 19, 1897, S. 616 – 662. McMahan, Jeff (2010): Kann Töten gerecht sein? Krieg und Ethik, Darmstadt. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh. Reichelt, Anders Matthias (2011): Warum auch in Deutschland der Krieg wieder gedacht werden muss. In: Bohn, Jochen et al. (Hrsg.): Die Bundeswehr heute: Berufsethische Perspektiven für eine Armee im Einsatz, Stuttgart, S. 59 – 74. Schardt, Dinah (2012): PTBS als „Postheroische Belastungsstörung“. Zum Umgang mit dem Thema PTBS und der Suche nach Einsatzöffentlichkeit. In: Bald, Detlef et al. (Hrsg.): Wie Bundeswehr, Politik und Gesellschaft mit posttraumatischen Belastungsstörungen bei Soldaten umgehen (Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik Heft 159), Hamburg, S. 22 – 42. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) (2000): Die Deutschen Bischöfe. Gerechter Friede, Bonn. Senghaas, Dieter (1975): Frieden als Zivilisierungsprojekt. In: ders.: Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem, Frankfurt a. M, S. 196 – 223. Stümke, Volker (2007): Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart. – (2009): Auslandseinsätze und die Sorge für gerechten Frieden. Ein Blick in die aktuelle Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. In: Jaberg, Sabine et al. (Hrsg.): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven, Berlin, S. 277 – 293. – (2013): Anthropologie der Gewalt. In: Bohrmann, Thomas et al. (Hrsg.): Handbuch Militärische Berufsethik, Bd. 1 Grundlagen, Wiesbaden, S. 123 – 138. Taylor, Charles (1994): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M.
Frieden durch Recht Die Ethik rechtserhaltender Gewalt und das Völkerrecht Von Hartwig von Schubert
I. Einleitung 1. Mehr deutsche Verantwortung in der Welt? Nach dem in jeder Hinsicht katastrophalen Ende der beiden „Deutschen Kriege“1 verpflichtete sich Deutschland 1949 in seinem Grundgesetz, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Wie passt das damit zusammen, dass der Deutsche Bundestag seit den 1990er-Jahren in regelmäßigen Abständen über den weltweiten Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Operationen der NATO oder der EU entscheidet, in der Regel mandatiert von der UNO? Und dass in ähnlich regelmäßigen Abständen die Bundesregierung über Genehmigungen und Bürgschaften für den Export von Rüstungsgütern aus deutscher Herstellung weit über die Grenzen des Bündnisses hinaus entscheidet: Dient das dem Frieden, wird die Welt dadurch friedlicher oder wenigstens sicherer und für wen? Und wie kommen wir zu ethischen Urteilen beim Gebrauch und Vertrieb militärischer Waffen? Brauchen wir dazu eine ,Lehre vom Gerechten Krieg‘? Aktuell geht es kaum noch um Landesverteidigung. Sowohl die Soldaten als auch viele Rüstungsgüter kommen in Spannungszonen jenseits des Stabilitätsraums zum Einsatz. Soldaten und Waffen werden dort besonders nachgefragt, weil dort Gefahren lauern oder es dort etwas zu beobachten und zu melden, zu ordnen oder zu schützen gibt. In der Debatte, ob und inwiefern nicht auch geopolitische und ökonomische Gründe eine Rolle spielen, hat bereits ein Bundespräsident sein Amt niedergelegt. Und nicht zuletzt fragen sich auch Soldaten selbst, was eigentlich ihr Auftrag ist und wofür sie kämpfen: aus Eigennutz, für ihre Kameraden, für den Wohlstand ihres Land, für den Frieden in der Welt?2 Erst kürzlich forderte der amtierende Bundespräsident in einer Rede zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz Deutschland auf, mehr Verantwortung
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Müller (2005). Biehl (2012).
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in der Welt zu übernehmen.3 Wie soll diese Verantwortung aussehen? Gemessen am Gesamtvolumen des Bundeshaushalts von ca. 300 Milliarden Euro werden derzeit 11 Prozent für Verteidigung, 2,16 Prozent für Entwicklungszusammenarbeit und 1,22 Prozent für das Auswärtige Amt ausgegeben, zusammen 14,38 Prozent. Sollen die Anteile erhöht werden und mit welchen Prioritäten? Soll Deutschland wieder mitspielen in den Great Games? Und wie soll es sich zusammen mit den anderen EU-Mitgliedern im Konzert der beiden bis heute bestimmenden großen Nuklearmächte, USA und Russland, verhalten? Das im Folgenden entwickelte Plädoyer lautet: Deutschland sollte nicht zuletzt wegen seiner problematischen Geschichte, mehr aber wegen seines heute wieder gewachsenen Einflusses und vor allen Dingen angesichts der immer wieder drohenden Erosion staatlicher Autorität in der Weltgesellschaft als Vorbild und Anwalt einer weiteren Evolution des Völkerrechts, insbesondere des Konfliktvölkerrechts wirken. Das Völkerrecht braucht Anwälte, denn es steht wieder einmal nicht gut mit ihm. Erneut droht es vom Medium der Austragung von Konflikten zum Mittel der Durchsetzung wirtschaftlicher und militärischer Logiken zu werden. Selbst mit dieser Eingrenzung nehme ich mir immer noch sehr viel vor und das auf relativ knappem Raum. Denn ich werde einiges erläutern müssen: Wieso soll in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ausgerechnet das Völkerrecht und darin ausgerechnet das Konfliktvölkerrecht eine bedeutendere Rolle spielen? Und in welcher Richtung sollte es denn weiterentwickelt werden? Ich werde zur Beantwortung dieser Fragen die Leitideen des modernen Völkerrechts in Erinnerung rufen, und dazu werde ich sowohl geschichtlich als auch systematisch argumentieren. Denn über die Wirksamkeit des Völkerrechts und insbesondere über die Rolle der UNO hegen viele Menschen bekanntlich enorme Zweifel. Mancher Kommentator hält das gesamte Projekt einer internationalen Friedensordnung als Rechtsordnung für gescheitert. Diesem, wie ich meine, berechtigten Zweifel kann ich am besten dadurch begegnen, dass ich die kantische Idee vom Recht als Mittel des Friedens ins Feld führe. Mit ihrer Auslegung kann ich die eigentümliche Mischung aus Kühnheit und Bescheidenheit der Völkerrechtsidee sichtbar machen, sowohl ihre realpolitische Tauglichkeit als auch ihr Entwicklungspotenzial. Dazu wiederum möchte ich nachweisen, dass neue Rechtsentwicklungen einer Heuristik bedürfen, die implizit in jedem kritischen Verständnis von teleologischen Urteilen im Allgemeinen und Rechtsurteilen im Besonderen angelegt ist und insbesondere dann hervorgehoben werden muss, wenn neue Herausforderungen zu bestehen sind. Das gesamte moderne Völkerrecht scheint mir eine solche epochale Herausforderung zu sein. Kurz: diesen gesamten spannungsvollen Argumentationsgang möchte ich zu einer schlüssigen Kette zusammenfügen. Das ist viel auf einmal. Ich bitte deshalb um Nachsicht für manche Lücken und Unebenheiten und schlage vor, diesen Aufsatz zunächst nur als Skizze für ein Theoriedesign zu lesen, das an vielen Punkten einer detaillierteren Ausführung und der Korrektur bedarf. 3 Gauck (2014); vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik/German Marshall Fund of the United States of America (SWP/GMF) (2013).
Frieden durch Recht
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2. Verantwortung für den Frieden auf dem Weg des Rechts Ich beginne mit ersten ideengeschichtlichen Einschätzungen: Das Studium des klassischen und des modernen Völkerrechts und seiner langen Geschichte belegt eindrücklich, wie sehr dieses Recht von der westlichen Kultur und vom ius publicum europaeum geprägt ist. Bis heute spricht das Völkerrecht die Sprache mehr oder weniger gleich starker Staaten, die ihre streitigen Angelegenheiten selbstverständlich immer auch auf Schlachtfeldern klären können. Es sind wohl weniger die eher abstrakten Rechtsgüter, als vielmehr die immensen materiellen und ideellen Kosten, die sie davon abhalten. Gesellschaften in reifen Industriestaaten und auch in Schwellenländern lassen sich heute schlechterdings nicht mehr für den großen Volkskrieg mobilisieren. Zudem leben sie seit geraumer Zeit erfolgreich auf Kosten der noch verbliebenen Natur und kommender Generationen, anstatt sich gegenseitig direkt anzugreifen. Insofern verdankt es die Staatengemeinschaft im Jahr 2014 tatsächlich nicht dem Völkerrecht, wenn sie heute weiter ist als im Jahr 1914.4 Nicht nur die beiden Weltkriege, auch regionale Kriege vom Algerien- über den Vietnam- bis zum Falklandkrieg und auch die jüngeren Kriege im Nahen Osten und in Zentralasien belegen die praktische Untauglichkeit klassischer Kriege als Mittel geostrategischer Einflussnahme. Deshalb ist der klassische Staatenkrieg heute die seltene Ausnahme. Innerhalb der stabilen Zonen und auch zwischen ihnen dürfte er auf absehbare Zeit ausgeschlossen sein. Für geopolitisch ambitionierte Mächte gibt es heute ganz andere Mittel und Wege. Und hier setzt nun mein Argument an: Einer dieser Wege ist das wenn auch noch so schwache Völkerrecht. Man muss es nur von hypertrophen Erwartungen befreien. Hier ist dem radikalen Rechtspositivismus ausnahmsweise einmal zuzustimmen: „Will man dem Frieden dienen, ist es besser, von dem internationalen Recht zu sprechen, als – wie es leider nur zu oft geschieht – von einer nebulosen Gerechtigkeit zu deklamieren und darüber die Fortbildung des erst in seinen Anfängen steckenden Völkerrechts zu vernachlässigen. Hätte der Völkerbundpakt weniger oft das stolze Wort ,Gerechtigkeit‘ im Munde geführt, dafür aber mehr Sorgfalt auf seine rechtstechnische Gestaltung verwendet, er hätte seine Aufgabe besser erfüllt“.5 Weil es oftmals die auf die Rechtsrevolutionen folgenden rechtstechnischen Evolutionen sind, auf die sich die Staatengemeinschaft heute stützen kann, ist die Welt völkerrechtlich eben doch nicht 1914 stehengeblieben. Gäbe es nämlich die vielen, zumeist unspektakulären völkerrechtlichen Mechanismen nicht, wäre die Wahrscheinlichkeit höher, dass wie vor genau 100 Jahren in Europa mangels Alternativen zu physischer Gewalt gegriffen würde, zumindest zwischen gleich starken Staaten. Es bleibt jedoch der Verdacht, beim gesamten Projekt des Völkerrechts könnte es sich trotz der Überwindung vieler kolonialistischer Reste heute immer noch um einen Vertrag zu Lasten Dritter handeln, also mächtiger Staaten auf Kosten insbesondere derjenigen Länder, die im modernen Globalisierungs- und Modernisierungswettlauf 4 5
Vgl. Ehs (2014). Vgl. Kelsen (1934).
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weit abgeschlagen die hinteren Plätze belegen.6 Auch die können im Great Game bedeutsam sein, weil die Agenten mächtiger Gesellschaften über sie an begehrte Lagerstätten herankommen. Der genannte Verdacht wird durch die Beobachtung bestätigt, dass das Völkerrecht uns in den asymmetrischen Konflikten in der Weltgesellschaft oft im Stich lässt. Dort aber toben die „neuen Kriege“.7 Dort unterlaufen nationale Egoismen die Bemühungen um kollektive Friedenssicherung. Dort tauchen deutsche Rüstungsgüter auf. Dorthin sollen deutsche Soldaten? Und dort treffen sie dann wohlmöglich auf Gegner mit Waffen aus deutscher Produktion? Und in Mali helfen sie, den Nachschub an Uran für französische Kernkraftwerke sicherzustellen? Und bei allem fragt sich, wer in diesem Chaos überhaupt bestehen soll: Im gesamten Nahen Osten und in Afrika, ja sogar im Osten Europas fordern das Erbe kolonialer und postimperialer Staatsgründungen und Grenzziehungen, dazu querliegende traditionale Loyalitäten und darüber liegende ökonomische Modernisierungsprozesse und dagegen gerichtete aggressive religiöse Wiederverwurzelungsexzesse seit Jahrzehnten schier endlos Opfer um Opfer. Müssen wir nicht zugeben, dass wir ratlos sind und dass alte koloniale Muster sich doch in sublimer Form fortschreiben? In dieser Situation möchte ich der hiesigen strategic community allgemein und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages ganz besonders einige Vorschläge machen, die die völkerrechtliche Legitimation deutscher Militäreinsätze und Rüstungsexporte betreffen. Damit möchte ich zu den Überlegungen beitragen, was Deutschland international und in strategischer Hinsicht wo mit wem gegen wen unternehmen sollte. 3. Grundlagen für Strategien internationaler Völkerrechtspolitik Die Aufteilung der Deutschland umgebenden Welt, z. B. je nach Einbindung oder Einhegung in „prioritäre Mitstreiter“ (z. B. USA, EU, Japan, Kanada, Israel, Türkei, Südkorea), „sekundäre Mitstreiter“ (z. B. Mexiko und Australien), „prioritäre Herausforderer“ (z. B. China, Russland, Indien, Brasilien, von denen bekanntlich zwei ständige Mitglieder im Weltsicherheitsrat sind), „sekundäre Herausforderer“ (z. B. Indonesien und Südafrika), „prioritäre Störer“ (Iran und Nordkorea) und „sekundäre Störer“ (z. B. Kuba und Venezuela), könnte sich als doch zu schlicht erweisen.8 Sie mag vielleicht geeignet sein, um Interessenkonstellationen grob zu beschreiben. Die Freund/Feind-Unterscheidung der Autoren bezieht sich aber nicht nur auf „deutsche Interessen“, sondern auch auf „deutsche Werte“.9 Das ist nun wahrhaft zu einfach, denn wenn es um Werte im Unterschied zu Interessen gehen soll, dann können es nicht deutsche, sondern nur menschen- und völkerrechtsethisch begründete universelle Werte sein. Und dann stellt sich die Frage, wie man strategisch
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Vgl. Osterhammel (2013), S. 565 – 579 u. 603 – 735. Vgl. Jung et al. (2003); Münkler (2006). 8 Vgl. SWP/GMF (2013), S. 31. 9 Ebd., S. 32. 7
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erfolgreich für diese Werte, Güter oder Prinzipien und damit für die Wahrung und Förderung des Friedens werben kann. Auf welche Annahmen könnte eine solche Strategieentwicklung aufbauen? Meine erste, noch recht bescheidene ,metaphysische‘ Annahme in der Hoffnung auf möglichst breite Zustimmung lautet: Frieden bringt Wohlstand, Krieg dagegen verlangt einer großen Mehrheit einen hohen Preis ab. Das ist das, was vielen global players irgendwann doch zu denken gibt. Meine zweite schon etwas anspruchsvollere Annahme – in Übereinstimmung übrigens mit allen bisherigen Friedensdenkschriften meiner Kirche – lautet: Keineswegs der einzige, wohl aber der bisher erfolgreichste und auch künftig aussichtsreichste Weg zum politischen Frieden ist das Recht. Warum soll das, was in den letzten 500 Jahren bei der Ausbildung moderner Rechtsstaaten gelungen ist, nicht in den nächsten 500 Jahren auch in den internationalen Beziehungen funktionieren? Als Theologe wurde ich ausgebildet, historisch zu denken, und ich schreibe diesen Aufsatz aus theologisch-friedensethischen Motiven, weil ich davon überzeugt bin, dass das Ideal des Friedens nicht unter Ausblendung, sondern nur durch Verregelung von Herrschaft und deshalb nie ohne das Recht politisch wird. Um nun eine solche politische ,Metaphysik‘ attraktiv zu machen, kläre ich als erstes die übergreifende Funktion des regulativen Ideals ,Frieden‘ (Kapitel 2), um dieses Ideal danach umgehend mit der Realität der Konflikte zwischen konkurrierenden Herrschaftsordnungen zu konfrontieren (Kapitel 3). Zur Vermittlung zwischen Ideal und Wirklichkeit ziehe ich die kantische Rechtsidee zu Rate (Kapitel 4). Erst wenn die Möglichkeiten und Grenzen der modernen Rechtsidee geklärt sind, hat der Versuch Aussicht auf Erfolg, für die allgemeine Rechtspflege eine schlüssige Heuristik zur Entwicklung von Prinzipien und Kriterien des hoheitlichen Gewaltgebrauchs unter dem Titel einer Ethik rechtserhaltender Gewalt zu entwickeln (Kapitel 5). Denn erst dann kann ich die Prinzipien verwenden, um akzeptable Kriterien abzuleiten für den legitimen Gewaltgebrauch im Völkerecht im Allgemeinen (Kapitel 6) und in asymmetrischen Konflikten im Besonderen (Kapitel 7).
II. Frieden als regulatives Ideal der Völkerrechtsentwicklung 1. Harmonie und Frieden Seit der Antike werden vielfältige, nahezu universal verbreitete Vorstellungen von Harmonie und Frieden als dynamische Versöhnung kosmischer und irdischer Gegensätze z. B. in orientalischen, europäischen, ost- und südasiatischen und präkolumbianischen Religionen und Philosophien überliefert.10 Am geschichtsmächtigen Beispiel der hebräischen Bibel wird der Frieden teils eschatologisch – z. B. als messianische Friedenshoffnung in Jesaja 11 –, teils heilsgeschichtlich oder weisheitlich, natur- oder vernunftrechtlich – z. B. mit dem Bild des weisen Herrschers in 1. Könige 3, 3 – 14 oder der zu Füßen des Schöpfers spielenden Weisheit in Proverbia 8 – 10
Vgl. Gensichen et al. (1983); Schwerdtfeger/Lienemann (1986); Wilkens (1987).
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ausgestaltet und so als Leitbild für das alltägliche Zusammenleben der Menschen und Geschöpfe in Betracht gezogen. Zu den Idealen des gelungenen Lebens und des weisen Gesetzes gehören das Studium des Gesetzes, der Respekt vor den Eltern, die Fürsorge für die Armen, Schwachen und Reisenden, die Mäßigung im Konsum, die Unbestechlichkeit des Richters, die Großzügigkeit des Königs, das Lob der Schöpfung und die zwischenmenschliche Liebe in vielerlei Form. Auch die bundestheologische Deutung von Gerechtigkeit als Gemeinschaftstreue verlangt auf der ethisch-rechtlichen Ebene, dass Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandelt wird.11 Als Gegenbilder kosmischer Harmonie gelten das Chaos, die Seuche, der Hunger, der Tod, die Sünde, die Torheit, die Gier, die Lüge, der Verrat, das Böse, der Teufel, die Barbaren und der Krieg. Für die spätjüdische, christliche und muslimische Apokalyptik war das Böse ein Teufel, Satan und Gegenspieler Gottes. Für Hannah Arendt war das Böse ein Sachbearbeiter.12 Die grundlegende Weise von Frieden und Gerechtigkeit, von Freiheit, Weisheit und Güte und ihren jeweiligen Gegenbildern zu sprechen, ist die mythische Redeweise.13 Sie gehört in die vorpolitische und vornormative Sphäre, in der Menschen existenzielle Erschütterungen verarbeiten und sich über die symbolische Ordnung verständigen, der sie angehören und die sie gegen andere Ordnungen behaupten wollen. In der politischen und normativen Sprache wird die Funktion mehrdeutiger mythischer Bilder von differenzierenden Begriffen übernommen: Legitime Interessen werden gegen illegitime Interessen, Recht wird gegen Unrecht, ein System gegen ein anderes System verteidigt. Es ist ein wesentliches Merkmal zivilisierter Gesellschaften, dass sie nicht zulassen, dass mythische Bilder ungefiltert die politische Szene bestimmen, um identitätspolitisch missbraucht zu werden. 2. Mythos, Moral, Ethik, Politik und Recht Um zwischen dem Pathos der stolzen mythischen Wörter und dem Prosa sorgfältiger rechtstechnischer Gestaltung die Filter einer geordneten Ableitung einzurichten, schlage ich vor, zwischen Mythos, Ethik, Politik und Recht zu differenzieren: Im Begriff des Mythos mag man alle unbewussten, subkortikal, emotional und intuitiv gebündelten Motive menschlichen Handelns zusammenfassen. Der Mythos stiftet gemeinschaftsbildenden Sinn durch rituell-sakramentale Vollzüge und Erzählungen aus den weltentscheidenden Zeiten zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht. Er erzählt, berührt, bewegt, prägt, erschüttert, begeistert, orientiert, fasziniert und spiegelt so die Fülle des gelebten Lebens. Ohne ihn hätten Ethik, Politik und Recht nichts, worauf sie sich ordnend beziehen könnten. Das Moralisch-Sittliche ist innerhalb des Mythos diejenige Sphäre, in der Menschen aus der Vielfalt instinktiver Wünsche und 11 Vgl. Perlitt (1972); Liedtke (1972a u. b); Steck (1972); Thyen (1972); Geyer (1972); Huber (1972); Thiel (2005). 12 Arendt (2011). 13 Vgl. exemplarisch Cassirer (1923 ff., 1946); Agamben (2002).
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kollektiver, mythisch tradierter Ordnungen persönliche Lebensentwürfe, kollektive Sitten und disziplinierende Kulturen formen und sich in entsprechenden Gemeinschaften organisieren. Die reflektierte Form nennen wir seit Aristoteles Ethik. In der Ethik müssen moralische und rechtliche Intuitionen auf Argumente gegründet werden, die wiederum nach regulativen Idealen und normativen Prinzipien und Gütern geordnet und zu Imperativen, Maximen, Regeln, Kriterien und Tugenden begrifflich gegliedert werden. Moderne Ethiken reflektieren überdies die historisch-soziologischen Kontexte. Doch erst das Politische ist die Sphäre, in der Menschen definierte Willensäußerungen milieu- und kulturübergreifend koordinieren, zu gesellschaftlichen Interessen bündeln und angesichts von Gehorsamsverweigerungen und Interessenkonflikten in Kult- und Herrschaftsordnungen durchsetzen und sichern. Das Recht schließlich ist die Sphäre, in der Menschen ihre Verfügungs- und Herrschaftsansprüche wechselseitig abgleichen und zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Konflikte nach formal einheitlichen Prinzipien legal-rational verregeln. Das Recht erinnert die Politik an den ursprünglichen Sinn, es greift zurück auf den Mythos und das Ethos und bringt die „stolzen Worte“ in der neuen Gestalt definierter Rechtsprinzipien im Kampf um politische Herrschaft zu Geltung.14 Umgekehrt bliebe der Rechtsformalismus leer, wenn es keine lebendigen Narrative gäbe, mit denen er gefüllt werden könnte. Die gesamte Kette der Unterscheidung stellt sicher, dass jede der Sphären einerseits mit den anderen kommuniziert, sich aber zugleich autonom gegen die anderen behauptet, dass jede ihre volle Leistungsfähigkeit entfalten kann und nicht schon vorauslaufend angepasst wird. Erst wenn keine der Sphären über die anderen herrscht – und das gelingt auf Dauer auch nicht –, werden alle ausbalanciert und auf dem Weg der Analogiebildung kritisch aufeinander bezogen. In den folgenden Kapiteln werde ich mich auf diejenigen Konflikte konzentrieren, die zwischen verschiedenen Rechtsordnungen ausbrechen können und uns nach einem Recht der Rechtsordnungen, also nach einem ,Völkerrecht‘ fragen lassen. 3. Frieden als Ziel des Völkerrechts Das Völkerrecht, so lässt sich jetzt präziser bestimmen, ist auf einen politischen Frieden verpflichtet, der aus Rechtsverhältnissen zwischen historisch gewachsenen und rechtlich geordneten Herrschaftsordnungen erwächst. Das lässt sich auch an seiner Geschichte zeigen.15 Die neuzeitlichen Impulse zum Völkerrecht beginnen mit dem spanischen Dominikaner Francisco de Vitoria (1483 – 1546). Er begreift das ius gentium erstmalig als positives internationales Recht. Der niederländische calvinistische Theologe, Philosoph und Jurist Hugo Grotius schafft 1625 mit seinem Werk De jure belli ac pacis die Grundlagen des neuzeitlichen Völkerrechts als Recht der gesamten Menschheit. Die Epoche von 1648 bis 1918 gilt als die Periode des klassischen Völkerrechts mit einem noch äußerst schwachen Grad an Rechtsverbindlich14 15
Marauhn (2005). Vgl. Grewe (1984).
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keit. Immanuel Kant nannte 1795 seine berühmte Schrift, wenn auch leicht ironisch – nach dem Namen einer Königsberger Gastwirtschaft – „Zum Ewigen Frieden“ und bereitete damit der Epoche des modernen Völkerrechts den Weg.16 Lenin sprach 1917 im ersten Dekret nach der Oktoberrevolution vom „Weltfrieden“. Der 1920 gegründete Völkerbund ermahnte seine Mitglieder in der Präambel seiner Satzung „zur Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit“. Die Charta der UNO eröffnet mit einem pathetischen „Wir, die Völker der Vereinten Nationen“. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bestätigt die Würde „aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ als „Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“. Und die Friedensethik der beiden großen Kirchen in Deutschland orientiert sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts am regulativen Ideal eines „Gerechten Friedens“. Letzteres soll in der Tendenz alle Lebens- und Politikbereiche umfassen und niemanden ausschließen. Es setzt an beim Frieden zwischen den Geschlechtern und in den Familien, also beim häuslichen Frieden, und erweitert sich zum sozialen Frieden im Rahmen gesellschaftlicher Wohlfahrt, zum generellen Land- und Rechtsfrieden in kultureller und religiöser Toleranz und mündet schließlich in den internationalen Frieden. Es beinhaltet darüber hinaus die ungeschuldete Solidarität und Barmherzigkeit und findet seine Einlösung und Erfüllung damit erst im umfassenden eschatologischen Frieden des ,neuen Jerusalem‘. Hier wird der mythische Hintergrund direkt sichtbar. Wenn ein so ambitioniert und umfassend konzipiertes Friedenspathos auf den Bereich der Politik bezogen werden soll, dann muss darin zuvor entlang der angedeuteten Unterscheidung von Mythos, Moral, Ethik, Politik und Recht geklärt werden, welche friedensfördernden politischen Handlungen im Sinne hoheitlich verbindlicher Akte verfasst und mit Gewaltmitteln bewehrt sein sollen, und welche als universale und bittende Einladung vorgetragen werden.17 Diese Klärung ist deshalb von höchster Wichtigkeit, damit das Friedenspathos nicht in Hypertrophie, krude Identitätspolitik und schließlich in Totalitarismus mündet und damit sein Gegenteil erreicht, den totalen Krieg. Die EKD-Friedensdenkschrift von 2007 schützt sich vor dieser Versuchung, indem sie den „Friedensbeitrag der Christen und der Kirche“ und den „Gerechten Frieden durch Recht“ in guter Tradition der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre auf zwei Kapitel verteilt. Im einen geht es stellvertretend für zivilgesellschaftliches Handeln z. B. um Gebet, Verkündigung und praktische Versöhnung ohne jeden Herrschaftsanspruch, im anderen um Menschenrechtspolitik unter Einschluss von Fragen militärischen Gewaltgebrauchs. Entsprechend sind bei Gewaltkonflikten beide Kapitel gesondert in Betracht zu ziehen, also diesseits hoheitlicher Befugnisse der Gottesdienst, die Seelsorge, die Predigt und die Diakonie, sodann der gesamte Katalog der zivilen Konfliktprävention und die Versöhnungsarbeit, aber auch die privatwirtschaftliche Zusammenarbeit. Mit der staatlichen Diplomatie, Entwicklungszusam16 17
Vgl. Hankel (2011), S. 43 – 65; von Schubert (2013), S. 41 – 48. Jüngel (2003), S. 178 ff.
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menarbeit und der Wirtschaftspolitik – übrigens inklusive der Praxis der staatlichen Rüstungsexportgenehmigungen – beginnt die Sphäre nationalstaatlicher Herrschaftsordnungen, die bis zum militärischen Gewalteinsatz reicht. Staatliches Handeln wiederum steht unter dem Einfluss der internationalen Rechtsrevolutionen des 19. und des 20. Jahrhunderts, etwa des Haager und Genfer Rechts, der Charta der UNO, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den Statuten des Internationalen Gerichtshofs und des Internationale Strafgerichtshofs.18 Der Anspruch einer umfassenden Friedensethik als Ethik rechtserhaltender Gewalt ist somit im doppelten Sinne global: Die gesamte vertikale Skala möglicher Konflikte wird angesprochen und dies horizontal im weltweiten Maßstab. Das führt noch einmal zur Warnung vor der Hypertrophie: Idealistische Leitbilder wie die Kants, Lenins, der UNO und der deutschen Kirchen verleiten zu moralischem ,Übergewicht‘. Besonders in den Gesellschaften der Hochmoral geben sich viele niemals mit dem Erreichten zufrieden und misstrauen allem Politischen. In autoritär geführten Gesellschaften verklären die Herrschenden die Zustände; das merkt man meistens am Pathos großer Reden. Wieder andere rechtfertigen unendliche Opfer mit dem Versprechen des großen Friedens nach dem großen Endsieg. Das alles ist tunlichst zu entlarven und zu vermeiden. Stattdessen gilt der Grundsatz: Regulative Ideale sind situationsübergreifend und deshalb gedankenexperimentell verfasste unendliche Optimierungsvorschläge, die in Zeit und Raum immer nur zu situativen und endlichen Ergebnissen führen. In der konkreten Falldiskussion sind deskriptive und normative Aspekte also klar zu unterscheiden, bevor sie miteinander ins Gespräch kommen können. Bei den normativen Aspekten sind die mythischen, moralischen, politischen, rechtlichen und ethischen noch einmal klar voneinander zu unterscheiden. Um speziell das Völkerrecht angemessen zu verstehen, sei bereits an dieser Stelle daran erinnert, dass dieses anders als das Staatsrecht keinen souveränen Gesetzgeber kennt. Es fehlen konsistente Sanktionsmittel, und die Regelungsdichte ist vergleichsweise gering. Die Bereitschaft zur Rechtsbefolgung beruht deshalb weitgehend auf einer ,Gegenseitigkeitserwartung‘ der Staaten, die im modernen Völkerrecht erst jüngst und auch erst in Ansätzen von menschenrechtsethischen Überzeugungen im Sinne eines ius cogens überboten wird. Entsprechend spärlich sind die Rechtsquellen des Völkerrechts: das Völkergewohnheitsrecht – die Rechtsüberzeugungen der Regierungen und die anhaltend geübte Praxis –, das nur für die Unterzeichner und Beitretenden geltende Völkervertragsrecht und drittens die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts.19 Alles zusammen wiederum umfasst Regelungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und wird unterschieden in Friedensvölkerrecht (z. B. das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen, englisch: General Agreement on Tariffs and Trade, GATT der World Trade Organisation oder die internationalen Radio Regulations der World Radiocommunication Conference) und Konfliktvölkerrecht (von der Genfer Konvention von 1864 bis zum Über18 19
Vgl. Grewe (1984); Hankel/Stuby (1995). Vgl. Jacoby (1997); Weiss (2001).
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einkommen über Streumunition von 2008). Man sollte die Kraft des Völkerrechts also weder über- noch unterschätzen.
III. Der Konflikt zwischen konkurrierenden Legitimitätsansprüchen 1. Aufstieg und Fall von Herrschaftsordnungen Mehr oder weniger stark inspiriert von den Leitideen eines ,Ewigen Friedens‘, eines ,Gerechten Friedens‘ oder eines ,Weltfriedens‘ und mal mehr dem Kosmopolitismus, mal mehr dem Kommunitarismus zuneigend,20 forschen die Friedens- und Konfliktwissenschaften im weiten Feld des politischen Lebens nach politischen Konflikten und Möglichkeiten ihrer Lösung: „Konflikte sind empirisch beobachtbare Widerspruchskommunikationen, die episodenhaft bleiben oder sich zu Strukturen verfestigen und gewaltsam eskalieren können“.21 Strittig kann vieles sein: ein Anspruch auf materielle Güter, auf einen Status, auf ein Recht. Wird zur Lösung von Konflikten ein Herrschaftsanspruch erhoben, zu dessen Durchsetzung eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Herrschaftsordnung errichtet wird, dann wandelt sich ein Streit um vordergründig mal dieses und mal jenes in einen grundsätzlichen politischen Streit um die Legitimation von Herrschaft im Sinne hoheitlicher Gesetzgebungs- und Befehlsgewalt. Irgendjemand gibt Befehle, die andere befolgen, und legt Regeln fest, an die sich andere halten. Dies gelingt demjenigen, der seine Übermacht soweit etablieren kann, dass er allen wirksamen Schutz garantiert, die ihm dafür Tribut zahlen. Notfalls lässt er sie mit der linken Hand die Peitsche spüren, vor der er sie mit der rechten Hand verschont. Man nennt dies auch Erpressung. Jegliche Herrschaft beginnt mit der einen oder anderen Form der Schutzgelderpressung. Diese Lösung trägt deshalb noch nicht das Prädikat einer Rechtsordnung, sondern bestenfalls eines Clans, eines Stammes oder eines Feudalsystems mit allenfalls rudimentären personal fixierten Rechtsnormen. Aus ihnen gehen dann im Zuge komplexer Differenzierungen personenunabhängige politische, wirtschaftliche und sakrale Rechtsnormen hervor. Denn der eine hat Waffen, der andere Geld, und wieder ein anderer hat starke Medizin. Politische, ökonomische und kulturelle Machtgefälle kreuzen sich und gleichen sich mehr und mehr aus, es kommt zu Koalitionen, und der rohe Untergrund schierer Gewalt wird vom Firniss einer symbolischen Ordnung überzogen. Aus dem freien Spiel kristallisieren sich Spielregeln heraus. Dann weiß jeder, auf welcher Straßenseite er fahren, an wen er Steuern zahlen und in welcher Sprache er sprechen muss, damit er keinen Ärger macht und keinen Ärger bekommt. Die gewaltförmige Grundierung dieser Regeln tritt nur noch zeitweilig deutlicher hervor, wenn der zivilisatorische Überbau starke Risse bekommt. Hier kommt der besondere Sinn einer Friedens- und Konfliktethik im Gegenüber zu einer allge20
Vgl. Wisotzki (2013). Schlichte (2012), S. 15; vgl. Schlotter/Wisotzki (2011); zur Literatur bis 1984 vgl. Institut für Theologie und Frieden (1984). 21
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meinen Rechtsphilosophie und Rechtsethik ins Spiel.22 Erstere antwortet auf die Notwendigkeit, gewaltträchtige Krisen konkurrierender Legitimationsstrukturen zu bewältigen und die Risse wieder zu schließen, Letztere auf die besonderen Probleme der Anwendung hoheitlichen Gewaltgebrauchs gegen Rechtsbrecher sowie in den Entwicklungszonen und an den umkämpften Rändern der zivilisierten symbolischen Ordnung. Oftmals, soviel sei bereits angekündigt, wird eine besonnene Friedensethik Erwartungen zurückweisen und auf das Recht verweisen. Ferner wird sie kaum denjenigen Stimmen applaudieren, die den Zwangscharakter des Rechtes per se für illegitim erklären. Besonders brisant werden die Fragen politischer Ethik, sobald historisch gewachsene Rechtsordnungen gewaltsam aufeinander treffen und Massenkonflikte auslösen, die auf zwischenstaatlicher Ebene verregelt werden sollen. Und selbst in der Hitze heftiger Kämpfe soll ja vielleicht außer dem Buchstaben auch der Geist eines Völkerrechtsgesetzes eine Chance haben. Die soziologische Analyse von Aufstieg und Fall von Herrschaftsordnungen bei Weber, Marx, Elias, Foucault, Bourdieu zeigt bei allen Differenzen zwischen realistischen, idealistischen, institutionalistischen und konstruktivistischen Deutungen,23 dass diffuse Macht teils durch Disziplinierung, teils durch Legitimierung zu institutionell spezifisch gefestigter Herrschaft heranreift. Die dominierende Spezies von Herrschaftsformen ist der Staat: „Der Staat ist keine überzeitliche und durch sein Recht selbst legitimierte quasi-theologische Größe, sondern ein Herrschaftsgebilde, das in langen Machtkonflikten geformt wurde und dessen Trägerschichten selbst eine Legitimationspolitik betreiben“.24 Deshalb muss eine politisch-ethische und rechtsethische Kritik der Herrschaftsverhältnisse, Herrschaftsordnungen und Herrschaftspraktiken ihre Argumente ebenfalls im Konflikt entwickeln, sie muss sich ihrer eigenen historischen Bedingtheit bewusst sein und den historisch-soziologischen Kontext der zu beurteilenden Verhältnisse in Rechnung stellen. Zu den damit angesprochenen Kontexten gehören die Alltagsgeschichte der Herrschenden und der Beherrschten, die Entdeckung und Betrachtung des lokalen Falls und der plurilokalen Fallkonstellation und nicht zuletzt neben der Perspektive der Befehlenden die der Gehorchenden.
2. Anerkennung konkurrierender Legitimitätsansprüche Das Messer der ethischen Rechtskritik arbeitet zwar mit einer an Begriffen der Freiheit, Gerechtigkeit und des ,ewigen Friedens‘ geschärften Klinge, es schneidet jedoch in das höchst unübersichtliche Gewebe ,geglaubter Legitimitäten‘. Und die müssen sich in ihrer ganzen schillernden Vielfalt zeigen können, bevor ein faires Urteil gefunden werden kann. Wie soll geklärt werden, welche Legitimitätsansprüche Anerkennung verdienen, ohne dass komplexe Konfliktverläufe diesseits der üblichen 22
Vgl. Pfordten (2011), S. 39 – 62. Zangl/Zürn (2003), S. 140 f. 24 Schlichte (2012), S. 18. 23
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Propagandaschlachten aufgeklärt werden? Das betrifft insbesondere den Prozess der Globalisierung staatlicher Herrschaft: Dieser „ist der bis heute unabgeschlossene konfliktive Prozess, weil sich vor- und nichtstaatliche Legitimitätsformen erhalten haben (…) und zugleich neue, den Staat übergreifende Herrschaftsinstanzen entstehen. Die Ansprüche des Staates und seine Ausgestaltung stehen deshalb global im Zentrum politischer Konflikte“.25 Auch jenseits nationalen und internationalen Staatenhandelns verdichten und verbreiten sich Kontrollen und Sanktionen und formen neue politische Subjekte. Auch sie sind kritisch zu sichten: „[D]as Band reicht von den Standards der internationalen Organisationen, über die EU als ,supranationales‘ Gebilde oder das humanitäre Monitoring durch Nichtregierungsorganisationen bis hin zu Unternehmensethiken, staatlichem Recht und moralischer Kontrolle durch Amts- und Pfingstkirchen“.26 Da also die Frage nach Legitimität nicht einfach normativ deduziert werden kann, muss die Genese und Geltung konkurrierender Herrschaftsordnungen am empirischen Material gezeigt werden. Um es am vermutlich prominentesten Beispiel deutlich zu machen: Wie weit sind die Vereinten Nationen auf ihrem Weg zu einer am Maßstab der Vernunft anerkennungsfähigen Legitimität? Da gehen die Meinungen ganz erheblich auseinander. Das Pathos der Behauptung und ein frommer Glaube an die UNO allein reichen nicht. Oder um mit Schlichte auch die oftmals komplizierten Fragestellungen zu asymmetrischen Konflikten zu skizzieren: Wie ist die lobbyistische Verbindung zwischen sudanesischen Clanmitgliedern im Süden des Sudan und in der Stadt Des Moines im US-Bundesstaat Illinois politisch-ethisch zu beurteilen: Geht da alles mit rechten Dingen zu?27 Wie ist die entschlossene Besetzung der ethnisch mehrheitlich und auch historisch russisch geprägten Krim durch nicht gekennzeichnete russische Truppen und damit die Sicherung des einzigen russischen Zugangs zum Mittelmeer angesichts der schwer kalkulierbaren Instabilität der Ukraine sowie vor dem Hintergrund der zwischen der Ukraine und Russland nach dem Ende der UdSSR geschlossenen Verträge, der Grundsätze der UN-Charta sowie schließlich des vom derzeitigen Regionalparlament inszenierten Referendums zu bewerten? Komplexe Lagen erfordern komplexe Antworten. Sollen sie beurteilt werden, bedarf es entsprechender Kriterien. Wie diese gefunden werden können, soll Gegenstand der nächsten beiden Abschnitte sein.
IV. Grundlinien moderner Rechtsphilosophie 1. Das kantische Modell Wenn eine Rechtsordnung entworfen und weiterentwickelt sowie vor allem global mit anderen Rechtsordnungen abgestimmt werden soll, müssen ihre Träger klären, was genau die lokalen Ordnungen und was die internationalen Rechtsregime leisten 25
Ebd., S. 30. Ebd. 27 Ebd., S. 32 mit Bezug auf Falge (2011).
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können und sollen. Vor den Erfolg globaler positiver Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtsvollzugs haben die Götter den Schweiß des rechtsethischen und rechtspolitischen Diskurses gesetzt.28 Die folgenden Überlegungen orientieren sich deshalb zwar am geltenden Recht, insbesondere am geltenden Völkerrecht und der aktuellen Völkerrechtspolitik. Sie fragen aber nach seiner Idee, seinen Prinzipien, seiner Geltung und deren Legitimität. Warum halten sich internationale Akteure an internationales Recht? Der argumentative Schluss von der Idee des Friedens zum geltenden Recht in internationalen Beziehungen erfordert eine Reihe kritischer Einzelschritte. Eine umstandslose moralische Rechtfertigung von militärischen und anderen Interventionen ignoriert beispielsweise die Notwendigkeit, die Geschichte, die Interessen, die Erwartungen und ihre Enttäuschungen, die Verfahren, den Geltungsbereich und die Kriterien der relevanten Urteilsbildungen und ihrer völkerrechtlichen Grundlagen interdisziplinär sorgfältig zu prüfen.29 Nicht nur die Friedens- und Konfliktethik, vermutlich auch die Friedens- und Konfliktforschung betrachtet Gewaltphänomene jenseits der für sich genommen rein deskriptiven Empirie immer auch unter normativen Gesichtspunkten. Nach Einschätzung von Schlichte ist die empirische Forschung zur Verbindung von Gewalt – im Sinne von violentia, nicht potestas – und Legitimation bis heute jedoch ein Randthema der Theorie von Politik und Gesellschaft.30 Zwei erste Fragen stellen sich dem, der hier trotzdem forscht: Was genau macht den Gebrauch physischer Gewalt zu einem Legitimitätsproblem? Und gibt es etwas, das den Gewalteinsatz minimieren, ersetzen und unnötig werden lassen könnte? Noch pointierter: Wie kann der Diskurs um die Legitimation von hoheitlicher Gewalt möglichst ideologiearm, also weder naiv-triumphalistisch noch investigativ-zynisch, sondern kritisch-offensiv und empirisch solide fundiert gepflegt werden? Ich reihe mich ein in den Chor der zahlreichen Stimmen, die an diesem Punkt Kants Moral- und Rechtsphilosophie zu Rate ziehen.31 Deren gemeinsamer Ausgangspunkt lautet: Dauerhaft friedlich und frei von Furcht kann ein Mensch mit anderen Menschen nur dann zusammenleben, wenn sich alle als Träger gleicher menschlicher Würde und gleicher Rechte achten sowie – und hier trennen sich Moral und Recht – jemand dafür die Garantie übernimmt. Gemeinsame inhaltliche Vorstellungen vom guten Leben können und sollten, aber müssen die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft nicht teilen, ganz gleich ob und wie diese weltanschaulich oder religiös begründet werden. Wer dies fordern wollte, riefe zu einem prinzipiell nicht mehr eingrenzbaren Kampf um die diesbezüglich richtige Vorstellung auf. Stattdes28 Welzel (1962); Alexy (1992, 1995); Braun (2001); Fischer-Lescano/Liste (2005); Naucke/Harzer (2005); Hoerster (2006); Römelt (2006); Vesting (2007); Ziolkowski (2008, 2010); Brugger/Neumann/Kirste (2008); Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (2009); Kaufmann/ Hassemer/Neumann (2010); Kirste (2010); Seelmann (2010); Pfordten (2011), S. 1 – 3; Rüthers/Fischer/Birk (2011); Zippelius (2011, 2012a). 29 Vgl. Fischer-Lescano/Liste (2005). 30 Vgl. Schlichte (2012), S. 35. 31 Vgl. exemplarisch Geismann (1974); Braun (2001).
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sen definieren Gesellschaften vernünftigerweise nur die formalen Grenzen ihrer äußeren Freiheit in zwangsbewehrten Verfassungen und Einzelgesetzen. Postuliert die Ethik einschließlich der Politischen Ethik mit dem Begriff des guten Willens die innere Freiheit vernünftiger Individuen, sich selbst ein Gesetz zu geben, welches mit seiner und der Freiheit aller anderen Vernunftwesen übereinstimmt, so ist für das äußerliche Zusammenleben potenziell aller Vernunftwesen ein ebenfalls erfahrungsunabhängiger, rein rationaler Begriff zu finden, der eine äußere Freiheit in Gemeinschaft ermöglicht, und das ist das Recht. Es ist „der Inbegriff der Bedingungen unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“, so Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre im Rahmen seiner Metaphysik der Sitten von 1797/1798 (= RL § B). Nicht eine höhere Einsicht in einen allgemeinen Willen, nicht das gute Leben, nicht einmal die innere Freiheit, sondern ausschließlich die äußere Freiheit wird inhaltlich bestimmt und zwar als Macht zu tun, was man will, zu lassen, was man will, zu leben wie man will. Und diese Freiheit soll nur eine Grenze haben, und das ist die Freiheit des Anderen. Denn wenn Willkür freigestellt und ihr keinerlei innere Selbstbeschränkung auferlegt wird, muss eine äußere Beschränkung an deren Stelle treten, und das ist der legitime Zwang, der nicht der Willkürfreiheit eines Einzelnen, sondern aller Einzelner Raum verschafft und damit der Gerechtigkeit Genüge tut. Das mythische Bild des Friedens übersetzt sich so in den nüchternen politisch und rechtlich zu differenzierenden Begriff der Sicherheit, der politischen Sicherheit, der Rechtssicherheit sowie des Rechtsfriedens als Raum für die friedliche und permanente Aushandlung von Interessen nach Prinzipien. Jedermann soll sich vor jedermann hinreichend sicher sein und gegenüber jedermann seine Interessen geltend machen können. Das „Recht deckt das Festhalten und Weiterverfolgen von Erwartungen im Enttäuschungsfall. Man braucht jedenfalls nicht hinzunehmen, nicht nachzugeben, wenn man im Recht ist. Ob es faktisch gelingt, den Zustand herzustellen, der dem Recht entspricht, ist eine andere Frage“.32 Das Recht gründet auf der Bereitschaft, sich überhaupt auf das Recht als selbstorganisierendes Medium im Kampf um das Recht einzulassen. 2. Die Ambivalenzen der Gewaltmonopolisierung Jetzt können wir uns von dieser Grundlage aus politisch-ethischer Perspektive dem Thema Gewalt nähern. Warum sollte jemand auf Gewalt verzichten und seine Gewaltoption an einen Gewaltmonopolisten abtreten? Warum sollte jemand Zwang gegen sich selbst für legitim erklären? Wer den Naturzustand hinter sich lassen und seine Gewaltoption auf einen übergeordneten Garanten übertragen will, geht ein Risiko ein. Denn nicht alle tun dies, und niemand ist vor dem Rückfall in die Logik willkürlicher Gewalt gefeit. Und wer kontrolliert den Monopolisten, wenn nicht ein anderer, der ihn überwältigt, und wer schützt vor diesem? Aber mehr 32
Luhmann (1981), S. 84.
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noch: Gerade das aus Freiheit Sittliche sollte sich ja vernünftigerweise diesseits des Rechtes entfalten können; auch das stellt ein Risiko dar. Kant lehnt sich an diesem Punkt gleichermaßen an Hobbes wie an Rousseau an: „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, eher eine größere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, dass, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen; mithin das erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwang zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, dahin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d.i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten.“ (RL § 44).
Wer auf Gewalt verzichtet, investiert Vertrauen und zollt und erwartet Respekt aus freien Stücken.33 Er tauscht die Gewaltoption gegen eine Option auf Recht. Er hofft, damit auf Dauer besser zu fahren und folgt vornormativen Impulsen z. B. aus religiösen Quellen. Wenn das Beispiel Schule macht, wächst das Vertrauen. Aber selbst wenn sich eine hinreichende Zahl anschließt, sodass sich ein ebenso freier wie machtvoller Konsens bildet, wird die Konfliktbewältigung durch Gewaltverzicht erst wirksam und verlässlich, wenn auch die Verwalter des Konsensus daran gehindert werden können, die dem Gewaltvakuum korrespondierende Gewaltkonzentration zu usurpieren und zu missbrauchen. Dazu muss die Gewalt monopolisiert werden und vom ersten Moment ihrer Konstituierung durch Gewaltenteilung kontrolliert und selbst dem Recht unterstellt werden, so dass die freie Zustimmung zu den Regeln kommunikativer Macht in Gestalt der gesetzlich geordneten Revolution eines fortlaufenden demokratischen Lernprozesses unter den Versammelten das jeweils geltende Recht begründet (vgl. RL § 45). Dann erst wachsen aus Gemeinschaften von Individuen unterschiedlicher Überzeugungen lokale Rechtsordnungen. Indikatoren für den Erfolg solcher in der Regel sehr langfristigen Entwicklungen sind a) die Gewährleistung der Freiheit im Sinne umfassender kultureller Selbstbestimmung, b) die Reduktion von Gewalt, c) der Abbau von materieller Not durch einen gerechte Teilhabe an Ressourcen sowie d) die Befreiung von Angst, weil zur Lösung von Konflikten Rechtswege bereitstehen.34
33 34
Bielefeld/Bude/Greiner (2012). Picht/Huber (1971); Duchrow/Liedtke (1972); Strub (2007), Anm. 25 u. 26.
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Unabhängig von Erfolgen auf regionaler, also einzelstaatlicher Ebene bleibt schließlich die Spannung zwischen der lokalen und der globalen Ebene. Man kann sogar sagen: Je erfolgreicher sich ein Staat im Inneren konsolidiert, desto mehr kann er versucht sein, seine Macht nach außen auszuspielen. Hier schließen Kants Thesen zum Völkerrecht (RL §§ 53 – 61) und seine Altersschrift Zum ewigen Frieden an. Je dichter, tiefgreifender und konfliktträchtiger sich der Prozess der Globalisierung vollzieht, desto mehr sollte analog zur einzelstaatlichen Befriedung ein Netz globaler Ordnungsmodelle entwickelt werden, das alle Staaten umfasst und ihnen gleiche Rechte gegeneinander einräumt und sichert. Zudem sollte die Staatensouveränität mit dem individuellen Menschenrechtsschutz ins Verhältnis gebracht werden. Die enorme Asymmetrie in der Teilhabe am Wohlstand in der Weltgesellschaft sollte darüber hinaus ausgeglichen werden. Angesichts der Gefahr einer Weltdiktatur sollte ein solch ambitioniertes politisches Programm nicht durch einen Weltstaat, auf Dauer auch nicht durch das Wächteramt eines Imperiums, wohl aber durch eine Föderation aller Staaten in Angriff genommen werden. Regionale Politiken in den Bereichen geistiger und kultureller Selbstbestimmung, Frieden und Sicherheit sowie der Teilhabe am sozialen Leben und an den wirtschaftlichen Gütern sollten vereinbart werden. Wo es zu Konflikten kommen kann, also insbesondere angesichts von Gefährdung des lokalen und globalen Friedens, sollten rechtliche Rahmenordnungen entwickelt werden. Gegenstände des Völkerrechts sind heute folglich Raum und Umwelt, Wirtschaft und Kultur und querschnittliche Fragen der Verantwortlichkeit, des Völkerstrafrechts, der Streitbeilegung und Sanktionen sowie schließlich Fragen der Friedenssicherung und des Konfliktrechts (= Recht im bewaffneten Konflikt).35 Was soll man zu dieser Liste sagen? Es kommt verdächtig oft das Wörtchen ,sollen‘ vor. Ja, die Welt sollte freier, gerechter und friedlicher werden. Und die Adressaten dieser Forderungen sind auch ausgemacht, es sind vor allem die Staaten, durchaus aber auch die Gesellschaften der Erde. Nach welchen Prinzipien staatliche Gesetzgeber wem in welchen Grenzen Vorschriften machen sollten, dürfte mit den bisherigen Ausführungen auch hinreichend geklärt sein. Schon dies alles sind sehr kühne Forderungen, für deren Erfüllung seit Jahrhunderten nicht ohne bemerkenswerte Erfolge gekämpft wurde und die man durchaus weiterhin erheben sollte. Endgültig aber gipfelt die Kühnheit in der Forderung, auch die erwähnten Zwangsmittel sollten gegen die Logik des reinen Machtkalküls und sogar im zwischenstaatlichen Verhältnis nach rechtsethischen Kriterien ausgewählt und eingesetzt werden. Ein fast schon tollkühner Gedanke! Können sich mächtige Staaten in Sachen militärischer Gewaltprojektion nicht erlauben, was sie wollen? Diese Frage rührt an das Gewaltverbot, das sich der historischen Schock- und Ausnahmesituation nach dem Zweiten Weltkrieg verdankt. Es besteht die Gefahr, dass die Sprache der Gewalt mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Weltkriegen in der Völkergemeinschaft wieder zur Regel wird. Dem leistete – um zum nächsten Kapitel überzuleiten – nicht zuletzt 35
Vgl. Herdegen (2013); Vitzthum/Proelß (2013).
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eine unkritische Wiederaufnahme der Lehre vom Gerechten Krieg als Figur der Selbstermächtigung Vorschub. Die Gefahr der Argumentation mit den Figuren des gerechten Krieges und der internationalen Schutzverantwortung liegt darin, dass einzelne Staaten oder auch Staatenbündnisse die Idee einer internationalen Rechtsordnung überspringen oder sogar ersetzen, die Position der legitima potestas in den internationalen Beziehungen usurpieren und dann unter dem Vorwand stolzer Worte wie Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit in die Praxis einseitiger willkürlicher Selbstermächtigung ohne Rücksicht auf andere zurückfallen. Die stolzen Worte haben ja wahrlich eine unverzichtbare Funktion, politisch jedoch niemals am Recht vorbei, sondern immer nur durch das Recht hindurch. Und sie beziehen sich auch nicht ausschließlich auf den „Krieg“ als Superlativ von Gewalt. Wer Formen von Gewalt, in welcher Intensität und in welchem Kontext auch immer, überhaupt nach einem ethischen Rational beurteilen will, betritt das Gebiet der Rechtsethik und wird entweder zu einem delegitimierenden oder einem legitimierenden Ergebnis kommen. Folglich bedarf es einer Heuristik, die geeignet ist, mit ihrer Hilfe Kriterien für die Entwicklung von Rechtsordnungen zu liefern. Es bedarf dazu keiner Lehre des gerechten Krieges, sondern einer Lehre des Rechtes. Eine Rechtstheorie in der Tradition Kants mag dann eher als Theorie herrschaftsfreier Kommunikation (Habermas), als Theorie der Verfahrenstreue (Luhmann) oder auch unter Rückgriff auf substantielle Naturrechtsvorstellungen (Walzer) entfaltet werden. In jedem Fall ist dabei zu klären, nach welcher Methode Urteile entwickelt werden können. Hier ist ein Vorschlag.
V. Die Ethik rechtserhaltender Gewalt und die Theorie teleologischer Urteile 1. Rechtsgarantie nach Gewaltverzicht durch die Rechtsbindung des Gewaltmonopols Die Alternative zur Behauptung moralisch gerechter Kriege ist die kritische Selbstprüfung der rechtserhaltenden Funktion hoheitlich monopolisierter Gewalt. Um die Kriterien dieser Selbstprüfung weiter zu entfalten, wähle ich verschiedene Rechtsgebiete, am Ende aber besonders das Konfliktvölkerrecht zur weiteren Aufklärung aus. Aus der kantischen Rechtsidee nehme ich die Einsicht mit: Was wir vernünftiger Weise Recht nennen, gründet nicht in einem Gewaltakt, sondern in der freien Übereinstimmung betroffener Menschen über Regeln gemeinsamen Lebens als Grundlage ihrer individuellen und durchaus willkürlichen Selbstverwirklichung. Dass kein Betroffener aus dem Kreis dieses Einvernehmens ausgeschlossen wird, geschieht aber nicht aus Willkür, sondern im Verzicht auf jede Willkür. Recht beginnt immer mit einem grundsätzlichen Gewaltverbot und bleibt ihm wesenhaft verpflichtet, vollzogen wird es jedoch ebenfalls wesenhaft mit Gewalt. Und eben dieser Vollzug bedarf der Legitimation. Denn nur diejenigen Instanzen sind legitimiert und verpflichtet, für einen definierten Adressatenkreis verbindliche Handlungsregeln zum allgemeinen Gesetz zu erheben (potestas legislatoria), bei der Rechtsprechung an-
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zuwenden (potestas iudiciaria) und im Rechtsvollzug durchzusetzen (potestas rectoria), die die willkürlichen Interessen aller Betroffenen dauerhaft unabhängig und unparteiisch zur Geltung kommen lassen. Sie bilden im Zusammenschluss als legitima potestas z. B. den modernen Rechtsstaat und damit weder einen einheitlichen moralischen Wertekanon ab noch einen schlichten Machtausgleich. Auch die Rechtsgemeinschaft der Staaten ist keine Wertegemeinschaft, sondern eine Interessengemeinschaft mit dem einzigen gemeinsamen Interesse, ihre Interessen frei verfolgen zu können und friedlich miteinander abzustimmen. Und nicht einmal die eine oder andere zufällige oder gewachsene, individuelle oder kollektive Interessenlage, sondern nur die Gefährdung oder Verletzung unverzichtbarer Freiheitsbedingungen (causa iusta) als Voraussetzung, überhaupt Interessen verfolgen zu können, liefert zusammen mit der entschlossenen Herbeiführung unverzichtbarer Freiheitsbedingungen (recta intentio) hinreichende Legitimationsgründe für die gewaltsame Einschränkung der Handlungsfreiheit. Und schließlich ist nur diejenige Zwangsmaßnahme legitim, die in Anbetracht nur dieses Legitimationsgrundes und zur Erreichung nur dieses legitimierenden Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist (proportionalitas). Zur Angemessenheit gehören die weitest gehende Schonung Unbeteiligter (differentia) sowie der Griff zur Gewalt nur als letztes und äußerstes Mittel (ultima ratio). Nach dieser restriktiven Heuristik einer Ethik rechtserhaltender Gewalt arbeiten staatliche Rechtsordnungen implizit in allen Rechtsbereichen – warum nicht auch analog internationale Systeme? 2. Zur Theorie teleologischer Urteile Im Kern jeder Rechtsordnung steht das Urteil. Wer urteilt, deutet einen Sachverhalt, entscheidet sich für eine dazu passende Norm, legt sie aus und wendet sie an. Das ist ein sehr voraussetzungsreicher Vorgang, seine Analyse erfordert eine Theorie legitimer Urteile über Handlungen und sollte den magnus consensus gängiger Rechtsdogmatik im Blick auf jedes rechtliche Urteil und im Blick auf alle Glieder in der systematischen Kette ihrer Legitimierung berücksichtigen.36 Meine These lautet: Systematisch ist die Heuristik oder Topik teleologischer Urteile von der Rechtsdogmatik in die Beurteilung militärischer Gewalthandlungen einzutragen und nicht umgekehrt. Mein Ausgangspunkt ist der teleologische Aspekt im Begriff des Organismus. Die von Kant in seiner dritten Kritik entwickelte teleologische Urteilskraft postuliert Systeme, die es vermögen, nach den Gesetzen ihres eigenen Begehrungsvermögens zu handeln, und nennt sie Organismen. Ein Organismus selektiert und organisiert Prozesse in seiner Umwelt nach einer für ihn typischen Hierarchie von Zwecken. Und die Fähigkeit, sich für Handlungen im Rahmen des natürlich Möglichen beliebige 36 Vgl. Larenz (1975), S. 176 ff.; Alexy (2001), S. 295 ff.; Müller/Christensen (2002), S. 260 ff.; Alexy et al. (2003); Schwacke (2003), S. 88 ff.; Canaris/Larenz (2007); Engisch (2010); Zippelius (2012b); so bereits in der Scholastik, vgl. Beestermöller (1990).
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Zwecke zu setzen, nennt Kant Willkür. Organismen mit dem Vermögen, sich selbst und ihrer Willkür Gesetze zu geben, nennt Kant freie Vernunftwesen oder Personen. Richtet sich die teleologische Urteilskraft nun auf solche Vernunftwesen und ihre Handlungen, so kann sie deren Handlungen dem postulierten Freiheitsvermögen zurechnen, indem sie nach eben dem Gesetz der Freiheit fragt, dem sie entsprechen sollen. Und damit ist die im dritten Kapitel zitierte Definition des Rechtes als Bedingung für eine äußere Freiheit in Gemeinschaft erreicht. Die nach dem Gesetz der Freiheit Handelnden stimmen sich durch sittliche Urteile mit sich selbst und Ihresgleichen und durch rechtliche Urteile mit Konkurrenten gegenseitig ab. Jedes Rechtsurteil fußt auf dem Postulat einer Gemeinschaft von freien Vernunftwesen, deren Handlungen ihnen in dem Sinne zugerechnet werden können, dass sie sich dafür vor allen anderen verantworten können und im Konfliktfall auch müssen. Hier folgt mein nächster Schritt: Die Urteilskraft muss nun bei der Beurteilung eines Falles und der in einem Fall konfligierenden Handlungen eine Subsumption in zweierlei Hinsicht entwickeln. Sie muss erstens für einen gegebenen konkreten Einzelfall die dazu passende Norm und Regel finden, also das abstrakte Allgemeine gedanklich entwickeln und reflektieren, wozu dieser Fall gehört, und dies auf mehreren Ebenen: Zu welcher Gattung ist dieser Fall zu rechnen und zu welcher nicht? Richten sich Handlungen gegeneinander, dann besteht ein Konflikt. Und weiter: Prallen die Handlungen im Sinne singulärer und spontaner Gewaltakte oder organisierter Kampfhandlungen aufeinander? Und wenn es Kampfhandlungen sind, handelt es sich um kriegerische Angriffe oder um gegen solche gerichtete Akte der Selbstverteidigung? Zweitens muss die Urteilskraft umgekehrt von einer gegebenen Regel ausgehend aus der Fülle von Erscheinungen die passenden Fälle herausfiltern, also Einzelnes als das bestimmen, als was es gelten soll. Das Völkerrecht definiert eine Gattung konfliktvölkerrechtlich erlaubter Kampfhandlungen: Welche gehören dazu und welche nicht? Ist das sogenannte Waterboarding (vorgetäuschtes Ertränken) zur peinlichen Befragung von Gefangenen im Krieg gegen den Terror Teil von ,Kampfhandlungen‘? Soll es konfliktvölkerrechtlich erlaubt sein oder nicht? Nach welchen Kriterien soll das bestimmt und entschieden werden? Eine mögliche Antwort lautet: Es soll in der Staatenwelt nicht erlaubt werden, denn staatliche Rechtsordnungen verlieren ihre Funktion als letztinstanzliche Garanten des Rechts, wenn sie durch Folter das Menschenrecht auf Freiheit von Furcht beugen, für das sie einzustehen haben.37 Zum ,Ist‘ kommt das ,Soll‘ hinzu. Die Klärung der Zuordnung des Teils zu einem Ganzen wird hier um eine Norm erweitert. Zu ihrer Begründung muss die Gerechtigkeitsidee zur Sprache kommen, die die vorgeschlagene Norm verwirklichen soll, sowie der auf diese Idee gerichtete gesetzgeberische Willen. Jedes sittliche oder rechtliche Urteil verbindet regulative Ideale (Prinzipien und Güter) mit komplexen und sich ständig wandelnden Lageanalysen (Szenarien) zu allgemeinen Grundsätzen (Kriteriologie) im Blick auf Handlungen.38 Die gemischten 37 38
Vgl. Stümke (2009). Vgl. Pfordten (2011).
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Schlussfolgerungen müssen im konkreten Fall immer von den Beteiligten und Betroffenen im Hin- und Hergehen zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Ideal und Wirklichkeit verhandelt werden. Alle müssen gerechte Chancen haben, ihre historisch-genealogische Sicht der Lage und ihre Kriterien geltend zu machen. Wer die Kunst des Urteilens erlernen will, muss sich in beidem üben, in der reflektierenden ebenso wie der bestimmenden Urteilskraft. Und da in jedem hoheitlichen Akt ein rechtsförmiges Urteil impliziert ist, gilt es, nicht nur Taten, sondern auch Urteile über Taten oder Urteile als Taten zu beurteilen. Wir bewegen uns dann im Bereich von kommunikativen Handlungen.39 Selbst bei rein äußerlich gleichen Handlungen kann es z. B. einen grundlegenden Unterschied ausmachen, wer sie ausübt, wodurch sie veranlasst werden, worauf sie zielen und in welchem Verhältnis sie zu ihrem Kontext stehen. Die für zurechnungsfähig und zuständig erklärten Subjekte werden als Autoren und Vollstrecker eines Urteils auf die Legitimierung dieser Zuständigkeit und Befugnis hin befragt (Verpflichtung und Ermächtigung). Und eine Handlung wird auch nur dann für einen Urteilenden verständlich, wenn er erfährt, worauf sie reagiert und was sie bezweckt. Grund und Anlass sowie Zweck, Ziel und Wirkung des Urteils und seiner Vollstreckung werden nach ihrer Legitimität befragt (gerechte Interessenbefriedigung). Dabei müssen der zu beurteilende Tatbestand und die urteilsbegründende gesetzliche Grundlage einschlägig korrespondieren. Schließlich wird die Ausgestaltung des Urteils und seines Vollzugs hinsichtlich ihrer „deontischen Modalität“40, ihres Maßes und Charakters, ihrer Intensität, Dauer, Reichweite und Folgen und Nebenfolgen untersucht und gefragt, ob alles zusammen geeignet, erforderlich und angemessen erscheint im Verhältnis zu Anlass, Ziel und Zweck der Handlung (Ermessen und Entscheidung). Nur so können alle mit richterlicher Vollmacht gesprochenen Urteile (iudicium) und ihre zwangsbewehrte Durchsetzung (exsecutio) nach Maßgabe eines Gesetzes (nulla poene sine lege) auf ihre Legitimität hin geprüft werden, und dies in allen Arten von Streitigkeiten, vom spontanen Familienstreit (z. B. Grenzen des elterlichen Sorgerechts) über den Kriminalfall (z. B. Sicherungsverwahrung) bis zum organisierten Massenkonflikt (von der Selbstverteidigung bis zur humanitären Intervention). Auch die Strafzumessung ist ein Akt richterlicher Rechtserzeugung. Um es am Beispiel des innerstaatlichen deutschen Rechts zu zeigen: Es untergliedert sich in Strafrecht, Zivilrecht und Öffentliches Recht. Das Öffentliche Recht regelt das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, z. B. durch Polizeirecht, Sozialrecht, Verwaltungsrecht, Grundrechte. Das Zivilrecht regelt das Verhältnis zwischen Bürger und Bürger, meistens aus Verträgen, aber auch aus Ansprüchen z. B. an Schadensersatz- oder Unterhalt. Das Strafrecht regelt das Verhältnis im Dreieck zwischen Bürgern und Staat bei Straftaten wie Körperverletzungen, Diebstählen, Urkundenfälschung etc., die die elementaren Freiheitsrechte verletzen. Das Zivilrecht geht davon 39 40
Vgl. Habermas (2001). Roehl (1999).
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aus, dass sich streitende Parteien vor Gericht am Ende einvernehmlich auf die Auslegung eines Gesetzes einigen, dort geht es also nicht um die Zumessung von Strafen, sondern um die Verteilung von Lasten, aber eben auch auf Grundlage eines Urteils ,im Namen des Volkes‘. Die Vollstreckung des Urteils wird quasi den Parteien überlassen, die dann selbstständig auf die Heuristik zurückgreifen müssen. Das Strafrecht dagegen fügt den hoheitlichen Zwang ein. Dem Täter, der eine strafrechtswidrige Tat begangen hat, tritt nicht der einzelne Geschädigte, sondern die Gesellschaft als nicht nur urteilende, sondern auch vollstreckende Rechtsgemeinschaft entgegen. Das gilt unabhängig davon, ob die Strafe mehr im Sinne einer absoluten oder einer relativen Straftheorie und im letzteren Fall eher im Sinne der Spezial- oder der Generalprävention verstanden und ausgestaltet wird (vgl. die Paragraphen §§ 46 I 1, 46 I 2 und 47 StGB). In welchem der genannten Rechtsgebiete auch immer, von wem auch immer ein Urteil gefällt und vollzogen wird, seine kritische Überprüfung liefe wieder auf ein Urteil am Leitfaden einer Heuristik hinaus. Dazu gibt es den Weg in die höheren Instanzen. Erst die höchstrichterliche Entscheidung bekommt einen rechtspolitischen Charakter. Wer ihre Legitimität infrage stellen will, muss sich an den Gesetzgeber wenden. Und auch der wird eine Heuristik brauchen.
VI. Die Theorie teleologischer Urteile und das Völkerrecht Der Übertragung dieses Ansatzes auf das Völkerrecht stehen nun einige Bedenken und Einwände entgegen, die ich durchaus ernst nehme. Die beschriebene Heuristik41 dient der Prüfung des gegen willkürliche Gewalt gerichteten Anspruchs rechtserhaltender Gewalt. Sie wird weithin mit der Lehrtradition des Gerechten Krieges42 assoziiert und ist insofern mit der vom modernen Völkerrecht überwundenen Legitimation von Kriegen kontaminiert und wird deshalb weithin abgelehnt.43 Mit der UN-Charta soll es kein ius ad bellum im Sinne einseitiger Selbstermächtigung oder gar von Gnaden der Sieger geben, sondern nur noch ein von einer unparteiischen und unabhängigen internationalen Rechtsgemeinschaft getragenes ius contra bellum. Der durch die Auswechslung eines Wörtchens bezeichnete Unterschied mag zunächst marginal erscheinen, ist aber in seinen friedens- und sicherheitspolitischen Konsequenzen in zweierlei Hinsicht enorm. Das möchte ich im Folgenden erläutern.
41
Z. B. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), § 102, dort etwas missverständlich Kriterienkatalog genannt. 42 Vgl. Aird et al. (2003); Beestermöller/Haspel/Trittmann (2006). 43 Zur ziemlich verwickelten Diskussion im deutschen Protestantismus im Verhältnis zur angelsächsischen Debatte vgl. Haspel (2002); von Schubert (2013), S. 49 – 64.
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1. Besonderheiten des Völkerrechts Im Völkerrecht – hier Konfliktvölkerrecht und Völkerstrafrecht – liegen die Dinge in mancher Hinsicht anders als in innerstaatlichen Rechtsordnungen. Der Weg durch die Instanzen ist kurz, weil die Hierarchien flach sind und das Gewebe der Gesetze höchst lückenhaft. Wolfgang Weiss44 zeigt eindrucksvoll, wie komplex man sich die Herausbildung z. B. allgemeiner Rechtsgrundsätze des Völkerrechts vorstellen muss. Er nennt das Verbot des Rechtsmissbrauchs, der Rückabwicklung ungerechtfertigter Bereicherung, die Verjährung, das rechtliche Gehör, die Waffengleichheit der Parteien, die Einrede höherer Gewalt45, den Grundsatz pacta sunt servanda46, den Grundsatz von Treu und Glauben47, das Notwehrrecht, den Grundsatz nulla poene sine lege, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Rechtssicherheit, Beständigkeit und Vorhersehbarkeit, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Individualisierung der Strafzumessung, Grundsätze der Gerechtigkeit, des fair trial und des Grundrechtsschutzes, den Bestimmtheitsgrundsatz und den Satz lex specialis derogat legi generali, das Verbot unterschiedsloser Angriffe sowie den Grundsatz in dubio pro reo48. Weiss spricht auch ihre Funktion als Lückenfüller an, sobald andere Rechtsquellen versiegen sowie als Motor neuer Entwicklungen wie z. B. des ius cogens und vor allem als telos der Auslegung von Völkerrechtsnormen. Gibt es eine Möglichkeit, dieser Aufzählung die Beliebigkeit und Zufälligkeit zu nehmen? Die beim innerstaatlichen Recht bewährte Heuristik bietet einen methodischen Leitfaden, um all diese Funktionen des noch vergleichsweise jungen Völkerrechts aufzunehmen und sie in eine übersichtliche Ordnung zu bringen. Wenn nach der Analogie innerstaatlicher Rechtsordnungen eine Völkerrechtsordnung gesucht werden soll, so kann diese sich historisch nicht auf eine ausgereifte Gewaltenteilung stützen. Es gibt bei den Vereinten Nationen zwar eine Vollversammlung als Gesetzgeberin z. B. der UN-Charta. Es gibt jedoch als Exekutivorgan nur einen historisch willkürlich zusammengesetzten Sicherheitsrat, der zudem kein Gewaltmonopol, sondern nur ein Gewaltautorisierungsmonopol innehat, das er zudem bis heute recht beliebig handhabt. Das Konfliktvölkerrecht behandelt hauptsächlich den internationalen bewaffneten Konflikt, was den Akteuren im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zumutet, auf weite Strecken bis in die taktische Ebene hinein selbstständig zu entscheiden, welche aus der Fülle der all necessary means im konkreten Fall geboten, erlaubt oder verboten sind. Auch die internationale Rechtsprechung steht bis heute erst in den Anfängen.49 Gleichwohl können alle Beteiligten ihre Entscheidungen bereits jetzt an gemeinsamen Grundsätzen und Kriterien entlang der folgenden Heuristik oder Topik ausrichten und so die kulturelle Evolution in Richtung auf eine größere 44
Weiss (2001). Ebd., S. 398 f. 46 Ebd., S. 404. 47 Ebd., S. 413. 48 Ebd., S. 422 f. 49 Gareis/Varwick (2014), S. 39 – 51. 45
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Konsistenz und Regelungsdichte des Völkerrechts und auf mehr Völkerrechtstreue vorantreiben. 2. Autorisierung: Legitima Potestas Wer ist angesichts von Konflikten entsprechend handlungsbefugt, darf Gesetze erlassen, darf Rechtsurteile fällen und sie vollstrecken? Wer erlässt die Regeln, und wer trifft berechtigterweise konkrete Entscheidungen über den Vollzug rechtserhaltender Gewalt, und wer führt diese schließlich aus? Wer regelt, wer autorisiert und wer vollzieht den Schutz oder gar die Inobhutnahme eines in seiner elementaren Freiheit bedrohten Menschen und den dazu gegebenenfalls erforderlichen Einsatz von Zwangsmitteln, ob es sich nun um Buß- oder Strafgeldeintreibungen, Pfändungen, Gefängnisstrafen oder Waffengebrauch handelt? Das abstrakte ethische Prinzip hinter der Frage nach den autorisierenden und autorisierten Gewalten ist die von fremder Weisung unabhängige Überparteilichkeit: Wir suchen einen berufenen ,Gesetzgeber‘, einen ,Richter‘ und einen ,Vollstrecker‘. Alle drei müssen angesichts der Dimensionen eines gewaltträchtigen Konfliktfalles die verallgemeinerungsfähigen Interessen aller potenziell Betroffenen unparteiisch repräsentieren. Nur in der Ausnahmesituation, in der keine geordnete Gewalt da oder bereit ist, ist einem Opfer von Gewalt jedermann zur angemessenen Nothilfe verpflichtet. Dieser allgemeine Grundsatz ist durchaus auf das Völkerrecht übertragbar.50 Mit der Frage nach der legitimen Entscheidungsgewalt steht völkerrechtlich der zentrale Begriff der Souveränität zur Debatte.51 Wenn man Souveränität soziologisch-systemisch als höchste Entscheidungs- und Herrschaftsgewalt in sozialen Beziehungen und somit als Volkssouveränität versteht, dann beinhaltet die vollendete Souveränität nach außen die Verfügung von Gemeinschaften über sämtliche Hoheitsrechte und ihre Unabhängigkeit von Fremdherrschaft und insofern auch die Gleichstellung der Gemeinschaften zueinander, indem diese sich ihres gleichen Ranges wechselseitig versichern. Tun sie das nicht, ist zumindest eine von ihnen nicht souverän. Nach innen stellt sich die Frage, welche Instanzen die so definierte souveräne Gemeinschaft lenken, also den Souverän qua Amt darstellen und repräsentieren sollen. Wer Souveränität nur als äußere denkt, denkt nur an die dauerhaft unabhängige Entscheidungsgewalt. Nach innen beinhaltet der Begriff der Souveränität in einer intakten Gemeinschaft jedoch zusätzlich das Prädikat des Unparteiischen, der Machtbalance und der Verpflichtung auf eine als legitim anerkannte Ordnung. Sonst wäre die Gemeinschaft nicht geschlossen und intakt, sondern geteilt und im Streit, und sei es auch nur unterschwellig. Unterhalb der Ebene entwickelter Staatlichkeit kann in einer konkreten historischen Situation und für einen begrenzten Personenkreis ein Vater, eine Mutter oder ein Familienrat, ein Häuptling, Richter oder ein Komitee, ein Präsidium oder Vorstand für die Mitglieder der Gemeinschaft als anerkannter Gesetzgeber, Richter und Herrscher infrage kommen, wenn sie sich im Regeln, Urteilen 50 51
Vgl. Ziolkowski (2010), S. 30 – 36. Balke (2009); Grimm (2009); Schubert/Klein (2011); Weber (2011).
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und Handeln als unparteiisch und besonnen bewähren und ihnen ihr ,Amt‘ per Akklamation oder einfach nur durch schlüssiges Handeln zuerkannt oder gar durch Gesetz bestätigt wird. In dem Maße, in dem aus Vergemeinschaftung durch gesetzliche Festlegung Staatlichkeit hervorgeht, stellt sich die Frage, welches öffentliche Gesetz die Gewalten definiert. Das klassische Beispiel für eine derart legitime Autorisierung ist die geschichtstheologische Stiftung und Übertragung der Königswürde und dynastischen Erbfolge ,von Gottes Gnaden‘. Die ältere Fassung der Forderung nach einer legitima potestas trug deshalb auch den Namen auctoritas principis. Das Kriterium ist hier die biologische Abstammung, ergänzt durch eine höhere Salbung. Die Gottheit verleiht oder entzieht dem Thronfolger – nach dem Modell der biblischen Könige Saul, David und Salomo – göttliche Weisheit und steht so als Garant der Unparteilichkeit, kritisch begleitet durch prophetische Inauguration und Ermahnung. Bis weit in die Neuzeit hinein hatte diese Tradition Bestand. Nicht nur die Wittenberger Reformation lebte z. B. noch ganz in diesem Denken, obwohl sie bereits zwischen ,Person‘ und ,Amt‘ unterschied und Kirche und Staat als zwei klar unterschiedene ,Regimente‘ Gottes begriff. Lutherische Theologen konnten sogar noch weit über 1918 hinaus, übrigens unter Verwischung der genannten Unterscheidungen, daran festhalten.52 Die klassische naturrechtliche Variante ist die Legitimation des „Leviathan“ bei Thomas Hobbes aufgrund eines Gesellschaftsvertrages, bei dessen Abschluss die Bürger ihr Selbsterhaltungs-, Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht auf die Person des Souveräns übertragen, dessen Vollmacht selbst nicht durch den Vertrag gebunden ist.53 Ähnliches gilt auch für Carl Schmitt.54 Bei Rousseau bleibt die Vollmacht nach dem Grundsatz ,Alle Gewalt geht vom Volk aus‘ bei den Bürgern, sie materialisiert sich allerdings in einem kollektiven, quasi-mythischen Gemeinwillen.55 Kant schließlich überwindet dies durch die Formalisierung des Rechtsbegriffs und seine gewaltenteilige Differenzierung, ohne allerdings den letzten Schritt zum Parlamentarismus weiterzugehen. Den entscheidenden Durchbruch zur modernen parlamentarischen Demokratie verdanken wir dem Sieg des Repräsentationsprinzips bei den amerikanischen founding fathers Hamilton, Jay, Jefferson und Madison.56 In der globalisierten Welt stoßen nun aber patrimonial, neopatrimonial, monarchisch, tyrannisch, autokratisch, oligarchisch und demokratisch verfasste Gesellschaften aufeinander – gelegentlich herrschen anarchische Zustände. Zivilisationsprozesse laufen mal parallel, mal asynchron, mal fördern sie, mal hemmen sie sich gegenseitig. Das ist die Situation der globalen Asymmetrie. In einer konsolidierten westfälischen Ordnung gilt das Prinzip der Staatensouveränität. Seit 1945 unter-
52
Vgl. Anselm (2006). Vgl. Münkler (2001); Obermaier (2004); Hüning (2005), Kersting (2009); Höffe (2010). 54 Vgl. Schmitt (1938); vgl. Großmann (2004); Obermaier (2004). 55 Vgl. Mensching (2000); Durand (2007); Taureck (2009); Soëtard (2012). 56 Vgl. Marschall (2005); Weber (2011).
53
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stellen sich die Nationalstaaten de jure einer internationalen Rechtsordnung,57 die wiederum auf intakte Systeme kollektiver Sicherheit zählt. Wen also sollen Regierungen reifer Industriestaaten als zumindest relativen Souverän anerkennen in einem Land, das sich bestenfalls in einem langwierigen politischen Übergangsund Befreiungsprozess befindet, z. B. von einer Nachkriegsanarchie über eine Militärdiktatur hin zur Etablierung eines entwickelten Rechtsstaates? Wie sollen solche und andere Asymmetrien und Ungleichzeitigkeiten bewältigt werden? Nach der kantischen Rechtsidee verzichten die Rechtsträger vom Bürger bis hin zu Staaten und Staatenbünden darauf, kollektive moralische Prinzipien und sozioökonomisch-politische Einflusssphären rechtsförmig zu vereinbaren und rechtsförmig festzulegen, welche Lebens- und Gesellschaftsentwürfe erstrebenswert sind. Das überlassen sie vielmehr dem gesellschaftlichen Prozess unter der Voraussetzung eines rechtsförmig vereinbarten Gewaltverzichts. Sie verzichten darauf, mit offenen oder sublimen Gewaltmitteln Machtsphären zu besetzen, Herrschaftsformen zu exportieren, Märkte zu monopolisieren und Bevölkerungen kulturell zu disziplinieren. Wer einsieht, dass von dieser Lösung alle profitieren, ist bereit, auch sehr grundsätzliche Unterschiede und Gegensätze zwischen verbreiteten politischen Weltbildern, Konsumgewohnheiten und Religionen einfach stehen zu lassen. Es reicht die Respektierung formaler Voraussetzungen universaler Handlungsfreiheit. Der globalen Asymmetrie kann also prinzipiell Rechnung getragen werden. Keine Gesellschaft muss sich auf bestimmte Produktionsweisen, Marktanteile, Industriestandards, ja nicht einmal auf demokratische Prinzipien verpflichten. Auch ein Monarch kann legitim sein, wenn er dauerhaft unparteiisch herrscht und richtet und sich als Hüter der Regeln bewährt. Vermutlich kommt zwar der entwickelte Parlamentarismus dem Modell der genannten Rechtsidee am nächsten, aber bekanntlich haben sich nach innen gefestigte parlamentarische Demokratien bis zum heutigen Tag nicht daran hindern lassen, z. B. nach außen munter gegen das Recht zu handeln. Die etablierten Demokratien sollten ihr Sendungsbewusstsein also deutlich mäßigen. Vielmehr ist immer wieder ein befristetes, provisorisches, kontextsensibles Urteil darüber erforderlich, möglich und erwünscht, welche politischen Kräfte auch in Zonen traditionaler oder schwacher Staatlichkeit de facto am ehesten die Norm der Überparteilichkeit und damit den Anspruch einer legitima potestas erfüllen und der Würde und dem Ideal hoheitlicher Gewalten relativ am nächsten kommen. Dabei ist durchaus abzuwägen zwischen kurzfristig wirksamen Kräften, z. B. einem Runden Tisch oder einem Übergangsrat, und langfristigen Kräften, die auf dynastischer Tradition, nationaler Identität oder tradierten Stammesordnungen gründen oder sich auf dem Wege der Rechtsstaatsbildung und der Integration in die internationale Staatengemeinschaft befinden. Entscheidend ist aber weniger dieses oder jenes Modell, sondern das Streben nach gemeinsamen Institutionen, in denen die Mächte überhaupt miteinander verhandeln und Urteile fällen, die dann auch revidiert werden können. Das können die Vereinten 57
Vgl. Haspel (2002), S. 107 – 125.
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Nationen sein, müssen es aber nicht, insbesondere wenn deren Institutionen versagen. Das Völkerrecht richtet seinen Geltungsanspruch in erster Linie an ,Staaten‘ und ,Systeme kollektiver Sicherheit‘. Joachim Krause weist anhand einer Fülle von gut belegten Fällen nach, dass auch Staaten einschließlich Deutschlands und seiner „prioritären Mitstreiter“ die Idee der Gemeinsamen Sicherheit, das Modell des Systems kollektiver Sicherheit im Allgemeinen und die Autorität des Sicherheitsrates im Besonderen immer wieder gering geachtet oder sogar beschädigt haben.58 Immer wieder hätten Partikularinteressen das konsequente und einheitliche Auftreten gegen die Rechtsbrecher torpediert: bei der Befreiung Kuwaits 1991, in Kroatien und Bosnien-Herzegowina nach 1991, in Ruanda 1994, im Kosovo 1999, im Irak in den gesamten 1990er-Jahren, im Kongo und im Sudan seit Jahrzehnten bis heute. Noch gar nicht mitbedacht ist, dass längst auch nicht-staatliche Akteure und hybride Koalitionen aus staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren einbezogen werden müssten.59 Eine endlich konsequente, glaubwürdige und nachhaltige Pflege dieses Modells steht ganz weit oben auf der Prioritätenliste der internationalen politischen Ethik, insbesondere wenn es auch für asymmetrische Konflikte in Betracht gezogen werden soll. In den Internationalen Beziehungen breitet sich stattdessen ganz offensichtlich erneut die Überzeugung aus, dass man sich auch auf den Westen und seine nach den Weltkriegen leidvoll errungenen Werte heute nicht mehr verlassen könne und man sich daher besser auf anarchische Verhältnisse einzustellen habe. Wer sich entsprechend verhält, stößt aber auf Widerstand – und wird erneut konfrontiert mit dem Kampf um das Recht. In diesem Kampf leitet die Forderung der legitima potestas dazu an, die Integrität, Unparteilichkeit und Rechtstreue der Hüter des Rechtes zu nutzen. 3. Rechtfertigungsgrund: Causa Iusta Aus welchem Grund und Anlass erfolgt ein Akt rechtserhaltender Gewalt? Das abstrakte Prinzip hinter der Forderung nach einem gerechten Grund als auch nach einer rechten Absicht ist das Menschenrecht der primär Bedrohten und der jeweils Schwächeren. Hier gilt es zu prüfen, ob wirklich die schuldhafte Verletzung elementarer Rechtsgüter im Sinne unverzichtbarer Freiheitsbedingungen droht oder eingetreten ist. Dazu gehören beispielsweise Leben und Eigentum sowie Sicherheit und Integrität von Personen oder des gesamten Gemeinwesens und elementare Güter und Werte des Gemeinschaftslebens. Jene Rechtsverletzung kann leicht oder schwer sein. Der Diebstahl einer Sache ist eher leicht zu verkraften. Für die Verletzung der körperlichen Integrität durch Vergewaltigung gilt das nicht. Ein Mord schließlich nimmt dem Opfer seine physische Existenz, ein Genozid sogar einem ganzen Volk. Der Schutz eines hohen Rechtsgutes rechtfertigt im Strafrecht einen weiten Strafrahmen und darin ein hohes Strafmaß. Lässt sich die Frage nach dem Rang 58 59
Krause (2010), S. 300 – 311. Gareis/Varwick (2014), S. 54.
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von Rechtsgütern aufs Völkerrecht übertragen? Das moderne Völkerrecht ruht nach wie vor auf dem Souveränitätsprinzip der Westfälischen Staatenordnung. Folglich ist die Staatensouveränität insbesondere in der Tradition des Haager Rechts das höchste Rechtsgut. In der Tradition des Genfer Rechts tritt der Schutz der Kriegsopfer hinzu, in der Debatte um eine Internationale Schutzverantwortung die generelle Wahrung der Menschenrechte. Alles kommt zusammen in der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Der Wahrung dieser Rechtsgüter haben alle Maßnahmen rechtserhaltender Gewalt in internationalen Beziehungen zu dienen.60 Die Kriterien, die die Forderung des gerechten Grundes erfüllen, sind noch genauer zu bestimmen: Wie lässt sich die Schwere des Bruchs eines international verbrieften Rechtes und des darauf folgenden bewaffneten Konfliktes bestimmen? Jetzt kommt die bestimmende Urteilskraft zum Zuge in Gestalt einer sorgfältigen Konfliktklassifikation, die im Völkerrecht und folglich auch in einer Ethik rechtserhaltender Gewalt eine enorme Bedeutung hat. Die entscheidende Schwelle ist die zwischen unbewaffnetem und bewaffnetem Konflikt. Die Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft sollen in jeder Art von bewaffnetem Massenkonflikt mit guten Gründen angemessen reagieren können. Voraussetzung ist ein Regelwerk kollektiver zwischenstaatlicher Friedenssicherung, wie es in der UN-Charta niedergelegt ist. Und diese Charta verbietet zwischenstaatliche Gewalt (ius contra bellum). Fortan ist der Krieg als Mittel zwischenstaatlicher Konfliktregulierung geächtet. Sobald ein Staat gegen dessen Willen und Zustimmung in die Hoheitsrechte eines anderen Staates eingreift, und das kann er ja nur gewaltsam, steht das Souveränitätsprinzip und damit das höchste internationale Rechtsgut auf dem Spiel, das Recht des Staatsvolkes nämlich auf Ausübung seiner souveränen Gewalt auf seinem Staatsgebiet und im zwischenstaatlichen Verhältnis. Zum Recht eines Staatsvolkes gehört selbstverständlich auch die freigewählte Teilung in mehrere Staaten sowie die teilweise oder gemeinsame Fusion oder Koalition mit anderen Staatsvölkern. Für Streitigkeiten, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, gebietet die Charta zunächst Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung nach Artikel 33 ff., die aber auch gravierende Folgen für die Betroffenen haben können. Die Verletzung der Souveränität eines Volkes durch einen Angriff auf die Unabhängigkeit seines Staates und seine territoriale Integrität – und nur diese Verletzung – rechtfertigt jedoch die zwei folgenden Ausnahmen vom allgemeinen zwischenstaatlichen Gewaltverbot. Die Charta erlaubt in Artikel 51 zum einen die provisorische Selbstverteidigung nach Analogie der Notwehr, die somit keine Rückkehr zu einem freien Kriegsführungsrecht darstellt.61 Strittig sind in der weiteren Auslegung nur die Abgrenzung zwischen verbotener Prävention und erlaubter Präemption im Fall gegenwärtiger unmittelbar bevorstehender Angriffe sowie die Zulässigkeit der Abschreckung mit unterschiedslos wirkenden Massenvernichtungswaffen. Die Charta geht aber noch erheblich weiter, denn Arti60 61
Ebd., S. 104 – 166. Vgl. Haspel (2002), S. 93 – 97.
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kel 51 ist nur als Provisorium zu verstehen. Der angegriffene Staat soll idealtypisch ebenso wie der Angreifer an ein und demselben System kollektiver Sicherheit teilhaben, sodass auch die übrigen Mitglieder des Systems dem Angreifer gemäß der Artikel 39 ff. (Kapitel VII) der Charta notfalls mit Gewalt entgegentreten, und zwar ebenfalls nicht aus freier Willkür, sondern nach einem gemeinsamen Gesetz derjenigen Freiheit, die jedes Mitglied gegen jedes andere geltend machen kann. Gestützt und begrenzt wird die zweite Ausnahme durch die Autorisierung durch eine supranationale richterliche Instanz.62 Das wurde schon unter der Rubrik legitima potestas verhandelt und zeigt, wie die einzelnen Forderungen der Heuristik aufeinander bezogen sind. Es wird oftmals übersehen, dass Systeme kollektiver Sicherheit vor allem nach innen wirken und deshalb die Kontrahenten einbeziehen sollen. Konflikte sollen sich nicht zu bewaffneten Konflikten wandeln und wenn, dann wieder in die Zone unbewaffneter Regulierung zurückgeführt werden, deshalb der Name ius contra bellum. Zu dessen Ausübung oder Vollstreckung bedarf es hinreichend bewaffneter Staaten, die sich aber der Charta und bei kollektiven Maßnahmen einem Autorisierungsmonopol, vorzugsweise des Sicherheitsrates, aber auch regionaler Staatengemeinschaften unterwerfen. Mir ist bewusst, wie weit die Staatenwelt von ihren eigenen Ansprüchen entfernt ist und welch anspruchsvolle konkrete Utopie das Kapitel VII der Charta formuliert. Aber diese ist immerhin wirklichkeitsnäher als die gesamte Debatte um die Internationale Schutzverantwortung,63 weil sie das Handeln von Staaten integriert und nicht übersteuert. Auch dann besteht immer noch die Gefahr, dass solche Systeme ihre Macht am Ende doch nicht nach innen, sondern wie im historischen Fall von 1914 nach außen wenden und andere Systeme angreifen. Deshalb sollten es nicht Geheimbünde sein, sondern öffentliche Rechtsgemeinschaften, die sich wechselseitig berechenbar machen und die offen sind für die schrittweise Aufnahme neuer Mitglieder. Systeme kollektiver Sicherheit sind keine Wertegemeinschaften, sondern Interessengemeinschaften mit dem einzigen gemeinsamen Interesse, ihre Interessen friedlich miteinander abzustimmen. Eine dritte Ausnahme vom Gewaltverbot ist bewusst nicht rechtlich kodifiziert, sondern der politischen Verantwortung der Staatengemeinschaft anheimgestellt. Die Rede ist von der Humanitären Intervention in das Hoheitsgebiet eines souveränen Staates nach den Regeln der Verantwortung für den Schutz von Individuen und der allgemeinen Menschheitsrechtsordnung in vier definierten Fällen: Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberung.64 Wer sich auf diese Ausnahme beruft, muss allerhöchste Vorsicht walten lassen. Denn sie kann unversehens mit der Staatensouveränität auch die Volkssouveränität als höchste Rechtsgüter bedrohen. Die Humanitäre Intervention zum Schutz von Menschenrechten ist also nur als befristete Stellvertretung der Volkssouveränität legitim 62
Vgl. ebd., S. 98 – 99; Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), Abschn. 3.3.3. 63 Vgl. von Schubert (2013), S. 46, Anm. 21. 64 Vgl. Haspel (2002), S. 99 – 106; Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), Abschn. 3.3.2.
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und setzt voraus, dass dieser anders nicht Geltung verschafft werden kann. Gerd Hankel schlägt sogar vor, die Humanitäre Intervention anders als die beiden völkerrechtlich geregelten Ausnahmen vom Gewaltverbot nicht konflikt-, sondern friedensvölkerrechtlich auszugestalten, d. h. Kollateralopferabwägungen dort grundsätzlich zu verbieten.65 Würde sie dann aber nicht unmöglich werden? Alle drei Ausnahmen vom allgemeinen Gewaltverbot beziehen sich auf bewaffnete Konflikte zwischen Staaten als Mitgliedern von Systemen kollektiver Sicherheit. Diese Konfliktklasse trägt den Namen „Internationaler bewaffneter Konflikt“. Gefühlte 90 Prozent des etablierten Konfliktrechts regeln diesen Konflikttyp. Der weit überwiegende Teil gegenwärtiger bewaffneter Massenkonflikte, nämlich aktuell 85 Prozent, gehört aber gar nicht in diese Klasse. Die Konflikte finden zwar auf dem Territorium eines oder mehrerer Staaten statt, auf dem Gefechtsfeld stehen sich aber nicht-staatliche Gewaltakteure und mindestens ein Staat oder Staatenbündnis gegenüber. Um die Konfliktklasse zu erfüllen, müssen die nicht-staatlichen Gewaltakteure allerdings effektive Herrschaftsgewalt über ein Territorium ausüben, ohne jedoch international als Staaten anerkannt zu sein (z. B. Hisbollah, Hamas und PLO/Fatah im Nahen Osten, Drogenkartelle in Lateinamerika, maoistische Rebellen in Indien, Separatisten in der Ukraine). Diese Konfliktklasse trägt den Namen „nichtinternationaler bewaffneter Konflikt“. Den nicht-staatlichen Konfliktparteien gesteht das Völkerrecht im Gegensatz zu den staatlichen Kräften prinzipiell kein Kampfführungsrecht und keine Kollateralschadensregel zu. Ihre Kämpfer müssen also damit rechnen, sich für Kampfhandlungen mit allen Folgen vor staatlichen Gerichten verantworten zu müssen. Allen am Konflikt beteiligten Parteien wird dennoch durch das hier einschlägige Zusatzprotokoll II zu den Genfer Abkommen von 1977 ein gemeinsames Interesse am Schutz der Zivilbevölkerung und der Kriegsopfer unterstellt und nahegelegt. Verletzen staatliche Einheiten oder nichtstaatlichen Gewaltakteure das Recht im bewaffneten Konflikt, gilt dies nicht als interne Angelegenheit, sondern als Kriegsverbrechen, das international geahndet wird. Da nicht-staatliche Akteure neben geringeren Neigungen und Fähigkeiten jedoch auch einen eher geringen Anreiz haben, sich an das Genfer Abkommen zu halten, schonen sie selbst oftmals weder Beteiligte noch Unbeteiligte. Neben weiteren Vorbehalten lässt staatliche Akteure auch das zögern, nicht-staatliche Kämpfer aufzuwerten, indem sie ihnen Opferschutz gemäß dem gemeinsamen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 1949 oder dem Zusatzprotokoll II zu den Genfer Abkommen von 1977 gewähren. Eine besondere Herausforderung stellt die target list, also die Bestimmung von Personen zu militärischen Zielen. Nur wer an Kampfhandlungen direkt und kontinuierlich beteiligt ist, so die Auffassung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), darf zum militärischen Ziel erklärt werden. Eine m. E. dritte, bisher jedoch nicht anerkannte Konfliktklasse ist das, was man als ,asymmetrischen internationalen Konflikt‘ zwischen Staaten und bewaffneten Organisationen, die keinerlei Hoheitsgebiet kontrollieren, bezeichnen könnte. Die Rede 65
Hankel (2011), S. 104 – 112.
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ist vom Kampf gegen den Terror privater und global agierender Gruppen. Terror wird hier verstanden als unterschiedslose und ungeregelte Gewaltausübung. In hohem Maße umstritten ist, ob und inwieweit ein nicht-staatlicher Terrorangriff das Recht auf Selbstvereidigung gegen eine host nation der Terrororganisation (safe haven) auslösen kann, ob und inwieweit Haager und Genfer Recht überhaupt für diese Konfliktklasse in Betracht kommen und inwieweit Terroristen Menschenrechtsschutz gewährt werden muss. Das betrifft insbesondere das targeted killing oder selective killing von Angehörigen und Unterstützern von Terrororganisationen jenseits des territorial eingegrenzten Gefechtsfeldes. Die damit beauftragten staatlichen Einheiten operieren mit konfliktrechtlichen Befugnissen in einem ansonsten friedensrechtlich geordneten Umfeld. Der Kampf gegen den Terror folgt damit der Logik des Terrors, nimmt selbst Züge des klassischen Staatsterrors an und weitet die Kampfzone aus bis tief in die Sphäre des bürgerlichen Alltags. 4. Richtige Absicht: Recta Intentio Wozu dient und was bewirkt ein Akt rechtserhaltender Gewalt? Was genau soll erreicht werden? Was ist der Zweck? Welche erwünschten und unerwünschten Nebenwirkungen gibt es? Die Frage lautet also nicht, wodurch der Akt veranlasst, ausgelöst und verursacht wurde, sondern was er seinerseits verursachen und bewirken kann oder soll.66 Diese Frage hat eine gewisse Brückenfunktion, sie nimmt einerseits das Anliegen des gerechten Grundes auf und verbindet sie mittels der Suche nach den Zwecken rechtserhaltender Gewalt mit der Forderung nach Verhältnismäßigkeit. Es ist nun zu klären, ob wirklich die Aufrichtung, Bewahrung und Wiederherstellung der Rechtsgüter aller Betroffenen mit allen Konsequenzen angestrebt wird oder ob sich nicht doch illegitime Motive, Parteilichkeiten oder unerkannte Nebenwirkungen einmischen. Die gute Absicht wird daran deutlich, dass die Opfer der Gewalt wieder in ihre Rechte eingesetzt, die Täter und Mitläufer angemessen zur Rechenschaft gezogen werden, ein als rechtmäßig anerkannter Status Quo wiederhergestellt, vollendete Tatsachen maßvoll anerkannt, der Rechtsfriede garantiert und alle betroffenen Sphären politisch und rechtlich mit Augenmaß in die friedliche Normalität zurückgeführt werden. Hier öffnet sich der Fokus auf alle sozialethischen, rechtlichen und politischen Fragen, die durch militärische Operationen im engeren Sinne berührt werden. Die gute Absicht zeigt sich auf jeden Fall daran, dass die offizielle Begründung der Gewalthandlung als rechtserhaltend nicht zum Deckmantel genommen wird, um andere Interessen durchzusetzen. Insbesondere die Eigenlogik von Gewaltkulturen ist an dieser Stelle zu bedenken. Gewalt gebiert nur allzu leicht Gewalt, lässt nach dem starken Mann rufen, verroht die Gemüter ganzer Generationen, stiftet kriegsökonomische Anreize und befriedigt die Rachsucht. Auf der Bühne der Diplomatie kann es dann um Prestige, Gesichtswahrung und die Sicherung von ,Einfluss-
66
Vgl. Haspel (2002), S. 129 – 132.
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sphären‘ gehen. Solche Motive sind allesamt unzulässig und eignen sich aus ethischer Sicht nicht zur Legitimierung von Gewalthandlungen. 5. Verhältnismäßigkeit: Proportionalitas Wie muss ein Akt rechtserhaltender Gewalt beschaffen sein? Das allgemeine Prinzip hinter der Forderung nach Verhältnismäßigkeit und weiterer abgeleiteter Forderungen ist das Menschenrecht aller von der rechtserhaltenden Gewaltausübung Betroffenen einschließlich des ursprünglichen Gewalttäters. Es ist im Strafrecht der sogenannte Strafrahmen, der die Grenzen setzt, in denen überhaupt strafend in Leib, Leben und Freiheit als ,inneres Mein und Dein‘ und in das ,äußere Mein und Dein‘, also in das Eigentum in Gestalt von Sachen, Leistungen und Zuständen von Personen eingegriffen werden darf. Auch moderne staatliche Strafrechtsordnungen kennen in ihrem Strafvollzug die Todesstrafe, Körperstrafen, die Freiheitsstrafe sowie Vermögens- und Geldstrafen. Leitend für die Auswahl aus diesem Katalog sind Straftheorien, die von metaphysischen Gründen für Sühne und Vergeltung bis zu den pragmatischen Gründen der Wiedergutmachung, General- und Individualprävention reichen.67 Wir können auf der Suche nach Analogien von der juristischen Methodenlehre68 lernen: Wir suchen dasjenige Maß an rechtserhaltender Gewalt, das a) geeignet ist, die Verletzung der genannten Rechtsgüter wirksam einzuschränken, das b) erforderlich ist und ausreicht, den Täter in seiner Gewaltausübung wirksam zu hindern und ihm die Früchte seines Verbrechens so weit wie möglich zu nehmen sowie dem Opfer Wiedergutmachung zu verschaffen und dadurch die allgemeine Rechtstreue zu festigen, und das c) angemessen ist, indem es unnötiges Leiden in jeder Richtung ausschließt. Dies wird weiter entfaltet durch die Forderungen der Differentia, Effectivitas, Ultima Ratio. So wie sich im staatlichen Strafrecht das Strafmaß an der Schwere der Schuld bemisst, so bestimmt in der übergreifenden Ethik rechtserhaltender Gewalt bei allen Fällen von Sanktions- und Abwehrmaßnahmen das Ausmaß eines Unrechtes die Wahl der Mittel.69 In Fällen bewaffneter Massengewalt wird dies besonders deutlich: Das äußere Gewicht des Unrechtes – Zahl der Toten, Grad der Zerstörungen, Dauer der Angriffe – zählt dabei durchaus, aber nicht allein. Entscheidend ist vielmehr die innere Seite des Organisationsgrades, der Motive und Absichten, der Art und Weise des Vorgehens des Gewaltakteurs sowie deren zeitlicher und programmatischer Zusammenhang. Wird der wirksame Hoheitsanspruch einer Rechtsgemeinschaft insgesamt, unmittelbar und akut mit vernichtender oder erpresserischer Gewalt bedroht oder gelähmt, dann gilt nach innen Staatsnotrecht und nach außen das Recht zur militärischen Selbst- und Bündnisverteidigung. Die aktuell vorherrschen67 Schmidt (2010); Dreher et al. (2011); Hörnle (2011); Montenbruck (2011); Wessels/ Beulke (2012); Rengier (2012); Kindhäuser et al. (2013). 68 Hofmann (2007); Wienbracke (2013). 69 Zur proportionalitas vgl. Haspel (2002), S. 127 – 129 u. 133 – 142.
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den asymmetrischen, nicht-internationalen bewaffneten Massenkonflikte machen die Einhaltung der Verhältnismäßigkeit besonders schwer, denn sie erfordern eine politische Antwort auf die Frage, wann selbst in Gesellschaften mit traditionell hohem Gewaltniveau fortgesetztes Demütigen, Ausbeuten, Foltern, Vergewaltigen, Brandstiften und Morden nicht nur in Plünderung, Brandschatzung, Vertreibung, Versklavung, Massenexekutionen und Völkermord umschlagen, sondern schon zuvor jegliche Form von Rechtshoheit derart pervertieren oder untergraben, dass ihr niemand mehr vertraut. Ein solcher Zustand kann staatsnotrechtliche Maßnahmen im Inneren, Maßnahmen der Selbstverteidigung oder gar eine humanitäre Intervention vonseiten Dritter nicht nur rechtfertigen, sondern geradezu gebieten. Letzteres widerspricht allerdings dem Kriterium der Staatensouveränität, insbesondere dann, wenn ein Sturz der Regierung für notwendig gehalten wird, um die gebotene Schutzpflicht zu erfüllen. Dieser gravierende Widerspruch kann nur durch eine legitime supranationale Instanz aufgehoben werden. Es gibt überdies viele Formen und Stufen international rechtserhaltender Gewaltausübung. Hierzu gehören der diplomatische Protest, die forcierte diplomatische Vermittlung zwischen Konfliktparteien, das Einfrieren von Bankkonten und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Gewaltakteuren, die Einleitung eines internationalen Strafverfahrens, das wirtschaftliche Embargo, eine massive show of force, die Bewaffnung des legitimen Widerstandes, wenn es einen solchen gibt, und schließlich der militärische Angriff, im äußersten Fall sogar mit dem Vorsatz der Tötung.70 Bei der Bemessung der anzuwendenden Gewaltintensität stellen sich die folgenden Fragen: Wen treffen sie alles? Werden unbeteiligte Personen, Tiere, Sachgegenstände und die Umwelt nach Möglichkeit geschont? Trifft die Gewalt den Gegner und was bewirkt sie bei ihm? Werden Leid und Schaden auf das notwendige Mindestmaß begrenzt? Sind seine Wirkungen nicht schlimmer als das durch den Gewalttäter verursachte Übel? Wurden alle wirksamen milderen Mittel der Konfliktregelung in Erwägung gezogen und gegebenenfalls erprobt? An diesem Punkt ist eine fundamentale Unterscheidung zu bedenken, nämlich die zwischen der ungeteilten Menschenrechtsethik unter Friedensbedingungen einschließlich des Polizeirechts auf der einen und der Ethik des Konfliktvölkerrechts auf der anderen Seite. Das Friedensrecht kennt kein Kampfführungsrecht, es muss deshalb auch nicht den Kombattanten gegenüber allen anderen Personengruppen privilegieren. Es erlaubt den Schusswaffeneinsatz gegen Personen nur zur Abwehr einer konkreten gegenwärtigen Gefahr für höchstrangige Rechtsgüter. Wenn überhaupt, dann lässt es die Abwägung von menschlichem Leben gegen menschliches Leben und eine Tötungsbefugnis nur bei Bedrohungen „katastrophischen Ausmaßes“71 zu. Das Konfliktrecht aber enthält all dies als konstitutive und standardisierte Bestimmungen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schützt nur die Konfliktopfer und die Zivilbevölkerung, nicht aber den gegnerischen Kombattanten. Der unmittelbare 70 71
Zur ultima ratio vgl. ebd., S. 125 – 127. Bundesverfassungsgericht (2012).
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Schutz höchstrangiger Rechtsgüter konkret bedrohter Individuen wird gegen entsprechend hochrangige militärische Vorteile zur Abwägung gebracht. Das Kampfführungsrecht im Sinne der Berechtigung zu straffreien Tötungshandlungen72 und die Kollateralopferregel als Erlaubnis sogar zur abgewogenen Tötung Unbeteiligter stellen hochproblematische Konzessionen dar.73 Um das Kampfführungsrecht nun im Einzelnen zu erläutern: Der Kombattant darf den Gegner auf Basis einer besonderen Art der Notlage gezielt und straffrei töten. Er befindet sich zwar nicht direkt und persönlich, wohl aber als Teil der Truppe in einer institutionalisierten Notwehr- und Nothilfesituation. Die ethische Brücke ist die kameradschaftliche Treue. Der Kombattant darf den Gegner überall und jederzeit bekämpfen, da dieser stets auch ihn und seine Kameraden bekämpfen kann, wovor er sich und sie zu schützen hat. Nach dem Differenzierungs-Grundsatz, dass nicht Völker, sondern Staaten bewaffnete Konflikte austragen, steht die Truppe als Ganze wiederum in einem wechselseitigen Treueverhältnis zu ihrem Staat nicht zu ihrem Volk oder Vaterland. Das schützt sowohl die Bürger wie auch die Soldaten vor einer mythisch-emotionalen Aufladung ihres Verhältnisses. Der Soldat ist kein Krieger, sondern Träger eines hoheitlichen Amtes. Auch das ist symbolisch angemessen hervorzuheben, um insbesondere die Tapferkeit zu würdigen, mit der die Treue gegebenenfalls auch bis in den Tod gehalten wird. Kann sich eine Ethik rechtserhaltender Gewalt dieser Versachlichung einschließlich ihrer gravierenden Konzessionen anschließen? Nach der Kulmination der neuzeitlichen Rechtsrevolutionen in der UN-Charta in San Francisco im Jahr 1945 darf die Privilegierung des Kombattanten keineswegs ausschließlich mit dem überwundenen freien Kriegsführungsrecht der Staaten assoziiert werden. Denn es ist auch unter dem ius contra bellum eine Formel zu finden, die die alte Regel inter arma silent leges ersetzt.74 Denn Waffen werden und dürfen auch unter dem ius contra bellum nicht schweigen, sondern werden zu seiner Durchsetzung gebraucht, und dies nicht zuletzt angesichts der enormen Brutalität bewaffneter Massengewalt in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. In der Anarchie der Westfälischen Staatenwelt diente das ius in bello einer hochambivalenten Absicht: Im gemeinsamen Interesse aller Konfliktparteien am kriegerischen Waffengang ermöglichten sie den bewaffneten Kampf, die Kampfhandlungen wurden nicht per se gerichtlich geahndet, Kriegsgefangene sollten straffrei heimkehren. Im Interesse der Konfliktopfer, und zwar aller Konfliktparteien, begrenzten sie ihn; Kriegsverbrecher wurden gerichtlich verfolgt. Mit der epochalen Zäsur von 1945 hat sich diese Grundlinie nicht verflüchtigt, wohl aber gravierend verschoben. Ihre klassische Begründung besteht weiterhin darin, dass ein skrupelloser Gewaltakteur nur einen einzigen Unbeteiligten gezielt als Schutzschild missbrauchen müsste, um jeden Gegner mit entsprechend ethischer Selbstbindung wehrlos zu machen und ihn schutzlos willkür72
Vgl. Hankel (2011), S. 62 – 65. Vgl. ebd., S. 37 – 42; Gillner (2014). 74 Frau (2013). 73
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licher Brutalität auszusetzen. Eine Rechtsgemeinschaft darf sich das Gewaltmonopol oder dessen Derivate nicht durch solche Erpressung aus der Hand nehmen lassen. Das ius in bello setzt aber seit 1945 in erster Linie der militärischen Selbstverteidigung nach Artikel 51 und den Schutzmaßnahmen innerhalb von Systemen kollektiver Sicherheit nach Kapitel VII Grenzen. Erst in zweiter Linie gilt freilich, dass auch die Konfliktpartei, die das ius contra bellum bricht, an das ius in bello gebunden ist. Wie Rechtsbrüche gegen das ius contra bellum und solche gegen das ius in bello geahndet werden, ist nach Beendigung des Konfliktes bzw. abseits von ihm eine Frage der internationalen Strafgerichtsbarkeit und nicht der Kampfführung. Noch einmal die Frage: Kann sich eine Ethik rechtserhaltender Gewalt dieser Logik des Rechtes im bewaffneten Konflikt anschließen? Und welche rechtspolitischen Konsequenzen folgen daraus, insbesondere im Blick auf nicht-staatliche Parteien in bewaffneten Massenkonflikten?
VII. Rechtsethisches Fazit und Folgerungen für die Völkerrechtspolitik 1. Abwägungen in rechtstheoretischer Hinsicht Die vorgeschlagene Heuristik führte uns zu den Prinzipien, die jedes normative Urteil über menschliche Handlungen erfüllen muss: Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Freiheit, Eignung, Angemessenheit, Erforderlichkeit und Gerechtigkeit. Sie sind in gewachsenen und reifen Rechtsordnungen implizit fest etabliert. Bei der Verregelung neuer Felder müssen sie die Entwicklung von Kriterien explizit steuern. Formal kommt dem regulativen Ideal des Gerechten Friedens folgend international keine universale moralische Wertegemeinschaft, sondern nur eine gemeinsam definierte Herrschaftsordnung als Rechtsordnung infrage und keineswegs eine Machtordnung, die darauf angelegt ist, sozioökonomische geopolitische Einflusssphären einseitig auszuweiten und auf dem Rücken von Zivilgesellschaften aggressiv abzustecken und zu erobern. In einem gemeinsamen und partnerschaftlichen, also überparteilichen Rahmen rechtlich bindender Abkommen können alle Politikbereiche erfasst und hinsichtlich ihres Entwicklungsstandes an ihren jeweiligen Erfolgsindikatoren gemessen werden. Dabei müssen die Interessen offengelegt und die komplexen Konfliktverläufe aufgeklärt werden, bevor über die Geltung von Legitimitätsansprüchen mit Augenmaß entschieden werden kann. Innere und äußere Konflikte verknäulen sich sonst zu unlösbaren Tragödien mit hoher Kriegsgefahr. Beim Einsatz rechtserhaltender Gewalt insbesondere in internationalen Beziehungen und beim Transfer von Rüstungsgütern müssen alle zuvor erläuterten Forderungen erfüllt sein und jede einzelne in möglichst hohem Maß und mit entsprechend strengen Kriterien, die sich im Übrigen wechselseitig bedingen75 : Wer die Erfüllung einer Forderung dauerhaft verweigert, kann auch den anderen schon nicht mehr nach75
Vgl. Haspel (2002), S. 142 – 143.
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kommen. Aus Sicht der Opfer von Gewaltkonflikten sind der gerechte Grund sowie die rechte Absicht vermutlich die beiden wichtigsten Forderungen. Dem folgt die Verhältnismäßigkeit: Erst dann wird bedeutsam, wer den Schutz bietet. Sehr viel hängt jedoch von der Einschätzung der konkreten Risiken einer Bedrohung im Sinne des Produktes aus Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit ab. Es obliegt den Staaten und den in und von den Staaten ermächtigten Instanzen von Systemen kollektiver Sicherheit, diese Einschätzung verbindlich vorzunehmen und wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Damit tritt die Forderung der legitima potestas insofern im Range wieder vor die causa iusta und die recta intentio. Angesichts maximal gewaltbereiter Gegner und hoher Gewaltintensität müssen die Träger rechtserhaltender Gewalt die Schwelle von der friedensrechtlichen zur konfliktrechtlichen Ausgestaltung einer Konfliktbewältigung gegebenenfalls entschlossen überschreiten, wenn die Staaten und Bürger im Konfliktgebiet sich nicht selbst überlassen werden und die legitimen Ordnungskräfte tatsächlich und mit allen Konsequenzen die Eskalationshoheit anstreben sollen. Selbst in eigener Sache, im Fall der Selbstverteidigung also, kann der Preis dafür zu hoch sein. Dann muss die Rechtsgemeinschaft ihren Machtverlust76 eingestehen und versuchen, sich auf andere Weise zu behaupten und auf die Macht guter Argumente, die Gnade einer höheren Macht und bessere Zeiten hoffen. Umso mehr gilt dies bei fremdnützigen Interventionen im Dienst der internationalen Rechtsordnung.
2. Folgerungen für das Recht im bewaffneten Konflikt Das Recht im bewaffneten Konflikt (law of armed conflict, LOAC) erfüllt mit der UN-Charta die Anforderungen eines vernunftgemäßen Rechtsbegriffs: Das Regelwerk liegt im allgemeinen Interesse etablierter Staaten, es ersetzt die anarchische Staatenwelt nicht, sondern baut auf ihr auf, indem sie mit der UN-Vollversammlung und dem Sicherheitsrat überstaatliche Autoritäten bestimmt. Es beschränkt sich auf die Abwehr von Gefährdungen der äußeren Handlungsfreiheit und stellt diese wieder her. Und es enthält eine Skala von milden bis harten Interventionen. Auch schon mit dem Haager und Genfer Recht war und ist das LOAC von zwei zentralen Grundsätzen und von zwei Entwicklungslinien geprägt.77 Der erste Grundsatz erfüllt die Forderung einer legitimen Autorisierung innerhalb einer anarchischen Staatenwelt und lautet: Bewaffnete Massenkonflikte sind Auseinandersetzungen zwischen Herrschaftsordnungen, also in der Regel Staaten, und nicht zwischen Völkern. Diesem Grundsatz entspricht sowohl die klassische Konfliktdefinition des international armed conflict (IAC), als auch das Prinzip der Unterscheidung zwischen Kombattanten und anderen Personen, die unmittelbar an schädigenden Handlungen teilnehmen dürfen, sowie nicht unmittelbar beteiligten Zivilpersonen und zivilen Objekten. Staaten, die diesem zentralen Grundsatz Geltung verschaffen und damit ver76 77
Stümke (2014). Vitzthum/Proelß (2013), S. 618 – 655.
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hindern wollen, dass Massenkonflikte in Volks- und Bürgerkriege umschlagen, müssen ein hohes Interesse daran haben, dass nicht-staatliche Gewaltakteure, die auf dem Weg sind, umfassende hoheitliche Funktionen wahrzunehmen, in Prozesse wechselseitiger Anerkennung eingebunden werden. Der zweite Grundsatz lautet: Die Garantien des Haager und Genfer Rechts verdanken ihren ethischen Rang weithin der Logik der Gegenseitigkeit, die beide Konfliktparteien, also Angreifer und Verteidiger unabhängig vom Kriegsgrund gleichstellt. Dies gilt jedoch bisher nur für symmetrische Konflikte und auch dann nur weit unterhalb der Menschenrechtsgarantien. Das Reziprozitätsprinzip ,Soldaten dürfen töten, weil auch sie getötet werden dürfen‘ ist eine wesentliche Voraussetzung zur Erhaltung der ethischen Sensibilität und damit ein Grundpfeiler der Ethik des Völkerrechts. Die Repressalienverbote bilden überdies eine Schnittmenge mit dem international human rights law (IHRL). Insgesamt hat das LOAC ebenso sehr eine Gewalt begrenzende wie auch Gewalt legitimierende Funktion. Das nutzen Konfliktparteien immer wieder aus. Im Vergleich zu der Option, dem Kriegsgeschehen völlig freien Lauf zu lassen, ist aber jeder auf Begrenzung gerichtete Konsens, der eine strittige Position außer Streit stellt, ethisch zu begrüßen. Was die zwei Entwicklungslinien betrifft, so zielt das Haager Recht mehr dem zweiten Grundsatz folgend in erster Linie auf die Bestimmung und Eingrenzung des Kombattantenprivilegs, z. B. durch das Verbot bestimmter Geschosse. Das Genfer Recht dient mehr dem ersten Grundsatz folgend dem Schutz der Konfliktopfer. Alles, was darauf zielt, den gegnerischen Staat in seiner militärischen Widerstandskraft zu schwächen, ist erlaubt, alles andere ist nicht erforderlich, also überflüssig und deshalb verboten. Und selbst die militärische Notwendigkeit legitimiert nicht alle Gewalthandlungen, denn erstens sind nicht alle Mittel erlaubt und zweitens gilt das allgemeine Humanitätsgebot der sog. Martens’schen Klausel in allen nicht spezifisch geregelten Fällen.78 Ferner bestimmt das LOAC Kriterien für die Wahl militärischer Ziele nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, insbesondere für die Abgrenzung zwischen dem unzulässigen unterschiedslosen Angriff und dem erlaubten nicht-exzessiven Kollateralopfer, der unzulässigen Perfidie und der erlaubten Kriegslist. Hinzu kommen Verbote von Waffen und Kampfmethoden, der Schutz der Wehrlosen, Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung. Angesichts fehlender Sanktionen nach Art des innerstaatlichen Rechts hängt beim LOAC die Rechtstreue wesentlich an der Motivation der Entscheidungsträger im Blick auf die Kalkulation der Gegenseitigkeit und der politischen Folgen von Rechtsverletzungen sowie an der organisatorischen Implementierung (Rules of Engagement, RoE), Verinnerlichung und Verbreitung der Normen. Hier spielen Schutzmächte, neutrale Staaten, forcierte Moderationen und die Initiativen des UN-Sicherheitsrats und des IKRK sowie zunehmend die Schiedsund Strafgerichtsbarkeit nach internationalem Recht eine wichtige Rolle. 78
Vgl. Münch (1976).
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3. Forderungen an das Konzept des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts Selbst diese noch durchaus lückenhafte internationale Rechtsordnung gilt nur für das westfälische System sich souverän gegenüberstehender Staaten und nicht für den Bürgerkrieg. Für die folgenden Aufgaben müssen geeignete Legitimationsansätze gefunden werden: Weiterentwicklung der Konfliktklassifikation, Anerkennung als kriegführende Partei und Bestimmung des Schutzniveaus, Sicherung neuer Territorien und Gewaltmonopole, verlässliche Arbeitsteilung und Fristregelungen während und nach Unterstützungsmissionen und Protektoraten, gezielte Tötungen etc. Bei bewaffneten Massenkonflikten innerhalb von Staaten treten aufständische Gruppen auf, die nicht als souverän anerkannt werden. Ein betroffener Staat wird sie am liebsten wie Verbrecher und Terroristen behandeln wollen, sträubt sich folglich gegen ihre völkerrechtliche Aufwertung, denn ihre Anerkennung als kriegführende Partei käme einer Anerkennung als Staat gleich und brächte das LOAC zur vollen Geltung. Da dies sehr selten geschieht und sehr unwahrscheinlich ist, musste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Verhinderung der notorisch ungehemmten und besonders grausamen Eskalation von Bürgerkriegen insbesondere im Zuge der Dekolonisierung eine neue Konfliktklasse gefunden werden, und das ist der non-international armed conflict (NIAC). Ein erster Schritt war die Minimallösung in Gestalt des gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen (GF) von 1948/49, die aber immer noch darunter litt, dass entweder Staaten Gewaltgruppen nicht anerkannten oder alle Gewaltakteure ein höheres Schutzniveau wünschten. Der Wunsch antikolonialer Befreiungsorganisationen nach Anerkennung auf der einen Seite und die bleibende Skepsis etablierter Staaten auf der anderen Seite führte mit dem 2. Zusatzprotokoll über den Schutz der Opfer nicht-internationaler Konflikte von 1977 (ZP II) zwar zu einem höheren Schutzniveau. Dies galt aber nur für koloniale Befreiungskämpfe, nicht aber für andere vergleichbare Konflikte, z. B. für Aufstände gegen postkoloniale Regime. Erst schrittweise werden Regelungen auf den NIAC übertragen, so z. B. die Kinderrechtekonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten von 2000. Die geltenden Bestimmungen bieten sowohl Staaten wie Aufständischen nur wenig Anreize und binden nur Erstere. Die Staaten haben mit Art. 3 GF und ZP II eigentlich unwirksame Verträge zu Lasten Dritter abgeschlossen. Ein von Aufständischen attackierter Staat muss also entweder erklären, inwiefern diese trotzdem wirksam werden können, oder er kann mit einseitigen Vorleistungen und dem Kalkül, dass der Opferschutz in der Regel eher im Interesse der aufständischen als der staatlichen Partei liegt, eine einzelvertragliche Zustimmung der Aufständischen erwirken. Auf diese Weise gibt es heute drei Anwendungsschwellen zwischen den folgenden Konfliktklassen: IAC, NIAC im Sinne des bewaffneten Befreiungskriegs nach ZP II, NIAC im Sinne des allgemeinen bewaffneten Konflikts nach Art. 3 GF, unbewaffneter Konflikt (low level violence). Ausschlaggebend sind die Intensität der Kampfhandlungen und der Organisationsgrad der nicht-staatlichen Konfliktpartei-
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en: je höher die Schwelle, desto höher die Anforderungen an die Verfasstheit der Akteure, desto höher auch das Niveau des Opferschutzes. Insbesondere muss die nichtstaatliche Konfliktpartei „unter einer für sie verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes der Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende koordinierte Kampfhandlungen durchführen und das ZP II anwenden können“.79 Dann ist sie aber bereits an der Schwelle zur Staatlichkeit. Was ist, wenn sie diese Schwelle nicht erreicht? Viele innergesellschaftliche Massenkonflikte ,schwelen‘, keiner siegt und keiner unterliegt, neue Grenzen können nicht gezogen werden, alle kämpfen mit immer brutaleren Mitteln. So ist insbesondere die unübersichtliche rechtliche Lage im Blick auf den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt für jeden verantwortlichen Interventen offensichtlich unbefriedigend: In vielen Fällen mischen und widersprechen sich nationale und internationale Regelwerke, sogar die Klassifizierung erscheint beliebig. Ein Szenar wie der Bürgerkrieg in Syrien wird gar nicht erfasst, da für die Vervielfältigung von Gewaltakteuren Regelungen fehlen. Entsprechend verheerend entwickelt sich dort die Lage. Grundlegend ist nach wie vor die Verweigerung des Kombattantenprivilegs für die Angehörigen der nicht-staatlichen Konfliktparteien. Ebenso grundlegend wäre der Ausschluss des zunehmend propagandistisch missbrauchten Antiterrorkampfes aus dem Kreis der hier definierten bewaffneten Konflikte. Und schließlich fällt die rechtliche Steuerung des ius post bellum angesichts notorischer Konfliktfallen ebenso dürftig wie verbesserungswürdig aus. Hier ist zunächst mit politischen Selbstverpflichtungen von Geberländern zu rechnen. Diese könnten durch erweiterte vertragliche Partnerschaften gefestigt werden.80 Hankel schlägt in diesem Zusammenhang eine grundlegende Revision des Besatzungsrechts vor.81 Bewaffnete Kampfeinsätze westlicher Staaten sind somit in der Mehrzahl wars of choice under global surveillance with weak legitimacy.82 Dem begegnen westliche Armeen, allen voran die USA, mit der folgenden sehr problematischen Doppelstrategie: Was die eigentlichen Kampfhandlungen betrifft, so ist die individuelle Liquidierung des gegnerischen Führungspersonals durch Spezialkräfte in Verbindung mit dem Einsatz miniaturisierter, kybernetisch optimierter, unbemannter Plattformen das Mittel der Wahl; dabei sind die eigenen Kräfte zu schützen und zivile Tote zu reduzieren (capture or kill; selective killing). Flankierend nehmen, sichern und halten lokale verbündete Kräfte die Räume: Sie werden ertüchtigt durch Luftunterstützung, Ausbildung und Bewaffnung und Logistik (counterinsurgency). Diverse Funktionen wie Teile der Logistik oder der Personenschutz werden privatisiert. Alle Einsätze sind medienverträglich zu gestalten. Die Hauptrisiken ergeben sich aus der geringen 79 Vitzthum/Proelß (2013), S. 658; vgl. auch Zangl/Zürn (2003); Zangl (2009); Weingärtner (2010); Weingärtner/Krieger (2013). 80 Benz (2004). 81 Hankel (2011), S. 99 – 104. 82 In Anlehnung an Schörnig (2014).
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Kontrolle vor Ort und der ungeklärten Zuverlässigkeit der lokalen Partner. In großen Seegebieten gibt es kaum Partner; hier bleiben alle Lasten vornehmlich bei den entwickelten Industrienationen. Angesichts dieses Befundes ist der zum Teil vernünftige Gedanke der internationalen Arbeitsteilung und des smart defense hochbedenklich. Good governance ist kein Ersatz für Legitimität. In internationalen Kontingenten können die Legitimitätsmängel eines einzigen Truppenstellers das gesamte Projekt delegitimieren. Das selective killing ist in bewaffneten Konflikten durch das Kombattantenprivileg gedeckt. Als militärische Ziele gelten alle Objekte, die „aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standortes, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt“ (Art. 52 Abs. 2 ZPI). Außerhalb bewaffneter Konflikte ist das nicht der Fall. Da der Kontext gemäß ZP II durch Kontrolle über einen Teil staatlichen Hoheitsgebietes und damit bisher territorial definiert wird, verliert der Antiterrorkampf seine völkerrechtliche Legitimierung, sobald er das Territorium eines bewaffneten Konfliktes verlässt. Denn im zivilen Raum ist zur Verbrechensbekämpfung Strafrecht anzuwenden, das deutlich höhere Schranken als das LOAC aufweist.83 Es gehört jedoch zur Charakteristik des modernen, nicht-staatlichen Terrors, dass er auf territoriale Bindung und Ansprüche verzichtet. Er strebt keine Herrschaft an, es reicht dem Terroristen, Herrschaft zu stören und zu verhindern. Eine völkerrechtliche Lösung könnte darin liegen, verbrecherische Handlungen, die auch ohne Kontrolle über einen Teil staatlichen Hoheitsgebietes den Charakter von organisierten grenzüberschreitenden Kampfhandlungen annehmen, einer völkerrechtlichen Regelung zu unterziehen. Eine Schlüsselfunktion hat auf jeden Fall der im Wesentlichen geheimdienstliche Prozess der Identifizierung, Suche, Entdeckung, Überwachung und Lokalisierung der entsprechenden Zielpersonen.84 Auch hierfür wären völkerrechtliche Standards zu entwickeln, die es bis dato nicht gibt. Warum fehlen sie? Dies liegt vermutlich daran, dass bisher nur die USA und Israel selective killing offensiv und in größerem Umfang einsetzen. Voraussichtlich wird diese Art der Kampfführung erst dann zu einem Gegenstand internationaler Regulierung auf Basis des Grundsatzes der Gegenseitigkeit, wenn ihnen weitere Staaten folgen, so dass eines Tages Bürger vieler Staaten zum Ziel solcher Operationen werden. Weitere Klärungen im Blick auf den NIAC betreffen die Rolle des IKRK85, den Status nicht-staatlicher Akteure86, das RoE-Drafting87, das Targeting im Blick auf 83
Vgl. Braun/Brundstetter (2013). Krishnan (2012). 85 Bothe (2013). 86 International Committee of the Red Cross (2008); Krieger (2010), S. 41 f. u. 49 – 54; Hankel (2011), S. 85 – 99; Frau (2013), S. 23 – 37 u. 41 – 43; Steiger (2013). 87 Krieger (2010), S. 42 – 48 u. 56 – 59; Lüder (2013). 84
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Kollateralopfer88, die Unterscheidung zwischen Perfidie und Kriegslist89, die Anwendung des Völkerstrafrechts, Einflussnahmen des UN-Sicherheitsrats und des Besuchsrechtes des IKRK, die Anerkennung von Rebellengerichten, die Ratifizierungsmöglichkeit des ZP II durch nicht-staatliche Konfliktparteien, Waffenverbote und selektive Bewaffnungen, der Kulturgüterschutz90, die Ausübung polizeilicher Hoheitsgewalt91 sowie Regeln für den globalen Antiterrorkampf.92 Das LOAC bietet einen Rahmen, den die Kommandeure vor Ort füllen müssen. Sie müssen die Prinzipien der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Freiheit, Eignung, Angemessenheit, Erforderlichkeit und Gerechtigkeit im dynamischen und komplexen Einsatzraum asymmetrischer Konflikte zur Geltung bringen. Der Häuptling eines örtlichen Stammes zum Beispiel mag da gelegentlich ein verlässlicherer Partner sein als der Vertreter der Zentralregierung. Die RoE muten den taktischen Entscheidern zu, ihre diesbezüglichen Urteile vor Ort zu treffen.
4. Folgerungen für Rüstungsexporte Die Bundesrepublik Deutschland versteht die deutsche Wehrtechnik und Rüstungsindustrie als konstitutives Element des deutschen Souveränitätsanspruchs. Die strategischen Kernkapazitäten sind politisch gewollt, sie beliefern die deutschen Streitkräfte im Sinne ihres Verfassungsauftrags. Das ist der Forderung der causa iusta folgend legitim. Die Bundeswehr aber nimmt nicht die Stückzahlen ab, die nötig sind, um die Investitionen in das gewünschte Qualitätsniveau zu decken. Der Ansatz des deutschen Verteidigungshaushalts wiederum toleriert die Preise nicht, die anfielen, wenn die Industrie sich darauf beschränkte, nur die Bundeswehr und die Verbündeten zu beliefern. Deshalb sucht die deutsche Rüstungsindustrie weitere Abnehmer auf dem Weltmarkt, und die Bundesregierung stellt diese unter einen Genehmigungsvorbehalt. Nach dieser Logik besteht die Gefahr, dass aus einem ökonomischen Dilemma heraus – und das sind keine beschäftigungspolitischen Gründe – Waffenlieferungen genehmigt werden, die man später bereut. Sie könnten dem Gebot der politischen Klugheit und auch dem Gebot der politischen Ethik widersprechen. Eine blinde Lieferung von Rüstungsgütern ohne sorgfältige und öffentlich nachvollziehbare Prüfung der Empfänger und ihrer Verwendung vor Ort, möglicher weiterer Verbreitungswege und der realen Folgen ihres Einsatzes widerspricht dem Friedensgebot des Grundgesetzes. Um zwei positive Beispiele zu nennen: Wenn solche Lieferungen nachweislich und ausschließlich dazu dienen, dass stabile und politisch hinreichend menschenrechtlich geordnete Staaten im Rahmen von autorisierten Systemen kollektiver Sicherheit ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität angemes88
Gillner (2014). Krieger (2010), S. 55 f. 90 Frau (2013), S. 48 – 54. 91 Krieger (2010), S. 54 f.; Frau (2013), S. 43 – 48; Schütz (2013). 92 Frau (2013), S. 38 – 40; ders. (2014).
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sen sichern, sind sie nicht zu beanstanden. Wenn instabile Staaten mit Hilfe etwa der NATO oder der EU ihren Sicherheitssektor reformieren, um im Sinne des ersten Beispiels an Autorität und Stabilität zu gewinnen, wird man ihnen die entsprechende militärische Ausrüstung kaum vorenthalten wollen. Diese Ausrüstung sollte aber u. a. mit der Einbindung in reformierte Strukturen des Konfliktvölkerrechtes einhergehen. 5. Ausblick Am Anfang dieses Aufsatzes stand der Vorschlag, für den Einsatz militärischer Gewalt und die Verbreitung von Rüstungsgütern elementare Spielregeln festzulegen und einzuhalten. Und die Soldaten demokratischer Gesellschaften sollten beantworten können, warum, wofür und wie sie kämpfen. Den Soldaten zum ,Hüter des Friedens‘ zu erklären, erscheint als eine hypertrophe Antwort, die selten ernsthaft überzeugt. Was wäre aber mit dem Titel ,Hüter des internationalen Rechts‘? Diese Rolle bedürfte allerdings dringend der weiteren Entwicklung nach rechtsethischen Prinzipien. Was die internationale völkerrechtspolitische Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten angeht, so zeichnen sich im Wesentlichen drei große Pfade ab. Der erste Pfad trägt den Namen der aus der europäischen Expansion hervorgehenden und nach dem Zweiten Weltkrieg eingeleiteten globalen Ordnung der Vereinten Nationen, die durch ein Netz von fünf durchaus spannungsvollen Prinzipien charakterisiert ist. Den historischen Ursprung bilden die Staaten im nordatlantisch-westmitteleuropäischen Raum. Diese haben als Lehre aus den Krisen der Moderne und den Weltkriegen eine gemeinsame Friedensordnung errichtet. Sie ruht im Inneren der Staaten auf der Volkssouveränität und den Menschenrechten (1). Nach außen ruht sie auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker (2), der Staatensouveränität (3) und dem Gewaltverbot der VN-Charta (4), das sie wiederum durch die Strafbefugnis des UN-Sicherheitsrats (5) absichern. Da diese Ordnung sich aus guten Gründen nicht auf ein Gewaltmonopol stützt, lebt sie von einem weltweiten Konsens, der jedoch nur von der Attraktivität der drei letztgenannten Grundsätze zehrt. Denn nur diese drei schützen auch Diktaturen, die sich durch die Berufung auf Volkssouveränität und Menschenrechte in ihrer Stabilität gefährdet sehen und ihre Macht gegen den Einfluss demokratischer Gesellschaften zu behaupten suchen. Die Demokratien wiederum halten dagegen, indem sie sich auf ihre wirtschaftliche und kulturelle, aber auch ihre politische und militärische Überlegenheit verlassen. In den letzten 25 Jahren war sowohl der Süden wie der Osten Europas Schauplatz einer epochalen Demokratisierungswelle, die jedoch inzwischen an ihren Rändern zu einem gewissen Stillstand gekommen ist. Von der Ukraine, Weißrussland und Russland, über Ungarn und die Türkei bis in den Nahen Osten, Zentralasien und Nordafrika zieht sich ein Gürtel instabiler Gesellschaften, die zwischen Entwurzelung und aggressiver Wiederverwurzelung, zwischen Rebellion, Refeudalisierung und autoritärer Disziplinierung, wenn nicht gar massiver Unterdrückung hin- und herpendeln. Der Westen hat im Übrigen politisch durch das Scheitern des unilateralen Interventionismus und wirt-
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schaftlich durch das Abflachen des Wachstums und durch die Finanz- und Staatsfinanzenkrise massiv Vertrauen verspielt, aber vielleicht auch an nüchterner Einsicht gewonnen. Es ist offen, ob diese Krisen in Verbindung mit der Instabilität an seinen Rändern den Westen spalten oder einen werden. Die Erfahrung der beiden Weltkriege und der Balkankriege dürften die Gesellschaften Europas jedoch auf lange Zeit überzeugen, bewaffneten Massenkonflikten politisch vorzubeugen und sie gegebenenfalls einzudämmen. Ein zweiter Pfad könnte den Namen einer ,Chinesischen Ordnung‘ tragen. Internationales Gewaltverbot und nationale Souveränität bleiben anerkannte Prinzipien, Prinzipien wie Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht der Völker haben in den neo-imperialen Großräumen Asiens und den post-kolonialen Gesellschaften Afrikas nur wenig Chancen, wohl aber selektive wirtschaftliche und kulturelle Öffnungen, die der Prosperität dienen, aber den autoritären Staat nicht infrage stellen. Der zwischenstaatliche Krieg bleibt in Asien und im Mittleren Osten gebannt. Gut funktionierende Staaten wie die iranische und die saudische Theokratie oder die ägyptische Militärdiktatur, aber auch die Staaten des zentral- und südasiatischen und des ostasiatisch-pazifischen Raumes regeln ihre Differenzen friedlich und erkennen gemeinsam die Gefahren des Staatszerfalls, der sich von Staaten wie Afghanistan und Pakistan, Irak, Libyen oder Syrien her ausbreitet. Der Westen beschränkt Interventionen künftig auf Kooperationen mit arabischen und afrikanischen Staaten, setzt auf das VN-System, insbesondere auch dort, wo das Konstrukt des souveränen Nationalstaats nicht die realen Kräfteverhältnisse abbildet, weil nichtstaatliche Gewaltakteure das Spiel erheblich mitbestimmen. In Zentral- und Ostasien setzt sich China als Führungsmacht neben den USA und seinen Bündnispartnern durch, wobei mehr als in Europa offen ist, ob das Feld mehr durch Kooperation oder durch Konfrontation bestimmt sein wird. Ein dritter Pfad könnte dem aktuellen Anlass folgend den Titel einer ,Russischen Ordnung‘ tragen. Sie wäre die Wiederkehr der europäischen imperialen Ordnung des 19. Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert wurde sie zuvorderst von dem Deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt verfochten, und auch der Amerikaner Morgenthau meinte eigentlich nichts anderes. Mächtige Staaten wie die USA, Russland und China erhalten um sich herum offene Märkte oder oligarchische Ordnungsräume, in jedem Fall Einflusszonen zur Kontrolle von Rohstoffquellen und Warenströmen. Dieses System kennt keine Bürgerrechte, gibt sich neokonservativ, verhält sich anarchisch und ist somit höchst anpassungsfähig. Die Regeln der internationalen Beziehungen können lauten, wie sie wollen; wie sie genau ausgelegt werden, darüber entscheiden der Hegemon und seine Favoriten. Die Nachteile liegen auf der Hand: Die Kosten der gesellschaftlichen Disziplinierung sind hoch, die ökonomische Effizienz ist gering, die Großräume sind ständig umkämpft. Welchem Pfad gehört die Zukunft? Gegen den ersten Pfad spricht, dass sich auch im Westen die Demokratie selbst in starken, stabilen und prosperierenden Staaten erst nach langer Zeit durchgesetzt hat, dass mächtige Demokratien nach außen un-
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gehindert hegemonial auftreten können und sich damit delegitimieren und dass Gesellschaften sich im Übergang zur Demokratie oftmals als instabil und verwundbar erweisen. Für diesen Pfad sprechen vor allem die Attraktivität seiner eher egalitären Verfassung für das Individuum und durchaus auch sein welthistorischer Erfahrungsvorsprung, auch wenn dieser sich mehr und mehr verringert. Der dritte Pfad fällt sowohl gegenüber dem ersten wie dem zweiten schwächer aus, weil er in hohem Maße auf krude Ausbeutung setzt und erhebliche gesellschaftliche Ressourcen ungenutzt lässt. Der zweite Pfad belohnt Loyalität mit Stabilität und Prosperität. Sobald dort jedoch die Wachstumsreserven der nachholenden Modernisierung ausgeschöpft sind, wird der Anstieg an gesellschaftlicher Komplexität nicht mehr durch Disziplinierung bewältigt werden können. Wenn der Gewinn an Wohlstand nicht durch Konflikte aufgezehrt werden soll, müssen Spielregeln her, die Gewinner und Verlierer im Spiel halten. Man nennt das auch Recht. Mit dem Recht ist es, wie mit dem Rad: Man muss es gar nicht jedes Mal neu erfinden. Literatur Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. Aird, Enola et al. (2003): WHAT WE’RE FIGHTING FOR. A LETTER FROM AMERICA. In: Etzioni, Amitai/Marsh, Jason H. (Hrsg.): Rights vs. public safety after 9/11: America in the age of terrorism, Oxford, S. 101 – 122. Alexy, Robert (20013): Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt a. M. – (1992): Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München. – (1995): Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt a. M. Alexy, Robert et al. (2003): Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden. Anselm, Reiner (2006): Von der theologischen Legitimation des Staates zur kritischen Solidarität mit der Sphäre des Politischen. In: Unger, Tim (Hrsg.): Was tun? Lutherische Ethik heute, Hannover, S. 82 – 102. Arendt, Hannah (2011): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem einleitenden Essay und einem Nachwort zur aktuellen Ausgabe von Hans Mommsen, München/Zürich. Balke, Friedrich (2009): Figuren der Souveränität, München. Beestermöller, Gerhard (1990): Thomas von Aquin und der gerechte Krieg. Friedensethik im theologischen Kontext der Summa Theologiae, Köln. Beestermöller, Gerhard/Haspel, Michael/Trittmann, Uwe (Hrsg.) (2006): „What we’re fighting for …“. Friedensethik in der transatlantischen Debatte, Stuttgart. Benz, Arthur (Hrsg.) (2004): Governance. Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden. Biehl, Heiko (2012): Einsatzmotivation und Kampfmoral. In: Leonhard, Nina/Werkner, InesJacqueline (Hrsg.) (20122): Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden, S. 447 – 474.
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Autorenverzeichnis Biehl, Heiko, geb. 1971, Dr. phil.; Studium der Politikwissenschaft, Neueren Geschichte und Informationswissenschaft in Saarbrücken, Berlin und Potsdam. Derzeit Leiter des Forschungsbereichs Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam sowie Lehrbeauftragter im Masterstudiengang Military Studies an der Universität Potsdam. Franke, Jürgen, geb. 1953, Dr. phil.; Studium der Pädagogik, Soziologie sowie Berufs- und Betriebspädagogik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Bis 2012 Berufssoldat und Dozent für Militärsoziologie am Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, derzeit Lehrbeauftragter für Soziologie (Interdisziplinäre Studienanteile) an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Leonhard, Nina, geb. 1972, Dr. phil.; Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und am Institut d’Études politiques des Paris. Derzeit Dozentin für Allgemeine Soziologie und Politikwissenschaft am Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg sowie Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Schmidt, Wolfgang, geb. 1958, Oberst Dr. phil.; Studium der Geschichte und Politischen Wissenschaften an der Universität Regensburg. Derzeit Leitdozent Militärgeschichte am Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Schubert, Hartwig von, geb. 1954; Dr. theol.; Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Göttingen, Tübingen, Heidelberg und Kiel. Derzeit Militärdekan im Evangelischen Militärpfarramt Hamburg II an der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg. Spreen, Dierk, geb. 1965 , PD Dr. phil.; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Freiburg im Breisgau. Derzeit Privatdozent für Soziologie an der Universität Paderborn. Stümke, Volker, geb. 1960, Prof. Dr. theol.; Studium der Evangelischen Theologie und der Philosophie in Hamburg, Tübingen und München. Derzeit Dozent für evangelische Sozialethik am Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel. Thieme, Matthias, geb. 1980, Dipl.-Päd., Major i. G., Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Derzeit Referent für Führungssysteme im Planungsamt der Bundeswehr in Berlin. Tomforde, Maren, geb. 1970, Dr. phil.; Studium der Ethnologie und Politischen Wissenschaften an der Universität Münster, Paris (Jussieu, Paris VII) und Hamburg. Derzeit Dozentin für Ethnologie am Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.