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German Pages 345 Year 2011
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 49
Soldaten im Einsatz Sozialwissenschaftliche und ethische Reflexionen
Herausgegeben von
Stefan Bayer und Matthias Gillner
Duncker & Humblot · Berlin
STEFAN BAYER / MATTHIAS GILLNER (Hrsg.)
Soldaten im Einsatz
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 49
Soldaten im Einsatz Sozialwissenschaftliche und ethische Reflexionen
Herausgegeben von
Stefan Bayer und Matthias Gillner
Duncker & Humblot · Berlin
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© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 978-3-428-13646-9 (Print) ISBN 978-3-428-53646-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83646-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die veränderte Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands machte und macht noch immer eine Transformation der Streitkräfte von einer territorialen Verteidigungsarmee in eine international operierende Einsatzarmee erforderlich. In der zivilen Öffentlichkeit und selbst in der Bundeswehr wird der Begriff des Einsatzes aber undifferenziert als „Container“ für alle militärischen Aktionen von der Katastrophenhilfe über friedenserhaltende und stabilisierende Maßnahmen bis hin zum klassischen Einsatz in einem Verteidigungsfall verwendet. Eine solche semantische Reduktion trübt den Blick auf die unterschiedlichen Zielsetzungen der „militärischen Missionen“ wie sie auch die Art militärischer Gewaltanwendung nivelliert: etwa zwischen „klassischer“ Kriegführung und moderner „Konstabulisierung“ (Haltiner), der Herstellung sektoraler Sicherheit. Mit der Vielfalt der Einsätze erweitern sich die Anforderungsprofile an die Soldatinnen und Soldaten. Sie müssen nicht mehr nur die klassischen handwerklichen Techniken des militärischen Kampfes beherrschen, vielmehr auch zwischen polizeilicher und militärischer Gewalt unterscheiden können. Als Vermittler zwischen verfeindeten Parteien, als militärischer Partner der Zivilbevölkerung oder als kooperierender Akteur von Nichtregierungsorganisationen müssen sie Gespräche führen, können sie die anstehenden Probleme nicht in erster Linie mit Waffengewalt, sondern vor allem durch Verhandlungen, Vergleiche oder Schiedssprüche lösen. Außerdem müssen sie häufig Aufgaben wahrnehmen, die denen eines Technischen Hilfswerks gleichen. Militärische Beobachtermissionen verlangen wiederum ganz andere Fähigkeiten und Kenntnisse. Und damit diversifizieren sich auch die Probleme der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Welchen Belastungen werden sie ausgesetzt? Wie sieht eine zivil-militärische Zusammenarbeit konkret aus? Wie gehen Soldatinnen und Soldaten mit ihren getöteten Kameraden um? Was können Sanitätssoldatinnen und -soldaten in den Einsätzen für das Militär und die dortige Zivilgesellschaft leisten? Und wie gestaltet sich der Umgang mit der eigenen Sexualität? Darüber hinaus gibt es auch neue berufsethische Fragen. Verändert sich die Innere Führung und das Bild des Offiziers? Welche neuen Anforderungen stellen sich speziell für Offiziere im General- und Admiralsstabsdienst? Wie gehen Soldatinnen und Soldaten mit neuen Herausforderungen wie der Konfrontation mit Kindersoldaten um? Beschäftigen die Fragen nach dem
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Vorwort
Besitz und den Einsatz von Atomwaffen auch heute noch das Gewissen der Soldaten? Und wie sollen sie überhaupt mit dem Problem der Tötung von Unschuldigen umgehen? Um diese – und weitere – Fragen drehen sich die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, die alle auf die handelnden Akteure abstellen: auf die Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr. Der Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr wurde – wie auch die beiden Universitäten der Bundeswehr in Hamburg und München – durch den damaligen Verteidigungsminister Helmut Schmidt ins Leben gerufen. Seit Anfang der 1970er-Jahre wirken die überwiegend zivilen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener fachlicher Ausprägungen an der Bildung und Ausbildung von Stabs-, vor allem aber Generalstabs-/Admiralstabsdienstoffizieren innerhalb der höchsten Ausbildungseinrichtung der Bundeswehr mit. Insofern ist es konstituierender Teil des Selbstverständnisses des Fachbereiches, die Probleme der Soldatinnen und Soldaten aus human- und sozialwissenschaftlicher Perspektive sowohl in der Forschung als auch in der Lehre vorzugsweise zu bearbeiten. Denn gerade Offiziere benötigen in den Auslandseinsätzen neben den genannten Fähigkeiten auch wissenschaftliche – ethische, politologische, soziologische, historische, ethnologische und ökonomische – Kenntnisse, also genau diejenigen fachspezifischen Expertisen, die der Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in seinen Lehrveranstaltungen vermittelt. Neben der Vorbereitung auf Auslandseinsätze stellt die Nachbereitung und das kritische Reflektieren über die Einsätze und die spezifischen soldatischen Rollen eine zweite Facette des wissenschaftlichen Flankierens der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz dar. Auch hier bietet der Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften eine Plattform, um von den Erfahrungen der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zu lernen und diese einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Dabei besteht die Möglichkeit, positive Erfahrungen zu diskutieren und diese in einen gesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen. Auch können Defizite erkannt und diese in den politischen und wissenschaftlichen Zirkeln diskutiert sowie multioder gar interdisziplinäre Lösungsmöglichkeiten erarbeitet werden. Insofern nimmt der Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr sowohl in der Vor- als auch der Nachbereitung von verschiedenartigsten Einsätzen, in denen Soldatinnen und Soldaten möglichst erfolgreich agieren sollten, eine Scharnierfunktion hin zur Gesellschaft ein: Einerseits können gesellschaftliche Aspekte direkt in die Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten einfließen. Andererseits wachsen auch in der Gesellschaft ein größeres Verständnis und vielleicht auch eine höhere Anerkennung für den Dienst der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz.
Vorwort
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In genau dieser „Scharnierrolle“ hatte der Fachbereich im Sommer 2010 die Idee, den vorliegenden Sammelband anzugehen. „Soldaten im Einsatz“ sollten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden und konkret auf deren individuellen Aspekte abgestellt werden. Ein Blick in das Autorenund Herausgeberverzeichnis macht deutlich, dass sich der Autorenkreis vergrößert hat und nicht nur aktuell Angehörige des Fachbereiches zu diesem Werk beigetragen haben. Der Band selbst ist in drei Rubriken aufgeteilt: am Anfang stehen zwei Artikel zur aktuellen Debatte über den militärischen Einsatz in Afghanistan, danach folgen mehrere sozialwissenschaftliche Analysen und Perspektiven; schließen wird das Buch mit einigen Aufsätzen zu ethischen Problemen. Die „Aktuelle Debatte über den militärischen Einsatz in Afghanistan“ startet mit einem Beitrag des Militärgeschichtlers Martin Kutz über die rationale Art der Kriegführung angesichts des Bundeswehreinsatzes im Rahmen des ISAF-Mandats in Afghanistan. Zunächst stellt er die prinzipiellen und praktischen Voraussetzungen dar, wozu für ihn sowohl ein realistisches Kriegsbild gehört, das auch eine Eskalationsdynamik einkalkuliert, als auch ein konkretes erreichbares Kriegsziel. Zudem sollten nicht nur die sozialen und ökonomischen Verhältnisse bedacht, sondern auch die historischen Entwicklungen und religiös-kulturellen Traditionen berücksichtigt werden. Schließlich müsse auch die politische Kultur und ihr Verhältnis zum Militär in der Entsendegesellschaft selbst erwogen werden. Sodann weist Kutz anhand der zuvor aufgestellten Maßstäbe rationaler Kriegführung mit spitzer Feder die Versäumnisse und Fehlentscheidungen sowohl der US-Administration als auch der deutschen Regierung nach. Abschließend weist er einen rationalen Weg aus den Dilemmata in Afghanistan: eine Anpassung der strategischen Ziele und eine Umsteuerung der taktischen Kampfführung und zieht die Lehren aus einer verfehlten Afghanistanpolitik. Der evangelische Militärdekan Hartwig von Schubert konzentriert seine Ausführungen auf den ISAF-Einsatz in Afghanistan. Nach 24 Jahren Invasionen, Bürgerkriegen und inzwischen über acht verlorenen Jahren von ISAF brauche Afghanistan jetzt gute nichtstaatliche und staatliche Leitung, Regierung und Verwaltung im Rahmen einer verlässlich und sanktionsbewehrt supervidierten Souveränität – und keine unausgereifte Schein-Demokratie oder de facto Autokratie mit exzessiver Korruption. Für Schubert hat die neue militärische Doktrin der Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency; COIN) im Rahmen einer Intervention in einen hochinstabilen Staat nur in einem insgesamt zivilen Ansatz einen sinnvollen Ort. Allein so könne ISAF zum ersten militärischen Teil eines umfassenden nicht-kolonialistischen Post-Konflikt-Staatsentwicklungsprojekt nach dem Ende des Kalten Krieges heranreifen. Eine solche Vision müsse dann aber auch in die
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Vorwort
Gesellschaft kommuniziert werden, so Schuberts Plädoyer, um die Potentiale für eine solche Herkulesanstrengung auch zu wecken. In seinem Beitrag der Rubrik „Sozialwissenschaftliche Analysen und Perspektiven“ setzt sich der Sozialwissenschaftler Heiko Biehl auf empirischkonzeptioneller wie gesellschaftlich-normativer Ebene mit den Belastungen auseinander, denen die Bundeswehrsoldaten und deren Familien in Folge der Auslandseinsätze ausgesetzt sind. Nach einem Überblick über die diversen Belastungen diskutiert Biehl die organisatorischen Maßnahmen und Angebote, die den Streitkräften als Kompensation zur Verfügung stehen. Daran anknüpfend problematisiert er, inwieweit die zu beobachtende Thematisierung von einsatzbezogenen Belastungen konstitutiv für die aktuelle militärische Identität ist und die Soldaten daraus Ansprüche für eine Neuverhandlung zivil-militärischer Beziehungen ableiten. Im Ergebnis plädiert Biehl für einen realistischen Umgang der Soldaten mit den Belastungen ihrer Profession und für zeitgemäße Vorstellungen über den Stellenwert von Streitkräften in modernen, westlich geprägten Demokratien. Das Autorenduo, der Offizier und Kaufmann Dieter Kinne und der Ökonom Günter Mohrmann, beschäftigt sich mit den Herausforderungen für die Bundeswehr in den Auslandseinsätzen, wie sie durch die zivil-militärische Zusammenarbeit hervorgerufen werden. Zu Beginn rekonstruieren sie den Veränderungsprozess, den die zivil-militärische Zusammenarbeit seitens der Bundeswehr mit Beginn des Einsatzes auf dem Balkan mitte der 1990erJahre durchlaufen hat: vom sogenannten „Dachlatten-CIMIC“, einer sich vielfältig verästelnden projektbezogenen Aufbauhilfe der deutschen Streitkräfte, die sowohl Instandsetzungen von Häusern, Verteilung von Kleidern und Nahrung, Ausbau der Infrastruktur oder Beratungszentren für die Landwirtschaft umfassen wie auch die Leitung von Gefängnissen oder die Gestaltung administrativer Prozesse in der kommunalen Verwaltung beinhalten konnte, bis hin zum „Berater-CIMIC“, der die Funktion der zivil-militärischen Zusammenarbeit auf die Mitwirkung an der militärischen Operationsführung im engen Sinne eingrenzt. Fokussiert auf die Eigensicht der Streitkräfte bei der Realisierung zivil-militärischer Zusammenarbeit, werden anschließend die drei Kernaufgaben – die Gestaltung zivil-militärischer Beziehungen, die Information, Beratung und Unterstützung ziviler Stellen und Akteure sowie der Beitrag zum Führungsprozess und die Mitwirkung in der Operation – hinsichtlich ihrer Qualität für die Entscheidungsbildungsprozesse militärischer Operationsführung beurteilt. Aufgrund der gestiegenen Anforderungen an die CIMIC-Soldaten sehen Kinne und Mohrmann einen erheblichen Handlungsbedarf hinsichtlich der Auswahl und Ausbildung des Personals sowie der Intensivierung der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren der zivil-militärischen Zusammenarbeit.
Vorwort
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Die Sozialwissenschaftlerin Nina Leonhard widmet ihren Aufsatz der Diskussion um die Einführung eines soldatischen Ehrenmals: Seit Ende des Kalten Krieges hat sich die gesellschaftliche Stellung der Streitkräfte in Deutschland wie in den meisten anderen Ländern Europas grundlegend geändert. Dies zeigt sich unter anderem am gesellschaftlichen Umgang mit den Toten der Bundeswehr, wie er anhand des im September 2009 eingeweihten Ehrenmals zu beobachten ist. Ausgehend von den Veränderungen der politischen Kultur der Bundesrepublik im Verlauf der 1990er Jahre, die zur Entstehung einer neuen Form des politischen Totengedenkens geführt haben, analysiert Leonhard die öffentlichen Diskurse um den Bau des Ehrenmals der Bundeswehr und rekonstruiert vor diesem Hintergrund den symbolischen Sinngehalt des realisierten Denkmalstypus. Abschließend diskutiert sie die damit verbundenen Implikationen für die zukünftige Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Sanitätsoffizier und Zahnarzt Lutz Nolde analysiert in seinem Aufsatz die Herausforderungen an den Sanitätsdienst der Bundeswehr unter besonderer Berücksichtigung des Konzeptes der „Humanitarian Assistance“. Die im Rahmen der Krisenbewältigung notwendige Anforderung an militärische und zivile Akteure, gemeinsam und koordiniert ihre jeweiligen Fähigkeiten und Mittel einzusetzen, erhöht für Nolde auch die Erwartungshaltung an die sanitätsdienstlichen Komponenten eingesetzter Streitkräfte: außerhalb ihrer genuinen Aufgabe – der Versorgung der eingesetzten Truppe – auch zum Gesamterfolg des Einsatzes beizutragen. Damit die Erwartungen seitens des Sanitätsdienstes auch erfüllt werden, bedarf es nicht nur eines grundlegenden Verständnisses des Gesundheitssystems als eines Subsystems von Staat und Gesellschaft, sondern eben auch der Kenntnisse über die Folgen von Gewalt und Konflikten auf Gesundheitszustand und Gesundheitswesen, über Konzepte zur Not- und Entwicklungshilfe sowie über die für den Einsatz militärischer Kräfte auf humanitärem Gebiet einschlägigen Richtlinien und Rahmenbedingungen. Um effektive Beiträge zur Reform des Sicherheitssektors und Wiederaufbau und Entwicklung zu leisten und unintendierte Effekte zu vermeiden, verlangt Nolde, dass dann auch die richtigen Fähigkeiten und Mittel bereitgestellt werden müssen. Sexualität und Einsatz ist ein Bereich, welcher in der aktuellen Forschung wenig in das Blickfeld tritt. Gerade weil Soldaten, sei es in kriegerischen Auseinandersetzungen oder auch in Peacekeeping-Einsätzen, weltweit durch Übergriffe Schlagzeilen gemacht haben, fragt der Offizier und Pädagoge Jörg Keller für die Bundeswehr nach, inwieweit auch hier Grundstrukturen für ein solches Fehlverhalten zu entschlüsseln sind. Dabei zeigt er auf, dass ein ganz bestimmtes Bild von Männlichkeit und Sexualität ein
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Vorwort
Gefahrenpotential in homosozialen Gemeinschaften, wie etwa eine Armee mit geringem Anteil von Frauen, in sich birgt und dass dieses Bild auch in der Bundeswehr kommuniziert wird. Einen besonderen Zugang zum Thema „Soldat im Einsatz“ entwickelt die Osteuropahistorikerin Kerstin S. Jobst in ihrem Beitrag „Bilder des indigenen Kriegers in der russischen Kultur“. Der indigene Krieger stellt eine Variante des militärischen Gegners dar, dessen Bild(er) und Einschreibungen in der russischen Kultur in der longue durée und in der Beschränkung auf den Feind muslimischer Religion in asymmetrischen Konflikten betrachtet wird. Dabei analysiert sie den russisch-muslimischen Kulturkontakt und die russische Imperiumsbildung ebenso wie die Kanäle, über die sich das kulturell geprägte Bild des muslimischen Kämpfers verbreitete und bis in unsere Zeit wesentlich die russisch-kollektive Vorstellung von männlichen Muslimen beeinflussen konnte. Dieses Bild, so zeigt Jobst, ist stark essentialisiert und unterscheidet sich im Grunde nicht von den britischen oder französischen Stereotypen über diese Figur, was nicht zuletzt eine Folge der gemeinsamen historischen Erfahrung als Imperialmacht ist. Die Rubrik „Ethische Probleme und Standpunkte“ beginnt mit der Veröffentlichung einer Rede des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, General a. D. Wolfgang Schneiderhan, an der Führungsakademie zum Bild des Offiziers im 21. Jahrhundert. Auf dem Hintergrund veränderter sicherheitspolitischer Herausforderungen, die zur Umwandlung der Bundeswehr von einer „Abschreckungs-“ zu einer „Einsatzarmee“ führten, fordert er die Entwicklung eines zeitgemäßen streitkräftegemeinsamen Berufsbildes des Offiziers. Auch wenn der Kernauftrag der Bundeswehr in den militärischen Einsätzen vornehmlich in der Herstellung eines sicheren Umfeldes bestehe, um zivilen staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren die Wiederherstellung von Staatlichkeit und die Herbeiführung eines nachhaltigen Friedens ermöglichen zu können, so sind die konkreten Einsatzszenarien doch äußerst verschieden: sie reichen von reinen Beobachtermissionen über Aufbauhilfe und Trennung von Konfliktparteien bis zur Beendigung von Bürgerkriegen. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Einsätze müsse das neue Berufsbild auch komplexer sein und so unterschiedliche Rollen wie die des Kämpfens, Schützens und Helfens integrieren. Von daher plädiert Schneiderhan das klassisch Soldatische um das Zivile und Polizeiliche im Bild des Soldaten zu erweitern, auch wenn es das Aushalten von großen Spannungen erfordert. Speziell an die Offiziere im Generalstabs- und Admiralstabsdienst richtet sich der Beitrag des katholischen Sozialethikers Matthias Gillner. Dabei greift er den Weckruf des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhlers an der Führungsakademie der Bundeswehr zu mehr „Militärcourage“ auf und
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plädiert für die Übernahme von mehr moralischer Verantwortung sowohl als Staatsbürger in Uniform wie auch als militärischer Stratege, auch wenn dies wohl nicht gänzlich ohne Risiko für die eigene militärische Laufbahn zu haben sei. Anschließend skizziert er die unterschiedlichen moralischen Anforderungen in den verschiedenen Bundeswehrmissionen sowie die moralische Verantwortung für die militärischen Einsätze selbst. Dabei werden die verschiedenen Rollenverständnisse ebenso kritisch befragt wie die Tötung von Unbeteiligten ethisch problematisiert wird. Auch die Rückkehr des Kriegsbegriffes wird hinsichtlich einer angemessenen Beschreibung wie der moralischen Relegitimierung kritisch überprüft. Abschließend entwickelt Gillner einen moralischen Kompass für die Offiziere im General- und Admiralstabsdienst. Entsprechend der Anzahl der Himmelsrichtungen sollen sie sich an vier Kriterien orientierten: die Leitperspektive Frieden, die Achtung der Menschenwürde, die Geltung der Menschenrechte und die Hoheit des eigenen Gewissens. Während für die Bundeswehr als Verteidigungsarmee noch das Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ auf das Selbstverständnis der Soldaten einwirkte, setzt für den Soziologen Elmar Wiesendahl mit der Transformation zur Einsatzarmee ein beruflicher Leitbildwandel des Soldaten ein, in dem die Figur des Kämpfers bzw. Kriegers propagiert werde. Der Kämpfer, der „miles bellicus“, rühre von einer Denkschule in der Bundeswehr her, die Wiesendahl mit dem Namen „Sparta“ bezeichnet. Dem Kämpfer stehe der „miles protector“, der militärische Ordnungshüter, gegenüber, der von seinem Selbstverständnis neben dem Kämpfen auch noch den Anforderungen solcher „zivilen“ Rollen wie die der des Schützers, Helfers und Schlichters gerecht werde. Die Leitfigur des „miles protector“ werde von der Denkschule „Athen“ favorisiert, die sich mit der offiziellen Haltung der Bundeswehrspitze und der Bundesregierung decken würde. Abschließend diagnostiziert Wiesendahl, dass durch den Umschlag der Stabilisierungsmission in Afghanistan hin zu einem Kampfeinsatz die Verbreitung des Krieger-Leitbilds in der Bundeswehr erheblich gefördert werde. Weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen auch mit „Kindersoldaten“ konfrontiert werden können, wird dieses Thema von dem evangelischen Sozialethiker Volker Stümke politisch und ethisch untersucht. Sicherlich stelle der Kampf gegen Kindersoldaten die Bundeswehr vor ein moralisches Dilemma, weil sowohl das Töten von Kindern wie die Verweigerung, solche Gegner zu bekämpfen, erhebliche Probleme mit sich führen. Eine gute Lösung aber gebe es in einem Dilemma nicht, umso wichtiger sei es, den Soldaten vorab auf solche Situationen vorzubereiten. Stümke fordert zunächst einen gesellschaftlichen Diskurs: ob wir es eher akzeptieren, solche Einsätze grundweg zu verweigern
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oder ob wir es eher ertragen, dass deutsche Soldaten im Notfall auch gegen Kinder mit militärischer Gewalt vorgehen. Denn diese Diskussion zu verweigern hieße letztendlich, den Soldaten zu überfordern. Darüber hinaus müsse bedacht werden, dass das Problem von Kindersoldaten nicht auf das Paradigma des Zweikampfs beschränkt werden darf. Die Rede vom „comprehensive approach“ verdient nach Stümke auch hier mit Leben gefüllt zu werden. Es gebe sowohl andere militärische Möglichkeiten, gegen Kindersoldaten vorzugehen, wie andere politische Maßnahmen, als mit Gewalt bewaffneten Kindern zu begegnen. Auch der Friedens- und Sicherheitsforscher Daniel Holler beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit Kindersoldaten. Trotz zahlreicher internationaler Abkommen zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten, trotz des völkerrechtlichen Verbots zum Einsatz von Kindern und Jugendlichen in militärischen Auseinandersetzungen werden Minderjährige als billige und leicht beeinflussbare Kämpfer oft unter Zwang rekrutiert und gewaltsam zu Soldaten gedrillt. Holler analysiert die forcierte Rekrutierung, die Manipulation zu Tötungsmaschinen und die militärische Bedeutung von Kindersoldaten in den „neuen Kriegen“. Dabei zeigt er auf, dass die Bundeswehr für eine Konfrontation mit bewaffneten Kindern nicht ausreichend vorbereitet sei. Zwar gebe es einige Arbeitspapiere und wenige Unterrichtungen an den Ausbildungsstätten der Bundeswehr, doch die tatsächliche Konfrontation werde nur ansatzweise bearbeitet. Schließlich plädiert Holler für die Einwerbung von externen zivilen Experten, um eine nachhaltige Verbesserung der Ausbildung der Soldaten zu erreichen. Der Aufsatz des Offiziers und Ingenieurs Christoph Hof beschäftigt sich mit der Frage nach der Legalität des Besitzes und Einsatzes von Nuklearwaffen vor dem Hintergrund des Völkerrechts. Dazu werden zu Beginn Wirkungsweise und aktuelle Entwicklungstendenzen von Nuklearwaffen sowie deren mögliche Einsatzstrategien dargestellt. Anschließend untersucht Hof die rechtliche Bewertung sowohl im Völkergewohnheitsrecht als auch im Völkervertragsrecht. Hierzu wird auch das Urteil des Internationalen Gerichtshofs zur Nuklearwaffenfrage von 1996 mit herangezogen. Das abschließende Urteil ist ernüchternd: der Einsatz nuklearer Kampfmittel wird lediglich eingeschränkt, wobei es sich auch hierbei eher um „weiche Regeln“ handelt. Bleibe nur die Hoffnung auf eine neue Politik für eine nuklearwaffenfreie Welt, wie sie jüngst der US-amerikanische Präsident gefordert hat. Den Abschluss des Buches bildet ein sehr persönlich gehaltener Beitrag des Ingenieurs Ingo Stüer über die Tötung von Unschuldigen in Extremsituationen. Als Luftwaffenoffizier widmet er sich dem möglichen Konflikt zwischen der geltenden Rechtslage und dem eigenen moralischen Urteil im
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Kontext der Luftsicherheit. Der Abschuss eines durch Terroristen entführten und zur Waffe gegen Menschen am Boden umfunktionierten zivilen Flugzeuges ist zwar rechtlich eindeutig verboten, könne unter bestimmten Umständen aber moralisch gerechtfertigt sein. Nach einer detaillierten Darlegung der geltenden Rechtslage, die sowohl das Völkerrecht, die deutsche Verfassung und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz berücksichtigt, diskutiert er den Konflikt unter streng moralischen Gesichtspunkten. Im Wissen, dass nicht alle moralischen Extremsituationen antizipiert und rechtlich geregelt werden können, plädiert Stüer für eine Stärkung der moralischen Urteilsfähigkeit der Soldaten in der militärischen Ausbildung und für die Achtung der Hoheit des eigenen Gewissens. Mit dem vorliegenden Buch erscheint mittlerweile der dritte Sammelband des Fachbereiches Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr. Wir hoffen die durchaus positiven und ermunternden Rückmeldungen gegenüber den beiden vorausgehenden Werken (Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven, 2008, SOS, Band 44 sowie Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analyse, Diagnosen und Perspektiven 2009, SOS, Band 47) ebenfalls erhalten zu können. Die Herausgeber können an dieser Stelle nur zweifach danken: Zunächst seien die zuverlässigen Lieferanten der einzelnen Beiträge erwähnt, die trotz mancher – nicht von ihnen zu verantwortender – Verzögerungen die Fertigstellung des Buches sehr konstruktiv und kooperativ begleitet haben. Darüber hinaus schulden wir dem Verlag Duncker & Humblot einen herzlichen Dank. Auch dieses Mal war die Zusammenarbeit insbesondere mit Frau Schädlich von extremer Professionalität geprägt, die uns als Herausgebern viele Mühen erspart hat. Hamburg, im Juli 2011
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Inhaltsverzeichnis I. Aktuelle Debatte über den militärischen Einsatz in Afghanistan Martin Kutz Versuch über die rationale Art Krieg zu führen: Das Beispiel Afghanistan . .
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Hartwig von Schubert Afghanistan und die Tugend strategischer Geduld. Eine politisch-ethische Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Sozialwissenschaftliche Analysen und Perspektiven Heiko Biehl Belastungen, Angebote und Ansprüche. Die Bundeswehr als „Armee im Einsatz“ und die Neuverhandlung der zivil-militärischen Beziehungen . . . . .
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Dieter Kinne und Günter Mohrmann Vom „Dachlatten-“ zum „Berater-CIMIC“. Herausforderungen des Wandels in der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit bei Auslandseinsätzen (ZMZ/A) der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nina Leonhard Die zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland zwischen Vergangenheit und Zukunft: Das „Ehrenmal“ der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Lutz Nolde Humanitarian Assistance – Herausforderung an den Sanitätsdienst . . . . . . . . . 147 Jörg Keller „. . . und schließlich habe ich da noch meine Hände“. Sexualität und Einsatz 165 Kerstin S. Jobst Bilder des indigenen Kriegers in der russischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
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Inhaltsverzeichnis III. Ethische Probleme und Standpunkte
Wolfgang Schneiderhan Das Bild des Offiziers im 21. Jahrhundert. Eine Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Matthias Gillner Moralische Verantwortung statt politische Geschmeidigkeit! Kritische Reflexionen zur Berufsethik der Offiziere im General- und Admiralstabsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Elmar Wiesendahl Zurück zum Krieger? Soldatische Berufsleitbilder der Bundeswehr zwischen Athen und Sparta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Volker Stümke Kindersoldaten aus ethischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Daniel Holler Kindersoldaten im Visier. Herausforderungen der Bundeswehr in militärischen Konflikten mit bewaffneten Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Christof Hof Der Ruf nach einer nuklearwaffenfreien Welt darf nicht verhallen! Gedanken eines Offiziers zur Rechtmäßigkeit des Besitzes und Einsatzes von Nuklearwaffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Ingo Stüer Die Tötung Unschuldiger in Extremsituationen. Gedanken eines Offiziers zum Konflikt zwischen geltendem Recht und dem eigenen moralischen Urteil im Kontext der Luftsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
I. Aktuelle Debatte über den militärischen Einsatz in Afghanistan
Versuch über die rationale Art Krieg zu führen: Das Beispiel Afghanistan Von Martin Kutz Deutschland führt wieder einen Krieg. Lange wurde dieser Fakt in der öffentlichen Diskussion verschleiert. Insbesondere die deutsche Interpretation des ISAF-Mandates und die Informationspolitik der Bundesregierung haben diese Verschleierung erleichtert. Seit der Affaire um die Bombardierung der Tanklastzüge bei Kundus ist der Krieg offenkundig geworden, und in den letzten beiden Jahren wurde auch immer deutlicher, dass dieser Partisanenkrieg – heute vornehm asymmetrischer Krieg genannt – eskaliert. Wahrscheinlich ist er nicht zu gewinnen. Historische Beispiele von Napoleons Krieg in Spanien, dem Partisanenkrieg in Russland und auf dem Balkan im II. Weltkrieg sowie dem Vietnamkrieg legen diesen Schluss ebenso nahe wie die historischen Misserfolge großer Streitkräfte, die Afghanistan zum „Friedhof der Supermächte“ – so der „Spiegel“ – machten. „Man“ hätte wissen können, dass auch die Sowjetunion in Afghanistan mit ungleich größerem Aufwand gescheitert ist. Man hätte vieles mehr wissen können. Oder ist man sehenden Auges in dieses Abenteuer gegangen? Ich will in diesem Essay keine Schuldigen suchen und schon gar nicht moralisieren. Das Beispiel Afghanistan ist allerdings eine aktuelle Gelegenheit, Grundlagen zu diskutieren, die bei so gravierenden Entscheidungen wie der Entscheidung Krieg zu führen, beachtet werden müssen und, welche Konsequenzen es hat, wenn man sie außer Acht lässt. Wer Krieg führen will oder muss, braucht detaillierte Informationen und ein konsequentes und nachvollziehbares Analysegerüst,1 das so weit ausdifferenziert ist, dass wesentliche Faktoren nicht übersehen werden.
1 Ein solches Analysegerüst findet man ausdifferenziert und im Einzelnen begründet in Kutz, Martin (2006) vor allem im Kapitel XVIII „Bausteine zu einer Theorie für die Praxis der Zukunft“, S. 242 ff. Die Überlegungen im vorliegenden Essay reflektieren die Entwicklung bis Mitte Februar 2010.
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I. Voraussetzungen rationaler Kriegführung 1. Die prinzipiellen Voraussetzungen Das Wichtigste ist – und davon hängen viele andere Einsichten ab – dass die beteiligten Akteure wissen, auf welche Art von Krieg sie gefasst sein müssen und ihre Analysen nicht von Wunschdenken, Hoffen und Optimismus leiten lassen. Von einem so gewonnenen realistischen Kriegsbild kann man ableiten, ob man überhaupt Militär hat, das für den erwarteten Krieg ausgerüstet und ausgebildet ist, sowie die Durchhaltefähigkeit hat, auch auf lange Sicht die geforderte Leistung zu bringen. Hinzu kommt, dass die kriegführende Nation auch die personellen, technischen und ökonomischen Ressourcen haben muss, um auch eine Eskalation des Krieges durchzuhalten. Seit Clausewitz weiß man, dass Kriege eine Tendenz zur Eskalation haben. Afghanistan bestätigt diese Einsicht. Diese Eskalation ließ sich schon im November 2007 an der Operation „Harekate Yolo II“ ablesen, mit der militärische Offensivoperationen der ISAF in Nordafghanistan begannen.2 Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte die Eskalation mit dem Bekanntwerden des Bombenangriffs von Kundus. Die politische Aufklärung dieses Einsatzes hat die Debatte über Sinn und Zweck des Einsatzes der Bundeswehr erst richtig in Gang gesetzt, und dabei ist eine andere Binsenweisheit wieder deutlich geworden: Ohne die breite Zustimmung der Bevölkerung ist auf Dauer in der Demokratie ein Krieg nicht durchzuhalten. Sind schon die Entscheidungen des Regierungsalltags zustimmungsbedürftig, gilt das umso mehr für die – immer wieder erneuerte und fortgesetzte – Entscheidung, Krieg zu führen. Mindestvoraussetzung ist, dass die rechtlichen Grundlagen der Kriegsentscheidung stichhaltig sind. Gerade der Afghanistankrieg ist ein Koalitionskrieg. Er hat mehrfach deutlich gemacht, welche Probleme aus der hier praktizierten Koalitionskriegsführung entstehen können. Man muss sich, wenn man mitmachen will, der politischen und militärischen Strategie und Zuverlässigkeit seiner Verbündeten sicher sein, und man muss stark genug sein, sie daran zu hindern, gegen die eigenen Interessen zu handeln oder einen Strategiewechsel ohne Absprache vorzunehmen. Schon diese Darlegungen zeigen eine breite Palette an Problemen, die sich in Afghanistan ganz konkret ausgewirkt haben und weiter auswirken werden. Konkretisiert man aber die Grundsätze, so werden Defizite in Planung und Praxis schon viel deutlicher. 2 Vgl. dazu Andreas Flocken in NDR Info, Streitkräfte und Strategien, Sendemanuskript vom 17.11.2007.
Versuch über die rationale Art Krieg zu führen
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2. Die praktischen Voraussetzungen Bevor ein Land einen Krieg beginnt, sollte ein realistisches, d.h. ein konkretes und erreichbares Kriegsziel definiert werden. Frieden oder die Wiederherstellung desselben sind keine Kriegsziele. Vielmehr muss der Weg zum Frieden, d.h. die Frage, mit welchen Mitteln er erreicht werden soll, und die Art und Weise, der Charakter des Friedens, definiert sein. Hier bietet das Beispiel „Afghanistan“ reiche Ansätze für die Kritik. Der Weg zu diesem Ziel ist das, was man politische und militärische Strategie nennt. Hier nun bewahrheitet sich das clausewitzsche Diktum, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik unter Beimischung anderer, hier also militärischer Mittel sei. Es gilt also, den politischen Kontext, in dem der Krieg stattfinden soll, richtig zu analysieren, die Rückwirkungen von Kriegshandlungen auf die Politik im internationalen Umfeld aber auch auf die eigene Gesellschaft zu berücksichtigen. Man bedenke nur, wie sehr der Irakkrieg und der Nahostkonflikt in die afghanischen Verhältnisse hineinspielen und welche Folgen die Kundus-Affaire in Deutschland hat. Und wenn von Strategien die Rede ist, darf nicht vergessen werden, dass man auch eine Ausstiegsstrategie braucht. Mit Militär in High-Tech-Ausrüstung schnell einen militärisch unterlegenen Gegner auszuschalten ist ein Kinderspiel gegen die Aufgabe, politisch unbeschadet aus Afghanistan wieder heraus zu kommen. 3. Voraussetzungen im Einsatzgebiet Es gibt einen unveränderbaren Handlungsrahmen militärischen Handelns: die Geografie und das Klima. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob ich in einer infrastrukturell erschlossenen Kulturlandschaft agiere oder in unzugänglichen Gebirgen oder lebensfeindlichen Wüsten. Danach haben sich Operation und Taktik sowie die Ausrüstung und die Versorgung bis ins Detail zu richten. Von ebensolcher Bedeutung sind die Kenntnisse von der Gesellschaft im Kriegsgebiet. Deren Struktur, kulturelle und religiöse Tradition sowie historische Erfahrungen außer Acht zu lassen oder unterzubewerten ist sträflicher Leichtsinn, auch wenn die Folgen solchen Leichtsinns erst im Laufe der Zeit spürbar werden. Von ähnlicher Bedeutung sind die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Kriegsgebiet. In Afghanistan hieße es zu berücksichtigen, dass es einen fundamentalen Gegensatz zwischen Stadt und Land, letzteres mit primitiver Landwirtschaft, Drogenanbau und unterentwickelter Infrastruktur gibt.
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4. Voraussetzungen in der Entsendegesellschaft Der Entschluss zum Krieg mag von der politischen Elite schnell gefasst sein. Offen bleibt dann aber die Frage, ob die eigene Gesellschaft den Krieg akzeptiert oder sogar mitträgt. Hier spielt die Informationspolitik eine ganz wesentliche Rolle, aber auch die politische Kultur und die Kriegserfahrungen der Bevölkerung sowie die Schlussfolgerungen, die sie daraus gezogen hat. Die andere Frage ist, wie viel an Ressourcen und Menschen ist die eigene Bevölkerung bereit, für einen Krieg zu opfern. Dabei spielt sicher eine Rolle, ob der Krieg als aufgezwungen und gerecht empfunden wird oder ob er als eine politisch gewollte, aber nicht plausibel begründete interessenpolitische Aktion gilt. Moderne Zivilgesellschaften – auch als postheroische Gesellschaften bezeichnet – sind sehr skeptisch gegenüber Krieg und nur sehr begrenzt bereit, dafür materielle oder personelle Opfer zu bringen.3 Diese Haltung ist rational, denn solche Gesellschaften brauchen den Frieden, weil sie nur so den zivilisatorischen Standard aufrecht erhalten können, den sie für ihre Existenz benötigen. Zentral bleibt also, in der Entsendegesellschaft einen Konsens über das Kriegsprojekt herzustellen und diesen Konsens auch in Krisen aufrecht zu erhalten. Man muss sich auch Klarheit darüber verschaffen, welche Entwicklungen oder von der Opposition eingesetzte Mittel diesen notwendigen Konsens zerstören könnten. All das rational, umfänglich und hinreichend vorweg zu analysieren und in die eigene (Kriegs-)Politik einzubringen, erfordert einen erheblichen intellektuellen Aufwand. Und da man nicht im Voraus weiß, wo unter den derzeitigen Bedingungen der sicherheitspolitischen Weltlage der nächste Einsatz unabweisbar wird, bedürfte es einer gut strukturierten und bestens ausgestatteten Institution, die solche Analysen auf wissenschaftlicher Basis laufend erstellt. Ein gut sortierter Generalstab nach dem Vorbild des letzt vergangenen Jahrhunderts reicht dafür nicht mehr aus, auch nicht die Kenntnisse und Fähigkeiten, die heute bei Politikern und Soldaten in diesem anspruchsvollen Metier erkennbar sind. Von außen lässt sich natürlich nicht feststellen, ob die hier aufgeführten Voraussetzungen auf politischer und militärischer Ebene tatsächlich erfüllt wurden. Deshalb kann nur die Analyse der Entwicklung des politischen und militärischen Handelns selbst und der Umgang der Akteure mit den Folgen ihres Tuns und desjenigen ihres Gegners Aufschluss darüber geben.
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Vgl. hierzu Shaw (2002), außerdem Münkler (2002a) und (2002b).
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II. Der Entschluss zum Krieg in Afghanistan Die Entscheidung zum Krieg ist in den USA infolge der Anschläge vom 11. September 2001 gefallen. Die Bush-Administration hatte formal die Wahl, diesen Anschlag als kriminellen terroristischen Akt zu qualifizieren und Terroristen wie bei vorherigen Attentaten zu verfolgen – also mit einer Mischung aus polizeilichen, geheimdienstlichen und militärischen Mitteln. Sie hat sich entschieden, den Anschlag als Kriegserklärung aufzufassen. Dass die NATO dieser Interpretation folgte und den Bündnisfall proklamierte, hat die US-Entscheidung auch zu einer europäischen Angelegenheit gemacht. Dem moralischen Zwang, in diesen Krieg als Kriegspartei einzutreten, war kaum zu entgehen, obwohl der NATO-Vertrag auch andere Optionen der Unterstützung vorsieht. Als immer deutlicher wurde, dass die USA auf den Irak-Krieg zusteuerten, wurde die deutsche zurückhaltende Beteiligung mit schwachen und unvorbereiteten Kräften dazu benutzt, die deutsche Weigerung, am Krieg teilzunehmen, nachträglich auch mit dem Afghanistanengagement zu begründen. So erschien die deutsche Beteiligung unter dem Dach des ISAFMandats als Friedenssicherung und konnte der skeptischen deutschen Bevölkerung schmackhaft gemacht werden. Vergessen werden darf auch nicht, dass bei diesem Anfang kein Widerspruch zwischen der deklarierten Politik und den Tatsachen vor Ort bestand. Das kleine deutsche Kontingent war bei Kabul stationiert und stabilisierte die Lage in der afghanischen Hauptstadt zunächst tatsächlich. Die mit deutscher Hilfe geleistete Aufbauarbeit bei Schulen, der Krankenversorgung und Infrastruktur ließ die deutsche Präsenz auch noch plausibel erscheinen, nachdem ein Teil des afghanischen Nordens dem deutschen Kontingent zugeteilt wurde. Was die US-Administration aber bei ihrer Entscheidung zum Afghanistankrieg ausgeblendet hat, sollte sich als gravierend erweisen. Es waren die eigenen und fremden Erfahrungen mit dem Partisanenkrieg. Nie hatte er wirklich alleine kriegsentscheidende Wirkung, er hatte aber fast immer einen erheblichen Anteil am strategischen Ergebnis. Man brauchte gar nicht in die amerikanische oder europäische Geschichte zu schauen, obwohl die verschiedenen Beispiele genug Warnungen hätten geben können. Aber selbst die eigenen negativen Erfahrungen in Vietnam blieben ebenso unberücksichtigt, wie die Erfahrungen mit den von den USA unterstützten Aufständischen gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan, die keinen realistischen Niederschlag in der amerikanischen Strategie gefunden zu haben scheinen. Man glaubte wohl, die Verbündeten von vor wenigen Jahren nicht ernst nehmen zu müssen und nahm an, mit den eigenen, auf HighTech-gestützten Fähigkeiten kurzen Prozess mit dem Kriegsgegner machen
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zu können. Dass sowohl die unübersichtliche Stadtgeografie wie auch die Gebirgslandschaften ideale Operationsgebiete für Partisanen sind, wurde offenbar ausgeblendet.
III. Das internationale politische Umfeld Die Auswirkungen von Krieg sind nicht begrenzbar. Wer glaubt, sie auf das Schlachtfeld – was immer das sei – eingrenzen zu können oder gar auf die kriegführenden Parteien, vergisst, dass Krieg ein Teil von Politik ist und natürlich in alle möglichen politischen Verhältnisse hineinwirkt. Umgekehrt haben auch politische Rahmenbedingungen direkte und indirekte Wirkungen auf den Kriegsverlauf. Der Afghanistankrieg wurde aber seitens der USA als eine nur-militärische Angelegenheit aufgefasst. Vergessen wurde, dass sowohl die Terroranschläge als auch der Hass auf Amerika aufs Engste mit der Rolle der USA im Nahostkonflikt verknüpft sind. Der Irakkrieg tat das Seine dazu und nahezu die ganze islamische Welt geriet in Aufruhr. Die Unterstützung der Aufständischen in Afghanistan aus diesem Umfeld wuchs bedrohlich und führte zu immer instabileren Verhältnissen, die auch die Bundeswehr zunehmend deutlicher zu spüren bekam. Für die USA hatte die Kriegspolitik der Bush-Administration fatale Folgen, weil nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch in den Gesellschaften der verbündeten Staaten die Legitimität des Krieges immer heftiger in Frage gestellt wurde und die moralische Unterstützung mehr oder weniger wegbrach. Dieser Prozess ist auch in Deutschland feststellbar und schließt hier den Afghanistankrieg ein. Dass die USA das Zentrum des Terrornetzes zerschlagen wollten, wurde ihnen noch weitgehend zugestanden. Die Ausweitung des Krieges in den Irak lehnte man aber vehement ab.
IV. Das strategische Ziel und die afghanische Realität 1. Die politische Dimension Die in Afghanistan engagierten Nationen haben direkt oder indirekt sechs strategische Ziele benannt. Diese sind: 1. die Errichtung eines afghanischen Zentralstaates, 2. die Etablierung einer Demokratie präsidialen Charakters, 3. zentrale „nationale“ Streitkräfte, 4. eine ebenso zentral geführte Polizei nach rechtsstaatlichen Prinzipien, 5. eine moderne zentrale Staatsverwaltung und
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6. die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft eines der ärmsten Länder der Welt mit einem Durchschnittseinkommen von unter einem Dollar pro Tag und Person. Wer die afghanischen Verhältnisse nur in groben Zügen kennt, muss sich fragen, wie das gelingen soll. In einem Vielvölkerstaat, der Staat in modernem Sinne nie war, in dem die Rivalitäten der verschiedenen Ethnien auch vor dem Einmarsch der Sowjetunion und erst recht danach auch in bewaffneten Konflikten ausgetragen wurden, innerer Frieden immer nur ein unsicherer Waffenstillstand war und das gegenseitige Misstrauen überwog, einen zentral regierten Einheitsstaat zu etablieren, ist schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt. In einer Gesellschaft, in der die sozialen und politischen Loyalitäten dem Clan und dem Stamm gelten, eine einheitliche und zentral geführte Armee aufzubauen, kann auch nicht gelingen, da es keine zentralstaatlich orientierte Loyalität bei internen Konflikten geben wird. Das Gleiche gilt für die Polizei, wobei bei beiden Institutionen ein gravierendes zusätzliches Hindernis der weit verbreitete Analphabetismus ist. Wie sollen leseunkundige Soldaten oder Polizisten rechtskonform Aufgaben lösen, wenn sie die Vorschriften oder Befehle nicht lesen können. Genauso unwahrscheinlich ist es, unter den aufgeführten Bedingungen eine Verwaltung aufzubauen, die über die großen Städte hinaus zu wirken in der Lage ist, zumal auch hier die traditionellen Loyalitäten größer sind als der offizielle Auftrag. Schon heute ist offenbar ein Teil dessen, was in Deutschland als Korruption verstanden wird, auf diese Ursachen zurückzuführen. Gravierender werden diese Einwände, wenn man sich die afghanischen gesellschaftlichen Verhältnisse etwas genauer ansieht. Clan- und Stammesgesellschaft sind ja nicht wegen bestimmter Vorlieben so geworden, sie sind unter den obwaltenden Verhältnissen die einzige Möglichkeit des normalen Einzelnen überhaupt zu überleben. In der kargen Landschaft, oft in entlegenen Tälern, von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten, blieb die traditionelle Lebensweise die einzige, die Nahrung und Sicherheit garantierte. Dazu kommt, dass der Islam in dieser Isolation und lebensfeindlichen Welt Sinnsicherheit und Orientierung bot und in seiner altertümlichen, lebensweltlich geformten Ausprägung den Verhältnissen bestens angepasst ist. Über Jahrhunderte tradiert, im Alltagsleben ebenso lange fest verankert, ist er das normale und normierende Orientierungsmuster. Dass diese ländliche Gesellschaft mit diesen Bindungen einen nicht überbrückbaren Gegensatz zur Gesellschaft in den Städten bildet, ist normal und auch mittlerweile dem Außenstehenden erkennbar. Hinzu kommt, dass der ethnisch buntere Norden des Landes eine Aversion gegen den pashtunischen Süden hat, die zum Teil auch aus der drohenden Dominanz der
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Pashtunen erklärbar ist. Einer solchen Gesellschaft Demokratie zu verordnen, dazu noch die Gleichberechtigung der Geschlechter, grenzt an politische und gesellschaftliche Blindheit. Demokratie ist ohne Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte nicht möglich. Auch in der europäischen Geschichte hat es kein Land gegeben, in dem sich stabile demokratische Verhältnisse durchgesetzt haben, wenn dessen Bevölkerung nicht vorher nahezu vollständig alphabetisiert war. Berücksichtigt man zusätzlich, dass das Durchschnittseinkommen in Afghanistan weniger als ein Dollar pro Tag beträgt, also der weitaus größte Teil der Bevölkerung noch sehr viel weniger zur Verfügung hat, so ist auch dies ein Grund, der Demokratie in diesem Land unmöglich macht. An der Kaufkraft gemessen haben alle europäischen Länder, auch die USA, zu Zeiten auch nur annähernd demokratischer Verhältnisse ein deutlich höheres Durchschnittseinkommen ausgewiesen. Demokratie braucht auch zumindest den inneren Frieden. Afghanistan ist ein seit Jahrzehnten vom Krieg zerrissenes Land. Gewaltbereitschaft ist im Lande konstitutiv. Ob Warlords, Drogenbarone oder weggelaufene „Soldaten“ und „Polizisten“, sie alle wollen die Fremden ebenso wenig im Lande haben, wie es die extremen Islamisten wollen.4 Die Anfangserfolge der Interventionsstreitkräfte verbrauchen sich mittlerweile und der Zulauf zu den Aufständischen wird von Tag zu Tag größer. Sie alle mit dem Begriff Taliban zu belegen und damit zu suggerieren, dass dies eine einheitliche und zentral geführte Macht sei, die es auszuschalten gelte, ist mehr als irreführend. Diese Benennung ist mittlerweile Teil einer informationellen Irreführung, weil man damit die eigentlichen Beweggründe des Widerstandes und die damit verbundenen Probleme verschleiert. Das eigentliche Problem werden zunehmend die Interventionisten, weil ihre strategischen Ziele in Afghanistan keine Akzeptanz finden und mehr und mehr die Ursache für den Aufstand sind. Dazu kommt, dass die Interventionisten sich auch noch mit den von der Masse der Afghanen meistgehassten Eliten verbündet haben. Letztendlich wurde auf diese Weise auch die beklagte Korruption subventioniert. 2. Die militärischen Implikationen In den letzten 20 Jahren hat im US-Militär ein gravierender Wandel stattgefunden. Dieser hatte bei Kriegsbeginn zwar große Teile der US-Streitkräfte, insbesondere im Heer, noch nicht erreicht. Aber für die Administra4 ARD-Umfrage: In Afghanistan wächst der Hass auf den Westen, http://www. tagesschau.de/ausland/afghanistan772.html (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011).
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tion schienen diese Veränderungen schon weit genug fortgeschritten, um sich als alles überragende Militärmacht zu verstehen. Insbesondere der Verteidigungsminister schien davon zutiefst überzeugt zu sein. Diese als „revolution in militäry affairs“ bezeichnete Entwicklung führte zwar zu einer außerordentlichen Kriegführungsfähigkeit der Truppen, zugleich aber auch zur Vernachlässigung wesentlicher Aspekte der Gesamtkriegführung. In strategischer Hinsicht zeigt sich eine deutliche Überschätzung des eigenen Potentials. Die Kriegführungsfähigkeit in gleichzeitig zwei Kriegen, eine der Forderungen der Bush-Administration, war eben doch nicht gegeben.5 Dies wurde deutlich, als der Afghanistankrieg sich wider Erwarten in die Länge zog und der Irakkrieg mit der Zeit die Belastungsgrenze USamerikanischen Militärs bloß legte. Es zeigt sich in beiden Kriegstheatern, dass man die Anfangserfolge reichlich überschätzt hat. Die Fehleinschätzung, dass sich die politischen Erfolge nach einem militärischen Sieg fast von alleine einstellen würden, basiert offenbar auf dem gleichen demokratisierungsgläubigen Idealismus, der der Bush-Administration auch im Irak zum Verhängnis wurde. Deutlich wird diese Selbstüberschätzung aber in Afghanistan, wenn man den wachsenden Widerstand gegen die Interventionstruppen in Rechnung stellt. Dass primitive Gesellschaften eine so große Widerstandsfähigkeit entwickeln können, hätte man aus der eigenen Erfahrung mit dem Partisanenkrieg der Afghanen gegen die sowjetische Besatzung, den die USA ja massiv unterstützt hatten, lange wissen können. Wie stark solche Kräfte werden können, hatte man ja beobachtet. Man glaubte wohl, diese Kräfte so gut zu kennen, dass man mit ihnen fertig werden würde. So wie man in Vietnam den tropischen Regenwald als Rückzugsgebiet des Vietkongs unterschätzt hatte, unterschätzte man nun die Gebirge als Rückzugsgebiete und die städtischen Agglomerationen als Aktionsfeld der Aufständischen. Zugleich sitzt man in der Falle. Vom Meer her gibt es keinen direkten Zugang zu Afghanistan, was große logistische Herausforderungen mit sich bringt: Der gesamte Nachschub muss durch islamische Länder transportiert werden, durch Länder mit höchst labilen Regierungen und einer den USA und den anderen Interventionisten feindlich gesonnenen Bevölkerung. Diese 5 So schrieb schon der im Zuge des Irak-Krieges viel zitierte Washingtoner ThinkTank „Project for the New American Century“, dem u. a. der spätere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld angehörte, in seiner kontrovers diskutierten Studie „Rebuilding America’s Defenses“: „Conventional forces that are insufficient to fight multiple theater wars simultaneously cannot protect American global interests and allies“ (S. 13, http://www.newamericancentury.org/RebuildingAmericasDefenses.pdf, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Diese Position ist vom derzeitigen Verteidigungsminister der USA mittlerweile auch offiziell aufgegeben.
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Feindschaft hat sich radikalisiert, weil die USA glaubten, den Partisanenkrieg mit Luftschlägen führen zu können. Bis zum Wechsel der Kampftaktik im Jahr 2009 hatte diese zu großen Verlusten bei der unbeteiligten Zivilbevölkerung geführt.6 Gerade dieser Tatbestand erschwert auch noch die Entwicklung einer Ausstiegsstrategie. Die sich jetzt abzeichnenden Bemühungen kommen um Jahre zu spät. Hineingegangen sind die USA in dieses Abenteuer ohne eine solche Exitstrategie überhaupt zu haben. Die Rückzugsgebiete der Partisanen sind kaum kontrollierbar, liegen zum wesentlichen Teil jenseits der Staatsgrenzen Afghanistans und werden teilweise von den Partisanen selbst kontrolliert. Hinzu kommt eine zwar schwer bezifferbare aber offenbar enorme finanzielle Unterstützung aus der muslimischen Welt, insbesondere aus Arabien. Dieser Beistand macht es möglich, den Kämpfern in einem Land, in dem die meisten Menschen mit deutlich weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, einen Tagessold von zwölf Dollar zu zahlen. Seit Januar 2010 gibt es eine Diskussion, darüber, ob man nicht diesen Sachverhalt ausnutzen solle, um im Operationsgebiet mit Bündeln von Dollarnoten solche Kämpfer auszukaufen.7 In dieses Umfeld sind die deutschen Kräfte hineingestolpert.8 Ohne hinreichende Ausrüstung, ohne hinreichende logistische Verbindungen und ohne eigenen Lufttransportraum, aber mit einem dezidiert anderen Auftrag, als ihn die US-Streitkräfte hatten. Die Regierung Schröder hat zunächst peinlich darauf geachtet, deutsche Truppen aus Kampfhandlungen herauszuhalten. Nur angegriffen durften sie sich verteidigen. Wenn überhaupt von einer deutschen Strategie gesprochen werden kann, dann ist es die der Vermeidung. 6 Protagonist dieser Kriegführung war der derzeitige Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Afghanistan Stanley McChrystal. Er hat jahrelang Spezialkräfte geführt, die ohne die geringste Rücksicht auf die Zivilbevölkerung Taliban und AlKaida-Führer töteten. Devise dieser Truppe: „Wenn einer der von uns gesuchten Typen in einem Gelände ist – und mit ihm 34 Zivilisten, dann sterben an diesem Tag eben 35 Leute.“ ARD 14.12.2009. US-Strategie im Kampf gegen Taliban. In einer Anhörung vor dem US-Kongress sagte McChrystal: „That he has accumulated several years of command experience in that country since the war began. And yet, he confessed ‚there is much in Afghanistan that I do not understand‘.“ http://www. slate.com/id/2237797 (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 7 Taliban fighters at an undisclosed location in Afghanistan: British forces are being told to buy off potential recruits with ‚bags of gold‘. Afghanistan News Center. http://www.afghanistannewscenter.com/news/2009/november/nov172009.html#6 (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 8 Vgl. dazu die schmale, aber kluge Schrift von Naumann (2008a).
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In noch größerem Maße als die der US-Streitkräfte war die Logistik der Deutschen labil. Sie wurde erst einigermaßen stabil, als die gecharterten ukrainischen Großflugzeuge eingesetzt werden konnten und die technisch unzureichenden und zudem total veralteten Transall-Flugzeuge nur noch für lokale Aufgaben eingesetzt wurden. Da im Prinzip nur auf politischen Druck der Einsatz zustande kam, dieser Druck nun wegen der Verschärfung der Lage größer wurde, nunmehr auch von den anderen NATO-Staaten, die sich ebenfalls dort engagiert hatten, wurde der Einsatz der deutschen Kräfte nach und nach quantitativ und verschleiert auch qualitativ ausgeweitet.9 Hier hatte die öffentliche Zusicherung der „bedingungslosen Solidarität mit den USA“ infolge von 9/11 durch den Bundeskanzler Schröder fatale Langzeitwirkung. Dies geschah ohne konkretes Kriegsziel, das eh nur mit dem Hauptverbündeten gemeinsam festgelegt werden konnte. Das wurde zunächst auch nicht als besonders gravierend empfunden, da man ja keinen „Krieg“ führte. So konnte auch keine zeitliche Begrenzung des Einsatzes mehr festgelegt werden, was eigentlich bei den Verhandlungen zum Einsatz vertraglich festgeschrieben hätte werden müssen. Nicht umsonst heißt es in der Bundeswehr: „Wir waren bisher immer dort im Einsatz, wo wir auf keinen Fall hinwollten“. Immer tiefer in diesen Krieg hineingezogen mussten auch die taktischen Einsatzgrundsätze scheibchenweise nachgebessert werden. Die anfänglich ausgegebenen Richtlinien wurden der Situation, d.h. der Zunahme von Kampfhandlungen, nicht mehr gerecht. Ein ungenannter Stabsoffizier, der mehrmals in Afghanistan eingesetzt war und die schleichende Veränderung erlebt hat, fasste seine Erfahrungen folgendermaßen zusammen: „Ich weiß jetzt, wie Kriege entstehen auch wenn man keinen Krieg haben will.“ Rechnet man nun zu den speziell deutschen Problemen noch die strukturellen hinzu, die weiter oben bei der Diskussion der US-Aktivitäten aufgeführt wurden, kann man den Schluss kaum vermeiden, dass die Bundesregierung ein Vabanquespiel zugelassen hat, da sie auf die Entwicklung in Afghanistan wie auf die Politik der USA und der beteiligten NATO-Staaten keinen hinreichenden Einfluss hat. Ihr bleibt außer einem Alleingang mit wahrscheinlich verheerenden politischen Folgen keine Option. Die Regierung wie die Bundeswehr sitzen in der Falle.
9 Ein kurzes, heftiges Aufflackern einer Diskussion ist bezeichnender Weise die um den Einsatz von mit deutschen Soldaten geflogenen Aufklärungsflugzeugen. Hier registrierte eine sensible Öffentlichkeit, dass es sich um eine prinzipielle Aufweichung der bisherigen deutschen Politik handelte. Die oben genannte Operation „Harekate Yolo II“ führte hingegen nur zu einer Debatte des Fachpublikums.
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V. Der Krieg in Afghanistan und die deutsche Öffentlichkeit 1. Strukturelle Voraussetzungen zureichender Informationspolitik Krieg ist in Deutschland ein hochsensibles Thema. Zwei verlorene Weltkriege und Millionen Zivil- und Kriegstote sind hier nicht vergessen. Auch nicht, dass deutsches Militär in großem Umfang in Kriegsverbrechen verstrickt und zutiefst demokratiefeindlich orientiert war. Das sind Faktoren, die unterschwellig oder offen jeglicher Diskussion über Krieg und Frieden unterliegen. Dazu kommt, dass die deutsche Gesellschaft zu den sogenannten postheroischen Gesellschaften gerechnet wird, die Gesellschaft also nicht mehr bereit ist, in größerem Umfang das Leben von Soldaten zu opfern. Hier liegen strukturell bedingte und rational begründete Vorbehalte vor, die Krieg mit größter Skepsis oder offener Ablehnung bedenken.10 Dies muss jede deutsche Regierung berücksichtigen, wenn sie entschlossen ist, sich an einem Krieg zu beteiligen. Zustimmung zu einer solchen Entscheidung muss sie demnach bestens begründen und dabei die oben genannten historisch und strukturell begründeten Vorbehalte überwinden. Offen gegen vorherrschende gesellschaftliche Grundorientierungen vorzugehen ist selten von Erfolg gekrönt. Beste Voraussetzung für die Beeinflussung ist die Anknüpfung an vorhandene kulturelle und politische Traditionen, latente oder sichtbare zustimmungsnahe Meinungen und bekannte Interpretationszusammenhänge, die nur verstärkt werden müssen. Es kommt also darauf an, einen Interpretationsrahmen zu konstruieren, der diese Besonderheiten berücksichtigt. „Framing“ nennt man diese Kommunikationstechnik in der einschlägigen Wissenschaft.11 Das Framing für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan musste also • negative Kriegserfahrung, • negative Erfahrung mit Militär, 10 Zur Debatte um den Begriff der „postheroischen Gesellschaften“ und mögliche Ursachen, für die geringe Bereitschaft den Tod von Soldaten zu akzeptieren, vgl. auch Knöbl (2008). 11 Framing, so Entman (2004) in der gebräuchlichsten Definition der Kommunikationswissenschaft, wird verstanden als „selecting and highlighting some facets of events and issues, and making connections among them so as to promote a particular interpretation, evaluation, and/or solution“. Dieser Prozess ist gerade in den USA nachgewiesenermaßen hochrelevant für den Erfolg außenpolitischer Konzepte der US-Administration.
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• zivilgesellschaftliche Grundorientierung (Gewaltfreiheit, Geschlechtergleichheit und soziale Gerechtigkeit) und • die Dominanz der Friedensorientierung in der Bevölkerung wie im Grundgesetz. in ihren Begründungsrahmen widerspruchsfrei einfügen. Außerdem blieben das Solidaritätsversprechen für Amerika sowie die Bündnistreue argumentativ einzubinden. Das alles ist der Bundesregierung gelungen. Dabei gab es einen offensichtlichen Konsens innerhalb der Bundesregierung und den sie tragenden Bundestagsfraktionen: Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan wurde als humanitärer Einsatz dargestellt und die Etikettierung als „Krieg“ vermieden.12 Damit scheinen die politische Kultur der Republik ebenso wie deren kulturelle und gesellschaftliche Traditionen in das Framing integriert. So konnten auch unterschwellige oder offen pazifistische Strömungen weitgehend still gestellt werden. In der ersten Zeit entsprach diese Vorstellung weitgehend den Tatsachen vor Ort. Die Bundeswehr agierte aufgrund eines UN-Mandates (ISAF) auf völkerrechtlich korrekter Grundlage und mit einem Auftrag, der sich als Friedenssicherung gegen kriminelle Akteure und Sicherung des Wiederaufbaus interpretieren ließ. Die Hilfe bei der Krankenversorgung, Einrichtung von Schulen auch für Mädchen und Infrastrukturmaßnahmen waren nicht nur gute Argumente für den Militäreinsatz, sondern auch wirklich positiv für das geschundene Land. Auch die negative Berichterstattung über die Rolle und Aktivitäten der Taliban trug zur Stabilisierung der Zustimmung bei. Wenn diese „Barbaren“ jahrhundertealte Kulturdenkmäler sprengten, weil sie nicht in ihr extremistisch-religiöses Weltbild passten, oder wenn sie neu errichtete Mädchenschulen zerstörten, gaben sie sozusagen die Stichworte zur Zustimmungsdebatte.13 Da die USA und die anderen NATO-Kontingente in Afghanistan den „eigentlichen“ Krieg führten, konnte deutsche Politik den deutschen Einsatz demonstrativ mit dem Wort Frieden verbinden. Das Framing war also richtig. Allerdings hat sich die Realität inzwischen davon weit entfernt. 12
Selbst in Folge des Kundus-Bombardements blieb die Bundesregierung bei der Vermeidung des Wortes Krieg. So bezeichnete Außenminister Guido Westerwelle am 10. Februar 2010 die Situation in Afghanistan als „bewaffnete[n] Konflikt im Sinne des Humanitären Völkerrechts“. Diese Bewertung ermöglichte es sowohl, die Bundeswehrsoldaten juristisch zu entlasten, als auch, den in der deutschen Öffentlichkeit so skeptisch betrachteten Begriff Krieg zu vermeiden. 13 So wurde auch die internationale Debatte über Frauenrechte in Afghanistan 2001 gezielt durch die US-Administration initiiert. Vgl. Kutz, Magnus (2006), S. 78.
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2. Konkrete Medienpolitik am Beispiel des Falles Kundus Die Bundeswehr ist zurzeit fast ausschließlich mit der Selbstverteidigung beschäftigt. Sie hat zwar umfangreiche militärische Mittel und Kräfte vor Ort, durfte sie aber aus politischen Gründen nicht einsetzen. Und die politischen Gründe waren das Aufrechterhalten der Illusionen, die mit dem gelungenen Framing in der deutschen Bevölkerung geweckt wurden. Dass der Einsatz sowohl dem Umfang, der geografischen Ausdehnung und dem Auftrag nach Stück für Stück erweitert wurde ohne das hinreichend informationspolitisch umzusetzen, lässt nunmehr die ganze Tragweite des Problems schockweise fur die hinters Licht geführte Öffentlichkeit deutlich werden. Dass die Bundeswehr immer tiefer in den Krieg verwickelt wurde, war unvermeidbar, weil die Regierung sich darauf festgelegt hatte, aus Bündnistreue in Afghanistan zu bleiben und keine Argumente hatte, den Wünschen der Alliierten nach intensiverer Beteiligung entgegenzutreten. Das Festhalten am überholten Frame und die traditionell defensive Informationspolitik der Bundeswehr, ja ihre Mitwirkung am Verschleiern,14 haben die Situation verschärft. Der Rückhalt in der Bevölkerung schwindet mehr und mehr. Die traditionelle Friedensorientierung wird immer virulenter. Diese dominante Orientierung der deutschen Bevölkerung am Frieden lässt sich in einigen Meinungsumfragen konkretisieren. Die Zustimmung zum Einsatz ist von der ziemlich hohen Zustimmung von über zwei Drittel der Bevölkerung von Jahr zu Jahr zurückgegangen. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr kommt durch suggestive Fragestellungen nach Friedenseinsatz und UNOFriedenstruppe sowie eine undurchsichtige Zuordnung der Antworten auf hohe Zustimmungswerte.15 Andere Umfragen stellen allerdings fest,16 dass im Jahr 2008 zwar 57 Prozent für den Einsatz sind, aber nur 24 Prozent den Kampfeinsatz befürworten. Zum Vergleich: In den USA sind 64 Prozent für den Einsatz und sogar 68 Prozent für den Kampfeinsatz. Ähnlich hohe Zahlen liegen auch aus Großbritannien vor. In den kontinentaleuropäischen Staaten ist die Tendenz aber ähnlich wie in Deutschland. Deutlicher wird die Friedensorientierung,17 wenn man bedenkt, dass 84 Prozent der 14
Deutlich geworden ist dies bei den Berichten über das Bombardement. Vor Ort wurde versucht, die eigens dazu berufenen Kräfte an der Aufklärung des tatsächlichen Geschehens zu hindern. 15 Vgl. Jacobs (2009), S. 49. 16 Vgl. Jacobs (2009), S. 53, Tab. Nr. 4. Die Zahlen stammen aus Transatlantic Trends (2008): Topline Data 2003–2008. http://www.transatlantictrends.org (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 17 Sozialwissenschaftliches Institut (SOWI) der Bundeswehr (2008), S. 24, Tab. 6.1.
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Deutschen der Katastrophenhilfe der Bundeswehr zustimmen, aber nur 25 Prozent ihrem Einsatz, um ein Regime zu stürzen, das die Menschenrechte verletzt. Bedroht fühlen sich ca. 67 Prozent von Kürzungen der Sozialleistungen, aber nur 26 Prozent durch den Krieg in Afghanistan.18 Mittlerweile liegen auch erste fundierte Studien über die Probleme in Afghanistan vor, anhand derer sich jeder über das Ausmaß des Krieges und seiner Folgen hinreichend informieren kann.19 Sie zeigen, dass die bisherige Vorgehensweise die Situation im Lande nicht verbessert hat, vor allem, dass die Bevölkerung mehr und mehr auf Distanz zur Intervention geht und damit die Spielräume für die Aktivitäten der Aufständischen wachsen. Nunmehr agieren sie auch recht erfolgreich im bisher ziemlich ruhigen Norden des Landes. Diese neuen Kenntnisse verbreiten sich zunehmend und unterminieren die Zustimmungsbereitschaft in Deutschland. In diese Situation platzte die in der BILD-Zeitung veröffentlichte Nachricht von den Folgen des Bombardements auf die Tanklastzüge bei Kundus. Sie schreckte die Öffentlichkeit wegen der hohen Zahl an getöteten Afghanen, mehr noch dadurch, dass offenbar versucht wurde, diese Fakten nicht nur in Deutschland, sondern auch vor Ort zu vertuschen.20 Einzelheiten zu diesen Vorgängen sind zwar wichtig in der öffentlichen Diskussion: so etwa, dass zwei Minister die Öffentlichkeit nicht wahrheitsgemäß informiert haben. Von größerer Bedeutung aber war, dass sich dahinter verbirgt, wie unfähig die Regierung ist, sich sowohl den neuen Tatsachen in Afghanistan zu stellen als auch die Informationspolitik neu auszurichten. Derzeit gibt es keinen konsistenten Frame, der sowohl die Ereignisse in Afghanistan erklären als auch der grundsätzlichen Friedensorientierung der deutschen Gesellschaft Rechnung tragen könnte. Damit verliert die Bundesregierung die Deutungshoheit über ihre Afghanistanpolitik. Das Schweigen darüber wegen der Bundestagswahl 2009 und der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2010 zeigt, dass beide Regierungen wussten und wissen, dass ihre Afghanistanpolitik in Deutschland nicht mehr kommunizierbar ist. Schon vor dem Kundusvorfall21 waren 55 Prozent der deutschen Bevölkerung gegen den Afghanistaneinsatz. Zwar waren noch 42 Prozent mit diesem Einsatz einverstanden, hier gilt aber wieder, dass davon der allergrößte 18
Ebenfalls SOWI, aber Befragung 2006. Vgl. hierzu Erhart/Kästner (2008), Kornelius (2009) und Lindemann (2010). 20 Vgl. Spiegel online, 16.12.2009. Geheimprotokolle offenbaren Vernebelungstaktik der Militärs. 21 FOCUS online, 3.7.2009, 11.22 Uhr, Ergebnisse einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim, unter 1206 Wahlberechtigten im Auftrage des ZDF. Seither ist aber das vorher gute Ansehen der Deutschen dramatisch schlechter geworden. Vgl. Spiegel online, 11.1.2010 13.36 Uhr. 19
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Teil einen Kampfeinsatz ablehnte. Anfang Dezember, als die Kundus-Affaire bekannt war, stieg die Ablehnung auf 69 Prozent und nur noch 27 Prozent waren dafür. Die entscheidende Zahl ist aber, dass 77 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass sie von der Bundesregierung nicht „ehrlich und umfassend“ informiert werden. Das Vertrauen in die Informationspolitik ist auf 19 Prozent gefallen. Viel schlechtere Ergebnisse kann Informationspolitik nicht erreichen.
VI. Ein rationaler Weg aus den Dilemmata 1. Die strategischen Ziele anpassen Auf die wichtigste Voraussetzung für eine Befriedung Afghanistans hat die Bundesregierung den geringsten Einfluss. Die Schlüsselrolle fällt – wie zu Beginn des Krieges – den USA zu. Sie müssen die Afghanistanpolitik in eine strategische Neuorientierung der gesamten Nahostpolitik einpassen. Der Schlüssel zum Frieden liegt in Israel und Palästina. Ohne den Frieden dort wird alles andere nur Stückwerk bleiben. Und nur die USA haben die Macht, vor allem Israel zum Einlenken zu zwingen. Das zweite Problem lässt sich wahrscheinlich auch nur von den USA lösen. Es gilt, die finanziellen Profiteure und die Sponsoren des Krieges kaltzustellen. Die enormen Summen, die den Aufständischen zufließen und von denen sie die exorbitanten Söldnerlöhne bezahlen, kommen offenbar auch aus Kreisen, die mit Ölinteressen verquickt sind. Diese Geldströme müssten ausgetrocknet werden. Wenn man bedenkt, dass amerikanische Offizielle davon ausgehen, dass erhebliche Anteile der amerikanischen Entwicklungshilfe in Afghanistan auf Umwegen bei den Taliban auftauchen,22 dürfte der Handlungsbedarf unabweisbar sein. Die dritte Korrektur betrifft Afghanistan direkt. Nur wenn die Interventionisten die zentralstaatliche Perspektive aufgeben und eine Regionalisierung von Verwaltung, Polizei und auch Sicherheitskräften zulassen, gibt es eine Aussicht auf Erfolg in Afghanistan. Damit aufs Engste verknüpft ist, dass man sich endlich der Einsicht öffnet, dass Demokratie in einer Clangesellschaft – erst recht unter afghanischen ethnischen Bedingungen – eine Unmöglichkeit ist. Politische Beteiligung in diesem Land kann nur anderen, der Gesellschaft angepassten Prinzipien folgen. Dazu gehört auch, dass man 22 Hierzu Global Post vom 19.1.2010. „Among many members of the military in Eastern Afghanistan, it’s accepted wisdom, that corruption from American development is helping to finance the insurgency.“ http://www.globalpost.com/dispatch/ afghanistan/100115/afghanistan-us-aid (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011).
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akzeptiert, dass in dieser Gesellschaft Geschlechtergleichheit auf Jahrzehnte eine Illusion bleiben wird. Dass das afghanische „Regierungssystem“ von Grund auf korrupt ist, ist bei einer so armen Gesellschaft unvermeidlich. Dass die Profiteure der Korruption aber auch im eigenen Lande verhasst sind, scheint evident. Umso unverständlicher ist, dass man die finanziellen Hilfen zum Wiederaufbau des Landes und zur Wirtschaftsentwicklung durch diese klebrigen Hände fließen lässt.23 Diese Zwischenstationen müssen ausgebremst werden. Die Hilfe muss vor Ort nach örtlichen Bedarfen und dort direkt organisiert werden. So wird sicher auch ein größerer Teil des Geldes,24 der jetzt aus unterschiedlichen Gründen bei den Aufständischen landet, auch seiner eigentlichen Bestimmung zufließen können. 2. Militärisch umsteuern Es gilt, sich endlich die Erfahrungen mit den Partisanen zu Eigen zu machen. Was beschönigend asymmetrische Kriegführung genannt wird, ist ein „irregulärer Krieg“, ein Partisanenkrieg. Ihn kann man nur politisch beenden oder materiell austrocknen; und das ist extrem schwierig. Es müssen also die finanziellen Mittel für die Beschaffung kriegswichtiger Güter, insbesondere für Waffen und Munition abgefangen werden, ebenso der Nachschub an Menschen und Material aus den Rückzugsgebieten, insbesondere von jenseits der afghanischen Grenzen, aber auch die Schutzgelderpressung und stillschweigende Zusammenarbeit mit den Taliban. Beide Phämomene sind so tief auch in der afghanischen Tradition verankert, dass diese Konstanten des Alltagslebens kaum auflösbar scheinen. Dazu gehört auch, den Kämpfern Ausstiegschancen zu bieten, die ihnen eine friedliche Existenz ermöglichen können.25 Die ominösen zwölf Dollar Sold pro Tag sind ein Schlüssel. Viel23 Mother Jones: Corruption in Afghanistan: It’s Even Worse Than You Think, by Daniel Schulman, http://www.motherjones.com/politics/2010/01/corruption-afghanis tan-its-even-worse-you-think (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 24 Dass auch dann noch reichlich Möglichkeiten bestehen, die Finanzen zu zweckentfremden, zeigt ein Beispiel, das die FAZ am 25.1.2010 auf S. 3 berichtet hat. 25 Jetzt (Februar 2010) wo der Krieg immer lästiger und der militärische Sieg immer aussichtsloser wird, kommen im zeitlichen Zusammenhang mit der Londoner Afghanistankonferenz auch Vorschläge zur Integration der Taliban in die Diskussion. Vgl. GUARDIAN. c/o up, Karzai plans to woo Taliban with „land, work and pension“. http://www.guardian.co.uk/world/2010/jan/19 (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Auch der US-Verteidigungsminister würde Taliban wieder eingliedern. FAZ 23.1.2010. Dies ist Grundtenor auch der Afghanistankonferenz vom 28.1.2010 gewesen, ganzseitige Berichterstattung in der FAZ vom 29.1.2010.
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leicht ist ein Ausstieg billiger zu haben, da damit für den Ausstiegswilligen auch die Gefahr wegfällt, zum Krüppel geschossen oder getötet zu werden. Dann wird es Zeit, zwischen den islamistischen extremen Taliban und den aus anderen Gründen am Aufstand Beteiligten zu unterscheiden. Letztere sind sicher eher Gesprächs- und Verhandlungspartner und sind sicher auch über ökonomische Angebote leichter zu erreichen. Gerade die undifferenzierte Gleichsetzung von Taliban und „Terroristen“ in der öffentlichen Rhetorik erschwert eine rationale Herangehensweise. Die Folgen dieser Argumentation waren auch beim Bombenangriff von Kundus zu beobachten: Setzt man alle lokalen Unterstützer mit „Taliban“ und „Terroristen“ gleich und bringt sie so in eine argumentative Linie mit den Attentätern vom 11. September 2001, sinkt die Hemmschwelle, auch Zivilisten anzugreifen. Eine erfolgreiche Stabilisierung der lokalen Sicherheitsarchitektur lässt sich sicher nur dadurch erreichen, dass man lokale Sicherheitskräfte aufbaut, die das Vertrauen der Bewohner vor Ort haben. Sie müssen an die Clan- und Stammesstrukturen weitgehend angepasst werden, laufen dabei aber auch Gefahr, dass sie mit den Aufständischen gemeinsame Sache machen. Das zunächst Wichtigste scheint aber zu sein, die taktische Kampfführung so zu verändern, dass hohe Verluste bei der Zivilbevölkerung ausbleiben, dass deren Schutz vor Erpressung durch die Aufständischen garantiert wird und Alltagserfahrung von Sicherheit wieder möglich ist. Wenn der britische Befehlshaber vor Ort feststellt, dass die Sicherheit der Bevölkerung zur Zeit der Herrschaft der Taliban größer war als derzeit,26 scheint die Evidenz dieser Problematik unabweisbar. 3. Afghanistan in der deutschen Innenpolitik Die Kundusaffaire hat ein Gutes: Die deutsche Öffentlichkeit hat begriffen, dass Deutschland in Afghanistan in einen Krieg verwickelt ist. Wichtig ist, dass Deutschland in Afghanistan auf einer korrekten, einwandfreien, rechtlichen und völkerrechtlichen Grundlage agiert. Aber Krieg bleibt Krieg und dieser Tatsache müssen sich nun auch Politik und Gesellschaft stellen. Parlament, zuständige Ausschüsse und der einzelne Parlamentarier müssen sich nun ernsthaft mit dem Krieg auseinandersetzen. Die Friedens- und Entwicklungsrhetorik reicht nicht mehr. Das heißt auch, sich mit dem Militär, seinen Strukturen, Fähigkeiten und Einsatzprinzipien einzulassen und 26 Daily Mail, Mail Online: Roads were safer in Afghanistan under the Taliban, British General admits, http://www.dailymail.co.uk/news/article-1232888,29.1.2010 (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011) – die Aussage machte Gen.Maj. Carter). Die britische Armee befürchtet, dass sie die Kontrolle über große Teile ihres Einsatzgebietes verlieren wird.
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den Soldaten im Einsatz das an materieller und politischer Unterstützung zukommen zu lassen, was sie für ihre extrem schwierige Aufgabe brauchen.27 Wenn es stimmt, dass auf Betreiben eines Lobbyisten und zweier Bundestagsabgeordneter die zuständigen Ausschüsse für Verteidigung und Finanzen jahrelang den Ankauf eines dringend benötigten und schon einsatzfähigen gepanzerten Fahrzeuges verhindert haben, nur um einer deutschen Rüstungsfirma eine Chance zum Einstieg in dieses Geschäft zu ermöglichen,28 so ist das nicht nur ein Skandal. Diese Abgeordneten haben sich dann die Verletzungen und den Tod deutscher Soldaten zuschreiben zu lassen. In das Feld ehrlichen Umgangs mit dem Krieg gehört auch, dass man die Einsatzprinzipien, soweit sie den Soldaten vor Ort betreffen, den Gegebenheiten anpasst. Soldaten müssen klare und verlässliche Grundlagen für ihre Einsätze haben, sie müssen erfahren, dass man ihre Schwierigkeiten im Ministerium und im Parlament kennt. Die routinemäßig abgearbeiteten Verlängerungen des Einsatzmandates durch das Parlament tragen dazu nicht bei – auch nicht die demonstrativen Politikerbesuche. Erst eine sachgerechte Debatte vor den Beschlüssen wäre ein solches Signal. Dies würde es auch ermöglichen, von der gebetsmühlenartig vorgetragenen Bündnisrhetorik Abstand zu nehmen. Soldaten könnten sich ernst genommen fühlen, wenn sie feststellen, dass man in Regierung, Parlament und Öffentlichkeit auch die Langzeitfolgen der Einsätze bedenkt. Wie hat man aber bisher auf die Verdoppelung der Zahl von traumatisierten Soldaten innerhalb des letzten Jahres, Suizidraten, die Probleme der Familien, die Scheidungsrate und die kaum registrierten Fälle, in denen traumatisierte Soldaten zum Sicherheitsrisiko werden, reagiert? Selbst die Zahlen von traumatisierten Soldaten der Bundeswehr sind nur unzulänglich bekannt. So steht fest, dass sich ihre Zahl zwischen 2006 und 2008 vervierfacht hat. Beschämend ist auch die Tatsache, dass die Zahl des für die Behandlung solcher Fälle notwendigen Personals in der amerikanischen Armee um den Faktor 10 größer ist als bei der Bundeswehr.29 27 Bezeichnend ist eine Meldung der FAZ vom 17.11.2009, dass nicht genug Hubschrauber für die deutsche Truppe vorhanden sind, aber auch, dass nicht einmal genug Piloten zur Verfügung stehen, um zusätzliche Hubschrauber zu fliegen. 28 Vgl. Der Spiegel, Nr. 50, 2009 S. 43 ff. 29 Vgl. Biesold (2009). Über die amerikanische Armee sind wir in dieser Frage besser informiert als über die Bundeswehr: So sind nach dem Einsatz im Irak und Afghanistan ca. 120.000 Soldaten mit psychischen Auffälligkeiten registriert worden, zugleich ca. 6000 aktive Soldaten. FAZ v. 12.11.09 („Unsichtbare Verwundungen“). Dramatisch zugenommen haben Berichte über häusliche Gewalt. Die Zahl der Suizide in der US-Armee ist 2009 mit 140 aktiven Soldaten auf dem Höchststand, dazu kommen noch 71 Soldaten, die sich nach Ende der Dienstzeit das Leben genommen haben. FAZ 19.1.2009.
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Man weiß auch, dass – zwar bei einer Minderheit – sich Söldnermentalität zeigt, insbesondere dann, wenn Soldaten mehrfach in den Auslandseinsatz geschickt werden. Man weiß auch, dass wie bei der amerikanischen Armee auch hier ausscheidende Soldaten sich bei privaten „Sicherheitsfirmen“ im Ausland verdingen30 und dass darunter traumatisierte Soldaten, die sich einer Behandlung entzogen haben, signifikant vertreten sind. Hier weiß man über die US-Streitkräfte besser Bescheid als über die Bundeswehr und auch der Umgang mit dem Soldatentod ist hochproblematisch.31 Man kann es daran festmachen, wie lange es gedauert hat, von Gefallenen öffentlich zu sprechen und auch, welche Diskussionen es um das Denkmal für die im Dienst und im Einsatz getöteten Soldaten gegeben hat. Die deutsche Gesellschaft hat noch keinen sicheren Umgang mit diesen Problemen gefunden.32 All diese ungelösten Probleme machen eine Einsicht unabweisbar. In Deutschland fehlt sowohl in der Politik wie im Militär eine sicherheitspolitische und strategische Elite, also Frauen und Männer, die in der Lage sind, die politischen, militärischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in rationalen Analysen zusammen zu führen und daraus alternativ organisierte Handlungskonzepte zu entwickeln. Dieses Defizit lässt sich kurzfristig nicht beseitigen, zumal nirgendwo die Bereitschaft zu erkennen ist, das dafür unabweisbare Forschungspotential aufzubauen. Die Illusion, dass eine verkleinerte Bundeswehr auch weniger Forschung braucht, ist längst widerlegt. Je komplizierter die Einsätze in kaum vorausschaubaren Einsatzgebieten sind, umso wichtiger sind die Kenntnisse, die vor dem Einsatz schon erarbeitet worden sind. Aber auch die Soldaten müssen sich den neuen Verhältnissen stellen. Regelmäßig kann man von ihnen hören, dass sie sich von der Bevölkerung nicht verstanden und auch nicht hinreichend unterstützt fühlen. Hier spricht noch der Vaterlandsverteidiger des vergangenen Jahrhunderts. Soldaten müssen vielmehr lernen, dass eine Interventionsarmee nicht mehr damit rechnen kann, von der ganzen Gesellschaft bei allen Aktivitäten gestützt zu werden. Sie müssen sich damit zufrieden geben, dass sie generell für notwendig gehalten werden und ihnen vertraut wird. Sie sind jetzt Instrument der Regierungspolitik, auch wenn wir eine Parlamentsarmee haben und die Institutionen, die sie einsetzen, demokratisch legitimiert sind. Aber diese Institutionen können – und müssen eventuell – die Streitkräfte auch gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung einsetzen, selbst wenn das in De30
Vgl. Hutsch (2009). Bis Mitte Dezember 2009 sind 35 Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan ums Leben gekommen. 32 Eine sehr informative Schrift, die sich mit dem Denkmal für die im Dienst ums Leben gekommenen Soldaten auseinandersetzt, ist Hettling/Echternkamp (2008), insbesondere der Aufsatz von Naumann (2008b). 31
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mokratien hochproblematisch ist. Soldaten haben deshalb nur noch das Recht darauf zu vertrauen, dass die Regierung und das Parlament sie legal einsetzen und von ihnen keine Aktivitäten verlangen, die rechtswidrig sind. Damit umzugehen ist schwierig und eine billige Lösung ist es, sich von dieser Gesellschaft abzukoppeln und ein militärisches Eigenleben zu entwickeln. Traditionalisten neigen dazu und diejenigen, die diese intellektuelle und emotionale Herausforderung nicht aushalten, sind ebenfalls anfällig dafür, Traditionen nachzutrauern. Es gilt aber, sich auch als Soldat in die öffentliche Debatte einzumischen, denn in der Demokratie wird nur derjenige wahrgenommen, der sich öffentlich bemerkbar macht. Wie soll die Öffentlichkeit über militärische Belange und Probleme urteilen, wenn diese nicht von den Soldaten kompetent präsentiert werden. Nur so wird die eigene Sichtweise verhandlungsfähig und diese Sichtweise hat eine umso größere Chance akzeptiert zu werden, wenn sie auf Modernisierung und Steigerung der Effektivität abzielt. Damit Letzteres nicht zum militärischen Technokratismus wird, ist die Einbettung in Politik und Gesellschaft wesentliche Voraussetzung. Dies kann aber nur gelingen, wenn auch das militärische Führungspersonal sich zu einer politisch-strategisch artikulationsfähigen Elite entwickelt und einen sachgerechten Widerpart zur Politik darstellt. Das bisherige Selbstverständnis als reine Funktionselite ist längst überholt. Die einfache und bequeme Haltung, die Politiker sagen, was wir tun sollen, und wir führen das technisch konsequent durch, lässt sich nicht mehr durchhalten. Sie zeigt ein falsches Verständnis vom Primat der Politik, das in Deutschland immer noch als Primat des kommandierenden Politikers verstanden wird. Es geht vielmehr auf allen Ebenen militärischen Handelns um den Primat des Politischen. Afghanistan zeigt es täglich. Man muss es nur langsam auch akzeptieren und praktizieren.
VII. Die Konsequenzen Der strategische Fehler der Bush-Administration über den Bestrafungskrieg gegen die Taliban in Afghanistan hinaus den Krieg als Krieg gegen den Terror auch auf den Irak auszudehnen, hat dazu geführt, dass die internationale politische Situation heute unübersichtlicher ist als zu Beginn der Kriege. Der Krieg in Afghanistan ist militärisch nicht zu gewinnen und politisch sinnlos geworden.33 Die neuen Versuche, die in der AfghanistanKonferenz in London beschlossen wurden, können nur als Ansatz gewertet 33 Ein eindringliches Dokument ist der Brief von Matthew T. Hoh, der bis September 2009 leitender US-Beamter in Afghanistan war und in diesem Brief seinen Rücktritt vom Amt mit der Sinnlosigkeit der US-Aktivitäten in Afghanistan begrün-
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werden, einigermaßen heil und ohne Gesichtsverlust aus allen Dilemmata herauszukommen. Die verbündeten Staaten, allen voran die USA, haben Milliarden und Abermilliarden in diesen Krieg investiert, zugleich aber geknausert, wenn es um Geld für den Wiederaufbau des Landes ging. Ein Bruchteil der Kriegsausgaben gleich nah der Zerschlagung der Taliban-Herrschaft in den Wiederaufbau investiert und die unseligen Versuche unterlassen, aus einer mittelalterlich anmutenden Clangesellschaft eine Demokratie zu machen, hätten weitaus größere Erfolge bringen können – welch eine vertane Perspektive!34 Aus dem Desaster der Afghanistanpolitik der vergangen 8 Jahre ergeben sich jedoch einige Lehren: 1. Wer glaubt, einen Krieg und seine Ergebnisse beherrschen zu können, ist auf dem Weg zum Scheitern, deshalb sollte jede Entscheidung zum Krieg immer von der denkbar schlechtesten Möglichkeit für die eigenen Aktivitäten ausgehen. 2. Ohne genaueste Kenntnisse vom Kriegsgegner, der Geografie des Einsatzgebietes und dessen Klima und von Wirtschaft und Gesellschaft ist Krieg immer ein Vabanquespiel. Das Gleiche gilt für die Kenntnis von Geschichte, Tradition, Kultur und Mentalität des Landes. 3. Ohne die Sicherheit langfristiger Zustimmung der eigenen Bevölkerung zum Krieg ist sein Beginn unverantwortlich. 4. Das Gleiche gilt für die Akzeptanz in den internationalen Beziehungen, denn ohne die politische Isolation des Gegners ist die Gefahr eigener Isolierung groß. 5. Einsätze sind nur erfolgversprechend, wenn man den Bedarf der Truppe an Personal, Material und politisch-emotionaler Unterstützung sicher gewährleisten kann. 6. Kriege dürfen nie ohne konkretes und erreichbares Kriegsziel begonnen werden. 7. Zentral für den zukünftigen Umgang mit internationalen Einsätzen sind die intellektuelle Aufarbeitung dieser Fragen und die Entwicklung von det. Der Brief ist eine bitterböse Abrechnung. Abgedruckt in: „Die Zeit“ Nr. 47, S. 15. 34 In den ersten beiden Jahren nah der Zerschlagung der Taliban-Herrshaft war auch die Bevölkerung offen für eine politische Wende, war sie doch die rabiate und extreme Herrschaft der Taliban von Grund auf leid. Dagegen spielt Geld keine Rolle für den Bau und Ausbau amerikanischer Basen in Afghanistan. Zur Zeit werden dort ca. 3 Mrd. Dollar für solche Anlagen investiert. Vgl. http://www.tomdispatch.com/ post/175204/tomgram %3A_nick_turse %2C_america %27s_shadowy_base_world/ (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011).
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Handlungsalternativen. Das geht nicht in Küchenkabinetten oder Generalstäben nach dem Muster des 20. Jahrhunderts. Nur mit genügend großer, ausdifferenzierter und kompetenter Forschungskapazität kann diese Aufgabe gelingen. Je kleiner die Armee und je größer das zu erwartende Einsatzspektrum, umso größer und kompetenter muss die damit beauftragte Institution sein. Dann bleibt immer noch die Frage nach der Gerechtigkeit, moralischen Verantwortbarkeit und ganz prosaisch, der politischen (langfristigen) Nützlichkeit. Das ist dann allerdings ein Feld, das unter den verschiedensten Wertmaßstäben diskutiert werden kann. Hier sei nur auf die ökonomische Seite verwiesen. Für die USA hat der ehemalige Offizier der US-Marine und derzeitige Abteilungsleiter einer Denkfabrik Preble diese Frage negativ beantwortet.35 Wenn die US-Streitkräfte 45 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben tätigen, kann das auch für die weltgrößte Wirtschaftsmacht nur negative Folgen haben, denn die Militärausgaben sind nun einmal überwiegend Konsumausgaben und damit ohne entscheidenden Einfluss auf die positive Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Der Autor entwickelt Schlussfolgerungen, die eine Revolution amerikanischer Politik bedeuten würden, vor allem aber die Aufgabe des Anspruchs auf weltweite Hegemonie.36 Es gibt auch eine weitgehend vergessene deutsche Einsicht über die Wirkung von Krieg. Diese lautet: Krieg ist immer teurer als jede andere Lösung eines Problems. Jahrhunderte lang hat sich die Freie Reichs- und Hansestadt Hamburg an dieser Maxime orientiert und hat sich, wo eben möglich, freigekauft: zu ihrem dauernden Vorteil. Literatur Bacevich, Andrew J. (2010): The American Conserative, http://www.amconmag. com/article/2010/feb/01/00006/ (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Biesold, Karl-Heinz (2009): Einsatzbedingte psychische Störungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Nr. 48. Entman, Robert (2004): Projections of Power: framing news, public opinion, and U. S. foreign policy. Chicago, Il.: University of Chicago Press. Erhart, Hans-Georg/Kästner, Roland (2008): Afghanistan: Scheitern oder Strategiewechsel? Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Nr. 43. Hamburg. 35
Vgl. Preble (2009). Ein Umdenken könnte auch vom Militär ausgehen. Der konservative amerikanische Publizist Andrew J. Bacevich (2010) stellt dies fest, weil die amerikanische Kriegspolitik der letzten Jahrzehnte denkbar schlechte Ergebnisse bei der Lösung politischer Probleme erreicht habe. 36
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Hettling, Manfred/Echternkamp, Jörg (Hrsg.) (2008): Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik. Göttingen. Hutsch, Franz (2009): Exportschlager Tod. Deutsche Soldaten als Handlanger des Krieges. Berlin. Jacobs, Jörg (2009): Öffentliche Meinung und Transformation der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee: Eine Bestandsaufnahme, in: Kümmel, Gerhard (Hrsg.): Streitkräfte unter Anpassungsdruck. Baden-Baden. Knöbl, Wolfgang (2008): Das Militär in der „postheroischen Gesellschaft“: Reflexionen zu den Auswirkungen kulturellen und sozialstrukturellen Wandels auf die Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols, in: Ose, Dieter (Hrsg.), Sicherheitspolitische Kommunikation im Wandel. Baden-Baden, S. 65–82. Kornelius, Stefan (2009): Der unerklärte Krieg. Hamburg. Kutz, Magnus (2006): Public Relations oder Propaganda? Öffentlichkeitsarbeit der US-Administration zum Krieg gegen den Irak 2003. Berlin. Kutz, Martin (2006): Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Wiesbaden. Lindemann, Marc (2010): Unter Beschuss. Warum Deutschland in Afghanistan scheitert. Berlin. Münkler, Herfried (2002a): Die neuen Kriege. Reinbek. – (2002b): Vom Sinn der Opfer, in: „der Freitag“, 05.04.2002, http://www. freitag.de/2002/15/02151101.php (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Naumann, Klaus (2008a): Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburg. – (2008b): Abwehr, Abschreckung, Distanzierung, Militär, Öffentlichkeit und Tod in der Bundesrepublik, in: Hettling, Manfred/Echternkamp, Jörg (Hrsg.): Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik. Göttingen, S. 162– 174. Preble, Christopher A. (2009): The Power Problem. How American Military Dominance Makes US Less Safe, Less Prosperous, and Less Free Ithaca N. Y. Shaw, Martin (2002): Risc-Transfer-Militarism, Small Massacres and the Historic Legitimacy of War, in: International Relations, http://ire.sagepup.com/cgi/ content/abstract/16/3/343 (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Sozialwissenschaftliches Institut (SOWI) der Bundeswehr (Hrsg.) (2008): Bevölkerungsbefragung 2008. Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in Deutschland, Kurzbericht, Strausberg.
Afghanistan und die Tugend strategischer Geduld Eine politisch-ethische Studie Von Hartwig von Schubert
I. Meint es der Westen ernst in Afghanistan? Ohne 9/11 wären wir nicht in Afghanistan. Das ist ein einhelliger Konsens unter allen, mit denen ich während meiner vier Monate als Militärseelsorger im Norden Afghanistans gesprochen habe.1 Kämpfen wir also gar nicht für die Menschen in Afghanistan, sondern „nur“ für unsere eigenen Interessen? Sind wir gar nicht an den Wirkungen im Einsatzgebiet interessiert, sondern wollen nur irgendwie unsere Bündnissolidarität mit den USA dokumentieren? Hat die Politik dieses Land längst aufgegeben, um sich hinter der Fassade der Militärpräsenz möglichst gesichtswahrend aus dem Staub zu machen? Diese Fragen treiben die Soldatinnen und Soldaten um, sie müssen auch den Seelsorger interessieren; und die Sache ist fraglos kompliziert!
II. Was legitimiert die Intervention? Nachdem es islamischen Djihadisten gelungen war, seit Mitte der 1980er Jahre eine Welle der Verwüstung in urbane und kulturelle Zentren der zivilisierten Welt zu tragen, die dann in den Anschlägen vom 11. September 2001 gipfelte, erkannte die Menschenrechtsgemeinschaft der zivilisierten Staaten dies als eine gravierende Bedrohung der Weltgesellschaft. So in etwa kann vermutlich die einhellige Stimmung nach 2001 beschrieben werden. Und weil der afghanische Staat unter der Herrschaft der Taliban den Urhebern der Anschläge Gastrecht gewährte und sie unter seinen staatlichen Schutz stellte, konnten die USA auf den Beistand ihrer Verbündeten zählen, als sie den afghanischen Staat angriffen, um das herrschende Regime zu stürzen. Parlamente und Regierungen der Erde folgten der entsprechenden Resolution des Weltsicherheitsrats dabei nicht in Erfüllung einer freiwil1 Der Aufsatz spiegelt Erfahrungen aus dem deutschen ISAF-Kontingent von 16. November 2009 bis 20. März 2010 in Mazar-e Sharif sowie aus anschließenden Lehrgängen und Führungsübungen auf Generalstabsebene.
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ligen Tugendpflicht, sondern einer international zwar nicht erzwingbaren, wohl aber unter Berufung auf die UN-Charta einklagbaren Rechtspflicht (ius ad bellum). Den ethischen Erlaubnisgrund (causa iusta)2 für die vom Weltsicherheitsrat (auctoritas principis) als Akt legitimer Selbstverteidigung bestätigte Operation Enduring Freedom (OEF) lieferten somit tatsächlich schwerste Übergriffe eines Gewalttäters; die Operation dient bis heute weltweit der Verteidigung innerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit gegen massive und serienmäßige Angriffe. Heute, fast ein Jahrzehnt später, hat sich das Bild gewandelt. Jeder sieht nun, dass damals ein Gemeinwesen ins Visier der Internationalen Staatengemeinschaft geraten ist, das allenfalls rudimentär als „Staat“ im Weber’schen Sinne gelten kann. Dazu soll er nun gemacht werden. Überheben wir uns nicht, wenn wir Staat machen wollen am anderen Ende der Welt? Wenn sowohl der Petersberg-Prozess als auch die der OEF folgende International Security Assistance Force (ISAF) Afghanistan als einen Staat postulierten, den es um des internationalen Rechtsfriedens willen „wieder“ aufzubauen gelte, lag beides zwar in der Linie jenes Erlaubnisgrundes (recta intentio)3, schrieb damit aber jene Illusion fort, der afghanischen Nation entspräche auch ein afghanischer Staat. Folgerichtig wähnte man sich seit dem 2 Zu den Kriterien rechtserhaltender Gewalt vgl. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2007), § 102 sowie Iser (2006). Zu ihrer konkreten Anwendung vgl. Käßmann et al. (2010): „Bei den in der Friedensdenkschrift der EKD entwickelten Kriterien für den Einsatz rechtserhaltender Gewalt handelt es sich um Prüfgesichtspunkte, die es erlauben sollen, die Handlungsoptionen ethisch zu beurteilen. Wir sehen gegenwärtig nicht, dass der Einsatz (in Afghanistan; Vf.) anhand der friedensethischen Kriterien eindeutig gebilligt oder abgelehnt werden könnte.“ Komplexe zeitgeschichtliche Prozesse werden sich ethisch vermutlich nie eindeutig billigen oder ablehnen lassen, die Kriterien helfen gleichwohl, die Situationsbeschreibung zu strukturieren, ihre Bewertung frei von ideologischen Vorurteilen an moralischen Prinzipien auszurichten und dann politisch nach bestem Wissen und Gewissen für eine Verbesserung der Lage einzutreten. Entscheidend ist oft die Situationsbeschreibung, in die eine Fülle von unscharfen Ermessensurteilen eingeht. Für das Beispiel einer ideologisch-dogmatischen Beurteilung vgl. Wagner (2011), für das einer grob einseitigen Situationsbeschreibung vgl. Christlich Demokratische Union (2010). In allen drei genannten Dokumenten entsteht der Eindruck, dass das Ergebnis des moralischen Urteils bereits vor der ethischen Überprüfung feststand. Ein wirklich vorbildliches Beispiel für ein sachkundig und argumentativ ausgewogen entwickeltes und konkret auf die Zukunft der deutschen Außenpolitik und speziell der Bundeswehr bezogenes politisch-ethisches Urteil gibt Nachtwei (2011). Sein Urteil läuft m. E. auf eine Enquête des Deutschen Bundestages zu den weltweiten zivilen und militärischen Interventionen Deutschlands hinaus. 3 Die neuerlich im Umfeld des Rücktritts Horst Köhlers vom Amt der Bundespräsidenten diskutierten wirtschaftlichen Absichten für das westliche Afghanistanengagement werden unter Experten sehr kontrovers beurteilt; gegen diese Behauptung argumentiert z. B. Afsah.
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siegreichen Abschluss des internationalen bewaffneten Konflikts bis noch ins Jahr 2009 hinein als Stabilisierungsmission in einem internen bewaffneten Konflikt. Um die Jahreswende 2010 trat dann auch offiziell die Ernüchterung ein. Völkerrechtlich befindet sich die Bundeswehr im Rahmen von ISAF nach neuerlicher Maßgabe von Bundestag, Bundesregierung und inzwischen auch der Bundesanwaltschaft zusammen mit den Bündnispartnern an der Seite der afghanischen Regierung in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt im Kampf mit sichtlich mehreren nichtstaatlichen Gruppen, die über ein Gewaltpotential jenseits interner Unruhen verfügen und grenzübergreifend agieren. Das bestätigt: die Sache ist kompliziert! War die Internationale Gemeinschaft also wirklich gut beraten, als sie nach 9/11 auf die klassischen Legitimationsmuster des Völkerrechts setzte und erst damit vollends unter Zugzwang geriet, der afghanischen Nation das Kleid eines modernen Anstaltsstaates anzumessen? Gibt es zwischen Fremdherrschaft mit der Gefahr kolonialer Abhängigkeit und dem Postulat voller Souveränität einer Klientelregierung mit konsequenter Nichteinmischung denn gar keine Zwischenlösungen?4 Die USA verfolgen terroristische Gegner im Rahmen der OEF auf dem Territorium anderer Staaten, ohne diese Staaten deshalb zum Ziel umfassender Stabilisierungsmaßnahmen zu machen! Ist dies in der Tendenz unilaterale Vorgehen aber legitimer? Neben dem Recht auf Selbstverteidigung und möglichen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen muss auch die responsibility to protect als Motiv für die Intervention diskutiert werden. Es besteht für die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gegenüber Afghanistan sicherlich auch eine Beistandsverpflichtung aus wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten5, dies aber nur in dem Maße, das für jeden anderen Mitgliedstaat gilt, der von Katastrophen wie Epidemien, Erdbeben, Tsunamis, Umweltkatastrophen oder Bürgerkriegen verwüstet wurde; und dieses Maß ist überdies bekanntlich in einer weithin anarchischen Staatenwelt stark von der globalen öffentlichen Wahrnehmung abhängig. Die war Afghanistan seit 9/11 sicher. Ein solches humanitäres Argument begründet aber nachweislich nicht die Operationen der ISAF; der entsprechende Eindruck sollte auch nicht erweckt werden. Vielmehr ist die ISAF aus den genannten Gründen der internationalen Friedenssicherung beauftragt, mit einer offiziell inzwischen auch das Wohl der Bevölkerung einschließenden Strate4 Doch, die gibt es; vgl. Saxer (2010). Übersetzt man übrigens die viel beschworene Good Governance mit guter Regierungsführung, so ist das Missverständnis schon da, denn wer Regierung sagt, denkt Staat. Gemeint ist aber gute politische Führung in welcher Institution und auf welcher Ebene auch immer. 5 Zur friedensethischen Bedeutung der Responsibility to Protect im Blick auf Afghanistan vgl. Hoppe (2010). Zum Gesamtzusammenhang von Militäreinsätzen und Menschenrechten vgl. Haspel (2006).
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gie der Aufstandsbekämpfung der afghanischen Staatsbildung die erforderliche Nachhaltigkeit zu verleihen. Dies könnte bei konsequenter Durchführung gewiss auch der Bevölkerung Afghanistans zugute kommen, wenn diese denn für den Aufbau von Staatlichkeit bereit wäre. Im Mittelpunkt von OEF und ISAF steht primär aber nicht das Wohl Afghanistans und seiner Bevölkerung, sondern die Erhaltung des internationalen Friedens und – nur auf diesen politischen Zweck bezogen – der Staatsaufbau Afghanistans, das Werben um seine Bevölkerung und – schicksalhaft daran gekoppelt – nunmehr auch die Glaubwürdigkeit von NATO und VN6. In Afghanistan tritt die Staatenwelt unter dem Mandat der VN mit nichts Geringerem als ihrem globalen Ordnungsanspruch an. Das wäre ethisch grundsätzlich hoch zu schätzen, wenn es denn mit der nötigen selbstkritischen Bescheidenheit einherginge. So aber setzt sich die Staatengemeinschaft – mit einer hypermoralischen Denkfigur – unter den Zwang, das regulative Ideal der in einem demokratischen Rechtsstaat voll entwickelten Gesellschaft unkritisch zum Gegenstand realpolitischer Verwirklichung am Hindukusch zu machen. Jetzt wird sie an diesem Versprechen gemessen und musste geradezu Kräfte anlocken, die sich rühmen, schon einmal am selben Ort einer hybriden Moderne – die Rede ist vom Ideal des Sowjetmenschen – im Namen einer vormodernen Weltdeutung ihre Grenzen gezeigt zu haben. Denn was wollen die „Insurgenten“ und wer bezahlt sie? In einem gewissen Maße mag das Ideal des islamischen Abwehrkampfes gegen die Kreuzritter einen „Taliban“ beflügeln. Bis heute erzwingen die Warlords, Schmugglerbanden, Drogenbosse und Djihadisten die Unterstützung der Zivilbevölkerung jedoch weithin nur mit Gewalt; allenfalls den Taliban gelingt es hier und da, eine gewisse Erwartungssicherheit und Anerkennung im Blick auf ihre Art der islamischen Rechtsauslegung zu erzielen. Vom Projekt einer islamischen Republik nach dem Muster des Iran oder Pakistans aber waren auch sie in ihren besten Zeiten weit entfernt; auch sie sind letztlich ein Instrument externer Interessen, nämlich des pakistanischen Geheimdienstes, der ein eigenständiges und starkes Afghanistan nicht brauchen kann. Die pakistanischen Eliten – und viele mit ihnen – fürchten, dass eine paschtunische Einheitsbewegung ihre fragile postkoloniale Staatskonstruktion erschüttern könnte. Und so einigt alle Insurgenten das Interesse nicht an einem anderen, sondern an einem schwachen Staat; warum sollten sie sich die Last staatlicher Strukturen auch aufladen? Der Gewaltmarkt bietet ihnen einträgliche Geschäfte, nicht zuletzt die ISAF selbst ist einer Art Schutzgelderpressung ausgesetzt, sie finanziert ihre eigenen Peiniger.7 6 Diese liberal-institutionalistische Begründung wird flankiert von opportunistisch-konstruktivistischen Beweggründen, vgl. Freuding (2007).
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Aber zurück zu den Motiven des Westens: Es gibt die zunehmend anerkannte These vom Zusammenhang zwischen militärischen Schutzmaßnahmen, ziviler Integrations- und Aufbaumaßnahmen und zivilgesellschaftlicher Entwicklung; insofern jedoch vonseiten der Internationalen Gemeinschaft der Anspruch des afghanischen Volkes erfüllt werden soll, am weltweiten zivilisatorischen Prozess teilzuhaben, so ist dies jedenfalls nicht die Begründung der ISAF, sondern die der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA). Die UNAMA begleitete von Beginn an die Wahlen, koordiniert die Arbeit der UN-Organisationen und der nationalen und internationalen NGO’s und kooperiert dabei mit der afghanischen Regierung. Ganz gewiss haben die Menschen Afghanistans über das Recht auf Schutz vor der Willkür privater Gewaltakteure hinaus auch das Recht auf die geistige und politische Achtung ihrer Rede- und Glaubensfreiheit und der Wahl der ihnen gemäßen Lebensverhältnisse. Aber eben hier steht das Internationale Krisenmanagement vor gewaltigen Problemen in strategischer, mehr aber noch in operativer Hinsicht.
III. Was kann man überhaupt realistisch erreichen? Ganz gleich, ob man zivile Anstrengungen in Richtung auf statebuilding humanitär begründet oder nur als Bestandteil einer effektiven Sicherheitsstrategie betrachtet, stellen sich sodann die folgenden Fragen: Was kann man überhaupt realistisch erreichen? Und wie kann man es erreichen? Und war das bisherige Vorgehen angemessen und verhältnismäßig? Zunächst zur ersten Frage: Soziologisch betrachtet bildet auch im Fall Afghanistans der „bis heute unabgeschlossene kapitalistische Transformationsprozess traditionaler Vergesellschaftungsformen“ „die zentrale, dem Kriegsgeschehen in der Moderne unterliegende strukturelle Konfliktlinie.“8 Einerseits soll sich der Einzelne als Bürger den Gesetzen eines Staates unterwerfen, gleichzeitig soll er sich durch seine Eigentums-, Mitbestimmungs- und Teilhaberechte vom Staat emanzipieren und im Wesentlichen privat für seine materielle Versorgung aufkommen und dies wiederum auf einem freien Markt und ohne Rückgriff auf die vertrauten traditionalen Gesellschaftsordnungen, die ja zunehmend verdrängt werden. Das kann nicht funktionieren, alles gleichzeitig ist schlicht unmöglich! Die militärische Intervention durch OEF und 7 Vgl. den US-Kongressreport Warlord Inc.: http://www.sueddeutsche.de/politik/ krieg-in-afghanistan-warlord-inc-freies-geleit-gegen-geld-1.963692 (zuletzt aufgerufen am 7. Juli 2011). 8 Jung/Schlichte/Siegelberg (2003), S. 28. In der Linie dieses Forschungsansatzes liegt auch Kühn (2010).
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ISAF und die zivilen Maßnahmen der UNAMA werden in Afghanistan nur dann zur Errichtung einer zunächst ganz bewusst nur rudimentären Staatlichkeit beitragen, wenn die dortigen zeit- und kulturgeschichtlichen Hintergründe verstanden und die dominierenden neopatrimonialen Verhältnisse respektiert werden. So betrachtet, ist die ethisch eigentlich ehrgeizigere Figur der human security in der praktischen Umsetzung flexibler und realistischer als die normativ bescheidenere, politisch aber erheblich aufwändigere Figur der state security. Gleichwohl kann auf minimale Staatlichkeit nicht ganz verzichtet werden, wenn menschliche Sicherheit nachhaltig Bestand haben soll. Dies war die wesentliche und dank ihrer Bescheidenheit durchaus zuversichtlich stimmende Botschaft des Entwicklungsforschers Conrad Schetter, den ich auf Anregung einiger Offiziere gewinnen konnte, eigens für einen Vortrag aus Bonn zu uns ins Feldlager Mazar-e Sharif zu kommen. Die traditionalen Gesellschaftsordnungen müssen zunächst akzeptiert und unterstützt werden; der demokratische Staat muss warten. Andernfalls bleibt den Menschen irgendwann tatsächlich nichts anderes, als sich antimodernen oder antikapitalistischen Widerstandsgruppen anzuschließen. Um es deutlich einzuschärfen: die Menschen Afghanistans haben das Recht auf Schutz sowohl vor sozialistischen als auch vor kapitalistischen Schockmodernisierungen, sie wollen nicht ständig zwischen Modernisierungsrivalen zerrieben werden. Warum geben wir ihnen nicht unmissverständliche Signale, dass wir die ihnen seit Jahrhunderten vertrauten islamischen und tribalen Traditionen der Rechtspflege nicht nur nicht nehmen, sondern würdigen und sich aus eigenen Kräften entwickeln lassen. Die in der afghanischen Verfassung intendierte Konvergenz islamischer und menschenrechtsethischer Prinzipien ist es, die die ISAF zu verteidigen angetreten ist. Der Vertreter der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommissionen, den wir im Feldlager Mazar-e Sharif ebenfalls zu einem Vortragsabend eingeladen hatten, konnte diesbezüglich durchaus schon auf viele Fortschritte verweisen. Die Ungleichzeitigkeiten jedoch sind noch auf lange Zeit mit großer Geduld zu respektieren. Dies einzusehen, fiel deutschen ISAF-Soldaten an jenem Vortragsabend sichtlich schwer. Wenn also friedensethisch mit Recht ein Vorrang für Zivil gefordert wird9, dann muss geklärt werden, welche Art von Zivilität denn gemeint sein soll. Wie soll und kann am Aufbau eines afghanischen Staatswesens maßvoll gearbeitet werden? Einer „Ethik rechtserhaltender Gewalt“ muss spätestens an diesem Punkt eine „Ethik rechtsbegründender Politik“ vorausgehen. Die ISAF versucht, die Orientierung an den Bedürfnissen der Zivilbevölkerung 9 Vgl. stellvertretend für viele Stimmen „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Ein evangelisches Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan“ vom 25. Januar 2010: http://www.ekd.de/aktuell/68687.html (zuletzt aufgerufen am 7. Juli 2011).
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künftig um der internationalen Stabilität willen ins Zentrum militärischer Operationen zu stellen (ius in bello). Für ihre grundsätzliche Autorisation kann sie sich auf den Petersberg-Prozess und das VN-Mandat, auf die Mandate der entsendenden Nation, allgemein auf das humanitäre Völkerrecht in bewaffneten Konflikten und schließlich auf das Truppenstationierungsabkommen mit der afghanischen Regierung berufen. Angesichts der enormen Rolle, die die ISAF während des langsamen Aufbaus der afghanischen Sicherheitsorgane als de facto einziges Instrument des staatlichen Gewaltmonopols spielt, bedarf es einer sehr sorgfältigen gemeinsamen Klärung insbesondere der Details im Truppenstationierungsabkommen (status of force agreement; SOFA). Kenner wissen, dass man „am Anfang alles haben kann“, gerade deshalb sind diejenigen, die die Regeln aushandeln und formulieren, in der Pflicht, Rechenschaft darüber zu geben.10 Nach den leidvollen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan umfasst die Durchsetzung eines rechtsstaatlichen Gewaltmonopols gegen Terrorgruppen und Aufstandsbewegungen (Aufstandsbewältigung, engl.: Counterinsurgency: COIN) heute idealtypisch den strategischen Handlungsablauf von Shape, Clear, Hold, Build (S-C-H-B)11 und folgt damit einem Friedensimperativ. Mit einem vorbereitenden Instrumentarium – Shaping the battlefield – verschaffen sich internationale zivil-militärisch paritätisch besetzte und jeweils in ihren Ressorts weisungsbefugte Kollegien ein möglichst umfassendes zivil-militärisches Lagebild und planen alle Operationen möglichst zusammen mit den Vertretern der bisher zwischen Staatsorganen und Insurgenten aufgeriebenen Bevölkerung: Emissäre sondieren die Interessen verschiedener Ethnien, verhandeln Sonderkonditionen mit lokalen Clan-Mi10 Der Einsatzoffizier sieht sich vier Rechtskreisen gegenüber, die er gleichzeitig im Blick zu halten hat: das VN-Mandat wird durch das Hauptquartier vertreten, das Bundestagsmandat wird durch die nationale Befehlskette an ihn vermittelt, die nationalstaatliche Staatsanwaltschaft vertritt am Maßstab des Völkerstrafgesetzbuchs die Rechte der von der Ausübung hoheitlicher Gewalt Betroffenen, das Gastland gewährt den Angehörigen der Schutztruppe Immunität (Gerhard Stöhr). 11 Der gültige deutsche Fachterminus für COIN klang lange merkwürdig nebulös: „Militärischer Beitrag für Stabilität und Sicherheit im Einsatzgebiet“. Die Begriffe sind belastet. Wer den Aufstand oder Widerstand gegen koloniale, imperiale oder gar faschistische Unterdrückung vor Augen hat (vgl. Malinowski (2011)), begrüßt „Aufstand“ und verwirft „Aufstandsbekämpfung“; der Streit um die Legitimität aber ist der Dreh- und Angelpunkt des gesamten COIN-Ansatzes, und darin sind die Insurgenten in Afghanistan den nahezu sprachlosen westlichen Akteuren weit überlegen. Zum COIN-Ansatz vgl. das US-amerikanische JP 3-24 Counterinsurgency Operations vom 05.10.2009; sowie die entsprechende AJP 3.4.4 der NATO; ferner Arreguín-Toft (2007), Galula (1963), van Creveld (2008), Mackinlay/Al-Baddaw (2008), Nagl (2002), Long (2008); Kilcullen (2010), Rudolf (2011) sowie das Themenheft 2/2011 von „Geschichte und Gesellschaft“. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft.
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lizen, Spezialkräfte bekämpfen gezielt die gegnerische Führung12, überzeugen die derart verunsicherten feindlichen Kräfte möglichst, aufzugeben oder überzulaufen. Alles zusammen liefert günstige Voraussetzungen für den zweiten Schritt – Clear. Jetzt gehen infanteristische Kräfte mit überlegener Aufklärung, Beweglichkeit und Feuerkraft, gegebenenfalls mit Luftnahunterstützung, gegen die gegnerischen Schwerpunkte vor. Dabei ist sicherzustellen, dass der Gegner wohl aufgeben, nicht aber ausweichen und andernorts angreifen kann. Ein entsprechendes Reintegrationsprogramm setzt schon hier an. Mit dem dritten Maßnahmenbündel – Hold – wird ein engmaschiges Netz von gut geschützten und vor allem personell qualifiziert besetzten Polizeistationen über das gewonnene Gebiet ausgelegt, um von dort aus die Bevölkerung nachhaltig zu schützen und die Rückkehr des Gegners zu verhindern. Dieser wird in mehreren Wellen von Shape-to-Clear-toHold-Operationen Region um Region zur Aufgabe gezwungen. Umgehend setzen nun schnell wirkende Aufbaumaßnahmen – Build – an, die den Menschen diejenigen Ressourcen erschließen, die ihnen selbst wichtig erscheinen. Wie gesagt, alles idealtypisch! Die westlichen Armeen und ihre Partnerressorts beherrschen diesen Operationstyp noch nicht. Denn in Szenarien asymmetrischer Kampfführung gewinnt nur der den Frieden, der das Handwerkszeug Hold beherrscht. Dort aber liegen die Stärken des irregulären Gegners, der der Überlegenheit der staatlichen Sicherheitsorgane bei Shape und Clear kaum etwa entgegenzusetzen hat. Der Gegner weicht aus und kommt irgendwann zurück. So können die irregulären Kämpfer durch die anhaltende wirksame Störung der Holdphase auch die Legitimität der gewaltträchtigen Shape- und Clearoperationen schleichend zur Erosion bringen und bis in ihren Kern hinein schwächen; diese sind dann irgendwann nicht mehr legitim. COIN ist auf einen begrenzten Zeitraum angelegt; ist die Gunst der Stunde einmal verpasst, dann wird aus der Serie wiederholter COIN-Operationen permanente Fremdherrschaft. Das ist das Ergebnis der „verlorenen sieben Jahre“ von ISAF von 2002 bis 2009, und es begründet mit Recht die wachsende Kritik und den quälenden Selbstzweifel der Verantwortlichen.13 Die düstere Alternative Bürgerkrieg oder totalitäre Willkürherrschaft wurde zwar eingeschränkt, die Menschen 12
Special Operation Forces operieren unter ISAF-, unter OEF-Mandat und rein US-autorisiert als Counter Terrorism Task Force. Ihre Operationen sind den Regionalkommandos als den Battlefield-Ownern bekannt, sie werden streng kontrolliert und flankieren den gesamten S-C-H-B Prozess, indem sie möglichst präzise und mit minimalen Kollateralschäden Kommunikations- und Rückzugswege der Gegner kappen, ihre Operationen stören, oftmals auch Schlüsselfiguren gewähren lassen, wenn so das Handeln des Gegners transparenter bleibt. 13 Die Not deutscher Kommandeure und Stabsoffiziere zwischen hohem Idealismus und sinnentlehrten Tätigkeiten schildern äußerst anschaulich Blasberg/Willeke (2010).
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wollen aber mehr. Sonst sind sie irgendwann dankbar für jeden, der ihnen schiere Stabilität bietet, und begraben jede Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einem gerechten Frieden. Besonders also die Holdphase ist nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit (proportionalitas) an den historisch gewachsenen Lebensbedingungen der örtlich betroffenen Bevölkerung auszurichten, dazu gehört vor allem anderen die verlässliche Zusage, nicht wieder abzuziehen, das Schutzversprechen einzuhalten und sich auch nicht auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern. Dieses Versprechen ist während der Zeit meines Einsatzes durch Eingriffe der übergeordneten Führung zuweilen eklatant gebrochen worden. Der Glaubwürdigkeit in der Holdphase dient auch das Mentoring und Partnering mit den staatlichen Sicherheitskräften, es zielt auf den erfolgreichen Einsatz gut ausgebildeter und ausgerüsteter disziplinierter afghanischer Polizei- und Streitkräfte und – noch im Zuge der Militäroperationen – auf die sofortige Errichtung einer zunächst ganz elementaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Infrastruktur auf kommunaler Ebene. Alle gemeinsam sind schwerpunktmäßig nicht mit dem eigenen Schutz beschäftigt, sondern kümmern sich kompetent um die elementarsten Alltagssorgen der Menschen, sie beherrschen die Landessprachen, führen eine erste elementare materielle Versorgung und Zivilverwaltung heran und bleiben solange präsent, bis schließlich sogar ehemalige Gegner integriert sind und geben alle zivilen Aufgaben sobald wie möglich wieder in berufene Hände ab. Noch einmal, alles idealtypisch! Denn vor allem die zivilen Kräfte und die der Hostnation müssen die gewonnene Position halten. Sie waren bisher das schwächste Glied in der Kette, und vergangene Operationen der ISAF-Truppen scheiterten bisher notorisch an der dritten Schwelle, das gewonnene Terrain fiel nach den ersten beiden Anstrengungen wieder an den Gegner zurück. Die Soldaten konventioneller westlicher Streitkräfte zusammen mit den marginalen Polizeikräften und den diffus agierenden Hilfsorganisationen sind auf das Halten nicht eingestellt, und den afghanischen Sicherheitskräften fehlt weithin noch die nötige operative Kohärenz, beides mit nach wie vor dramatischen Folgen.
IV. Stehen die eingesetzten Mittel in einem ausgewogenen Verhältnis? Und wie kann es weitergehen? Die Operationsplanung für die Phasen Hold und Build sollte also eigentlich stehen, bevor an die Planung für Shape und Clear gegangen werden kann. Für jemanden, der über vier Monate den Stab des Regionalkommandos Nord bei den wöchentlichen Briefings erlebt hat, ist mit Händen zu greifen, dass schon der militärischen Seite bis heute elementarste Voraussetzungen fehlen. Hierfür nur wenige Beispiele: So wäre für die Bundes-
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wehr eine Mandatsobergrenze von ca. 6.500 ideal, die derzeitige ist ganz offensichtlich nicht an den Erfordernissen des Operationsziels ausgerichtet, sondern an vermeintlichen innenpolitischen Opportunitäten; bereits der militärische Ratschlag also wird nicht am Bedarf ausgerichtet, sondern daran, was die Parlamentarier angeblich hören wollen.14 Oder: die so wichtigen, präzise wirkenden Fähigkeiten der deutschen Spezialkräfte werden blockiert, wenn ihnen Aufklärungsmittel nur dann bereitgestellt werden, wenn sie lohnende Ziele nachweisen, diese aber nicht nachweisen können, wenn ihnen die entsprechenden Aufklärungsmittel fehlen. Oder: warum ist nicht selten das zivile Mobiltelefon das einzige rettende Kommunikationsmittel? Ein völlig unhaltbarer Zustand! Oder: die deutschen Polizeikräfte haben bis heute kein exekutives Mandat; die Rekrutierung und Ausbildung einer afghanischen Polizei, die es 2001 übrigens noch gar nicht gab, gehört insofern jetzt zu den Build-Maßnahmen, gebraucht aber werden sie dringend schon für die Hold-Phase. Oder: solange das Auswärtige Amt im deutschen Regionalkommando nur durch eine einzige Personalstelle vertreten ist, ist die vom Prinzip her gültige Federführung des gesamten deutschen Engagements in Afghanistan durch die deutsche Botschaft de facto eine schlichte Farce. Und schließlich: konzeptionelle Grundvorstellungen zur Wahrnehmung militärischer Aufgaben im Rahmen von Counterinsurgengy sind im Verteidigungsministerium – auch in den anderen Ministerien?15 – zwar in der Entwicklung, sie müssten aber eigentlich seit Jahren längst vorliegen, um aus ihnen wiederum die operativen und taktischen Konsequenzen ziehen zu können. Auch die Erkenntnisse der Einsatzauswertung werden notorisch viel zu langsam umgesetzt; dazu müssten Arbeitsgruppen eingesetzt werden, die einen erkannten Missstand beharrlich überwinden; eine lobenswerte Ausnahme ist die entschlossene Suche nach mechanischen Landminenspürgeräten. Die Ausrüstung im Einsatz stimmt übrigens, sie fehlt aber in der Ausbildung zuhause.16 14 Entsprechende Forderungen an die militärischen und politischen Eliten stellt Naumann (2008). 15 Vgl. den am 23. Juni 2010 beschlossenen 3. Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung des „Aktionsplans zur Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ für den Berichtszeitraum Mai 2008 bis April 2010; die Umsetzung des Aktionsplans bleibt nach wie vor weit hinter den schnell wachsenden Anforderungen zurück, von Weiterentwicklung kann keine Rede sein. 16 Angesichts der historischen Ausgangsbedingungen, unter denen die Bundeswehr nach dem Fall der Mauer angetreten ist, soll die Mängelliste keineswegs als Vorwurf verstanden werden, sondern als nüchterne Bestandsaufnahme. Die Bundeswehr ist trotz der Transformation bis heute eine konventionelle Armee; die nationalen Vorgaben erzwingen noch immer ein eher martialisches Auftreten und verhindern die Wirkung in der Fläche; nur eine kleine Minderheit kennt den Alltag der Counterinsurgency-Operationen.
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Noch völlig unbefriedigend ist das Zusammenwirken der zivilen und der militärischen Akteure. Auf ziviler Seite fehlt schlicht der gesamte Personalkörper zwischen der ministeriellen Planung und den Akteuren im Feld. Dort steuert die Spitze direkt die Prozesse vor Ort. Folglich divergieren im zivil-militärischen Verhältnis notorisch die Hierarchieebenen, die Entscheidungsbefugnisse sind nicht deckungsgleich. Das Militär steckt in der Bereitschaftsfalle: weil es da ist, wird es für alles eingesetzt. Für die Koordination zwischen den deutschen Ressorts, geschweige denn zwischen diesen und denen der Bündnispartner sowie zwischen den staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren oder gar zwischen den Interventionskräften und den Vertretern des Gastlandes gibt es keine angemessenen Planungs- und Steuerungsorgane! Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, in der bereits mehrfach genannten Vortragsreihe im Feldlager wurden uns eindrucksvolle Beispiele ziviler Hilfe vorgestellt von der Polizeiausbildung über den Aufbau eines Bezirkskrankenhauses bis zur Lehrerausbildung in einem College und der Familienkonfliktmediation in einem Frauenhaus. So macht jeder, was er gut kann, macht das oftmals auch hervorragend und erfüllt zweifellos einen dringenden Bedarf, und in den beruhigten Regionen bedarf es vielleicht auch keiner übergreifenden Steuerung. Nur gelegentlich kommen vielleicht Zweifel auf, ob ein System, in dem die Abrufung der Mittel als Indikator des Erfolges herhalten muss, nicht strukturell korruptionsanfällig ist.17 Auf jeden Fall aber stagniert in einer Unruheprovinz oder einem von Gewalt permanent geplagten Distrikt bei fehlender zivil-militärischer Abstimmung jegliche zivile Entwicklung, und die Gewalt kann sich von dort aus wieder in die Umgebung ausbreiten. Deshalb bedarf es in einer solchen Situation eben doch einer integrierten Planung und Steuerung! Der langfristige Aufbau im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und der zivile quick impact in der Build-Phase einer S-C-H-B-Operation sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe, beide sind nicht gegeneinander auszuspielen, beides zielt auf je eigene Wirkungen; beides wird gebraucht, und beides ist nach ganz eigenen Logiken zu managen. Die zivile Komponente in einer COIN-Operation muss z. B. militärische Spezialkräfte und Infanterieeinheiten mit Daten für die zivilen Anteile von Shape-Maßnahmen versorgen, zu den Maßnahmen des Handlungskomplexes build wiederum gehören Aufklärungsergebnisse der Spezialkräfte über potentielle Überläufer. Geld spielt hier z. B. eine kaum zu überschätzende Rolle, aber intelligentes Geld! Vieles in Afghanistan und in der Operationsführung von OEF und ISAF hat sich in den letzten Jahren schon enorm verbessert, Zahlen darüber liegen vielerorts vor, die Betroffenen jedoch nehmen dies nur unzureichend 17
Vgl. Polman (2010).
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wahr, am Maßstab der Möglichkeiten liegen wir meilenweit zurück.18 In den kritischen Zonen des Landes kommt man auf jeden Fall ohne Shape und Clear aus dem Dilemma der Gewalt nicht heraus, dazu haben sich die bewaffneten Gruppen unter den Augen der halbherzig agierenden internationalen Akteure seit 2001 zu sehr erholt, noch immer kann das gesamte Unternehmen dramatisch scheitern. Auch im deutschen Verantwortungsbereich sind Nacht für Nacht US-Helikopter bei ihren Shape-Operationen zu hören, da die ISAF-Truppen den Insurgenten nachts weit überlegen sind. Ging es im Jahre 2001 in Afghanistan um den akuten Kampf gegen der Internationalen Terrorismus, so geht es heute um die Prävention von latenten und komplexen Gefahren, die von einem failing state ausgehen.19 Neun Jahre lang lag der Schwerpunkt – und auch dies nur zögerlich – auf der militärischen Seite und setzte so ungewollt Anreize zur schleichenden Ausbreitung des eingangs skizzierten Gewaltmarktes. So steht die Internationale Gemeinschaft nach der anfänglichen gewaltintensiven Phase eines internationalen bewaffneten Konfliktes und der nachfolgenden Konfliktlage deutlich unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konfliktes nun – regional unterschiedlich – vor den wahrhaft immensen Herausforderungen eines nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes, der beides gleichzeitig fordert, auf militärischer Seite einen tiefgreifenden Strategiewechsel und auf ziviler Seite überhaupt erst einmal die Entwicklung von Grundfähigkeiten zu operativem Handeln. Wenn wir ehrlich sind, dann geben wir zu, dass wir in den ersten Jahren nach 2001 die Milch verschüttet haben. Deshalb sind wir nun zu großer Geduld verurteilt, wenn wir das Versprechen nicht brechen wollen, dass wir uns und den Menschen in Afghanistan gegeben haben. Derzeit deutet alles darauf, dass sich die Internationale Staatengemeinschaft der Konsequenz ihres Handelns am liebsten möglichst unauffällig entziehen möchte. Die Gefahren, die von instabilen Regionen ausgehen, werden aber nicht verschwinden, sondern vermutlich ansteigen. Es lohnt sich also, aus der Intervention in Afghanistan und aus anderen Interventionen für Afghanistan gründlich zu lernen20. Sollen Interventionskräfte künftig um des internationalen Friedens willen zu menschlicher Sicherheit und Entwicklung beitragen, so gehören dazu die folgenden Voraussetzungen: 18 Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (2007), International Crisis Group (2010) und Brück (2011). 19 Die Diskussion des Zusammenhangs zwischen Staatsversagen und Friedensgefährdung als Motor liberaler Interventionen ist noch unabgeschlossen, die Wahrnehmung der von failed states ausgehenden Risiken dominiert gleichwohl den policy discourse ganz erheblich, vgl. Newman (2009) und Gromes (2010). 20 Vgl. Brück (2011).
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1. Der Aufbau legal-rationaler Strukturen in einem failing state ist eine zivile Stabilisierungsmission, in welche der Aufbau des militärisch-polizeilichen Sicherheitssektors integriert wird. 2. Der politische Zweck der Mission sowie die an ihm ausgerichteten zivilen und militärischen Ziele sind in nationalen und internationalen Dokumenten kongruent, realistisch und klar definiert. 3. Alle Interventionskräfte arbeiten in gegenseitigem Respekt und nach gemeinsam entwickelten Leitlinien „Strategischer Kommunikation“ daran, Konfliktfolgen und interne Konfliktursachen zu beheben. 4. Zivil-militärische internationale Führungsgremien (nicht „Stäbe“, sondern „Kollegien“) stehen mit ausreichenden Personalansätzen und ausgereiften Verfahren bereit und können im Krisenfall aus dem Stand heraus die Abstimmung mit Vertretern staatlicher Organe, relevanter Bevölkerungsgruppen und sogar den Führern prekärer Gewaltakteure21 einleiten. Diese Führung integriert die Fähigkeiten von Militär, Polizei und Friedenskorps22. 5. Die Grundlage gemeinsamer Führung bilden insbesondere mit Methoden qualitativer Erkundung gewonnene zivil-militärische Lagebilder bis auf Distriktebene hinunter sowie transparente Zielvereinbarungen auf Basis von Aushandlungsprozessen vor allem mit der Bevölkerung23. 6. Die Einsatzregeln für Shape- und Clearoperationen sind rechtsethisch gründlich reflektiert und für das gesamte Einsatzgebiet einheitlich für die internationalen und nationalen Kräfte festgelegt24. Wollen die NATO-Staaten, ihre Regierungen, Ministerien und ihre Streitkräfte aus dem Afghanistaneinsatz angesichts der enormen Erfolgs- und Zeitdrucks mit aller Entschlossenheit die erforderlichen epochalen Lehren für ihre Personal- und Operationsführung und vor allem für das Schnittstellenmanagement ziehen? Bietet gar die prekäre Haushaltslage nach der gobalen Finanzkrise den geeigneten Anlass dazu? Sollte ein solcher Wandel greifen, ließe sich nach Einschätzung von Afghanistankennern ein für die rudimentäre innere und äußere Stabilität hinreichendes Gewaltmonopol in Afghanistan innerhalb eines Jahrzehnts durchaus etablieren. Konzepte gibt 21 Im Raum Kunduz seit 2009 vermehrt operierende Milizen (Local Defence Forces, LDF) tragen dort zu einer spürbaren Entspannung der Sicherheitslage bei, ihre wirtschaftliche Basis ist allerdings unklar, und nur die afghanischen Sicherheitskräfte können offiziell mit ihnen zusammenarbeiten, da sie nicht als Staatsorgane gelten. Die Kooperation mit Milizen ist eine gefährliche Gratwanderung! 22 Zu den Voraussetzungen zum Aufbau von Friedenskorps vgl. Naumann (2008). 23 Vgl. Noetzel/Zapfe (2008) und Möckli (2008). 24 Vgl. Schaller (2009), Kreß/Nolte (2009) sowie Dreist (2010).
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es! Die Internationalen Verwaltungsstäbe und ihre nationalen Personalsteller sollten sich von Landeskennern und Entwicklungsforschern beraten lassen, wie hybrid, d.h. wie einerseits traditionell, andererseits modern dieses Land in Wirklichkeit ist, wie gewaltbereit und fremdenfeindlich und wie anpassungsfähig, selbständig und findig Afghanen sein können und wie viel Zeit sie haben! Wo steht heute die internationale Gemeinschaft? Konnten VN-Missionen im Kalten Krieg nur auf die Truppen und zivilen Expertenteams weniger schwacher Drittweltstaaten und neutraler Industriestaaten zurückgreifen, so ermöglichte erst dessen Ende die Beauftragung großer internationaler Kontingente mit der Befriedung lokaler Konflikte. Diese aber waren in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten intern mit der Transformation auf die neuen Verhältnisse beschäftigt, standen bis vor wenigen Jahren völlig unvorbereitet vor den neuen Aufgaben an den Grenzen des Stabilitätsraums und werden bis heute – zivil noch weniger als militärisch – keinerlei gemeinsamer und einheitlicher Führung unterstellt. Der koordinierte Einsatz ziviler und militärischer Mittel in Krisenregionen ist vorbelastet: durch eine strategische Unentschiedenheit der Politik zwischen Militarisierung und Entmilitarisierung, durch die Unterschiedlichkeit der Führungskulturen, durch die üblichen Statusprobleme aller großen Institutionen und allem voran durch die gewaltige Herausforderung, denen sowohl militärische als auch zivile Akteure in Ländern fragiler Staatlichkeit gegenüberstehen. In ihrer Summe führen diese Faktoren notorisch zu Kommunikationsproblemen, die zwar vielerorts beklagt, aber selten von den Betroffenen zur Sprache gebracht werden können. Das Gelände zwischen den Akteuren ist vermint, die Ressorts beginnen erst langsam miteinander zu sprechen. Das liegt weniger an den jeweiligen Einzelpersonen als vielmehr an den Beharrungskräften der beteiligten Institutionen. Die Herausforderung ist epochal, ebenso aber auch die Chance: Erst seit Ende des kalten Krieges ist die Weltgesellschaft in der Lage, sich den wirklich gravierenden Problemen auf diesem Planeten zu stellen. Bis 1989 ging der Kampf um die Frage, welches Gesellschaftsmodell der Weltgesellschaft künftig zugrundegelegt werden soll. Diese Frage ist historisch weitgehend entschieden und zwar gegen die Kommandowirtschaft unter einer sozialistischen Diktatur und für den durch einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat geordneten freien Markt. Jetzt erst haben wir also den Rücken frei und können uns den beiden eigentlichen Problemen der Weltgesellschaft widmen: dem eklatanten Wohlstandsgefälle zwischen den Stabilitätsräumen und den großen Krisenregionen und der durch die Industrialisierung verursachten ökologischen Krise. Man kann es noch knapper fassen, die beiden Probleme tragen den Namen Armut und Gewalt. Afghanistan ist durch 9/11 in den Fokus geraten, Haiti durch ein Erdbeben, Afrika macht sich im Stabilitäts-
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raum durch Migrationsdruck bemerkbar. Wir aber stehen uns selbst im Wege. Diejenigen unter uns, die die Armut bekämpfen, reden nicht mit denen, die die Gewalt bekämpfen. Hier klingt der alte Streit um das Gesellschaftsmodell nach. Die Verfechter der Diplomatie und der Entwicklungszusammenarbeit sind mentalitätsgeschichtlich eher „links“, und die Verfechter des staatlichen Gewaltmonopols sind eher „rechts“ beheimatet. Nun aber treffen sie in den Einsatzgebieten unmittelbar aufeinander. Warum jetzt erst? Nun, Jahrzehntelang waren hier von Europa aus nur die Entwicklungshelfer „draußen“, Militär und Polizei blieben „zuhause“, weil nach dem Ende des Kolonialzeitalters nur noch Entwicklungshelfer, keineswegs aber Militär und Polizei legitimiert waren, out of area aktiv zu werden. Diejenigen unter uns, die die Gewalt bekämpfen, sind hervorragend – wenn auch nach wie vor in hohem Maße dysfunktional – ausgestattet. Diejenigen aber, die die Armut bekämpfen, sind im Vergleich dazu miserabel ausgestattet. Wenn man so will: die einen sind gut ausgestattet und mangels ziviler Einbindung schwach legitimiert, die andern sind schlecht ausgestattet und wären gut legitimiert; erst wenn sich dieses Verhältnis angleicht, wird eines fernen Tages eine ausgewogene Verhältnismäßigkeit bestehen. Den Unterschied in der Ausstattung kann man schon durch einen einfachen Vergleich der Personalansätze und Finanzmittel belegen. Gemeint sind nicht nur materielle Ressourcen, sondern Fähigkeiten, Verfahren, Führungsmittel, Ausbildungseinrichtungen, Organisationsstrukturen, Planungsprozesse, Legitimierungsverfahren, Evaluationskapazitäten, gesellschaftliche Verankerung, symbolische Ausgestaltung, mediale Präsenz, und so weiter und so weiter. Hier steht ein epochaler gesellschaftlicher Strukturwandel an. Wollen die verantwortlichen Kräfte der Weltgesellschaft die epochale Herausforderung von Armut und Gewalt im Zeichen der anschwellenden ökologischen Weltkrise einigermaßen meistern, dann müssen sie ihren Hickhack beenden25. Sie müssen sich aus den Mustern des Kolonialismus ebenso lösen wie aus den Mustern der Links-Rechts-Dichotomie. Die beiden genannten historischen Erfahrungen müssen wach bleiben, wir dürfen nicht zurückfallen in kolonialistische Mentalitäten, wir dürfen auch nicht zurückfallen in die Extreme von Marktradikalismus und Kommunismus. Aber wir dürfen uns auch nicht durch die alten Polarisierungen und entsprechende Gespenster-Debatten (Köhler-Rücktritt und Gesine Lötzsch-Debatte) daran hindern lassen, die neuen Probleme anzupacken. Noch aber wird die Transformation unserer Institutionen nicht in voller Breite zum Thema gemacht. Dabei geht die Bundeswehr hier tatsächlich als Pionier voran. Die Vorschläge der WeiseKommission werden zwar weitgehend als technokratische Verwaltungsreform wahrgenommen, dahinter aber stehen die neue NATO-Doktrin und 25 Einen guten Ansatz für ein weiterführendes Gespräch liefert Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen (2010).
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auch das deutsche Weißbuch mit ihrem völlig neuen Gedanken des Comprehensive Approach (Vernetzte Sicherheit). Die entsprechende Transformation der Diplomatie und der Entwicklungszusammenarbeit lässt aber auf sich warten. Hier muss unsere Diskussion ansetzen, hier müssen wir den großen Bohrer platzieren, um ein gewaltiges Brett zu bohren: Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit müssen strategische, operative und taktische Fähigkeiten erwerben, wie sie bisher nur Streitkräfte kennen, und dann müssen alle drei konzentriert zusammenwirken und zwar nicht unter militärischer, sondern unter ziviler Führung. Denn die zivilen Herausforderungen bilden den Löwenanteil, die militärischen flankieren nur! Und selbst wenn all diese Anpassungen eines Tages vollzogen sein sollten, dann beginnt überhaupt erst die eigentliche Aufgabe: die seit Generationen geradezu systematisch dysfunktionalen und auf Nepotismus und Klientelismus programmierten und für islamische Mentalitäten „westlich“ anmutenden Verwaltungsstäbe auf ein kulturspezifisches Verständnis von Gemeinwohl zu verpflichten.26 Gerade in diesen Tagen machen sich islamische Gesellschaften im Norden Afrikas selbst auf diesen Weg und holen nach, was Osteuropa in den 90er Jahren erlebte, haben wir den Mut sie zu unterstützen? Nach fünf Jahrhunderten abendländischem Kolonialismus’ eine wahre Jahrtausendaufgabe! Nur aber wer in den Augen der Bevölkerung die Machtfrage im Blick auf das Gemeinwohl dauerhaft beantwortet, überzeugt wirklich. Die Entwicklung der Islamischen Republik Afghanistan mittels des Interessenausgleichs zwischen den volatilen urbanen Eliten und der ländlichen Bevölkerungsmehrheit in einem überdies instabilen Großraum Südwestasien muss deshalb solange treuhänderisch begleitet werden, bis der afghanische Souverän „erwachsen“ geworden ist.27 Den Insurgenten und Powerbrokern reicht es, staatliche Herrschaft durch brutale Einschüchterung und Bestechung zu verhindern, um den für ihre kriegsökonomischen 26 Vgl. Afsah. Seine Analyse liefert reichlich Material für die Erforschung dieser schier unvorstellbaren Verhältnisse. Vgl. auch Benner/Mergenthaler/Rotmann (2009). 27 Ein Modell einer aus internationaler Sicht beaufsichtigten Souveränität liefert der für Bosnien entwickelte Dayton-Vertrag. Afghanistan leidet zwar nicht unter Sezession, ein Erfolg in Afghanistan hängt aber auch entscheidend davon ab, wie die internen Spannungen im Kontext der Großregion gelöst werden: Wegen des postkolonialen Geburtsfehlers nicht konsolidierter Grenzen präferiert z. B. Pakistan ein durch Aufständische geschwächtes Afghanistan. Es steht nach innen selbst in der Zerreißprobe zwischen Pandschabis und Paschtunen, Islamisten und den USA. Den Iran wiederum kann man schlecht im Blick auf seine Nuklearambitionen bekämpfen und im Blick auf Afghanistan umwerben. Gelänge es den USA, Russland für alternative Nachschublinien zu gewinnen, müsste wiederum Pakistan erneut durch Destabilisierung auf sich aufmerksam machen. Afghanistan und Pakistan können aber nur gemeinsam aus der Spirale von Armut und Gewalt herausgeführt werden. Langfristig geht dies alles nicht ohne Einbeziehung der gesamten Regionen Südwest- und Zentralasien, vgl. Schmitz (2010).
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Interessen nötigen Gewaltmarkt zu erhalten. Die Organe des Proto-Staates und seine internationalen Partner dagegen müssen ihr menschenrechtsethisch begründetes Schutz- und Wohlfahrtsversprechen dauerhaft erfüllen, d.h. erst richtig dosieren und dann über sehr lange Zeit hinweg erwartungssicher einhalten. Das muss den Menschen ehrlich gesagt werden, dann sind sie auch bereit, sich auf den weiten Weg zu machen. Solange Illusionen verbreitet werden, läuft alle Mühe ins Leere. Die wichtigste Ressource ist Zeit. Eine der Hauptursachen für die Lust an der Illusion liegt vermutlich in einer naiven sozialtechnokratischen und geschichtsvergessenen Hypermoralisierung: Aus lauter treuherziger Ungeduld halten wir Idealtypen wie „Ordnung“, „Gesetz“ und „Staat“ für real gegeben; und so verleiten wir uns gegenseitig dazu, die Verhältnisse, die wir doch mit Recht wünschen, mit Strömen an Personal und Geld – und Blut – doch nur zu verhängnisvollen Luftschlössern zusammenzustellen. Mein abschließendes Urteil: Das redliche Bemühen der ISAF um den Staatsaufbau in Afghanistan ist anzuerkennen! Weniger – und das richtig – wäre aber vermutlich mehr! Literatur Afsah, Ebraim: Problematische Präferenzen beim Aufbau von Staatlichkeit. Veröffentlichung im Band „Verfassung und Recht in Übersee“ in Vorbereitung. Arreguín-Toft, Ivan (2007): How to Lose a War on Terror: A Comparative Analysis of a Counterinsurgency Success and Failure, in: Ångström, Jan/Duyvesteyn, Isabelle (Hrsg.): Understanding Victory and Defeat in Contemporary War. London, S. 142–167. Benner, Thorsten/Mergenthaler, Stephan/Rotmann, Philipp (2009): Internationale Bürokratien und Organisationslernen. Konturen einer Forschungsagenda, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen. Band 16/2009/2, S. 203–236. Blasberg, Anita/Willeke, Stefan (2010): Das Kundus-Syndrom, in: DIE ZEIT 2010/10, S. 13–16. Brück, Tilman (2011): Krieg, Frieden und Entwicklung – und die Lehren für Afghanistan. Wochenbericht des DIW Berlin. Nr. 4/2011. Berlin. Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (2007): Friedensmission in Nordost Afghanistan – welche Wirkungen hat die Entwicklungszusammenarbeit? Evaluierungsberichte 031, Berlin. Christlich Demokratische Union (2011): Ist der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan friedensethisch gerechtfertigt? Argumentationspapier vom 29. Januar 2010. http://www.cdu.de/doc/pdfc/100129-argupapier-begruendung-afgh-einsatz. pdf, zuletzt aufgerufen am 7. Juli 2011. Dreist, Claus Peter (2010): Die Anwendung des humanitären Völkerrechts bei multinationalen Einsätzen in Afghanistan, in: Düppe, Friedrich-Ernst et al. (Hrsg.):
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Hartwig von Schubert Barmherzigkeit zwischen den Waffen. Festschrift für Andreas von Block-Schlesiger. Herdecke, S. 7–48.
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II. Sozialwissenschaftliche Analysen und Perspektiven
Belastungen, Angebote und Ansprüche Die Bundeswehr als „Armee im Einsatz“ und die Neuverhandlung der zivil-militärischen Beziehungen Von Heiko Biehl Belastungen und Härten gehören zum Soldatenberuf – sie sind Teil der job description. Deshalb werden Soldaten nicht erst im Ernstfall mit Erschwernissen und Entbehrungen konfrontiert. Diese sind bereits fester Bestandteil der Ausbildung, werden durch Training, Drill und Manöver eingeübt. Selbst die Innere Führung, die manchem Kritiker als Ursache und Ausdruck der Verweichlichung der Bundeswehr und ihrer Soldaten gilt, erkennt in Ziffer 645 der einschlägigen Dienstvorschrift 10/1 ausdrücklich an: „Ausbildung ist Teil der Dienstgestaltung und eine wesentliche Aufgabe der Streitkräfte. Sie ist einsatzorientiert und nach den Grundsätzen der Inneren Führung durchzuführen . . . Sie zielt auch darauf ab, notfalls Härten und Entbehrungen bis an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit auf sich zu nehmen und zu ertragen.“ Wobei die Vorschrift umgehend die dabei gültigen Schranken ausweist: „Aber auch die realitätsnahe Ausbildung findet ihre Grenzen in der Achtung der Menschenwürde, der Unversehrtheit von Leib und Leben sowie in der Beachtung der Sicherheitsbestimmungen.“1 Für die Bundeswehr hat sich durch die seit der Wiedervereinigung einsetzenden Auslandseinsätze an dieser Stelle – wie in vielen anderen Punkten – Grundlegendes geändert: Soldatische Belastungen sind nicht länger hypothetisch und abstrakt, in den Einsätzen sind sie eine konkrete, alltägliche Realität. In der Bundeswehr des Kalten Krieges mussten die Wirkungen, Bedingungen und Folgen militärischer Strapazen oftmals unter Rückgriff auf zunehmend verblassende historische Erinnerungen wach gehalten werden. Zwar darf nicht übersehen werden, dass zu Zeiten des Ost-West-Konflikts die Soldaten ebenfalls erheblichen Belastungen ausgesetzt waren. Die Ausbildung war zum Teil beschwerlicher als heutzutage und noch allzu häufig von Schinderei und Schikanen geprägt. Unfälle, nicht zuletzt bei Manövern und Übungen, forderten über die Jahrzehnte das Leben von Tau1
ZDv 10/1: 36.
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senden Soldaten – so dass seit 1955 insgesamt mehr als 3.100 Angehörige der Bundeswehr im Dienst ums Leben kamen (die Gefallenen der Auslandseinsätze mitgerechnet). Die einsatzbedingten Belastungen besitzen jedoch eine neue Präsenz und Qualität. In der ‚Armee im Einsatz‘ müssen diese nicht mehr vermittelt werden, die Soldaten und (ihre Familien) sind den Belastungen gegenwärtig ausgesetzt. In der Folge geht der Soldatenberuf mittlerweile mit individuellen Risiken einher. Es existiert ein erhebliches Gefährdungs- und Belastungsgefälle zwischen Bundeswehrsoldaten und Bürgern. Durch den bedingten Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee sind die Soldaten den Beschwernissen und Gefahren des Einsatzes ausgesetzt, die die deutschen Bürger kaum – oder allenfalls indirekt durch Steuerzahlungen – tangieren. Zwar trugen auch die Soldaten der alten Bundeswehr in Ausbildung, Manöver und Dienst den Großteil der anfallenden Verteidigungslasten. Aber im Ernstfall wären Soldaten und Zivilisten doch nahezu gleichermaßen betroffen gewesen, wenn die militärischen Auseinandersetzungen mitten in Europa, mitten in Deutschland ausgetragen worden wären. Gegenwärtig konzentrieren sich die Beschwernisse – gerade im Einsatz – jedoch bei den und auf die Soldaten. Die Identifikation mit militärischen Belastungen ist deshalb noch mehr als früher ein wesentlicher Aspekt soldatischer Selbstverständnisse.2 Gleichzeitig mehren sich aber auch die Klagen der Soldaten über eben jene Belastungen und daraus abgeleitete Forderungen an die militärische Organisation, an die Gesellschaft und Politik. Denn es ist durchaus im Sinne der Militärs, die eigenen Strapazen, Härten und Gefahren zu thematisieren, zu akzentuieren und zur Durchsetzung weiter führender Interessen zu instrumentalisieren. Im Ergebnis zeigt sich ein bemerkenswerter Dualismus aus Integration der Belastungen ins soldatische Berufsbild einerseits und offensiver Vertretung von Ansprüchen an Streitkräfte, Politik und Öffentlichkeit andererseits. Aus militärsoziologischer Perspektive sind damit wesentliche Implikationen verbunden: Wie im Folgenden aufgezeigt wird, ist der Umgang mit soldatischen Belastungen Ausdruck des Verhältnisses zwischen den einzelnen Soldaten und den Streitkräften als Organisation. Zugleich definiert die gesellschaftliche und politische Haltung zu soldatischen Belastungen die zivil-militärischen Beziehungen wesentlich und wird der Stellenwert des Soldaten und des Militärischen in modernen Gesellschaften entlang dieser Problematik verhandelt. Es ist daher lohnenswert, sich die gegenwärtig aus den Streitkräften und Teilen der Politik anhebende Thematisierung soldatischer Beschwernisse und Strapazen genauer zu betrachten, um zu verstehen, wie das zivil-militärische Verhältnis gegenwärtig neu austariert wird. 2
Vgl. Leonhard (2007), S. 52 ff. und S. 109 ff.
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Vor diesem Hintergrund werden nachstehend vier Absichten verfolgt: Auf einer ersten Ebene geht es darum, die vielfältigen Belastungen der Soldaten differenziert darzustellen und die Bandbreite der relevanten Faktoren zu illustrieren, wobei der Fokus auf den laufenden Einsätzen der deutschen Streitkräfte liegt (Abschnitt I.). Dabei verdient der vermeintlich unzureichende politische und gesellschaftliche Rückhalt für die Soldaten und die Einsätze der Bundeswehr genauere Betrachtung (Abschnitt II.). Im nächsten Schritt können durch die Analyse der Reaktion der Bundeswehr auf die soldatischen Bürden Rückschlüsse auf das Verhältnis von Streitkräften und Soldat gezogen werden – wodurch die vorgebrachten Ansprüche der Soldaten gegenüber Politik und Gesellschaft in den Blick geraten (Abschnitt III.). In der Folge tragen die nachstehenden Ausführungen zur Diagnose des Verhältnisses von Streitkräften und Gesellschaft in Deutschland bei, welches aufgrund des begrenzten Umbaus der Bundeswehr zur Interventionsarmee derzeit neu konfiguriert wird (Abschnitt IV.).
I. Soldatische Belastungen – ein kursorischer Überblick Die deutschen Soldaten sind gegenwärtig durch die Einsätze in unterschiedlicher Qualität und Quantität belastet. Diese Belastungen werden im Folgenden skizziert. Dabei kann es nicht darum gehen, die Strapazen der Soldaten im Detail darzustellen, diese empirisch zu prüfen oder in eine begründete Rangfolge zu bringen. Dies leistet eine Reihe von – öffentlich nicht immer zugänglichen – Dokumenten und Schriften: So sind die Belastungen der eigenen Truppe fester Bestandteil militärinterner Lageberichte und Meldungen bis hin zu wehrpsychologischen Umfragen. Auch die militärsoziologische Forschung hat sich der Thematik angenommen, wie insbesondere die Studien des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr zu den Auslandseinsätzen belegen.3 Daneben stellt der zuweilen explizit als ‚Mängelbericht‘ bezeichnete Bericht des Wehrbeauftragten eine hervorragende Quelle dar, die durch die Eingaben der Soldaten im bottomup-Verfahren entsteht.4 Der für die nachstehenden Betrachtungen zentrale Begriff der soldatischen Belastungen unterliegt einem breiten und offenen Verständnis. Ohne eine abschließende wissenschaftliche Definition liefern zu wollen, sollen als Einsatzbelastung Größen gelten, die Auftragserfüllung und Lebensqualität (i. S. v. Wohlbefinden, Lebensführung, Persönlichkeitsentfaltung) der Sol3 Vgl. etwa Bock/Klein/Seiffert (2000), Keller/Tomforde (2005) und Biehl/Keller/ Tomforde (2005). 4 Deutscher Bundestag (2010).
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daten nicht unerheblich beeinträchtigen. Dabei sind grundlegend zwei Arten von Belastungen zu unterscheiden: Erstens sind dies militärisch-organisatorische Beanspruchungen, die sich exogen aus dem Einsatz selbst ergeben, wie etwa die Abwesenheit des Soldaten und die Trennung von der Familie, oder endogene Beschwernisse, die durch Defizite (in) der militärischen Organisation bedingt sind, als da etwa wären: ungenügende Ausrüstung und Ausbildung oder das Versagen von Kameraden und Vorgesetzten. Hiervon sind zweitens Belastungen zu unterscheiden, die sich aufgrund des politisch-sozialen Rahmens militärischer Missionen ergeben. Hierzu zählen u. a. Vorbehalte der Bürger gegen das militärische Engagement oder die Streitkräfte insgesamt sowie Zweifel der Soldaten an ihrer Mission. Dieser Bereich verweist darauf, dass das Tun der Soldaten stets in engem Zusammenspiel mit einer strategischen Ausrichtung, politischen Begründung und gesellschaftlichen Rückbindung erfolgt. Fehlen diese oder machen sich unter den Soldaten Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit ihrer Mission breit, dann wirkt dies unmittelbar belastend auf die soldatische Motivation. 1. Die Trennung von Zuhause und die Abwesenheit der Familie Militärische Einsätze gehen zwangsläufig mit gewissen Unannehmlichkeiten für die Soldaten einher. Dies beginnt bei scheinbar profanen Aspekten wie den klimatischen Bedingungen am Einsatzort. Staub, Niederschläge, Hitze, Kälte und unwegsames Gelände können die Auftragserfüllung behindern und den Alltag der Soldaten erschweren. Viele Selbstverständlichkeiten und Annehmlichkeiten, die die Soldaten kennen und schätzen, fehlen oder sind nur rudimentär vorhanden. Wofür der Soldat im Heimatland selbst verantwortlich ist, stellt die militärische Organisation bereit: Unterkunft, Verpflegung und Angebote zur Gestaltung der dienstfreien Zeit. Über eine Einsatzdauer von mehreren Monaten können sich Unzulänglichkeiten in diesen Bereichen zu einer echten Strapaze auswachsen. So berichten Soldaten immer wieder, dass es ihnen im Einsatz an Intimsphäre fehle. Die gemeinsame Unterbringung, die geteilten Sanitäranlagen, die Gemeinschaftsverpflegung, die permanenten dienstlichen Kontakten führten zu einer (über)großen Nähe.5 In einem Feldlager sei es schwierig, Zeit und Raum für sich selbst zu finden. Diese Charakteristika der Einsatzwirklichkeit erinnern an die Kriterien, die Erving Goffman als kennzeichnend für totale Institutionen identifiziert hat.6 In der Folge ist im Einsatz ein permanenter 5 6
Vgl. Bock/Klein/Seiffert (2000), S. 169 ff. Vgl. Goffman (1961).
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Zugriff des Dienstherrn auf den Soldaten möglich. Dies erschwert Zeiten der Ruhe und des Abschaltens zu finden, was auf Dauer zu ernsthaften psychischen und physischen Problemen führen kann. Hinzu kommt, dass die Soldaten durch den Einsatz von ihrem Zuhause, von ihrer Heimat getrennt sind. Sie sind herausgenommen aus dem gewohnten sozialen Umfeld, das sich ohne sie weiter entwickelt. Dabei kann die Abwesenheit unterschiedlich lange dauern. Bei der Bundeswehr sind es aktuell vier Monate, zwischenzeitlich waren es schon mal sechs. In anderen Armeen gibt es Einsatzzeiten von zwölf Monaten und mehr, was auf deutsche Soldaten in internationalen Stäben und Verwendungen im Einzelfall auch zutreffen kann. In der Folge ist der Soldat von seinen Bezugspersonen und gesellschaftlichen Kontakten getrennt – seien es Freunde und Bekannte, Nachbarn und Kollegen. Der Soldat löst sich aus seinem bisherigen Kontext, nutzt aber zunehmend die Möglichkeiten zur Kommunikation per (Mobil)Telefon, Feldpost und Internet, die weitaus besser sind als noch vor wenigen Jahren. Die militärsoziologische Forschung hat differenzierte Befunde zu den Folgen enger Kommunikationsnetze in die Heimat herausgearbeitet. Für manchen Soldaten und Familienangehörigen erschweren die Kontakte die Trennung noch, da diese anschaulich und präsent gehalten wird.7 Die Abwesenheit der Familie ist eine, wenn nicht die zentrale Belastungsgröße der Bundeswehrsoldaten in den bisherigen Einsätzen. In den Umfragen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr unter Kontingentteilnehmern und deren Familienangehörigen zeigt sich jedenfalls, dass die Trennung von der Familie der Hauptgrund dafür ist, warum Soldaten nicht (mehr) in den Einsatz wollen.8 Die Herauslösung des Soldaten aus dem vertrauten familiären Umfeld weist dabei unterschiedliche Erscheinungsformen und in der Folge unterschiedliche Schwierigkeiten auf. Für viele Soldaten ist Familie gleichbedeutend mit der Partnerin oder dem Partner, einige Soldaten (rund ein Viertel bis ein Drittel) haben Kinder, Jüngeren fehlen die Geschwister und Eltern.9 Die Abwesenheit der Angehörigen stellt eine emotionale Belastung dar, aber ebenso fehlt die Nähe und Wärme des Partners und der sexuelle Kontakt.10 Im Vergleich besonders belastet sind die jüngeren Soldaten und diejenigen mittleren Alters, insbesondere dann, wenn sie kleine Kinder haben.11 Betroffen sind folglich Offiziere und Feldwebel in zentralen Führungs- und Funktionsverwendungen (Zug7
Vgl. Ender (1995). Vgl. Keller/Tomforde (2005). 9 Vgl. Biehl/Keller/Tomforde (2005), S. 84 f. 10 Vgl. Biehl/Keller/Tomforde (2005), S. 92 und S. 97. 11 Vgl. Biehl/Keller/Tomforde (2005), S. 95 ff. und Keller/Tomforde (2005). 8
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führer, Chefs, Spieße, Stabspersonal etc.) und damit wesentliches Personal der Einsatzkontingente. Für die Streitkräfte stellt dies in zweifacher Hinsicht eine Herausforderung dar: Erstens zeigen Soldaten in wichtigen Positionen eine geringere Motivation, erneut in den Einsatz zu gehen, während junge kinderlose Soldaten ohne Partner bzw. Partnerin (Singles) naturgemäß eine geringere Belastung durch die Abwesenheit von Zuhause aufweisen. Zweitens müssen sich die Streitkräfte – aufgrund der differenzierten familiären Verhältnisse und der damit einhergehenden unterschiedlichen Problemstellungen ihrer Soldaten – auf einen vielschichtigen und schillernden Problemkomplex ‚Trennung von der Familie‘ einstellen. Die Herausforderungen, die etwa eine Offiziersgattin mit erwachsenen Kindern aufgrund der Abwesenheit ihres Mannes zu bewältigen hat, unterscheiden sich wesentlich von den Fragen und Problemen, die die jugendliche Partnerin eines Mannschaftssoldaten beschäftigen. 2. Gefährdungen für Leib und Leben In den Auslandseinsätzen der Bundeswehr seit dem Ende des Kalten Krieges zeigen sich sehr oft die direkten Gefahren von kriegerischen Konflikten. Dass der Soldatenberuf in letzter Konsequenz mit dem Einsatz von Leib und Leben, mit Tod und Verwundung einhergehen kann, ist in aller Deutlichkeit derzeit in Afghanistan erkennbar. Militärische Einsätze sind nun einmal dadurch gekennzeichnet, dass Soldaten bereit sind, ihr Leben für die Erfüllung des Auftrages einzusetzen und auch die Bereitschaft an den Tag legen, andere zu töten. Dies stellt eine immense Belastung für die Soldaten dar. Die tägliche Konfrontation mit Gewalt, die Angst ums eigene Leben und das der Kameraden, die Möglichkeit von Angriffen, Überfällen und Anschlägen, kurz: die ständige Unsicherheit lastet auf den Soldaten. In den derzeitigen asymmetrischen Konflikten kommt hinzu, dass den Soldaten nicht alleine militärisches Handwerk und Können abverlangt wird. Sie müssen zudem über den Charakter von Situation entscheiden: Handelt es sich um aufgebrachte Zivilisten, die einen letztlich harmlosen Streit aushandeln oder um gewaltbereite Gegner, die aus einer zivilen Deckung heraus wirken? Der Soldat muss folglich zunächst den Situationsrahmen erkennen und definieren, in dem er zu handeln hat. Solch komplexe Anforderungen – gepaart mit der ohnehin existenten Angst um Leib und Leben – stellen für die Einsatzteilnehmer eine große Bürde dar und können im Extrem zu ernsthaften Erkrankungen führen. In den letzten Jahren ist durch die verschärfte Situation in Afghanistan das Bewusstsein der Öffentlichkeit wie der Bundeswehr für die psychologischen Folgen der Einsätze deutlich gewachsen. So berichtet der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht 2009 von „418 offiziell registrierte[n] Soldatinnen
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und Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen“12, was nahezu einer Verdopplung gegenüber dem Vorjahr entspricht. Darüber hinaus ist von einer erheblichen, wenn auch nicht seriös abschätzbaren Dunkelziffer auszugehen.13 Die Bundeswehr hat in den letzten Jahren auf die steigende Zahl der Erkrankungen reagiert und Maßnahmen ergriffen.14 Diese reichen von präventiven Elementen bereits vor Beginn eines Einsatzes über psychosoziale Netzwerke bis hin zu medizinischen Forschungen. Für die Zukunft ist bei einer weiteren Zuspitzung der Konflikte – insbesondere in Afghanistan – mit einer nochmaligen Verschärfung entsprechender Probleme zu rechnen. Neben einsatzimmanente Schwierigkeiten treten Belastungen, die quasi hausgemacht sind. Solche Beschwernisse können ihren Ursprung sowohl im sozialen Gefüge als auch in der militärischen Organisation selbst haben. 3. Konflikte zwischen den Soldaten Militärische Vorgesetzte tragen bereits in jungen Jahren oftmals große Verantwortung für Material und Personal. Im Einsatz sind sie nochmals stärker gefordert, den sich daraus ergebenden Anforderungen gerecht zu werden. Von daher sind die Streitkräfte bemüht, nur entsprechend qualifiziertes Personal für Führungspositionen auszuwählen, dieses intensiv zu schulen und auf Vorgesetztenpositionen vorzubereiten. Diesem richtigen Ansatz steht jedoch das Gebot der personellen Bedarfsdeckung entgegen. Im Ergebnis zeigt sich jedenfalls, dass wohl nicht alle Vorgesetzten den hohen Anforderungen gerecht werden. Die einzig empirisch fundierte und öffentlich zugängliche Studie zu Bundeswehrvorgesetzten im Einsatz belegt jedenfalls eindrücklich, dass das Vertrauen in die Vorgesetzten im Laufe einer Mission sinkt und dass deren Fähigkeiten und Eigenschaften mit zunehmender Einsatzdauer kritischer bewertet werden.15 Ebenso berichtet der Wehrbeauftragte regelmäßig über Fehlverhalten von Vorgesetzten im Einsatz16 und verweist nachdrücklich auf die Relevanz von militärischen Vorgesetzten und deren Kompetenzen: „Vor dem Hintergrund konkreter Bedrohungen wird die Verantwortung von Vorgesetzten für die Gesundheit und das Leben ihrer Untergebenen im Einsatz besonders deutlich. Soldaten müssen darauf vertrauen können, dass ihre Vorgesetzten sie nicht unnötig Gefahren aussetzen. Nur dann werden sie ihnen auch in kritischen Situationen 12 13 14 15 16
Deutscher Bundestag (2010), S. 3. Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 55. Vgl. als Überblick Biesold (2010), S. 81 ff. Vgl. Mackewitsch (2001), S. 28 f. Vgl. zuletzt Deutscher Bundestag (2010), S. 18 f.
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folgen. Leider genügten im Berichtsjahr selbst höhere Vorgesetzte nicht immer diesen Ansprüchen.“17 Angesichts solcher Kritik darf aber nicht die besondere Situation der Vorgesetzten im Einsatz übersehen werden. Sie sind den Erwartungen der ihnen unterstellten Soldaten ebenso ausgesetzt wie denen ihrer eigenen Vorgesetzten. In dieser Mittlerposition müssen sie die widersprüchlichen Forderungen ausbalancieren: Von ihren Vorgesetzten werden sie angewiesen, bestimmte Organisationsziele zu erreichen und Maßnahmen auch gegen Widerstände der unterstellten Soldaten umzusetzen. Zugleich sollen sie Anwälte ihrer Soldaten sein und deren Interessen gegenüber höheren Ebenen einbringen und ggf. durchsetzen. Mit dieser hohen Erwartungshaltung kommt nicht jeder Vorgesetzte zurecht – erst recht nicht unter den Bedingungen eines mehrmonatigen, belastenden Einsatzes.18 Doch nicht nur im vertikalen militärischen Gefüge, im Verhältnis zu den Vorgesetzten kann es zu Unstimmigkeiten und Dissonanzen kommen, auch unter den Soldaten gleicher Dienstgradgruppen entstehen im Laufe einer Mission diverse Spannungen und Auseinandersetzungen. Kameradschaft ist ein Spezifikum von Streitkräften, das von Soldaten wie von Außenstehenden gleichermaßen als großes Plus der Armee im Vergleich zu zivilen Organisationen und Arbeitgebern angesehen wird.19 Dementsprechend empfindet auch die weit überwiegende Mehrheit der Soldaten die Kameradschaft im Einsatzkontingent als positiv. Für viele ist sie sogar ein Anreiz, in den Einsatz zu gehen.20 Dies garantiert jedoch nicht, dass alle Soldaten in den Kreis der Kameraden integriert sind. Gerade dichte soziale Netzwerke, wie sie unter Soldaten bestehen, tendieren dazu, Zugehörigkeiten sehr explizit zu definieren und zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘, zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ sehr scharf zu unterscheiden. Dies führt dazu, dass einige Soldaten sich ausgegrenzt und ausgeschlossen fühlen. Es ist in erster Linie Aufgabe der Vorgesetzten, aber auch von Vertrauensleuten, Militärseelsorgern, Truppenpsychologen und anderen, diesen Phänomenen entgegen zu wirken und Isolationen zu vermeiden. Eine extreme Form der Verletzung des kameradschaftlichen Miteinanders stellen sexuelle Übergriffe dar. Diese werden grundsätzlich bestraft und strafrechtlich verfolgt. Die einschlägige Studie von Gerhard Kümmel weist nach, dass sexistische Bemerkungen und anzügliche Witze in der Bundeswehr durchaus verbreitet sind.21 Auch unerwünschte Berührungen und 17 18 19 20 21
Deutscher Bundestag (2010), S. 18. Vgl. Mackewitsch (2001). Vgl. Bulmahn u. a. (2009), S. 66 und Leonhard/Biehl (2005). Vgl. Keller/Tomforde (2005). Vgl. Kümmel (2008), S. 75 ff.
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Übergriffe kommen vor. So berichten insgesamt rund fünf Prozent der befragten Soldatinnen von Übergriffen.22 Zudem zeigt sich, dass nicht jeder Vorfall gemeldet wird.23 Es scheint sich in den Streitkräften eine Grauzone etabliert zu haben, wie es sie auch in anderen Organisationen gibt, in der es zu fließenden Übergängen zwischen Flirt, Anmache, Belästigung und Übergriffen kommen kann. Auch der Wehrbeauftragte weist alljährlich auf entsprechende Vorfälle hin24, wobei diese naturgemäß nicht auf Einsätze beschränkt sind. Zudem sind zwischen den Streitkräften verschiedener Nationen merkliche Unterschiede festzustellen. Im Vergleich scheinen sexuelle Übergriffe im US-Militär stärker verbreitet zu sein. „Die Wahrscheinlichkeit, sexuell belästigt zu werden, liegt neueren Studien zufolge in den USStreitkräften deutlich – manchen Einschätzungen zufolge zwischen drei und vier Mal – höher als in der Zivilbevölkerung. In einer Befragung von mehr als 3 600 weiblichen US-Veteranen etwa berichteten 55 Prozent von Erfahrungen mit sexueller Belästigung, und nicht weniger als 23 Prozent gaben sexuelle Gewalterfahrungen während ihres Dienstes an“.25 Dies führt zu dem bemerkenswert traurigen Befund, dass es für eine US-amerikanische Soldatin in Afghanistan oder Irak wahrscheinlicher ist, Opfer eines Übergriffs eines eigenen Kameraden als eines feindlichen Angriffs zu werden.26 4. Organisationsversagen Neben den Kameraden und Vorgesetzten kann auch die militärische Organisation das Tun der Soldaten mit zusätzlichen Bürden erschweren. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Soldaten unzureichend ausgebildet und schlecht ausgerüstet in die Einsätze geschickt werden. Rüstung ist für die Streitkräfte generell ein problematischer, politisch sensitiver – und militärsoziologisch immer noch zu wenig ausgeleuchteter – Bereich.27 Schließlich muss langwierig Material und Ausrüstung auf ein vermutetes Szenario hin beschafft werden. Zudem kennt der militärische Gegner oftmals die Schwächen der vorhandenen Ausrüstung und stellt sein Vorgehen daraufhin ab. Dies hat in den letzten Jahren das Aufkommen von IED (Improvised Explosive Device) im Irak und in Afghanistan anschaulich gemacht. Als ein Ergebnis der so genannten Transformation waren die westlichen Streitkräfte nur unzureichend mit gepanzerten Fahrzeugen ausgerüstet. Dies nut22 23 24 25 26 27
Vgl. Kümmel (2008), S. 78. Vgl. Kümmel (2008), S. 80. Vgl. Deutscher Bundestag (2010), Kap. 9. Kümmel (2008), S. 74. Vgl. Gibbs (2010). Siehe jedoch Kollmer (2010), Richter (2005) und Staffelbach (2006).
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zen die Aufständischen, um mit improvisierten Sprengladungen Fahrzeuge und Soldaten anzugreifen. Als der damalige US-amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld von Soldaten im Irak auf diesen Umstand direkt angesprochen wurde, antwortete er: „you go to war with the army you have not with the army you want or wish to have at a later time“28. Von vielen wird dieses Zitat als Beleg für die sprichwörtliche Arroganz der Macht gewertet, mit der sich Rumsfeld seiner Verantwortung entzog29. In der Bundesrepublik könnte sich jedenfalls wohl kaum ein Politiker oder verantwortlicher Militär eine solche Aussage erlauben. Allerdings zeigt ein Blick auf die deutschen Einsätze, dass auch hier durchaus Ausrüstungsdefizite bestanden und zum Teil immer noch bestehen – verwiesen sei nur auf die Schwierigkeiten im strategischen Lufttransport.30 Es gibt aber ebenso Bemühungen, den erkannten Problemen zu begegnen und die Ausrüstungslücken zu schließen. Allerdings ist die hiesige Ausrüstungslage strukturell für die gegenwärtigen Anforderungen ungünstig, da die Bundeswehr bis 1990 als Verteidigungsarmee geplant war, die vor allem einen Panzerangriff auf Deutschland abwehren sollte. Die durch die Auslandseinsätze notwendig gewordene Umstellung der Ausrüstung ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten recht zögerlich angegangen worden, was sicherlich auch, aber eben nicht nur, am im Vergleich zu den Verbündeten geringen Beschaffungsetats liegt.31 Erschwerend kommt hinzu, dass die Rüstungsinvestitionen in wesentlichen Teilen lange durch Beschaffungsvorhaben blockiert gewesen sind, die noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammten. Der Wehrbeauftragte hat sich jedenfalls in seinem letzten Jahresbericht sehr dezidiert zu der in Teilen unzureichenden Ausrüstung eingelassen, die nicht alleine eine Belastung, sondern mehr noch eine Gefährdung der Soldaten zur Folge hat: „Die Erfüllung des Auftrags setzt eine sachgerechte und angemessene Ausstattung mit den erforderlichen Waffen und Geräten voraus. Das war nicht immer und überall gewährleistet“.32 Neben der Ausrüstung zeichnet die militärische Organisation ebenso für die Ausbildung der Soldaten verantwortlich. Angesichts der komplexen Aufgaben der derzeitigen Missionen sind die Anforderungen an die Ausbildung merklich gestiegen. Der heutige Soldat soll nicht nur sein soldatisches Handwerk beherrschen, sondern auch interkulturell kompetent und moralisch gefestigt sein, Einblick in die komplexen historischen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge des Konflikts gewinnen sowie sein Han28 29 30 31 32
Kristol (2004). Vgl. Herspring (2008). Vgl. Jonas/von Ondarza (2010), S. 54 ff. und S. 93 f. Vgl. Jonas/von Ondarza (2010), S. 95. Deutscher Bundestag (2010), S. 17.
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deln weiterhin am Ideal des ‚Staatsbürgers in Uniform‘ ausrichten.33 Die Rahmenbedingungen der Ausbildung können damit nicht immer Schritt halten. Die Einsatzfrequenzen für die Soldaten haben sich erhöht, die Vorbereitungszeit ist begrenzt und in den letzten Jahren wird die Ausbildung zunehmend überfrachtet. Dabei werden oftmals Inhalte in die Lehrpläne aufgenommen, damit diese als behandelt und vermittelt abgehakt werden können, ohne dass sich die Soldaten profund mit der Thematik auseinander setzen oder gar etwas Substanzielles lernen könnten.34 Hinzu kommt, dass deutsche Soldaten bereits rund ein Jahr, nachdem sie in die Streitkräfte eingetreten sind, am Auslandseinsatz teilnehmen können. Zum Vergleich: In Deutschland verlangt jeder Ausbildungsberuf eine mindestens zweijährige Ausbildungszeit, in ‚kriegsähnliche Zustände‘ entsendet die Bundeswehr ihre jungen Soldaten jedoch bereits nach der Hälfte der Zeit. Von daher kann es kaum überraschen, wenn einige Soldaten von den gestellten Anforderungen überfordert sind oder Vorgesetzte unter der Verantwortung leiden, nur rudimentär ausgebildete Soldaten in gefährlichen Situationen zu führen. In der Gesamtschau zeigt sich folglich eine ganze Palette von Belastungen, denen die Soldaten im Einsatz ausgesetzt sind: Einige stellen allenfalls Unannehmlichkeiten dar und erschweren den Alltag, andere wiegen schwerer und behindern die Auftragserfüllung oder gefährden die Soldaten. Ebenso bestehen Unterschiede mit Blick auf den ‚Verursacher‘: Manche Belastungen gehen unweigerlich mit Militärmissionen einher, andere sind hausgemacht. Doch ganz gleich, wie sich die Belastung im Einzelnen darstellt, die Streitkräfte sind angehalten, diesen entgegenzuwirken. So wie es laut § 10, (3) des Soldatengesetzes Pflicht des Vorgesetzten ist, für seine Untergebenen zu sorgen, gelten auch die Streitkräfte als paternalistische Organisation. Dementsprechend werden sie von den Soldaten in die Pflicht genommen, den einsatzbedingten Belastungen entgegenzuwirken. Aus ihrem Einsatz leiten die Soldaten jedoch nicht nur Ansprüche gegenüber der militärischen Organisation ab; Politik und Gesellschaft sollen ihnen ebenso auf sehr spezifische Art verpflichtet sein.
II. Der fehlende politische und gesellschaftliche Rückhalt als zentrale Belastung der Bundeswehrsoldaten im Einsatz? Die bislang vorgenommene Fokussierung auf militärisch-organisatorische Belastungen reicht nicht aus, um die Einsatzrealität erschöpfend zu erfassen. 33 34
Vgl. Wiesendahl (2010), S. 25 ff. Vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 23 ff.
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Die militärsoziologische Forschung hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass materielle Anreize und Absicherungen wesentlich sind. Gleiches gilt für den kameradschaftlichen Zusammenhalt und die Führungsqualitäten von Vorgesetzten. Auch geeignete Ausrüstung, fundierte Ausbildung und ein gelungenes Familie-Armee-Arrangement entlasten die Soldaten im Einsatz. Dennoch gilt es, eine wesentliche Facette zu betrachten, die die eingesetzten Soldaten bewegt und die ihnen unter Umständen zur Last wird: der politische Rückhalt aus der Heimat, die Unterstützung der eigenen Bevölkerung, der öffentliche Zuspruch und die Anerkennung für ihr Tun. Aufgrund der engen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Heimat- und Einsatzland verfolgen die Soldaten sehr genau die Debatten um ihre Missionen und registrieren vorhandene Zweifel und Widerstände der politischen Elite und der Bürger. Dabei stellen politische und Öffentliche Meinung für die Soldaten keine abstrakten Größen dar, die sich allenfalls in Umfragen, Parlamentsdebatten oder Berichterstattung niederschlagen. Die Soldaten wie ihre Familien sehen sich unmittelbaren Nachfragen, Diskussionen und Kritiken aus ihrem sozialen Umfeld ausgesetzt. Sie fungieren als Multiplikatoren, die den Einsatz der Bundeswehr im Sportverein, in kirchlichen Gruppen, gegenüber anderen Eltern in Kindergarten oder Schule oder im Berufsumfeld der Partnerin bzw. des Partners erläutern und begründen müssen. Vorhandene Zweifel beschäftigen die Soldaten offenbar sehr. Gerade die gegenwärtige Skepsis in Bevölkerung und Medien dem Afghanistaneinsatz gegenüber ist oftmals Anlass zur Diskussion und zuweilen gar zum Unmut. Von Seiten der Politik sind diese Sichtweisen der Soldaten aufgegriffen und in die öffentliche Debatte transportiert worden. Als einer der ersten und als sicherlich prominentester Protagonist hat der vormalige Bundespräsident Horst Köhler die gesellschaftliche Haltung zu den Streitkräften als ‚freundliches Desinteresse‘ charakterisiert. In der Folge hat es sich der ehemalige Wehrbeauftragte, Reinhold Robbe, zur Aufgabe gemacht, mit fast schon missionarischem Eifer für eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Soldaten zu werben. Bereits im Vorwort seiner letzten Unterrichtung an den Deutschen Bundestag bezieht sich Robbe auf eine „von vielen Soldaten . . . geäußerte Klage“: „. . . nämlich den fehlenden Rückhalt für die Soldaten durch die deutsche Gesellschaft. Auch im vergangenen Jahr wurde dieses Problem bei jedem [sic] meiner Truppenbesuche in den Heimatstandorten und in den Einsatzgebieten von den Soldatinnen und Soldaten angesprochen. Für unsere Bundeswehrangehörigen ist ganz einfach nicht nachvollziehbar, weshalb ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger ihnen so wenig Beachtung und – wie die Soldaten es selber formulieren – ‚moralische Unterstützung‘ schenken, obwohl sie ihre Gesundheit und ihr Leben für deutsche Interessen und im Auftrag des Deutschen Bundestages einsetzen. Was unsere Soldaten erwarten, ist mehr Empathie, mehr menschliche Zuwendung.“35
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Dieses hier ausführlich wiedergegebene Zitat verdeutlicht, wie wichtig den Soldaten die soziale Anerkennung und Unterstützung für ihr Tun ist. Diesen Eindruck bestätigen auch die Äußerungen von Hauptfeldwebel Seibert im Interview mit der Reservistenzeitschrift loyal. Seibert hat als erster deutscher Soldat nach dem Zweiten Weltkrieg eine Tapferkeitsauszeichnung für seine Führungsleistung im Gefecht erhalten.36 Auf die Frage, wie wichtig ihm die Auszeichnung sei, antwortet der Hauptfeldwebel: „Das ist zwar schön, aber ich lege darauf keinen gesteigerten Wert. Viel wichtiger wäre mir eine größere Anerkennung unserer Arbeit in der Bevölkerung. Wir Soldaten haben ein Recht darauf, dass die Menschen in unserem Land achten und respektieren, was wir in Afghanistan tun. Wir halten unseren Kopf hin für dieses Land, und dafür wollen wir nicht auch noch missfällig angeschaut oder angepöbelt werden.“37 Hauptfeldwebel Seibert – und mit ihm viele andere Soldaten sowie prominente Politiker – geht offensichtlich von einem Tauschverhältnis aus, in dem militärisches Engagement unter Inkaufnahme eigener Gefährdung gegen soziale Anerkennung und Unterstützung aufgerechnet wird. Nach gängiger Wahrnehmung fällt dabei der Beitrag der zivilen Seite defizitär aus. Wie ist aber die wiederholt vorgebrachte Klage über den fehlenden öffentlichen Rückhalt, die von einigen Politikern aufgegriffen und verstärkt wird, militärsoziologisch einzuordnen und zu bewerten? Zeigt sich hier tatsächlich, dass die Gesellschaft gleichgültig bis zynisch den Soldaten in den Einsätzen gegenübersteht? Werden die Soldaten von den Bürgern nur als „Müllmänner der Sicherheitspolitik“38 betrachtet? Besteht die Gefahr, dass sich nicht die Streitkräfte als Staat im Staate von der Gesellschaft abwenden, sondern sich umgekehrt die Bevölkerung von den Streitkräften entfernt?39 Sollten sich die postheroischen Deutschen künftig stärker den sicherheitspolitischen Themen zuwenden, um mehr vom „Ernst des Lebens“40 zu verstehen? Hilft etwa eine neue „Frontkultur“41? 35 Deutscher Bundestag (2010), S. 4. Im Weiteren heißt es dann gar: „Christen sprechen in diesem Zusammenhang auch von Nächstenliebe.“ Alleine diese Formulierung verdient eine genauere sozialpsychologische und militärsoziologische Würdigung, die in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden kann, vgl. aber vom Hagen (2003). 36 Im Loyal-Interview heißt es hierzu sehr explizit. Frage: „Sie haben ihn im direkten Duell ausgeschaltet?“ – Antwort Seibert: „Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es in diesem Fall.“ Loyal (2010), S. 23. 37 Loyal (2010), S. 23. 38 Stelzenmüller (2004). 39 Vgl. Struck (2003). 40 Köhler (2005). 41 Robbe (2010).
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Im Folgenden werden zunächst die vorgebrachten Diagnosen des zivilmilitärischen Verhältnisses empirisch eingeordnet und relativiert sowie der politische Rahmen und die entsprechenden Verantwortlichkeiten für die Einsätze aufgezeigt. Im nächsten Schritt werden die erhobenen soldatischen Ansprüche aus normativer Perspektive problematisiert. Eine solch umfassende Einordnung ist aus militärsoziologischer Sicht notwendig, da sich bereits der Rückhalt der Bevölkerung empirisch keineswegs als so gering darstellt, wie dies fortwährend behauptet wird. 1. Der Mythos vom fehlenden gesellschaftlichen Rückhalt Schaut man sich die Umfragen und Untersuchungen an, die Aufschluss über den gesellschaftlichen Rückhalt für die deutschen Streitkräfte geben, dann ist tatsächlich festzustellen, dass die Einsätze der Bundeswehr von den Bürgern kritisch begleitet werden. So finden sich kaum Bevölkerungsmehrheiten, die die Auslandsmissionen vorbehaltlos unterstützen. Je kriegerischer und kämpferischer die Einsätze sind, desto ablehnender stellt sich auch das Meinungsbild der Bürger dar. Mit Blick auf Afghanistan weisen demgemäß die Umfragen nahezu allesamt eine Ablehnung durch die Mehrheit der Befragten aus.42 Allerdings ist dies nicht gleichbedeutend mit einer negativen Haltung gegenüber der Bundeswehr und den Soldaten – im Gegenteil: Das Meinungsbild zu den Streitkräften stellt sich so positiv dar wie eigentlich noch nie seit Gründung der Bundeswehr. Ihr wird ein solch hohes Vertrauen geschenkt wie es sonst nur Polizei und Bundesverfassungsgericht erfahren.43 Auch das Ansehen der Soldaten und ihres Berufs ist keineswegs schlecht. Einschlägige Umfragen weisen nach, dass „der Beruf des Soldaten – und insbesondere der Offizierberuf – von der Mehrheit der Bundesbürger akzeptiert und anerkannt wird“.44 Entgegen anders lautenden Vermutungen ist ferner das soziale Ansehen von Soldaten in den Partnerstaaten keineswegs besser – mit der in jeder Hinsicht geltenden Ausnahme der Vereinigten Staaten. Weiterführende Analysen belegen ebenso, dass sich diese Einstellungen und Haltungen der Bürger durchaus in konkrete Unterstützung umsetzen.45 So kommunizieren weite Teile der Bevölkerung ihre positive Haltung zu den Streitkräften und nehmen viele von ihnen an Veranstaltungen der Bundeswehr wie ‚Tagen der Offenen Tür‘ und Gelöbnissen teil. Gegner mögen mit ihren spektakulären Protestaktionen zwar mitunter größere mediale Aufmerksamkeit erfahren. Sie fallen aber hinter das Gros der 42 43 44 45
Zu den Differenzen zwischen den verschiedenen Umfragen vgl. Jacobs (2009). Vgl. Bulmahn (2010), S. 21. Biehl (2009), S. 55. Vgl. Biehl/Fiebig (2011).
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Bürger, das die Bundeswehr unterstützt, deutlich zurück. Bemerkenswert ist ebenso, dass die positive Haltung und die Unterstützung für die Streitkräfte über alle sozialen Gruppierungen verteilt ist – es mithin einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu den Streitkräften als Organisation gibt. Woher kommt trotz dieser Befunde das Unwohlsein der Soldaten? Offenkundig wird die öffentliche Skepsis gegenüber den Einsätzen mit einer ablehnenden Haltung der Bundeswehr und den Soldaten gegenüber gleichgesetzt. Dies ist jedoch nicht zulässig.46 Denn im Unterschied zu anderen Zeiten und Ländern – man denke nur an die Situation der Vietnamveteranen in den USA oder die Nachrüstungsdebatte in der alten Bundesrepublik – wird die Kritik an sicherheitspolitischen Entscheidungen kaum noch auf die einzelnen Soldaten projiziert. Statt dessen bleibt die vorhandene Skepsis eher diffus oder trifft zuweilen die tatsächlich (politisch) Verantwortlichen, wobei eine breitere gesellschaftliche Mobilisierung bislang ausbleibt, da sich die (partei-)politischen Eliten – mit Ausnahme der Linken – im Großen und Ganzen geschlossen hinter die Einsätze stellen. Es gilt festzuhalten: Die Bürger vertrauen der Bundeswehr, bringen den Soldaten Unterstützung und Respekt entgegen, stehen aber den Einsätzen distanziert bis kritisch gegenüber. Dieser empirische Befund rückt einige verzerrte Wahrnehmungen gerade und wirft die Frage auf, weshalb die Klage über den fehlenden zivilen Rückhalt sich in den Streitkräften so hartnäckig hält und von einigen Politikern gelegentlich angestimmt wird. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die Behauptung, es fehle an gesellschaftlicher Unterstützung für die Soldaten im Einsatz, mindestens zwei Funktionen erfüllt: Politisch wird die Frage nach den Verantwortlichkeiten für Erfolg und Misserfolg militärischer Missionen aufgeworfen, militärisch der Zusammenhalt unter den Soldaten gestärkt sowie das Verhältnis zur Zivilgesellschaft hinterfragt. Beide Implikationen werden im Folgenden einer kritischen Prüfung unterzogen. 2. Die Bundeswehrmissionen als sicherheitspolitisches Kapital und die Verantwortung für deren Erfolg und Misserfolg Die Beteiligung an multinationalen Missionen ist derzeit Kernaufgabe der Bundeswehr. Diese Verwendung der Streitkräfte verfolgt nicht alleine 46 Entsprechend äußerte sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Afghanistanbesuch Ende 2010: „Zur ablehnenden Haltung vieler Bundesbürger zum Einsatz sagte die Kanzlerin, die Bevölkerung sehe diesen Einsatz zum Teil skeptisch, sei aber trotzdem stolz auf die Soldaten.“ (http://www.tagesschau.de/ausland/ merkelafghanistan112.html, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011).
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unmittelbare militärische, sondern vorrangig weitergehende politische Absichten. Entsprechend wird der Bundeswehr im aktuellen Weißbuch als erster Auftrag die Sicherung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit zugewiesen.47 Das Militär ist mithin Handlungsorgan der Politik und hat die Funktion, außenpolitische Interessen – im weitesten Sinne – durchzusetzen. Die Entsendung von Soldaten ist ein wichtiges politisches Symbol in der internationalen Politik. Denn wer über die politische Gestaltung von Kriegsund Nachkriegsgebieten mitbestimmen und mit den Partnern auf Augenhöhe entscheiden will, muss sich militärisch engagieren. Die militärische Mission dient den politischen Interessen folglich nicht vorrangig durch den de-facto-Beitrag, den die Soldaten leisten, sondern durch die Symbolik der politischen Entscheidung, Streitkräfte zu entsenden. Das Militär bildet damit das sicherheitspolitische Kapital, das ein Land in den internationalen Beziehungen in die Waagschale werfen kann. Dies gegenüber der eigenen Öffentlichkeit und den eingesetzten Soldaten offen zu kommunizieren, ist aufgrund von politischen Opportunitäten kaum möglich. Entsprechend verlegt man sich – zumal unter dem Eindruck eines nochmals gesteigerten Legitimationsbedarfs militärischer Gewalt und Einsätze – auf Hilfsargumentationen zur Begründung der Missionen, deren Stichhaltigkeit selten von Dauer ist. Vor diesem Hintergrund ist auch die zunächst völlig einleuchtende Forderung, dass Staatsbürger, die den Beruf des Soldaten ergreifen und in Interventionen entsendet werden, jeden Anspruch darauf haben, mit einem klaren und politisch wie militärisch sinnvollem Mandat ausgestattet zu werden, zu kontextualisieren. Denn das Versprechen, jedem Einsatz solle eine ehrliche, transparente, ernsthafte und glaubwürdige Begründung zu Grunde liegen, ist naturgemäß schwer einzulösen, wenn die Streitkräfte in erster Linie als sicherheitspolitisches Kapital in der internationalen Politik genutzt und oftmals lediglich als politisches Symbol in Einsätze entsendet werden. Diese Einsichten rücken auch die Einschätzungen aus der Politik zum mangelnden gesellschaftlichen Rückhalt für die Streitkräfte in ein anderes Licht. Bewertet man die diesbezüglichen Äußerungen wenig wohlwollend, dann grenzen sie an Schuldzuweisungen an die deutsche Bevölkerung. Einige Politiker sehen offenbar einen pädagogischen Auftrag darin, den Bürgerinnen und Bürgern einen verstärkten Zuspruch und eine größere Zuneigung zu den Soldaten zu verordnen, wobei sie die einsatzbedingten Belastungen als Argument nutzen, um von der politischen Instrumentalisierung der Bundeswehr und dem politischen Dissens rund um die Einsätze abzulenken. Dabei besteht die eigentliche Krux darin, dass die Missionen der Bundeswehr – zumal die gefährlicheren Kampfeinsätze – von der Bevölke47
Vgl. BMVg (2006), S. 62.
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rungsmehrheit nicht mitgetragen werden. Damit erteilt die Politik – in diesem Falle der Deutsche Bundestag – den Streitkräften Mandate, die im Widerspruch zum Mehrheitswillen der Wähler stehen. Dieser politische Dissens und die daraus erwachsenden Belastungen für die Soldaten sollten folglich im Fokus der Diskussionen stehen, anstatt ständig eine Diskrepanz zwischen Bundeswehr und Gesellschaft zu konstruieren. Dies gilt umso mehr, als auf weitere Sicht sich die Frage nach den Verantwortlichkeiten für die militärischen Missionen stellt. Wer trägt etwa die Verantwortung für Erfolg und Misserfolg des ISAF-Einsatzes? Durch die derzeitige Debatte werden bereits vorab Zuständigkeiten und ‚Schuldigkeiten‘ konstruiert, falls sich die laufenden Missionen letztlich als zu verlustreich und erfolglos herausstellen sollten. In den USA fokussieren sich die einschlägigen Debatten auf Fragen wie „Who lost Vietnam?“ oder „Who lost Iraq?“.48 Gerne weisen dann verantwortliche Politiker darauf hin, dass sie durchaus ein militärisch gebotenes, energischeres Handeln bevorzugt hätten, es dafür jedoch an der Unterstützung der Wähler gefehlt habe. Es ist nicht zu hoffen, dass ähnliche Debatten demnächst auch in Deutschland anstehen. Das Bemühen von Soldaten, Streitkräften und Politik um einen stärkeren gesellschaftlichen Rückhalt für die Einsätze mag auf den ersten Blick verständlich erscheinen. Es geht jedoch an der empirischen Wirklichkeit und den eigentlichen Problemen vorbei und verschleiert Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Zugleich ist die Debatte vor dem Hintergrund des politischen und militärischen Umgangs mit soldatischen Belastungen zu bewerten. Schließlich bestehen verschiedene Möglichkeiten, auf die Beschwernisse der Soldaten zu reagieren. Die Erarbeitung eines hohen sozialen Renommees für Soldaten, gar einer gesellschaftlichen Sonderstellung spielte dabei in der Geschichte oftmals eine wichtige Rolle. In modernen Gesellschaften greift diese zentrale Kompensationsstrategie der Streitkräfte für soldatische Belastungen aber nur noch bedingt, wie der folgende Abschnitt belegt.
III. Maßnahmen und Angebote der militärischen Organisation Die Reaktion der Streitkräfte auf soldatische Belastungen kann grundsätzlich zwei Stoßrichtungen aufweisen. Zunächst kann durch organisatorische, materielle, technische und prozessuale Bemühungen versucht werden, die Belastungen der Soldaten zu reduzieren. Dies ist insbesondere dort ange48
Vgl. Dobbins (2007).
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zeigt, wo Belastungen unmittelbar die Auftragserfüllung behindern und erschweren. Eine Entlastung ist in diesen Fällen ganz im Sinne der militärischen Organisation, da das Interesse der Soldaten nach Abbau der Beschwernisse und das Anliegen der Streitkräfte, die gestellten Aufgaben zu bewältigen, korrespondieren. Es mag aber Bereiche geben, in denen eine Entlastung der Soldaten nicht möglich bzw. nicht angezeigt ist, da sie einsatzbedingt bzw. zur Umsetzung des Auftrags notwendig ist. In solchen Fällen bieten sich Kompensationen für die einsatzbedingten Belastungen an. Diese können materieller Natur sein, wenn etwa zusätzliche Zahlungen für die Einsatzteilnahme erfolgen oder Karrierechancen auf Einsatzerfahrungen fußen. Diese können aber auch die Form von sozialer Unterstützung und Anerkennung annehmen. Betrachtet man den konkreten Umgang der Streitkräfte mit den soldatischen Belastungen, dann ist eine Melange aus belastungsreduzierenden und -kompensierenden Elementen zu verzeichnen. 1. Belastungsreduzierung durch militärisch-organisatorische Bemühungen Die Streitkräfte sind bemüht, in den Bereichen, auf die sie direkt einwirken können, die Belastungen der Soldaten zu reduzieren – etwa wenn es um Ausrüstung und Ausbildung geht. Zweifelsohne versucht jede Armee ihre Soldaten mit dem bestmöglichen Material auszustatten, aber dass die Umsetzung erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt, zeigt ein kursorischer Blick in die Gegenwart der Einsätze wie in die Militärgeschichte. Dies hat vor allem zwei Ursachen: Erstens unterliegt die Beschaffung von Rüstungsgütern stets auch anderen Logiken als dem reinen militärischen Nutzen. Indirekt hat dies der ehemalige Verteidigungsminister zu Guttenberg bestätigt, als er im Interview verlautbarte: „Bei der Sicherheit unserer Soldaten kann meine Rücksicht nicht nur [sic] der Industrie gelten. Wenn dringend notwendiges Material nur woanders erhältlich ist, muss es beschafft werden.“49 Zweitens ist nicht immer im Voraus absehbar, welches Material welchen Nutzen hat. Da der Gegner auf die materielle Ausstattung der Streitkräfte reagieren kann (wie oben am Beispiel der IED illustriert), ist eine ständige Nach- und Neujustierung vonnöten, was wiederum mit den langwierigen Beschaffungs- und Produktionsprozessen der Rüstungsindustrie kollidiert. Bei der Ausbildung gelten ähnliche Voraussetzungen und Bedingungen wie bei der Ausrüstung. Schließlich sollte es auch hier eine Selbstverständlichkeit sein, dass Soldaten bestausgebildet in Einsätze entsendet werden. 49
zu Guttenberg (2010a).
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Dass dies nicht immer gewährleistet wird, liegt wiederum an den variablen Anforderungen der militärischen Missionen, auf die aus unterschiedlichsten Gründen nicht immer zeitnah reagiert werden kann. Wesentliche Restriktionen der Ausbildung sind das Interesse der Streitkräfte, die Soldaten rasch in die Einsatzländer zu entsenden und diese nicht durch monatelange Ausbildungsphasen noch zusätzlich zu belasten. Ferner ist – wie beschrieben – der Umfang der notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten gestiegen, wodurch die gegenwärtigen Missionen komplexe bis widersprüchliche Anforderungen an die Soldaten und deren Ausbildung richten. Die Bundeswehr ist jedenfalls sensibel gegenüber den Defiziten in der Einsatzvorbereitung, zumal sie für diese weitgehend alleine verantwortlich ist. Entsprechend werden diverse Ausbildungselemente regelmäßig evaluiert und die Kontingentteilnehmer nach ihrer Bewertung und ihren Erfahrungen befragt. Daran schließt sich die Frage der richtigen Auswahl und Vorbereitung der Vorgesetzten an. Wiederum besitzen die Streitkräfte in dieser Frage hohe Autonomie und richten viel Aufmerksamkeit auf die Selektion und Qualifikation von geeignetem Führungspersonal, wobei sich die bekannten Restriktionen hinsichtlich Zeit und Kosten erneut zeigen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Entwicklung der Interessenten an Offiziers- und Unteroffizierslaufbahnen der Bundeswehr in den letzten Jahren in quantitativer wie qualitativer Hinsicht nicht immer günstig war. Angesichts der sich aufgrund demographischer Entwicklung und sinkender Jugendarbeitslosigkeit verschärfenden Situation sind in den letzten Jahren weitere Bemühungen zur Attraktivitätssteigerung als Arbeitgeber unternommen worden, wie nicht zuletzt die steigende Zahl an begleitenden Forschungsprojekten belegt.50 Merklich an organisationaler Aufmerksamkeit gewonnen hat in den letzten Jahren ebenfalls die Unterstützung für das familiäre Umfeld der eingesetzten Soldaten. Da die Trennung von der Familie eine Hauptbelastung der Soldaten darstellt, sind diese Anstrengungen grundsätzlich sinnvoll. Allerdings erschwert die Disparität dessen, was Familie sein kann, die Formulierung adäquater Angebote und Maßnahmen. Die Bundeswehr verfolgt ein Konzept der Familienbetreuungsorganisation, in dem die bereits engagierten Gruppen, Stellen und Mittel zusammengeführt und gebündelt werden (mehr unter: einsatz.bundeswehr.de). Dieses Drehscheibenkonzept verfolgt sicherlich auch die Absicht, die zusätzlich zu investierenden Aufwendungen im erträglichen Rahmen zu halten. Es ist bislang noch nicht abzusehen, ob die vorhandenen Strukturen und Anstrengungen ausreichen oder ob auf die Dauer umfassendere und großzügigere Unterstützungen für die Familien notwendig sind. 50
Vgl. Bulmahn u. a. (2009).
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Doch die Einsätze sind nicht nur mit der Trennung vom Zuhause verbunden, sie gehen auch mit erheblichen Gefährdungen einher. Um den auftretenden körperlichen und seelischen Schädigungen zu begegnen, unternimmt die Bundeswehr in den Feldlagern sowie im Heimatland erhebliche Anstrengungen zur medizinischen Absicherung und Versorgung. Es gilt die Regel, dass die sanitätsdienstliche Versorgung im Einsatzland im Ergebnis den deutschen Standards entsprechen soll. Dies umfasst neben der unmittelbaren medizinischen Behandlung vor Ort auch die weitergehende Versorgung in Deutschland. In den letzten Jahren sind insbesondere die Angebote zur Versorgung psychischer Erkrankungen ausgeweitet worden. Dies reicht von Hotlines und Internetforen für Anfragen im Zusammenhang mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) bis hin zum neueingerichteten Traumazentrum. Neben den aufgezeigten Bemühungen bestehen noch weitere Unternehmungen und Maßnahmen (etwa Marketenderwesen und Freizeitangebote im Einsatz, Flexibilisierung der Einsatzdauer, Zusage eines zeitlichen Mindestabstands zwischen zwei Einsätzen etc.), die soldatische Belastungen reduzieren sollen. Trotz aller Anstrengungen können die Beschwernisse für die Soldaten niemals restlos beseitigt werden, es müssen folglich auch Kompensationen materieller wie ideeller Natur angeboten werden. 2. Kompensation durch materielle und ideelle Anreize Als Kompensation für die Auslandseinsätze erhalten die Bundeswehrsoldaten erhöhte finanzielle Zuwendungen. Die so genannten Auslandsverwendungszuschläge richten sich nach der konkreten Belastung und Gefährdung vor Ort und werden dienstgradübergreifend gezahlt. Diese auf den ersten Blick gerecht erscheinende Regelung führt jedoch zu dem paradoxen Effekt, dass die Teilnahme an Auslandseinsätzen für niedrige, d.h. geringer verdienende Dienstgradgruppen lukrativ ist, während sich für Stabsoffiziere eine Verwendung im Ausland oder bei der NATO und EU als monetär attraktiver darstellt. Zu den finanziellen Angeboten gehören darüber hinaus die Absicherungen, die bei einsatzbedingten dauerhaften Erkrankungen und Beschädigungen gezahlt werden und die u. a. im Einsatzversorgungsgesetz und im Weiterverwendungsgesetz geregelt sind.51 Neben den finanziellen Rahmenbedingungen sind die Streitkräfte bemüht, die Umstände im Feldlager für die Soldaten erträglich bis angenehm zu gestalten. Sicherlich unternimmt die Bundeswehr nicht den Versuch, ‚Heimat zu reproduzieren‘, wie man dies von den US-Streitkräften kennt, aber auch 51
Vgl. Hofmann (2009).
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in den deutschen Feldlagern wird Wert auf Verpflegung, Unterbringung, Marketenderware und Freizeitangebote gelegt. In der Selbstdarstellung der Bundeswehr klingt dies so: „Wo noch nichts ist, muss schnell etwas entstehen: Bei frisch begonnenen Einsätzen müssen die Soldaten zunächst mit verschiedenen Ausführungen von Zelten vorlieb nehmen. Angestrebt ist aber immer, schnell ein Feldlager oder feste Infrastruktur aufzubauen.“52 Dabei setzen aber wiederum die finanziellen Ressourcen und die Bedingungen vor Ort den Rahmen des Möglichen. Indirekte materielle Anreize bieten sich den Soldaten, wenn der Auslandseinsatz als Karrierechance begriffen wird, wobei man mittlerweile wohl eher von einem ‚Karrieremuss‘, insbesondere bei Offizieren, sprechen kann. Es darf aber auch bei Unteroffizieren und Mannschaftssoldaten nicht unterschätzt werden, wie stark die Einsätze zum Maßstab der soldatischen Identität geworden sind. Der Titel eines Aufsatzes von Maren Tomforde bringt dies auf den Punkt: „Einmal muss man schon dabei gewesen sein“.53 Dieses Statement verweist darauf, dass die Belastungen des Einsatzes auch durch ideelle Anreize und professionelle Selbstbilder zu kompensieren sind. Die Militärsoziologie hat eindrücklich nachgewiesen, dass materielle Anreize nicht ausreichen, um Soldaten für den und im Einsatz zu motivieren. Wesentlich sind ebenso der Rückhalt des sozialen Umfelds und die Einsicht des Soldaten in seinen Auftrag. Beides speist sich nicht zuletzt aus der öffentlichen Anerkennung und Unterstützung, die der Soldat für sein Tun erfährt. Entsprechend ist das Selbstbild von Soldaten stets eng verbunden mit dem Einsatz des eigenen Lebens für die Gesellschaft als Ganzes. Leicht und überzeugend vermittelbar sind diese Vorstellungen, solange der Soldat als Vaterlandsverteidiger, als Schützer der Heimat gilt. Historisch zeigten sich aber auch Überhöhungen, wenn Soldaten den zivilen Bereichen der Gesellschaft übergeordnet wurden und der Beruf als Tätigkeit sui generis galt. Gegenwärtig scheinen noch keine zeitgemäßen Vorstellungen vom Platz des Militärischen in demokratischen Gesellschaften und vom Beruf des Soldaten etabliert zu sein.54 So ist die Unterstützung für Soldaten und Streitkräfte empirisch zwar durchaus gegeben, aber gerade die Kampfeinsätze, die einen erhöhten Legitimationsbedarf aufweisen, werden von der Bevölkerungsmehrheit kritisch bewertet. Dies ist nicht alleine für die eingesetzten 52 Vgl. http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMn Mz0vM0Y_QjzKLd443dHcyBMmB2MYBIfqRcMGglFR9X4_83FR9b_0A_YLciHJ HR0VFAHwnFts!/delta/base64xml/L3dJdyEvd0ZNQUFzQUMvNElVRS82X0NfM UdCQg!!, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011. 53 Tomforde (2006). 54 Vgl. Naumann (2008).
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Soldaten schwierig, wenn sie sich – ob berechtigt oder nicht – unverstanden fühlen. Auch der Politik fehlt der gesellschaftliche Rückhalt als Motivationsmoment für die eigenen Soldaten. Von daher ist grundlegend zu klären, ob und inwieweit gesellschaftliche Unterstützung für militärische Missionen überhaupt einklagbar ist, wie dies Teilen der Streitkräfte und der Politik zumindest vorschwebt. 3. Plädoyer für zeitgemäße soldatische Ansprüche und zivil-militärische Beziehungen Bei der sozialwissenschaftlichen Bewertung der soldatischen Klage über den unzureichenden Rückhalt in der Bevölkerung darf deren nach innen stabilisierende Funktion nicht übersehen werden. Mit dem Hinweis auf vermeintliche gesellschaftliche Defizite wird eine Grenze gezogen zwischen denjenigen, die dazu gehören und die Härten und Beschwernisse der Einsätze tragen, und den Außenstehenden, wobei dies sowohl die Bevölkerung als auch andere Soldaten (im Stab, in der Etappe, im Ministerium etc.) umschließen kann. Einige Soldaten grenzen sich durch die Identifikation mit Belastungen gar gegen als dekadent und verweichlicht beschriebene Zivilisten ab, die den „Ernst des Lebens“55 nicht kennen und die wahren Härten und Herausforderungen der menschlichen Existenz nicht annehmen wollen.56 Zwar kann das Bewusstsein für eigene Beschwernisse integrativ wirken und den Zusammenhalt unter den Soldaten stärken, allerdings sind mit einer solchen Positionierung gewisse Risiken verbunden. Nähmen martialische Identifikationen und eine bewusste Abgrenzung zur deutschen Zivilgesellschaft überhand, dann würde dies den normativen Prämissen der Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft und des Staatsbürgers in Uniform entgegenstehen. Eine Dramatisierung der aufgezeigten Tendenzen ist bislang noch nicht angezeigt, zumal der Bezug zu den Härten des Einsatzes nicht für alle Soldaten gleichermaßen identitätsbildend ist. Vielmehr zeichnen sich soldatische Selbstbilder in ihrer Gesamtheit durch den bisweilen seltsam anmutenden Dualismus aus der Bereitschaft zum Ertragen von Belastungen und Härten, die notfalls das Opfer des eigenen Lebens umschließt, und den gleichzeitigen Klagen und Forderungen an die militärische Organisation, an die Gesellschaft und Politik aus. Entgegen einer verbreiteten Wahrnehmung haben Soldaten ihren Unmut gegen Belastungen wohl stets und zu allen Zeiten vorgebracht. Soldatische Larmoyanz ist keineswegs eine Erfindung 55
Köhler (2005). Vgl. Biehl u. a. (2000), S. 20, Leonhard (2007), S. 52 ff. und S. 109 ff. sowie Wiesendahl (2010), S. 43 ff. 56
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der Gegenwart und das Empfinden eines unzureichenden gesellschaftlichen Rückhalts ist der Militärsoziologie ebenfalls bestens bekannt.57 Allerdings stoßen die deutschen Soldaten dabei gegenwärtig auf diverse interne wie externe Widerstände, wie eine Kontroverse belegt, die vor geraumer Zeit in größerer Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Der vormalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, nutzte einen Auftritt vor der ‚Gewerkschaft‘ der Soldaten, dem Deutschen Bundeswehr Verband, um die Larmoyanz der ihm unterstellten Soldaten zu kritisieren. Nach seinem Dafürhalten „jammern [die Bundeswehrsoldaten] auf hohem Niveau“ und es gebe zu viele, die eine für ihren Dienst an dem Land ein „RundumWohlfühlangebot mit Erfolgserlebnis“58 erwarteten. Die Äußerungen erregten den zu erwartenden Widerspruch. Sie zeigen aber wiederum, dass es in diesem Zusammenhang um Verantwortlichkeiten für Missstände und Unzulänglichkeiten in den Streitkräften geht, schließlich war General Schneiderhan zum Zeitpunkt dieser Äußerungen bereits rund sieben Jahre Generalinspekteur der Bundeswehr. Doch nicht nur die innermilitärischen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten werden durch die Debatte um die Belastungen der Soldaten im Einsatz zur Diskussion gestellt. Auch das Außenverhältnis der Streitkräfte – insbesondere der Komplex, den die Militärsoziologie als zivil-militärische Beziehungen bezeichnet – steht zur Debatte. Aus den Streitkräften und von Teilen der Politik wird die Forderung erhoben, die Bevölkerung solle den Soldaten und ihrem Tun eine größere Aufmerksamkeit schenken – und zwar unter der Prämisse von Anerkennung, Rückhalt, Unterstützung und Zuspruch. Dabei wird von einer Tauschbeziehung ausgegangen, bei der den Soldaten gesellschaftlichen Zuwendungen als Ausgleich für ihre Bereitschaft, in den Einsatz zu gehen, zu kämpfen und ihr Leben zu riskieren, zustehen. Sehr explizit klingt dies nicht nur in den bereits zitierten Ausführungen des Hauptfeldwebels Seibert an, auch der ehemalige Verteidigungsminister hat sich entsprechend geäußert. In einem Interview mit der Bild am Sonntag formulierte zu Guttenberg: „Ein Soldat hat einen Anspruch darauf, dass er für Leistungen, die er unter Gefahr für Leib und Leben erbracht hat, Anerkennung erfährt. Anerkennung durch seine Umgebung, durch die Gesellschaft und durch jene, die ihn in Einsätze schicken.“59 Wie gezeigt wurde, werden diese Erwartungen mit Blick auf die Bevölkerung in entscheidenden Teilen durchaus erfüllt. Unter normativer Perspektive ist jedoch zweifelhaft, wie realistisch weitergehende Ansprüche sind und wodurch diese zu rechtfertigen sind. Zwar ist verständlich, dass heutzutage 57 58 59
Vgl. bereits Janowitz (1971), S. 225. www.sueddeutsche.de, 16.06.2009. zu Guttenberg (2010b).
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aufgrund des erhöhten Legitimationsbedarfs militärischer Gewalt und Einsätze ein gesteigertes Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung und Gunst erwächst – was Soldaten in modernen Demokratien aber nicht erwarten können, ist, dass sie und ihr Tun der gesellschaftlichen Debatte und der politischen Auseinandersetzung entzogen und über jeden Zweifel und jede Kritik erhaben sind. Dies bildet einen der existentiellen Unterschiede zwischen Verteidigungs- und Interventionsarmeen.60 Denn solange Streitkräfte als Verteidigungsarmeen konzipiert sind, und auf die alte Bundeswehr bis 1990 traf dies geradezu paradigmatisch zu, dann orientieren gesellschaftliche Auseinandersetzungen über die richtige Sicherheitspolitik sich nicht auf die Frage des ‚Ob‘ der Verteidigung, sondern auf die Frage des ‚Wie‘. Im bundesdeutschen Kontext stand etwa die Sinnhaftigkeit der Nutzung nuklearer Waffen zur Verteidigung bzw. Abschreckung immer wieder im Fokus der Debatten zwischen Politik, Gesellschaft und Streitkräften.61 Bei Interventionsarmeen ist jedoch in beinahe jedem Einzelfall mit Auseinandersetzungen um das ‚Ob‘ eines militärischen Eingreifens zu rechnen, da die konkreten Einsatzszenarien divergieren und sich noch schwieriger prognostizieren lassen als bei Verteidigungsarmeen. Für die Bundesrepublik kommt hinzu, dass bislang politisch und gesellschaftlich ungeklärt ist, ob die Bundeswehr überhaupt zu einer Interventionsstreitmacht umgebaut werden und welche (Kampf-)Aufgaben sie im Konkreten bestreiten soll. Angesichts der zentralen Frage nach dem gegenwärtigen und zukünftigen Stellenwert des Militärischen müssen die Soldaten daher mit kontroversen Debatten um ihr Tun rechnen und sich diesen stellen. Eine überpolitische Sonderstellung können sie heutzutage nicht mehr einfordern – die moderne Gesellschaft wird sie ihnen auch nicht gewähren. Stattdessen ist ein Professionsverständnis in den Streitkräften gefordert, das Belastungen, Angebote und Ansprüche in ein realistisches und zeitgemäßes Verhältnis rückt. Denn gerade unter den Prämissen der Inneren Führung sollte es Bundeswehrsoldaten auszeichnen, dass sie demokratische Debatten und Kontroversen – auch um ihr Tun und ihre Einsätze – aushalten und ihnen mit einigem Verständnis gegenüberstehen.
IV. Ausblick: Wer trägt die Bürden der Einsätze? Die vorstehenden Ausführungen illustrieren, dass Soldaten im Einsatz diversen Belastungen ausgesetzt sind, die von scheinbar trivialen Details bis hin zur Gefahr für Seele, Leib und Leben reichen. Militärische Organisationen versuchen mit einem Mix aus Gegenmaßnahmen und Kompensationen, 60 61
Zur systematischen Unterscheidung vgl. Biehl (2008). Vgl. Bald (2008).
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diesen Belastungen zu begegnen, da hiervon die Auftragserfüllung und auf lange Sicht die Attraktivität als Arbeitgeber abhängt. Zugleich wurde deutlich, dass sich weiterführende politische und normative Aspekte im Umgang mit den Einsatzbelastungen manifestieren. Gegenwärtig ist der Diskurs über die soldatischen Beschwernisse ein zentrales Feld, um die zivil-militärischen Beziehungen neu zu verhandeln. Die Klage über den (vermeintlich) fehlenden gesellschaftlichen Rückhalt als zentrale Belastung für die eingesetzten Soldaten mündet mithin in den Versuch, Soldaten eine gleichsam überpolitische Sonderstellung zuzuweisen und sie und ihr Tun der gesellschaftlichen Debatte ein Stück weit zu entheben. Diese Absicht widerspricht nicht nur den normativen Grundlinien der Inneren Führung, sie hat in modernen Demokratien auch wenig Aussicht auf Erfolg. Diese ernüchternde Bilanz entbindet die bundesdeutsche Gesellschaft jedoch nicht davon, sich den Folgen der Auslandseinsätze zu stellen. Denn zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sieht sich Deutschland wieder mit der Thematik kriegserfahrener Soldaten, mit der Frage nach dem gesellschaftlichen und politischen Stellenwert von Veteranen, konfrontiert. Diese sind in den europäischen Partnerstaaten stets eine (wenn auch in unterschiedlicher Zahl anzutreffende) Realität gewesen. Entsprechend haben sich dort Veteranen zu Lobbyvereinigungen zusammengeschlossen und es hat diverse Forschungsanstrengungen zu dieser Thematik gegeben.62 Dies war bislang in Deutschland nur mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg der Fall. Die gegenwärtige Entwicklung hebt sich jedoch merklich von derjenigen der 1940er und 1950er Jahre ab und stellt grundlegend andere Anforderungen: Damals waren Kriegserfahrungen weit verbreitet, sowohl ehemalige Soldaten als auch Zivilisten, Männer und Frauen, Jung und Alt waren zwar nicht gleichermaßen, aber doch in der ein oder anderen Form durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. In der Folge waren die persönlichen Erlebnisse auch potenziell kommunizierbar und anschlussfähig an die Erfahrungen anderer. (Wenngleich zuzugestehen ist, dass diese Erlebnisse aus den bekannten Gründen nicht immer thematisiert wurden). Heutzutage sind die Erfahrungen, die Bundeswehrsoldaten etwa gegenwärtig in Afghanistan machen, grundverschieden von der Wirklichkeit in Deutschland. Die alltäglichen Eindrücke, die ein junger Soldat auf Patrouillenfahrt um Kunduz und im Gefecht mit Aufständischen macht, haben keinerlei lebensweltlichen Bezug zu den Alltagserlebnissen eines Gleichaltrigen in der Bundesrepublik. Wie kann und soll unter diesen Bedingungen anschlussfähige Kommunikation aussehen, damit die Soldaten mit ihren Erlebnissen umgehen und sich gesellschaftlich wiedereinfinden können? Die bisherigen Angebote greifen auf traditionelle Formen und Ausdrucksweisen zurück, 62
Vgl. etwa Dandecker u. a. (2006).
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wenngleich mit dem Bemühen um Gegenwartstauglichkeit: Die Errichtung eines Ehrenmals zählt ebenso dazu wie die Verleihung von Ehren- und Gefechtsmedaillen. Allerdings wirken diese Bemühungen auf die zivile Gesellschaft – wohl weniger auf die Soldaten – gerade in ihrem Streben nach Gegenwärtigkeit anachronistisch. Die Thematik der soldatischen Belastungen hat aber noch eine weitere normative Dimension. Es stellt sich die Frage, welche Gesellschaftsmitglieder die Lasten der militärischen Missionen zu tragen haben. Zwar sind die Einsätze demokratisch, in Deutschland gar unmittelbar parlamentarisch legitimiert, doch von der Umsetzung des Beschlusses sind die Bürger in sehr unterschiedlicher Weise betroffen. Dies gilt zunächst hinsichtlich des bereits mehrfach diskutierten Risikogefälles zwischen Soldaten und Zivilsten. Es gilt aber ebenso für die gesellschaftliche Verteilung der soldatischen Lasten. Denn die Streitkräfte rekrutieren nicht gleichmäßig über die gesellschaftlichen Gruppen hinweg. Dies wird gemeinhin akzeptiert, solange gewisse Alters- oder Geschlechtsgruppen das Gros der Soldaten stellen. Politisch relevant wird es jedoch, wenn sozial Schwächere überwiegend in die Streitkräfte – und dort wiederum in die besonders exponierten Kampfkomponenten streben. Man kennt diese Debatten bislang nur aus den Vereinigten Staaten, in deren Streitkräften Minderheiten überrepräsentiert sind, während insbesondere sozial besser gestellte und wohlhabende Bürger ihre Töchter und Söhne kaum noch in die Einsätze senden.63 In der Folge entscheiden Eliten über militärische Engagements, deren Konsequenzen sie nicht mehr persönlich bzw. familiär aufzufangen haben. Umgekehrt ist am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala eine selektive Wehrpflicht wirksam, die insbesondere sozial und wirtschaftlich Schwächere in die Streitkräfte treibt. In Deutschland hebt die Debatte um solche sozialstrukturellen bzw. sozioökonomischen Verzerrungen in der Zusammensetzung der Bundeswehr gerade erst an und wird bislang eher durch essayistische Zuspitzungen inspiriert. So hat der Historiker Michael Wolffsohn die Bundeswehr als ‚ossifizierte Unterschichtenarmee‘ charakterisiert und die fehlende Bereitschaft der Elite zum eigenen militärischen Engagement gerügt.64 Die empirische Forschung, die sich dezidiert mit Berufsfindungsmotiven und der Berufswahl Jugendlicher auseinandersetzt, entzieht sich bislang diesen politisch-normativen Fragestellungen noch weitgehend. Die vorliegenden Umfragedaten – wie etwa das rund doppelt so hohe Interesse von männlichen Haupt- und Realschülern im Vergleich zu Abiturienten, sich als Soldat zu verpflichten65 – deuten jedoch darauf hin, dass sich zumindest im 63 64 65
Vgl. Abenheim (2007), S. 160. Vgl. Wolffsohn (2010). Vgl. Bulmahn u. a. (2009), S. 48.
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Ansatz ähnliche Muster wie in den Vereinigten Staaten abzeichnen könnten. Verschärfend kommt die unterschiedliche Unterstützung der laufenden Missionen hinzu. Wenn etwa überproportional viele Soldaten aus den neuen Bundesländern und aus sozial wie wirtschaftlich schwächeren Schichten stammen, dann kommen sie aus einem sozialem Umfeld, das den Einsätzen tendenziell kritischer gegenüber steht. Die größere Zurückhaltung Ostdeutscher und sozioökonomisch Schwächerer hinsichtlich des internationalen Engagements der Bundeswehr könnte folglich auch darauf zurückzuführen sein, dass diese sich darüber bewusst sind, dass sie und ihre Kinder das Gros der damit einhergehenden Belastungen tragen und letztlich selbst für diese Missionen einstehen müssen. Diese bislang kaum diskutierten Zusammenhänge zeigen, welch heikle normativen Implikationen und welch politische Sprengkraft in der Thematisierung soldatischer Belastzungen stecken. Die bisherigen Diskussionen geben wohl nur einen fahlen Vorgeschmack auf die militärischen, gesellschaftlichen und politischen Kontroversen, die bei höheren Verlusten der Bundeswehr noch bevorstehen. Literatur Abenheim, Donald (2007): Soldier and Politics Transformed. German-American Reflections in Civil-Miltary Relations in a New Strategic Environment. Berlin: Carola Hartmann Miles-Verlag. Bald, Detlef (2008): Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt: Das Primat des Politischen über das Militärische 1965–1975. Berlin: Aufbau-Verlag. Biehl, Heiko (2008): Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee. Konturen eines gehemmten Wandels. In: Kümmel (Hg.) (2008), S. 9–20. – (2009): Nicht geliebt, aber respektiert. Das Ansehen des Soldatenberufs im Vergleich. In: if. Zeitschrift für Innere Führung, Nr. 3, 53. Jg., S. 52–55. Biehl, Heiko/Fiebig, Rüdiger (2011): Zum Rückhalt der Bundeswehr in der Bevölkerung. Empirische Hinweise zu einer emotional geführten Debatte. SOWIThema 02/2011. Strausberg: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr. Biehl, Heiko/vom Hagen, Ulrich/Mackewitsch, Reinhard (2000): Die Motivation von Soldaten im Auslandseinsatz. Ein Problemaufriss in forschungspraktischer Perspektive. In: Kümmel/Prüfert (Hg.) (2000), S. 345–378. Biehl, Heiko/Jaberg, Sabine/Mohrmann, Günter/Tomforde, Maren (Hg.) (2009): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven. Berlin: Duncker & Humblot. Biehl, Heiko/Keller, Jörg/Tomforde, Maren (2005): „Den eigentlichen Einsatz fährt meine Frau zu Hause . . .“. Aspekte der Trennung von Bundeswehr-Soldaten und ihren Familien während des Auslandseinsatzes. In: Kümmel (Hg.) (2005), S. 79–107.
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Vom „Dachlatten-“ zum „Berater-CIMIC“ Herausforderungen des Wandels in der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit bei Auslandseinsätzen (ZMZ/A) der Bundeswehr Von Dieter Kinne und Günter Mohrmann
I. CIMIC im Wandel Seit der Beteiligung der Bundeswehr an NATO-Einsätzen auf dem Balkan (ab 1995)1 ist die zivil-militärische Zusammenarbeit Element der Operationsführung deutscher Streitkräfte im Ausland.2 Die NATO-Einsätze erfolgten im Auftrag der Vereinten Nationen (VN). Sie hatten zum Ziel, Friedens-Resolutionen des VN-Sicherheitsrates umzusetzen. Die Einsatzszenarien korrespondierten seinerzeit mit einer sich in den VN wandelnden Auffassung über die Gestaltung eines zeitgemäßen Peacekeeping-Konzepts.3 Der damalige VN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali charakterisierte in seiner „Agenda für den Frieden“ die Neuausrichtung von VN-Missionen als „Post-Conflict Peacebuilding“.4 Zusätzlich zum traditionellen Interventions1 UN Protection Force (UNPROFOR/1992–1995), UN Peace Implementation Force (IFOR/1995–1996), UN Stabilization Force (SFOR/1996–2004). Deutsche Streitkräfte haben bereits im Rahmen des Somalia-Einsatzes „United Nations Operation in Somalia II“ (UNOSOM II) (1993–1994) an einer neuartigen VN-Friedensmission teilgenommen. Seinerzeit hatten sie allerdings zunächst nur einen militärischen Auftrag. Dass es dann zu einem ausgeprägten humanitären Engagement kam, beruht auf einer Zufallsentwicklung. Denn Deutschland beteiligte sich an UNOSOM II mit der Entsendung eines verstärkten Nachschub- und Transportbataillons. Dessen Auftrag war es, indische Streitkräfte logistisch zu unterstützen. Da die Inder aber kurzfristig in eine andere Unruheregion befohlen wurden, beteiligte sich die Bundeswehr „ersatzweise“ an humanitären Maßnahmen. Die Bilanz der Aktion: 18.300 medizinische Behandlungen, 30 Hoch- und Tiefbauprojekte, 650 Hilfsflüge der Luftwaffe. Die Zufälligkeit, mit der dieses Handeln zustande kam, ist nicht mit der Auftragslage während der Balkaneinsätze vergleichbar. Seinerzeit war die Beteiligung der Bundeswehr an humanitärer Hilfe sowie Neu- und Wiederaufbaumaßnahmen neben dem militärischen Auftrag von vornherein vorgesehen. Deshalb hatte die zivil-militärische Zusammenarbeit bei Auslandseinsätzen nach dem Selbstverständnis der Truppe ihre eigentliche Geburtsstunde erst auf dem Balkan. Siehe auch: Brackmann (2009), S. 274 ff. 2 Vgl. Gareis (2006), S. 277 f. 3 Vgl. Irlenkeuser (2006), S. 303 ff. 4 UN-Dok. A/47/277-S/24111: „agenda for peace“.
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ziel früherer Missionen, „Waffenstillstände zu überwachen, wurde nun versucht, mit politischen, ökonomischen und sozialen Maßnahmen zu einer Konfliktlösung beizutragen. Das klassische Peacekeeping wurde (. . .) durch Komponenten des ‚Peacebuilding‘ in Form von Unterstützung bei Wahlen, beim Aufbau der Polizei und ziviler Verwaltung, bei Entwaffnung und Demobilisierung oder der Hilfe bei der Repratiierung von Flüchtlingen ergänzt“5. Als Folge des Charakterwandels von VN-Missionen waren auch die deutschen Streitkräfte herausgefordert, ihren Einsatz an den für Militärs neuartigen Aufgaben auszurichten. Neben der Waffenstillstandsüberwachung ging es nunmehr darum, sich mit Hilfsmaßnahmen am Neu- und Wiederaufbau in Krisenregionen zu beteiligen. Gefragt waren zudem Beiträge zur gesellschaftlichen Stabilisierung und zur Schaffung eines dafür zweckmäßigen Staatsaufbaus („Nation Building“). Im Einzelnen ging es erstens darum, in Phasen mit noch hoch ausgeprägter Gewalt, in der zivile humanitäre Hilfe mangels unzureichend durchzusetzender Sicherheit kaum zu leisten war, mit ersten Hilfsmaßnahmen zum Überleben der Bevölkerung im Interventionsgebiet beizutragen. Zweitens sollten Streitkräfte dann in Folgephasen, in denen die Abwesenheit von personaler Gewalt mehr und mehr garantiert werden konnte, im Rahmen ihrer personellen und materiellen Verfügbarkeiten das aufwachsende Engagement ziviler humanitärer Organisationen kooperativ unterstützen. Die Bundeswehr stellte sich den äußerst komplexen Aufgaben des zivilen Aufbaus mit Elan, aber gleichzeitig mit für solche Aufgaben vielfach unerfahrenen Soldaten.6 Ausnahmen bildeten die vermehrt eingezogenen Reservisten, die mit ihren zivil-beruflichen Erfahrungen defizitäre Professionalitäten in den Reihen von Soldaten kompensierten. Die Hilfe deutscher Soldaten nahm schon bald eine weit ausladende, teilweise auch selbstläufige Vielfalt an.7 Das breite Spektrum lässt sich hier lediglich andeuten: Zahllose Maßnahmen galten der Unterstützung von Flüchtlingen 5
Höntzsch (2008), S. 34. Deutsche Streitkräfte haben bereits seit 1960 an zahlreichen Hilfseinsätzen im Ausland teilgenommen. Dabei handelte es sich um humanitäre Hilfe, die von vornherein auf eindeutige und eng begrenzte Maßnahmen (Hilfe nach Erdbeben, bei Dürre, Überschwemmungen, nach Hurrikans, Waldbränden, Hungersnöten, Seuchen etc.) begrenzt war. Die Bundeswehr entsandte Spezialisten (z. B. Logistiker, Ärzte, Flugpersonal, Ingenieure) und stellte Geräte (Sanitätseinrichtungen, Löschfahrzeuge, Notbehausungen, Rettungsboote, Flugzeuge, Lastkraftwagen etc.). Die Begrenzung auf überschaubar zu handhabende humanitäre Single-Issue-Maßnahmen, für die der Bundeswehr geübtes Personal und geeignetes Gerät zur Verfügung stand, ging mit den Aufträgen der Balkaneinsätze, nunmehr auch Soldaten am komplexen Post-Conflict-Peacebuilding zu beteiligen, verloren und überdehnte letztendlich die Fähigkeiten der Armee. 7 Siehe auch Grünebach (2001). 6
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und Rückkehrern. In großer Zahl wurden Wohnungen instandgesetzt, saniert oder gar neu geschaffen. Die Bundeswehr beteiligte sich an der Verteilung von Lebensmitteln und Bekleidung aus Spenden, errichtete Ambulanzstationen, gab mit ihren Feldköchen mehrere hunderttausend Essen aus, unterstützte Projekte in der Landwirtschaft (Musterhof und Ausbildungszentrum), beteiligte sich umfangreich am Ausbau von Verkehrsinfrastruktur (Straßen- und Brückenbau) und an weiteren Hochbaumaßnahmen, insbesondere zur Wiederherstellung von Gebäuden der öffentlichen Verwaltung. Darüber hinaus leiteten Soldaten vorübergehend Gefängnisse, berieten Politiker und Verwaltungsmitarbeiter bei der Gestaltung neuartiger administrativer Prozesse, brachten unbekannte demokratische Möglichkeiten von Bürgerbeteiligung auf den Weg, richteten Schutzhäuser für misshandelte Frauen ein und klärten etwa Grundbuchfragen im Falle von Streitigkeiten um Grundeigentum. Oft sammelten zudem Familien und Freunde von Soldaten private Spenden in Deutschland, um damit den fernen Aufbau zusätzlich zu unterstützen. Die Hilfe deutscher Soldaten auf dem Balkan und der ausufernde „Kessel Buntes“ an Maßnahmen, der dabei zustande kam, führte in der deutschen Öffentlichkeit zu einem Wahrnehmungsbild, das sich als das so genannte „Dachlatten-CIMIC“ publikumswirksam verankerte. Der Begriff „CIMIC“ ist dem NATO-Konzept MC 411/1 (Military Policy on Civil Military Cooperation) von 19978 entnommen, in dem leitend für die NATO-Mitgliedstaaten offiziell festgelegt wurde, was dem Begriffsinhalt von zivil-militärischer Kooperation an einzelnen Eigenschaftsmerkmalen zuzuordnen ist. Die Bundeswehr hat ihre Definition der zivil-militärischen Zusammenarbeit 2001 in der „Teilkonzeption Zivil-Militärische Zusammenarbeit Ausland (ZMZ/A)“ präzisiert.9 Da diese mit dem NATO-Begriffsverständnis im Grundsatz übereinstimmt, wird in dieser Studie der Begriff CIMIC zugleich als Synonym für das deutsche in der ZMZ/A ausgewiesene Begriffsverständnis von zivil-militärischer Zusammenarbeit verwendet. Der Begriff des „Dachlatten-CIMIC“ hat seinen engeren Ursprung in Reaktionen der Bundeswehr auf die Folgen ethnischer Säuberungen in Bosnien und Herzegowina, die serbische Soldaten in zahlreichen Gemeinden im zentralbosnischen Lava-Tal durchgeführt hatten. Die Soldaten sprengten im Zuge dessen die in der Kriegsregion typischen Steinhäuser der Vertriebenen. Während die Wände den Explosionen standhielten, wurden die Dächer weggerissen. Als die ehemals Vertriebenen nach den Waffenstillstandserfolgen der NATO-Mission IFOR wieder in ihre Heimat zurückkehrten, mussten die Häuser, zumal in der kalten Jahreszeit, schnell wieder bewohnbar 8 9
Vgl. NATO (1997). Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2001).
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gemacht werden. Daran beteiligten sich die deutschen Streitkräfte intensiv mit Mann und Gerät. Das Aufbringen von Latten auf neue Dächer, wobei neben zivilen Handwerkern auch eine große Anzahl deutscher Soldaten mit ihren Uniformen die öffentliche Szene prägten, fand in der Berichterstattung deutscher Medien breite Aufmerksamkeit. Diese Hilfeleistungen wurden dadurch zu einem der dominanten Wahrnehmungsbilder über die neuartigen Herausforderungen der Bundeswehr im Auslandseinsatz. Die Masse der Aktivitäten erfolgte dabei ohne wirkliche Einbindung in die militärische Operationsplanung und -führung. Das sichtbare Anschwellen des „Dachlatten-CIMIC“ rief die Organisationen deutscher Entwicklungszusammenarbeit auf den Plan. Denn diese sahen sich durch die Eingriffe von Soldaten in solche der Sache nach eigentlich zivil durchzuführenden Aufbauarbeiten aufs Äußerste alarmiert. Die zivilen Hilfskräfte befürchteten wegen der um die zivile Komponente erweiterten Aktivitäten des Militärs bei VN-Friedensmissionen eine erhebliche Konkurrenz für ihre eigenen weiteren Tätigkeiten in Krisenregionen.10 Mit ihrer dazu erfolgreich in den deutschen Medien verbreiteten Frage, ob seit den Balkaneinsätzen Bundeswehrsoldaten die besseren deutschen Entwicklungshelfer seien, verlangten sie offene politische Aufklärung über die Absichten zur weiteren Beteiligung von Armeeangehörigen am zivilen Neu- und Wiederaufbau in Interventionsregionen.11 In den dann bald auch vermehrt wissenschaftlich aufbereiteten Beiträgen zur Untersuchung und Bewertung der Bewältigung von Hilfe im zivilen Umfeld durch Soldaten sah sich die Bundeswehr zudem mit dem Vorwurf einer unprofessionellen Beteiligung an Neu- und Wiederaufbauprozessen in Krisenregionen konfrontiert.12 In der Kritik wurde hartnäckig vorgetragen, dass sich die Mitarbeit der Bundeswehr an natürlicherweise zivil auszurichtenden Aufbaumaßnahmen bezüglich der Effektivität („Das Richtige machen.“) und der Effizienz („Das Richtige richtig machen.“) nachteilig von den Organisationen der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit unterschiede. Denn beides könnte von Letzteren professioneller und somit angemessener erreicht werden.13 Zugleich meldeten sich die in Deutschland für die Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Bundesministerien kritisch zu Wort. Denn auch sie befürchteten eine schleichende Aushöhlung ihrer Aktivitäten als Folge des Aufbauengagements von Soldaten während der Auslandseinsätze. Sie forderten deshalb alternativ eine verlässlich institutionalisierte ressortübergreifende Zusammenarbeit.14 Und die Bundeswehr selbst hatte als Ein10 11 12 13
Siehe im Überblick Heinemann-Grüder/Pietz (2004), S. 200 ff. Grundlegend auch Matthies (1994), S. 266 f. Vgl. Heinemann-Grüder/Pietz (2004), S. 200 ff. Dazu auch Debiel (1996), S. 29 ff.
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satzerfahrung hinnehmen und lernen müssen, dass eine intensive Beteiligung von Soldaten und Gerät an Aufbauprojekten erhebliche Ressourcen band, die an anderen Stellen im Aufgabenspektrum der Armee zu Knappheiten führten und derer man sich deshalb wieder zu entledigen gedachte. Zudem wurde bereits seit längerem von relevanten Entscheidungsträgern im Bundesministerium der Verteidigung aus prinzipiellen Erwägungen gefordert, den Einsatz der Streitkräfte konsequent auf solche militärischen Aufgaben zu beschränken, die unmittelbar der Schaffung von mehr Sicherheit dienen, hingegen alle eigentlich militärfremden Aktivitäten anderen Kräften zuzuweisen. Als Folge der vorstehend skizzierten Kritik und der Ressourcenprobleme der Streitkräfte wurde nunmehr einerseits das „Dachlatten-CIMIC“ Schritt für Schritt zurückgefahren. Zugleich wurden Zuständigkeiten für Maßnahmen des Aufbaus sukzessive in die Hände ziviler Akteure gelegt. Andererseits fanden Fragen der zivil-militärischen Zusammenarbeit allerdings weiterhin ein hohes Interesse der Militärs. Und dies deshalb, weil die Einsätze der Bundeswehr auf dem Balkan (und aktuell auch in Afghanistan) nicht den Szenarien entsprachen, für die die Bundeswehr ihr Personal jahrzehntelang ausgebildet hatte. Denn „(s)ollten Streitkräfte in den Szenarien des Kalten Krieges noch in einem Umfeld ohne Zivilbevölkerung agieren – sie galt schlicht als evakuiert – sieht die heutige Einsatzrealität“, so die Militärs selbst, „ganz anders aus: Die Bundeswehr muss ihren militärischen Auftrag inmitten der Bevölkerung im engen Verbund mit internationalen Organisationen erfüllen.“15 Und dazu brauche „der militärische Führer vor Ort entsprechende Informationen: Wer sind die lokalen Entscheidungsträger? Welche Ethnien leben im Einsatzgebiet? Welche Organisationen arbeiten hier? Wie ist es um die Infrastruktur, Bildung und Gesundheit der Bevölkerung bestellt? Wo lauern vielleicht latente Konflikte?“16 Und es sei speziell die Aufgabe von CIMIC, auf solche Fragen Antworten zu finden. In den Worten des Militärs: „Sie erstellen ein „ziviles Lagebild“ und beraten den jeweiligen Kommandeur bei seinen Entscheidungen.“17 Die militärischen Herausforderungen der so genannten „Neuen Kriege“18 verlangten also eine Vielzahl neuer Antworten. Und dies insbesondere wegen der engen wechselseitigen Verflechtungen des zivilen und militärischen Handelns, das bei der Planung und Durchführung von Militäroperationen zu berücksichtigen ist. Denn für den Erfolg einer Operation ist 14 Die Bemühungen um eine ressortübergreifende Zusammenarbeit führten später zu einem gemeinsamen Aktionsplan der Bundesregierung, vgl. Bundesregierung (2004). 15 Bundeswehr.de: CIMIC: Grundlagen und Ziele. 16 Bundeswehr.de: CIMIC: Grundlagen und Ziele. 17 Bundeswehr.de: CIMIC: Grundlagen und Ziele. 18 Dazu: Münkler (2007).
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es notwendig, nachteilige Ausstrahlungen in das zivile Umfeld von vornherein zu vermeiden, um die angestrebten erfolgversprechenden Wirkungen der Gesamtstrategie einer Mission nicht zu gefährden. Aufbauprozesse vollziehen sich unter den Bedingungen zumeist noch erheblich instabiler Sicherheitslagen. Und die Akteure vorangegangener Gewaltausübung sind, soweit keine vollständige Demobilisierung möglich ist, erfahrungsgemäß keineswegs bereit, ihre noch vorhandene Restmacht preiszugeben und sich den Ordnungsvorstellungen militärischer Interventionskräfte zu unterwerfen. Kommt es nur zögerlich zur Durchsetzung von mehr Sicherheit, dann kann dies, wie die Fälle Irak und Afghanistan auffällig zeigen, zu Jahre andauernden Militäreinsätzen kommen. Dieser Ausgangslage entsprechend, bleibt es in Krisengebieten für lange Zeit bei zahllosen Überschneidungen der Interessen und Handlungen der Zivilbevölkerung, von zivilen Hilfsorganisationen und weiteren zivilen Akteuren sowie dem Militär. Hierauf haben sich die Streitkräfte einzustellen. In der NATO führte die entsprechende Debatte über die Herausforderungen der neuartigen Einsatzszenarien zum Begriff und Konzept der „CivilMilitary Co-operation“ (CIMIC). Die Auswertungen der Balkanerfahrungen endeten damit, dass die NATO im August 1997 erstmals eine Direktive (MC 411) für CIMIC herausgab.19 Im Juli 2001 verabschiedete der Nordatlantikrat die heute noch aktuelle Direktive MC 411/1 („Military Policy on Civil-Military Co-operation“) und im Juli 2003 die darauf aufbauende AJP-9 („Allied Joint Publication“).20 Dem gemäß ist CIMIC zu verstehen als Teilmenge der Gesamtheit sich vollziehender zivil-militärischer Interaktionen („Civil-Military Relations“/CIMIR).21 Das Arttypische von CIMIC als Teilmenge resultiert aus der strikten funktionalen Eingrenzung dessen, was CIMIC als Spezifikum in der zivil-militärischen Interaktion leisten soll. Dies präzisiert die NATO in ihrer CIMIC-Definition: „The co-ordination and cooperation, in support to the mission, between the NATO Commander and civil actors, including national population and authorities, as well as international, national and non-governmental organisations and agencies.“22 Die Begriffsbestimmung lässt also erkennen, dass CIMIC „einer militärischen Logik (folgt, G. M.)“23, eben dem Leitgedanken von „support to the mission“24. Die drei Kernfunktionen von CIMIC sind: erstens „Civil-Military Liaison“ (Verbindungen schaffen mittels Aufbau eines der Operations19 20 21 22 23 24
Vgl. NATO (1997). Vgl. NATO (2001), (2003). Dazu Hadjer (2010), S. 68. NATO (2001), § 104. Hadjer (2010), S. 69. NATO (2001), § 104.
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planung und -führung nützlichen zivil-militärischen Beziehungsgeflechts), zweitens „Support to the Civil Environment“ (Unterstützen von zivilen Akteuren während einer Operation mit militärischen Ressourcen) und drittens „Support to the force“ (Unterstützung von Operationen mittels ziviler Ressourcen und Informationen).25 Deutschland war in die Erarbeitung der CIMIC-Direktive der NATO eingebunden. Denn auch die Bundeswehr hatte angesichts der Erfahrungen auf dem Balkan, der zunehmenden Kritik an der Art und Weise ihres Hilfsengagements und mangels vorhandener nationaler Weisungen ebenfalls großes Interesse daran zu klären, wie CIMIC in Auslandseinsätzen weiter gehandhabt werden sollte.26 Am 30. Oktober 2001 legte der Generalinspekteur der Bundeswehr als erste nationale Weisung dazu die „Teilkonzeption Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr“ (TK ZMZBw) vor. Seit 2007 galt eine aktualisierte Version.27 Seit dem 9. März 2009 gilt die neuste Fassung.28 Dem Leitgedanken der CIMIC begründenden Teilkonzeption folgend, soll die Zivil-Militärische Zusammenarbeit bei Auslandseinsätzen (ZMZ/A) „einen übergreifenden Beitrag zur Realisierung einer politisch gebilligten Gesamtstrategie (leisten, G. M.). Politische, militärische, entwicklungspolitische, wirtschaftliche, humanitäre, polizeiliche und nachrichtendienstliche Maßnahmen müssen dabei sorgfältig abgestimmt sein, um die beabsichtigte Wirkung zu entfalten. ZMZ/A ist das „Scharnier“ für die wechselseitige Berücksichtigung militärischer und ziviler Ziele bei der Planung und Durchführung militärischer Operationen und ziviler Aktionen. (. . .) ZMZ/A trägt zur militärischen Entscheidungsbildung bei und schafft somit wesentliche Voraussetzungen für einen wirkungsvollen, synergetischen Einsatz der Kräfte. Sie erhöht die Akzeptanz des Einsatzes in der Zivilbevölkerung und leistet damit bei Einsätzen und Hilfsleistungen im Ausland einen Beitrag zur Verbesserung des Schutzes der eigenen Truppe. (. . .) ZMZ/A ist ein integraler Bestandteil militärischer Operationsplanung und -führung.“29 Mit ihrem CIMIC-Selbstverständnis hat sich die Bundeswehr eng an das der NATO angepasst, aber auch eigene Aspekte einfließen lassen. Eindeutig wird dies vor allem im Kontext der Spezifikation der drei Kernaufgaben von ZMZ/A. So sieht die „erste Kern-Aufgabe“, das „Gestalten der zivil-militärischen Beziehungen“, die Schaffung eines verknüpfenden Informations- und Beziehungsgeflechts zwischen zivilen Akteuren und den Streitkräften vor. Dabei geht es darum, aufseiten der Zivilen Verständ25 26 27 28 29
Vgl. Höntzsch (2008), S. 37–38. Siehe auch Jaberg et al. (2009), S. 11–25. Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2007). Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2009). Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2009), S. 7.
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nis für die Möglichkeiten und Grenzen militärischen Handelns zu generieren. Zivile Akteure sollen animiert werden, bei der Durchführung ihrer Hilfsmaßnahmen militärische Belange zu berücksichtigen. Dies soll dazu beitragen, ziviles und militärisches Handeln aufeinander abzustimmen, um ein synergetisches Miteinander zu erreichen. Hierzu bedürfe es einer aktiven Koordinierung zivil-militärischer Kooperationsbeziehungen sowie regelmäßiger gegenseitiger Informationen über wechselseitige Auswirkungen des Handelns. Seine Grenzen fände dies einerseits dort, wo militärische Geheimhaltung gefordert sei, andererseits grundlegende humanitäre Leitwerte (Unabhängigkeit/Unparteilichkeit) gefährdet würden.30 Bei der Gestaltung der „zweiten Kern-Aufgabe“, dem „Informieren, Beraten und Unterstützen ziviler Stellen und Akteure“, strebt die Bundeswehr neben der Unterstützung des Auftrages auch an, bei den Zivilen die Akzeptanz von Auslandseinsätzen zu erhöhen und so insbesondere zum Schutz der eigenen Truppe beizutragen. Um dies zu erreichen, soll als Vorleistung das zivile Umfeld von den Streitkräften in seiner Entwicklung gefördert werden. Und dies vor allem durch „das Einbringen von Leistungen der Bundeswehr zum Wiederaufbau der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen, einschließlich der Infrastruktur, als Beitrag der Bundeswehr zur Realisierung der gesamtpolitischen Zielsetzung im Rahmen von Stabilisierungsoperationen.“31 Beim Einwirken des Militärs seien jedoch folgende Grundsätze einzuhalten: „– Beachtung der Vorgaben/Interessen des Gastlandes, – Verfügbarkeit von Kräften und Mitteln der Bundeswehr, – Berücksichtigung regionaler und/oder deutscher Entwicklungskonzepte, – Abstimmung mit übergeordneten Zielvorstellungen nationaler/inter-/supranationaler Institutionen, um Redundanzen zu vermeiden, – Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung, ungeachtet von Zugehörigkeit zu Konfliktparteien, Kulturkreisen, religiösen und/oder ethnischen Gruppierungen, – Transparenz des eigenen Handelns, um Vertrauen im zivilen Umfeld zu gewinnen und kontinuierlich zu erhalten.“32 Soweit im Rahmen militärischer Operationen Unterstützungsmaßnahmen mit Finanzmitteln zum Tragen kämen, müsse gewährleistet sein, dass solche Aktivitäten „einen Beitrag zur Verbesserung der allgemeinen Entwicklung leisten, den Einsatzauftrag effektiv unterstützen bzw. den Schutz der eigenen Kräfte erhöhen.“33 Die „dritte Kern-Aufgabe“, das „Beitragen zum Führungsprozess und Mitwirken in der Operation“, zielt darauf, die militärische Führung bei ihren Operationsentscheidungen mit Hilfe von Informationen und Beratung 30 31 32 33
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Bundesministerium Bundesministerium Bundesministerium Bundesministerium
der der der der
Verteidigung Verteidigung Verteidigung Verteidigung
(2009), (2009), (2009), (2009),
S. S. S. S.
8–9. 9. 9. 9.
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zu unterstützen. Damit setzt die Bundeswehr einen eigenen Schwerpunkt, der sich von dem der NATO unterscheidet. Statt der Unterstützung von Operationen mittels ziviler Ressourcen (NATO), geht es hier um die systematische Einbindung von CIMIC in die Operationsplanung. Dadurch solle der verantwortliche Truppenführer zunächst unmittelbare Kenntnisse über die Lage bei den zivilen Akteuren und der Bevölkerung im Einsatzgebiet erlangen. Zugleich komme es als Fachbeitrag bei der Lagebeurteilung zur Bewertung der wechselseitigen Auswirkungen militärischen und zivilen Handelns.34 Für ein ziviles Lagebild könnten, je nach Einsatzraum und Auftrag, Informationen über folgende Punkte erforderlich sein: „– die soziale und wirtschaftliche Lage der Bevölkerung, – die ethnische Situation, – die kulturellen und religiösen Besonderheiten, – der Zustand ausgewählter ziviler Infrastruktur, – der Zustand des Gesundheitswesens und des Veterinärwesens, des Bildungswesens, des staatlichen Sicherheitssektors (einschließlich Justiz) und anderer ausgewählter Bereiche staatlicher Vorsorge im Einsatzgebiet, – die Wahrnehmung des Handelns und Auftretens militärischer Kräfte bei zivilen Akteuren und insbesondere bei der Bevölkerung, – der Sachstand über die Planungen und Maßnahmen ziviler Stellen und Akteure sowie die Durchführung gemeinsamer Projekte.“35 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit Hilfe der TK ZMZ wurde das CIMIC-Verständnis der Bundeswehr in Form einer CIMIC begründenden Weisung festgeschrieben. Die Handlungsvorgaben für CIMIC-Soldaten wurden dadurch verbindlich formalisiert. Dabei wurde der ehemals selbstläufigexperimentelle CIMIC-Ansatz, der den Charakter einer sich vielfältig verästelnden (und sich teilweise auch unübersichtlich verzettelnden und eigenwilligen) projektbezogenen Aufbauhilfe der deutschen Streikräfte angenommen hatte, zugleich einem deutlichen Wandel unterzogen: Er wurde auf einen solchen Ansatz eingegrenzt, der die Funktionen von CIMIC im engen Sinne auf die Mitwirkung an der militärischen Operationsführung im Auslandseinsatz verpflichtet. Das so genannte „Dachlatten-CIMIC“ der ersten Balkanzeit hatte sich mit der wachsenden externen Kritik sowie angesichts der internen Ressourcenprobleme somit bereits nach wenigen Jahren als unzweckmäßig überlebt. Es wurde mit der Weisung TK ZMZ zum „BeraterCIMIC“ transformiert. Sichtbares aktuelles Zeichen dafür sind die neuen Vorschriften „HDV 100/200 Führungssystem der Landstreitkräfte“ und die „Besondere Anweisung Zivil-Militärische Zusammenarbeit/Ausland“.36 34 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2009), S. 9–10 und Baumgard/Kühl (2008), S. 55. 35 Bundesministerium der Verteidigung (2009), S. 10. 36 Bundesministerium der Verteidigung (2010); Streitkräfteunterstützungskommando (2009).
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II. Erkenntnisinteressen Ist Entwicklung nicht ohne Sicherheit zu verwirklichen, dann kommt es im Falle des Einsatzes von Soldaten zu lange anhaltenden Überschneidungen zwischen Zivilbevölkerung, zivilen (humanitären) Organisationen und dem Militär. In diesem Interaktionskontext haben CIMIC-Soldaten eine „Scharnierfunktion“, stellen wichtige Mittler zwischen ziviler und militärischer Seite dar: Einerseits liefern sie im Zuge der Erhebung und Beurteilung der zivilen Lage wesentliche Transfers für Entscheidungsbildungsprozesse der „Operateure“. Andererseits können CIMIC-Kräfte mit ihren Aktivitäten die Entwicklung der zivilen Lage beeinflussen. Und dies hauptsächlich in Form ihrer vielfältigen Initiativen zur Kommunikation und schließlich auch zur Kooperation mit zivilen Organisationen, lokalen Entscheidungsträgern, gesellschaftlich bedeutsamen Gruppen, informellen Machthabern und der Bevölkerung. Weiteres bewirken Einflussnahmen auf die Auswahl und Durchführung von Aufbauprojekten sowie Hilfsleistungen der Streitkräfte, darunter die so genannten Quick-Impact-Maßnahmen (Kurzfristhilfe für die Bevölkerung). Bei allem handelt es sich um eine herausfordernde „Berater-Aufgabe“. Diese erreicht dann eine hohe Effizienz, wenn CIMIC-Soldaten aufgrund ihrer Tätigkeit zur gehaltvollen Mitwirkung an der militärischen Operationsführung befähigt werden. Dies setzt voraus, dass es ihnen gelungen ist, sich mittels dichter und relevanter Vernetzungen mit zivilen Akteuren weitreichende Informationen zur Beurteilung der zivilen Lageentwicklung zu erschließen. Weiter gehört dazu, dass sie in der Lage sind, im Sinne der Interessen der Bundeswehr an Prozessen der Entwicklungszusammenarbeit mitzuwirken. Auf diese Weise können sie erfolgreich zur Qualitätssteigerung militärischer Operationsentscheidungen beitragen. Zum anderen handelt es sich bei der Beratertätigkeit um einen bedeutenden Beitrag zur Effektivitätssteigerung der Gesamtstrategie des Aufbaus. Denn es kommt darauf an, nicht nur mehr Sicherheit, sondern gleichzeitig auch permanent mehr Stabilität zu generieren. Deshalb ist es erforderlich, die Operationsführung so zu beraten, dass militärische Vorgehensweisen sich möglichst friktionslos in die zivile Entwicklung einfügen und umgekehrt, also durch sie keine kontraproduktiven Aktivitäten mit Kollateralschäden ausgelöst werden. Solche Fehlentscheidungen würden die Effektivität der Gesamtstrategie einer Mission erheblich gefährden. Der im Zusammenhang des „Dachlatten-CIMIC“ vielfach kolportierte Ausspruch, dass CIMIC jeder könne, der hilfsbereit sei und über einen gesunden Menschenverstand verfüge, hat heute keine Gültigkeit mehr. Dafür spricht das anspruchsvolle Berater-Profil eines CIMIC-Soldaten. Denn dieser muss neben dem Militärhandwerk über eine fundierte Geübtheit zur Erfassung und Analyse politischer und gesellschaftlicher Bedingungen und
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Prozesse, zur öffentlichen Kommunikation, zur Identifikation und Begleitung von Hilfsprojekten und zur gehaltvollen prognostischen Bewertung des zivilen Lagebildes befähigt sein. CIMIC-Soldaten müssen also über ein breites Set von im „klassischen“ Militärdenken atypischen Schlüsselqualifikationen verfügen.37 Es gehört seit langem zur Kritik am CIMIC-Einsatz von Soldaten der Bundeswehr, dass deren Aktivitäten Prozesse des Neu- und Wiederaufbaus in Krisenregionen konterkarierten. Und dies, weil CIMIC als Element militärischer Operationsführung immer extensiver genutzt werde und somit gleichzeitig immer intensiver als Störgröße ziviler Konfliktbearbeitung in Erscheinung trete. Dadurch komme es zu kontraproduktiven Einwirkungen in die Gesamtstrategie von Friedensmissionen, die ihrem originären Charakter nach primär zivil anzulegen seien und durch das überbordende militärische Engagement an Effektivität verlören.38 Die Kritik fußt oft auf Einwänden von Nichtregierungsorganisationen (NROs), deren Haltung zum CIMIC-Engagement der Bundeswehr von Totalverweigerung auf der einen bis zur offenen Kooperationsbereitschaft auf der anderen Seite reicht. Totalverweigerer sind diejenigen Kräfte, die argumentieren, dass Entwicklungszusammenarbeit auch in gewaltgeladenen Krisenregionen ohne militärischen Schutz auskäme. Deshalb bedürfe es keiner Annäherung von Zivilen an die Streitkräfte oder gar der Kooperation mit ihnen. Sie verweisen darauf, dass es ihnen als humanitäre Helfer auch unter Bedingungen von hoher innergesellschaftlicher Desintegration sowie ausgeprägter personaler und struktureller Gewalt oft schon seit vielen Jahrzehnten gelungen sei, erfolgreich ihre Hilfsprojekte voranzutreiben.39 Sie hätten damit also erfolgreich zur Armutsbekämpfung beigetragen. Und ihr Tun hätte wegen der problematischen Sicherheitslage nicht abgebrochen werden müssen. Dies sei hingegen oft der Fall, seitdem ausländische Streitkräfte im Felde aufgetaucht seien und mit eigennützigen Aktionen in bis dahin positiv verlaufene Entwicklungen eingegriffen hätten. Hingegen ist das Spektrum der kooperationswilligen Organisationen humanitärer Hilfe breit gefächert und reicht von solchen Organisationen, die einen regelmäßigen Austausch mit der Bundeswehr pflegen, bis hin zu den Mitarbeitern ziviler Hilfsorganisationen, die das Konzept „Vernetzter Sicherheit“ aller am Neu- und Wiederaufbau beteiligten Kräfte dem Grunde nach bejahen und deshalb auch bereit sind, sich zu einer gemeinsamen Koordination im Sinne der Gesamt37 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2010), S. 14–17, für Stabselemente bes. S. 18. 38 Siehe auch Lieser (2002), S. 93 ff., von Pilar (2002), S. 163 ff., VENRO (2003), S. 4 f. 39 Vgl. Runge (2006), S. 18 f.
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strategie einer Mission zu verpflichten. Dazu gehören insbesondere die Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, die von deutschen Ressorts direkt beauftragt und finanziert werden oder ihnen zumindest langfristig schon sehr nahe stehen.40 Die grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber der Bundeswehr ist nicht gleichbedeutend mit einer vorbehaltlosen Akzeptanz möglicher koordinierter Vorgehensweisen – vielmehr herrscht eine differenzierte und eher zurückhaltende Betrachtungsweise vor. Dies hat zu entsprechenden Forderungen an die Art der zivil-militärischen Kooperation geführt: Sie verlangen, dass sichergestellt werde, dass Belange ziviler Organisationen im Umgang und in der Zusammenarbeit mit Streitkräften stets angemessen berücksichtigt würden. Und dies schlösse aus, dass zivile Helfer nicht abseits streng auszulegender Zwänge leichtfertig mit Argumenten militärischer Operationsführung übersteuert und dem gemäß schlicht ausgehebelt würden.41 Das Repertoire der von Organisationen der humanitären Hilfe gegenüber dem Vorgehen von Soldaten thematisierten Problemanzeigen ist umfangreich. Es kann an dieser Stelle nur exemplarisch, mit Blick auf die Schwerpunkte der Kritik skizziert werden. Besonders massiv wird vorgetragen, dass eine Zusammenarbeit mit der Bundeswehr die Entwicklungszusammenarbeit militarisiere.42 Die zivilen Hilfsorganisationen hätten folglich dadurch in der Wahrnehmung durch die Bevölkerung des Einsatzlandes ihre Neutralität verloren. Allein schon die Präsenz von mehr Militär im Feld und die dadurch herausgeforderten Überschneidungssituationen verstärkten erheblich den Eindruck der Instrumentalisierung von Aufbauhilfe für Streitkräftezwecke.43 Dies sei besonders dann der Fall, wenn das Militär Operationen zur Aufstandsbekämpfung durchführe und sich dabei auch der Informationen von zivilen Helfern bediene. Dies bestärke insbesondere die Angst vor dem Trend, in eine gemeinsame politisch-militärische Strategie eingebunden zu werden, wodurch humanitäre Hilfe dann leicht zu einem Reparaturbetrieb für die Überwindung von Kollateralschäden degradiert werden könne. Und das Dilemma läge auf der Hand: „Verweigern sich die Hilfsorganisationen dieser Rollenzuweisung, können sie ihrer Verpflichtung, humanitäre Hilfe zu leisten, nicht nachkommen. Machen sie aber mit, setzen sie sich dem Vorwurf aus, Teil der Kriegsmaschinerie zu sein und zur Humanisierung des Krieges beizutragen, ihn also leichter führbar und ethnisch vertretbar zu machen.“44 Zusammenarbeit komme demnach dort nicht 40 41 42 43 44
Vgl. auch Gauster (2008b), S. 17 ff. Dazu auch Klingebiel/Roeder (2004), S. 61–62. Vgl. Studer (2001), S. 384 f. Vgl. Himmighofen (2009), S. 5–6. Lieser (2004), S. 16 f.
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infrage, wo die Bundeswehr Konfliktpartei sei.45 Als problematisch wird weiter angemerkt, dass die Bundeswehr angesichts des häufigen Personalwechsels in den Reihen der CIMIC-Kräfte keine Verlässlichkeit für gemeinsame, mit langfristiger Zeitperspektive anzugehender Entwicklungsprojekte böte. Dies werde zudem noch bei einem Kontingentwechsel durch eine teilweise oberflächliche, weil nur kurzfristig stattfindende Übergabe laufender Aufträge verstärkt. Zudem sei es im hohen Maße problematisch, dass die Bundeswehr ihre Beteiligung an Hilfsmaßnahmen zumeist nur mit kurzem Wirkungshorizont ausrichte. Es gehe ihr dabei aus militärischer Sicht um schnelle Erfolge. Hingegen brauche wirksame Entwicklungszusammenarbeit, die an Nachhaltigkeit auszurichten sei, einen langen Atem. Dazu müsse man grundsätzlich auch bereit sein, in die weite Fläche eines Interventionslandes zu gehen, um insbesondere die arme Landbevölkerung erreichen zu können. Dies gefährde aber den Schutz der sonst in überschaubaren Gebieten eingesetzten Truppe zusätzlich und unterbliebe deshalb. In der Literatur überwiegen hinsichtlich solcher Kritik Annahmen und Beobachtungen, die in erster Linie von außerhalb der Bundeswehr vorgetragen werden. Hingegen fehlt es noch vielfältig an Kenntnissen, die die Selbstwahrnehmung von Herausforderungen aus der Eigenperspektive von CIMIC-Soldaten bei der Realisierung der drei CIMIC-Kern-Aufgaben im Einsatzalltag dokumentieren und geeignet sind, externe Kritik an CIMICEinsätzen auf diesem Hintergrund zu spiegeln. Ziel der weiteren Ausführungen ist es, mit ihrem auf die Erfassung der Eigensicht der Streitkräfte bei der Durchführung von CIMIC-Kernaufgaben ausgerichteten Untersuchungsfokus dazu beitragen, solcherart Erkenntnislücken zu schließen. CIMIC-Aufgaben werden von den so genannten „CIMIC-Stabselementen“ und „CIMIC-Kräften“ wahrgenommen. CIMIC-Stabselemente unterstützen militärische Führer auf allen Ebenen der zivil-militärischen Zusammenarbeit und koordinieren fachlich alle CIMIC-Aktivitäten. Ihrem Aufgabenprofil entsprechend, sollten sie „grundsätzlich über die Fähigkeiten Verbindung, Mitwirken bei der Operationsplanung sowie Operationsführung, Erfassen, Darstellen und Beurteilen der zivilen Lage verfügen.“46 CIMIC-Stabselemente werden von CIMIC-Kräften unterstützt. Diese sind Ansprechpartner im zivilen Umfeld des Einsatzgebietes. Als solche tragen sie unmittelbar aus dem Feld „zur Lagefeststellung durch Aufklärung und Sammeln von Informationen über die zivile Lage bei.“47 Sie sind darüber 45 46 47
Vgl. Lieser (2004), S. 16 f. Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 18. Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 20.
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hinaus „befähigt, Unterstützungsleistungen im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus zu erkunden, zu planen und fachlich zu begleiten.“48 Die folgenden Ausführungen stellen die Aktivitäten von Stabselementen in den Vordergrund der Betrachtungen. Denn letztendlich sind sie es, die aufgrund ihrer Stellung in der Hierarchie zu verantworten haben, mit welcher Beraterqualität CIMIC-Initiativen in den Entscheidungsbildungsprozessen militärischer Operationsführer zur Wirkung gelangen. CIMIC hat seinen Praxistest heute vor allem im anhaltenden Einsatz deutscher Streitkräfte in Afghanistan zu bestehen. Auf diese Erfahrungen bezieht sich diese Studie. Die nach wie vor bestehenden CIMIC-Aktivitäten auf dem Balkan finden hier keine Beachtung, da diese im Vergleich zu denen in Afghanistan nach Umfang und Bedeutung vernachlässigt werden können.
III. CIMIC-Soldaten im Auslandseinsatz 1. Kernaufgabe: „Gestalten der zivil-militärischen Beziehungen“ Im Aufgabenkatalog von CIMIC-Kräften stellen der Aufbau und die Pflege eines zweckdienlichen Verbindungsnetzes eine vorrangige Herausforderung dar. Dabei geht es darum, durch geeignete Kontakte zu Personen, Organisationen und Institutionen aufschlussreiche Voraussetzungen zur Information über die Entwicklungen im zivilen Umfeld und zur Unterstützung der militärischen Operationsführung zu schaffen. Je besser dies gelingt, umso authentischer und erfolgversprechender können CIMIC-Soldaten als Berater der Operationsführer in militärischen Entscheidungsbildungsprozessen wirksam werden. Aufbau und Pflege eines Verbindungsnetzwerkes sind kein Selbstzweck. Dies wird vielmehr durch die Ziele und Vorgaben der eigenen Operationsplanung und -führung bestimmt.49 Das bedeutet, zunächst eine Lagefeststellung durchzuführen, die idealtypisch bereits vor Beginn der Operation gestartet wird. Dabei handelt es sich beispielsweise um einfache Recherchen im Internet, die möglichst bereits ressortübergreifend ausgerichtet sind. Hier ist insbesondere zu fragen, welche zivilen Akteure sich mit welcher möglichen Bedeutung für eine Operation im Verantwortungsbereich befinden oder Einfluss darauf haben? Diese Lagefeststellung wird ergänzt durch Informationen zur Art des Mandats der zivilen Akteure, zu ihrer Rolle, zu ihren Aufgaben, zu ihrer Ausstattung, zu ihrem Personal, zu Hintergründen und ihren Zielsetzungen. Die Lagefeststellung wird ständig fortgeschrieben. Auf diese Weise sind CIMIC-Soldaten durchgängig in der Lage, solche zentralen Informationen (bewertet) verfügbar zu haben. Dabei 48 49
Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 20. Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 5.
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wird angestrebt, noch in der Vorbereitungsphase auf deutschem Boden auf nationaler Ebene individuelle Beziehungen mit denjenigen Personen bzw. Organisationen herzustellen, an die mit der Zusammenarbeit im Einsatzland unmittelbar persönlich angeknüpft werden kann,50 ohne dort vorweg noch zeitraubende Kennenlern- und Verständigungsprozesse durchlaufen zu müssen. Dies gelingt heute bezüglich der ressortübergreifenden Zusammenarbeit zunehmend besser. Hier sind in den vergangenen Jahren signifikante Verbesserungen eingetreten, indem es nunmehr regelmäßig gelingt, Vertreter anderer Ministerien, mit denen im Einsatz zusammengearbeitet wird, vorweg persönlich zu treffen und dabei zugleich Arbeitsweisen, Rahmenbedingungen sowie Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit einschätzen zu lernen. Hingegen ist es noch immer wenig realistisch und nur in Ausnahmefällen möglich, mit Vertretern von Internationalen Organisationen (IOs), die im nationalen Rahmen zumeist nicht präsent sind und erst im Einsatzraum angetroffen werden können, und von NROs vorab tragfähige persönliche Kontakte herzustellen. Denn mit Ausnahme der NROs, die im Zuge der ressortübergreifenden Zusammenarbeit mit anderen Bundesministerien zusammenarbeiten, besteht bei der Bundeswehr bezüglich der großen Mehrheit der übrigen NROs mangels faktischer Kooperationen nur geringer Bedarf daran, deren Vertreter intensiver kennenzulernen. Darauf aufbauend geht es in einem nächsten Schritt um die konkrete Priorisierung und Ausgestaltung der Beziehungen vor Ort – und dies stets unter operativen Aspekten. Ansprechpartner werden identifiziert, Verbindungen hergestellt, ausgebaut und gepflegt. Schwerpunkt ist dabei der persönliche Kontakt mit dem Ziel, möglichst schnell ein individuelles Vertrauensverhältnis zu einzelnen Ansprechpartnern herzustellen. Eine solche Kontaktaufnahme und die weitere Pflege der Beziehungen erfolgen insbesondere durch Besuche, Gegeneinladungen und die Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen.51 Neben den „klassischen“ Verbindungen, z. B. zu Vertretern 50 Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 14 (Ziffer 4001/2). Dort heißt es: „4001. Zivil-militärische Beziehungen sind initiativ und aktiv zu gestalten. Ziel ist die Bildung eines eng verknüpften, fachbezogenen Informations- und Beziehungsnetzwerkes. Dieses Netzwerk schafft die Basis für die Wahrnehmung der weiteren Aufgaben der ZMZ/A. 4002. Zivil-militärische Beziehungen sind so früh wie möglich, idealtypisch bereits vor einer Verlegung von Kräften in ein Einsatzgebiet, auf allen Ebenen aufzubauen.“ 51 Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 14–15 (Ziffer 4004). Zur denkbaren Dichte von Beziehungen ist festgelegt: „In Abhängigkeit der jeweiligen Zielsetzung, verfügbarer Kapazitäten, dem Mandat sowie der Wahrnehmung der militärischen Präsenz variiert der Grad der Beziehungen zu den zivilen Akteuren: – Kenntnis nehmen (Awareness): Transparenz und Offenheit ermöglichen den Teilnehmern die Wahrnehmung des Problemfeldes. – Ausgleichen (De-Confliction): Der Austausch von Informationen ermöglicht den betreffenden Zielgruppen, eine gegen-
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der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen, die das gewohnt sind bzw. sogar erwarten, geht es nachgeordnet zudem darum, auch mit Akteuren ins Gespräch zu kommen, die nicht notwendigerweise regelmäßige Kontakte mit dem Militär pflegen.52 Entscheidend ist bei alledem jedoch letztlich die Bedeutung für die eigene Operationsführung. Ist dies der Fall, ergibt sich nahezu ein Zwang, Verbindungen aufzunehmen und zu pflegen. Ob es CIMIC-Soldaten darüber hinaus gelingt, über übliche Standard-Netzwerke hinausgehend zugleich Beziehungen zu NROs aufzubauen, die wegen ihrer großen Anzahl und oftmals geringen Mitarbeiterzahl sowie der dadurch für die Streitkräfte wenig ausgeprägten Kooperationsbedeutung nicht ständig bearbeitet werden können bzw. in kritischer Distanz zum Militär stehen, entscheiden eher Zufallsgelegenheiten. Diese kommen anlässlich von Einladungen zu Informationsveranstaltungen und Geselligkeiten zustande, die etwa von Behörden, Regierungsorganisationen (ROs), IOs, ausländischen Botschaften und bedeutenden Repräsentanten des öffentlichen Lebens ausgesprochen werden. Solche Treffen sind dann Ausgangspunkt weiterer anknüpfender informeller Kontakte. Gerade in solchen sozialen Zusammenhängen, auf den so genannten „Neuigkeitsbasaren“, ist agiles, kontaktfreudiges, im interkulturellen Dialog geschultes und kommunikatives CIMIC-Personal gefragt. Dort heißt es, „Flagge“ zu zeigen. Hierbei bahnen sich teilweise vorher nicht erwartete, schließlich aber zweckmäßige Einzelkontakte mit Personen an. Weiter kann es auf diese Weise zur Identifikation von mit bis dahin nicht in Erscheinung getretenen potenziellen neuen Kooperationspartnern für mögliche gemeinsame Aufbauprojekte kommen. Anders als in der Literatur vielfach behauptet bzw. vorgesehen, schmelzen in informellen Beziehungsgeflechten oftmals auch Distanzen zwischen dem Militär und ehemals skeptischen Mitarbeitern der humanitären Hilfe. Hierbei spielen allerdings zumeist ganz persönliche Sympathien zwischen Perseitige Beeinträchtigung auszuschließen und die Ökonomie des eigenen Kräfteansatzes zu verbessern. – Zusammenarbeiten (Cooperation): Gemeinsame Zielsetzung ermöglicht den Akteuren ein gemeinsames Vorgehen, meistens auf der Basis „ad hoc“-Aktionen. – Zusammenwirken (Coherence): Gemeinsames Zielverständnis und eine gemeinsame Vertrauensbasis schaffen die Voraussetzung für ein abgestimmtes Vorgehen im Sinne einer Lastenverteilung, gestützt auf die jeweiligen Fähigkeiten der Akteure, im Rahmen konzentrierter Planung und ausgerichtet auf eine gemeinsame Zielerreichung.“ 52 Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 15 (Ziffer 4005). Für den Beziehungsaufbau unterliegt das Verhalten von CIMIC-Soldaten dem Gebot sensiblen und zurückhaltenden Verhaltens: „Insbesondere zu Beginn des Aufbaus zivil-militärischer Beziehungen ist Sensibilität und Zurückhaltung im Auftreten gegenüber den zivilen Akteuren geboten. Ein zu forsches, forderndes und bestimmendes Vorgehen kann Abneigung erzeugen und ist kontraproduktiv. Auf- und Ausbau des Informations- und Beziehungsgeflechts kann – gerade im Hinblick auf das Schaffen von Strukturen und Standards – nur im Konsensprinzip gelingen.“
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sonen auf beiden Seiten die entscheidende Rolle. Und oft bleibt es auch bei Kontakten auf der Einzelebene, ohne dass dies zugleich zu weiter ausbaufähigen Kooperationsmustern zwischen der Bundeswehr und zivilen Organisationen kommt, denen die Kontaktpersonen angehören. Solche Kontakte beginnen in der Regel mit dem Austausch von Visitenkarten oder Handynummern, manchmal auch mit gelegentlichen Bitten an die Bundeswehr, zivile Hilfsmaßnahmen punktuell zu unterstützen. Die weitere Pflege der Kontakte erfolgt dann beispielsweise über Einladungen. Darüber hinaus gehört es zur Kontaktpflege, Gefälligkeiten zu ermöglichen, wie etwa Einkaufsmöglichkeiten in Bundeswehrlagern, die Mitbenutzung von Feldposteinrichtungen der Truppe und die Überlassung von aktualisierten Geländekarten. Und manchmal geht es Einzelpersonen bei ihren Kontakten zu den Streitkräften schlicht nur darum, einmal wieder die Gelegenheit zu haben, mit anderen Personen in deutscher Sprache sprechen zu können. Das CIMIC-Personal gewinnt bezüglich seiner Handlungsintentionen an Glaubwürdigkeit, wenn es seinen Kooperationspartnern klar signalisiert, dass die Informationsgewinnung und Informationsverwertung keine Einbahnstraßen sind. Dies verlangt nach Ehrlichkeit und Offenheit und Kontakten auf Augenhöhe. Letzteres findet im Verständnis militärischer Operateure allerdings dort Grenzen, wo die Weitergabe von Informationen zur Gefährdung der Truppe führen könnte. Für CIMIC-Soldaten, die eine vertrauensvolle Kooperation mit zivilen Helfern und Entscheidungsträgern in der Bevölkerung suchen, ergibt sich in solchen Situationen eine ambivalente Gratwanderung zwischen Offenheit und Geheimhaltung. Dies bedarf jeweils einer gründlichen Einzelabwägung. Bei alledem geht es primär um den Aufbau von gegenseitigem Vertrauen zwischen Personen, bei denen von vornherein die „Chemie“ stimmt, was allerdings bei der kurzen Stehzeit des militärischen Personals im Einsatzgebiet (sechs Monate) im Vergleich zu den Stehzeiten der zivilen Counterparts (oft mehrere Jahre) eine erhebliche Herausforderung darstellt. Jede Möglichkeit, persönliche und damit vertrauensbildende Beziehungen herzustellen, gilt es zu nutzen. Dabei spielen Kleinigkeiten durchaus eine Rolle. Beispielsweise sollte möglichst immer der gleiche militärische Vertreter an bestimmten Meetings teilnehmen. Hierbei überwiegt im Zweifelsfall verlässliche Kontinuität vor der Höhe des Dienstgrades. Die Erkenntnisse aus dem Verbindungsnetzwerk sind ständig auszuwerten und fließen unmittelbar in die Beurteilung der zivilen Lage ein. Das erfordert vom eingesetzten Personal neben einer hohen sozialen und interkulturellen Kompetenz auch die Fähigkeit, taktisch und operativ im Sinne des Ganzen mitzudenken. In der Regel korrespondieren diese Anforderungen mit einer entsprechenden Lebens- und Diensterfahrung. Weiterhin bietet
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sich hier ein gutes Betätigungsfeld für Reservisten, wenn diese den geforderten taktischen und operativen Bezug mitbringen oder leisten können. Mit Blick auf die Vertrauensbildung sind längere Stehzeiten und/oder wiederholte Einsätze im gleichen Verantwortungsbereich (und damit mit den gleichen zivilen Counterparts) erstrebenswert. Im Einsatzalltag ist darüber hinaus innerhalb des Stabes eine enge Abstimmung gefordert, um alle Aktivitäten mit Außenwirkung zu koordinieren und so ein möglichst einheitliches Auftreten gegenüber den zivilen Akteuren zu gewährleisten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass beginnend mit der verbesserten nationalen ressortübergreifenden Zusammenarbeit die Kernaufgabe „Verbindungen“ heute in der Regel erfolgreich wahrgenommen wird. Gesprächsbereitschaft existiert beinahe bei allen „relevanten“ Akteuren. Jedoch kommt es angesichts der vorstehend erörterten Restriktionen noch immer nur zu begrenzten Kontakten zu Vertretern von NROs. Insbesondere Kontakte zu „militärscheuen“ Organisationen gestalten sich nach wie vor schwierig und kommen allenfalls in Einzelfällen nutzbringend zum Tragen. Ein weiteres Merkmal des Beziehungsaufbaus ist, dass sich gehaltvolles Vertrauen wegen der kurzen Stehzeit des CIMIC-Personals nur begrenzt entwickeln kann. Allerdings kann CIMIC inzwischen vermehrt auf erfahrenes Personal zurückgreifen, das in zahlreichen Fällen bereits vorher mehrfach in derselben Region eingesetzt wurde. 2. Kernaufgabe: „Informieren, Beraten und Unterstützen ziviler Stellen und Akteure“ War in den Anfangsjahren des „Dachlatten-CIMIC“ die Planung, Koordinierung und Überwachung von in vielen Fällen mit eigenen Kräften und eigenem Gerät durchgeführten Aufbauprojekten sichtbarer Schwerpunkt der CIMIC-Aktivitäten der Bundeswehr, so hat sich dies, wie bereits beschrieben, seither eindeutig gewandelt. Zwar werden nach wie vor in den Einsatzgebieten vielgestaltige Hilfsprojekte durch CIMIC-Personal initiiert und mit Unterstützungsmaßnahmen, wie etwa einem Monitoring, auch begleitet. Jedoch geht es dabei im Unterschied zu früheren Zeiten aber nicht mehr darum, hauptsächlich Hilfe um ihrer selbst Willen zu leisten. Vielmehr stehen jetzt Projekte im Vordergrund, die gezielt in die militärische Operationsplanung eingebunden sind. Es geht zum Beispiel konkret darum, die taktischen Erfolge der deutschen und afghanischen Streitkräfte durch begleitende zivile Aufbauprojekte, die der Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung dienen, abzusichern. Ziel dessen ist es, gegenüber der Bevölkerung mittels schnell wirksamer Hilfsmaßnahmen zügig unter Beweis zu stellen, dass mit militärischen Erfolgen eine Verbesserung der Lebensbedingungen einhergeht. Die Militäraktionen, so gilt es zu vermitteln,
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seien zur Erreichung des Zweckes, konstruktiv Entwicklung einleiten und durchhalten zu können, unvermeidbar und in desolaten Staaten deshalb auch durchaus zu rechtfertigen. Zudem erhofft sich die Bundeswehr, mit Hilfe solcher Maßnahmen den Schutz und die Akzeptanz der Truppe verbessern zu können. Bei den zügig zu verwirklichenden Projekten, die die Streitkräfte in Gang setzen, handelt es sich in der Regel um einfache Maßnahmen der Grundversorgung, wie etwa die Verbesserung der Strom-, Wasser- und der medizinischen Versorgung. Solchen Hilfsmaßnahmen sind gemeinsam, dass sie mit geringen Erstmitteln betrieben und in Kürze auf den Weg gebracht werden können. Welche solcher Kurzfristprojekte angeraten sind, entnehmen die CIMIC-Soldaten festgeschriebenen Gesamtentwicklungsplänen. Diese sind, bleibt man beim Fall Afghanistan, von der Regierung Afghanistans sowie den in den einzelnen Teilen des Landes lokalen politischen Entscheidungsträgern gemeinsam mit den zur Hilfe gerufenen Interventionsstaaten entwickelt und abgestimmt worden. Solche so genannten „Development Plans“ liegen detailliert für die Provinzen und Distrikte Afghanistans vor. Sie weisen also die erwarteten Entwicklungsmaßnahmen ihrer Art und Priorität nach aus, die für die lokale Verbesserung der Lebensverhältnisse und den staatlichen Wiederaufbau eines bestimmten Besiedlungsgebietes für zweckmäßig erachtet werden. Im Rahmen der Einbeziehung dieser Projekte in die Operationsplanung wird die Frage der Projektfinanzierung geklärt und festgelegt, mit welchen zivilen Kräften die Entwicklungsmaßnahmen kooperativ realisiert werden könnten und sollten. Der dabei vom CIMIC-Personal in erster Linie mitgedachte militärische Nutzen resultiert, wie bereits vorstehend ausgeführt, erstens aus der Eignung von Maßnahmen, Hilfe in möglichst kurzer Zeit bei leidtragenden Menschen sichtbar und spürbar zu machen. Zweitens ergibt sich ein Nutzen für die Streitkräfte, wenn Maßnahmen nicht nur der zivilen Notlinderung dienen, sondern in denkbaren Fällen gleichzeitig militärische Bedarfe abdecken. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Straßenbaumaßnahmen projektiert werden, die zwar zum einen die lokale Infrastrukturentwicklung voranbringen, zum anderen aber gleichzeitig in der Form ausgeführt werden, dass sie parallel dazu geeignet sind, die Bewegungsfreiheit der Truppe zu verbessern.53 53 Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 15–16 (Ziffer 4009). Das Gesamtspektrum der Maßnahmen der Kernaufgabe 2 wird offiziell wie folgt spezifiziert: „Die Kernaufgabe „Informieren, Beraten und Unterstützen ziviler Akteure“ durch ZMZ/A-Personal ist die aus einem Einsatzkontingent heraus auf das zivile Umfeld ausgerichtete Komponente der ZMZ/A-Aufgaben. Sie umfasst: Erfassen und Analysieren der zivilen Lage zum Erkennen von Defiziten bezüglich der Lebenssituation/humanitären Lage der Zivilbevölkerung bzw. zum Schutz kritischer Infrastrukturen, – Sammeln von Informationen über Planungen und Maßnahmen zi-
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CIMIC-Projekten wird vielfach kritisch entgegengehalten, dass sie zumeist Ergebnis eines kurzfristigen Aktionismus seien. Sie entsprächen dadurch kaum den Zielen nachhaltiger Entwicklungszusammenarbeit. Aus Sicht der Bundeswehr ist diese Kritik wenig hilfreich, um das Handeln der Streitkräfte treffend erklären zu können. Denn es gehöre nicht zum Auftrag der Bundeswehr, bei jedem von ihr initiierten oder kooperativ begleiten zivilen Projekt der Nachhaltigkeitsfrage eine der obersten Prioritäten einzuräumen. Denn dass es im Zusammenhang von Militäraktionen zweckmäßig sei, CIMIC-Hilfsmaßnahmen auf den Weg zu bringen, entspringe primär nützlichen taktischen und operativen Erwägungen. Als Folge dessen ergäbe sich quasi als Zusatzleistung des Streitkräftehandelns ein Beitrag zur Entwicklung. Das Militär erbrächte mit seinen Hilfsmaßnahmen, vor allem in Angelegenheiten der Grundversorgung, schnell für die Bevölkerung sichtbare Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen und sorgte somit auch für den völkerrechtlich geforderten Schutz der Bevölkerung. Dies könnten jedoch nur erste Anstöße für nützliche Entwicklungen sein, während hingegen die Realisierung von langfristig und ausgeprägt nachhaltig ausgelegten Projekten nicht in die Zuständigkeit von Streitkräften, sondern prinzipiell in die ziviler Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit fiele. Deren Zuständigkeit dafür wird ausdrücklich betont.54 Sind Initiativen für CIMIC-Projekte in die militärische Operationsvorbereitung aufgenommen worden, gilt es unverzüglich, die Planungen für entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Dabei verfolgt die Bundeswehr folgende Wege der Projektrealisierung: Es wird grundsätzlich geprüft, ob für die von den Streitkräften initiierten Projekte zivile Kooperationspartner zur Verfügung stehen, die über die benötigten Erfahrungen verfügen, einen guten Ruf genießen und bereit sind, mit dem Militär zusammenzuarbeiten. Dabei streben die Streitkräfte an, sich möglichst zurückzunehmen und die Projektrealisierung soweit als möglich in zivile Hände zu legen. Bei der Suche nach Kooperationspartnern wenden sich CIMIC-Soldaten primär an viler Akteure, – Informieren über Planung und Durchführung von militärischen Maßnahmen, so dass die zivilen Akteure dies in ihren eigenen Planungen und Maßnahmen berücksichtigen können, – Unterstützung der Regierung der Gastnation („Host Nation“/HN) mit Spezialisten beim Wiederaufbau, – Unterstützung humanitärer Aktivitäten Dritter bzw. Durchführung eigener Nothilfemaßnahmen, – Mitwirkung an der Aufrechterhaltung der Bewegungsfreiheit (Freedom of Movement/ FOM), – Durchführen von ZMZ/A-Unterstützungsaktivitäten, – Koordinieren von humanitären und Sicherheitsaspekten mit VN-Organisationen, – Mitwirkung bei der Planung und Durchführung von „Non-Combatant Evacuation Operations“ (NEO) und Operationen zur Hilfeleistung.“ 54 Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 9/1 (Anlage 9). Die entsprechende Festlegung des Streitkräfteunterstützungskommandos lautet: „Innerhalb der Bundesregierung ist das BMZ für Entwicklungszusammenarbeit zuständig.“
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Netzwerke der deutschen ressortübergreifenden Zusammenarbeit, zu denen im Einzelfall auch die Kooperation mit NROs gehört. Voraussetzung dafür ist, dass deren Aktivitäten mit Zielsetzungen und Zeitplänen der militärischen Operationen kompatibel sind. Weitergehende Notwendigkeiten zur konkreten Zusammenarbeit der Streitkräfte mit der Masse anderer NROs ergeben sich nicht. Die Bundeswehr finanziert ihre Projekte in der Hauptsache über Drittmittel. Eine Ausnahme bildet das so genannte „Handgeld der Kommandeure“55, das kurzfristige Eigenreaktionen des Militärs ermöglicht. Darüber hinaus gibt es in Afghanistan finanzielle Mittel der NATO, um im Zuge von Operationen entstandene Schäden (Schwerpunkt Infrastruktur) kurzfristig beseitigen zu können. Bei der Verwirklichung von CIMIC-Projekten versuchen die Streitkräfte soweit als möglich das Prinzip von „Local Ownership“ und „Afghan Face“56 zu verwirklichen. Diesem Leitwert entsprechend soll bei Aufbauarbeiten insbesondere das „heimische Gesicht“ genutzt werden, um ausdrücklich zu unterstreichen, dass es in der Entwicklungszusammenarbeit darum geht, alle Möglichkeiten der lokalen Wirtschaftsförderung bestmöglich auszuschöpfen und nur im unumgänglichen Maße auf eigenes Personal der Geber zurückzugreifen. Darüber hinaus sollen staatliche afghanische Institutionen bzw. soll deren Ansehen auf diese Weise gestärkt werden. Zur Umsetzung der „zweiten Kernaufgabe“ von CIMIC lässt sich festhalten: CIMIC-Projekte können zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in unterentwickelten Regionen beitragen. Sie sind als eng auf die militärische Operationsführung ausgerichtete Aktivitäten jedoch keine Entwicklungs55 Es beträgt für die reguläre Kontingentdauer von vier Monaten e 30.000,00. Das maximale Finanzvolumen je Einzelmaßnahme ist auf e 8.000,00 begrenzt. 56 Streitkräfteunterstützungskommando (2009), S. 11–12 (Ziffer 3010/11). Dazu offiziell: „3010. ZMZ/A unterstützt das Ziel, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung im Einsatzgebiet durch die Mobilisierung dort vorhandener ziviler Ressourcen zu fördern. Für humanitäre Hilfe oder entwicklungsorientierte Nothilfe sind deswegen amtliche Ressourcen nur dann vorgesehen, wenn – zivile Akteure die Aufgabe nicht mit eigenen Kräften wahrnehmen können, – schwerwiegende Nachteile für die wirtschaftliche Entwicklung im Einsatzgebiet und die Erfüllung des militärischen Auftrages zu befürchten sind und – eigene Maßnahmen nicht ungewollt mehr Schaden anrichten als sie Nutzen stiften. Das Schaffen von Abhängigkeiten des zivilen Umfeldes von militärischen Leistungen ist zu vermeiden. Sobald die zivilen Akteure zu einer eigenständigen Leistungserbringung im Stande sind, ist der Einsatz militärischer Kräfte und Mittel zu beenden. – 3011. ZMZ/A folgt dem Prinzip der zivilen Eigenverantwortung (‚Ownership‘), wonach die Zusammenarbeit mit zivilen Verantwortungsträgern stets dem Grundsatz der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ folgt. Die tatsächliche Durchführung von Projekten sollte grundsätzlich in der Hand der zivilen Akteure liegen. ZMZ/A unterstützt vorrangig durch Beratung und Koordination. Unmittelbare Projektarbeit durch ZMZ/A-Kräfte soll primär zum Erreichen konkreter militärischer Ziele erfolgen.“
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zusammenarbeit im klassischen Sinne, sondern letztlich nur Beiwerk. Als solches können sie aber nicht unwesentliche Startimpulse für Entwicklungsprozesse liefern. Solche sind vor allem dann gefordert, wenn eine beabsichtigte Entwicklungszusammenarbeit zunächst die Säuberung einer Region von militanten Gegenkräften voraussetzt, die die freiheitliche Entfaltung der Lebensbedingungen der Bevölkerung bislang verhinderten. Ist es angesichts noch anhaltender Bedrohungen durch Rückkehrversuche vertriebener Aufständischer notwendig, dass das Militär in der Öffentlichkeit weiterhin hohe Präsenz zeigt, dann ist es zuerst noch Sache der Streitkräfte, akute Notlagen überwinden zu helfen. Langfristiger Erfolg dürfte sich allerdings erst dann abzeichnen, wenn Projekte ziviler Hilfsorganisationen erfolgreich an die Startimpulse der Bundeswehr anknüpfen können und Nachhaltigkeit beweisen. Ihre Grenzen finden solche Ambitionen allerdings dort, wo kulturelle (Herrschafts-)Traditionen, religiöse Unvereinbarkeiten sowie nicht einhegbare Gewaltakteure und die durch sie betriebenen Staatsverfallsprozesse dies fundamental verhindern und auch die militärische Intervention fremder Mächte bezüglich der Veränderung solcher Zustände keinen durchschlagenden Erfolg zu erringen vermag. Die in der Literatur intensiv vorgetragene Kritik, die CIMIC-Aktivitäten der Bundeswehr trügen dazu bei, die Unabhängigkeit der NROs zu bedrohen oder diese gar zu militarisieren, relativiert sich angesichts der Tatsache, dass auf Kooperationen fußende Berührungspunkte zwischen NROs und dem Militär sich weitestgehend auf die Zusammenarbeit im ressortübergreifenden Ansatz beschränken. Und dabei erfolgt die Beauftragung von NROs grundsätzlich durch die zivilen Bundesministerien, die über die entsprechenden Projektmittel verfügen. Die unmittelbaren, also auf Kooperationen aufbauenden Kontakte zwischen Armee und NROs stellen somit nur eine stark begrenzte Teilmenge des Gesamtwirkens von NROs im Einsatzgebiet dar. Diese Gewichtung des Kooperationsgrades ändert sich auf der Ebene der Stabselemente auch dann nicht spürbar, wenn es im Zusammenhang der in der Kernaufgabe 1 beschrieben Treffen gelegentlich zu (informellen) Beziehungen zu einzelnen Mitarbeitern von NROs kommt, die in der Regel keinen Kontakt zur Bundeswehr haben bzw. diesen ihrem NRO-Selbstverständnis nach ablehnen. Analog zur ersten Kernaufgabe lässt sich auch bezüglich der zweiten feststellen, dass (zumindest „planerisch“) geeignetes Personal mit den geforderten Fähigkeiten zur Verfügung steht. Die jüngsten Operationen in Afghanistan zeigen, dass die Realisierung solcher Projekte als Teil der Operation zu einem festen Bestandteil des Einsatzes geworden ist.
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3. Kernaufgabe: „Beitragen zum Führungsprozess und Mitwirken in der Operation“ Die dritte Kernaufgabe gilt der Beurteilung der zivilen Lage. Sie ist zugleich der Schwerpunkt aller CIMIC-Aktivitäten, das „CIMIC-Kernprodukt“. Diese Aufgabe verdeutlicht damit in besonderer Weise den angesprochenen Wandel, den CIMIC durchlaufen hat. Gemäß HDV 100/200 (Ziffer 1059) beinhaltet die Beurteilung folgende Faktoren: „-Lage, Verhalten und Einstellung der Bevölkerung (. . .), – Art, Umfang und Zustand kritischer Infrastrukturen, einschließlich sensibler Bereiche, – Lage und Fähigkeiten ziviler Organisationen (IO, GO, NGO), – Zusammenarbeit mit anderen Ressorts und – weitere Faktoren des zivilen Umfeldes mit Einfluss auf die eigene Operationsführung, z. B. anstehende Wahlen, religiöse bzw. Nationalfeiertage (. . .).“57 Die adäquate Durchführung dieser komplexen Aufgabe bestimmt sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig den herausgehobenen Stellenwert und die denkbar zu erreichende Akzeptanz von CIMIC in den Streitkräften. Im Einzelnen geht es hierbei um eine qualitativ möglichst hochwertige Beratung des jeweiligen Kommandeurs (und des übrigen Stabes) zu den wechselseitigen Auswirkungen des eigenen Handelns auf das (gesamte) zivile Umfeld. Das erfordert die Fähigkeit zum entsprechend breit gefächerten Mitdenken, aber auch das notwendige Durchsetzungs- und Einfühlungsvermögen, um die CIMIC-Aspekte in die Entscheidungen der „Operateure“ angemessen einfließen lassen zu können. Regelmäßige interne Abstimmungen, insbesondere mit dem G2/J2-Personal58, sind erforderlich. Berührungsängste und gegenseitiges Misstrauen, was in vielen Fällen die Zusammenarbeit zwischen CIMIC- und dem G2/J2-Personal auf dem Balkan noch prägten, sind fehl am Platz. Die Ergebnisse bzw. der Stand der Verbindungen/Beziehungen zu den maßgeblichen zivilen Akteuren (siehe erste Kernaufgabe) bilden eine wesentliche Grundlage der Beurteilung der Lage. Ebenso werden mögliche Vorschläge für Unterstützungsmaßnahmen (zweite Kernaufgabe) in die Beurteilung mit einbezogen. Darüber hinaus ist aber auch die Fähigkeit gefordert, im Sinne des politisch-strategischen Gesamtansatzes einer Mission zu denken, um zum Beispiel gemeinsam mit dem in Stäben oder im Umfeld verfügbaren zivilen/ politischen Fachpersonal aus dem AA, dem BMZ etc. die ganze Bandbreite der Auswirkungen von bestimmten Entwicklungen, etwa von Wahlergebnissen, aber auch Flüchtlingsbewegungen oder von Personalwechselprozessen 57
Bundesministerium der Verteidigung (2010), S. 83. „G 2 ist verantwortlich für die Beurteilung der Lage gegnerischer Kräfte/Akteure und die Planung und Steuerung der Nachrichtengewinnung und Aufklärung (NG&A) im eigenen Zuständigkeitsbereich.“ Bundesministerium der Verteidigung (2010), S. 27 (Ziffer 413). 58
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im zivilen Bereich, gehaltvoll berücksichtigen, angemessen bewerten und mit Blick auf die eigene Absicht überzeugend Empfehlungen zur weiteren Vorgehensweise ansprechen zu können. Es geht zudem darum, Bewertungen und Empfehlungen kohärent aufeinander abzustimmen und so sicherzustellen, dass zum Beispiel das Regionalkommando oder das Provincial Reconstruction Team (PRT) dazu mit einer Stimme sprechen. Und zwar sowohl in das Einsatzumfeld hinein als auch nach Deutschland. Da in den meisten Fällen die zivilen Anteile in den jeweiligen Stäben im Vergleich zu dem militärischen Anteilen nur mit wenig Personal ausgestattet sind, bleibt regelmäßig ein bestimmter, durchaus signifikanter Anteil an Erfassungs- und Bewertungsaufgaben übrig, der durch das CIMIC-Personal abzudecken ist. Das verlangt, dass auch bezogen auf solche Phänomene vom Militär Expertise vorzuhalten oder bereitzustellen ist, die im Einzelfall etwa Detailbewertungen in den Bereichen „Gute Regierungsführung“ oder „Wiederaufbau und Entwicklung“ erfordern. Insgesamt wird damit deutlich, dass neben solidem CIMIC-Fachwissen von CIMIC-Soldaten eindeutig mehr an analytischen Fähigkeiten zur Beurteilung der zivilen Lage gefordert wird als bisher, um bei den stattfindenen Besprechungen, Planungen und Einweisungen des Kommandeurs CIMIC-Aspkete erfolgreich einbringen zu können. Zudem verlangt hochwertige CIMIC-Beratung einschlägige Sprachkenntnisse, die sichere Handhabung von Planungsverfahren und Kenntnisse in der multinationalen Stabsarbeit. Es lässt sich festhalten: Die Komplexität und der Umfang der dargestellten Aufgaben machen Herausforderungen deutlich, die eine besondere Qualität darstellen, zugleich aber auch tatsächliche oder potenzielle Grenzen der Auftragserfüllung erkennen lassen. Der angesprochene Wandel und der daraus resultierende Anspruch an CIMIC-Beratertätigkeiten müssen sich in der Ausbildung und Qualifikation des eingesetzten Personals durchgängig wiederfinden, woran es noch mangelt. Im Einzelnen geht es darum, durchgehend verfügbare Fachexpertise in der nötigen Tiefe/Qualität, aber auch Quantität verfügbar zu haben. Denn es gilt, Stäbe im Regionalkommando und bei den PRTs mit hochwertig ausgebildetem Personal besetzen zu können. Darüber hinaus erfolgen regelmäßig Einzelabstellungen in die Stäbe ISAF (International Security Assistance Force) und IJC (ISAF Joint Command), was ebenfalls hohe Anforderungen an die Expertise von CIMIC-Soldaten stellt. Wollen also CIMIC-Soldaten auch zu ausgesprochen komplexen ökonomischen, politischen, rechtlichen, administrativen etc. Problemen und Fragestellungen, die in der „klassischen“ militärischen Ausbildung bislang nicht oder allenfalls am Rande behandelt werden („Gute Regierungsführung“, „Rechtsstaatlichkeit“, „Bewertungen von Entwicklungen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der Konstruktion staatlicher Institutionen“, etc.) überzeugende „Beratungsprodukte“ liefern, dann muss
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dies durch entsprechende Ausbildungsgänge für CIMIC-Personal sichergestellt werden. Qualifizierte CIMIC-Beratung setzt zudem ausgeprägte taktische und operative Kenntnisse voraus, um in der Stabsarbeit jederzeit mithalten zu können. Demgemäß muss die „Beurteilung der zivilen Lage“ auf einem vergleichbaren Niveau wie die „Beurteilung gegnerischer Kräfte/Akteure“ durch den G2/J2 angelegt sein, um die notwendigen regelmäßigen stabsinternen Abstimmungen auf Augenhöhe durchführen zu können. Diese Forderungen werden ergänzt durch weitere anspruchsvolle Anforderungen, die aus der ersten und zweiten CIMIC-Kernaufgabe resultieren und die damit in ihrer Gesamtheit ebenfalls zahlreiche neue Herausforderungen darstellen. Sie machen zugleich den Wandel von CIMIC deutlich und geben Hinweise auf notwendige Optimierungspotenziale in der anzustrebenden verbesserten Ausbildung und der gleichfalls zu verbessernden CIMIC-Einsatzpraxis.
IV. Folgerungen Aus dem bisher Dargestellten lässt sich folgern, dass angesichts der deutlich erweiterten Herausforderungen für CIMIC-Stabselemente bezüglich der Qualifizierung des Personals (Aus-, Fort- und Weiterbildung/Personalauswahl) erkennbarer Handlungsbedarf besteht. Dieser betrifft wegen der Komplexität von CIMIC-Beiträgen und der damit verbundenen Anforderungen an die Beraterqualität primär die dritte Kernaufgabe, die „Beurteilung der zivilen Lage“. Mögliche Handlungsfelder sind verbesserte Ausbildungen (einschließlich Fort- und Weiterbildung), die sowohl bundeswehrintern als auch -extern durchzuführen wären, sowie ein verstärktes Zusammenwirken mit anderen Akteuren der „Vernetzten Sicherheit“ bzw. der „Zivil-Militärischen Zusammenarbeit“. Zum Themenkomplex „Ausbildung“: Die Vorbereitung auf anspruchsvolle Beratungsleistungen zu Aspekten wie „Gute Regierungsführung“, „Wiederaufbau und Entwicklung“, „Rechtsstaatlichkeit“ etc. sollte verbindlich in die Regelausbildung von CIMIC-Stabselementen aufgenommen werden. Dies bietet die Grundlage zur Schaffung von „Expertenpools“, deren Erfahrungen mehrfach genutzt werden können. Bei dieser neuen Form und Qualität der Ausbildung ist auch zivile Expertise zu nutzen. Weitere extern verfügbare Expertise können CIMIC-Soldaten im Zuge von Praktika oder ähnlichem bei zivilen Organisationen erwerben. So sollten vor allem erste Ansätze im Zusammenwirken mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ausgebaut und vertieft werden. Angesichts der herausragenden Bedeutung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit für CIMIC, sind bei externen Praktika diejenigen Suborganisationen als erstrangige Ansprechpartner zu bevorzugen, die eng mit Ausbildungsabschnitten
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einzelner Bundesministerien in der Entwicklungszusammenarbeit kooperieren. Die Zusammenführung von CIMIC-Soldaten und zivilen Akteuren sollte sowohl die Routine- als auch die Einsatzausbildung umfassen. Wenn sichergestellt wird, dass die Mitarbeiter ziviler Organisationen dabei auf militärische Counterparts treffen, denen sie im Einsatz wieder begegnen, könnte dies für die Animation der zivilen Seite z. B. zur Teilnahme an der Einsatzvorbereitung einen besonderen Anreiz darstellen und damit sowohl für Soldaten als auch für zivile Teilnehmer eine Win-win-Situation ermöglichen. Zwingend sind für den gleichen militärischen Personenkreis parallele Ausbildungsangebote zu den Themen Operationsplanung und multinationale Stabsarbeit vorzusehen. Diese parallele Qualifikation stellt zeitlich eine besondere Herausforderung dar, ermöglicht aber im Ergebnis eine hohe Qualitätssteigerung. Die dabei anfallenden Ergebnisse und Erfahrungen müssten systematisch ausgewertet werden. Welche Rolle dabei (und im gesamten Bereich der Ausbildung) künftig dem CIMIC-Zentrum in Nienburg/Weser59 mit einem angekündigten breiteren Aufgabenspektrum zufällt, bleibt abzuwarten. Ein insgesamt systematischer Ansatz und eine Begleitung „aus einer Hand“ erscheinen auf jeden Fall zweckmäßig. Zum Themenkomplex „Auswahl“: Der vorstehend dargelegte umfangreichere und deutlich weiter als bisher gefasste Ausbildungsansatz bietet mit seiner Möglichkeit zur Schaffung eines Expertenpools zugleich weitere Vorteile für die Professionalisierung von CIMIC. Dies ist dann der Fall, wenn die Stehzeiten auf CIMIC-Dienstposten für die Angehörigen des Pools im Grundbetrieb sowie im Einsatz im Sinne einer besseren Nutzung der erworbenen Fähigkeiten sinnvoll angepasst würden, indem man diese konsequent verlängert. Idealtypisch könnte auf diese Weise hochwertig qualifiziertes Personal langfristig an CIMIC gebunden werden. Dies setzt allerdings neben dem zuvor geforderten Angebot zur hochwertigen Qualifikation in einem speziellen Bereich der Bundeswehr, was der Sache nach für zahlreiche 59 Zum Auftrag des CIMIC-Zentrums: „Das CIMIC-Zentrum in Nienburg an der Weser arbeitet an der Nahtstelle zwischen Einsatz und Ausbildung. Es ist einerseits dafür verantwortlich, dass jedes Kontingent das CIMIC-Personal bekommt, das es braucht – quantitativ und qualitativ. Hierzu kümmert sich das Einsatzlagezentrum organisatorisch um alles von der fachlichen Vorbereitung über den Transport bis zur Einsatznachbereitung von rund 350 Soldaten und Soldatinnen jährlich. (. . .) Jeder Angehörige des Zentrums muss mit einem Auslandseinsatz pro Jahr rechnen. Zusätzlich finden in Nienburg wichtige Abschnitte der Ausbildung zum CIMIC-Soldaten statt. Zudem erstellt der Bereich Lehre und Ausbildung des Zentrums schriftliche Einsatzhilfen und leistet Überzeugungsarbeit in Sachen CIMIC. Schließlich beteiligen sich die Soldaten, die aus allen Teilstreitkräften der Bundeswehr kommen, auch an Großübungen, um Verständnis für die Besonderheiten und Arbeitsweise von CIMIC zu wecken.“, http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/einsaetze/cimic/zen trum (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011).
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Soldaten vermutlich persönlich attraktiv wäre, weitere Anreize voraus. Das Engagement von CIMIC-Soldaten sollte durch einen systematischen Verwendungsaufbau mit entsprechend attraktiven (Be-)Förderungsmöglichkeiten honoriert werden. Die Expertise der Pool-Kräfte könnte gegebenenfalls weiter erhöht werden, wenn im Bedarfsfall auch weiterhin auf Reservisten mit besonderen Spezialkenntnissen zurückgegriffen wird. Zum Themenkomplex „Zusammenwirken“: Bis zur Ausbildung vergleichbarer Fähigkeiten bei CIMIC-Stabselementen, bietet es sich an, im Einsatz konsequent zivile Expertise zu nutzen. Hierbei kann auf zweierlei Art und Weise verfahren werden: So sollten erstens so genannte „ReachBack-Kapazitäten“ geschaffen bzw. ausgebaut werden. Auf diese könnte zurückgegriffen werden, wenn spezielle Expertise gefragt ist, die in den Stäben der Einsatzregion aktuell nicht verfügbar ist. Dabei handelt es sich denkbar erstens um den Rückgriff auf Datenbanken, die idealtypisch vom Militär und zivilen Experten gleichermaßen gepflegt werden, etwa durch Verknüpfung der Datenbanken der am ressortübergreifenden Ansatz beteiligten Bundesministerien. Zweitens wäre anzudenken, den jederzeitigen Rückgriff auf zivile Experten durch entsprechend ausgewiesene Ansprechpartner sicherzustellen. Dabei könnte es sich um ein Netzwerk bestehend aus Angehörigen beteiligter Ressorts, Mitarbeitern von aus ihnen nachgeordneten zivilen Unterstützungsbereichen und weiteren Fachleuten handeln, die auf dem zivilen Arbeitsmarkt zu rekrutieren wären. Denkbar wäre zudem, CIMIC-Dienstposten im Einsatz mit Zivilpersonal zu besetzen. Grundsätzlich sollten alle Ansätze zur konzeptionellen Weiterentwicklung von CIMIC von Anfang an durch zivile Expertise begleitet werden. Zusätzlich sollte dabei der Ansatz weiter intensiviert werden, in Übungen des Militärs all jene zivilen Kräfte einzubinden, die in den Szenarios des CIMICAlltags feste Bestandteile sind, um so die Einsatzwirklichkeit so real wie möglich abbilden zu können. Bezeichnend dafür ist die im Januar 2011 vom Heeresführungskommando an der Führungsakademie der Bundeswehr durchgeführte Führungsübung, an der in bislang beispiellos hoher Anzahl zivile Experten von außerhalb der Bundeswehr teilgenommen haben. All den vorstehend skizzierten Vorschlägen ist – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – gemeinsam, dass sie die Konsequenzen aus dem dargestellten Wandel von CIMIC nicht nur ziehen, sondern gezielt daran orientiert sind, Empfehlungen dafür aufzuzeigen, wie die Beratungsqualität für zukünftige Operationen zu verbessern ist.
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Schoch, Bruno et al. (Hrsg.) (2007): Friedensgutachten 2007. Berlin: Lit. Streitkräfteunterstützungskommando (April 2009): Besondere Anweisung Zivil-Militärische Zusammenarbeit/Ausland (zE). Änderung 1 29.09.2009. Köln. Studer, Meinrad (2001): The ICRC and Civil-Military Relations in Armed Conflict, in: International Review of the Red Cross, Jahrgang 83, Nr. 842, S. 367–391. UN-Dok. A/47/277-S/24111: „agenda for peace“. VENRO (2003): Streitkräfte als humanitäre Helfer? Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften in der humanitären Hilfe. Bonn: Verband Entwicklungspolitik der deutschen Nichtregierungsorganisationen e. V., VENRO-Positionspapier Heft 4. – (2009): Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan: Eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Hilfsorganisationen. Bonn: Verband Entwicklungspolitik der deutschen Nichtregierungsorganisationen e. V., VENRO-Positionspapier Heft 1.
Die zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland zwischen Vergangenheit und Zukunft: Das „Ehrenmal“ der Bundeswehr Von Nina Leonhard
I. Einleitung Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation hat sich die gesellschaftliche Stellung der Streitkräfte in Deutschland wie in den meisten anderen Ländern Europas grundlegend geändert:1 Zum einen hat sich der unmittelbare Bezug zwischen äußerer Bedrohung und nationaler Unabhängigkeit gelockert. Die fortschreitende Integration nationaler Militärorganisationen in supranationale Sicherheitsgemeinschaften, eine verstärkte Vergemeinschaftung von Militäraufgaben sowie der damit teilweise verbundene Trend zur Privatisierung militärischer Aufgabenerfüllung2 sind Ausdruck diese Wandels. Das Militär hat auf diese Weise seine vormals zentrale gesellschaftliche Bedeutung als nationales Identifikationssymbol verloren. Zum anderen haben Umbau und Konzentration der militärischen Organisationsstrukturen (quantitative Verkleinerung, qualitative Weiterentwicklung bzw. Spezialisierung) zu einer verstärkten Professionalisierung der Streitkräfte und einem wachsenden Bedeutungsverlust der Wehrpflicht geführt. Diese Entwicklungen berühren nicht nur das Selbstverständnis der Streitkräfte, sondern auch ihre Einbettung in die Gesellschaft. Im Zuge der quantitativen Reduzierung, die zu Beginn der 1990er Jahre infolge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eingeleitet wurde, sowie des schrittweisen Abbaus der Wehrpflicht3 hat die Bundeswehr an Sichtbarkeit in der Gesellschaft eingebüßt. Aufgrund der Auslandseinsätze und der damit verbundenen Erfahrungen von Not, Gewalt und Tod hat sich zudem eine Kluft zwischen der Erfahrungswelt der Soldaten auf der einen und der überwie1
Vgl. hierzu und im Folgenden Haltiner (2004). Vgl. Kümmel (2005). 3 1998 gab es erstmals mehr Zivildienstleistende als Wehrdienstleistende, vgl. Werkner (2004), S. 166. Gleichzeitig wurde die Dienstzeit von Wehrdienstleistenden immer kürzer: Der Anfang 2002 auf neun Monate verkürzte Grundwehrdienst wurde ab Juli 2010 auf sechs Monate verkürzt. Ab dem 1. Juli 2011 wird die Wehrpflicht vollständig ausgesetzt. 2
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genden Mehrheit der Bevölkerung auf der anderen Seite aufgetan, die in Zukunft noch größer werden wird. Das über Jahrzehnte aufgebaute Vertrauen in die soziale Integration der Streitkräfte ist durch diese Entwicklungen erschüttert worden. Schlagworte wie das von Bundespräsident Horst Köhler in die öffentliche Diskussion eingebrachte „freundliche Desinteresse“ der Bevölkerung gegenüber der Bundeswehr4 sind Ausdruck dieser neuen Unsicherheit, die Fragen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen aufwerfen. Mögliche Anhaltspunkte hierfür liefert eine Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit den Toten der Bundeswehr, wie er anhand des ‚Ehrenmals‘ der Bundeswehr zu beobachten ist. Mit dem im September 2009 eingeweihten ‚Ehrenmal‘ verfügt die Bundesrepublik erstmals über einen zentralen Gedenkort, der den Toten der eigenen Streitkräfte gewidmet ist. Verglichen mit dem politischen Totenkult in Frankreich und anderen Ländern mag die Einrichtung eines solchen Denkmals wenig außergewöhnlich erscheinen.5 Gleichwohl markiert dies einen deutlichen Bruch mit dem bis dato in der Bundesrepublik praktizierten politischen Totengedenken. Darin spiegelt sich sowohl der tiefgreifende Wandel der Bundeswehr von einer „Verteidigungsarmee“ zu einer „Interventionsarmee“6 als auch die vereinigungsbedingten Veränderungen der politischen Kultur wider, für die der Begriff der ‚Berliner Republik‘ geprägt wurde.7 Aus soziologischer Sicht eröffnet eine Analyse des Denkmals und der Debatte um seine Errichtung daher sowohl Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Bestandsbedingungen von Streitkräften als auch über Prozesse gesellschaftlicher Sinn- und Identitätskonstruktion. Im Folgenden werden zunächst zentrale Aspekte des Wandels der politischen Kultur der Bundesrepublik skizziert, die zur Entstehung einer neuen Form des politischen Totengedenkens geführt haben. Danach folgt eine Analyse der öffentlichen Diskurse um den Bau des ‚Ehrenmals‘ der Bundeswehr, bevor der symbolische Sinngehalt des realisierten Denkmalstypus rekonstruiert und hinsichtlich seiner Implikationen für die zukünftige gesellschaftliche Stellung der Streitkräfte in der Bundesrepublik diskutiert wird.
II. Eine neue „politische Kultur des Krieges“ Wie der Historiker Reinhart Koselleck bereits vor über drei Jahrzehnten eindrücklich herausgearbeitet hat, bedarf es seit jeher besonderer Rechtfer4 5 6 7
Köhler (2005). Vgl. Hettling (2009). Biehl (2008). Etwa Brunssen (2001), Czada/Wollmann (2000), Naumann (2001).
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tigung, wenn Menschen wie beispielsweise Soldaten ihr Leben in Erfüllung eines ihnen von der politischen Gemeinschaft übertragenen Auftrags verlieren.8 Ihr Tod wird in diesem Fall zu einer öffentlichen Angelegenheit, der eine Antwort auf die Frage nach seinem Sinn für das Gemeinwesen verlangt. Die Einrichtung eines Denkmals zur Erinnerung an die Toten ist ein Versuch der Sinnstiftung, der sowohl Auskunft über das in der Gesellschaft vorherrschende Selbstverständnis als politisches Kollektiv gibt, als auch über den Platz, der den Toten als staatlichen Funktionsträgern aus Sicht der Gesellschaft zugeschrieben wird. Ein Denkmal ist eine symbolische Form, deren Bedeutung sich aus den Zuschreibungen derjenigen ergibt, die sie betrachten bzw. in Anspruch nehmen. Seine materielle Gestalt stellt dabei den Rahmen dar, innerhalb dessen solche Zuschreibungen erfolgen. Aus einer diskursanalytischen Perspektive, wie sie Michael Schwab-Trapp9 in Anlehnung an die Arbeiten von Michel Foucault vorgeschlagen hat, besteht die politische Kultur einer Gesellschaft aus einem Ensemble von Diskursen zu spezifischen Themen und Problemen, das in öffentlichen Auseinandersetzungen produziert und von politischen und kulturellen Eliten getragen wird. Diskurse legitimieren politisches Handeln und werden umgekehrt durch die politische Praxis in ihrer Geltung bestätigt. Die Relevanz von Debatten in der politischen Öffentlichkeit ergibt sich daraus, dass in diskursiven Auseinandersetzungen die dominanten, kollektiv akzeptierten Deutungen politischer Ereignisse und Handlungen hergestellt, reproduziert oder verändert werden. Solche vorherrschenden Deutungen konstituieren zusammen genommen die „Basiserzählung“10 einer Gesellschaft. Es handelt sich hierbei um ein auf die Vergangenheit bezogenes Deutungsrepertoire, auf das die Akteure im Rahmen politischer Auseinandersetzung zurückgreifen, um ihre eigene Position zu begründen. Die Basiserzählung einer Gesellschaft ist stets zeit- und kontextabhängig: Gesellschaftliche Wandlungsprozesse verändern bestehende Deutungen und auf diese Weise auch die Basiserzählung. Wie von SchwabTrapp für den Bereich von Militär und Krieg im Einzelnen gezeigt, vollzog sich im Verlauf der 1990er Jahre ein substanzieller Wandel der Basiserzählung der Bundesrepublik.11 Bis 1989 legitimierte die Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit die Ablehnung von Krieg und militärischer Gewaltanwendung und machte die Befürwortung militärischer Interventionen begründungspflichtig. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten setzte sich eine neue Basiserzählung durch. Unter Verweis auf die 8
Vgl. Koselleck (1979). Schwab-Trapp (1996, 2002, 2003). 10 Herz (1997). 11 Schwab-Trapp (2002, 2003); vgl. auch Heins (2003). 9
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Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart beruht diese auf einer Abgrenzung von den Folgen des Nationalsozialismus und erzwingt nun eine Begründungspflicht für die Ablehnung einer deutschen Beteiligung an militärischen Interventionen.12 Dieser Deutungswandel ist auch beim Umgang mit den Toten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen erkennbar: In den öffentlichen Reaktionen auf den Tod des ersten deutschen Soldaten 1993 im Rahmen der United Nations Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) standen Argumente zur Begründung der Notwendigkeit im Vordergrund, warum Deutschland international mehr Verantwortung übernehmen und daher auch Tote akzeptieren müsse. Bei Todesfällen, die sich zehn Jahre später im Rahmen des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr ereigneten, wurde dieser Punkt in der öffentlichen Debatte nicht mehr thematisiert, da die deutsche Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen inzwischen als selbstverständlich galt. Stattdessen rückte nun die Frage in den Mittelpunkt, wann und unter welchen Bedingungen der Einsatz von deutschen Soldaten weiterhin gerechtfertigt sei.13 Die Errichtung eines ‚Ehrenmals‘ für die Toten der Bundeswehr stellt in gewisser Hinsicht die logische Folge der skizzierten Entwicklungen dar. Die Einsatzrealität und der damit verbundene gewaltsame Tod von Soldaten werden durch die bis dato bestehenden Gedenkorte nationalen Rangs, welche die Folgen von Krieg und militärischer Gewaltanwendung thematisieren,14 nicht erfasst, da diese für eine Form des Totengedenken stehen, das die Toten ausschließlich als passiv erleidende Opfer thematisiert.15 Die toten Soldaten der Einsätze, die sich freiwillig für diesen Beruf und somit indirekt auch für Teilnahme an Auslandsmissionen entschieden haben, sind aber in erster Linie als aktiv Handelnde16 anzusehen, die ihre Gesundheit und ihr Leben für ein höheres Gut – beispielsweise für die Schaffung von Sicherheit und demokratischen Verhältnissen in Afghanistan – aufs Spiel setzen und deren Tod daher anders als bisher symbolisch gedeutet werden muss: Die in den 1990er Jahren entstandene neue „politische Kultur des Krieges“17 muss also neu im „kulturellen Gedächtnis“18 verankert werden. 12
Schwab-Trapp (2003), S. 185. Vgl. Kümmel/Leonhard (2005). 14 Es handelt sich um die 1993 als „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ eingerichtete Neue Wache (vgl. Kruse (2002)) sowie das 2005 eingeweihte „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ (vgl. Kirsch (2003)). 15 Hettling (2009), S. 132. 16 Zur Semantik des Opferbegriffs, der im Deutschen sowohl „victim“ als auch „sacrifice“ bedeuten kann, siehe Münkler/Fischer (2000). 17 Vgl. Schwab-Trapp (2002). 13
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Spiegelt das ‚Ehrenmal‘ das Bestreben wider, eine neue Form des Totengedenkens zu etablieren, stellt sich die Frage, welcher gesellschaftliche Platz der Bundeswehr auf diese Weise zugeschrieben wird. Welches Spektrum von Möglichkeiten wurde in der öffentlichen Debatte sichtbar, welches (vorläufige) Ergebnis der Auseinandersetzung lässt sich anhand des realisierten Denkmalstypus feststellen? Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf einer Analyse der Presseberichterstattung über das ‚Ehrenmal‘19, von offiziellen Reden und Verlautbarungen seitens des Verteidigungsministeriums sowie von Debattenbeiträgen aus dem Bereich der Wissenschaft.20
III. Die Entstehungsgeschichte des ‚Ehrenmals‘ – ein Überblick Die Idee, den im Dienst gestorbenen Angehörigen der Bundeswehr ein Denkmal zu errichten, geht – so die offizielle Lesart – auf einen Besuch von Verteidigungsminister Franz Josef Jung beim deutschen ISAF-Kontingent in Kabul, Afghanistan, im Dezember 2005 zurück. Dieser zeigte sich vom Besuch einer von Soldaten selbst gestalteten Gedenkstätte zur Erinnerung an die Toten der ISAF-Schutztruppe so beeindruckt, dass er daraufhin das Konzept für ein nationales ‚Ehrenmal‘ entwickeln und einen Architekten- und Künstlerwettbewerb durchführen ließ. In der Öffentlichkeit, die ab Februar 2006 von den Plänen des Ministers in Kenntnis gesetzt wurde, stieß der Vorschlag zunächst auf wenig Resonanz. Erst als im Mai des darauffolgenden Jahres der Siegerentwurf des Wettbewerbs präsentiert und der Baubeginn des Denkmals für November 2007 angekündigt wurde, formierte sich in der Öffentlichkeit Protest: Zum einen wurde von Mitgliedern der damaligen Oppositionsparteien FDP und Bündnis 90/Die Grünen, aber auch von Abgeordneten der an der Regierungskoalition beteiligten SPD Kritik 18 Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses geht auf die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann zurück. Er steht für „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten (. . .), in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt.“ (Assmann (1988), S. 15) 19 Siehe hierzu den von der Redaktion der Zeitschrift Zeitgeschichte-online zusammengestellten Pressespiegel zum Themenschwerpunkt „Das Ehrenmal der Bundeswehr – eine notwendige Debatte“, der Beiträge zum ‚Ehrenmal‘ umfasst, die zwischen dem 21. Februar 2006 und 10. September 2010 in deutschen Tages- und Wochenzeitungen erschienen sind, http://www.zeitgeschichte-online.de/portals/_rain bow/documents/pdf/presse_bwe.pdf (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 20 Siehe hierfür vor allem die Beiträge der beiden Tagungen, die 2007 am Wissenschaftszentrum Berlin (Hettling/Echternkamp (2008)) sowie 2008 an der Evangelischen Akademie in Loccum (Hauswedell (2009)) anlässlich der bevorstehenden Errichtung des ‚Ehrenmals‘ veranstaltet wurden.
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am geplanten Standort des Denkmals geübt (vgl. Kap. IV/2). Dabei ging es auch um die Frage, ob mit dem Denkmal ausschließlich Soldaten oder auch Zivilisten, die im Rahmen von Auslandseinsätzen ums Leben gekommen sind (z. B. Polizisten, Diplomaten, Entwicklungshelfer), geehrt werden sollten. Zum anderen wurden von Seiten der Wissenschaft nicht nur Einwände gegen den von der Findungskommission prämierten Entwurf von Andreas Meck vorgebracht, da dieser (zu) viele Rückbezüge auf die heroische Denkmalskultur des 19. und 20. Jahrhunderts aufweise und eine „sakrale Überhöhung des Soldatentods“ impliziere.21 Auch das Vorgehen des Ministers stieß auf Kritik, da die Öffentlichkeit zu spät bzw. nur unzureichend am Auswahl- und Entscheidungsprozess beteiligt worden sei.22 Trotz der Einwände hielt man seitens des Verteidigungsministeriums an den Denkmalsplänen fest, wenn auch am ausgewählten künstlerischen Konzept einige Änderungen vorgenommen wurden.23 Im November 2008, und somit ein Jahr später als ursprünglich geplant, fand die Grundsteinlegung statt. Überschattet von der Diskussion über einen wenige Tage zuvor von der Bundeswehr befohlenen Luftschlag gegen zwei Tanklastzüge in der Nähe der afghanischen Stadt Kunduz, bei dem vermutlich über 100 Personen, darunter viele Zivilisten, getötet wurden24, wurde am 8. September 2009 das Denkmal offiziell eingeweiht. Der feierliche Festakt, an dem neben dem Verteidigungsminister und dem Bundespräsidenten auch die Vertreter der anderen Verfassungsorgane teilnahmen, wurde live im ersten Fernsehprogramm übertragen.25 In der Presse wurde die Eröffnung des ‚Ehrenmals‘ durch moderate, überwiegend positive Kommentare begleitet. Die in der vorausgegangenen Diskussion vorgebrachten Kritikpunkte wurden dabei in der Regel nicht wieder aufgegriffen. Vielmehr lautete der generelle Tenor in den Medien nun, dass es begrüßenswert sei, dass man in Berlin über einen symbolischen Ort der Erinnerung und der Trauer für die ums Leben gekommenen Soldaten und ihre Angehörigen verfüge. Besondere Erwähnung fand die zurückhaltende Gestaltung des ‚Ehrenmals‘, da 21 Siehe hierzu den Offenen Brief des Ulmer Vereins e. V., eines Berufsverbands von Kunst- und Kulturwissenschaftlern, vom 11. Oktober 2007, http://www.ulmerverein.de/uv/content/OffenerBriefPressetext.pdf (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 22 Etwa Meyer (2009). 23 So wurde vor allem der stark kritisierte altarähnliche Steinmonolith im Innenraum des Denkmals durch eine nach oben verschobene Bodenplatte ersetzt (vgl. Fuhrmeister (2009), S. 157). 24 Die Angaben über die Opferzahlen gehen bis heute stark auseinander. Siehe hierzu den Überblick auf http://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriff_bei_Kunduz (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 25 Vgl. Reportage/Dokumentation „Ehrenmal für die Toten der Bundeswehr“, ARD, 8. September 2009.
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diese verdeutliche, dass dieses „kein Denkmal einer neuen Kriegsbegeisterung“ sei.26 Die öffentliche Auseinandersetzung um das Denkmal fand damit ihr (bisheriges) Ende. Dieser Ausgang stellt insofern einen Erfolg der gedächtnispolitischen Bemühungen des Verteidigungsministers dar, als er sein Anliegen, das Gedenken an die verstorbenen Angehörigen der Bundeswehr durch ein zentrales Denkmal zu institutionalisieren, durchsetzen konnte. Ermöglicht wurde dies zum einen dadurch, dass das Anrecht der Toten, „als Tote“ erinnert zu werden,27 zu keinem Zeitpunkt der Debatte infrage gestellt worden war. Der Minister konnte somit seine Denkmalspläne auf einen bereits von Anfang an bestehenden Konsens gründen. Entscheidend für die öffentliche Akzeptanz des realisierten Denkmalstypus war zum anderen, dass durch das ‚Ehrenmal‘ die nach 1945 etablierte Abkehr vom ausgeprägten Toten- und Heldenkult, wie er vor allem in der Weimarer Republik und zur Zeit des NS-Regimes praktiziert worden war,28 nicht infrage gestellt wurde. In der Tat spricht man sich sowohl in den vom Ministerium herausgegebenen Erläuterungen zum Denkmal29 als auch in den bei der offiziellen Einweihungsfeier gehaltenden Ansprachen30 wiederholt gegen eine Verherrlichung des Soldatentods nach dem „Muster der klassischen Kriegerdenkmale“31 aus und betont, dass mit dem ‚Ehrenmal‘ stattdessen ein würdiger Ort für Trauer und Erinnerung geschaffen wurde. Ob die gefundene Denkmalslösung allerdings auch geeignet ist, die von hochrangigen politischen Repräsentanten wie dem Bundespräsidenten oder dem vormaligen Wehrbeauftragten32 in der Öffentlichkeit immer wieder angemahnte stärkere Integration der Soldaten in die Gesellschaft zumindest in symbolischer Hinsicht zu befördern, ist damit noch nicht geklärt.
26
Jessen (2009). Koselleck (1979), S. 256. 28 Vgl. Kümmel/Leonhard (2005), S. 515 ff. 29 BMVg (2009b). 30 BMVg (2009a). 31 BMVg (2009b), S. 43. 32 So hat sich der vormalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe z. B. für die Schaffung eines „Veteranentages“ zur Stärkung der gesellschaftlichen Unterstützung für aus dem Einsatz zurückgekehrte Soldatinnen und Soldaten ausgesprochen (Weltonline vom 14. Juli 2010). 27
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IV. Das ‚Ehrenmal‘ der Bundeswehr – ein Gedenkort voller Ambivalenzen 1. Ein unklares Identifikationsangebot: Inschrift und Widmung des Denkmals Laut Koselleck haben Denkmäler als Form des politischen Totengedenkens drei Funktionen: Neben der bereits erwähnten Aufgabe, die Erinnerung an die Toten im Allgemeinen zu bewahren, geht es um die Qualifikation der Toten (als was sie erinnert werden) sowie um das Verhaltensgebot, die sich für die Überlebenden daraus ergibt.33 Das ‚Ehrenmal‘ der Bundeswehr bewahrt das Andenken an die Verstorbenen durch die individuelle Nennung ihrer Namen, die im Inneren des Denkmals in wechselnder Folge in einem Lichtband an die Wand geworfen werden. Als was sie erinnert werden und wofür sie gestorben sind, wird durch das ‚Ehrenmal‘ und die begleitenden Diskurse jedoch nicht klar. Einerseits verweist die auf dem Bauwerk angebrachte Inschrift „DEN TOTEN UNSERER BUNDESWEHR FÜR FRIEDEN, RECHT UND FREIHEIT“34 auf den Wertekanon der Verfassung der Bundesrepublik, in der allgemeine Grundwerte wie der Schutz von Menschenwürde, Recht und Freiheit sowie das Friedensgebot verankert sind, und formuliert somit einen Anspruch, mit dem sich alle identifizieren können (und sollen), die sich zur Achtung dieser grundlegenden Werte bekennen. Diesem inkludierenden, prinzipiell alle Bürger einschließenden Identifikationsangebot, dem auch die Rede von „unserer“ Bundeswehr entspricht, steht andererseits die starke Betonung der soldatischen Pflicht, treu zu dienen, entgegen, die aus den offiziellen Erläuterungen zum ‚Ehrenmal‘ hervorgeht35 und die diesem gleichzeitig eine exkludierende, sich vom Zivilen abgrenzende Bedeutungskomponente verleiht. Durch die Berufung auf die eine Gefährdung des eigenen Lebens einschließenden Treuepflichten als Alleinstellungsmerkmal des Soldatenberufs36 werden die Toten vornehmlich als Soldaten qualifiziert, die aus Gehorsam gegenüber ihrem Eid und der daraus erwachsenden Pflichten handelten – und nicht etwa als Staatsbürger, die sich aufgrund ihrer inneren Überzeugung (anstatt aus Gehorsam und Pflichtgefühl) für das Gemeinwesen und für die damit verbundenen Werte einsetzten und die aus diesem Grund für 33
Koselleck (1979), S. 256. Die Großschreibung wurde mit Absicht gewählt: „Die durchgehende Verwendung von Kapitalen und der Verzicht auf Interpunktion lässt eine geschlossene Wirkung entstehen und verleiht der Inschrift eine besondere Kraft.“ BMVg 2009b, S. 35. 35 BMVg (2007), BMVg (2009b). 36 Vgl. BMVg (2007), S. 4, BMVg (2009b), S. 5. 34
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alle Staatsbürger (mit oder ohne Uniform) eine Vorbildfunktion übernehmen könnten.37 In ähnliche Richtung weist auch die für das Denkmal gewählte Bezeichnung ‚Ehrenmal‘:38 Ehre ist ein Produkt gesellschaftlicher Zuschreibung, deren Gültigkeit an die Akzeptanz sowohl derjenigen gebunden ist, die diese zuschreiben, als auch derjenigen, denen diese Qualität zugeschrieben wird. Im Gegensatz zur (Bürger-)Tugend, die auf der Verinnerlichung von Werten und Normen beruht, kommt der Ehre eine differenzierende Funktion zu. Die Zuschreibung von Ehre hebt die Geehrten gegenüber den andern heraus, hier die Soldaten gegenüber den Zivilisten. Im vorliegenden Fall ist damit sogar eine Differenzierung zwischen den Toten, derer mit dem Denkmal gedacht werden soll, verbunden. Denn das ‚Ehrenmal‘ ist allen Angehörigen der Bundeswehr – also Soldaten wie zivilen Mitarbeitern – gewidmet, die seit Gründung der Bundeswehr 1955 „in Folge der Ausübung ihrer Dienstpflichten für die Bundesrepublik Deutschland ihr Leben verloren haben.“39 Entgegen anders lautender Vorschläge, die, wie bereits angedeutet, für eine gemeinsame Würdigung der im Auslandseinsatz zu Tode gekommenen Soldaten und Zivilisten plädiert hatten, hatte man sich seitens des Verteidigungsministeriums explizit für eine Berücksichtigung aller im Dienst umgekommenen Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr ungeachtet der jeweiligen Todesumstände und somit gegen eine Fokussierung auf die im Einsatz gestorbenen Soldaten ausgesprochen, wie sie in der öffentlichen Debatte sonst vorherrschte.40 Ein umfassendes Verständnis der Toten, die mit dem ‚Ehrenmal‘ gewürdigt werden soll, steht jedoch der vornehmlichen Berufung auf die soldatischen Treuepflichten entgegen, durch die sich Soldaten von Zivilisten abheben. Die offizielle Deutung des Ehrenmals bleibt somit eigentümlich ambivalent in der Abgrenzung derer, die es ehren will. Sie beruft sich auf die besonderen soldatischen Treupflichten, will aber alle Toten der Bundeswehr unabhängig davon ehren, ob sie Soldaten waren. Gleichzeitig soll auch der Toten gedacht werden, deren Tod durch Unfall mit besonderen Treuepflichten, die erst in der Befolgung eines Einsatzbefehls wirksam werden, 37
Vgl. Hettling (2009), S. 106. Vgl. Hettling (2009), S. 107 f. 39 BMVg (2009b), S. 5. Die überwiegende Mehrheit der rund 3.200 Personen, denen das ‚Ehrenmal‘ gewidmet ist, starb durch Unfälle bei der Ausbildung, bei Übungen, bei Verkehrsunfällen bzw. Flugzeugabstürze oder durch Selbsttötung. Von den 100 bislang bei Auslandseinsätzen getöteten Soldaten kamen 36 durch „Fremdeinwirkung“ ums Leben. Vgl. die Angaben über getötete oder verwundete Soldaten der Bundeswehr auf der Webseite des Bundesverteidigungsministeriums, http:// www.bundeswehr.de (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). 40 Vgl. Kähler (2009), S. 137 f. 38
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nichts zu tun hat. Vor diesem Hintergrund erscheint die offiziell formulierte Einbeziehung der zivilen Bundeswehrangehörigen in das Gedenken bei gleichzeitiger Ausgrenzung anderer Zivilisten, die etwa im Auftrag des Außen-, Innen- oder Entwicklungsministeriums ebenfalls in Erfüllung ihrer Dienstpflichten im Ausland ums Leben gekommen sind, willkürlich. Sie ist nur durch eine Abgrenzung entlang der Organisationsgrenzen zu erklären: Das ‚Ehrenmal‘ wird so zum „Firmendenkmal“41. Durch diesen Organisationsbezug ergibt sich jedoch kein Sinnstiftungsangebot für die Integration der Organisationsmitglieder in die zivile Umwelt. 2. Auf dem „Hinterhof“ des Ministeriums? Standort und Gestaltung des Denkmals Der für das Denkmal vorgesehene Standort am Bendlerblock, dem Dienstsitz des Bundesverteidigungsministeriums, wurde in der öffentlichen Debatte um die Denkmalspläne von Minister Jung in den Jahren 2007 und 2008 mit am intensivsten diskutiert. Kritiker der Pläne des Ministers, ein Denkmal, das einen „nationalen Rang“42 beansprucht, auf dem „Hinterhof“43 des Bendlerblocks einzurichten, sprachen sich für einen Ort in unmittelbarer Nähe des Reichstags, dem Sitz des Deutschen Bundestages, aus, um der Verantwortung des Parlamentes für die Entscheidungen über Militäreinsätze und somit dem Charakter der Bundeswehr als einer ‚Parlamentsarmee‘ angemessenen Ausdruck zu verleihen. Seitens des Ministeriums wurde dagegen argumentiert, dass der Bundesminister der Verteidigung als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt der Streitkräfte Verantwortung für das Leben der Soldaten bzw. zivilen Mitarbeiter im In- und Ausland trage und daher auch die Toten der Bundeswehr in seinen Zuständigkeitsbereich fielen. Dies rechtfertige nicht nur die Entscheidungshoheit des Ministers in Fragen der Denkmalsgestaltung, sondern auch die Platzierung des Denkmals an seinem Dienstsitz.44 Die Entscheidung für den Standort am Bendlerblock entspringt derselben Logik wie die Entscheidung, das Denkmal allen Toten der Bundeswehr (Soldaten wie zivilen Mitarbeitern) zu widmen. Im Mittelpunkt steht der Bezug zur Organisation, hier die Perspektive des Dienstherren: Das Gedenken an die Toten wird ‚zuständigkeitshalber‘ organisiert. Daraus lässt sich jedoch keine „Verpflichtung der Gesellschaft“ ableiten, das Andenken derjenigen zu bewahren und zu würdigen, „die im Dienst ihr Le41 42 43 44
Bernau (2007). BMVg (2007), S. 4. Brendle (2007). Vgl. BMVg (2009b), S. 9; Kähler (2009), S. 139.
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ben gelassen haben“.45 Eine solche Verpflichtung ergäbe sich nur durch den Bezug zum politischen Auftrag, der diesem Personal übertragen wird und der in demokratisch verfassten Gesellschaften vom Volk ausgeht. Um eine solche Verbindung zwischen der Gesellschaft als politischem Auftraggeber und den Streitkräften als Auftragnehmern symbolisch zu verdeutlichen, hätte sich eine Positionierung des Denkmals in der Nähe des Parlamentes, dem die legitime Rolle als Repräsentant des Volkes zukommt, in der Tat angeboten, zumal eine zentrale Lage in der Nähe von Reichstag und Brandenburger Tor dem ‚Ehrenmal‘ darüber hinaus hohe Besucherzahlen und eine bestmögliche Sichtbarkeit garantiert hätte.46 Betrachtet man die offiziellen Erläuterungen zum Standort und zur Gestaltung des ‚Ehrenmals‘ nach dessen Einweihung, treten vor allem zwei Aspekte hervor, die die Entscheidung für den Standort am Bendlerblock dennoch als schlüssig erscheinen lassen. Aus Sicht des Ministeriums versinnbildlicht das ‚Ehrenmal‘ die „Schnittstelle von Streitkräften und Gesellschaft“, da es „genau an der Grenze zwischen dem Grundstück des Bendlerblocks und der öffentlich zugänglichen Hildebrandstraße“ platziert wurde.47 Die beiden Elemente, aus denen sich diese Schnittstelle ergeben soll, sind allerdings in unterschiedlicher Stärke symbolisch präsent. Die Streitkräfte sind durch den Dienstsitz des Ministers deutlich erkennbar. Auf Seiten der Gesellschaft steht jedoch eine abgelegene Seitenstraße, und damit ein schwaches Symbol – deutlich schwächer jedenfalls als es der Bezug zum Parlament gewesen wäre. Auch die bauliche Gestaltung des Ehrenmals schränkt seine Tauglichkeit als Schnittstelle ein. Der rechteckige Baukörper ist durch verschiebbare Wände an den beiden Längsseiten prinzipiell sowohl zur (öffentlich zugänglichen) Straße als auch zum (auf dem Ministeriumsgelände befindlichen) Paradeplatz offen. De facto ist das Denkmal aber stets nur von einer Seite zu betreten: Im Alltag bleibt die Schiebetür zum Bendlerblock geschlossen, so dass man das Bauwerk nur von der Straße aus durch einen kleineren, niedrigeren Zugang betreten kann. Bei offiziellen Anlässen wird hingegen die Seite zum Ministerium „mit einer großen Geste“48 geöffnet, während der Zugang zur Straße geschlossen wird. Obgleich die Öffentlichkeit im Fall einer Nutzung des ‚Ehrenmals‘ durch das Ministerium ausgesperrt wird und eine direkte Begegnung zwischen militärischem und zivilem Raum aufgrund der sich ausschließenden Zugangsmöglichkeiten gerade nicht vorgesehen ist, schafft diese doppelte Eingangssituation aus Sicht des 45 46 47 48
BMVg (2007), S. 4. Vgl. Der Tagesspiegel vom 28. November 2009. BMVg (2009b), S. 11. BMVg (2009a), S. 44.
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Ministeriums einen „unmittelbaren Bezug zwischen Bundeswehr und Gesellschaft“.49 Ausschlaggebend für diese Sichtweise ist die Prämisse, dass sich die Stellung der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft danach bemessen lasse, inwieweit im Rahmen staatlichen Totengedenkens Raum für private Trauer vorgesehen sei.50 Das normalerweise zur Straße hin geöffnete ‚Ehrenmal‘ dient somit als Beleg für die zivile, in dieser Lesart private Ausrichtung des Totengedenkens, die einer „Legitimierung staatlicher Gewalt“ durch „Heroisierung und Verklärung des Soldatentods“ entgegenstehe und einen neuartigen Ansatz staatlichen Totengedenkens verdeutliche.51 Die Beziehung zur Gesellschaft wird in der Sinngebung des Denkmals damit aber auf private Trauer verengt. Weitere Formen gesellschaftlicher Beteiligung sind mit dem ‚Ehrenmal‘ in seiner derzeitigen Form nicht möglich – und offenbar auch nicht angestrebt. Der zivile Adressatenkreis beschränkt sich im Wesentlichen auf die Angehörigen und Freunde der Toten. Öffentliches Trauern und Erinnern wird demgegenüber ausschließlich mit „staatliche[m] Gedenken mit militärischem Zeremoniell“52 gleichgesetzt. Die gesellschaftliche Einbindung der Streitkräfte vollzieht sich danach in erster Linie über Einzelpersonen, die das Denkmal aufsuchen, nicht aber über die Herstellung einer breiten, medial vermittelten Öffentlichkeit jenseits der staatsoffiziellen Zeremonien.53 Einem solchen Denkmal, das gelegentlich zu staatspolitischen Zwecken, ansonsten jedoch für individuelle Trauer in Anspruch genommen werden soll, entspricht in der Tat der gewählte Standort in einer kleinen Seitenstraße direkt neben dem Ministerium. Die Platzierung des ‚Ehrenmals‘ am Bendlerblock gewinnt in der Interpretation durch das Ministerium aber noch eine zweite Bedeutung. Das Denkmal befindet sich nämlich so „in unmittelbarer Nähe“54 zur Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die in einem Seitenflügel des Bendlerblocks untergebracht ist und unter anderem die Erinnerung an den militärischen Widerstand gegen das NS-Regime aufrechterhält, die für das Traditionsverständnis der Bundeswehr von zentraler Bedeutung ist.55 Indem betont wird, dass das ‚Ehrenmal‘ „die Bedeutung des 20. Juli für das Traditionsverständnis der Bundeswehr weder berührt noch relativiert“, da „die Traditionslinien des Ehrenmals auf die Geschichte der Bundeswehr“ zurück49 50 51 52 53 54 55
BMVg (2009b), S. 15. BMVg (2009b), S. 39. BMVg (2009b), S. 39 BMVg (2009b), S. 11. Vgl. Naumann (2007), S. 6. BMVg (2009b), S. 10. Vgl. Biehl/Leonhard (2005), S. 223 ff.
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zuführen seien,56 wird die Abgrenzung vom Nationalsozialismus als grundlegendem normativen Bezugspunkt, für die hier das gescheiterte Attentat gegen Hitler von 1944 steht, einerseits bestätigt. Andererseits wird der bereits in den bis heute gültigen Traditionsrichtlinien aus dem Jahr 1982 formulierte Anspruch, sich auf traditions- und somit sinnstiftende Aspekte der eigenen Geschichte der Bundeswehr zu berufen, aufgenommen und aktualisiert: „Das Ehrenmal steht für die Tradition der Bundeswehr von heute“, heißt es entsprechend.57 Dies verweist auf den eingangs skizzierten Wandel der ‚Basiserzählung‘ der Bundesrepublik, die sich über die Distanzierung vom Nationalsozialismus hinaus nun verstärkt der Überwindung der Folgen des NS-Erbes zuwendet. Demnach ist das ‚Ehrenmal‘ auch als Versuch zu verstehen, das negative Erbe der Wehrmacht, das die Bundeswehr bis in die 1990er Jahre hinein beschäftigt hat,58 hinter sich zu lassen und stattdessen die bundeswehreigenen Traditionslinien innerhalb der Streitkräfte durch die Schaffung neuer Gedenkorte wie das ‚Ehrenmal‘ zu stärken. Als Form der Traditionsstiftung stellt die Errichtung des ‚Ehrenmals‘ damit eine Art Binnenkommunikation dar, die in erster Linie auf die Bundeswehr als gesellschaftliches Subsystem gerichtet ist und sowohl die Behandlung der Denkmalsfrage als Ressortangelegenheit wie auch die räumliche Integration des Denkmals in die Anlage des Verteidigungsministeriums59 plausibel macht. Welche Traditionslinien das ‚Ehrenmal‘ mit Bezug auf die Geschichte der Bundeswehr seit 1955 im Einzelnen verkörpert und welches Verhaltensgebot sich daraus für diejenigen ergibt, die sich auf diese Traditionslinien berufen, wird inhaltlich nicht gefüllt. Dies hängt mit der bewussten Beschränkung des ‚Ehrenmals‘ auf einen Ort des trauernden Gedenkens und dem Verzicht auf eine darüber hinausgehende politische Sinnstiftung zusammen. An die Stelle des Nationalsozialismus als gemeinsamen negativen Bezugspunkt, der in Bekräftigung der Ablehnung jedweder Heroisierung des Soldatentods deutlich erkennbar ist, ist bislang (noch) nichts getreten, das als zukünftige „symbolische Konsensklammer“ dienen könnte.60 Das ‚Ehrenmal‘ kann – und soll, wie aus dem offiziellen Deutungsangebot zu folgern ist – weder durch die Gestaltung noch die Platzierung, noch durch die vorgesehene Nutzung einen Beitrag leisten, diese Lücke zu füllen.
56 57 58 59 60
BMVg (2009b), S. 10. BMVg (2009b), S. 40. Vgl. Abenheim (1989), de Libero (2006), Prüfert (2000). Vgl. BMVg (2009b), S. 11. Heins (2003), S. 201.
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V. Fazit: Eine verpasste Chance? Die Entstehungsgeschichte des ‚Ehrenmals‘ der Bundeswehr wie auch der realisierte Denkmalstypus selbst sind durch eine Reihe von Widersprüchen gekennzeichnet. Das Bestreben, der Einsatzrealität der Bundeswehr durch eine neue Form des Totengedenkens gerecht zu werden, wird durch das Festhalten an Grundsätzen konterkariert, die aus der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit hervorgegangen sind und den Verzicht auf eine explizite politische Sinnstiftung beinhalten. Die Distanzierung vom Nationalsozialismus und von dem dort praktizierten Totenkult stellt eine gemeinsame Basis dar, auf die sich, selbst wenn sie als nicht mehr ausreichend erscheint, alle Beteiligten mangels Alternativen noch verständigen können. Darüber hinaus steht der Berufung auf die gesellschaftliche Verpflichtung, den Toten der Bundeswehr Respekt und Anerkennung für ihre geleisteten Dienste zu erweisen, welche die offiziellen Reden und Verlautbarungen durchzieht, die Behandlung des Denkmalsprojektes als Ressortangelegenheit durch das Verteidigungsministerium wie auch die Reduzierung der gesellschaftlichen Teilhabe auf individuelle Trauer und Erinnerung entgegen. Diese Ambivalenzen in symbolpolitischer Hinsicht spiegeln die strukturellen Hemmnisse, namentlich das lange Festhalten an der Wehrpflicht61, wider, die den Prozess der Transformation der Bundeswehr zu einer ‚echten‘ Interventionsarmee, die sich vom Paradigma der Landesverteidigung gelöst und vollends auf den Einsatz im Rahmen von „wars of choice“62 eingestellt hat, gegenwärtig bestimmen.63 Klaus Naumann64 hat den Verlauf der öffentlichen Debatte um das ‚Ehrenmal‘ der Bundeswehr im Vergleich zu den langen und intensiven Kontroversen, die andere großen Denkmalsprojekte in Berlin65 begleitet hatten, zu Recht als verhalten und zurückgenommen charakterisiert. Als Begründung führt er zum einen die „casualty shyness“66 der politisch Verantwortlichen, d.h. deren Zurückhaltung aus Angst vor einer öffentlichen Debatte um Sinn und Zweck des militärischen Engagements der Bundeswehr in Afghanistan an, das in der Bevölkerung zunehmend umstritten ist. Zum anderen verweist er auf die historisch bedingte, ambivalente Haltung der deutschen Gesellschaft nicht nur gegenüber dem Militär, sondern auch gegenüber einer Realität des Krieges, die man längst überwunden zu haben glaubte und mit der man sich daher 61
Vgl. Werkner (2004, 2006). Naumann (2008), S. 171. 63 Siehe hierzu im Einzelnen Biehl (2008). 64 Naumann (2008). 65 Als prominenteste Beispiele sei hier noch einmal auf die Neue Wache sowie das Holocaust-Mahnmal verwiesen (Anm. 2). 66 Vgl. Smith (2005). 62
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nicht auseinandersetzen will. Herfried Münkler67 hat in diesem Kontext Deutschland auch als „postheroische“, Krieg und den einsatzbedingten Tod von Soldaten verdrängende Gesellschaft bezeichnet. Ihm zufolge besteht das Dilemma des politischen Totengedenkens, wie es im Fall des ‚Ehrenmals‘ deutlich wurde, darin, dass die Gesellschaft solcher Gedenkrituale nicht bedarf bzw. diese sogar ablehnt, während die politisch Verantwortlichen darauf angewiesen sind, da diese sie „von einer minutiösen Aufrechnung des Ertrags und der Kosten“ des militärischen Einsatzes entlasten.68 Unberücksichtigt bleibt bei dieser Position jedoch, dass das ‚Ehrenmal‘ von Beginn an in weiten Teilen als organisationsinterne Kommunikation angelegt war, die sich in erster Linie an die Angehörigen der Bundeswehr und ihre Familien und weniger an die breite gesellschaftliche Öffentlichkeit richtet. Wenn eine gesellschaftliche Zurückhaltung gegenüber einer aktiven, auf die Zukunft ausgerichteten Form des Totengedenkens zu konstatieren ist, hängt dies also nicht nur mit einer kriegsverdrängenden Grundhaltung der deutschen Gesellschaft, sondern auch mit der selbstreferenziellen Anlage des ‚Ehrenmals‘ selbst zusammen. In der Tat sind „postheroische“ Gesellschaften, wie sie Münkler69 versteht, zunächst einmal nichts anderes als komplexe moderne Gesellschaften, die durch funktionale Differenzierung sowie Individualisierung gekennzeichnet sind. Dies bestimmt auch die Art und Weise des Umgangs mit dem Tod:70 Der Verlust eines kollektiv geteilten, verbindlichen Todesbildes auf gesamtgesellschaftlicher Ebene aufgrund fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierung geht einher mit der Entstehung einer Vielzahl von Todesvorstellungen auf der Ebene des Individuums. Die Notwendigkeit, dem Tod einen gesamtgesellschaftlichen Sinn zu verleihen, entfällt damit und verschiebt sich auf die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche sowie vor allem auf die individuelle Ebene und wird auf diese Weise zunehmend privatisiert. Im Subsystem ‚Militär‘ muss der Tod, der gewissermaßen zur Berufsbeschreibung des Soldaten gehört, allerdings auf andere, bewusstere Art als in den meisten anderen Teilbereichen verarbeitet werden – das ‚Ehrenmal‘ der Bundeswehr ist ein Beleg hierfür. In diesem konkreten Fall ist eine symbolische Einbeziehung des gesellschaftlichen Umfeldes in Ansätzen – etwa durch die Inschrift – erkennbar. Ansonsten ist das Denkmal jedoch auf den Verteidigungsminister als übergeordnetem Dienstherren sowie insbesondere auf die Bundeswehr und ihre Angehörigen selbst bezogen und markiert, als bundeswehreigene Tradition deklariert, vor allem 67 68 69 70
Münkler (2008). Münkler (2008), S. 28. Münkler (2006), S. 310 ff. Vgl. Nassehi (2003), S. 298 ff.; Kümmel/Leonhard (2004), S. 133 f.
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die Zugehörigkeit zur Militärorganisation. Den Herausforderungen, die der Tod von Soldaten mit sich bringt, begegnet das ‚Ehrenmal‘ also zum einen durch Stärkung der Identität der Militärorganisation mittels Traditionsstiftung sowie zum anderen dadurch, dass es einen Raum für private Bewältigungsstrategien der Familien und Freunde der Toten schafft: Funktionale Differenzierung und Privatisierung des Soldatentodes treffen hier zusammen. Was heißt das für den gesellschaftlichen ‚Ort‘ der Bundeswehr? Folgt man den theoretischen Annahmen über gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, die sich in weiter fortschreitender Differenzierung und Individualisierung sowie kultureller „Inselbildung“71 niederschlagen, ist auch in der Bundesrepublik eine Vergrößerung der Differenz zwischen Militär und Gesellschaft zu erwarten – allerdings in anderer Form, als es das historische Schreckensbild vom Militär als ‚Staat im Staate‘ beschreibt. Versuche, durch Rückgriff auf „vorpluralistische Traditionen“72 wie etwa durch den Bau eines Denkmals, das eine einheitliche, allgemein gültige Botschaft verkündet, Gemeinschaft und Gemeinsamkeit zu schaffen und somit die vielfältigen Differenzen, die eine „offene“ Gesellschaft73 auch in militär- und sicherheitspolitischer Hinsicht kennzeichnen, zu überwinden, erscheinen daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Von symbolischem Handeln wie der Errichtung eines Denkmals ist ein Abbau gesellschaftlicher Unterschiede nicht zu erwarten. Gleichwohl kann dieses dazu dienen, Kommunikation zu eröffnen und dadurch die Anschlussfähigkeit zwischen verschiedenen Gruppen oder gesellschaftlichen Teilbereichen, hier: zwischen dem Militär und der gesellschaftlichen Umwelt, zu schaffen bzw. zu erhalten. Wie gezeigt wurde, ist das ‚Ehrenmal‘ der Bundeswehr hierfür in der derzeitigen Form allerdings nur bedingt in der Lage. Seitens der politischen Führung der Bundeswehr, von der die Initiative für das Denkmal ausging, wurden die Möglichkeiten zur Herstellung einer solchen Anschlussfähigkeit, die angesichts des öffentlichen Interesses zumindest zu Beginn des Projektes in jedem Fall gegeben waren, nur unzureichend genutzt. Ob und wie sich eine stärker auf Kommunikation nach außen hin orientierte Haltung in der Nutzung des ‚Ehrenmals‘ entwickelt, bleibt abzuwarten. Bislang deutet jedoch wenig darauf hin, dass von dort neue Impulse zur Förderung der Kommunikation zwischen dem Militär und der Gesellschaft ausgehen könnten.
71 72 73
Soeffner (2000), S. 259. Soeffner (2000), S. 271. Soeffner (2000), S. 256.
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Humanitarian Assistance – Herausforderung an den Sanitätsdienst Von Lutz Nolde
I. Comprehensive Approach Die Herausforderungen auf Grund der sich verändernden Ansätze zur Krisenbewältigung – weg von rein militärischen Lösungen hin zu im nationalen Bereich ressortübergreifenden, im Bereich der NATO und EU multinationalen und kombinierten zivilen und militärischen Anstrengungen – führen auf der strategischen, der militärstrategischen und der operativen Ebene zu einer gesteigerten Notwendigkeit auf Seiten militärischer und ziviler Akteure, gemeinsam und koordiniert ihre Fähigkeiten und Mittel einzusetzen. Ziel des „comprehensive approach“ ist der Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel zur Erreichung gemeinsamer Ziele in Post-Conflict-Situationen, in der Regel die ständige Verbesserung der Sicherheitslage und das Ermöglichen nachhaltiger Entwicklung. Dazu gehören etwa Aktivitäten zur Etablierung eines rechtsstaatlichen Systems, zum Aufbau des Sicherheitssektors, zur Etablierung von „Good Governance1“, zur Unterstützung in der wirtschaftlichen Entwicklung und zur Wiederherstellung der Kernsektoren staatlicher Aufgabenerfüllung wie Bildungs- und Gesundheitswesen, um nur einige zu nennen. In diesem gemeinsamen Ansatz geht es um die Unterstützung des Wiederaufbaus und um die Stabilisierung von Post-Konflikt-Gesellschaften und Staaten. Eines der größten Risiken für den Erfolg sind Bestrebungen nicht-staatlicher Akteure, die Anstrengungen zum Wiederaufbau eines funktionierenden demokratischen Staatswesens auch mit Gewalt zu verhindern. Aus diesem Grunde ist die Herstellung eines sicheren Umfeldes für den Erfolg der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, seien es 1 Governance – the exercise of political, economic and administrative authority in the management of a country’s affairs at all levels. Governance is a neutral concept comprising the complex mechanisms, processes, relationships and institutions through which citizens and groups articulate their interests, exercise their rights and obligations and mediate their differences. Good governance – addresses the allocation and management of resources to respond to collective problems; it is characterised by participation, transparency, accountability, rule of law, effectiveness and equity. Vgl. UNDP (1997).
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internationale Organisationen (IO), staatliche Organisationen (GO) oder Nichtregierungsorganisationen (NGO), eine conditio sine qua non. Der alleinige Einsatz militärischer Kräfte zu diesem Zweck führt jedoch nur kurzfristig zum Erfolg und muss durch Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung und des zukunftssichernden Aufbaus einer tragfähigen Gesellschaft flankiert werden. Nur durch ein gemeinsames abgestimmtes Vorgehen lassen sich die Synergieeffekte des übergreifenden Ansatzes erreichen, den Gabriëlse2 als 3D approach (Defense, Diplomacy, and Development) bezeichnet. Militärische, diplomatische und Entwicklungsanstrengungen müssen so weit wie möglich integriert und koordiniert werden, um die Stärkung der lokalen Institutionen zu erreichen. Dabei sollte der Grundsatz gelten, dass Militär nur dann eingesetzt wird, wenn es sich als notwendig erweist. Die NATO hat sich nach dem Gipfel in Riga 2006 entschieden, diesen Ansatz weiter zu entwickeln. Ein Aktionsplan wurde auf dem Gipfel in Bukarest 2008 verabschiedet. Diese eher auf der strategisch-politischen Ebene angesiedelten Bestrebungen stehen im Einklang mit der Entscheidung der NATO, die Weiterentwicklung des in der MNE (Multinational Experiment)Serie unter der Federführung des US Joint Forces Commands in multinationaler Zusammenarbeit entwickelten und experimentierten Ansatzes zu einem effects based approach to operations (EBAO)3 in der Federführung der NATO zu betreiben. Kernelemente des EBAO sind die Fokussierung auf einen Endzustand, die Orientierung auf Effekte, die Verhalten und Fähigkeiten von Schlüsselakteuren mit Zielrichtung auf diesen Endzustand beeinflussen sollen, das Verständnis des Operationsraumes als eines Systems von Systemen, die Analyse dieses Systems, um die Zusammenhänge zwischen Aktionen und Effekten zu verstehen, die Abstimmung der Beiträge verschiedener (militärischer und ziviler) Instrumente der NATO, souveräner Staaten und anderer Akteure sowie eine dauernde Überprüfung der Effektivität der Aktionen.4 Diese Gedanken sind, unter Aufgabe des Begriffes EBAO, in die Weiterentwicklung der Guidelines for Operational Planning (GOP)5 zur Comprehensive Operations Planning Directive (COPD) eingeflossen. Während bei den ersten Experimenten die Entwicklung der Gedanken zum effects-based planning sowie die erforderlichen technischen und orga2
Vgl. Gabriëlse (2007). EBAO ist die kohärente und übergreifende Anwendung der verschiedenen Instrumente der Allianz, verbunden mit der Kooperation mit beteiligten Nicht-NATOAkteuren, um Effekte zu erzeugen, die notwendig sind, geplante Ziele und schließlich den NATO-Endzustand zu erreichen, vgl. NATO (2006). 4 Vgl. hierzu NATO (2007). 5 Vgl. NATO (2005b). 3
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nisatorischen Grundlagen im Vordergrund standen, war bei MNE 4, das mit der Konzeptentwicklung ab 2004 und dem Abschlussevent 2006 unter der Beteiligung von acht Nationen – darunter auch Deutschland – und der NATO stattfand, der gesamte Führungsprozess Objekt der Untersuchung. Das Konzept zur Steuerung und Einsatz sanitätsdienstlicher Kräfte war dabei ein wichtiger unterstützender Teil. Das Experiment zeigte einerseits die Wichtigkeit des Gesundheitssektors bei der Betrachtung eines Operationsgebiets als System von Systemen. Zwei von acht geplanten Effekten bezogen sich auf den Gesundheitssektor. Gesundheitsindikatoren sollten den Erfolg der internationalen Bemühungen beschreiben. Aus Sicht des Sanitätsdienstes stellte sich insbesondere die Wichtigkeit der Beteiligung des medical staff bei allen funktionellen Gruppen heraus, sei es die Planung, die Durchführung, das Assessment oder die grundlegende Funktion des Knowledge Developments. Hinsichtlich des Einsatzes sanitätsdienstlicher Kräfte kam es im Verlauf des Experiments zu Problemen. Erstens waren die zur Verfügung stehenden Kräfte auf der operativen Ebene größtenteils nicht sichtbar. Nach der NATO-Doktrin sind sanitätsdienstliche Kräfte Teil des jeweiligen Kontingents.6 Dies gilt grundsätzlich bis zur Role 2.7 Nur selten sind der operativen Ebene, dem Joint Force Commander und seinem Medical Director, Sanitätseinrichtungen oder -einheiten direkt assigniert. Zwar sind die Fähigkeiten der einzelnen Einrichtungen und Einheiten grundsätzlich bekannt. Häufig ist es jedoch unklar, inwieweit diese bereits in der Unterstützung eigener Operationen gebunden sind. Hinzu kommen nationale Vorbehalte und Caveats. Gerade im Rahmen der Unterstützung der Zivilbevölkerung sind vielfach nationale Prioritäten und Regeln zu beobachten. Insgesamt lassen sich drei Gruppen von sanitätsdienstlichen Fähigkeiten im Hinblick auf health-related effects beschreiben (s. Abbildung 1). Die erste Gruppe sind die sanitätsdienstlichen Fähigkeiten, die für die Unterstützung der Truppe vorgesehen sind und zu health-related effects nicht beitragen können. Hier gibt es aus militärischer Sicht keine Probleme. Die Verantwortlichkeiten sind klar geregelt, es existiert eine eindeutige C28-Struktur. Die zweite Gruppe sind die für die Unterstützung der Truppe vorgesehenen Fähigkeiten, die zu diesen Effekten sinnvoll beitragen könnten. Die Probleme, die sich aus dem Einsatz dieser Fähigkeiten in effects-based operations ergeben, sind neben der Sichtbarkeit auf der operativen Ebene Fra6
Vgl. NATO (2006). Zur ersten notfallchirurgischen, dringlichen chirurgischen und internistischen Versorgung befähigte sanitätsdienstliche Ebene. 8 C2: Command and Control. 7
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Sanitätsdienstliche Fähigkeiten
ausschließlich sowohl – als auch
sowohl – als auch Health-related Effects
ausschließlich
Versorgung der Streitkräfte
Abbildung 1: Sanitätsdienstliche Fähigkeiten und effects-based-operations
gen der Führung und der Limitationen. Das gegenwärtige Meldewesen der NATO lässt es nicht zu, die Auslastung einzelner Sanitätseinrichtungen und die frei verfügbaren Kapazitäten und Fähigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erkennen. Diese sind abhängig von den laufenden und geplanten Aufträgen auf der taktischen Ebene und der Verfügbarkeit von Personal und Material. Es wird national gesteuert und unterliegt gegebenenfalls zusätzlichen nationalen Restriktionen und Vorgaben, die die Verwendbarkeit dieser Kräfte einschränken können. Da der weit überwiegende Anteil des Sanitätsdienstes integraler Bestandteil der nationalen Kontingente ist, ist der Einsatz für health-related effects in einer multinationalen Kommandostruktur nicht ohne weiteres möglich. Hinzu kommt die Problematik der Aufrechterhaltung der Versorgung der eigenen Soldaten während des Einsatzes von Sanitätskräften als Effektor. Die dritte Gruppe sind die Fähigkeiten, die für die Unterstützung von health-related effects erforderlich sind, die jedoch für die Versorgung der eingesetzten multinationalen Truppe nicht benötigt werden und daher in der Regel auch nicht zur Verfügung stehen. Hier stellt sich natürlich zunächst die Frage, ob das Militär in einem solchen Fall überhaupt zuständig sein kann oder ob die Regierung des Gastlandes im Rahmen ihrer Verantwortung für die Daseinsvorsorge für ihre Bürger, internationale Organisationen oder Nichtregierungsorganisationen im Sinne des comprehensive approach hier tätig werden müssen. Andererseits sind durchaus Fälle denkbar, in denen für eine begrenzte Zeit nur das Militär, sei es auf Grund der Sicherheitslage oder z. B. auf Grund der Unzugänglichkeit eines Gebietes, in der Lage ist, der Bevölkerung Gesundheitsleistungen anzubieten. Die dafür notwendigen Fähigkeiten und Kräfte wären dann im Force-Generation-Prozess zu berücksichtigen.
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II. Funktionen eines Gesundheitssystems Nur die Kenntnis der Funktionen eines Gesundheitssystems, das als ein Subsystem des Gesamtsystems Staat und Gesellschaft angesehen werden kann, ermöglicht den zielgerichteten Ansatz gegebenenfalls auch militärischer Kräfte als Beitrag zum Wiederaufbau und Nation Building. Dies gilt auch für die Behandlung der Frage, ob Sanitätsdienste von Streitkräften in Stabilisierungsoperationen eine Rolle in der Rekonstruktion des Gesundheitssektors spielen sollen, ob sie die Fähigkeiten dazu haben und unter welchen Rahmenbedingungen dies geschehen kann. Das Gesundheitssystem ist definiert als „alle Organisationen, Institutionen und Ressourcen, die vorgesehen sind, gesundheitsbezogene Aktionen (health action) zu gestalten“. Dabei ist „health action“ definiert als „jedes Bestreben, sowohl in der Krankenversorgung, im Bereich Public Health als auch durch sektorübergreifende Initiativen, dessen primäres Ziel es ist, die Gesundheit zu verbessern“.9 Ein Gesundheitssystem kann allgemein beschrieben werden durch die Funktionen Gesundheitsversorgung, Steuerung und Verwaltung, Finanzierung, Organisation der Ressourcen und ihre Entwicklung sowie Datengewinnung und -verarbeitung. – Die Gesundheitsversorgung umfasst dabei Maßnahmen der Präventivmedizin und Gesundheitsvorsorge, darunter auch Aufgaben des Gesundheitsschutzes, die stationäre und ambulante Behandlung, Rehabilitation, Rettungswesen, die Verfügbarkeit von Arzneimitteln etc. – Im Bereich Finanzierung geht es um die Regelung der Finanzflüsse im Gesundheitswesen, das Krankenversicherungssystem, die Steuerfinanzierung, das Abrechnungsverfahren, die Gebührenordnungen und weitere Gebiete. – Mit der Ressourcenentwicklung werden andere Sektoren, insbesondere das Bildungswesen und die Ökonomie berührt. Es geht um die Ausbildung des benötigten Personals, die Entwicklung einer pharmazeutischen Industrie, einen funktionierenden Markt für Medizingerät und ähnliches. – Steuerung und Verwaltung umfasst die konzeptionellen und organisatorischen Grundlagen des Gesundheitssystems von der Abbildung auf der ministeriellen Ebene bis zur Gesundheitsstation in einem Dorf, die Führungs- und Steuerungsverfahren, Verantwortlichkeiten und gesetzliche Regelungen. In einem engen Zusammenhang sind die beiden letzten Bereiche zu sehen. 9
Vgl. World Health Report (2000).
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– Die Organisation der Ressourcen, die Art und Weise der Bereitstellung der Leistungen des Gesundheitssystems für die Bevölkerung, ist im Allgemeinen abhängig von einem gesellschaftlich-politischen Konsens. Sie kann theoretisch von einem komplett staatlich gesteuerten und finanzierten Fürsorgesystem mit staatseigenen Einrichtungen bis hin zu einem weitgehend privatwirtschaftlichen System reichen. – Datengewinnung und -verarbeitung sind die entscheidenden Funktionen des Gesundheitssystems, um eine Steuerung erst zu ermöglichen, die Effektivität und Effizienz des Systems zu ermöglichen und kontinuierlich zu überprüfen. Insbesondere in einer Aufbausituation wird die Evaluation der ergriffenen Maßnahmen, der Projekte und Programme sowohl gegenüber den verantwortlichen Stellen der Regierung wie auch gegenüber den Donatoren ermöglicht.
III. Folgen von Gewalt und Konflikten auf Gesundheitszustand und Gesundheitswesen10 Bei bewaffneten Auseinandersetzungen wird auch das Gesundheitssystem in Mitleidenschaft gezogen. Dies betrifft nicht nur die Einrichtungen und Gebäude, sondern auch andere Aspekte des Gesundheitssystems. Es ist eine Steigerung der Mortalität, Morbidität und Invalidität zu beobachten. Grund für die Steigerung der Mortalität sind neben externen Ursachen wie direkter Waffenwirkung wie Minenunfällen übertragbare, aber auch nicht übertragbare Krankheiten. Dies betrifft insbesondere die vulnerablen Gruppen wie Ältere, Schwangere und Gebärende sowie Kinder. Grundsätzlich steigt die Kindersterblichkeit. Die Mortalität an nicht übertragbaren Erkrankungen steigt auf Grund höherer Belastung durch veränderte Lebensumstände, aber auch durch normalerweise durch medizinische Versorgung behandelbare Krankheiten wie Asthma oder Diabetes. In einer Gesellschaft mit zumindest rudimentär funktionierendem Gesundheitssystem treten vermeidbare Krankheiten wie Masern, Tetanus und Diphterie vermehrt auf. Dies liegt an dem sinkenden Anteil der geimpften Bevölkerung, den Bevölkerungsbewegungen, überbelegten Flüchtlingslagern, eine erhöhte Exposition gegenüber Vektoren und andern Umweltfaktoren wie verschmutztem Wasser, Reduktion von Gesundheitsprogrammen und deren Reichweite und fehlendem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Auch das Infektionsrisiko für eine HIV-Infektion und andere sexuell übertragbare Erkrankungen steigt. Als Ursache angesehen werden neben der in vielen Streitkräften hohen Prävalenz von HIV-Infektionen die Möglichkeit, 10
Zu Folgendem vgl. Krug et al. (2002).
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sexuelle Dienstleistungen zu erzwingen oder zu kaufen und die hohe Mobilität bewaffneter Formationen während des Konfliktes, aber auch nach der Demobilisierung. Für Flüchtlinge und innerhalb staatlicher Grenzen Vertriebene (internally displaced people – IDP) steigt das Infektionsrisiko, weil sie einerseits allgemein einem größeren Risiko ausgesetzt sind, Opfer von sexuellem Missbrauch und Gewalt zu werden. Andererseits ist es für diese Gruppe wahrscheinlicher, auf Grund des Verlustes der normalen Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhaltes sich der Prostitution zuzuwenden. Auch die Sicherheit des in Notfällen verwendeten Blutes kann manchmal nicht mehr gewährleistet werden. Beobachtet wurden im Umfeld von Konflikten mehr Tot- und Frühgeburten und Geburten mit niedrigerem Geburtsgewicht sowie eine erhöhte Anzahl von Komplikationen. Auch Mangelernährung ist häufig, zurückzuführen auf den Niedergang von Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion und den Rückgang des zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens. Der nach Konflikten zu beobachtende Anstieg an Invalidität ist neben Behinderungen durch Verwundungen oder Verlusten von Gliedmaßen insbesondere auf den Gebrauch von Landminen zurückzuführen. Diese sorgen auch Jahre und Jahrzehnte nach einem Konflikt für zusätzliche Fälle. Auch die Zahl psychischer Erkrankungen als Folge von Traumen oder Belastungen wie den Verlust von Heimat, wirtschaftlicher Lebensgrundlage und gesellschaftlicher Stellung steigt nach Konflikten. So wurden erhöhte Raten an Depressionen, Drogenmissbrauch und Selbsttötungen beobachtet. Die Finanzierung des Gesundheitswesens leidet, wie andere Sektoren wie z. B. Bildung, unter dem Mangel an Steueraufkommen durch ein unsicheres Umfeld und einen Rückgang wirtschaftlicher Tätigkeit. Andere Einkommensquellen wie Tourismus versiegen völlig, während die Ausgaben für Sicherheit und Militär steigen. Die Vernichtung oder Beschädigung wichtiger Infrastruktur wie Wasserwerke, aber auch der Verkehrsinfrastruktur hat direkte und indirekte Auswirkungen auf den Gesundheitszustand und das Gesundheitswesen. Der Zugang zum Gesundheitswesen und Gesundheitseinrichtungen kann auf Grund der Sicherheitslage, aber auch reduziertem geographischen Zugang durch den Zusammenbruch eines funktionierenden Transportsystems (Busse, Straßen, Checkpoints), reduziertem ökonomischem Zugang (höhere Bezahlung für Leistungen bei geringerem Haushaltseinkommen) oder anderen Gründen erschwert oder unmöglich sein. Die Gesundheitsinfrastruktur kann durch die Zerstörung oder Plünderung von Gebäuden, aber auch Fahrzeugen, Medizingeräten, Materialien und Me-
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dikamenten in Mitleidenschaft gezogen sein. Auch die für ein Funktionieren erforderlichen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen, Versorgungs- und Kommunikationssysteme können gestört sein. Auch die Menschen, die im Gesundheitssektor arbeiten, werden durch das Konfliktgeschehen berührt. Auch unter diesen gibt es Verwundete, Vertriebene und Getötete oder Geflüchtete. Die Bezahlung im öffentlichen Gesundheitssektor ist häufig nicht ausreichend, so dass es zur Abwanderung ausgebildeten Personals oder zu zusätzlichen Geldforderungen an die Patienten und damit zu ökonomischen Zugangshindernissen kommt. Für das noch vorhandene Personal fehlt es an Fortbildung und Training. Medikamente sind häufig nicht oder nicht in ausreichendem Maße vorhanden, was wiederum die Mortalität an normalerweise behandelbaren Krankheiten erhöht. Die Wartung und Instandhaltung von Medizingerät ist schwierig oder unmöglich, der Zugang zu neuen technologischen Entwicklungen versperrt. Schon das Aufrechterhalten einer Kühlkette für Impfstoffe für Impfkampagnen ist eine Herausforderung. Dies alles hat Auswirkungen auf die Aktivitäten des Gesundheitssektors. Grundsätzlich ist eine Verschiebung von der Basis- und Grundversorgung hin zur Krankenhausversorgung zu beobachten. Die Versorgung konzentriert sich auf die Städte; ländliche Gebiete sind nicht selten unterversorgt. Es kommt zu einer Reduzierung von Aktivitäten in der Peripherie und auf kommunaler Basis. Präventivmedizinische Programme sowie Aufklärungsprogramme und -kampagnen werden selten oder verschwinden ganz. Dies gilt auch für Programme zur Vektorkontrolle und für Public-Health-Programme. Die allgemeine Schwächung von Regierungsfunktionen führt auf dem Gesundheitssektor zu einer mangelnden Kontrolle und Koordination der Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen und Donatoren. Entscheidungsrelevante Informationen fehlen. Auch die Fähigkeit, auf Katastrophen zu reagieren, wird durch Konflikte beeinflusst. Neben einem eingeschränkten Zugang zu einzelnen Gebieten besteht ein höheres Risiko für das eingesetzte Hilfspersonal. Das Fehlen einer wirksamen zentralen Führung und Kontrolle führt zu erhöhten Kosten und geringerer Koordination und Kommunikation zwischen den beteiligten Organisationen. Der Fokus liegt eher auf einzelnen Problemen und Programmen, die nur schwer in ein übergreifendes, koordiniertes Konzept eingeordnet werden können.
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IV. Nothilfe und (Wieder-)Aufbau des Gesundheitssektors Die Unterstützung der Bevölkerung durch die internationale Gemeinschaft auf der Primary Heath Care-Ebene (PHC), die Basisversorgung, ist in einem komplexen, unsicheren Umfeld besonders schwierig. Zu überwinden sind praktische Schwierigkeiten wie unzureichender Zugang zu den Hilfsbedürftigen auf Grund der Unsicherheit und logistische Herausforderungen. Die in Entwicklungsländern häufig bereits bestehende Unterversorgung wird durch die sinkenden Möglichkeiten des Gesundheitssystems, die gesteigerte Nachfrage durch die oben geschilderten indirekten Folgen von Konflikten und die direkten Folgen von Krieg und Gewalt verstärkt.11 Der einfachste Ansatz für die Hilfe ist bei den direkten Folgen. Beispielsweise werden Programme für die Versorgung von Verwundeten und Versehrten durchgeführt. Vorteil dabei ist der klare Fokus, die volle Kontrolle der durchführenden Organisation und eine eindeutige Exit-Strategie. Auch Impfprogramme bieten diese Vorteile und zusätzlich eine günstige KostenNutzen-Relation. Allerdings ist die größte Herausforderung in von Konflikten betroffenen armen Staaten die Zunahme von ohnehin endemischen Infektionskrankheiten in Kombination mit einem geschwächten Gesundheitssystem. Hier muss der Ansatz der Stärkung bzw. Etablierung einer Grundversorgung verfolgt werden. Diese Versorgung, die in erreichbarer Nähe zu der bedürftigen Bevölkerung angeboten werden muss, ist in Flüchtlingslagern und ähnlichen Bereichen leicht zu organisieren. Um allerdings die in der Folge von Konflikten weit verstreute oder ländliche Bevölkerung zu versorgen, bedarf es größerer Anstrengungen. In der Regel ist es notwendig, noch vorhandene PHC-Einrichtungen zu unterstützen oder wieder zu errichten. Dies ist möglich durch Wiederherstellung der Infrastruktur, Training des verbliebenen Personals und Sicherstellung einer Medikamentenversorgung. Alle Maßnahmen sollten in Abstimmung mit den lokalen Autoritäten erfolgen, um auch im Hinblick auf weitergehende Ziele wie Stärkung der Eigenverantwortung und Nachhaltigkeit voranzukommen. Das Ziel der Hilfe sollte immer die Übernahme durch die eigentlich verantwortlichen Stellen der lokalen Regierung sein. Zu beachten ist dabei, dass eine Übernahme auch im Hinblick auf die in der Folge erforderlichen Ressourcen, seien sie finanzieller, personeller oder technischer Art, überhaupt möglich ist. Gleiches gilt übrigens auch bei der Versorgung des einzelnen Patienten, für den eine gegebenenfalls notwendige Folge- und Weiterversorgung im lokalen Gesundheitssystem möglich sein muss. Das Problem von Gesundheitssystemen gerade in von Konflikten beeinträchtigten Staaten ist eine erhebliche Unterfinanzierung. Es kann zu der eigentlich paradoxen Si11
Vgl. Sondorp/Bornemisza (2004).
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tuation kommen, dass diese Staaten durch massive internationale Unterstützung in Folge des Konflikts bessere Qualitätsindikatoren zeigen als nach einer Stabilisierungsphase und dem folgenden Rückzug der internationalen Gemeinschaft. Bei der Gestaltung der internationalen Unterstützung sind die Fälle „humanitarian Relief“ oder Nothilfe, „humanitarian assistance“ oder Unterstützung der Zivilbevölkerung und „development“ oder Entwicklungszusammenarbeit zu betrachten. Es gibt dabei keine scharfe Trennung zwischen „assistance“ und „development“, sondern es handelt sich dabei um ein Kontinuum von Maßnahmen, Projekten und Programmen. Auch gibt es keine allgemeingültige Definition der Begriffe, wohl aber allgemeingültige Prinzipien. Durch die Oslo Guidelines12 werden drei Typen humanitärer Aktivitäten durch Streitkräfte unterschieden. Direct Assistance ist die direkte Versorgung mit Versorgungsgütern und Leistungen, Indirect Assistance ist die etwas weiter entfernte Unterstützung wie Transport von Gütern und Personal und Infrastructure Support bedeutet das Erbringen genereller Leistungen wie die Instandsetzung von Straßen, Luftraumordnung und Stromerzeugung, die für die Katastrophenhilfe nötig sind, aber nicht notwendigerweise für die betroffenen Bevölkerung sichtbar oder nicht nur zu ihrem Nutzen erbracht werden. Unterstützung durch Streitkräfte soll grundsätzlich nur als Mittel der letzten Wahl eingesetzt werden, das heißt, wenn keine vergleichbaren zivilen Fähigkeiten zur Verfügung stehen oder nur durch den Einsatz militärischer Kräfte die humanitären Bedürfnisse erfüllt werden können. Dabei sollen die Grundprinzipien der Humanität, Neutralität und Unparteilichkeit erfüllt werden. Humanität bedeutet Hilfe zu leisten, wo immer diese erforderlich ist, mit besonderem Augenmerk auf die vulnerablen Gruppen. Würde und Rechte der Hilfsbedürftigen sind dabei zu achten. Neutralität bedeutet Hilfeleistung ohne Beteiligung an Feindseligkeiten und ohne Parteinahme in politischen, religiösen oder ideologischen Kontroversen. Unparteilichkeit bedeutet Hilfeleistung unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Nationalität, politischer Meinung, Rasse oder Religion des Hilfsbedürftigen. Dabei bleibt die Hauptverantwortung für die Hilfeleistung bei der betroffenen Regierung. Die eingesetzten Kräfte sollten unbewaffnet und in nationaler Uniform auftreten. Auch die Sorge für die Sicherheit des eingesetzten Personals sollte dem betroffenen Staat obliegen. Des Weiteren sollen militärische Kräfte, soweit möglich, nicht in der direkten Unterstützung eingesetzt werden, da diese primär Aufgabe der huma12 Vgl. Guidelines on the Use of Military and Civil Defence Assets in Disaster Relief (2006).
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nitären Organisationen sei. Auch soll der Einsatz zeitlich begrenzt sein. Eine Exit-Strategie wird gefordert, die die Übergabe an zivile Kräfte beschreiben soll. Der „Code of Conduct for the International Red Cross and Red Crescent Movement and Non-Governmental Organisations (NGOs) in Disaster Relief“ ist ein Verhaltenskodex für Helfer, der durch die Föderation der Rotkreuzgesellschaften unter Mitarbeit anderer Hilfsorganisationen entwickelt wurde. Als Grundlage für die Oslo-Guidelines sind einige der Prinzipien dort bereits enthalten. Ergänzend wird klargemacht, dass die Gewährung von Hilfe nicht von der Akzeptanz der (religiösen oder politischen) Überzeugungen des Helfenden durch den Hilfsbedürftigen abhängig gemacht werden darf. Hilfsorganisationen sollen nicht als Instrumente der Außenpolitik agieren. Bei der Unterstützung ist die Kultur und Gesellschaft der Hilfsbedürftigen zu respektieren und die Hilfeleistung so weit wie möglich auf lokale Fähigkeiten abzustützen. Die Hilfeleistungen sind, wo immer möglich, in ein übergeordnetes Konzept einzuordnen. Dabei ist die lokale Bevölkerung einzubeziehen. Die langfristige Entwicklung soll Berücksichtigung finden, indem durch die Hilfe die Widerstandsfähigkeit gegen Katastrophen gestärkt und eine Abhängigkeit vermieden werden soll. Der Erfolg soll sowohl für Geldgeber wie für die Bevölkerung überprüfbar sein. Zum Verhältnis von Militär und zivilen Organisationen in so genannten „complex emergencies“ hat das IASC13 2004 in einen Referenzpapier Prinzipien und Konzepte sowie praktische Folgerungen daraus veröffentlicht. Auch hier stehen die grundlegenden Prinzipien der Humanität, Neutralität und Unparteilichkeit an vorderster Stelle. Gerade in komplexen Situationen ist jedoch aus Sicht der humanitären Organisationen eine Koordination oder Zusammenarbeit mit Streitkräften zunächst einmal eine Kompromittierung der eigenen Neutralität, die nur unter dem Primat der Humanität, der Hilfe13
Das Inter-Agency Standing Committee, IASC, ist eine Organisation der Vereinten Nationen mit der Aufgabe die Koordinierung von humanitärer Hilfe sowohl zwischen UN-Organisationen als auch Nicht-UN-Organisationen zu verbessern. Mitglieder sind United Nations Children’s Fund (UNICEF), United Nations Development Program (UNDP), Food and Agrculture Organization (FAO), Word Food Program (WFP), World Health Organization (WHO), United Nations Population Fund (UNFPA), United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), Office for Humanitarian Affairs (OCHA). Regelmäßig nehmen an den Sitzungen teil das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, die Internationale Organisation für Migration (IOM), das Steering Committee for Humanitarian Response (SCHR), InterAction, das International Council of Voluntary Agencies (ICVA), Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR), Office of the Special Representative of the Secretary General on the Human Rights of Internally Displaced Persons (RSG on Human Rights of IDPs) und die Weltbank.
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leistung für diejenigen in Not akzeptabel wird. So wird die Zusammenarbeit mit dem Militär, insbesondere zur Gewährleistung des sicheren und gesicherten Zugangs zur hilfsbedürftigen Bevölkerung, nicht abgelehnt. Dabei wird im Rahmen dieser Zusammenarbeit eine klare Unterscheidbarkeit zwischen militärischem und zivilem Personal gefordert. Als weiteres Kriterium gilt die operative Freiheit der humanitären Aktivitäten, zu der die Bewegungsfreiheit, die Freiheit zur Durchführung unabhängiger Lagebeurteilungen, der Auswahl des Personals und des Informationsaustausches mit anderen Organisationen und den Medien zählen. Der Grundsatz „Do No Harm“ und das internationale Recht sind genau so zu berücksichtigen wie die Abhängigkeit der humanitären Hilfe von der Unterstützung militärischer Kräfte. Der „Do No Harm“-Ansatz ist der Versuch, den durch Hilfe in Konfliktgebieten möglichen Beitrag zur Konfliktverlängerung zu erkennen und in Zukunft zu vermeiden oder wenigstens zu verringern. Das „Do No Harm“-Projekt14 untersuchte 1994 mit 14 Feldstudien in 13 Ländern Konflikte (Burundi, Bosnien-Herzegowina, Georgien, Guatemala, Indien, Israel, Kambodscha, Kroatien, Libanon, Mosambik, Pakistan, Somalia, Tadjikistan). Tatsächlich ergab die Zusammenschau der Fälle gewisse Muster, wie Hilfsprojekte kriegsverlängernd und -fördernd wirkten. Generell unterliegen alle Organisationen, die materielle Hilfe leisten, dem Risiko, unerwünschte Verteilungseffekte hervorzurufen und Botschaften auszusenden, die die friedensstiftenden Kräfte schwächen können. Der „Do No Harm“-Ansatz sucht gezielt nach friedensfördernden Kapazitäten im Projektumfeld und versucht diese zu stärken. Darüber hinaus werden implizite ethische Botschaften gesendet, die sich die Helfenden in der Auseinandersetzung mit dem „Do No Harm“-Ansatz bewusst machen sollten. Als Mittel zur Verhinderung unerwünschter Wirkungen dient ein Fragebogen. Die Problematik der Nothilfe schildert Gardemann: „Humanitäre Soforthilfe oder Nothilfe wird als kurzfristige Maßnahme gesehen, um eine akute Unterversorgung im Bereich der Infrastruktur oder auf medizinischem Gebiet zu überbrücken. [. . .] In allen Katastrophensituationen kann durch Übergewicht akutmedizinisch-technischer Rettungsdienste ein Interessenkonflikt zwischen Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit entstehen. [. . .] Nothilfe kann daneben unbeabsichtigt lokales Personal aus vorhandenen Gesundheitsdiensten abwerben und pharmazeutische oder technologische Abhängigkeiten der betroffenen Bevölkerung hervorrufen. Zudem können Konflikte entstehen, wenn sich die nicht direkt betroffene Mehrheitsbevölkerung schlechter versorgt fühlt als die Flüchtlingsbevölkerung“ (Gardemann 2007). Im Allgemeinen ist jedoch die Nothilfe, auch durch den 14
Vgl. http://www.cdainc.com/ (zuletzt aufgerufen am 7. Juli 2011).
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Sanitätsdienst der Bundeswehr, bei der Berücksichtigung der grundlegenden humanitären Prinzipien unproblematisch. Anders sieht es beim Beitrag zum Wiederaufbau aus.
V. Rolle des Sanitätsdienstes beim Wiederaufbau Träger des Wiederaufbaus sind in der Regel IOs und NGOs in Programmen und Projekten. Aufgabe von Streitkräften ist die Herstellung des sichern Umfeldes. Trotzdem wird nicht selten auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr im Bereich des Wiederaufbaus tätig. Die Nutzung der im Einsatz vorhandenen sanitätsdienstlichen Fähigkeiten ergibt sich aus der Notwendigkeit zu helfen, als Beitrag zu Informationsoperationen und als Teil von CIMIC15-Maßnahmen. Die veränderten Rahmenbedingungen haben für die sanitätsdienstlichen Kräfte erhebliche Veränderungen in der Planung von Einsätzen, in den Aufgaben im Einsatz, insbesondere in der Frage der Versorgung von Bevölkerung, und erweiterte Einsatzaufträge wie Ausbildung, Training, Beratung und Aufbau von Infrastruktur zur Folge.16 Die Hauptaufgabe bleibt nach wie vor die Versorgung der eingesetzten Streitkräfte, jedoch kann je nach dem Charakter des Einsatzes eine Erweiterung des zu versor-genden Personenkreises erfolgen. Dies mag neben dem Personal anderer Ressorts wie Polizisten und Mitarbeiter von Organisationen wie THW oder GTZ auch Mitarbeiter von NGOs, Angehörige anderer Nationen oder auch lokale Beschäftigte und weitere Personengruppen umfassen. Der Wiederaufbau eines funktionierenden Gesundheitssektors kann Teil eines umfassenden Ansatzes sein. In Afghanistan, so eine Studie der RAND Corporation17 über die US-amerikanischen Bemühungen, sind es drei große Problemfelder, die einen Erfolg verhindern. Dies ist neben einer ungenügenden gemeinsamen Planung und Koordination der militärischen und zivilen US-Regierungsorganisationen, das Fehlen eines übergreifenden Planes und der für eine Implementierung notwendigen Ressourcen sowie eine Fehleinschätzung und Nichtberücksichtigung der verschiedenartigen Auswirkungen gewaltsamer Aufstände und Unruhen auf Sicherheit, Stabilisierung und Wiederaufbau. Die Konzentration auf den Gesundheitssektor bietet die Möglichkeit, den Einfluss der Taliban zurückzudrängen, die afghanische Regierung zu unterstützen und die Basis für wirtschaftliches Wachstum zu legen. Für Thompson sind Interventionen auf dem Gebiet der 15 16 17
CIMIC – Civil Military Coordination. Vgl. Bricknell (2007a). Vgl. Jones et al. (2006).
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Gesundheit ein wichtiger Teil einer politischen Strategie, die moralische Basis für amerikanische Aktionen zu stärken, das Vertrauen gemäßigter Muslims zurückzugewinnen und Terroristen und religiösen Extremisten den sicheren Hafen in unkontrollierten Gebieten zu verweigern.18 Dazu sei es erforderlich, geeignete medizinische Aktivitäten in eine zeitlich abgestimmte Folge von Maßnahmen im gesamten Konfliktspektrum einzuordnen. Die Bereitstellung medizinischer Versorgung und anderer grundlegenden Versorgungsnotwendigkeiten wie Wasser- und Stromversorgung oder Bildung unterstützen dabei Counterinsurgency-Operationen. Dabei sei die Rolle des militärischen Sanitätsdienstes nur in einem instabilen Umfeld oder in einer aktiven Konfliktphase gegeben, ansonsten sei dies die Aufgabe von NGOs. Thompson bewertet die Anstrengungen auf dem Gesundheitssektor als nicht zufriedenstellend. Auf Grund unzureichender Abstimmung und ungeklärter Verantwortlichkeiten würden zu viele Anstrengungen in die direkte Versorgung der Bevölkerung durch militärisches medizinisches Personal investiert. Dabei werden jedoch langfristige Ziele, insbesondere der Aufbau des Vertrauens in die eigene Regierung, unterminiert. Die militärischen Sanitätsdienste haben zusätzlich eine Rolle in der Unterstützung der lokalen Sicherheitskräfte. Dies gilt primär für die direkte Versorgung in gemeinsamen Operationen. Aber auch beim Aufbau der Sicherheitskräfte, seien es die regulären Streitkräfte, Heer, Luftwaffe oder Marine, oder die Polizei, kann die Expertise der eingesetzten Spezialisten hilfreich sein. Zu beachten ist dabei allerdings, dass die Anforderungen eines Sanitätsdienstes in einem Land, in dem die Aufgabe der neuen Sicherheitskräfte in der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung gegen Kräfte und Gruppierungen, für die diese Entwicklungen negativ sind, deutlich andere sind als die von Streitkräften, die im Sinne von expeditionary forces entfernt von ihrem Heimatland eingesetzt sind. Die Anforderung ist weniger ein großer, verlegbarer militärischer Sanitätsdienst, sondern ein auf präklinische Versorgung und Transport zu festen Einrichtungen ausgerichtetes System. Dieses System wird mit dem Wiederaufbau des zivilen Gesundheitssystems konkurrieren. Dies gilt für Ressourcen finanzieller, materieller, aber insbesondere personeller Art. Die Sicherheitskräfte sind in durch Gewalt und Unruhen geprägten Gesellschaften nach kollektiven Gewaltereignissen wie Krieg, Bürgerkrieg, Aufständen und Revolutionen häufig eine der wichtigsten, aber auch wenigen Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen. Gleichzeitig ist die gesundheitliche Situation der Bevölkerung angespannt. Das Personal der Sicherheitskräfte muss jedoch einen gewissen Grad von Leistungsfähigkeit und Gesundheit besitzen. Der erste Schritt in der Unterstützung ist also der Aufbau eines funktionierenden, an den Anfor18
Vgl. hierzu und im Folgenden Thompson (2008).
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derungen an den einzelnen Bewerber orientierten Begutachtungswesens. Gleichzeitig müssen Sanitätseinrichtungen aufgebaut werden, die sowohl die täglichen Erkrankungen wie auch Verwundungen versorgen können. Dies erfordert einen erheblichen Ausbildungsaufwand. Diese Ausbildung kann durch die multinationalen Sanitätsdienste unterstützt, durch die Entsendung von Ausbildungspersonal und die Bereitstellung von Praktikumsund Ausbildungsplätzen in den internationalen Einrichtungen vorangetrieben werden. Dies liegt im Interesse der Entsendestaaten, weil nur dadurch die Übergabe der Verantwortung auch für das sichere Umfeld gesichert und der eigene Einsatz erfolgreich beendet werden kann. Der Aufbau des militärischen Sanitätsdienstes muss Hand in Hand mit der Entwicklung des zivilen Gesundheitswesens gehen. Politische Entscheidungen über die Struktur und Organisation des Gesundheitswesens, Verantwortlichkeiten und Zusammenarbeit zwischen dem militärischen und zivilen Gesundheitswesen insbesondere in der klinischen Versorgung müssen getroffen sein, um eine zielgerichtete und effiziente Verwendung von Mitteln sicherzustellen. Zu beachten sind dabei die humanitären Prinzipien. Im Gegensatz zum Selbstverständnis der meisten Nichtregierungsorganisationen ist auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr, wenigstens im Sinne der OsloGuidelines, nicht neutral. Der Sanitätsdienst handelt in der Unterstützung des politischen Willens der Bundesregierung mit dem Ziel der Stärkung der anerkannten lokalen Regierung. Diese ist der Eigner des Aufbauprozesses und legt die grundlegenden Rahmenbedingungen fest (Ownership). Die Tätigkeit des Sanitätsdienstes darf diesen Prozess nicht konterkarieren. Dies bedeutet einen erheblichen, aber notwendigen Abstimmungsprozess mit den lokalen Autoritäten aller Ebenen. In der Durchführung sind die humanitären Prinzipien so weit wie möglich zu berücksichtigen. Auch aus ethischen Gründen ist die Unparteilichkeit unbedingt zu beachten. Eine Einschränkung auf Indirect Assistance und Infrastructure Support, das heißt – in Bezug auf das Gesundheitswesen – die Beschränkung auf eine Unterstützung in den nicht direkt mit der Patientenversorgung befassten Teile wie Ressourcenorganisation und -entwicklung oder Verwaltung und Steuerung, ist unter der Berücksichtigung ärztlicher Ethik nicht akzeptabel, so lange eine Versorgung der Bevölkerung durch das lokale Gesundheitssystem oder NGOs nicht sichergestellt ist. Die Beachtung der Würde und der Rechte der Patienten und die Achtung ihrer Kultur sollten selbstverständlich sein. Der anzubietende Standard muss sich jedoch grundsätzlich an den Möglichkeiten des lokalen Gesundheitssystems orientieren. Die Grundsätze der Subsidiarität und Nachhaltigkeit sind zu beachten. Der Beginn einer Behandlung, die im lokalen Gesundheitssystem nicht fortgeführt werden kann, weil z. B. notwendige Medikamente nicht zur Verfügung stehen, ist in der Regel nicht sinnvoll. Auch bei der Ent-
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wicklung von Arbeitsbeziehungen und Patenschaften etwa mit lokalen Einrichtungen sind diese Grundsätze wichtig. Auf diesen Feldern muss kontingentübergreifend gedacht und gehandelt werden, um nicht im Sinne der Auftragserfüllung unerwünschte Wirkungen zu erzielen, wenn z. B. eine Unterstützungsmaßnahme nach einem Kontingentwechsel ohne Erklärung nicht weiter fortgeführt wird. Die Berücksichtigung des Grundsatzes „Do No Harm“ und die Nutzung der Checkliste19 bei der Planung sanitätsdienstlicher Unterstützungsmaßnahmen kann helfen, hier gravierende Fehler zu vermeiden. Der Grundsatz Do No Harm und das internationalen Rechts sind genau so zu berücksichtigen wie die Abhängigkeit der humanitären Hilfe von der Unterstützung militärischer Kräfte. Die Übergabe in die Hände des lokalen Systems oder von NGOs muss dabei das langfristige Ziel sein. In der Zusammenarbeit mit zivilen Akteuren wird es auf Grund unterschiedlicher Aufträge, Mandate und Philosophien immer wieder zu Friktionen kommen. Wichtig ist, die gegenseitigen Konzepte, Auffassungen und Limitationen zu kennen, zu verstehen und zu akzeptieren. Nur dadurch ist das gemeinsame Ziel, die Übergabe der Verantwortung in lokale Hände erreichbar, so dass sowohl die Streitkräfte als auch die internationalen IO und NGO sich zurückziehen können. Alle Maßnahmen des Sanitätsdienstes, sei es eine Beteiligung an präventivmedizinischen Programmen, die Behandlung und Versorgung der Bevölkerung, Beratung und Unterstützung von Einrichtungen des Gesundheitswesens, materielle oder logistische Hilfe oder Ausbildungs- und Trainingsprogramme, haben sich außer in den Fällen akuter Nothilfe an den gemeinsamen, ressortübergreifenden nationalen, aber auch den internationalen operativen und strategischen Zielen auszurichten. Gewünschte und unerwünschte Wirkungen sind bei der Planung zu berücksichtigen und in der Durchführung zu überwachen. So weit wie möglich müssen auch die Prinzipien der humanitären Hilfe Grundlage der Tätigkeit des Sanitätsdienstes sein. Auf Grund der Erfahrungen mit diesem Tätigkeitsfeld von Sanitätsdiensten insbesondere in Afghanistan zeigt sich, dass eine nicht konsequente Klarstellung der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen insbesondere in der direkten Behandlung der lokalen Bevölkerung, zu einer erheblichen Belastung des eingesetzten Personals führen kann. Auf der einen Seite gilt es, die ethischen Verpflichtungen des Arztes, des Sanitätspersonals gegenüber dem Menschen in Not zu erfüllen, auf der anderen Seite stehen die operativen Notwendigkeiten, die unter anderem die Sicherheit des eingesetzten 19 http://www.cdainc.com/cdawww/pdf/manual/dnh_workbook_Pdf.pdf aufgerufen am 7. Juli 2011).
(zuletzt
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Personals, aber auch der Kameraden betreffen können, und die nicht unbegrenzten Ressourcen. Die Verantwortung der Führung gegenüber dem Einzelnen verlangt, solche Konflikte so weit wie möglich zu erleichtern. Dies ist nur durch die Entwicklung und konsequente Beachtung strikter Regeln für die Behandlung lokaler Patienten zu erreichen, die sowohl gegenüber dem Sanitätspersonal, aber auch gegenüber anderen Soldaten wie auch gegenüber der Bevölkerung kommuniziert werden müssen. Literatur Bertele, M. v. (2006): Medical support to civilian populations on deployed military operations: the UK approach. ADF Health Nr. 7, S. 56–58. Bricknell, M. (2007a): Stability Operations and the Implications for Military Health Service Support, in: The British Army Review. Volume 143, S. 23–35. – (2007b): Reflections on Medical Aspects of ISAF IX in Afghanistan, in: Journal of the Royal Army Medical Corps, Volume 153. Nr. 1, S. 44–51. Bricknell, M./Thompson, D. (2007): Roles for International Military Medical Services in Stability Operations (Security Sector Reform), in: Journal of the Royal Army Medical Corps. Volume 153. Nr. 2, S. 95–98. Gabriëlse, R. (2007): A 3D Approach to Security and Development, in: The Quarterley Journal, Volume 6. Nr. 2, S. 67–74. Gardemann, J. (2007): Humanität und Humanitarismus in der internationalen Soforthilfe: verantwortliches Eintreten für andere in Freiheit. Münsteraner Rotkreuz-Schriften zum humanitären Völkerrecht, Deutsches Rotes Kreuz. Münster. Guidelines on the Use of Military and Civil Defence Assets in Disaster Relief (2006) – „Oslo Guidelines“. Review I. Guidelines on The Use of Military and Civil Defence Assets To Page Support United Nations Humanitarian Activities in Complex Emergencies (2003). ICRC (1994): Code of Conduct for the International Red Cross and Red Crescent Movement and Non-Governmental Organisations (NGOs) in Disaster Relief. Genf. Jones, S. et al. (2006): Securing Health. Lessons from Nation-Building Missions. RAND-Corporation, Washington. Krug, E. G. et al. (Hrsg.) (2002): World Report on Violence and Health. World Health Organization. Genf. NATO (2005a): Allied Joint Medical Support Doctrine. AJP 4.10(A). – (2005b): Allied Joint Doctrine for operational Planning AJP 5. – (2006): MC Position on an MCM-0052-2006, 06.06.2006.
Effects
Based
approach
to
Operations.
– (2007): Effects Based Approach to Operations (EBAO – Handbook). Bi-Sc Predoctrinal Handbook Draft Version 3.1, 19.7.2007.
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NATO Allied Command Operations (2010): Comprehensive Operations Planning Directive. Trial Version. Neuhaus, S. J./Bridgewater, F. (2007): Medical Aspects of Complex Emergencies: The Challenges of Military Health Support to Civilian Populations, in: Australian Defence Force Journal. Nr. 172, S. 56–72. Sondorp, E./Bornemisza, O. (2004): Primary Health Care and Armed Conflict, in: The Journal of The Royal Society for the Promotion of Health, Volume 124. Nr. 6, S. 251–252. Thompson, D. (2008): The Role of Medical Diplomacy in Stabilizing Afghanistan, in: Defense Horizons. Volume 63, S. 1–8. UNDP (1997): Governance for sustainable human development, A UNDP policy document. Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) (2003): Streitkräfte als humanitäre Helfer? Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften in der humanitären Hilfe. VENRO-Positionspapier. World Health Report (2000): Health Systems: Improving Performance. WHO. Genf.
„. . . und schließlich habe ich da noch meine Hände“ Sexualität und Einsatz Von Jörg Keller Trotz aller Aufklärung und durch die Medien suggerierter Offenheit ist die eigene Sexualität auch heute noch ein Thema, welches die meisten Soldaten und Soldatinnen als sehr privates begreifen. In der Zeit von 2003 bis 2007 leitete der Autor im Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SWInstBw) das Forschungsprojekt „Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr“ mit einer ganzen Reihe von Aufenthalten in den Feldlagern der Bundeswehr auf dem Balkan und in Afghanistan. In diesem Zusammenhang wurde von dem Projektteam eine große Zahl von schriftlichen und mündlichen Interviews, teilnehmenden Beobachtungen und Diskussionen zur Datengewinnung geführt. Kaum ein Thema wurde von den Gesprächspartnern im Einsatz ausgespart – mit Ausnahme der Sexualität. Ein gezielter Forschungsauftrag zur Sexualität war jedoch im Projektauftrag des Bundesministeriums der Verteidigung nicht enthalten. So wurde versucht, neben den beauftragten Themen wie der Einsatzmotivation, dem Umgang mit der Trennung von der Familie, dem soldatischen Selbstverständnis, auch dieses Thema nebenbei zu „monitoren“, doch nahezu vergeblich. Dies scheint allerdings kein deutscher Sonderfall zu sein, denn auch die internationale Forschungslandschaft schweigt zu diesen Fragen1. Dabei sind im Zusammenhang Militär und Einsatz eine ganze Reihe von Fragen sowohl von militärisch-organisatorischer aber auch von sozialer Bedeutung, insbesondere wenn sich der Einsatz zu „kriegsähnlichen Zuständen“ oder gar zum Krieg ausweitet. Wie aus den vorangegangenen Bemerkungen bereits deutlich wird, gibt es zu dieser Thematik in der Bundeswehr keine klare und fest umrissene Datenbasis. Insofern kann in den folgenden Ausführungen nur der Versuch unternommen werden, über verschiedene Indikatoren und Quellen einige Schlaglichter auf Sexualität und Einsatz zu werfen, um auf diese Weise einige wenige Konturen herauszuarbeiten. Das Ziel kann nur als ein sehr bescheidenes formuliert werden. Es gilt herauszufinden, ob Sexualität im Zusammenhang mit den Einsätzen bereits Anzei1
Eine interessante Ausnahme macht hier Palmer (2003).
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chen einer Problematik aufweist, die im Zusammenhang mit Entgrenzungen von Gewalt in Kriegshandlungen beschrieben wurde. Die leitenden Fragen für diesen Aufsatz sind daher: Fehlt den Soldaten und Soldatinnen sexuelle Betätigung während der Einsatzzeit überhaupt? Ist fehlende sexuelle Betätigung ein Problem für sie? Sind sie im Einsatz sexuell überhaupt aktiv? Wenn ja, auf welche Weise? Nutzen sie Prostitution? Welche Vorstellung von Sexualität haben sie? Beinhalten diese Vorstellungen problematische Elemente? Bei der sehr dünnen Datenlage können am Ende auch nur vorläufige Antworten gegeben werden.
I. Soldaten, Krieg und Sexualität Soldaten, Krieg und Sexualität haben wenig miteinander zu tun? Ein seit vielen Jahrzehnten in deutschsprachigem Militär kolportierter Witz besagt das Gegenteil. „Bataillonsbefehl: Erste Kompanie plündert, zweite Kompanie brandschatzt, dritte Kompanie vergewaltigt. Mein Platz ist bei der dritten Kompanie!“ Es dürfte nur wenige Bundeswehrsoldaten geben, die nicht im Laufe ihrer Dienstzeit diesen oder ähnliche Witze gehört haben. Ist doch nur ein Witz – oder? Dennoch: Ein Lachen ist nur möglich, wenn mit der dritten Kompanie und ihrem Tun eine „gewisse Sympathie“ gehegt wird; ohne den subtilen und vorbewussten Wunsch, das Einverständnis, Sexualität auch so und ungehemmt ausleben zu können, wird der Witz zum Grauen. Und das Grauen ist den Erzählern bei Nachfrage dann doch bewusst, denn Srebrenica, Ruanda, Kongo und die Vergewaltigungen durch die Rote Armee nach dem Zweiten Weltkrieg sind noch allen bekannt und wohl keiner bleibt davon unberührt. Ein jeder wird die Anmutung, selbst auch zu Vergewaltigungen fähig zu sein, weit von sich weisen; und dennoch waren es nicht die „schwarzen Wilden“ im Kongo, nicht die „roten Horden“ am Ende des und nach dem Zweiten Weltkrieg, zu den Vergewaltigern zählten die Soldaten der Generationen unserer Väter, Großväter und Urgroßväter im Ersten2 und Zweiten Weltkrieg3 – wie es HistorikerInnen und SozialwissenchaftlerInnen deutlich belegt haben. Vergewaltigung in Kriegszeiten ist also von uns persönlich so weit nicht entfernt – auch zeitlich nicht, wie zumindest ein aktenkundiger Vorfall mit US-amerikanischen Soldaten aus dem Irak belegt4. Der Bundeswehr sind solche Schlagzeilen aus den Einsätzen glücklicherweise bisher erspart geblieben. Es könnte, mit Blick auf die Vergangenheit und andere Kriegs- und Krisengebiete, eine trügerische Sicherheit sein, in welcher sich die Bundeswehr 2 3 4
Vgl. Zuckerman (2004). Vgl. Mühlhäuser (2010). Welt-online 22.05.2009.
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zu befinden scheint. Ein Blick in die Veröffentlichung von Refugees International, „Must Boys be Boys? Ending Sexual Expoitation & Abuse in UN Peacekeeping Missions“5 oder in die Untersuchung von Higate „Peacekeepers, Masculinities, and Sexual Exploitation“6 zeigt, dass Sexualität und Einsatz auch heute eine aktuelle Problemlage darstellt. Dass dies nicht nur Soldaten aus „unzivilisierten“ Ländern der sogenannten Dritten Welt betrifft, belegen erschreckend die Schlagzeilen, welche die US-Armee im Zusammenhang mit Stationierungskräften in Süd-Korea machte. „U. S. military bases in the Republic of Korea (commonly known as South Korea) formed an international hub for trafficking women for prostitution and related forms of sexual exploitation. The traffickers recruited and transported women to meet the demand largely created by U. S. military personnel and civilian men in South Korea and the United States. In some cases, the U. S. servicemen themselves were traffickers, working with Asian organized crime networks.“7 Nach der Studie „Modern-Day Comfort Women“ von Hughes waren die U. S. Soldaten nicht nur Konsumenten von Prostitution an den Stationierungsorten, sie beteiligten sich sogar in unterschiedlicher Weise am organisierten Menschenhandel. In unterster Stufe des Traffickings schleusten Soldaten Frauen, die mit dubiosen Visa aus China oder Staaten der ehemaligen Sowjet-Union nach Korea verbracht worden waren, per Scheinehe, welche mit einer lukrativen Prämie versehen war, in die Vereinigten Staaten. Dort angekommen gelangten die Frauen dann sofort in einen die gesamten USA umfassenden Ring, welcher diese Frauen an ständig wechselnden Orten zur Prostitution zwang.8 Prostitution und sexuelle Ausbeutung ist der eine Bereich, welcher der wissenschaftlichen Literatur im Zusammenhang mit Militär und Sexualität regelmäßig genannt wird, Vergewaltigung ist der andere, der häufig sogar mit dem ersten eng verquickt ist.9 Die grauenhaften Geschehnisse der 90er Jahre im ehemaligen Jugoslawien brennen hier noch in der Erinnerung. Wurde bis dahin Vergewaltigung eher als eine Begleiterscheinung der allgemeinen Verrohung im Kriege gesehen, kam mit diesem Konflikt die Diskussion der Vergewaltigung als Kriegsmittel, als Waffe in Gange.10 Dass dies über Bosnien-Herzegowina hinaus auch heute noch ein Thema ist, ge5
Vgl. Martin (2005). Vgl. Higate (2007). 7 Hughes/Chon/Ellerman (2007). 8 Vgl. hierzu die Untersuchung von Hughes/Chon/Ellerman (2007). 9 Wer sich vertieft mit diesem Problemfeld „Sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten“ auseinandersetzen will, dem seien die Arbeiten aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung nahe gelegt. Gerade im Jahr 2009 erschien eine Ausgabe der Institutszeitschrift „Mittelweg 36“ mit diesem Schwerpunkt. 10 Vgl. Stiglmayer (1993). 6
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rät leicht aus dem Blickfeld. „Using rape as a weapon of war has also been used in Afghanistan, Algeria, East Timor, Liberia, Uganda, Sudan, the Democratic Republic of Congo (DRC), Somalia and elsewhere. The forms of sexual violence differ and can be extreme. It includes rape and torture of women in front of the husbands and the other family members, the use of rifles, and other things for insertion, rapes of pregnant women which lead to miscarriages, the mutilation of breasts and other genital organs, mass rapes and other atrocities against women.“11 Kuloglu referiert hier einen Bericht der UNRISD aus dem Jahr 2005. Auch wenn die Bundeswehr hier nicht beteiligt ist, so sind es doch Kriegsschauplätze, welche die Bundeswehr betreffen. Sie war im Kongo, in Ost-Timor, sie ist mit Beobachtern im Sudan und steht als Schutztruppe in Afghanistan, wo sie, auch nach mehrfachem Bekunden des Bundesministers für Verteidigung, immer mehr zur Kriegspartei wird. „Unser Krieg am Hindukusch“12 betitelte Focus-online am 21.12.2010 eine Reportage über deutsche Soldaten im Afghanistaneinsatz. Deutsche Soldaten stehen wieder im Krieg, wie ihre Väter, Großväter und Urgroßväter im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Sind sie im Strudel der Gewalt gefeit gegen die Ausübung sexueller Gewalt?
II. Soldaten, Sexualität und Männlichkeit Dass das Thema „Soldaten und Sexualität“ auch heute und auch für die Bundeswehr einen bedrohlichen Unterton haben, zeigt die Aussage einer Stadträtin aus Munster, dem größten Standort der Bundeswehr in Deutschland vom Dezember 2010 im Zusammenhang mit einer heftigen Debatte im Stadtrat, ob ein Bordell in einem neu auszuweisenden Gewerbegebiet zugelassen werden sollte. Sie würde sich als Frau nach der Einrichtung eines Bordells angesichts so vieler junger Männer in dieser Stadt viel sicherer fühlen. Auch der Vorsitzende der größten Stadtratsfraktion hielt es für angeraten, bei so vielen Männern für ein Bordell zu sorgen.13 Der Subtext dieser Anekdote lautet: „Soldaten sind eine Gefahr für unsere Frauen, selbst hier im tiefsten Frieden!“ Dass es über die Jahre in dieser Hinsicht keine Vorkommnisse mit Soldaten im größten Standort des Heeres gab, wird dabei ausgeblendet. Latent scheint die Gefahr von Übergriffen jedoch in den Köpfen der Menschen vorhanden zu sein. Sind Männer also die geborenen Vergewaltiger, wie es die 2000 von dem Biologen Randy Thornhill und dem Anthropologen Craig T. Palmer publizierte Studie „A Natural History of Rape“14 11 12 13 14
Kuloglu (2008). Focus-online (2010). Vgl. NDR-Fernsehen (2010). Thornhill/Palmer (2000).
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nahelegt? Die Autoren versuchten in dieser Aufsehen erregenden Studie nachzuweisen, dass Männer durch Vergewaltigung einen evolutionären Vorteil hätten. Andere Erklärungsmodelle für Vergewaltigungen, die im vorwissenschaftlichen Raum häufig vorgebracht werden, sind der Psychologie Sigmund Freuds über die Vorstellungen von Sexualtrieb, Triebstau bei Nichtbefriedigung und zwangsläufiger Triebabfuhr entlehnt. Ganz nahe dabei liegt ein biologisch-physiologisches Modell, das die Sexualhormone – hier bei Männern den Testosteronspiegel – bemüht und häufig mit dem Triebmodell kombiniert wird. Hiernach würden Männer simplifiziert wie Dampfkessel funktionieren: „Sexuelle Spannungen bauen sich fortlaufend auf und müssen immer wieder abgelassen werden, damit der Kessel nicht zerbeult oder gar zerplatzt.“15 Dieses Modell „kreist über den Stammtischen“ und schlägt sich auch im Selbstkonzept, in der Vorstellung über die eigene Sexualität nieder. So akzeptierten in Seminaren an der Führungsakademie der Bundeswehr während der Diskussionen zum Thema „Gender und Militär“ etwa ein Drittel bis zur Hälfte der rund dreißigjährigen, zumeist akademisch gebildeten Offiziere diese Vorstellungen als Erklärungsmodell auch für die eigene Sexualität. Die Soldaten stehen damit allerdings nicht allein, es spiegelt die „im Alltagsdenken vorherrschende naturalistische Auffassung von Sexualität“16 wider. Männer sind demnach biomechanische Automaten, die nach einem inhärenten und sie unter Druck setzenden Programm funktionieren. Das „Dampfablassen“ sei ein natürlicher Vorgang, der nur durch die eigene „gute Kinderstube“ eingehegt werde. Allerdings läge die Gefahr nur bei den „Anderen“, die sich nicht „im Griff“ hätten. Dass eine solche Vorstellung von Männlichkeit tatsächlich im militärischen Umfeld wirksam ist, zeigen Reaktionen auf die Vorwürfe gegen UN-Truppen wegen sexuellen Fehlverhaltens: „Allegations of sexual misconduct by UN peacekeeping personnel go back at least as far as the 1992–93 deployment in Cambodia. Those allegations, largely concerning solicitation of prostitution, were dismissed at the time by the mission head with the often-cited observation that ‚boys will be boys‘.“17 In der wissenschaftlichen Diskussion hat sich, im Gegensatz zum Alltagverständnis, ein neues, sozialkonstruktivistisches Paradigma durchgesetzt, das „mittlerweile auch die Geschlechterforschung dominiert [. . .]. Diese Betrachtungsweise wendet sich vom Naturmodell von Sexualität ab und räumt dem Sozialen und Kulturellen eine größere Eigenständigkeit ein. Sexualität wird als historisch und kulturell variabel aufgefasst, was notwendig macht, 15 16 17
Lenz/Funk (2005), S. 24. Lenz/Funk (2005), S. 25. Fleshman (2005), S. 16.
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den historischen und kulturellen Kontext in den Mittelpunkt zu stellen, in dem Sexualität ausgeformt wird. Sexualität wird zugleich nicht als einheitlich, sondern als vielfältig aufgefasst. Es gibt keine natürliche Sexualität, sondern immer nur gesellschaftlich erlaubte Praktiken“18. Unter dieser Prämisse, dass Sexualität und auch die Vorstellungen darüber gesellschaftlich bedingt sind, ist es durchaus plausibel, dass es in unterschiedlichen Bereichen von Gesellschaft, also auch im Militär eigene Vorstellungen von Sexualität gibt, die sich mit dem Kontext verändern. Vermutlich sieht die Welt des Sexuellen im militärischen Kontext innerhalb einer Friedensgesellschaft anders aus als unter den existenziellen Gewalterfahrungen in einem kriegerischen Konflikt. Dass sich sexuelles Erleben bereits unter einfachen Laborbedingungen, in denen Frustration und Gewalterleben nur ganz dezent eingespielt werden können, deutlich verändert, konnte in einer Untersuchung von Howard Barbaree am Queen’s College in Kingston/Ontario aufgezeigt werden.19 Um eine Idee davon zu bekommen, wie sich die Sexualität von Soldaten und Soldatinnen in einem militärischen Einsatz oder gar Kriegseinsatz entwickeln könnte, muss man sich bereits die Friedensbedingungen genauer ansehen, also die Organisationskultur des Militärs im Friedensbetrieb unter Gender-Aspekten analysieren. Dabei ist der Schwerpunkt auf Vorstellungen zur Sexualität zu legen. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Studien zum Geschlechterverhältnis in der Bundeswehr, allerdings legen diese Arbeiten den Schwerpunkt zumeist auf die Integration von Frauen in die Streitkräfte; das Thema „Sexualität“ bleibt jedoch ein blinder Fleck.20 Was lässt sich unter diesen dürftigen Bedingungen überhaupt zur Organisationskultur der Bundeswehr (und hier explizit nur zu den Streitkräften) sagen? Das erste zentrale und kulturbestimmende Merkmal von Militär besteht in seiner Rolle für den Staat: es ist die staatliche Institution, welche zur organisierten Ausübung von Gewalt21 befähigt ist. Hierbei handelt es sich in erster Linie nicht um strukturelle, sondern um extreme, ja für den Gegner tödliche Gewalt. Haltiner spricht in diesem Zusammenhang von der Fähigkeit zur Ausübung „extrasozialer Makroviolenz“.22 Damit trainieren und üben Soldaten Handlungen, die an sich von der Gesellschaft geächtet sind: Handlungen die den Tod anderer Menschen zumindest billigend in Kauf nehmen. Diese Vorbereitung auf Gewalthandlungen betrifft in erster Linie 18
Lenz/Funk (2005), S. 25. N. N. (1992), S. 227. 20 Vgl. hierzu Seifert (1993), Eifler (1995) und (2002), Kümmel (2002) und (2010), Dittmer (2009) und Apelt (2010). 21 Vgl. hierzu Roghmann/Ziegler/König (1977). 22 Haltiner (2006). 19
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die Kampftruppe und nimmt mit den Rollen ab, welche stärker unterstützenden Charakter haben, z. B. bei den Logistiktruppen. Bis zum Afghanistan-Einsatz wurde dieses Training von eigentlich tabuisierten „asozialen Handlungen“ über den Begriff der Verteidigung kompensiert und sozial verträglich gemacht. So gaben auch Soldaten in den Auslandseinsätzen, zu ihrem Selbstverständnis gefragt, nur sehr selten die Rolle des Kämpfers als ihre wichtigste Berufsrolle an.23 Da sich nun aber die Rhetorik im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Einsatz verändert hat und Krieg, Tod, Töten und Fallen, ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis der Bundesrepublik vor Afghanistan, salonfähig geworden sind, dürfte sich das Selbstverständnis auch der Soldaten hin zur Integration der Gewaltausübung verändern. Gewaltausübung und Töten werden zur beruflichen Normalität des Soldaten. In einer juristischen Weiterbildung für alle Dozenten und Dozentinnen an der Führungsakademie der Bundeswehr am 2. Juni 2010 durch den Rechtsberater des Kommandeurs der Führungsakademie, wurde wörtlich herausgestellt, dass „die Soldaten den Willen zum Töten haben müssen“ und dass zum Schutz der eigenen Truppe mittels „targeted Killing’s“ die Aufständischen getötet werden müssten, bevor sie der eigenen Truppe Verluste beibringen könnten – eine sehr gewagte rechtliche Interpretation der Handlungsmöglichkeiten in einem bewaffneten nichtinternationalen Konflikt, der von einer kleinen Anzahl von DozentInnen deutlich widersprochen wurde. Dennoch zeigt dieser Vorfall, der ohne Folgen blieb, die neue Marschrichtung und die Neuinterpretation des Berufs an, in welcher die noch rechtfertigbare Gewalt zur kollektiven (Selbst-)Verteidigung durch Gewalt als einem legitimen politischen Mittel ersetzt wird. Die „Zivilisierung“ des deutschen Militärs und des Selbstverständnisses der SoldatInnen durch die Organisationsphilosophie der Inneren Führung nach dem Zweiten Weltkrieg wird aufgehoben und in eine „Normalität“ gewandelt, in der Gewalt rechtfertigbar ist. Diese unzivilisierte Ausübung von Gewalt ist der Kern, der Nucleus, der Gewaltexzesse und Vergewaltigung in Kriegshandlungen begünstigt. Es ist der Kern der „military masculinity“, welche im Bericht von Refugees International für die sexuellen Übergriffe von UN-Blauhelmen in den Einsätzen verantwortlich gemacht wird. Das zweite deutlich sichtbare und für die Organisationskultur der Bundeswehr wesentliche Merkmal liegt in der Dominanz des männlichen Geschlechts in der Organisation – mit einer einzigen Ausnahme: im Sanitätsdienst. Nach den offiziellen Zahlen des Bundesministeriums der Verteidigung vom 23.12.201024 beträgt der Frauenanteil insgesamt 7,46% (17 515 Solda23 Vgl. hierzu Projektgruppe „Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr“ (2004b). 24 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2010).
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tinnen bei einem Gesamtumfang von 234 640). Rechnet man den Sanitätsdienst mit 22 603 SoldatInnen heraus, so ergibt sich für das Gros ein Frauenanteil von nur noch 4,96% (10 515 Soldatinnen bei einem Umfang von 212 037). Dies entspricht in etwa auch dem Anteil an weiblichen Soldaten in den Einsätzen,25 einschließlich des Sanitätsdienstes. Folgt man der Theorie von Rosbeth Kanter Moss,26 so haben die Frauen in der Organisation außerhalb des Sanitätsdienstes nur einen marginalen „Token“-Status und keinen Einfluss auf die Organisationskultur außer, dass eine Schließung und Abgrenzung der Mehrheit (Männer) gegenüber der Minderheit (Frauen) stattfindet. Die Streitkräfte außerhalb des Sanitätsdienstes und auch die Truppe an den jeweiligen Einsatzorten im Auslandseinsatz können so, schon aus der Numerik folgend, ein Phänomen bilden, das nach Lipman-Blumen als „homosoziale Gemeinschaft“27 bezeichnet wird. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Ort, an welchem die Differenzierung an sozialen Merkmalen so gering ist wie im Militär28 – und dies insbesondere im Einsatz. Eine homosoziale Männergemeinschaft (Frauen bilden diesen Gemeinschaftstypus viel seltener aus) dient der wechselseitigen Orientierung der Angehörigen dieses Geschlechtes aneinander und wird außerhalb des Militärs freiwillig und gern als Ort der Selbstvergewisserung in der Form der Fußballmannschaft, des Sportvereins, des Stammtisches, der Burschenschaft, des traditionellen Golfclubs („No dogs, no Ladies“) aufgesucht. „Homosoziale Männergemeinschaften sind lebensweltliche Orte, an denen sich Männer wechselseitig der Normalität und Angemessenheit der eigenen Weltsicht und des eigenen Gesellschaftsverständnisses vergewissern können. Dies geschieht umso effektiver, je weniger es den Beteiligten bewusst ist, dass die Gemeinschaft genau diese Funktion erfüllt. Insbesondere die geschlechtliche Selbstvergewisserung, also die wechselseitige Bestätigung, was einen (normalen) Mann ausmacht, geschieht gewöhnlich nicht in Gestalt einer expliziten Thematisierung von Geschlechtlichkeit. Wenn man Mitglieder solcher Gemeinschaften fragt, welches der Zweck ihres Zusammenseins ist, dann lautet eine typische, Milieugrenzen überschreitende Antwort: ‚Spaß haben‘ und ‚blödes Zeug reden‘. Fordert man die Männer jedoch auf, ihr Mannsein zum Gegenstand der Diskussion zu machen, dann evoziert das Unverständ25 Aus einer Unterrichtung des Parlamentes durch das BMVg vom 30.03.2010 ergibt sich ein Frauenanteil von 4,76% über alle Einsatzgebiete. Würde man den Sanitätsdienst auch hier herausrechnen, wäre der Frauenanteil nochmals deutlich niedriger. 26 Vgl. Kanter Moss (1977). 27 Lipman-Blumen (1976). 28 Irving Goffman (1973) hat diese Tatsache in anderer Weise mit dem Phänomen der Totalen Institution beschrieben.
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nis, Befremden und Unwillen.“29 Dass es sich um ein Schließungsphänomen handelt, wird nicht gesehen. Es erscheint den Männern eher als ein Produkt des Zufalls, dass hier keine Frauen dabei sind. Theoretisch könnten sie ja dabei sein, aber. . . An einem sehr augenfälligen Merkmal lässt sich diese Schließung und damit auch die Anwesenheit von Frauen als Störung beobachten: In nahezu jeder Reportage zur Integration von Frauen in die Bundeswehr konstatiert die Gruppe, welche die Frau(en) aufzunehmen hatten, dass sich nun die Kommunikation verändert hätte – es werde höflicher miteinander umgegangen – und dass nun mehr Ordnung herrsche. Die Begründung für die Verhaltensänderung findet sich in Zitaten aus Gruppendiskussionen homosozialer Männergruppen bei Meuser: „In gemischtgeschlechtlichen Gruppen (. . .) gibt man sich nicht so, wie man eigentlich ist.“30 Die homosoziale Gemeinschaft taucht im Militär unter einer ganz anderen Bezeichnung auf, sie wird dort Kameradschaft31 genannt und gilt insbesondere im Einsatz als ein sehr prägendes Erlebnis. Die erlebte Kameradschaft wird in den Untersuchungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr32 als ein zentrales Motiv genannt, warum Soldaten bereit sind, wieder in einen Einsatz zu gehen. Kameradschaft in der Form der homosozialen Gemeinschaft hat somit ein Janusgesicht: auf einer Seite ist sie der emotionale Ort, an welchem Männer in der Organisation Militär Orientierung, Bestätigung des eigenen Selbstverständnis und emotionale Bindung finden, auf der anderen Seite steckt gerade in der Schließung nach außen die Gefahr einer Eigendynamik: nicht an gesellschaftliche Normen angepasstes Handeln kann sich in einer selbstverstärkenden Spirale verstärken, insbesondere, wenn im Einsatz oder gar im Krieg das Korrektiv der zivilen Kontrolle durch soziale Zusammenhänge, z. B. Familie, Nachbarschaft, Vereine fehlt. Ein drittes Merkmal der militärischen Organisationskultur verstärkt das Phänomen der homosozialen Gemeinschaft zusätzlich. Es ist die besondere Altersstruktur der Bundeswehr, aber auch anderer Armeen. In ihr sind junge Männer gegenüber der Zivilgesellschaft weit überrepräsentiert. Dies gilt insbesondere für die Truppe in den Einsätzen. Als Beispiel mag die Alters29
Meuser (2001), S. 8. Meuser (2001), S. 9. 31 Kameraschaft hat zwei Begriffsinhalte, welche von Soldaten meist nicht differenziert werden. Zum einen ist es die im Soldatengesetz verankerte Pflicht mit anderen auch unter widrigsten Umständen ohne Ansehen der Person zusammenzuarbeiten. Hierdurch soll auf einer rein organisatorischen Ebene, auch unter Kriegsbedingungen die Funktion sichergestellt werden. Zum anderen wird hier das Band der Gemeinschaft angesprochen, die emotionale Bindung, welche in LipmanBlume’s Begrifflichkeit die homosoziale Gemeinschaft darstellt. 32 Vgl. Biehl/Keller/Kozielski (2004). 30
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struktur des 8. Einsatzkontingentes SFOR33 dienen; hier waren 33 Prozent unter 25 Jahre, weitere 33 Prozent bis 30 Jahre, 11 Prozent bis 35 Jahr und nur 23 Prozent waren älter als 35 Jahre. Mehr als die Hälfte der Soldaten gehört also zu der Altersgruppe, die als die sexuell aktivste gilt. Die Organisationskultur der Bundeswehr wird also von jungen, sexuell aktiven Männern in einer stark ausgeprägten homosozialen Gemeinschaft getragen, der vermutlich das zivilisierende Element der Tabuisierung von Gewalt – durch die Kriegsrethorik politisch gewollt – zunehmend abhanden kommt – ein Befund, der bedenklich stimmen sollte.
III. Soldaten, Sexualität und Einsatz Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln auf eine eher theoretische Art und Weise über Soldaten und Sexualität nachgedacht wurde, soll nun eine Skizze der Situation im Einsatz an Hand der nur dürftig vorhanden empirischen Daten gezeichnet werden. Nachdem oben aufgezeigt wurde, dass die Einsatzkontingente aus besonders jungen Männern im sexuell aktivsten Alter bestehen, ist die erste Frage, die sich aufdrängt: Fehlt ihnen wirklich die Sexualität während des Einsatzes? In den Untersuchungen zur Einsatzmotivation der BundeswehrsoldatInnen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SWInstBw) bei SFOR und KFOR wurde deutlich, dass die Trennung von der Familie oder der PartnerIn bei einem Teil der SoldatInnen das zentrale Motiv war, das sie davon abhielt, sich für einen weiteren Einsatz zu entscheiden.34 Von den etwa 15% der SoldatInnen, die sich persönlich gegen einen weiteren Einsatz aussprachen, gaben 78% eben diese Trennung, gefolgt von 73%, die eine zu lange Einsatzdauer nennen, als Grund an, sich nicht wieder freiwillig für einen weiteren Einsatz bereit zu erklären. Daher wurde genau diese Trennung von der Familie und der Umgang damit zu einem weiteren Untersuchungsschwerpunkt und Forschungsbericht des SWInstBw im Jahr 2004 und 2006.35 In diesen Untersuchungen wurde deutlich, dass etwa die Hälfte der SoldatInnen, welche sich im Einsatz befinden, angeben, tatsächlich unter der Trennung zu leiden (umgekehrt gaben drei Viertel der PartnerInnen zu Hause an, unter der Trennung zu leiden). Mehr als die bloße Trennung scheinen aber Wärme, Nähe und Sexualität zu fehlen. Hier schwanken die Angaben zwischen 73 und 81%. Dies gilt auch für die PartnerInnen am Heimatort. Körperliche Nähe und der Wunsch nach sexueller Betätigung 33 Projektgruppe „Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr“ (2004a), S. 13. 34 Vgl. Biehl/Keller/Kozielski (2004). 35 Vgl. Biehl/Keller/Kozielski (2004) und Tomforde (2006).
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sind demnach ein sehr gewichtiges Bedürfnis dieser Menschen. Ob es tatsächlich ein Problem für die SoldatInnen ist, lässt sich so aus diesen Daten nicht eindeutig herauslesen. Hierauf soll später mit Daten aus einer anderen Untersuchung eingegangen werden. Dass körperliche Nähe und Sexualität fehlen, ist die eine Seite der Medaille, die andere ist die der sexuellen Betätigung im Einsatz. Hier ist die ganze Bandbreite von der Enthaltsamkeit über die Selbstbefriedigung und ein Verhältnis mit einem anderen Partner des eigenen oder des anderen Geschlechts bis hin zur Prostitution denkbar. Aus Sicht des Wissenschaftlers ist dies leider nicht so ohne Weiteres beobachtbar. Es ist auch ein Tabu, welches für den Außenstehenden nicht geöffnet wird. Ähnlich verhält es sich auch in Deutschland mit dem Thema „Prostitution“. Alle Männer wissen zwar, wo Prostituierte zu finden sind, aber keiner war jemals dort. Höchstens innerhalb des engsten Kerns homosozialer Gemeinschaften wird Sexualität preisgegeben oder gar geteilt. Michael Flood hat hierzu eine aufschlussreiche Studie zur Sexualität junger heterosexueller Männer im Alter von 18–26 Jahren an der Australian Defence Force Academy mit dem Titel „Men, Sex, and Homosociality: How Bonds between Men Shape Their Sexual Relations with Women“ vorgelegt.36 Hierin beschreibt er die Bedeutung homosozialer Gemeinschaften für die sozio-sexuellen Beziehungen junger Männer: „Homosociality organizes men’s sociosexual relations in at least four ways. For some of these young men, male-male friendships take priority over male-female relations, and platonic friendships with women are dangerously feminizing. Sexual activity is a key path to masculine status, and other men are the audience, always imagined and sometimes real, for one’s sexual activities. Heterosexual sex itself can be the medium through which male bonding is enacted. Last, men’s sexual storytelling is shaped by homosocial masculine cultures. While these patterns were evident particularly among young men in the highly homosocial culture of a military academy, their presence also among other groups suggests the wider influence of homosociality on men’s sexual and social relations.“37 Leider war die Methodik des Forschungsprojekts „Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr“ nicht geeignet und auch nicht dafür angelegt, in diese geschlossenen homosozialen Gemeinschaften einzudringen, um etwas über das Ausleben von Sexualität zu erfahren. Gerüchte darüber kursieren allerdings zu Hauf innerhalb der Feldlager und werden auch fleißig kolportiert. Ganz beliebt ist die Saga, dass der Feldlager-Betriebsdienst immer wieder Probleme mit der Kanalisation innerhalb des Feldlagers hätte, weil die Rohre durch die heruntergespülten 36 37
Vgl. Flood (2008). Flood (2008), S. 339.
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Kondome verstopft seien. Im Feldlager Prizren im Kosovo galten die Zelte, die nur zu Zeiten der Kontingentwechsel genutzt wurden, als Liebesnester. Auch sonst gab es jede Menge Tratsch über Beziehungen oder Quellen der Prostitution. Jedoch alles nur hinter vorgehaltener Hand und mindestens aus zweiter Hand. Dass es zu sexueller Betätigung kam war ziemlich wahrscheinlich. Indizien hierfür waren Andeutungen von Disziplinarvorgesetzen – „Hier gibt es alles, was man sich vorstellen kann“ – oder von Ärzten am Heimatstandort über vermehrte Wünsche nach einem AIDS-Test nach Rückkehr aus dem Einsatz. Deshalb musste ein anderer Weg, ein anderer Indikator gefunden werden, der auf sexuelle Aktivität im Einsatz hinweist. Innerhalb der Feldlager gibt es den sogenannten Marketender, der Dinge des täglichen Bedarfs von der Zahnbürste über Zeitungen bis hin zu kleinen Andenken bereithält, die man Lieben nach Hause senden kann. Das dort vorgehaltene Warensortiment und die gesamte zugehörige Logistik sind durch Erlass des Bundesministeriums der Verteidigung festgelegt.38 In dieses Sortiment, welches in allen Einsätzen vorgehalten wird, gehören auch Kondome. Interessant war nun, ob diese Kondome im Einsatz Abnehmer fanden. Erwartungsgemäß war der Absatz ziemlich gering,39 da die Möglichkeiten, das Feldlager zu verlassen sowohl in Afghanistan als auch im Kosovo recht restriktiv sind; er ist als Indikator zum Gebrauch allerdings auch nicht absolut zu sehen, da durchaus die Möglichkeit besteht, in Marketendershops der anderen Nationen einzukaufen. Einsatz
Zeitraum
Anz. Packungen à 12 Kondome
Kontingentstärke
KFOR
Jun–Sep 09
66
2200
EUFOR
Jun–Sep 09
43
140
ISAF
Apr–Jul 09
100
4200
Tatsächlich augenfällig an diesen Zahlen ist, dass der „Absatz“ mit den Freiheitsgraden, die die SoldatInnen genießen, steigt. In Bosnien-Herzegowina leisten die SoldatInnen zumeist in den sogenannten LOT40-Häusern unter der Zivilbevölkerung ihren Dienst, genießen also eine sehr hohe Bewegungsfreiheit. Der dort höhere Absatz an Kondomen könnte ein Indiz für 38
Vgl. Bundesministerium der Verteidigung – PSZ III 1 (2008). Die Tabelle beruht auf einer Auskunft der Wehrbereichsverwaltung Nord vom 20.06.2006, welche die Marketender und Bordkantinen der Kräfte im Einsatz versorgt. 40 Liason and Observation Team. 39
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eine stärkere Aktivität sein. Wird berücksichtigt, dass sich unter den SoldatInnen in den Einsätzen einige wenige mit ihren festen PartnerInnen vor Ort sind und sich in kleinerem Maßstab auch Partnerschaften bilden, so weist dieser Indikator – bei all seiner Begrenztheit – doch auf eine relativ geringe Aktivität hin. Dass „doch was geht“, ist, zumindest für die Marine, einem Bericht über die Pensionierung eines Admirals zu entnehmen, welcher im Internet-Auftritt der Evangelischen Militärseelsorge veröffentlicht ist: „In jedem Hafen eine Braut – das ist das gängige Klischee über Seefahrer. Heinrich Lange spricht mit seinen Soldaten vor dem Einsatz auch über das Thema Puffs und Prostituierte. Es gibt No-Go-Areas im Einsatz, Stadtviertel, in die die Soldaten nicht gehen dürfen. Aber jenseits davon können sie sich relativ frei bewegen. ‚Sie sind erwachsene Menschen. Man muss ihnen die Gefährdungen aufzeigen, aber man kann sie nicht bevormunden.‘ Eine altbewährte Seemannsregel lautet: Dass man, wenn man nun schon meint, solche Orte aufsuchen zu müssen, erst dorthin geht, und danach in die Bar – und nicht umgekehrt. ‚Damit man am nächsten Morgen nicht im Straßengraben aufwacht, ohne Geld, ohne Zähne, in der Unterhose.‘ Heinrich Lange vermutet: Auch bei dem Einsatz am Horn von Afrika gab es Soldaten, die zu Prostituierten gegangen sind. ‚Aber glücklicher Weise haben sich alle in den ihnen gesetzten Grenzen bewegt, so dass es kein Thema wurde, das meiner Aufmerksamkeit bedurft hätte.‘41 Das Thema „Puff und Prostituierte“ ist auch ein Thema für die Soldaten des Heeres und der Luftwaffe im Einsatz. Eine nicht unerhebliche Gruppe spricht sich offen für die Bereitstellung solcher Etablissements durch den Dienstherrn aus. In einem Seminar an der Führungsakademie im Oktober 2010 befürworte dies knapp die Hälfte von 15 Offizieren. Auch in einer Befragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts im Jahre 2004 bei ISAF machten in einem Fragebogen 93 SoldatInnen freiwillig eine Aussage zum Thema Sexualität, 13 davon enthielten die konkrete Forderung nach der Bereitstellung von Prostituierten/Bordellen. Die Notwendigkeit hierfür wird mit der oben beschrieben „Dampfkesseltheorie“ begründet und dem Hinweis darauf, dass dies die anderen Nationen ja auch täten. „Das Thema Sexualität in der Bundeswehr ist ein Fremdwort. Hierüber sollten die oberen Herren sich Gedanken machen. Falls Sie keine Antwort finden, sollten Sie andere Nationen betrachten oder ihren Arsch selbst ein halbes Jahr in einem Feldlager verbringen und verlegen. Dann wissen Sie, was wir wollen und meinen!“42 Dieser Hinweis auf die Puffs der anderen Nationen ist ein ebenso hartnäckiges Gerücht wie die von Kondomen verstopften Rohre. In 41 42
Siegle (2007). Freie Antwort aus Befragung ISAF 2004.
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einer sehr gut gestalteten Ausbildungshilfe zum Thema „Belastungsmanagement/Umgang mit Sexualität im Einsatz“ des Zentrums Innere Führung nimmt die Bundeswehr sehr konkret Stellung gegen solche Einrichtungen und weist deutlich darauf hin, dass „das Verhalten deutscher Soldaten im Bordell (. . .) unter Umständen strafrechtliche Konsequenzen (hat). (. . .) Das Betreiben von Bordellen durch die Bundeswehr in Eigenregie ist nach derzeitiger Auffassung von Recht und Moral unter Berücksichtigung des besonderen Schutzes von Ehe und Familie im Grundgesetz nicht vorstellbar. Gerüchte über entsprechende Einrichtungen bei Einsatztruppen anderer Staaten treffen nachweislich nicht zu.“43 Aus der oben angesprochenen Befragung bei ISAF, die vom vorliegenden Zahlenmaterial zu dem Aspekt Sexualität in quantitativer Hinsicht nicht repräsentativ ist, denn nur in 93 Fällen haben SoldatInnen die Möglichkeit genutzt, zum Thema „Sexualität“ in einer offenen Frage eine Bemerkung einzutragen, werden trotz alledem einige Tendenzen deutlich. Von den 93 Antworten bezeichnen 12 die fehlende Sexualität als Problem: „Das Schlimmste hier ist kein Sex!!!“44; 13 SoldatInnen sagen ausdrücklich, es sei kein Problem: „Sicherlich ist die mit der Trennung einhergehende fehlende Nähe etc. unangenehm, stellt aber grundsätzlich kein Problem dar.“45 oder: „Es ist schwer, aber ohne Sexualität für die Dauer des Einsatzes ist gut machbar. Wahre Liebe und eine gute Partnerin/Ehefrau lassen die Treue immer bestehen. Jeder Tag, der vorbei ist, bringt einen Stück für Stück nach Hause.“46 13 weitere SoldatInnen sprechen sich zum Teil drastisch für ein Bordell aus: „Es wird Zeit für einen sogenannten ‚Feldpuff‘. Dieses Gejammer und die wenige Diskussion um den Sex in der Bundeswehr nerven sehr, beheben allerdings die Problematik nicht. Hier zeigt die Bundeswehr kein profimäßiges Verhalten.“47 Ein Soldat nimmt im Jahr 2004 bereits die oben zitierte Diskussion im Stadtrat von Munster vorweg, indem er schreibt: „Ein Bordell wäre nicht schlecht! Die Sache ist ja, dass es immer abgelehnt wird. Wieso? Die käufliche Liebe ist was ganz normales und für den Mann auch sinnvoll, da sie ausgeglichener sind und ihren Dienst noch besser versehen würden. Wiederum würden sich die Frauen im Einsatz nicht so belästigt fühlen. Des Weiteren würde es nicht so viele Beschwerden seitens der Frauen geben. Sie wissen ja: Eine Diszi [Diziplinarbuße, JK] im Einsatz ist teuer. Und für was. Danke dafür!“48 43 44 45 46 47 48
Zentrum Innere Führung der Bundeswehr (2005), S. 6. Freie Antwort aus Befragung ISAF 2004. Freie Antwort aus Befragung ISAF 2004. Freie Antwort aus Befragung ISAF 2004. Freie Antwort aus Befragung ISAF 2004. Freie Antwort aus Befragung ISAF 2004.
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Weiterhin fand sich in den 93 Aussagen der deutliche Wunsch, dass die Bundeswehr ihren Umgang mit Sexualität im Einsatz modernisieren solle. Hier finden sich Forderungen nach Familienzusammenführung im Einsatz oder nach mehr Freizügigkeit bei Partnerschaften im Einsatz: „Ich bin dafür, dass nicht, wie befohlen, die Sexualität zu Hause bleibt. Wenn sich hier zwei finden und keinen Partner haben, sollten sie doch machen was sie wollen, solange sie keinen anderen stören.“49 Die Zahlen und Aussagen in diesem Kapitel zeigen, dass Sexualität im Einsatz ein wichtiges Thema für die SoldatInnen ist, jedoch bei weitem nicht für alle ein Problem. Dennoch steckt darin der Keim für eine mögliche ernsthafte Problematik. Es ist die Kombination von Frustration, Aggression, Dampfkesseltheorie und homosozialer Gemeinschaft.
IV. Der Dampfkessel und der Druck Je kriegsähnlicher die Zustände im Einsatz werden, je mehr erlittene und erlebte eigene Aggression Teil der erfahrenen Einsatzwirklichkeit wird, desto mehr an Zivilisierung geht verloren. Dies dürfte sich in zweierlei Hinsicht auswirken: zum einen wird die Kontrolle von Gewalt und Aggression schwieriger und zum anderen wird vermutlich die Schließung der homosozialen Gemeinschaften mit ihrer sich selbst verstärkenden Kommunikation stärker. Dies kann durchaus auch Auswirkungen auf das Feld der Sexualität haben, die unter den jetzigen Bedingungen nicht vorstellbar sind. Seifert schreibt – auch mit Blick auf die sexuellen Übergriffe in Konflikten und Kriegen –, dass „Vergewaltigung kein aggressiver Ausdruck von Sexualität, sondern ein sexueller Ausdruck von Aggression“50 sei; was wäre unter diesem Blickwinkel dann die Schwächung der Kontrolle von Aggression gepaart mit einem Dampfkesselbild von männlicher Sexualität für eine schädliche Saat. Wenn dieses Bild sich dann auch noch in einer homosozialen Gemeinschaft als identitätsstiftendes Verständnis verselbständigt, welche Höllenhorde wäre dann geboren. Wir stehen mit Unverständnis vor den Taten und sexuellen Übergriffen in den Weltkriegen, in Vietnam, im Rape von Nanking und sehen auf der anderen Seite die Täter als ganz normale Männer und Familienväter und fragen uns, wie das zusammenpasst. Die Zutaten für diese Mischung wurden in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben. Sie sind auch in der Bundeswehr vorhanden, aber noch nicht angerührt. Jeder, der der Schließung der homosozialen Gemeinschaften Vorschub leistet, jeder der die Dampfkesseltheorie 49 50
Freie Antwort aus Befragung ISAF 2004. Seifert (1993), S. 88.
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salonfähig macht und bei Bordellen den Zusammenhang mit Menschenhandel verschweigt, der rührt daran. Trotz aller dieser Gefahren ist die Gruppe, die zwar unter der Trennung leidet und der Sexualität und körperliche Nähe fehlt, sich aber irgendwie mit der Situation im Einsatz arrangiert – oder wie es ein Soldat ausdrückte: „. . . und schließlich habe ich da noch meine Hände“ – wohl die größere. Allerdings kann das Ergebnis dieses Arrangements dann nach dem Einsatz dazu führen, dass ein weiterer Einsatz nicht in Frage kommt, was für die Bundeswehr als einer Armee, die nun zunehmend auf Längerdiener und Berufssoldaten baut, ein Problem darstellt. Literatur Apelt, Maja (Hg.) (2010): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten. Wiesbaden. Biehl, Heiko/Keller, Jörg/Kozielski, Peter u. a. (2004): Einsatzmotivation im 7. und 8. Einsatzkontingent SFOR. Ergebnisbericht. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr. Strausberg. Bundesministerium der Verteidigung (2010): Starke Truppe – Immer mehr Frauen entscheiden sich für die Bundeswehr, http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/ kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd443cTQCSYGYxgEhpEwsaCU VH1fj_zcVH1v_QD9gtyIckdHRUUAi3qcg!!/delta/base64xml/L3dJdyEvd0ZNQU FzQUMvNElVRS82X0NfNEE3 (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Bundesministerium der Verteidigung – Generalinspekteur der Bundeswehr (2000): Führungshilfe für Vorgesetzte – Umgang mit Sexualität. Bundesministerium der Verteidigung – PSZ III 1 (2008): Bestimmungen für die Versorgung der Bundeswehrangehörigen in besonderen Auslandsverwendungen mit Maketenderwaren. Arbeitsanweisung zur Umsetzung der Bestimmungen. Carreiras, Helena/Kümmel, Gerhard (Hg.) (2008): Women in the Military and in Armed Conflict. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dittmer, Cordula (2009): Gender Trouble in der Bundeswehr. Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen. Bielefeld. Duncanson, Claire (2008): Forces for Good? British Military Masculinities on Peace Support Operations. Edinburgh. University of Edinburgh. Eifler, Christine (1995): „Der schützende Arm“ Frauenbilder in der NVA-Propaganda – dargestellt am Beispiel des Soldatenmagazins „Armeerundschau“ Forschungsbericht (Berghof-Stiftung) – (2002): Soldatin – ein neuer Job für Frauen? Genderkonstruktionen in den USA, der BRD und Russland. In: Harders, C./Roß, B. (Hg.): Geschlechterverhältnisse in Krieg und Frieden. Perspektiven der feministischen Analyse internationaler Beziehungen, Opladen, S. 163–172.
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Bilder des indigenen Kriegers in der russischen Kultur Von Kerstin S. Jobst Im Jahr 1976 beschrieb der Schweizer Historiker Urs Bitterli die ersten, teils flüchtigen Kontakte zwischen Europäern und Nichteuropäern im Zuge der frühneuzeitlichen europäischen Expansion auf den amerikanischen Kontinent und bezeichnete sie als klassische Kulturberührung. Diese Kulturberührung sei, wie jede Zusammenkunft zwischen Unbekannten, auf beiden Seiten durch eine gewisse Unsicherheit gekennzeichnet gewesen, da die Gefahr bestand, die anfänglich friedliche Kontaktaufnahme könnte feindselig enden.1 Dabei waren sich die Europäer aber in einem Punkt zumindest sicher: Unabhängig davon, ob die verschiedenen indigenen Kulturen, auf die man in Übersee traf, nun als sog. gute oder aber gefährliche Wilde eingeschätzt wurden, die eigene Überlegenheit stand für sie außer Frage. Das Selbstbewusstsein der nicht zuletzt christlichen Invasoren basierte allerdings weniger auf einer profunden Kenntnis der Kultur der Fremden, sondern allein auf ihrem tiefempfundenen Dominanzgefühl, welches sie nicht zuletzt aus ihrer Religion ableiteten. Die europäischen Kolonialherren bemühten sich gleichwohl alsbald, ihre Überzeugung durch mehr oder weniger ‚harte‘ Fakten, also durch die Erforschung der fremden Kulturen, nachträglich zu untermauern. Die (Proto-)Ethnologie nahm allerdings nicht erst in der Frühen Neuzeit in Folge der europäischen Expansion in die sog. Neue Welt ihren Anfang, sie steht vielmehr im Kontext mit den historisch zu allen Zeiten stattfindenden zwischenkulturellen Kontakten.2 Das Wissen um und über das Fremde ist nämlich, wenn man so will, ein anthropologisches Grundbedürfnis. Es befriedigt die menschliche Neugier und ist zugleich Ausdruck eines legitimen Sicherheitsbedürfnisses, denn das Fremde birgt immer auch potentielle Gefahr(en). Dies gilt freilich vor allem für Kulturberührungen im Kontext von Krieg und Eroberung, welche ebenfalls zu allen Zeiten eine Rolle ge1
Bitterli (1976), S. 82. Sein Stufenmodell umfasst neben der Kulturberührung (1. Phase) den manifesten Kulturkontakt (2. Phase), den Kulturzusammenstoß (3. Phase) und schließlich die Akkulturation und Kulturverflechtung (4. Phase). 2 Vgl. Kohl (1987).
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spielt haben. Strategen und Militärs bemüh(t)en sich deshalb, möglichst viel Wissen über den fremden Gegner zu erlangen, insbesondere den kämpfenden Gegner.3 Diese Erkenntnis hat auch moderne Einsatzarmeen wie die Bundeswehr bewogen, ihre SoldatInnen durch spezielle, „interkulturelle Kompetenz“ oder „interkulturellen Dialog“ genannte Ausbildungsabschnitte auf den zwischenkulturellen encounter in den Einsatzgebieten vorzubereiten. Mittlerweile agieren auch uniformierte cultural adviser – sog. Interkulturelle Einsatzberater (IEB) – vor Ort. Eine besondere Variante dieses kämpfenden Gegners stellt der indigene Krieger da4, dessen Bild(er) und Einschreibungen in der russischen Kultur im Folgenden genauer betrachtet werden sollen – und dies in der longue durée und in der Beschränkung auf „den indigenen Krieger“5 muslimischer Religion, der auch aktuell das Interesse weckt. Dabei wird ein ganzheitlicher Kulturbegriff zugrunde gelegt.6 Ziel ist es, auf der Grundlage einer konzisen Betrachtung des russisch-muslimischen Kulturkontakts und der Besonderheiten der russischen Imperiumsbildung die Kontinutiät bestimmter kollektiver Imaginationen über den indigenen Krieger darzustellen. Dabei wird geklärt werden, über welche Kanäle sich das kulturell geprägte Bild des muslimischen Kämpfers verbreiten und so bis in unsere Zeit wesentlich die russisch-kollektive Vorstellung von männlichen Muslimen beeinflussen konnte. Dieses Bild ist, so sei vorausgeschickt, ein stark essentialisiertes, das sich im Grunde in den britischen oder französischen stereotypischen Vorstellungen über diese Figur wiederfindet – was nicht zuletzt eine Folge der gemeinsamen historischen Erfahrung als Imperialmacht ist. Um zu verdeutlichen, dass die Kategorie des (kulturwissenschaftlichen) Fremden/Anderen auch immer kollektive Vorstellungen des „Eigenen“ spiegelt, werden abschließend ausgewählte literarische Präsentationen des indigenen Kämpfers russischer Provenienz vorgestellt.7
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Vgl. auch Tomforde (2009) und (2008), zur Bundeswehr besonders S. 143–148. Nach der von der UN – vgl. Cob (1986) – vorgelegten Definition sind indigene Völker in Folge von Eroberung, Kolonisation oder der Ziehung neuer Staatsgrenzen in der einen oder anderen Form marginalisiert worden. Überdies definieren sie sich weiterhin als durch kulturelle Spezifika different von anderen Gruppen und erheben den Anspruch, als „erste“ Bewohner der Region anerkannt zu werden. Insbesondere der letzte Punkt – Autochthonie – gilt aber allgemein in vielen Forschungsdisziplinen als umstritten, da in aller Regel Urbevölkerungen nicht auszumachen sind. 5 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden „der indigene Krieger“ nicht in Anführungszeichen gesetzt. 6 Dieser umfasst nach Reckwitz (2004) die Gesamtheit der Denk-, Handlungsund Wahrnehmungsmuster von kollektiven Entitäten und geht dezidiert von einer Gleichwertigkeit differenter kultureller Systeme aus. 7 Vgl. hierzu Bruns (2009). 4
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I. Anmerkungen zum russisch-muslimischen Kulturkontakt und zur russischen Imperiumsbildung Die folgende Beschränkung auf das Bild des islamischen Kriegers ist nicht zufällig. Der Islam ist für ein sich als „christlich“ definierendes Europa nicht erst seit dem Fall Konstantinopels 1453 ein Feindbild und bis heute in Anbetracht einer in der westlichen Welt verbreiteten Angst vor islamistischen Selbstmordattentätern als eine moderne Form des Typs des indigenen Kriegers immer noch präsent. Insofern hat der ursprünglich auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bezogene Befund, nach dem Muslime „als die gefährlichsten und dauerhaftesten Feinde Europas empfunden [wurden], als Europas absolute Antithese und Negation“8, nur wenig an Aktualität eingebüßt. Insbesondere die Vorstellung eines kriegerischen Islam erweist sich auch im russischen Kontext als sehr persistent. Dabei muss das historische Verhältnis zwischen Russen und Muslimen gleich aus mehreren Gründen als ambivalent bezeichnet werden9: Aufgrund der geographischen Nähe waren die Berührungspunkte zwischen Christen und Muslimen im eurasischen Grenzraum dauerhafter, vielfältiger und enger als in vielen anderen europäischen Regionen. Diese Nähe wurde von nicht wenigen russischen Intellektuellen zu allen Zeiten durchaus positiv interpretiert.10 Im Laufe der Jahrhunderte erfolgte dann eine eklatante Umkehrung der Machtverhältnisse, denn aus den ursprünglich von Muslimen beherrschten Ostslaven11 wurden selbst Beherrschende. Die zwischen dem 13. und dem ausgehenden 15. Jahrhundert währende Hegemonie der Goldenen Horde über weite Teile der Kiever Rus’, dem mittelalterlichen ostslavischen Herrschaftskonglomerat, hat sich als Zeit des Niedergangs traumatisch in das russische kollektive Bewusstsein eingeschrieben. Davon zeugt auch die weitläufig verwandte Überschreibung dieser Jahre als „Tatarisch-mongo8
Franc¸ois/Schulze (1998), S. 25. Grundlegend dazu Hauner (1990) sowie Schimmelpenninck van der Oye (2010). 10 Auf eine Erörterung dieser Strömungen muss an dieser Stelle verzichtet werden und der Hinweis genügen, dass die ausgemachte Zwischenlage Russlands zwischen Europa und Asien russische Intellektuelle seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stark umtrieb. Zur Überwindung eines verinnerlichten Unterlegenheitsgefühls propagierten einige von ihnen, wie Nikolaj J. Danilevskij oder auch Fedor Dostoevskij im 19. Jahrhundert und in der nachrevolutionären Zeit die sog. Eurasier um Petr N. Savickij sowie Nikolaj S. Trubeckoj, die „Abwendung von Europa“ und betonten die asiatischen Wurzeln russischer Kultur. Vgl. hierzu einführend Golczewski/Pickhan (1998), S. 81–84 sowie die dort angegebene weiterführende Literatur auf S. 292 f. 11 Da auch die russische Nationsbildung eine Erscheinung der Neuzeit ist, wird in Bezug auf vormoderne Phasen zutreffender von Ostslaven gesprochen, nicht von „Russen“. Aus diesem Konglomerat entwickelten sich neben diesen auch Weißrussen und Ukrainer. Vgl. einführend Kappeler (1990). 9
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lisches Joch“. Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich allerdings, so etwa der Basler Historiker Heiko Haumann, dass „die Herrschaft der Mongolen [sich] als nicht derart drückend [erwies], wie vielfach angenommen“ worden ist.12 Denn solange die Tribute an den Chan entrichtet wurden, mischten sich die fremden Herren kaum in die inneren Angelegenheiten der ostslavischen Fürstentümer ein. Die mongolische Oberhoheit diente gleichwohl als Begründung für den seit der Aufklärung inner- und außerhalb Russlands thematisierten Entwicklungsrückstand im europäischen Vergleich.13 Auch in der Folge oszillierte der Kulturkontakt zwischen kriegerischen Auseinandersetzungen, die zum Kontakt mit muslimischen Kriegern führten, und der konsensuellen Ausgestaltung russisch-muslimischer Lebenswelten in Friedenszeiten. Die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mit der Eroberung der Chanate von Kazan’ 155214 und Astrachan 1556 beginnende „Sammlung der Länder der Goldenen Horde“ machte Muslime zu russischen Untertanen, ja zu kolonialen Objekten, ließen sich diese Expansionen doch „weder historisch, noch ethnisch“ begründen.15 Zwischen dem ausgehendem 18. und 19. Jahrhundert eignete sich das Zarenreich weitere von Muslimen bewohnte Territorien teils kriegerisch, teils durch geschickte Bündnisund Handelspolitik an, ganz so, wie es die Briten oder Franzosen in ihren Einflussgebieten machten.16 Durch die Aneignung gewaltiger Gebiete, die heute in etwa die zentralasiatischen Republiken Kazachstan, Uzbekistan, Tadžikistan, Turkmenistan und Kirgistan, aber auch große Teile des Kaukasus und die gegenwärtig staatsrechtlich zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim am Nordufer des Schwarzen Meeres umfassen, bekam das Zarenreich eine große Zahl muslimischer Bewohner hinzu.17 Russischerseits war es zumeist das Ziel, eine größtmögliche strukturelle Gleichförmigkeit zwischen den muslimischen Peripherien und den zentralrussischen Gebieten hinsichtlich Administration, Gesellschaft und Kultur herzustellen. Ähnlich der spanischen Kolonialmacht, die in ihren überseeischen Gebieten seit dem 12
Haumann (1996), S. 98. Diese Denkgewohnheit muss im größeren Kontext der zeittypischen Essentialisierung Ostmittel- und Osteuropas als „minderzivilisiert“ gesehen werden. Dazu grundlegend Wolff (1994). 14 Bereits unter Ivan III. gelang Ende des 15. Jahrhunderts zeitweilig die Eroberung dieses Chanats, endgültig aber erst 1552 unter Ivan IV. 15 Stökl (1983), S. 240. 16 Die sich lange Zeit in der geschichtswissenschaftlichen Forschung haltende Auffassung, das Russländische Reich sei keine ‚richtige‘ Kolonialmacht gewesen, sondern eher selbst koloniales Objekt, erscheint allein im Licht ökonomischer Imperialismustheorien halbwegs plausibel. Dazu immer noch relevant Geyer (1977). 17 Sibirien war ein weiterer Landgewinn von gigantischem Ausmaß, der aber auf Grund der Tatsache, dass er erstens nur spärlich, und zweitens auch von animistischen, paganen Ethnien bevölkert war, hier nicht betrachtet wird. 13
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16. Jahrhundert mit Hilfe der katholischen Kirche eine energische Verwestlichungspolitik verfolgte, entfaltete die orthodoxe Kirche mit dem Segen des Zaren phasenweise eine rigide Missionierungspolitik auch gegenüber Muslimen, sollte der Prozess der kulturellen Hebung nach Meinung der imperialen russischen Eliten doch idealerweise mit der orthodoxen Taufe abgeschlossen werden. Doch der missionarische Eifer war in den einzelnen Regionen recht unterschiedlich ausgeprägt: Umfängliche orthodoxe Missionsmaßnahmen einschließlich Zwangstaufen spielten im Gebiet des ehemaligen Chanats von Kazan’ im Wolga-Gebiet über die Zeitläufte hinweg immer wieder eine Rolle18, auf der Krim und in Zentralasien wurde auf dieses Mittel hingegen weitgehend verzichtet. Wie Briten und Franzosen in Teilen Afrikas oder Südasiens, musste auch die russische Macht den mäßigen Erfolg solcher Maßnahmen erfahren: „Die Resistenz des Islam gegen die von den Kolonialmächten importierten Kulturwerte“ erwies sich als erstaunlich.19 Wiederholt sah sich das Zarenreich gezwungen, etwa in Zentralasien oder im Nordkaukasus, Aufstände und Revolten unter teilweise hohem Aufwand niederzuschlagen.20 Während dieser kriegerischen Handlungen, die zuweilen religiösen Charakter annahmen21, hatten sowohl die Vertreter der russischen Staatsmacht vor Ort als auch die lesenden Eliten in der Metropole ausreichend Gelegenheit, ihre Imaginationen vom indigenen Kämpfer immer wieder zu bestätigen oder partiell neu zu gestalten. Dies gilt auch für spätere Zeiten: Die Russländische Föderation (wie auch die im Rahmen dieser Ausführungen ausdrücklich ausgenommene Sowjetunion22) ist ein Vielvölkerstaat. Gegenüber seinen nichtrussischen Gebieten formuliert er einen Machtanspruch und hält diesen beispielsweise 18
Noack (2000), S. 129. Osterhammel (2003), S. 106. 20 Zu den zahlreichen Auseinandersetzungen zählen: der gegen das Zarenreich geführte Guerilla-Krieg unter Srym Datov (Kleine Horde, westliches kazachisches Gebiet) von 1783–1797, die zwischen 1825 und 1834 (unter S. Kasymov und U. Valichanov, Mittlere Horde) sowie zwischen 1837 und 1847 (unter Kenesary, Mittlere Horde) dauernden Aufstände, 1885 unter Chan Töre (Ferghana-Tal), 1892 der sog. Cholera-Aufstand in Taškent, 1898 die Revolte unter Ischan Madali (Andischan). Vgl. hierzu u. a. Manz (1987), Brower (2003), S. 95–99 sowie Hambly (2000), S. 207–211. 21 Halbach (1989). Zur größten antirussischen Bewegung durch Russlandmuslime kam es im Ersten Weltkrieg, als die bislang vom Kriegsdienst befreiten sog. Fremdstämmigen eingezogen wurden. Vgl. hierzu in Kürze die Dissertation von Happel. Bei vielen dieser antirussischen Aufstände musste die zum Teil eher oberflächlich islamisierte Bevölkerung von militärischen und geistlichen Führern erst auf einen „Heiligen Krieg“ eingeschworen werden. Sufi-Brüderschaften spielten bei der Popularisierung des Aufstandsgedankens gegen die Kolonialmacht im Namen Allahs häufig eine entscheidende Rolle. 22 Vgl. hierzu aber einführend Jobst/Obertreis/Vulpius (2008), S. 46–54. 19
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in zwei blutigen Militäraktionen (1994–1996 und 1999–2000) gegen die nach Unabhängigkeit strebende Republik Cˇecˇenien entschlossen aufrecht.23 Diesem Umstand ist es nicht zuletzt geschuldet, dass das Bild des indigenen (muslimischen) Kriegers noch immer ein Thema nicht nur der Politiker und Militärs, sondern der russischen Gesellschaft überhaupt ist.24 Allerdings bestimmt in den letzten Jahren eher die moderne Variante „der/die muslimische SelbstmordattentäterIn“ den innerrussländischen Diskurs, da die Russländische Föderation in den letzten Jahren wiederholt Ziel von Sprengstoffanschlägen wurde, für die cˇecˇenische Separatisten verantwortlich gemacht werden. Doch das ‚Problem‘ ist weit komplexer: Zwar sind heute ca. drei Viertel der über 140 Millionen Menschen zählenden Staatsbevölkerung Russen (wenn auch mit abnehmender Tendenz), aber es leben innerhalb der Staatsgrenzen fast einhundert nichtrussische Ethnien. Zehn bis fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung gelten als historisch und kulturell vom Islam geprägt bzw. als „ethnische Muslime“.25 Vor allem durch die aktuellen Entwicklungen des „muslimisch-westlichen“ encouters inner- und außerhalb Russlands erleben diese ein Klima des zunehmenden Misstrauens. Dies gilt umso mehr, wenn sie, wie viele Kaukasusbewohner, als Angehörige einer visible minority auszumachen sind, was sie häufig zum Ziel fremdenfeindlicher Angriffe werden lässt.26 Doch nicht nur wegen aktueller Entwicklungen, auch aufgrund kollektiver historischer „Erfahrungen“ gelten Muslime 23 Ob die Waffengänge gegen die (aus Sicht Moskaus) abtrünnige Republik als imperialistisch zu bezeichnen sind – so etwa Grobe-Hagel (2005) – oder aber legitime, weil durch das Völkerrecht gedeckte Versuche zur Aufrechterhaltung staatlicher Integrität, soll hier nicht erörtert werden. Unbestritten ist, dass in diesen Konflikten beide Seiten eklatante Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Vgl. hierzu Malek (2004). 24 Einer der letzten folgenreichen Anschläge mit vierzig Toten gab es am 29. März 2010 in Moskau, als in zwei Stationen der Moskauer Metro Sprengsätze detonierten. 25 Die phasenweise militant antireligiöse Politik der Sowjetunion hat allerdings nachhaltige Auswirkungen auf die religiösen Praktiken und Selbstverortungen der muslimischen Gruppen gezeitigt. Nach einer 2007 in der Russländischen Föderation durchgeführten Befragung gaben nur sechs Prozent der Befragten an, praktizierende Muslime zu sein. Vgl. Opublikovana podobnaja sravnitel’naja statistika religioznosti v Rossii i Pol’še, http://www.religare.ru/article42432.htm, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011. Insgesamt gilt, dass in der Russländischen Föderation im öffentlichen Diskurs der Begriff „Muslim“ häufig undifferenziert als ethnischer und religiöser Marker verwandt wird. Vgl. hierzu auch Halbach (1996), S. 40. 26 Besonders in den Hauptstädten St. Petersburg und Moskau werden jährlich hunderte von Nichtrussen Opfer fremdenfeindlicher Gewalt, die z. T. tödlich ausgehen. Über fünfzig Prozent der ethnischen Russen befürworten Umfragen zufolge eingeschränkte Staatsbürgerrechte für die aus dem Kaukasus stammenden Muslime. Vgl. den Bericht von Erik Albrecht (2010), Fremdenfeindlichkeit in Russland unter http:// www.dw-world.de/dw/article/0,,5613170,00.html, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011.
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im innerrussischen Diskurs als Fremde. Das historisch geformte, immer wieder den zeitgenössischen Erfordernissen gewandelter Gedächtnispolitiken angepasste Bild des indigenen Kriegers spielt dabei eine zentrale Rolle.
II. Zur Verbreitung der Bilder über den indigenen Krieger Nicht nur bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen gleichberechtigten völkerrechtlichen Subjekten spielt(e) Informationsgewinnung über den Gegner naturgemäß eine große Rolle, sondern auch beim Aufbau multiethnischer Großreiche bzw. von Imperien. Vielleicht ist die Notwendigkeit zu Kenntnissen zu erlangen im letzten Fall sogar noch größer, handelt es sich bei Imperialkriegen27 doch in aller Regel um asymmetrische Konflikte. Diese stellen genau genommen eine spezifische Form des Kulturkontakts dar, wird doch zumindest von einer Seite die Ebenbürtigkeit des Gegners bestritten.28 Die sich überlegen wähnende Seite – zumindest zivilisatorisch, denn militärisch stellte mancher vermeintlich rückständige Gegner eine veritable Herausforderung dar29 – meint, kein ihren gesellschaftlichen Strukturen entsprechendes soziales Pendant vorzufinden. Schon deshalb erscheint der Gegner als nicht einschätzbar, ja zuweilen als unbekannt. Die als notwendig erachtete Informationsgewinnung erfolgt versteckt, also mittels der auch in Konflikten zwischen ‚ebenbürtigen‘ Gegnern üblichen Spionage30, oder aber durch die ‚offene‘ wissenschaftliche Befassung mit dem Fremden. Diese hat den Vorteil, dass sie eine vermeintlich objektive Befassung mit dem Forschungsobjekt impliziert, welche freilich gerade in kolonialen Projekten nicht immer gegeben ist. Wissenschaftlern wie Ethnologen, Historikern oder Orientalisten oblag es vielmehr, koloniale Projekte zu unterstützen31: 1. durch die Feststellung der Differenz zwischen Eroberern und präsumtiven kolonialen Objekten32, und 2. durch die Sammlung 27
Vgl. hierzu in Kürze Walter (2011). Hiervon unberührt ist die Frage, inwieweit diese Konflikte im Rahmen des humanitären Völkerrechts ausgetragen werden. 29 Auch die russische Geschichte bietet hierfür etliche Beispiele: Die Eroberung des nördlichen Kaukasus – die sog. Muridenkriege – im 19. Jahrhundert dauerten fast ein Vierteljahrhundert, vgl. u. a. Gammer (2006). Und im sowjetischen Afghanistan-Krieg konnte die im Vergleich mit den Mudžahedin moderne Rote Armee keinen Sieg davon tragen. Dazu Dorronsoro (2005). 30 Eine gute Einführung in dieses Thema bietet Krieger (2003). Vgl. auch im Kontext von Imperium und Informationsgewinnung zur Herrschaftssicherung Bayly (1996). 31 Auf diesen Zusammenhang hat besonders wirkungsmächtig Said (1994) mit seinem Orientalism hingewiesen. Zur Relevanz dieses Ansatzes auch für das Russländische Reich vgl. Jobst (2000) und (2008). 28
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und Verdichtung konkret verwertbarer Erkenntnisse über die fremden Gruppen, deren Sitten und Gebräuche etc. Dies gilt auch im Fall des russländischen Imperiums, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem transkontinentalen Imperium überwältigender Größe und einem global player wurde, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gar das unumstrittene ‚Imperium Nr. 1‘ – das British Empire – in Asien herauszufordern vermochte. Parallel zu diesem Expansionsprozess professionalisierte sich im Zarenreich die Orientalistik, die übrigens auch noch in sowjetischer Zeit Weltgeltung besaß.33 In vielen Fällen spielten aber auch Literaten eine gewichtige Rolle bei der Vermittlung von Informationen über das Fremde, vor allen Dingen aber in Bezug auf dessen Repräsentationen und Imaginationen in den Metropolen. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Im Zarenreich hatte sich erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine mit dem westlichen Europa vergleichbare Presse entwickeln können. Die schöne, aus der Sicht der zarischen Zensoren vermeintlich unpolitische Literatur musste somit lange Zeit auch das Informationsbedürfnis der am Imperium interessierten Eliten stillen.34 Vor allen Dingen das im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnende und bis in die 1860er Jahre andauernde Ausgreifen des Zarenreichs in die Kaukasus-Region wurde literarisch von russischen Schriftstellern wie Aleksandr Puškin (1799–1837) oder Michail Lermontov (1814–1841) öffentlichkeitswirksam begleitet35, welche mit indigenen Kriegern während ihrer Verbannung oder ihrem Militärdienst vielfach persönlich in Kontakt getreten waren. Sie prägten mit ihren Beschreibungen der Eroberungszüge und der sich erbittert wehrenden autochthonen Bevölkerung nachhaltig die Vorstellung der von den russischen Truppen eingenommenen Gebiete; und dies z. T. bis heute, gehören ihre Werke doch immer noch zum literarischen Kanon in der Russländischen Föderation und werden somit auch heutzutage noch in russischen Schulen gelesen. Puškins und Lermontovs Beschreibung des indigenen Fremden sind in ihrer nachhaltigen Wirkung insofern durchaus mit dem Werk Rudyard Kiplings vergleichbar, der das Bild Indiens auf den britischen Inseln durch Werke wie „Kim“ für Generationen prägte.36 32 Said (1994), Kultur und Imperialismus, S. 13 f., hat dies prägnant, aber letztlich zu undifferenziert auf folgende Formel gebracht: Zur Legitimierung von Macht in kolonial geprägten Beziehungen genüge bereits die Feststellung der Differenz mit Hilfe von Wissenschaftlern: „Sie waren nicht wie ‚wir‘ und verdienten deshalb, beherrscht zu werden.“ 33 Zur Geschichte der russischen Orientalistik vgl. u. a. Frye (1972), Batunsky (1992) und (1994) sowie Whittaker (1978). 34 Zur Entwicklung der Presse und Zensur im Zarenreich vgl. Martinsen (1997), Ruud (1982). 35 Grundlegend dazu Layton (1994), Ram (2003). 36 Dessen z. T. rassistischen Impetus teilten die russischen Autoren freilich nicht, obgleich in ihren Werken orientalistische Denkgewohnheiten manifest sind.
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III. Literarische Präsentationen des indigenen Kriegers Auch außerhalb der russischsprachigen Welt sind vielen Literaturinteressierten einschlägige Werke wie Puškins „Der Gefangene im Kaukasus“ (1822)37 oder Lermontovs „Ein Held unserer Zeit“ (1840)38 bekannt. Besonders der sich in der Zeit der Niederschrift stark an Lord Byrons „Oriental Tales“ orientierende Puškin formulierte mit seinem Poem eine Variante des russisch-muslimischen encounter aus, die anderen russischen Kunstschaffenden noch viele Generationen später als Vorbild dienen sollte.39 Dieses ‚kaukasische Thema‘ beinhaltet wesentliche Elemente des russischen Bildes vom muslimischen Fremden: Das Fremde (die indigene Frau, die ebenfalls als feminin beschriebene Natur etc.) verlockt und zieht an, auch weil es als naturnaher und weniger zivilisiert gedeutet wird. Zugleich ist es aber unbekannt und gefährlich (der indigene Krieger und indigene Männer überhaupt). Auf den Puškinschen „Gefangenen“ (und nicht nur diesen) angewandt heißt dies, dass ein zivilisationsmüder russischer Mann Moskau oder St. Petersburg Richtung Süden verlässt und sich an den Schönheiten der unberührten Natur in der Peripherie ergötzt. Alsdann trifft er als russischer Soldat auf die gefährlichen Elemente dieses von der Zivilisation weitgehend unbeeinflussten Terrains – den indigenen Mann, der immer zugleich auch als Krieger gesehen wird. Dieses Bild wurde in vielfältiger Form transportiert, wiederholt und verformt, was nicht allein daran liegt, dass die realen russisch-muslimischen Kontakte in der Tat vielfach kriegerischer Natur gewesen sind. Die permanente Einschreibung des Gegners als gefährlich legitimierte vielmehr zugleich die ausgeübte Herrschaft.40 Diese indigenen Krieger bringen den russischen Mann in Gefahr und nehmen ihn gefangen. Errettet wird er von einer schönen, sanften, gleichwohl erotischen und bedingungslos liebenden Orientalin. Diese verzichtet freilich auf den geliebten Russen; denn sie spürt instinktiv, die Liebe zwischen Christen und Muslimen kann nicht gut enden.41 Kennzeichnend ist, dass einzelne Elemente des 37
Puschkin (2009). Lermontov (1989). Für den vorliegenden Zusammenhang ist besonders der mit „Bela“ überschriebene Abschnitt von Bedeutung. 39 Titel (im russischen Original „Kavkazskij Plennik“) und Plot wurden immer wieder verarbeitet, u. a. von Lermontov 1828 und Tolstoj 1872, dreimal wurde die Geschichte verfilmt (1930, 1975, 1996), der russische Komponist Cesar’ A. Kjui schuf 1857 eine Oper, es gibt mindestens 2 Ballett-Varianten. 40 Diese Sichtweise ist keinesfalls allein in literarischen Werken oder auf den Kaukasus bezogen. Vgl. z. B. zum Bild des krimtatarischen Kriegers in der russischen Publizistik Jobst (2007), das Kapitel „Der Krieger“, S. 195–199. 41 So auch in Lermontovs (1989) „Ein Held unserer Zeit“, wo die leidenschaftlich ˇ erkessin Bela letztlich an der Gleichgültigkeit ihres russischen Partners liebende C 38
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imaginierten Orients bzw. des muslimischen Fremden positiv gewertet werden (die Natur, die Frauen etc.) und ihre Autoren die Realität des Imperiums nicht in Frage stellten.42 Dies sind Bestandteile eines orientalistischen Diskurses, welche auch aus anderen kolonialen Kontexten bekannt sind.43 Das Bild des sich gegen eine russische Herrschaft auflehnenden Fremden in Randgebieten des Imperiums und auch innerhalb des heutigen russischen Staates ist freilich facettenreicher. Zwar wurde der indigene Krieger einerseits als gefährlich markiert, andererseits (und scheinbar widersprüchlich) hat man ihn auch in der Tradition des Edlen Wilden als ‚kindlich und gut‘ eingeschrieben – häufig gar beides gleichzeitig: So in Lev Tolstojs „Chadži Murat“44, das zwischen 1894 und 1904 geschrieben, aber erst 1912 und damit zwei Jahre nach dessen Tod in zensierter Form veröffentlicht worden ist. Diese Novelle muss, anders als die so stark von der Romantik beeinflussten Kaukasus-Bearbeitungen von Puškin und Lermontov, dem Realismus zugeordnet werden. Tolstojs Darstellung der langen und blutigen russischen Eroberung des Kaukasus ist tatsächlich eine deutlich realistischere, weniger positive.45 Tolstoj war einer derjenigen russischen Literaten, die den Kaukasus und seine indigenen Krieger aus eigener Anschauung kannten, war er doch als junger Offizier dort stationiert gewesen. Überhaupt hatte er sich Zeit seines Lebens intensiv mit dem sog. Orient befasst, nicht zuletzt während seines allerdings nicht abgeschlossenen Studiums der Orientalistik. Sein Chadži Murat ist jedenfalls eine historische Person, welche während der russischen Eroberung des Kaukasus mal auf Seiten der indigenen Verteidiger unter dem Imam Šamil‘46, mal auf der russischen Seite kämpfte, und sich den Nimbus eines tapferen, aufrechten Kämpfers erwarb. So ist auch nach dem von Tolstoj gezeichneten Bild Chadži Murat gemeinPecˇorin zugrunde geht. Ähnlich auch Puškins „Bachcˇisarajskij Fontan“ („Die Fontäne von Bachcˇisaraj“, auf dt. zumeist „Der Tränenbrunnen“) von 1824. Ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 4, Moskva 1963, S. 155–171. 42 Layton (1994), S. 9, bezeichnet diese Haltung des überwiegenden Teils der russischen Romantiker als „total complicity in imperialism“. 43 Vgl. u. a. Williams/Chrisman (1994). Vgl. auch ein anschauliches Beispiel aus dem Bereich der Oper: Segler-Messner (2008). Der Titel ist allerdings insofern unglücklich gewählt, als es sich nicht um heidnische, sondern um muslimische Krieger handelt. 44 Vgl. Tolstoj (1985), S. 7–181. 45 An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich Tolstoj seit den 1880er Jahren zunehmend in Opposition zum Zarentum und orthodoxer Kirche befand und z. T. auch Pressionen seitens der Staatsmacht ausgesetzt war. Viele seiner Spätwerke wie der „Chadži Murat“ implizieren somit Kritik an der Staatsführung. Vgl. zur Person Tolstojs auch Lettenbauer (1984). 46 Vgl. neben der Arbeit von Gammer (1994) auch die sehr lesenswerte Biographie von Degoev (2001).
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sam mit seinen Begleitern wie Eldar, „mit seinen schönen, an einen Widder erinnernden Augen“47, aber auch den geschilderten einfachen russischen Soldaten positiv besetzt. Dennoch wird das Bild des indigenen Kriegers gebrochen bzw. mit vertrauten Stereotypen angereichert, etwa in der Darstellung der Begegnung Chadži Murats mit hohen russischen Militärs: „Allen übrigen voran ritt auf einem weißmähnigen Pferde ein Mann von eindrucksvollem Äußeren, mit einem Turban um die Lammfellmütze und mit kostbaren, goldverzierten Waffen im Gürtel [= Verbindung Pferd-Krieger, orientalische Pracht]. Es war kein anderer als Hadschi Murat.“ Dieser überraschte einen russischen Offizier durch ein gutmütiges Lächeln: „Poltorazkij hatte sich den kühnen Anführer der Bergbewohner ganz anders vorgestellt. Er erwartete einen finsteren, trockenen, absonderlichen Menschen zu sehen, und nun erblickte er einen harmlos schlichten Mann vor sich, der so gutmütig lächelte, als sei er ein alter Freund und Vertrauter.“48 Eindeutig negativ hingegen, da unfähig, dekadent und wollüstig, wird die russische Oberschicht einschließlich des Zaren Nikolaj I. gezeichnet. Die Frage, ob nicht nur die (auch körperliche) Liebe, sondern sogar Eheschließungen zwischen indigenen Frauen und russischen Männern möglich oder sinnvoll seien, ist ein immer wiederkehrender Topos, der auch im Diskurs über den indigenen Krieger seine Funktion hat. Zuerst einmal weisen diese Überlegungen im russischen Kontext auf den eher inklusiven, nicht allzu stark von Rassegedanken geprägten Charakter des russisch-muslimischen encounters hin.49 Parallel dazu wurden die männlichen Angehörigen der unterworfenen Gruppe durch diese Denkfigur in eine mentale Distanz zum zivilisierten russischen Prinzip gerückt. Der russischen Seite half dieses Motiv bei der Illusion, unterdrückte, verschleierte und segregiert lebende indigene Frauen vor ihren eigenen, ‚wilden‘ Männern zu retten. Von diesem Grundmuster gibt es interessante Abweichungen, von denen abschließend zwei zeitlich weit auseinander liegende Varianten kurz dargestellt werden: Elena Gans „Džellaledin“ (1838), eine zu Lebzeiten populäre, heute aber in der russischsprachigen Welt weitgehend vergessene Autorin50, sowie der russische Schriftsteller Vladimir Makanin, der mit seiner 47
Tolstoj (1985), S. 13. Tolstoj (1985), S. 42 f. 49 Vgl. z. B. Hauner (1990), S. 43, der dies als eine Form von „social eugenics“ bezeichnet, die, so ist hinzuzufügen, in binnenkolonisatorischen Kontexten üblich ist. Layton (2005), S. 171, hat dies als Mythologie des „romancing the tribeswomen into civilization“ und damit als eine spezifische Form der Zivilisierungsmission beschrieben. Der englische koloniale Diskurs ist demgegenüber weitaus exklusiver, Eheschließungen zwischen Briten und nichtweißen Bewohnern der Kolonien waren grundsätzlich unerwünscht. Vgl. u. a. Empire, Migration, and the Fears of Interracial Sex c. 1830–1938 (2005), S. 5–209. 48
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1994 erschienenen Erzählung „Kavkazskij plennyj“ („Der kaukasische Gefangene“) seine eigene, zeitgemäße Variante des Sujets vorgelegt hat.51 Die Auflösung der traditionellen Geschlechterordnung ist ein immer wieder vorkommendes Motiv in kolonialen Kontexten und damit auch häufig Teil des Bildes vom indigenen Krieger; so auch in Elena Gans der Romantik verpflichteten Erzählung, in der die Frage nach der (Un-)Möglichkeit wirklicher Liebe zwischen ‚wilden‘ Männern und ‚zivilisierten‘ Frauen gestellt wird, also die übliche Kombination umdreht.52 Diese ist, um es vorweg zu nehmen, unmöglich, auch weil es sich bei der vermeintlich zivilisierten Frau um ein leichtfertiges Mädchen handelt, die der oberflächlichen Faszination für das „Fremde“ nur zeitweilig erliegt. Schauplatz ist hier mit der 1783 eroberten Halbinsel Krim eine andere, ebenfalls von Muslimen bewohnte und damit ‚exotische‘ Kolonie des russländischen Imperiums. Der krimtatarische Adlige Džellaledin verliebt sich wenige Jahre nach der russischen Annexion in Ljudmilla Nikolaevna, die Tochter eines hohen russischen Militärs. Eigentlich vom Abscheu auf alles Russische und die „Ungläubigen“ getrieben, besiegt „die Liebe zu der Einen (Ljudmilla) den Haß (Džellaledins) gegen ein ganzes (d.h. russisches) Volk.“53 Anfänglich wird diese Liebe erwidert, so dass Džellaledin Ljudmillas wegen seinem Glauben und seinem Volk abtrünnig wird. Er tritt in das russische Militär ein, schlägt sich im Kampf gegen Russlands Feinde tapfer, gilt als verschollen, kehrt zurück – und erfährt nicht nur vom Tod seiner Eltern, sondern auch von Ljudmillas unmittelbar bevorstehender Hochzeit mit einem russischen Offizier. Bei einem eiligst anberaumten Duell erschießt Džellaledin allerdings den falschen Bräutigam und verhindert die Vermählung Ljudmillas mit dem standesgemäßen und ethnisch kompatiblen russischen Offizier nicht. Džellaledin selbst kommt auf vermutlich selbstmörderische Weise zu Tode. Seine ihm zugetane junge Nichte Emina übergibt der untreuen Ljudmilla das mit seinem Blut benetzte Kreuz Džellaledins unmittelbar vor deren Eheschließung. Es ist das Symbol der Treulosigkeit der jungen Russin gegenüber dem indigenen Krieger, der sein Volk und seine Religion für sie aufgab.54 Voraussetzung für diese Abweichung vom sonst üblichen Plot über den wilden indigenen Krieger gelingt nur um den Preis der Effemenisierung Džellaledins, dem ‚typisch‘ weibliche bzw. kindliche Attribute zugeschrieben 50
Gan (1905). Makanin (2005). 52 Erotische Themen, aber auch Vergewaltigungen christlicher Frauen durch ‚rohe‘ indigene Männer sind hingegen ein häufig wiederkehrender Topos, etwa in Puškins „Bachcˇisarajskij Fontan“ oder in Gans „Erinnerungen an Zˇeleznovodsk“ (in: Polnoe sobranie socˇinenij). 53 Gan (1905), S. 148. 54 Gan (1905), S. 206. 51
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werden: Er wird als naiver Charakter gezeichnet, der sich mit „kindlicher Freude“ bewegt, „wie ein Kind bei einer feierlichen Einweihung spielt“.55 Trotz seiner Körperbeherrschung strahlt er keineswegs die Virilität eines erwachsenen (europäischen) Mannes aus. Dies zeigt sich bereits dadurch, dass er mit seinem Übertritt zum Christentum einen unmännlichen, ansonsten zumeist den indigenen Frauen obliegenden Schritt vollzog. Auch Vladimir Makanin spielt in seiner in der Gegenwart (1990er Jahre) angesiedelten Variation mit den üblichen Geschlechterstereotypen: Zwei russische Soldaten nehmen in der Kaukasus-Region einen jungen indigenen Krieger gefangen und müssen sich mit ihm durch die faszinierende, aber gefährliche, weil von feindlichen Partisanen beherrschte Bergwelt schlagen. Der erfahrene, äußerst maskulin geschilderte Soldat Rubachin ist jedoch zugleich von dem leicht verwundeten, blutjungen schönen Kaukasier mit dem schulterlangen Haar fasziniert: „Er besah sich seinen Gefangenen. Das Gesicht erstaunte ihn. Erstens durch seine Jugend [. . .]. Ebenmäßige Züge, zarte Haut. Was verblüffte ihn noch am Gesicht des Kaukasiers? Er verstand es einfach nicht.“56 Kurze Zeit später hat Rubachin Klarheit, denn der „junge Mann war sehr schön.“57 Er beginnt, sich um ihn wie um eine begehrte Frau zu sorgen, trägt ihn durch einen Bergbach, gibt ihm nachts seine Wollsocken . . . Der junge, wenig männlich geschilderte indigene Krieger, sucht ganz offenbar die körperliche Nähe zum Soldaten, schläft mit dem Kopf auf der Schulter des durch seine Gefühle irritierten Rubachin ein. Dieser sinniert zudem über die Verfahrenheit des russisch-kaukasischen Gegensatzes: „Wieso sind wir eigentlich Feinde?“ fragt er, „wir sind doch vom selben Schlag.“58 Doch das – auch erotische – Dilemma ist unlösbar, und als die kleine Gruppe auf kaukasische Rebellen stößt und ein einziger Schrei des Gefangenen zur Entdeckung führen könnte, tötet der Russe den geliebten Gefangenen. Damit rettet er sich nicht nur vor einer möglichen Entdeckung durch die Partisanen: „Mit dem Arm (des Kaukasiers), der ihn umfing, nahm Rubachin seinen Kehlkopf in die Zange. Drückte zu. Schönheit war keine Rettung. Ein paar Zuckungen . . . und Schluß.“59 Damit bereitet er, der zivilisierte Kämpfer, der gefährlichen Anziehungskraft des indigenen Fremden ein Ende und stabilisiert zugleich seine kurzzeitig gefährdete maskuline, heterosexuelle Identitätskonstruktion.60 55
Gan (1905), S. 140 f. Makanin (2005), S. 27. 57 Makanin (2005), S. 31. 58 Makanin (2005), S. 36. 59 Makanin (2005), S. 49. Damit spielt Makanin übrigens auf ein in Russland weithin bekanntes Dostoevskij-Zitat („Schönheit ist die Rettung“) an. 60 Erwähnt sei, dass seit Anfang der 1990er Jahre – und damit zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Novelle Makanins – Homosexualität in der Russländischen Fö56
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IV. Fazit Im Spiegel kulturgeschichtlich ausgerichteter Fragestellungen zum weltweiten Phänomen des imperialen Ausgreifens und dessen Folgen sowie des Verhältnisses zwischen metropolitanen und peripheren Gesellschaften zeigen sich grundsätzliche strukturelle Übereinstimmungen zwischen der russischen Einschreibung des Fremden einschließlich der Figur des indigenen Kriegers und denen anderer (ehemaliger) westlicher Kolonialmächte. Der historische, über viele Kanäle in das kollektive russische Bewusstsein eingesickerte Topos des indigenen Kriegers kennzeichnet diesen als gefährlich und weniger zivilisiert. Zugleich ist er faszinierend und häufig auch weniger männlich als sein russisches Gegenüber (wie etwa in Gans Erzählung), was Ausdruck eines russischen Überlegenheitsgefühls ist. Diese Bilder des kämpfenden muslimischen Fremden spielen auch gegenwärtig eine große Rolle. Sie sind z. T. widersprüchlich da nicht nur die Fremdheit betont wird, sondern zugleich die enge Verbindung mit der Geschichte und Gegenwart Russlands; so etwa bei Makanin. Während die Sowjetunion in Folge des Zweiten Weltkrieges neben den USA zur zweiten sog. Supermacht aufgestiegen war, ringt ihr Nachfolgestaat, die Russländische Föderation, gegenwärtig nicht allein um eine neue Rolle in der Welt61, sondern offenbar auch gegenüber ihren nichtrussischen und damit auch muslimischen Ethnien. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den kriegerischen Auseinandersetzungen um die Aufrechterhaltung ihrer Suprematie im nördlichen Kaukasus, wo der indigene Krieger eine höchst gegenwärtige Erscheinung ist. Literatur Albrecht, Erik (2010): Fremdenfeindlichkeit in Russland. http://www.dw-world.de/ dw/article/0,,5613170,00.html (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Batunsky, Mark (1992): Racism in Russian Islamology. Agafangel Krimsky, in: Central Asian Survey. 4 (1992), S. 75–84. – (1994): Russian Clerical Islamic Studies in the Late 19th and Early 20th Centuries, in: Central Asian Survey. 6 (1994), S. 213–235. deration nicht mehr strafbar ist. Dies hat freilich die Lage Homosexueller dort nicht nachhaltig verbessert. In der Verfilmung der Novelle Makanins vom russischen Regisseur Aleksej Ucˇitel’ von 2008 („Plennyj“) sind die homoerotischen Elemente übrigens weitaus sublimer, was wohl ein Zugeständnis an ein stark homophob empfindendes russisches Publikum ist. 61 Am Beispiel der Georgien-Krise des Sommers 2008 hat z. B. Uwe Halbach, Rückblick auf den „Fünftage-Krieg“. Dimensionen und Implikationen der Georgienkrise, in: Osteuropa, 58 (2008), H. 12, S. 65–79, die innenpolitischen, regionalen und globalen Positionierungsversuche russischer Politik dargelegt.
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III. Ethische Probleme und Standpunkte
Das Bild des Offiziers im 21. Jahrhundert Eine Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr1 Von Wolfgang Schneiderhan Es ist auch heute noch – nach 43 ¾ Dienstjahren – ein reizvolles Unterfangen, über die „Eigentümlichkeiten des Offiziersberufes“2, so wie ich sie erlebt habe, zu fabulieren und mit Ihnen, meine Damen und Herren, nochmals den roten Faden zu suchen, der all die Deutungsvarianten dieser Eigentümlichkeiten verbindet: die 10 Thesen der „Leutnante 70“, die Parolen der Hauptleute von Unna 1971, die Rede von Bundespräsident Scheel 1978 auf der Kommandeurstagung in Saarbrücken, die Ausführungen der Generale Baudissin, de Maiziére, Kielmannsegg, Hildebrandt, Schnez, Colloquien am Zentrum Innere Führung, die Balance Corecards unzähliger Stäbe, Ableitungen von Unternehmensberatern und natürlich die unzähligen Seminararbeiten an und die wissenschaftlichen Reflexionen aus dem Fachbereich Humanund Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr. Eine Zeitlang konnte man glauben, dass nur im Produktionsziel der Firma Bundeswehr – diese Worte sind mit Bedacht gewählt – also nur im Produktionsziel Sicherheit die Schnittmenge aller Eigentümlichkeiten des Soldatenberufes gebündelt sei. Heute wecken jüngere Reflexionen gar Zweifel, ob es überhaupt eine Verständigung über das Produktionsziel selbst gebe. Aber an der Historie des Offizierberufs liegt mir heute nichts, da können die Militärhistoriker besser Auskunft geben. Was mich interessiert, ist die Gegenwart mit ihren gewaltigen Umbrüchen und mit ihren Konsequenzen für das Bild vom Offizier. Der Bezug auf das noch junge 21. Jahrhundert wird dem gerecht, doch aus dem Wechsel vom 20. zum 21. Jahrhundert allein lassen sich keine Rückschlüsse auf ein zeitgemäßes Bild vom Offizier der Bundeswehr ziehen. Was wirklich zählt, sind die radikal veränderten sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Zustände, die zur Umwandlung der Bundeswehr von der Landesverteidigungs- oder Abschreckungsarmee 1 General a. D. Wolfgang Schneiderhan hielt die Rede am 20. Mai 2010 an der Führungsakademie der Bundeswehr. 2 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (1970).
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zur Einsatzarmee geführt haben. Dies ist der Hintergrund, vor dem Antworten auf ein zeitgemäßes Berufsbild gefunden werden müssen.
I. Ein streitkräftegemeinsames Berufsbild vom Offizier Nun wird vielen unter den Anwesenden bekannt sein, dass die immer wieder unternommenen Anläufe zur Ausformulierung eines Berufsbilds des Offiziers der Bundeswehr nicht weit führten. Dies gilt auch für die Versuche der Teilstreitkräfte, die Streitkräftebasis und den Sanitätsdienst eingeschlossen, wenigstens für ihren Bereich ein angemessenes Bild zu formulieren. Den Gründen für das bisherige Scheitern will ich hier und heute nicht nachgehen. Einen Punkt aus der Berufsbilddebatte greife ich aber dennoch auf: die Behauptung, dass es generell nicht möglich sei, ein Bild vom Offizier der Bundeswehr zu entwickeln. Diese Position steht im Zusammenhang mit der strittigen Frage, ob Offiziere der Bundeswehr überhaupt ein gemeinsames Verständnis ihres Berufes benötigen. Mir scheint die Antwort davon abhängig zu sein, was wir unter einem Berufsbild verstehen und welchen Stellenwert wir ihm beimessen. Was an Einwänden gegen ein Berufsbild des Offiziers vorgetragen wird, hat zweifelsohne Gewicht. Denn Offiziere, speziell Stabsoffiziere, differenzieren sich nach ihrer Zugehörigkeit zu Teilstreitkräften und Organisationsbereichen, nach Aufgaben und Tätigkeitsfeldern und nach deren Dienstgraden aus. Sie nehmen Führungsverwendungen wahr oder dienen als Führungsgehilfen. Dies schien und scheint ein wesentlicher Hindernisgrund, vom Beruf des Offiziers schlechthin zu sprechen. Die Unterschiedlichkeit und Bandbreite soldatischen Handelns erschweren es in der Tat, hieraus das Bild des Soldaten, das Bild des Offiziers herauszudestillieren. Vor allen Dingen schließt sich eine alleinige Ableitung des Berufsbilds über Aufgaben und Tätigkeiten aus, weil sich Offiziere zu sehr nach speziellen Tätigkeitsfeldern unterscheiden. Zudem kann das, was für Soldatinnen und Soldaten gilt, nicht unbesehen auf Offiziere übertragen werden. Der Stabsoffizier, den ich in erster Linie vor Augen habe, ist nicht der Soldat, der sich im Einsatzland im Aufklärungseinsatz oder unmittelbar im Kampfeinsatz befindet. Reine Führungsaufgaben muss er nicht unbedingt wahrnehmen. Aber das gehobene Offizierkorps prägt mit seinem Selbstbild und Auftreten Geist und Moral der Armee. Es wirkt auf Entscheidungen ein, die über die Qualität und Leistungskraft der Bundeswehr als Einsatzarmee entscheiden. Bundespräsident Heuß hat hier an der Führungsakademie in schwäbischer Einfachheit Beständiges formuliert, als er den Soldatenberuf als einen „ernsten, sehr ernsten Beruf“ bezeichnete. Dieser Ernst ergibt sich ganz we-
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sentlich auch für Streitkräfte in einer Demokratie – vielleicht ganz besonders für Streitkräfte in einer Demokratie, die sich im Einsatz unter asymmetrischen Bedingungen befinden – aus einem alten und immer wieder neuen Gesetz: vom Recht zu befehlen und von der Pflicht zu gehorchen – beides eindeutig konstatiert im Soldatengesetz, beides aber in deutlichen Grenzen eingehegt. Über die politischen und militärischen Begründungen für dieses Gesetz muss ich hier nicht sprechen. Ich habe dieses Grundgesetz des Soldatenberufes auch nur erwähnt, weil es als zentrale und besondere Eigentümlichkeit gerade in einer Einsatzarmee einen allgemeinen Rahmen für Ableitungen von Handlungs-, Funktions- oder Anforderungsprofilen setzt und auch Managementkompetenzen einer Grundstruktur zuordnet. Und lassen Sie mich noch eines anmerken: Häufiger Aufgabenwechsel ist bei Offizieren eine Regel geblieben und – noch viel wichtiger – im Einsatz lösen sich die klassischen Zugehörigkeiten zu Teilstreitkraft und Truppengattungen in den Grundgliederungen häufig auf. Außerdem gibt es spätestens seit der Einführung der Streitkräftebasis eine Durchlässigkeit in den Organisationsbereichen, die eine Suche nach dem Gemeinsamen und Konstanten sinnvoll erscheinen lässt. Von daher geht es mir um ein gemeinsames Berufsbild des Offiziers, welches die Besonderheiten der Teilstreitkräfte und der militärischen Organisationsbereiche außer Acht lässt. Mir schwebt ein Bild des Offiziers der Bundeswehr vor, das sich auf streitkräftegemeinsames Denken und Handeln gründet. Maßstäbe hierfür können deshalb nur Ansprüche und Erwartungen sein, die für alle Offiziere der Bundeswehr ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zur Teilstreitkraft und zum militärischen Organisationsbereich gemeinsam gelten. Ich will versuchen zu begründen, warum die Bundeswehr an solch einem allgemein gefassten, streitkräftegemeinsamen Berufsbild nicht vorbeikommt. Ein Berufsbild verweist auf eine Vorstellung, wie der Beruf von seinem Inhaber, seiner Inhaberin ausgefüllt werden sollte. Gleichzeitig entwickelt der Offizier selbst ein Bild, wie er sich den Offizierberuf denkt und welche Erwartungen er mit diesem Beruf verbindet. So wie er sich sieht, nimmt er auch seine Kameraden wahr. Durch das Berufsbild findet der Offizier einen Bezugspunkt, um sich mit seinen persönlichen Ansprüchen einerseits und den Erwartungen des Dienstherrn andererseits auseinander zu setzen, um zwischen beiden ein Gleichgewicht zu finden. In der geistigen Auseinandersetzung mit dem Beruf und seinen ethischen und fachlichen Ansprüchen findet der Offizier zur Berufsidentität. Er gewinnt dadurch Orientierungssicherheit und Halt. Beides wird sein Handeln ordnen. Ein Berufsbild klärt aber nicht nur die Beziehung des Offiziers zu seinem Beruf. Es stellt auch die Klammer für ein gemeinsames, kollektives Berufs-
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verständnis dar, um Loyalität und Zusammenhalt zu ermöglichen. Zugleich ist es eine Quelle für den Berufsstolz des Offiziers, mit dem sich gesellschaftliche Legitimation und Geltungsansprüche verbinden. Und Berufszufriedenheit ist von Offizieren nur dann zu erwarten, wenn sie sich mit ihrem Beruf identifizieren. Wenn auch das eine oder andere Selbstbild sich nicht mit dem offiziellen Berufsbild deckt, liegt es gleichwohl im Interesse der Armee, dass sich die Offiziere in ihrem Selbstverständnis und ihrer Berufsidentifikation an einem offiziellen Leitbild orientieren. Schließlich wirkt die Bundeswehr mit einem Berufsbild auch in die Politik und Gesellschaft hinein. Dies schließt das Ansehen und die Reputation von Bundeswehroffizieren ein, was sich wiederum als Attraktivitätsfaktor auf die Nachwuchslage auswirkt. Ich glaube, es wird genügend deutlich, wie notwendig ein Bild des Offiziers ist, um verschiedene Bedarfe abdecken zu können.
II. Militärische Führung: Macht – Demut – Verantwortung Die Managementlehre ist bekanntlich der Bundeswehr bei der Eigenschaftsbestimmung von Führungskräften voraus. Nur warne ich davor, den für privatwirtschaftliche Manager entwickelten Vorstellungen leichtgläubig zu folgen. Es ist bereits einige Jahre her, dass Arbeitsgruppen des Zentrums Innere Führung und der Führungsakademie der Bundeswehr unter dem Einfluss des ökonomischen Managementdenkens ein nicht enden wollendes Eigenschaftsportfolio des Bundeswehroffiziers entwickelten. Mit diesem Konstrukt konnte und wollte ich mich nicht so richtig anfreunden. Es wich dem für mich entscheidenden Ziel aus, zum identitätsstiftenden Wesenskern des Offizierberufs vorzudringen und sich darauf zu konzentrieren. Die Aufschlüsselung des Anforderungsprofils nach gängigen Kompetenzfeldern wie der Sozialkompetenz, Organisationskompetenz, Fachkompetenz und Individualkompetenz bleibt zu abstrakt und zu wenig zielgenau. Schlimmer noch: sie leistet dem unreflektierten und unpolitischen Manager- und Technokratentum in der Bundeswehr Vorschub. Was wir brauchen und suchen, werden wir nicht über die Selektion in Assessment Center und über TraineeLaufbahnen finden. Die Suche nach einem Bild des Offiziers hat bei dessen Kernaufgabe anzusetzen: militärische Führung. Sie setzt sich nicht einmal von der modernen Managementlehre ab. So wendet einer der Hauptvertreter dieser Disziplin, Warren Bennis, gegen das verbreitete Managementdenken ein, dass Manager die Dinge richtig tun und Führer die richtigen Dinge. Das, was Offiziere an richtigen Dingen tun, hat einiges mit anderen zivilen Führungs-
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berufen gemein. Doch ist der Offizier deshalb noch nicht ein Führungsberuf wie jeder andere. Er steht mit seiner beruflichen Existenz für einen Dienst an der Gesellschaft ein, die von ihm im Extremfall den Einsatz des eigenen Lebens verlangt. So ist der Offizier ein Führungsberuf mit außerordentlicher Verantwortungslast gegenüber dem Dienstherrn, dem Staat, und gegenüber den ihm unter dem Gesetz von Befehl und Gehorsam anvertrauten Menschen. Er setzt Männer und Frauen von einem hohen fachlichen und ethischen Anforderungsprofil voraus, die ihn aus tiefster innerer Überzeugung, ja, mit Hingabe ausüben. Eine so verstandene Führungstätigkeit ist nichts, was primär um der Entlohnung willen ausgeübt werden kann. Das sei mit Blick auf alle Überlegungen zur Attraktivitätssteigerung angemerkt und zwar für alle Teilstreitkräfte, für die Streitkräftebasis und den Sanitätsdienst. Militärische Führung ist also zunächst einmal personal – an die Person gebunden, der die Befehlsmacht übertragen ist. Daraus leitet sich nicht nur die alleinige Verantwortung ab, sondern ergibt sich auch die Einheit von Person und Handeln. Es ist diese Verbindung von Eigenschaften und Tätigkeiten, die eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Manchmal frage ich mich, ob es nicht gar eine Berufung zur Führung gibt, die sich nicht stringent aus einer ausgewiesenen Kompetenz ableiten lässt, sondern sich in Wertbindungen, vielleicht sogar in einer Beziehung gründet, die das rein Weltliche transzendiert. Voraussetzung für gute Führung ist zunächst einmal eine ganz persönliche, sehr intensive Auseinandersetzung um mit dem eigenen Verhältnis zur übertragenen Macht. Am Ende dieses persönlichen Ringens wird sich zur guten Führung Demut als Partner der Macht qualifizieren. Gute Führer haben Respekt vor ihrer Macht! Mit diesem Respekt ergreifen sie die Macht dann aber auch. So entwickelt sich ein Dreiklang von Macht – Demut – Verantwortung. Aus ihm lässt sich für mich ableiten, dass Führungshandeln Gemeinschaftswerk sein darf, ja sein muss. Mit diesen Überlegungen habe ich versucht, den für den Offizier adäquaten kooperativen Führungsstil anders zu begründen als mit rechtlichen, demokratischen, gesellschaftspolitischen und militärisch professionellen Argumenten. Damit meine weiteren Reflexionen zum Bild des Offiziers nicht den Eindruck erwecken, ich spräche ständig nur von dem Offizier in lupenreinen Führungsaufgaben, sei eine Anmerkung erlaubt: Macht – Demut – Verantwortung ist in meinem Verständnis auch bei denen verortet, die beratende Tätigkeiten auf den verschiedensten Ebenen ausüben. Die normativen Bindungen im Netzwerk der Führungsprozesse gelten nicht nur für den, der mit großen Schuhen vorausgehen darf und die Spur legen muss. In diesem Dreiklang Macht – Demut – Verantwortung hat der Beruf des Offiziers bis heute seinen Bindungs- und Verpflichtungscharakter beibehalten.
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Es geht also um ein ganz breit angelegtes umfassendes Verantwortungsbewusstsein, das den Offizier der Bundeswehr prägt. Dieses erwächst aus einem festen ethischen Fundament und aus tief sitzenden Überzeugungen, das ihn zum persönlich integren Verantwortungsträger – Einheit von Person und Handeln nannte ich es vorher – macht. Der Wesenskern des Offiziers besteht in der Fähigkeit und Bereitschaft, Menschen zu führen. Dabei geht es immer auch darum, bei Untergebenen nicht nur einfach auf die Pflicht zum Gehorsam zu bestehen, sondern selbst in Schwierigkeiten, hoch gefährlichen Situationen Vertrauen und Gefolgschaft aus Einsicht zu finden. Und dies gelingt durch eigene Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sowie dem Respekt vor der Befehlsgewalt. Eigenschaft und Tätigkeit bilden eine Einheit. Von diesem Geist beseelt stehen und denken Offiziere als Führer für das Ganze. Sie verfügen über den Tag hinausreichende Ziele und über einen inneren Kompass, so dass sie sich nicht im „Kleinteiligen“ und im „Durchwursteln“ verlieren. Führer bedienen das menschliche Bedürfnis nach Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Sie informieren ehrlich, verständlich, rechtzeitig und umfassend. Sie verschleiern keine Probleme, selbst in gefahrvollen, gar aussichtslosen Situationen. Führung bewährt sich im Umgang mit Menschen: Soldatinnen und Soldaten zu motivieren, Ziele zu setzen, von Aufträgen zu überzeugen und sie mit ihren Aufgaben zu identifizieren – dies sind die Messlatten. Gute Führung lässt die Geführten erleben, dass sie in ihrer Würde geschätzt und in ihrer Einzigartigkeit ernst genommen werden. Dann wachsen Selbstachtung und Selbstwertgefühl der Geführten. Dazu gehört auch, dass gute Führung vom Geführten keine Leistungen jenseits des Leistungsvermögens fordert. Gute Führer führen mit Sinn. Sie stehen für klare Werte und Prinzipien ein und leben sie vor. Von ihnen gehen Inspiration und Impulse zur Aktivierung der Geführten aus. Und sie führen mit Visionen, das heißt, sie arbeiten das große Ganze heraus, wofür es sich einzusetzen lohnt – bis hin zur Opferung des eigenen Lebens. Was mir noch wichtig ist: Der Offizier als Führer vermeidet die Selbstinszenierung als „great man“ und als „heroe“. Ihm ist Oberflächlichkeit fremd; er ist authentisch.
III. Das Berufsbild des Offiziers vor dem Hintergrund der neuen Einsatzwirklichkeit der Bundeswehr Leadership füllt den Rahmen des Berufsbilds für einen Offizier nicht gänzlich aus. Es setzt sich vielmehr facettenreich aus vielschichtigen Komponenten zusammen, in denen sich der Auftrag sowie die politische und ge-
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sellschaftliche Stellung des Offiziers widerspiegeln. Es fließen Menschenbilder ein, denen philosophische Strömungen sowie Staats- und Gesellschaftsordnungen in ihren historischen Ausprägungen zugrunde liegen. Mit der „Armee in der Demokratie“ ist für die Bundeswehr dieser Einbettungszusammenhang grundsätzlich entschieden. Unsere Suche nach dem „Gemeinsamen“ wird erschwert durch die einfache Feststellung, dass es kein in einen unveränderlichen Rahmen gefasstes, überzeitliches Bild vom Offizier gibt. Im Gegenteil: Soldaten sind, wie Baudissin einmal sagte, „Kinder ihrer Zeit“. Und wandeln sich die Zeiten, ist zu prüfen, inwieweit unsere Vorstellungen vom Soldaten, hier: des Offiziers, noch in die Gegenwartszeiten passen. Das Bild des Offiziers war nie starr, sondern unterlag zu allen Zeiten einem fortlaufenden, zum Teil gravierenden Veränderungsprozess. In den letzten Jahren war die Bundeswehr jedoch einem besonders stürmisch verlaufenden Veränderungsprozess ausgesetzt, der in ihrer Umwandlung zur Armee im Einsatz seinen Niederschlag gefunden hat. Der Globalisierung von Unsicherheiten und Bedrohungen folgte die sicherheitspolitische Konsequenz, Risiken und Gefahrenherde schon am Ort ihres Entstehens vorbeugend zu begegnen, ehe sie sich zur Bedrohung der Stabilität und Sicherheit der internationalen Staatengemeinschaft auswachsen können. Risiken und Krisen sind vor allen Dingen in Ländern zu verzeichnen, in denen das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr durchzusetzen ist und Bürgerkriege brutalster Gewalt die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens beseitigen. Nichtstaatliche Akteure wie Kriegsherren, Aufständische, marodierende Milizen, Glaubenskrieger und Terroristen treten auf den Plan; sie verwüsten gegen die Regeln des Kriegs- und Völkerrechts ganze Landstriche und rauben der Bevölkerung die wirtschaftliche Existenzgrundlage. Im Geleitzug von „failing states“ stehen Unterdrückung, Massenverarmung und -vertreibungen, zerrüttete Kriegsökonomien und zivilisatorische Verwerfungen. Diesen neuartigen Gefahren und Bedrohungen haben sich „Einsatzarmeen“ zu stellen, um Gewaltauseinandersetzungen vorbeugend zu verhüten, Konflikte durch Trennung der Konfliktparteien zu beenden und Versöhnung und Wiederaufbau zu ermöglichen. Die Bundeswehr steht im Dienst einer auf Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes. Ihre Aufgaben umfassen „Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“. Darin sind klassische Kriege hoher Intensität, aber auch Frieden sichernde Operationen, sogenannte „military operations other than war“, eingeschlossen. Humanitäre Hilfe sowie Kampf gegen den internationalen Terrorismus runden das Aufgabenspektrum der neuen Bundes-
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wehr ab. Auslandsmissionen sind durch streitkräftegemeinsame und multinationale militärische Operationsführung gekennzeichnet. Im Rahmen von Stabilisierungsoperationen besteht der Kernauftrag der Bundeswehr vornehmlich darin, ein sicheres Umfeld herzustellen, um staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren die Wiederherstellung von Staatlichkeit und die Herbeiführung eines nachhaltigen Friedens zu ermöglichen. Deren Aufgaben können Streitkräfte nicht übernehmen. Greifen zivile „state-building“- und „peace-building“-Maßnahmen nicht wie geplant, können Streitkräfte hierfür auch nicht in Verantwortung genommen werden. Nur lehren uns die Erfahrungen der bisherigen Einsätze, dass es das Schema des Einsatzes nicht gibt. Vielmehr kann eine Auslandsmission der Bundeswehr von langweiligen Beobachtermissionen über Aufbauhilfe, Trennung von Konfliktparteien bis hin zu Beendigung von extrem gewalttätigen Bürgerkriegen reichen. Wie das Beispiel Bosnien und Kosovo zeigt, ändert sich mit der Länge eines Einsatzes auch dessen auf Friedensstabilisierung ausgerichtetes Aufgabenspektrum. Umgekehrt lehrt Afghanistan, dass eine ursprüngliche Stabilisierungsoperation immer mehr zur Aufstandsbekämpfung umschlägt. Das Gemeinsame, was sich den unterschiedlichen Einsätzen und ihren Verläufen entnehmen lässt, ist die hochgradige Unsicherheit der Situation und die sich daraus ergebende Wechselhaftigkeit der Anforderungen. Das Militär operiert in einer Grauzone von „nicht mehr Krieg“ und „noch nicht Frieden“. In dieser Zwischenwelt kann die Fragilität der Situation jederzeit durch Neuausbruch von Gewalt eskalieren und in den Kriegszustand zurückfallen. So finden Soldatinnen und Soldaten im Einsatz Bedingungen vor, deren Gefahrenpotential auch Tod und Verwundung heißen. Ihnen können als Gegner nichtstaatliche Irreguläre, Aufständische, Warlords oder Kindersoldaten gegenüberstehen, die sich der asymmetrischen Kampfweise bedienen. Gewaltbereite oder friedliche kooperationsbereite Akteure zu unterscheiden, fällt äußerst schwer, ja ist auf der taktischen Ebene nahezu unmöglich. Einsätze können Soldatinnen und Soldaten mit bisher nicht erlebten Extremsituationen wie Not und Elend der Bevölkerung, Zerstörung, Hinterhalt und Beschuss, Bergen und Versorgen von Verwundeten und Toten, darüber hinaus auch mit Kriegsverbrechen und Gräueltaten konfrontieren. Auch mit persönlichen Leistungseinbrüchen und emotionaler Beeinträchtigung durch Heimweh, Angst, Aggression, Schuldgefühlen, Trauer, Hektik, Leere und Apathie ist zu rechnen.
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IV. Die Neubestimmung des Offiziersbildes Mit der skizzierten neuen Einsatzwirklichkeit der Bundeswehr ist das Berufsbild des militärischen Führers auf jeden Fall vielschichtiger und komplexer geworden. Nach wie vor dreht sich der Offiziersberuf im Kern um Androhung und Anwendung von Gewalt, was nur unter Beachtung höchster Maßstäbe des Rechts und der Moral seine Rechtfertigung findet. Doch hat es enormen Einfluss auf das Berufsverständnis des Offiziers, wenn wir von ihm verlangen, neben den klassischen Aufgaben auch noch Tätigkeiten mit polizeiähnlichem oder zivilem Charakter beherrschen zu müssen. Denn die Bandbreite der Aufgabenstellungen, in denen er sich zu bewähren hat, reicht vom Menschenführer über den Stabsarbeiter, den Spezialisten und Kämpfer hin zum Beobachter, Schützer, Helfer und Retter. Der Offizier hat sich in seinem Denken und Problembewusstsein den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen zu stellen, die mit Begriffen wie failing states, Bürgerkriege, Völkermorde, internationalen Terrorismus und Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmittel und auch Klimakatastrophen beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund von Krisenprävention und Stabilisierungseinsätzen muss der Offizier des 21. Jahrhunderts aus seiner nach militärischen Regeln und Werten bestimmten herkömmlichen Denkwelt heraustreten und sich die Fähigkeit aneignen, wissenschaftlich, politisch und diplomatisch zu denken. Es geht nicht nur um die Umformulierung soldatischer Anforderungen und Kompetenzen, sondern es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Neubestimmung des soldatischen Selbstverständnisses. Dies lässt sich mit dem Aufgabenspektrum des Offiziers im Einsatz und den daraus zu ziehenden Konsequenzen begründen. Heute reicht das soldatische Berufsprofil von zivilen, präventiven, manchmal polizeiähnlichen Aufgaben bis hin zum klassischen Kriegseinsatz. Letzterer wird voraussichtlich immer seltener erfolgen, bleibt aber Kernkompetenz jeder soldatischen Existenz. Das Weißbuch von 2006 hat diese Aufgabenerweiterung in die Rolle des Schützers und Helfers gekleidet, die der Soldat neben seiner klassischen Rolle als Kämpfer im Einsatz auszufüllen habe. Was dies für das Selbstverständnis des Soldaten und Offiziers impliziert, hat eine Kontroverse ausgelöst: Auf der einen Seite wird die Wiederkehr des archaischen Kämpfers propagiert, auf der anderen Seite die Verpolizeilichung des Offizierberufs diagnostiziert. Wie das erweiterte Aufgabenprofil ersichtlich macht, kann der archaische Kämpfertyp den daraus resultierenden hohen Ansprüchen, die an Offiziere im Einsatz gerichtet sind, nicht genügen. Rolle und Selbstverständnis des Soldaten können sich nicht mehr allein im klassischen soldatischen Handwerk erschöpfen. Er muss bei rasch
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wechselnden Situationen zugleich auch als Helfer, Vermittler und Schlichter auftreten können. Umgekehrt machen erweiterte, eher zivil bestimmte polizeiliche Aufgaben aus einem Soldaten noch keinen Polizisten, auch nicht einen bewaffneten Sozialarbeiter. Ein Identitätswandel ergibt sich gleichwohl, weil der Soldat von seinem Anforderungsprofil und Selbstverständnis her im neuen vielschichtigen Rollenbild das „Soldatische“, das „Polizeiliche“ und das „Zivile“ in einer Person vereinen muss. Für das Berufsbild des Offiziers im 21. Jahrhundert ergeben sich hieraus weitreichende Konsequenzen. Es wird durch das erweiterte Aufgaben- und Rollenprofil einer Spannung ausgesetzt, die von der Gegensätzlichkeit beiden Rollen herrühren. Die Anreicherung der alten Soldatenrolle um polizeiliche und zivile Anteile mutet dem Offizier einiges zu, weil er dabei nicht auflösbare Spannungen ertragen muss. Schon die Verbindung von Soldat und Staatsbürger in Uniform verlangte ihm einiges ab. Nun aber hat er auch noch die Spannung zwischen Kämpfer und Helfer auszubalancieren. In fremder, nicht durchschaubarer, auch feindselig gestimmter Umgebung bei starker Wechselhaftigkeit der Situation wird vom Offizier verlangt, rasch von der eher zivil geprägten Rolle des Polizisten und Helfers in die des Kämpfers und umgekehrt schlüpfen zu können. Die unterschiedlichen Facetten des erweiterten Aufgabenprofils durchdringen sich wechselseitig, wechseln sich rasch ab und können sogar parallel auftreten. Um diese innere Mobilität bewältigen zu können, muss vom Offizier ein hohes Maß an psychischer Stabilität und Ambiguitätstoleranz verlangt werden. Nur emotional und moralisch gefestigte Persönlichkeiten mit ausgeprägtem Selbstvertrauen werden mit diesem Spannungsverhältnis umgehen können. Dies läuft auf ein Soldatenbild hinaus, dass der Schweizer General Däniker auf den Begriff „miles protector“ gebracht hat: ein Soldat, der die Rollenflexibilität mit all ihren Anforderungen in ganzer Breite vereinigt. Hergebrachte soldatische Tugenden, auf die sich das traditionelle Selbstverständnis der Offiziere gründet, wie Tapferkeit, Gehorsam, treues Dienen, Disziplin und Opferbereitschaft sind nach wie vor unverzichtbar. Sie reichen aber nicht aus, um im Einsatz dem Aufgabenspektrum des Kämpfens, Helfens und Vermittelns gerecht zu werden. Da Führen und Entscheiden bereits auf niedriger Ebene für den Ausgang von Missionen größte Bedeutung und somit auch Rückwirkungen auf Politik und Gesellschaft haben kann, müssen Offiziere mit sicherem politischen, sozialen und moralischen Urteilsvermögen ausgestattet sein. Das befähigt sie, sich in unübersichtlichen Situationen zurecht zu finden und sich über die Folgen und Nebenwirkungen des eigenen Handelns in jeglicher Hinsicht bewusst zu werden. Darüber hinaus benötigt der Offizier ein hohes Maß an psychischer Robustheit, Belastungsfähigkeit und Nervenstärke, um mit dem extremen Ge-
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fahrenpotential asymmetrischer Kriegsführung, mit der Unübersichtlichkeit der Lage und mit der Unberechenbarkeit der Lageentwicklung umgehen zu können. Rasche Auffassungsgabe und Reaktionsfähigkeit sowie persönliche Verantwortungsbereitschaft helfen ihm dabei, wenn eine Lage schlagartig zu eskalieren droht und Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen sind. Verantwortliches Handeln geht mit moralischer Orientierungssicherheit und Urteilskraft einher, um in schwierigen Grenzsituationen das Richtige zu tun. Dies setzt ein sittliches Fundament seines Handelns voraus, was ihm zum Verantwortungsethiker im Sinne Max Webers macht – ohne davor gefeit zu sein, schuldig zu werden. Unüberlegtes, leichtfertiges und heißsporniges Entscheiden ist mit verantwortlichem Handeln nicht zu vereinbaren. Ethische Erfüllung finden Offiziere dann in ihrem Beruf, wenn sie aus innerer Überzeugung für den Schutz der Menschenwürde, für Frieden, für den Kampf gegen Unfreiheit und Unrecht, für den Kampf gegen Inhumanität und Gewalttätigkeit, für sichere und friedliche Grundlagen zwischenmenschlichen Zusammenlebens eintreten. Solche in der Demokratie verankerten Werte geben ihm Halt und einen inneren Kompass, um auch schwierigste Situationen psychisch und moralisch bestehen zu können. Vom Offizier im Einsatz wird Kooperationsfähigkeit verlangt, weil er Kontraktbeziehungen zu Soldaten anderer Nationen, zu Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und zu Vertretern der einheimischen Bevölkerung aufbauen muss. Grundlage hierfür ist Empathie, also die Fähigkeit und die Sensibilität, sich in andere mit ihren Vorstellungen und Erwartungen hineinversetzen zu können. Unterstützt wird sie durch interkulturelle Kompetenz, die Rücksichtnahme auf die im Einsatzland begegnende fremde Kultur, auf Sitten, Gebräuche und religiöse Empfindungen ermöglicht. Es ist längst klar geworden, wie viel vom Offizier im 21. Jahrhundert verlangt wird. Dabei habe ich nur die neue Einsatzwirklichkeit reflektiert, die eine Anpassung des Berufsbilds des Offiziers unumgänglich macht. Was ihm ebenfalls zu schaffen macht, ist das Informationszeitalter, in der der ungehinderte Erwerb und die Nutzung von Wissen eine Schlüsselkategorie des Wirtschaftens und des Wohlstandserhalts bildet. Das Ausmaß an Informationen steigt unermesslich und unterliegt gleichzeitig einer beschleunigten Verfallsrate. Deshalb kommt es für den Offizier darauf an, der oberflächlichen Informationsflut durch hintergründiges Erkennen, Verstehen und Durchschauen zu entkommen. Er benötigt nicht nur analytischen Verstand, sondern Umsicht und Zusammenschau, um Wichtiges von Unwichtigem trennen zu können. Notwendig hierfür sind eine kritische Urteilskraft sowie ein Denken in Perspektiven und Alternativen; sie müssen in der wissenschaftlichen
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Ausbildung geschult werden. Um Anschluss an die Wissensgesellschaft zu halten, entwickelt der Offizier Eigeninitiative beim lebenslangen Lernen. Er zeigt Neugierde und Bereitschaft zum Lernen und Umlernen – Begeisterung für Innovatives wurde das einmal genannt.
V. Das Berufsbild des Offiziers vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels Wie sich zeigt, wird das Berufsbild des Offiziers nicht nur durch den Aufgaben-, sondern auch durch den Gesellschaftswandel bestimmt. Schon vor der Einheit war die alte bundesrepublikanische Gesellschaft ausgesprochen materialistisch geprägt und setzte auf die Bindewirkung von sozialer Sicherheit und Wohlstand. Gemeinschaftssinn und Einsatz für das Gemeinwohl ließen zu wünschen übrig. Unter diesen Bedingungen setzte in den 1970ern ein Wertewandel ein, der die gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen und den Vorrang der Selbstverwirklichung weiter verstärkte. Der Schwung des Wertewandels hat nach der deutschen Einheit deutlich abgenommen, weil sich unter dem Druck der Globalisierung die ökonomischen Vorzeichen der Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft verkehrten. Zwar ist die Kritik – auch aus der Bundeswehr – an der Freizeit- und Eventgesellschaft noch immer nicht verstummt, doch im Lande verschieben sich gegenwärtig die gesellschaftlichen Verhältnisse. Mit dem Ende der immerwährenden ökonomischen Prosperität verstärkt sich die soziale Ungleichheit. Selbst in den tragenden Mittelschichten werden Ängste vor Verlust von Status und Lebensstandard wach. Dies setzt zwischen den gesellschaftlichen Gruppen Entsolidarisierungseffekte frei, die auch von materieller Seite her die Bindungskräfte und den Zusammenhalt gefährden. Schon seit Jahren beklagen die Menschen eine Entwicklung zu einer Ellbogengesellschaft. Unter diesen Umständen dreht sich das gesellschaftliche Leben in Deutschland um Statuserhalt und soziale Sicherheit, kurz den Primat der Innenpolitik, während äußere Sicherheit und die Rolle Deutschlands in der Welt die Gemüter kalt lässt. Vor diesem Hintergrund steht der Offizier als „gewaltbereiter“ Ordnungshüter, der im Grundverständnis einer durch und durch friedliebenden, postheroischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik keinen emotional gestützten Anklang findet. Zwar stößt die Bundeswehr als öffentliche Institution seit Jahren in der Gesellschaft auf hohes Vertrauen und große Akzeptanz. Doch hat sich der Offizier damit abzufinden, für viele Bürgerinnen und Bürger ein „Fremdkörper“ zu sein, der darauf spezialisiert ist, das Tabu des gesellschaftlichen Gewaltverzichts zu durchbrechen; er muss sich mit einem der hinteren Plätze auf der Berufsprestigeskala begnügen.
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Mit der Gründung der beiden Bundeswehr-Universitäten Anfang der 1970er wurde zwar die Akademisierung des Offizierberufs vollzogen. Dies ergäbe, wie es so heißt, einen Mehrwert an kulturellem Kapital. Nur habe ich Zweifel daran, ob wir zur Statusverbesserung in der Außendarstellung des Offizierberufs davon genügend Gebrauch gemacht haben. Ungünstig für das Selbstwertgefühl des Offiziers ist zudem, dass die Bundeswehr sich nicht sicher sein kann, für militärische Einsätze die notwendige politische Rückendeckung und gesellschaftliche Akzeptanz zu finden. Gleichwohl ist der Offizier als Staatsbürger in Uniform integraler Teil einer pluralistischen Gesellschaft, die für die Zivilbürger und Zivilbürgerinnen unterschiedlichste Wertorientierungen und Lebensstile zulässt. Die Philosophie der Inneren Führung sagt uns, dass mit dem Beruf des Offiziers unterschiedliche private Entwürfe selbstbestimmter Lebensweise vereinbar sind. Dem Offizier ist dabei bewusst, dass zivilbürgerliche Bedürfnisse und Lebensansprüche einerseits und Erfordernisse des militärischen Dienstes andererseits sich aneinander reiben. Der Staatsbürger in Uniform bewegt sich infolgedessen in einem Spannungsfeld, um die Rolle des guten Soldaten und freiheitlichen Staatsbürgers gleichermaßen auszufüllen. Feste Überzeugungen hindern ihn nicht an der Duldung von Pluralität und an der Toleranz gegenüber anderen Anschauungen.
VI. Schluss Lassen sie mich mit einem Blick auf die jungen Generalstabsoffiziere enden, die hier an der Führungsakademie ausgebildet werden. Sie stellen als „high potentials“ den Führungsnachwuchs der Bundeswehr, der einmal die höchsten militärischen Spitzenstellungen einnehmen wird. Sie sind Nachwuchsreserve für die militärische Führungsschicht, die zweifelsohne eine Elite bildet. Mit dem Generalstabsdienst-/Admiralstabsdienstlehrgang an der Führungsakademie legt die Bundeswehr größten Wert darauf, ihren Elitenachwuchs nach dem Prinzip der Bestenauslese und -qualifizierung zu rekrutieren. Dass dies glückt, hat der Bundespräsident Horst Köhler in seiner Festansprache zum 50-jährigen Bestehen der Führungsakademie ausdrücklich bestätigt. Zur Elite zu zählen ist kein Privileg, sondern mit besonderen Verpflichtungen verbunden. Spitzenoffiziere nehmen gegenüber der Bundeswehr, der Politik und der Gesellschaft eine herausgehobene Rolle ein, die mit hohen Ansprüchen einhergeht. Ihre Entscheidungen sind von großem Gewicht und wirken sich auf Motivation und Einsatzbereitschaft des Personals aus. Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wurden lange Zeit über ihre herausragende Befähigung und Leistungskraft definiert, mit der sie die
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ihnen zugewiesenen Führungsaufgaben erledigen würden. Die Führungsschicht der Bundeswehr folgte diesem durch die Leistungsgesellschaft vorgegebenen Trend und reihte sich in den Kreis der Funktionseliten ein. Dass sich mittlerweile Funktionseliten den Vorwurf des Versagens zu stellen haben, ist nicht mein Thema. Vielmehr geht es mir darum, dass sich „Spitzenoffiziere“ in ihrem Selbstverständnis nicht als Funktionselite, sondern als Verantwortungselite begreifen. Mit ihren weitgehenden Handlungsvollmachten werden sie zu Verantwortungsträgern gegenüber der Bundeswehr, gegenüber dem Staat und gegenüber der Gesellschaft. Sie verlassen damit den eng begrenzten militärischen Aufgabenbereich und betreten die Sphäre des Politischen. Anders als andere Führungsspitzen – die Politik ausgenommen – muss die Militärelite im Extremfall Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Umso größer ist die Verantwortungslast, die sie zu tragen hat. Mit dem Selbstverständnis als Funktionselite kann die militärische Führungsschicht der damit zu übernehmenden Verantwortung nicht gerecht werden. Sie hat schließlich allen Grund, sich als Verantwortungselite zu verstehen. Sie nimmt sich ganz bewusst im Streben nach Eigennutz und persönlichen Vorteilsgewinn zurück und kann glaubwürdig beanspruchen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, indem sie äußere Sicherheit und Schutz der Bundesrepublik gegen weltweite Risiken und Bedrohungen gewährleistet. „Spitzenoffiziere“ als Verantwortungselite verfügen über ein stabiles Wertefundament und über gesunden Menschenverstand. Sie halten nur solche Entscheidungen für verantwortbar, deren Ziele moralisch gerechtfertigt sind und deren Folgen für Staat und Gesellschaft vertreten werden können. Dies schließt die Bereitschaft ein, auch für die Folgen einzustehen, die durch Entscheidungen herbeigeführt werden. Allerdings greift eine so begriffene Verantwortungsethik erst dann, wenn „Spitzenoffiziere“ dazu fähig sind, die Folgen des eigenen Handelns für die Streitkräfte einerseits und für Politik und Gesellschaft andererseits in ihrer ganzen Tragweite überblicken und beurteilen zu können. Hierfür sind militärfachliche Professionalität, wissenschaftliche Bildung, ganzheitliches Denken, differenzierte politische Urteilskraft und vor allem moralische Integrität vonnöten. Verfügen „Spitzenoffiziere“ als Verantwortungselite über unverzichtbare sicherheits- und gesellschaftspolitische Breitenausbildung und moralische Urteilskraft, steht dem nichts im Weg, um in die Rolle eines sachverständigen, selbstbewussten strategischen Akteurs und Partners der Politik zu schlüpfen. Auch in der vielfach angemahnten sicherheitspolitischen Debatte könnten sie eine aktive Rolle übernehmen. An der Richtungs- und Letztentscheidungskompetenz der Politik darf dabei aber nicht gerüttelt werden.
Das Bild des Offiziers im 21. Jahrhundert
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Wohin auch immer die Neubestimmung des Offizierbildes im 21. Jahrhundert führt, finden wir einen sicheren Halt, wenn wir uns dabei der besten Tradition deutschen Soldatentums, dem Ideal des Dienens und dem verpflichtenden Geist der Inneren Führung bewusst bleiben.
Literatur Bundesministerium der Verteidigung (Hg.) (1970): Weißbuch 1970. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr. Bonn.
Moralische Verantwortung statt politische Geschmeidigkeit! Kritische Reflexionen zur Berufsethik der Offiziere im General- und Admiralstabsdienst Von Matthias Gillner Anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Führungsakademie der Bundeswehr am 14. September 2007 appellierte der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler in einer ungewöhnlich offenen Weise an die moralische Verantwortung der Offiziere im General- und Admiralstabsdienst. Er forderte sie zu einer geradezu kritischen Rede gegenüber der Politik und in der Öffentlichkeit auf: „Die Soldatinnen und Soldaten erwarten von ihren militärischen Führern Klartext nach ‚oben‘ und ‚außen‘: hin zu den außen- und verteidigungspolitisch Verantwortlichen, hin zur Öffentlichkeit. Über die Notwendigkeit von Auslandseinsätzen zum Beispiel entscheidet das Parlament, aber es sollte ruhig erfahren, dass sich darüber auch die Soldatinnen und Soldaten Gedanken machen, vor allem wenn sie erleben, dass in einem Einsatzgebiet auch nach Jahren noch keine Fortschritte erzielt wurden oder dass die Zeit, die ihr Einsatz ‚kauft‘, nicht für den energischen zivilen Aufbau genutzt wird. Da soll Stabsausbildung eben auch ihren Nutzen erweisen: bei der ebenso höflichen wie unmissverständlichen Meldung, was im Argen liegt.“1 Und dieser Weckruf zur mehr „Militärcourage“ erfolgte aus guten Gründen. Denn trotz des liberalen Konzepts des „Staatsbürgers in Uniform“2 und der „Inneren Führung“3 wird Widerspruch von Offizieren 1
Bundespräsident Köhler (2007), S. 3. Der Begriff des „Staatsbürgers in Uniform“ wurde 1952 von Friedrich Beermann, dem wehrpolitischen Berater der SPD, geprägt und gilt seit Gründung der Bundeswehr als rechtlich verbindliches Leitbild zur Umsetzung der Konzeption der Inneren Führung für Wehrpflichtige wie für Zeit- und Berufssoldaten in den Streitkräften. Mit diesem Konzept soll eine weitgehende rechtliche Gleichstellung des Soldaten mit allen anderen Bürgern erreicht werden. Das aktive und passive Wahlrecht wurde gewährt, eine Koalitionsfreiheit ermöglicht und die Grundrechte nur auf das militärisch absolut notwendige Minimum eingeschränkt (Art. 17a GG). Vgl. Reeb/Többicke (2003), S. 226. 3 Das Konzept umreißt das Selbstverständnis und die Führungskultur der Bundeswehr und geht auf eine Regelung des Amtes Blank aus dem Jahre 1953 zurück: 2
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im General- und Admiralstabsdienst eher selten geäußert und noch viel weniger politisch oder schon bundeswehrintern geduldet. Die Ereignisse in Afghanistan, vor allem die Vorfälle in der Region Kunduz haben die Dringlichkeit einer aktiven Ausübung der staatsbürgerlichen Rolle der militärischen Führungskräfte und ihre moralische Verantwortung für die militärische Strategie sowie das Leben der ihnen anvertrauten Soldaten und den Schutz der afghanischen Zivilbevölkerung der Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt. In diesem Aufsatz soll zunächst die Übernahme moralischer Verantwortung des militärischen Führungspersonals kritisch in den Blick genommen werden, um danach die einzelnen Gestaltungsfelder der moralischen Verantwortung sowohl für die militärischen Einsätze als auch innerhalb der Einsätze selbst zu skizzieren. Schließlich wird ein moralischer Kompass für das militärische Führungspersonal entwickelt, dessen Inanspruchnahme auch durch die Gewissensfreiheit des Soldaten rechtlich ermöglicht wird.
I. Das Risiko der Übernahme von moralischer Verantwortung Die Wahrnehmung moralischer Verantwortung durch Offiziere im General- und Admiralstabsdienst wird zunehmend durch „konformistischen Loyalismus“ (Klaus Ebeling) gegenüber dem Staat sowie ein funktionalistisches soldatisches Selbstverständnis gefährdet. Anstatt bei einem offensichtlichen Missverhältnis zwischen politischem Mandat und den zur Verfügung gestellten militärischen und zivilen Mitteln in die Rolle des mündigen Bürgers zu schlüpfen und den eigenen friedens-, sicherheits- und militärpolitischen Sachverstand einzubringen, passt sich die militärische Elite nicht selten den Erwartungshaltungen der politischen Führung und der öffentlichen Meinung an oder leistet gar vorauseilenden Gehorsam. Ermöglicht wird diese politische Geschmeidigkeit durch einen freiwilligen Rückzug auf die rein militärfachliche Kompetenz und die Reduktion des eigenen berufsspe„Alle Arbeiten auf dem Gebiet ‚Innere Führung haben das Ziel, den Typ des modernen Soldaten zu schaffen und fortzubilden, der freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich ist.“ Reeb/Többicke (2003), S. 143. In der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 werden die Grundlagen und Grundsätze, die Ziele und Anforderungen sowie die Gestaltungsfelder der Inneren Führung beschrieben. Mit der Transformation der Bundeswehr wurde auch diese Vorschrift völlig überarbeitet und am 28. Januar 2008 vom Bundesminister der Verteidigung erlassen. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen um eine Stärkung des Konzepts der Inneren Führung unter den Bedingungen militärischer Einsätze seien nur die Sammelbände von Opitz (2001) und Wiesendahl (2007) sowie die Monographien von Ebeling/Seiffert/Senger (2002) und Meyer (2009) erwähnt.
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zifischen Leitbildes: auf einen „gut“ funktionierenden Militärtechnokraten oder -bürokraten, der sich nicht dem (geschuldeten) „Primat der Politik“, sondern einem (ungeschuldeten) „Primat des Politikers“ unterordnet. Die Übernahme moralischer Verantwortung wird durch bundeswehrinterne Kontrolle auch verhindert. Unliebsame Äußerungen werden schnell als Ungehorsam betrachtet und entsprechend bestraft. Nicht Ehrlichkeit und Widerspruch, sondern Unauffälligkeit und Konformität begünstigen oft die militärische Karriere der Offiziere im General- und Admiralstabsdienst. Ein solcher Anpassungsdruck hat viele negative, manchmal sogar fatale Folgen. Die Auswirkungen etwa auf die Entwicklung in Afghanistan haben die Journalisten Anita Blasberg und Stefan Willeke – gestützt auf zahlreiche Interviews ehemaliger Kommandeure in Kundus – aufgezeigt: „Wer verstehen will, warum sich die Lage der Provinz Kundus von Jahr zu Jahr verschlimmert hat, sollte sich auch das vor Augen führen: Die Wahrheit befördert keine Karrieren. Die Wahrheit von Kundus kennt keine Profiteure.“4 Noch folgenschwerer wiegt die in Festtagsreden zwar programmatisch gelobte Autonomie, in dem alltäglichen Regierungsgeschäft aber nur allzu oft praktizierte Entmündigung des Staatsbürgers in Uniform. Nicht geteilte Stellungnahmen der militärischen Führungselite werden vom Ministerium als Verletzung des Primats der Politik getadelt, kritische Berichte – wie etwa die Bilanz der Auslandseinsätze einer Gruppe von Generälen um den ehemaligen Oberbefehlshaber der Afghanistan-Schutztruppe Isaf, Norbert van Heyst, vom Sommer 2007 – als geheim eingestuft und weggeschlossen.5 Das aus der Differenz zwischen theoretischem Anspruch und politischer Erwartung resultierende schizophrene Anforderungsprofil hat Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung auf den Begriff gebracht: „Seid Staatsbürger, aber gehorsam! Denkt politisch, aber nur im Horizont der Regierungspolitik! Liefert Expertise, aber nur dann, wenn sie willkommen ist!“6 Das Einbringen von Expertise und Sachverstand durch die militärische Elite in parlamentarischen Beratungsgremien, in wissenschaftlichen Fachtagungen oder in öffentlichen Talkshows – auch dann, wenn sie politisch nicht opportun erscheint – ist nicht nur prinzipiell gerechtfertigt, sondern geradezu eine Verpflichtung gegenüber Politik und Gesellschaft. Eine moralisch verantwortliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik braucht die strategischen Fähigkeiten der Offiziere im General- und Admiralstabsdienst und deren Kenntnisse und Erfahrungen aus den Einsätzen. Dies verlangt 4 5 6
Blasberg/Willeke (2010), S. 16. Vgl. Bittner (2010), S. 3. Naumann (2008), S. 64.
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von der Politik nicht nur die Anerkennung einer spezifischen Kompetenz der militärischen Elite, sondern auch die Ermöglichung einer aktiven Präsenz in den politischen Entscheidungsprozessen. Zwar steht das Militär weiterhin unter dem Primat der Politik, aber das reine „Subordinationsund Kontrollverhältnis“ (Klaus Naumann) würde so zugunsten kooperativer politisch-militärischer Beziehungen aufgebrochen. Doch um welche moralische Verantwortung geht es bei der militärischen Elite überhaupt? Aufgrund der unterschiedlichen Erfordernisse und der damit verbundenen Rollendifferenzierung in den verschiedenen „Missionen“ wird vor allem auf die moralischen Anforderungen in den Einsätzen abgehoben. Mindestens genauso wichtig aber ist die Verantwortung für die militärischen Einsätze. Hier ist der Offizier im General- und Admiralstabsdienst sowohl als verantwortungsbewusster Staatsbürger wie auch als militärischer Stratege gefragt. 1. Moralische Verantwortung in den militärischen Einsätzen Im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit steht das militärische Engagement der Bundeswehr in Afghanistan. Doch das tatsächliche Spektrum der militärischen Einsätze ist erheblich breiter. Es reicht von der UN-Beobachtermission im Sudan (UNMIS)7 oder der Beratungs- und Unterstützungsmission im Rahmen der Reform des Sicherheitssektors in der DR Kongo (EUSEC RD Congo)8 über die Bekämpfung von Piraterie vor der Küste Somalias (ATALANTA)9 bis hin zu den Stabilisierungsmissionen auf dem 7
Die United Nations Mission in Sudan (UNMIS) wurde am 24. März 2005 von dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen (Resolution 1590) und dient vor allem der Absicherung des Friedensabkommens zwischen der Regierung Sudans und der südsudanesischen Volksbefreiungsbewegung SPLM/A. Die Bundeswehr beteiligt sich an dieser Mission mit bis zu 75 unbewaffneten Militärbeobachtern (Beschluss vom 22. April 2005). Darüber hinaus beteiligt sich die Bundeswehr auch an der von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union gestellten Friedenstruppe UNAMID (United Nations – African Union Mission in Darfur), die vom Sicherheitsrat am 21. Juli 2007 autorisiert wurde (Resolution 1769 – Verlängerung bis 15. August 2010 durch Resolution 1828), die Zivilbevölkerung in der Region Darfur zu schützen. 8 Im Vordergrund der europäischen Beratungsmission im Rahmen der Reformen des kongolesischen Sicherheitssektors EUSEC RD Congo (European Union security sector reform mission in the Democratic Republic of the Congo) steht die Hilfe bei der Umstrukturierung und dem Wiederaufbau der kongolesischen Armee sowie die Unterstützung bei der politischen Integration der verschiedenen regionalen Gruppierungen. 9 Die Marineoperation Atalanta ist eine multinationale Mission der Europäischen Union und dient dem Schutz von humanitären Hilfslieferungen nach Somalia und der freien Seefahrt im Golf von Aden. Dabei wurden die Befugnisse für Kriegs-
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Balkan (EUFOR – Operation Althea10 und KFOR11) und in Afghanistan (ISAF)12. Dazu braucht der Offizier im General- und Admiralstabsdienst nicht nur die strategischen und operativen Fähigkeiten eines Spezialisten für Gewaltausübung, sondern auch die fachlichen Qualitäten eines Diplomaten: Verhandlungsgeschick, Argumentationskraft, Empathie, Fingerspitzengefühl, Kompromissbereitschaft und die Fähigkeiten zur Vertrauensbildung. Wenn keine staatlichen Institutionen mehr funktionieren, müssen sogar Aufgaben übernommen werden, die denen des Technischen Hilfswerks, der internationalen Polizeitruppe oder gar der administrativen Verwaltung gleichen. Dies verlangt nicht nur eine weitere Erweiterung des Fähigkeitsprofils, sondern auch eine erhebliche Differenzierung des militärischen Rollenverständnisses: Helfer und Vermittler, Berater und Stratege. Das alleinige Leitbild des Kämpfers hat ausgedient, Vorstellungen vom „Kampf als Klammer des soldatischen Selbstverständnisses“ müssen als völlig unangemessen zurückgewiesen werden, auch wenn sich Stabilisierungsmissionen unter Bedingungen der Aufstandsbekämpfung – wie gegenwärtig in der Provinz Kundus – als große Versuchung solcher restaurativer Engführungen eignen. Doch gerade bei der politischen Zielvorgabe der Stärkung und Festigung staatlicher Grundstrukturen,13 die militärische, polizeiliche und zivile schiffe aller Staaten auf Hoher See, ein Piratenschiff oder ein durch Piraterie erbeutetes und in der Gewalt von Piraten stehendes Schiff aufbringen zu dürfen, am 2. Juni 2008 durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf die Küstengewässer von Somalia ausgedehnt (Resolution 1816). 10 Am 2. Dezember 2004 übernahm die Europäische Union mit der Operation Althea auch die militärischen Aufgaben im Rahmen der Überwachung und Umsetzung des Dayton-Abkommens in Bosnien-Herzegowina. 11 Auf der Grundlage der Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 regelt überwacht die NATO-Sicherheitstruppe Kosovo Force (KFOR) die Entwicklung der Sicherheitsstrukturen im Kosovo. 12 Die International Security Assistance Force (ISAF) unterstützt auf Basis eines UN-Mandats (Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001) unter NATO-Führung die gewählte afghanische Regierung bei der Herstellung und Wahrung der inneren Sicherheit. 13 In der Öffentlichkeit wird der Begriff des „Krieges“ undifferenziert als Container für alle militärischen Gewalthandlungen verwendet. Im angelsächsischen Sprachgebrauch wird hingegen zwischen War und Military Operations Other Than War (MOOTW) unterschieden, eine Differenzierung, die aus dem Blickwinkel der Art der Gewaltausübung gute Gründe vorweisen kann. Während der Krieg die klassische Form der militärischen Gewaltanwendung darstellt, die nur durch das humanitäre Völkerrecht eingegrenzt und nach Sieg und Niederlage bemessen wird, steht hinter MOOTW immer der politische Wille eine Ordnung herzustellen und/oder zu sichern. Gewalthandlungen werden hier nicht weitgehend entgrenzt, sondern durch eng gefasste Rules of Engagement (ROE) beschränkt. Die militärische Gewalt dient in diesen Einsätzen nicht länger dem Sieg, sie wird als Gefahrenabwehr und zur Schaffung von sektoraler Sicherheit eingesetzt. Fachlich als Konstabulisierung (Haltiner) bezeichnet, entspricht diese Form militärischer Gewalt eher dem Charakter
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Aufgaben beinhalten, erweist sich die Flexibilität des Rollenverständnisses als besonders förderlich. Durch die Teilhabe am lokalen Gewaltmonopol muss das Militär die Sicherheit der Zivilbevölkerung gewährleisten. Bei polizeiähnlichen Aktionen mit militärischen Mitteln soll das Leben von Unschuldigen – trotz erheblicher Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten – besonders geschützt werden. Dies verlangt von der militärischen Führungselite eine sensible Wahrnehmung der Situation, hohes Empathievermögen und eine scharfsinnige moralische Urteilsfähigkeit.14 Die Verantwortung im Einsatz umfasst einen inneren und einen äußeren Geltungsbereich.15 Innerhalb der militärischen Hierarchie ist sie doppelt gerichtet. Nach oben ist der Offizier im General- und Admiralstabsdienst letztlich dem Verteidigungsminister, dem Parlament, den Bürgern seines Landes verpflichtet. Er soll die strategischen Pläne und operativen Überlegungen mit den politischen Zielvorgaben abstimmen, sich nicht auf die eigene Karriere konzentrieren, sondern den Erfolg des Ganzen im Blick behalten. Nach unten ist er für das Leben der ihm unterstellten Soldaten verantwortlich. Er hat die Pflicht, die Gesundheit der Untergebenen nicht leichtsinnig aufs Spiel zu setzen, vielmehr alles zu tun, um die Gefahren so gering wie möglich zu halten. Als moralisches Subjekt ist er auch nach außen verantwortlich – für alle Menschen, deren Leben von seinem Tun oder Unterlassen betroffen sind. Dies gilt auch schon für feindliche Soldaten, für Aufständische oder für terroristische Attentäter. Auch deren Leben und körperliche Unversehrtheit müssen so weit wie möglich geschont werden, wenn sich dadurch die Gefahren für die eigenen Soldaten nicht erhöhen. Militärisch überflüssige Tötungen müssen grundsätzlich vermieden werden. Die moralische Verantwortung nach außen zielt vor allem auf die Zivilbevölkerung. Der Offizier im General- und Admiralstabsdienst steht diesbezüglich in der Pflicht, die Rechte und Interessen der Zivilpersonen wahrzunehmen und deren Leben zu schützen. Traditionell werden hier die Prinzipien der Diskrimination und der Proportionalität angeführt. Die direkte Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung ist immer verboten und muss auch im Zweifel unterlassen werden. Damit aber ist die indirekte Gevon Polizeigewalt und wird daher auch von deren Logik bestimmt. Und die Einsätze der Bundeswehr seit Ende des Ost-West-Konflikts gehören überwiegend zur Kategorie MOOTW – und daran wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern. Vgl. Franke/Gillner/Keller (2009), S. 41. Zum Begriff der Konstabulisierung vgl. auch Haltiner (2006). 14 Vgl. Gillner (2004), S. 89. 15 Vgl. Walzer (2003), S. 52 ff.
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waltanwendung nicht einfach schon erlaubt und kann als „Kollateralschaden“ entschuldigt werden.16 Bei der Tötung von Unbeteiligten kommt es auf die Zurechenbarkeit an.17 Wenn der Tod von Zivilpersonen bewusst in Kauf genommen wird oder sich darüber leicht hätte informiert werden können, ist er nicht zu rechtfertigen, denn er kommt einer illegitimen direkten Tötung nahe. „Gründe, derentwegen wir den starken Terrorismus für verwerflich halten, sollten wir nicht zugleich als Entschuldigung für uns selber anführen.“18 Darüber hinaus erinnert Reinhard Merkel an die hierfür unerlässliche Unterscheidung zwischen Notwehr und Nothilfe. Während bei der Selbstverteidigung die Tötung Unbeteiligter persönlich nachgesehen werden könne, würde sie bei der Nothilfe keinen Entschuldigungsgrund mehr liefern, da eine Maxime, Unschuldige zu töten, um andere Unschuldige zu retten, sich selbst zerstöre.19 Das Proportionalitätsprinzip zielt allgemein darauf, „mit den gegebenen Mitteln nicht zu ‚klotzen‘, sondern nur das zur Ausführung des Auftrags gerade Benötigte einzusetzen.“20 Die Verhältnismäßigkeit zwischen dem verfolgten Ziel und dem daraus resultierenden Schaden soll gewahrt werden. Da aber angesichts alternativer Möglichkeiten oft nur Wahrscheinlichkeiten abgeschätzt werden können, ist es oft schwierig zu beurteilen, welche der Optionen als verhältnismäßig zu bezeichnen ist. Einige Vorzugsregeln können die Anwendung des Prinzips auf die Situation erheblich erleichtern. Neben den allgemein bekannten Vorzugsregeln, dass von zwei alternativen militärischen Handlungen immer diejenige gewählt werden muss, die die weniger dringlichen Güter zerstört (Dringlichkeitsregel), die das zu erwartende Übel nur wahrscheinlich zur Folge hat (Wahrscheinlichkeitsregel) und durch die einer geringeren Anzahl von Personen Schaden zugefügt wird (Quantitätsregel), können im Blick auf militärische Handlungen, die immer ein bestimmtes Risiko in sich bergen, einige Vorzugsregeln aufgestellt werden, die aus dem Bereich der Risiko-Ethik stammen und von Gethmann formuliert wurden: Alle militärischen Optionen, deren Handlungsfolgen prinzipiell nicht begrenzbar sind, sollen unterlassen werden! (Begrenzbarkeitsregel) Von zwei alternativen militärischen Handlungen, die beide prinzipiell begrenzbar sind, soll diejenige gewählt werden, deren Handlungsfolgenraum überschaubar ist! (Überschaubarkeitsregel) Von zwei alternativen militärischen Handlungen, deren Handlungsfolgenräume beide 16 Die Verwendung dieses desinformierenden Begriffs – Sachen werden beschädigt, Menschen werden verletzt, hier geht es sogar auch um Tötungen – dient eher zur Verschleierung angerichteten menschlichen Leids. Vgl. auch Gillner (2011). 17 Zur Erläuterung des ethischen Prinzips der Doppelwirkung vgl. Ebeling (2009). 18 Meggle (2002), S. 162. 19 Vgl. Merkel (2000), S. 73 f. 20 von Baudissin (1970), S. 292 f.
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überschaubar sind, soll diejenige gewählt werden, deren Handlungsfolgen technisch besser beherrschbar sind! (Beherrschbarkeitsregel) Und von zwei alternativen militärischen Handlungen, die beide beherrschbar sind, soll diejenige gewählt werden, deren Handlungsfolgen eher revidierbar sind! (Zurückführbarkeitsregel)21 Eine klare moralische Urteilsbildung erweist sich also dadurch, dass der Offizier im General- und Admiralstabsdienst – unter Kenntnis der moralischen Prinzipien und Normen und der verfügbaren empirischen Daten der Handlungssituation sowie unter Zuhilfenahme einiger Vorzugsregeln – bestimmte Konfliktfälle auf Regeln beziehen kann.22 2. Moralische Verantwortung für die militärischen Einsätze Die Offiziere im General- und Admiralstabsdienst haben aber nicht nur eine moralische Verantwortung in dem Einsatz, sondern auch für den Einsatz. Zunächst müssen sie eine überzogene Erwartungshaltung von Teilen der „strategic community“ zurückweisen, die glaubt, Sicherheit oder sogar Frieden allein durch den Einsatz militärischer Gewalt herstellen zu können. Danach gilt es, auch allen Versuchen zu widerstehen, das Selbstverteidigungsrecht zugunsten präventiver Gewaltanwendung zu entgrenzen. Schließlich sind Offiziere im General- und Admiralstabsdienst als betroffene Akteure mit spezifischem Erfahrungshintergrund gegenüber der Politik und der Gesellschaft auch verpflichtet, „jede Verharmlosung kriegerischer Gewalt entgegenzuwirken und den Sinn dafür zu schärfen, dass kriegerische Gewalt menschliches Versagen dokumentiert und stets ein Übel ist“23. Als Argumentationshilfe gegen eine Relegitimierung des Krieges können die friedensethisch reformulierten Kriterien aus der Tradition der Lehre vom „gerechten Krieg“ dienen. Militärische Gewalt ist demnach kein moralisch akzeptables Mittel zur Durchsetzung eigener vitaler Interessen; sie ist allein als Anwendung von Gegengewalt gerechtfertigt. Schon das Völkerrecht kennt als Ausnahme vom Gewaltverbot nur den Fall der Notwehr eines Staates gegenüber einem militärischen Angriff von außen und die Nothilfe durch Dritte. Als rechtfertigender Grund (causa iusta) für gewaltsame Interventionen gilt auch der Schutz von wehrlosen Opfern schwerwiegender und systematischer Menschenrechtsverletzungen innerhalb eines Staates. Die rechte Absicht (intentio recta) beweist sich durch die strikte Ausrichtung des Einsatzes auf die Verbesserung der Situation der Gewaltopfer. Hu21 22 23
Vgl. Gethmann (1991), S. 163 f. Vgl. Gillner (2002), S. 26 f. Ebeling (2006), S. 41.
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manitäre Ziele als Vorwand für partikulare Interessen und eigene politische Zwecke unterhöhlen das Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen und müssen daher ausgeschlossen werden. Die Anwendung von Gewalt darf auch nicht allein darauf zielen, den verletzten „status quo“ wiederherzustellen, dessen kriegsverursachenden Elemente bald einen neuen militärischen Konflikt provozieren würden; sie muss sich an einem gerechten Frieden orientieren und näherungsweise dessen je größere Realisierung anstreben. Berechtigte Instanz (auctoritas legitima) sind im Fall der Notwehr nur die angegriffene Regierung und die mit ihr verbündeten Staaten. Im Falle einer gewaltsamen Intervention bedarf es eines hinreichenden Mandats der Vereinten Nationen. Nur im Fall einer illegitimen Blockierung der Staatengemeinschaft durch offensichtlich partikulare Interessen eines einzelnen Staates kann eine Ausnahme von der Regel gerechtfertigt sein. Schließlich kommt die Anwendung von Gegengewalt nur als letztes Mittel (ultima ratio) in Betracht. Alle anderen Mittel, „dem Recht eines angegriffenen Staates oder den fundamentalen Rechten von Menschen einen Weg zu bahnen, müssen ausgeschöpft sein. Denn auch wenn sie der Verteidigung elementarer Rechtsgüter dient, bringt Gewaltanwendung rasch ein nur schwer begrenzbares Ausmaß von Leid mit sich.“24 Zudem muss der Einsatz militärischer Mittel möglichst gewaltarm erfolgen und zugleich die vorhandene und drohende Gewalt wirksam vermindern.25 Bei der Entscheidung für einen militärischen Einsatz durch das Parlament muss die Führungselite der Bundeswehr gegenüber der Politik auch die hierfür notwendigen Mittel – sprich Ausrüstung, Material und Personalstärke – einfordern. Engpässe bei der Ausstattung gefährden leichtfertig das Leben unterstellter Soldaten. Fehlende Schutzwesten, unzureichend gepanzerte Fahrzeuge oder zu wenige Kommunikationsmittel aufgrund zu spät erfolgter oder gleich ganz unterbliebener Beschaffungsmaßnahmen dürfen nicht hingenommen werden. Die eingesetzten Soldaten haben auch einen Anspruch auf genügend nationale Lufttransportkapazitäten, ausreichend schweres Gerät und eine entsprechende Einsatzstärke, wenn es die Bedrohungslage erfordert.26 Das Eingeständnis eines ranghohen Mitarbeiters des 24
Die deutschen Bischöfe (2000), Nr. 151. Vgl. Gillner (2009b), S. 15. 26 So machte der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hellmut Königshaus, jüngst die Ausrüstungsmängel der Bundeswehr mit verantwortlich, dass deutsche Soldaten in Afghanistan Sprengfallen nicht rechtzeitig orten und entschärfen können. So verfügten etwa die US-Streitkräfte über besonders geschützte Fahrzeuge, aus denen heraus Sprengfallen durch Roboter beseitigt werden können. http://www.sueddeutsche. de/politik/bundeswehr-in-afghanistan-wehrbeauftragter-draengt-auf-bessere-ausrues tung-1.1104557, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011. 25
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Verteidigungsministeriums, es sei „von Anfang an ein Webfehler (gewesen), die Zahl der eingesetzten Soldaten in den einzelnen Regionen entlang parteipolitischer Schmerzgrenzen festgelegt zu haben statt entlang militärischer Erfordernisse“27, macht deutlich, dass Widersprüche durch die militärische Elite benannt werden müssen – notfalls über die Öffentlichkeit.
II. Die Entwicklung eines moralischen Kompasses Wenn die Offiziere im General- und Admiralstabsdienst in den militärischen Einsätzen, aber auch für die Einsätze selbst Verantwortung übernehmen, dann brauchen sie klare ethische Maßstäbe und einen festen Standpunkt, dann müssen sie sich anhand eines „moralischen Kompasses“ orientieren können. Entsprechend der Anzahl der Himmelsrichtungen sollen vier Orientierungspunkte genannt werden, die die moralische Beurteilung von Konfliktsituationen in den Einsätzen sowie von Problemen bei der Gestaltung von Einsätzen überhaupt leiten sollen: die Leitperspektive Frieden, die Achtung der Menschenwürde, die Geltung der Menschenrechte und die Hoheit des eigenen Gewissens. 1. Leitperspektive Frieden Sicherheit als Herstellung eines verlässlichen Zustands von Gefahrlosigkeit gilt als zentrales „gesellschaftliches Wertsymbol“ (Franz-Xaver Kaufmann). Traditionell richtet sich die äußere Sicherheit allein gegen externe militärische Bedrohungen der politischen Selbstbestimmung und der territorialen Integrität. Die Idee einer „erweiterten“ oder „vernetzten“ Sicherheit28 löst den Begriff aus der alten nationalstaatlichen und militärischen Engführung. Sie schließt die Unteilbarkeit von Sicherheit (notwendig?) mit ein – zielt somit nicht nur auf die nationale Sicherheit eines einzelnen Staates, sondern auf eine kollektive, umfassende, multilaterale Sicherheitsstruktur im Rahmen der Vereinten Nationen. Aber mit der Ausweitung des Bedrohungsspektrums – von Terrorismus über Menschenrechtsverletzungen bis zur Unterentwicklung – gerät eine solche Sicherheitskonzeption schnell in Konflikt mit der klassischen Friedensidee. Denn dieser geht es nicht nur um die Absicherung stabiler Strukturen, um das Auf-Distanz-Halten von Krisen und um die Eindämmung ihrer Auswirkungen, sondern um die Errichtung gerechter Verhältnisse – allgemeine Anerkennung der Menschenrechte, gleiche Chancen auf Entwicklung, faire Weltwirtschaftsord27
Bittner (2010), S. 3. Zur Kritik an der politischen und militärischen Verwendung des Begriffs der „vernetzten Sicherheit“ vgl. auch Jaberg (2009). 28
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nung –, um die Bearbeitung von Krisen und um die Bekämpfung ihrer Ursachen. Sie orientiert sich auch nicht vornehmlich an der vormoralischen Rationalität des aufgeklärten Eigeninteresses oder folgt der Logik der Nutzenmaximierung oder der rationalen Wahl, sondern an der moralischen Rationalität internationaler Gerechtigkeit und an der unbedingten Geltung moralischer Pflicht.29 Ein „gerechter Frieden“ lässt sich von der einfachen Einsicht leiten, dass bereits „Verhältnisse fortdauernder Ungerechtigkeit (. . .) in sich gewaltgeladen“30 sind. Erst mit der Finalisierung der Sicherheit auf den Frieden gewinnt die Politik jenen Zielhorizont, der ein gerechtes und sicheres Zusammenleben zwischen Staaten und Gesellschaften möglich macht.31 Deshalb sind die Streitkräfte auch durch ihre Funktion für den Frieden legitimiert. Die Präambel der deutschen Verfassung – „von dem Willen beseelt, . . . als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ – zeugt von dieser friedenspolitischen Ausrichtung. 2. Achtung der Menschenwürde Das deutsche Grundgesetz von 1949 stellt gleich im ersten Artikel fest: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Es reagiert damit auf die brutale Missachtung menschlicher Würde während der national-sozialistischen Schreckensherrschaft und die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges. Die inhaltliche Offenheit des Begriffs – es gibt keine einheitliche Definition – ermöglichte es, dass sich so unterschiedliche geistige und politische Positionen wie der Liberalismus, der Sozialismus und der Katholizismus auf dieses Grundprinzip verständigen konnten. Inhaltlich lassen sich ein leistungs- und ein wesensbezogener Strang unterscheiden: das Ziel eines geglückten Lebens und die Fähigkeit, frei über das eigene Leben zu bestimmen.32 Die Unbedingtheit der Würde aller Menschen verlangt die wechselseitige Anerkennung als Freie und Gleiche. Und diese Verpflichtung normiert auch das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen in der Bundeswehr. Sie setzt zwar nicht die „asymmetrische Rollen- und Machtverteilung in einer funktional begründeten hierarchischen Ordnung“33 außer Kraft, verlangt aber vom Führungsverhalten mehr als die Beschränkung auf einen reinen 29
Zur Kritik an der Engführung internationaler Politik auf Sicherheits- und Machtpolitik vgl. auch Gillner (2008c), S. 52 f. 30 Die deutschen Bischöfe (2000), Nr. 59. 31 Vgl. Gillner (2008a), S. 20 und (2008b), S. 26. 32 Vgl. Ebeling (2007), S. 20. 33 Ebeling (2006), S. 66.
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Funktionsgehorsam: dass die Befehle oder Aufträge gegenüber den betroffenen Soldaten stets rechtfertigungsfähig sind. 3. Geltung der Menschenrechte Die Menschenrechte sind – spätestens seit 1989 – zur grundlegenden und weltweit gültigen politischen Idee geworden. Davon zeugt schon die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet, . . . verkündet die Generalversammlung die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal.“ Mit der universalen Anerkennung der Menschenrechte verbindet sich aber nicht schon ein einheitliches Konzept. Asiatische Konzeptionen plädieren für ein gemeinschaftliches Modell, islamische Vorstellungen begründen die Idee der Menschenrechte religiös. In der westlichen Kultur hat sich ein säkular begründetes und individualistisches Konzept der Menschenrechte durchgesetzt. Als „Folge von Antworten auf elementare Unrechts- und Leiderfahrungen haben sich „negative“ liberale Schutz- und Abwehrrechte sowie „positive“ politische Teilnahme- und soziale Teilhaberechte entwickelt.34 Sie zu schützen ist vor allem die Aufgabe staatlicher und internationaler Institutionen. Insofern ist auch die Bundeswehr verpflichtet, in ihren Einsätzen die Menschenrechte zu achten. Die Offiziere im General- und Admiralstabsdienst müssen sich an den universal geltenden und unteilbaren Menschenrechten orientieren sowie ihre strategischen Pläne und operativen Überlegungen danach ausrichten. 4. Hoheit des Gewissens Das Gewissen bildet die Mitte menschlicher Existenz. Jeder Einzelne erfährt sich im Gewissen als unmittelbar und unvertretbar Betroffener unter den unbedingten Anspruch des Guten gestellt; es bestimmt ihn zu einer „ethischen Existenz“ und wacht über seine personale Integrität. Die „Gewissenstätigkeit“ drückt sich im konkreten situationsbezogenen Gewissensspruch aus. Verbal oft nicht fassbar meldet sich das „wachsame Gewissen“ vor einer Handlung warnend oder appellierend, das „reine“ bzw. „schlechte Gewissen“ im Nachhinein bewertend zu Wort. Der Gewissensspruch ist in 34
Vgl. Ebeling (2008), S. 22.
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seiner inhaltlichen Bestimmtheit jedoch kein unfehlbares Orakel. Im konkreten Urteil kann sich der Mensch täuschen (das sogenannte „irrende Gewissen“). Die Möglichkeit des Irrtums hebt die bindende Kraft des Gewissensspruchs zwar nicht auf, verlangt aber eine permanente kritische Selbstprüfung. Daher ist der Mensch nicht nur vor seinem Gewissen, sondern auch für sein Gewissen verantwortlich. Gewissensbildung ist ein lebenslanges Projekt, die Wahrnehmung zu verfeinern, das Vorstellungsvermögen anzureichern, die Urteilsfähigkeit zu schulen. Auch für den Offizier im General- und Admiralstabsdienst ist nicht der Befehl des Vorgesetzten oder der politische Auftrag, sondern das eigene Gewissen die letzte, die eigentlich hoheitliche Instanz. Seinen Mahnungen und Appellen hat er zu gehorchen; dem Urteil des eigenen Richters kann er sich schließlich nicht entziehen.35 Die moralische Selbstbestimmung im Gewissen ist ein wesentliches Merkmal der unantastbaren Würde des Menschen. Daher gebührt dem Recht auf Gewissensfreiheit unter allen anderen Menschenrechten ein besonderer Rang. Die deutsche Verfassung gesteht diese Sonderstellung zu, indem sie die Gewissensfreiheit als selbständiges Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt (Art. 4 Abs. 1 GG) gewährleistet und es im besonders sensiblen Bereich der Gewaltanwendung im Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG) spezifiziert. Das Urteil des BVerwG vom 21. Juni 2005 bestätigt die vorbehaltlose Geltung des Rechts auf Gewissensfreiheit auch für die in einem besonderen Verhältnis zur staatlichen Gewalt stehenden Soldaten (Sonderstatus). Eine einfache Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Gütern lehnt es unmissverständlich ab. Voreiligen Funktionalitätserwägungen wird die Gewissensfreiheit der Soldaten nicht geopfert; sie konkurriert als Rechtsgut nicht mit der aufrechtzuerhaltenden Funktionsfähigkeit der Bundeswehr. Insofern akzeptiert das BVerwG keine verfassungsrechtlichen Beschränkungen der Gewissensfreiheit. Maßstab für die Gewährleistung des Rechts bleibt allein die individuelle Betroffenheit und die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung des Soldaten.36 Das Urteil enthält für die militärische Elite keinen Freibrief zu willkürlichen und beliebigen Entscheidungen, es bietet aber eine verfassungsrechtliche Rückendeckung für die Übernahme moralischer Verantwortung auch in schwierigen Situationen. Denn selbst eindeutig rechtskonforme politische Entscheidungen und militärische Befehle sind aus moralischer Perspektive 35
Vgl. Gillner (2007), S. 16. Vgl. Gillner (2009a), zur Akzeptanz des Urteils bzw. zur Wertschätzung eines ethisch reflektierten Gehorsamsverständnisses in den Streitkräften der Bundeswehr vgl. auch Gillner (2009c), S. 208 ff. 36
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nicht einfach unbedenklich. Innerhalb des Völkerrechts zeigen sich in Bezug auf gewaltsame zwischenstaatliche Konflikte und die Kriegsführung erhebliche Lücken. Weder gibt es eine „konsensuale Interpretation des Angriffskrieges“37 noch eine rechtliche Kasuistik für militärische Interventionen aus humanitären Gründen, noch einen hinreichenden Rechtsschutz für die Zivilbevölkerung vor kriegerischer Gewalt.
III. Schluss Der moralische Kompass, ausgerichtet an der Leitperspektive Frieden, der Achtung der Menschenwürde, der Geltung der Menschenrechte und der Hoheit des Gewissens, bietet Orientierung bei der Übernahme von Verantwortung im und für den militärischen Einsatz. Ihr darf sich der Offizier im General- und Admiralstabsdienst nicht entziehen, auch dann nicht, wenn sie Konflikte mit den militärischen Vorgesetzten oder gar mit der Politik produziert. Dies ist er sich selbst, den ihm anvertrauten Soldaten, letztlich den Bürgern seines Staates schuldig. Eine allzu gern gepflegte politische Geschmeidigkeit kommt zwar den Verantwortlichen in der Regierung entgegen und schützt vor durchaus gefährlichen Auseinandersetzungen, sie ist aber in anderer Weise riskant: sie gefährdet den politischen Auftrag selbst und möglicherweise auch das Leben von Menschen. Literatur Baudissin, Wolf Graf von (1970): Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr, München: Piper. Bittner, Jochen (2010): Haubitze statt Bambi. Die Zeit vom 4. März 2010, S. 2–3. Blasberg, Anita/Willeke, Stefan (2010): Das Kundus-Syndrom. Die Zeit vom 4. März 2010, S. 13–16. Bundespräsident Horst Köhler (2007): Maßstäbe der Führungsauslese. Rede beim Festakt aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Führungsakademie der Bundeswehr. Hamburg, 14. September 2007. Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Bonn. 27. September 2000. Ebeling, Klaus (2006): Militär und Ethik. Moral- und militärkritische Reflexionen zum Selbstverständnis der Bundeswehr. Beiträge zur Friedensethik. Band 41. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. – (2007): Lexikon Ethik: Menschenwürde, in: Kompass. Soldat in Welt und Kirche, H. 7/8, S. 20. 37
Hoppe (2006), S. 49.
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Zurück zum Krieger? Soldatische Berufsleitbilder der Bundeswehr zwischen Athen und Sparta Von Elmar Wiesendahl
I. Einleitung Die Jahre 2009 und 2010 stellen einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Bundeswehr dar. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wurden deutsche Kampftruppen in Afghanistan zur Stabilisierung der Kabuler Regierung und zur Bekämpfung aufständischer Taliban in massive Kampfhandlungen verwickelt, die einen hohen Blutzoll an jungen Bundeswehrsoldaten forderten. Und erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg hat ein hoher deutscher Offizier am 4. September 2009 bei Kundus in Afghanistan einen verheerenden Luftschlag zur gezielten Tötung von regionalen Talibanführern befohlen, bei denen eine hohe Zahl an Zivilisten zu Tode kam. Die Entwicklung in Afghanistan öffnet die Augen dafür, dass die Bundeswehr als internationale Einsatzarmee an militärischen Missionen beteiligt ist, bei denen Soldaten militärischer Gewalt ausgesetzt sind und sie selbst anwenden. Zurück ins Bewusstsein wird die lange verdrängte Tatsache gerückt, dass Soldaten Gewaltexperten sind, die mit dem Einsatz kollektiver Gewaltsamkeit Tod und Verderben bringen. Und sie selbst werden mit der existentiellen Ausnahmesituation von Gewalteinwirkung konfrontiert, die Verwundung und die Preisgabe des eigenen Lebens einschließt. Für die Kriseninterventionsarmee Bundeswehr wirft das die Frage auf, mit welchem Selbstverständnis und Berufsbild sich die Angehörigen der Armee der neuen Einsatzwirklichkeit stellen. Es geht darum, mit welchem Sinnverständnis sich Soldaten im Einsatz der Herausforderung als Waffenträger und „experts in violence“ (Harold Lasswell) stellen. Da es um die kollektive Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt und damit um das höchste Gut, nämlich um Leben und körperliche Unversehrtheit von Menschen, Soldaten und Zivilisten geht, hat die Armee die Frage zu klären, für welche allerhöchsten Zwecke, für welches nicht veräußerliche Gut Soldaten Gewaltsamkeit praktizieren, bei der sie andere und sich selbst der Verwundungs- und Vernichtungsgefahr aussetzen.
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Die Bundeswehr hat während ihrer Zeit als Landesverteidigungsarmee mit dem Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ eine Antwort auf diese Schlüsselfrage soldatischer Existenz gefunden. Nun hat sie sich aber über die letzten zwanzig Jahre zur Einsatzarmee transformiert. Soldaten werden dadurch mit vielfältigeren Aufgaben unter ganz anderen Einsatzumständen konfrontiert, die nach einem adäquaten Leitbild verlangen. Wie die politische und militärische Führung der Bundeswehr immer wieder bekundet, hält sie am Leitbild des Staatsbürgers in Uniform fest. Es tun sich indessen Zweifel auf, ob dieses Leitbild in seiner hergebrachten Fassung noch Sinn und Orientierung vermitteln kann, um dem Soldaten im Einsatz festen Halt und Identifikation mit seinen Aufgaben zu geben. Längst werden in der Bundeswehr noch wenigstens zwei weitere Berufsleitbilder diskutiert, die sich als „miles protector“ und als „miles bellicus“ den Denkschulen „Athen“ und „Sparta“ zuordnen lassen. Im Folgenden werden die Leitbilder mit ihrem geistigen Hintergrund vorgestellt und untersucht, inwieweit sie auf die Debatte um ein einsatzadäquates soldatisches Berufsleitbild richtungsbestimmend einwirken.
II. Berufsleitbilder und soldatisches Selbstverständnis Berufsleitbilder von Soldaten stehen nicht überzeitlich im Raum, sondern spiegeln zeitgebundene Anforderungen wider, die sich aus ihrem Aufgabenprofil herleiten. Dieses Aufgaben- und Qualifikationsprofil wird seinerseits durch das Einsatzszenario bestimmt, unter dem sich Soldaten zu bewähren haben. Zugleich bilden Berufsleitbilder die Erwartungen ab, die Politik und Gesellschaft an das Selbstverständnis der Soldaten hegen. Beim Berufsverständnis geht es um den Sinngehalt, der sich mit einer beruflichen Aufgabe verbindet. Einen Beruf dauerhaft auszuüben setzt nämlich voraus, sich mit ihm identifizieren zu können. Dies gilt selbstverständlich auch für Offiziere der Bundeswehr, deren berufliches Selbstverständnis eine tragende Säule für die Identitätsbildung und Identifikation mit dem Offizierberuf einer Einsatzarmee bildet. Bei der beruflichen Identitätsbildung geht es für Soldaten der Bundeswehr nicht so sehr darum, was sie tun, sondern darum, wozu ihr Tun und Handeln dienen und einen Sinn machen. Erst der einer Aufgabenstellung abgewonnene Sinngehalt liefert die Grundlage für die berufliche Identitätsbildung. Um die Sinn- und Identitätsfrage des Soldaten beantworten zu können, ist es notwendig, die richtigen Fragen zu stellen. Für welchen höheren Zweck dient der Soldatenberuf und wozu wird er gebraucht? Was zeichnet ihn von der Befähigung aus, was andere nicht können? Was macht ihn für den Erhalt höchster politischer und gesellschaftlicher Werte nützlich und
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unentbehrlich? Und was verleiht dem Beruf gesellschaftliche Unterstützung und Anerkennung, worin bestehen die Motivationsressourcen, um in der Ausübung des Berufs Berufsstolz und Befriedigung zu finden. Berufsbilder, um die es hier geht, geben den Orientierungsrahmen vor, an dem sich Soldaten in ihrem Selbstverständnis ausrichten sollen. Sie wirken aber auch in Politik und Gesellschaft hinein, um für Angehörige der Armee Reputation und Anerkennung zu finden. Ein Berufsleitbild ist immer Teil einer umfassenderen Leitkultur: der Inneren Führung, mit der das Selbstverständnis der Armee, also ihre Unternehmensphilosophie und ihre Führungskultur geprägt werden.1 Nicht von ungefähr trägt die neue ZDv 10/1 „Innere Führung“2 deshalb „Führungskultur und Selbstverständnis“ als Untertitel.
III. Die alte Bundeswehr und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform Als es bei der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland um ein zeitgemäßes Berufsleitbild für die neu zu errichtende Bundeswehr ging, war der damaligen militärischen Bedrohungssituation und den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Dies war Wolf Graf von Baudissin und seinen Mitstreitern vollends klar, als sie die Leitkultur der Inneren Führung mit dem Staatsbürger in Uniform im krassen Bruch mit der unsäglichen deutschen Militärvergangenheit auf ein zu erwartendes realistisches Kriegsbild und auf die freiheitliche demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung Westdeutschlands ausrichteten.3 Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform hatte dabei die Funktion, die für den alten Standesdünkel des Soldaten konstitutive Trennung von Militär und Gesellschaft aufzuheben und Soldaten- und Staatsbürgertum miteinander zu versöhnen. In diesem Leitbild verbinden sich das Militärische und das Gesellschaftliche zu einer Einheit. Baudissin betrachtete dementsprechend den „Soldat und Nichtsoldat . . . als zwei verschiedene Aggregatzustände desselben Staatsbürgers“.4 Sein soldatisches Selbstverständnis bezog der Staatsbürger in Uniform aus der in den Ost-West-Konflikt eingebetteten Bedrohungslage seines Vaterlandes. Der Soldat wird mit Waffen ausgerüstet und an ihnen trainiert, so dass er im Ernstfall eines Angriffs aus dem Osten sich dem Feind entgegenwirft und die Freiheit der Bundesrepublik treu und tapfer verteidigt. Er 1 2 3 4
Vgl. Wiesendahl (2002), S. 102 ff. und Wiesendahl (2005), S. 23 ff. BMVg (2008). Vgl. Kutz (2004). von Baudissin (1969), S. 201.
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wird als Waffenträger und Gewaltexperte für den Kriegseinsatz geschult, wobei sich ein Angriffskrieg ausschließt. Die im klassischen Kriegsführungsfall einzunehmende Kämpferrolle des Soldaten wird aber dadurch relativiert, dass sich angesichts des drohenden nuklearen Kriegsbildes im Atomwaffenzeitalter die Bundeswehr auf glaubwürdige Abschreckung und Kriegsverhütung hin ausrichtet, um nicht im Versagensfall der Abschreckung der drohenden Selbstvernichtung im atomaren Schlagabtausch ausgesetzt zu sein. Als Leitbegriff für das Selbstverständnis der Armee schlug sich dies in der Formel von der „Armee für den Frieden“ nieder. Dem entsprach auf der individuellen Ebene das Leitbild „Soldat für den Frieden“. Das Heer setzte den darin steckenden Primat der Abschreckung und Friedenssicherung in den Slogan um, kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen. Das Friedensgebot des Soldaten als nicht wirklich kämpfen dürfenden Kämpfers („Soldat für den Frieden“) erhielt dadurch Gewicht, dass im Verteidigungsfall in der Tat mit dem größtmöglichen Schadensfall, dem atomaren Holocaust, zu rechnen war. Die Traditionalisten in der Bundeswehr trugen schwer an diesem Soldatenbild, weil dem Soldaten dadurch das Wesensgemäße, das Kämpferische und Kriegerische in einer „unsoldatischen Armee“ (Heinz Karst) ausgetrieben würde.5 Ein weiterer Dorn im Auge der Traditionalisten bildete die Neubestimmung der Soldatenrolle von der gesellschaftlichen Seite her, mit der jeglicher Eigenwert des Soldaten (sui generis) und der Anspruch auf eine gesellschaftliche Sonderrolle verneint wurde. Selbst wenn der Soldat der möglichen Gefahr des Todes durch Waffengewalt ausgesetzt sei, habe er sich als ein „Beruf wie jeder andere“ in das arbeitsteilige Funktionsgefüge der Gesellschaft einzufügen und von seiner staatsbürgerlichen Seite her ein vollwertiges, integriertes Glied der Gesellschaft zu bilden. Als Staatsbürger in Uniform ist der Soldat Angehöriger einer „Armee in der Demokratie“. Er sollte selbst ein überzeugter Demokrat sein und wird, anders als in der Vergangenheit, in keiner seiner staatsbürgerlichen Rechte beschnitten. Integration heißt, sich mit den Grundwerten der Verfassung zu identifizieren und im Zivilleben nach Werthaltungen und Denkweisen zu leben, die für den Freiheitsspielraum einer offenen, pluralistischen Gesellschaft stehen. Dieser Leitwertbezug, der schon zuvor in den Vorgängervorschriften niedergeschrieben war, ist in der neuen ZDv 10/1 „Innere Führung“ von 2008 bekräftigt worden. Mit dem Staatsbürger in Uniform ergeht aber auch an den Zivilbürger der moralisch unterlegte Appell, sich aus tiefer demokratischer Überzeu5
Vgl. Abenheim (1989).
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gung und freiheitlicher Gesinnung sowie dem Glauben an die Verteidigungswürdigkeit des eigenen Volks und seiner freiheitlich-demokratischen Staatsordnung der Pflicht zum Wehrdienst zu stellen und das Land gegen die kommunistische Bedrohung aus dem Osten zu schützen. Staatsbürger heißt insofern, Wehrbürger und „geborener Vaterlandsverteidiger“ zu sein, eine Denkfigur, mit der Baudissin ganz bewusst bei Scharnhorst und dem Geist der preußischen Militärreformen nach 1806 anknüpfte. Übersetzt in die Konfrontationszeit des Kalten Krieges, wird dem Vaterlandsverteidiger damit „Idealismus“,6 „Enthusiasmus und auch Leidensbereitschaft“7 unterstellt, mit der er seiner „politischen Verantwortung“8 gerecht wird. Im militärischen Binnengefüge legen Soldaten als Staatsbürger in Uniform eine offene Geisteshaltung an den Tag und bilden in ihrer heterogenen Zusammensetzung einen Spiegel der pluralistischen Gesellschaft. Und im Umgang untereinander sind Menschenwürde und die Grundwerte der Verfassung zu beachten, die auch für die „zivilen Bereiche des Staates“9 gelten und die es für die Soldaten zu verteidigen gilt.10 Dem Sinngehalt nach macht ihn die ineinandergreifende soldatische und zivilgesellschaftliche Identität des Staatsbürgers in Uniform zum „in der westdeutschen Gesellschaft beheimateten, den politischen, Soldaten (i. O. kursiv, E. W.)“.11
IV. Neue Bundeswehr und soldatische Leitbilddebatte Dieses aus der Zeit der Wiederbewaffnung und des Ost-West-Konflikts stammende Leitbild des Staatsbürgers in Uniform besteht bis heute in der Bundeswehr fort. Es wird auch in der neuen ZDv 10/1 „Innere Führung“ von 2008 hochgehalten, obgleich es in seiner Zeitgebundenheit an die Landesverteidigung gekoppelt ist. Auch von dem von der kommunistischen Bedrohung herrührenden Wehrmotiv ist nichts übrig geblieben.12 Wird deshalb der Sinngehalt des Staatsbürgers in Uniform nicht neu gefasst, besteht die Gefahr, dass er seine glaubwürdige Orientierungsfunktion verliert und zur Identitätsbildung des Soldaten im Einsatz nichts mehr beiträgt. In internationalen Auslandseinsätzen sind andere Ideengrundlagen und Begründungen des Soldatenberufs als die des „geborenen Vaterlandsverteidigers“ gefragt, sie müssen mit der neuen Einsatzwirklichkeit und dem ge6
Franke (2008). Naumann (2007), S. 120. 8 von Rosen (2006), S. 176. 9 von Baudissin (1969), S. 157. 10 von Baudissin (1969), S. 145. 11 Nägler (2005), S. 82. 12 Vgl. Wiesendahl (2002), S. 30 ff. 7
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wandelten Aufgabenprofil der Soldaten übereinstimmen. Zudem ist zu klären, wie dieser neue Soldat im Auslandseinsatz seine demokratische Staatsbürgerlichkeit verbürgt und seinen Platz in der Zivilgesellschaft findet. Solche grundlegenden Sinn- und Selbstvergewisserungsfragen des Soldaten im Einsatz drängen sich zwangsläufig auf, wie das hergebrachte Leitbild des Staatsbürgers in Uniform offensichtlich nicht mehr in die Zeit passt. 1. Der „miles protector“ als Berufsbild der Denkschule „Athen“ Athen stellt eine Denkschule innerhalb der Bundeswehr dar, die aus der veränderten Einsatzwirklichkeit der Bundeswehr und dem stark erweiterten Aufgabenprofil des Soldaten im Einsatz Konsequenzen für das Berufsbild ableitet.13 Den Ausgangspunkt stellt das neue Einsatzszenario der Kriseninterventionsarmee Bundeswehr dar. Deren Aufgabe im Rahmen vernetzter Sicherheit ist es, an der Seite von Bündnispartnern und mandatiert durch NATO und UNO in kollabierende bzw. „failed states“ einzumarschieren, um innerstaatlich aufbrechende Gewalt zu verhindern oder bereits ausgebrochene bürgerkriegsähnliche Gewaltkonflikte militärisch zu beenden. Bei einer Einsatzmission stellt sich die Bundeswehr nicht einem zwischenstaatlichen Krieg, sondern greift in potentiell hochgefährliche innerstaatliche Krisenverhältnisse ein, die ohne den Einsatz von Militär zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen eskalieren könnten.14 Mit diesem Einsatzszenario passt sich die Bundeswehr an eine gewandelte internationale Risiko- und Gefahrenkonstellation an, die weit über einen rein militärischen Kern hinaus von solchen Ursachen wie zerfallenden Staaten, Bürgerkriegen, Verarmung und Hungerkatastrophen, ethnischen und religiösen Konflikten sowie einem länderübergreifenden Terrorismus herrühren. Von all diesen Ursachen gehen Stabilitäts- und Sicherheitsrisiken aus, die nach multinationaler globaler Sicherheitsvorsorge verlangen. D. h. aus einem erweiterten Sicherheitsverständnis heraus muss Krisen und Konflikten zum frühestmöglichen Zeitpunkt am Ort ihres Entstehens begegnet werden, bevor hieraus unmittelbare Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und die internationale Staatengemeinschaft erwachsen können. Um diesem vielschichtigen internationalen Gefahrenspektrum angemessen begegnen zu können, hat die Bundesregierung hierfür das Konzept der „vernetzten Sicherheit“ entwickelt.15 Das Weißbuch von 2006 liefert hierfür 13 14 15
Vgl. Wiesendahl (2010), S. 38 ff. Vgl. Gareis (2009). Vgl. Jaberg (2008).
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die regierungsamtliche Vorlage.16 Es greift bei der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung auf ein ganzes Ensemble von diplomatischen, entwicklungspolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lösungsansätzen zurück, in der sich der Einsatz des Militärs einordnet. Und es reiht das Militär in eine Gruppe weiterer politischer und ziviler Akteure ein, die in einem ineinandergreifenden Zusammenspiel von Krisenbewältigung und Krisennachsorge erfolgreich „post-conflict peace- and statebuilding“ betreiben. Dem Militär fällt dabei die Aufgabe zu, den fragilen Übergang von nicht mehr Krieg und noch nicht Frieden abzusichern und ein sicheres Umfeld herbeizuführen, in dem politische und zivile Wiederaufbauarbeit geleistet werden kann.17 Damit wächst die Bundeswehr im Einsatz vom Aufgabenspektrum über den klassischen Kampfeinsatz weit hinaus und muss sich auch „polizeiähnlichen Aufgaben mit sozialen, diplomatischen und helfenden Komponenten“18 stellen. Dieses Einsatzspektrum wirkt sich für die Athener Denkschule in weitreichender Hinsicht auf das erweiterte Aufgabenprofil und Selbstverständnis des Soldaten im Einsatz aus, der als reiner Kämpfer an den Herausforderungen der neuen Einsatzrealität scheitern müsste. Infolgedessen hat als einer der Ersten der Schweizer General Gustav Däniker den neuen Soldaten des 21. Jahrhunderts auf den Begriff des „miles protector“ gebracht, dessen „Mission“ im „Schützen, Helfen, Retten“ bestehe und der einen wirksamen „Beitrag an die Friedenswahrung oder Friedenwiederherstellung sowie an die Sicherung eines lebenswerten Daseins der Völker“ leiste. Däniker betrachtet den „miles protector“ als neuen Soldatentyp, der „Krieger, Kämpfer und reine Techniker des Schlachtfeldes“ verdränge, zumal er „durch seinen Einsatz Schutz gewährt, aber mit der selben Energie und Kompetenz, mit der er Kampfaufträge meistert, auch zur Hilfe und Rettung fähig ist“.19 Der Miles protector bringt den Kern dessen, worum es bei dem neuen Soldaten im Einsatz mit seinem Profil und Sinnverständnis geht, dermaßen überzeugend auf den Punkt, dass das Weißbuch von 2006 hiervon Gebrauch macht: „Das ganze Spektrum der Auslandseinsätze bestimmt heute das Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. Gleichzeitig sind die Soldatinnen und Soldaten in der neuen Bundeswehr – neben ihrer Funktion als Kämpfer – auch Helfer, Schützer und Vermittler“.20 Der ehemalige General16 17 18 19 20
Vgl. BMVg (2006), S. 11 ff. Vgl. Schneiderhan (2007), S. 20. Bergmann (2008), S. 3. Däniker (1992), S. 170 f. und S. 185. BMVg (2006), S. 80 f.
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inspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, ging sogar ausdrücklich so weit, sich mit dem Miles protector gegen den Kämpfer abzugrenzen. In der militärsoziologischen Berufsbilddebatte ist der Miles protector ebenfalls zum Leitkonzept aufgestiegen und bestimmt die Eigenschaftsbestimmung des neuen Soldaten im Einsatz.21 Wichtig für das Leitbild des Miles protector ist, dass sich mit ihm die Ansprüche erhöhen, denen Soldaten als Kriseninterventionsspezialisten gerecht werden müssen.22 So geht es nach dem Weißbuch um Analyse- und Handlungsfähigkeiten, die über die „rein militärischen Aspekte weit hinausreichen. Politische Bildung hilft ihnen, die Komplexität von Krisenszenarien zu erfassen und politische Rahmenbedingungen zu beachten. Intensive ethisch-moralische Bildung trägt nicht nur dazu bei, ein reflektiertes berufliches Selbstverständnis zu entwickeln, sondern fördert auch die Fähigkeit des Einzelnen, in moralisch schwierigen Situationen eigenverantwortlich zu handeln. Eine umfassende interkulturelle Bildung schärft das Bewusstsein für die religiösen und kulturellen Besonderheiten in den jeweiligen Einsatzgebieten“.23 Der Miles protector ist als „militärischer Ordnungshüter“ (Haltiner), als „security enabler“ ein zutiefst politisch bestimmter Beruf, der als Garant und Verantwortungsträger für Sicherheit und Stabilität ein friedliches Zusammenleben von Menschen und Völkern ermöglicht. Er ist von der Gewissheit beseelt, mit seinem Handeln etwas politisch Notwendiges und moralisch Gerechtfertigtes zu tun. Und er wird von der tiefen Überzeugung geleitet, als Soldat für höchste demokratische Werte wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit einzustehen, die ihm auch im Auslandseinsatz Orientierungssicherheit geben. Offiziere haben mit ihrer politischen Umsicht, ihrer Sittlichkeit und Charakterstärke eine Vorbildfunktion, weil sie im Extremfall Verantwortung dafür zu tragen haben, gegenüber dem anvertrauten Personal oder aber auch gegenüber gegnerischen Personen über Leben und Tod zu entscheiden. Mit der politischen Auslegung des Soldatenberufes schließt das Berufsbild der Denkschule Athen beim Staatsbürger in Uniform an, indem sich der Miles protector als Diener und Verantwortungsträger des politischen Gemeinwesens versteht und keine Abstriche an seiner Identität als vollwertiges Mitglied der Zivilgesellschaft zulässt. Von diesem Blickwinkel her ist der Baudissinsche Staatsbürger in Uniform sowohl von seiner politischen als auch zivilen Seite auf den Miles protector übertragbar. 21 22 23
Vgl. Wiesendahl (2010), S. 25 ff. Vgl. Franke/Gillner/Keller (2009). BMVg (2006), S. 80 f.
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2. Sparta und das Leitbild des „miles bellicus“ In der Bundeswehr sind Strömungen vorzufinden, die sich offensichtlich mit dem aus der Denkschule Athen hervorgehenden Leitbild des Einsatzsoldaten nicht anfreunden können. Sie treten dagegen für das Leitbild des Kämpfers, des „war-fighters“ ein, das sich als „miles bellicus“ dem „miles protector“ entgegenstellt.24 Der Miles bellicus geht aus einem Denken hervor, dass bei der neuen Einsatzwirklichkeit der Bundeswehr beginnt und daraus eine Wesensbestimmung des Einsatzsoldaten vornimmt. Sparta sieht das neue Einsatzspektrum der Armee durch die Wiederkehr des Krieges bestimmt, der durch klassische Operationsplanung und Durchführung von Kriegshandlungen gegen eine gegnerische Kriegspartei geprägt ist. Zwar ist Sparta die neue Einsatzwirklichkeit, die nach einem „full operation spectrum“ verlangt, nicht entgangen. Doch ist dieser Denkansatz auf den „Schießkrieg“ als Ernstfall fokussiert, der alle Kräfte und Sinne der Armee im Einsatz bindet. Infolgedessen geht es auch nicht um vernetzte Sicherheit, sondern allein um den militärisch ureigensten Ausschnitt von Kriegswirklichkeit, dem das Militär als Areal der Bewährung zufällt. Dem Wesenskern des Militär nach geht es allein um Kampf, um kriegerische Gewaltanwendung im Gefecht, bei dem der Gegner durch Überlegenheit der Waffen, des Personals, der Moral und der Operationsführung niedergerungen und zerschlagen wird. Wie der ehemalige Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hans-Otto Budde, hierzu ausführt, stellt die „Fähigkeit zum Kampf“ die „Klammer“ dar, „die das Heer . . . zusammenhält“.25 Bemerkenswerter Weise wird „Kampf“ nicht näher differenziert, wenngleich sich für Friedensmissionen, für Stabilisierungseinsätze, für „post-conflict peace- and statebuilding“Missionen höchst unterschiedliche Rahmenbedingungen und Anforderungen stellen. Auch bleibt ungeklärt, wie sich aus dem Primat des Kämpfens nach dem Schweigen der Waffen der Übergang von der Gewalt zum Frieden darstellt. Weiter fällt ins Gewicht, dass es wohl selbst nach dem „Verschwinden des klassischen Krieges“26 weiterhin um ein Kriegsbild geht, das auf intensive Kampfhandlungen auf dem Schlacht- und Gefechtsfeld gegen reguläre Streitkräfte ausgeht. Was dagegen mit „Military Operations other than War (MOOTW)“ bezeichnet wird,27 scheint in dem Kriegsszenario Spartas keine relevante Rolle zu spielen. Und dass die Armee unter den Bedingungen des „asymmetrischen“ Krieges einem „Feind ohne Ge24 25 26 27
Wiesendahl (2010), S. 43 ff. Budde (2005), S. 113 f. Münkler (2009), S. 208. Hippler (2006), S. 26 f.
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stalt“28 gegenübersteht, der ihr mit seinen Attacken aus dem Hinterhalt mit Sprengfallen und Selbstmordanschlägen die Überlegenheit an Feuerkraft neutralisiert und die Moral der Truppe untergräbt, lässt sich im Kriegsbild von Sparta auch nicht entdecken. Schlimmer noch scheint sich hinter der Gleichsetzung von Einsatz mit Kämpfen ein kapitaler Fehlansatz zu verbergen, der sich auf die Bekämpfung von Aufständischen allein mit Gewalt reduziert, während das vorrangige Ziel, die „hearts and minds“ (Petraeus) der Bevölkerung des Einsatzlandes für sich einzunehmen, außen vorbleibt. Diese Einwände färben logischerweise auf den Kämpfer, auf den Miles bellicus ab, der als Leitbild von der Denkschule Sparta propagiert wird. Sparta erblickt im Soldaten den Krieger, der nicht nur von seiner Ausbildung und Befähigung, sondern in seiner ganzen Mentalität und seinem Selbstverständnis auf die existentielle Grenzerfahrungssituation des Kämpfens und damit des Tötens und Getötet-Werdens ausgerichtet ist. Sich dieser Selbstüberwindungssituation zu stellen, macht ihn nach Budde zum „archaischen Kämpfer“.29 Damit verbindet sich mit dem Miles bellicus die „geistig-moralische Auseinandersetzung mit dem Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung des Auftrags“30. Denn für aufopferndes Kämpfertum ist der „Wille zum Kampf“ ausschlaggebend für eine geistige Disposition, die „den Kämpfer in den Mittelpunkt stellt“.31 Um diese zu erzeugen, ist dem Krieger ein moralisches Fundament des Kämpfens zu vermitteln, das in „klassischen Soldatentugenden“32 verwurzelt ist. Und hierzu gehören Kampfmoral und Charakterfestigkeit, die durch Tapferkeit, Wagemut, Willensstärke, Härte, Disziplin und Kameradschaft hervorgebracht werden. Erziehung leistet hierbei eine wichtige Rolle. Dazu treten militärische Rituale und Traditionspflege, zackiges Auftreten und Jargon, Korpsgeist und Betonung des überzeitlichen Soldatentums, um den Soldaten mit der Kämpfer- und Kriegerrolle zu identifizieren. Der Miles bellicus stützt sich auf ein soldatisches Werte- und Tugendenfundament, das überzeitlich mit dem Kämpfertum verbunden ist, aber mit dem demokratischen und zivilgesellschaftlichen Wertekanon nichts im Sinn hat. Ihn und den Staatsbürger in Uniform trennen Welten. Seine Professionalität findet er allein in der Beherrschung des Kriegshandwerks und in 28 29 30 31 32
Münkler (2001), S. 581. Vgl. Winkel (2004). Budde (2008), S. 3. Trull (2007), S. 10. Budde (2008), S. 38.
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einem Mentalitätsgerüst, bei dem ihn der Krieg, das Gefecht, vollends in den Bann schlägt. In diesem Leitbild ist deshalb auch kein Platz für die Erweiterung der Rolle des Kämpfers um nichtmilitärische Rollen wie die des Polizisten, Diplomaten, Schlichters und Aufbauhelfers. und dies ist auch nicht erwünscht. Wie Hans-Otto Budde klarstellt, sind „Soldaten . . . eben keine bewaffneten Sozialhelfer und kein bewaffnetes THW!“33 Für das Gelingen von Einsätzen ergibt sich daraus die fatale Konsequenz, dass Einsatzsoldaten, wenn nicht gerade die Waffen sprechen, mit ihrem Latein am Ende sind und „post conflict“ zur Herbeiführung eines stabilen Friedens nichts beitragen können. Ihnen geht politisches Denken wie Urteilsvermögen ab und ihnen mangelt es an emotionaler Intelligenz, Sensibilität und interkulturellem Gespür – alles Fähigkeiten, um Vertrauen gegenüber den politischen und religiösen Autoritäten sowie der Bevölkerung des Einsatzlandes aufbauen zu können.34 Schlimmer noch schaltet Sparta den Sinnbezug des Kämpfens mit dem Kämpfen kurz, ohne auf die Frage nach dem Sinn des Tötens und Sterbens eine befriedigende Antwort zu haben. Es rächt sich hier die Fokussierung der Denkschule Sparta auf einen Ehrenkodex und soldatische Tugenden der Tapferkeit und Affektkontrolle, um töten und um Verwundung und Tot erleiden zu können.35 Wofür jemand töten und die Preisgabe des eigenen Lebens gut sein sollen, für welche große Sache der Soldat eintritt, wofür er dient, weiß das Leitbild des Miles bellicus nicht zu begründen. In der Vergangenheit gab es schon einmal eine Zeit, als der Soldat einen „Heldentod“ auf dem „Feld der Ehre“ erlitt und sein Leben für „Kaiser, Volk und Vaterland“, später den „Führer“ hingab. Hierin zurückzukehren ist dem Soldaten in einer aufgeklärten demokratischen Zivilgesellschaft der Weg verbaut. Und das Grauen über das Hinschlachten von Millionen von Soldaten, aber auch von Zivilisten im Zweiten Weltkrieg für Herrentum und Rassenideologie, wirken als moralische Barrieren nach. Angelika Dörfler-Dierken bemerkt deshalb zu Recht, dass nach 1945 „die Tradition der Glorifizierung des Soldatentodes als Opfer für Volk und Vaterland ihr Ende“ fand.36 Für erneutes soldatisches Heldentum, für Offiziersehre und Sonderstellung des Soldaten ist auch deshalb der Weg versperrt, weil hierfür in der durch und durch zivilen und militärfernen postheroischen deutschen Gesellschaft kein Platz ist.37 33 34 35 36 37
Budde (2008), S. 111. Vgl. Tomforde (2009), S. 76 ff. Vgl. Warburg (2008), S. 259 f. Dörfler-Dierken (2008), S. 82. Vgl. Nolte (2008).
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Und diese Zivilgesellschaft ist es, an der Sparta mit kulturpessimistischer Inbrunst leidet. So ist das spartanische Denken von Argwohn gegenüber der individualisierten Gesellschaft geprägt, deren negativer Einfluss mit all ihrem Gequatsche, „Egoismen“ und fehlendem „Gemeinsinn“38 von der Truppe ferngehalten werden müsse – und dies umso mehr, weil die militärischen Anpassungs- und Unterordnungstugenden und die soldatische Kämpfermoral zivilgesellschaftlich untergraben werden könnten. Sparta entledigt sich dadurch des Integrationsgebots der Bundeswehr in die Gesellschaft und des gesellschaftlich verankerten Staatsbürgers in Uniform, ohne jedoch aus der Bundeswehr einen Staat im Staate machen zu wollen. Der Primat der Politik wird vorbehaltlos anerkannt. Doch kümmert Sparta nicht die Demokratie- und Gesellschaftsverträglichkeit der Armee, wie auch der Soldat von seinem Kämpfertum her und nicht von seiner Identifikation mit dem Staatsbürger in Uniform definiert wird. Zudem ist ihm „Qualität sui generis“39 zu Eigen, weshalb ihm eine Sonderrolle in der Gesellschaft zustehe. Zum Schutz des Soldatischen verfolgt Sparta gegenüber der Gesellschaft eine Abschottungs- und Schließungstendenz, zumal die Bundeswehr und ihre Soldaten nicht die Wertschätzung und den Respekt erfahren, der ihnen zusteht. Sparta verfolgt ganz bewusst eine Remilitarisierungs- und Entzivilisierungstendenz der Bundeswehr, die im Leitbild des Miles bellicus gipfelt. Zurückgedrängt werden die Innere Führung und der Staatsbürger in Uniform, die einmal Garanten für eine „Armee in der Demokratie“ bildeten.
V. Krieg, militärische Kriegslogik und die Rückkehr des Kriegers Athen mit dem Leitbild des Miles protector wurde augenscheinlich in der Ära Franz-Josef Jungs und des Generalinspekteurs Wolfgang Schneiderhan ein regierungsamtlicher Anstrich zuteil, obgleich speziell im Heer Sparta über eine breite Anhängerschaft verfügte. Dies hat nicht zuletzt mit Traditionslinien zu tun, die weit in die Vergangenheit der Bundeswehr zurückreichen.40 So nimmt das Berufsbild des Miles bellicus den Faden wieder auf, der nach der gescheiterten Revolte von Traditionalisten um die Generale Grashey, Schnez und Karst Ende der 1960er/Anfang der 1970er in der Bundeswehr abriss. Schon Anfang der 1990er wurden dann von Heeresseite Stimmen laut, die mit dem Ende der Bundeswehr als Landesverteidigungs38 39 40
Trull (2002), S. 11. Royl (2005), S. 20. Vgl. Abenheim (1989) und de Libero (2006), S. 31 ff.
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armee zum klassischen Kriegsbild und Kämpfertum der Traditionalisten zurückzukehren versuchten.41 Ein Nebenmotiv dabei war, die nie akzeptierte Leitkultur der Inneren Führung und den friedensbewegten Staatsbürger in Uniform, den „Soldat für den Frieden“, abzustoßen. Diese Tendenzen erhielten Rückenwind, weil sie mit der Vorstellung konvergierten, Deutschland könne nach der Kultur der Zurückhaltung wieder souveräne Machtstaatlichkeit erlangen und für die Streitkräfte eine Phase der Normalisierung einleiten. Die vorangegangene Fesselung der Bundeswehr an Abschreckung, Kriegsverhütung und Verteidigung („Armee für den Frieden“) nahm sich dabei im Rückblick als etwas Unnormales aus, was nun mit dem Wandel zur Einsatzarmee überwunden werden könne. Auch in der Ära des neuen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg haben alle regierungsamtlichen Dokumente zum neuen Einsatzspektrum, zur vernetzten Sicherheit und zum Staatsbürger in Uniform weiterhin ihren Bestand. Nur, mit der Ära Jung brechend, wird nun allerdings in der Rhetorik der Binnen- und Außenkommunikation der Bundeswehr ein anderer Ton angeschlagen. Der Grund hierfür ist der schon ins zehnte Jahr gehende Einsatz in Afghanistan, der für die deutschen Einsatzsoldaten als halbwegs gefahrenarmer Stabilisierungseinsatz im Norden begann und seit geraumer Zeit durch aufständische Taliban in eine gewaltsame militärische Konfrontationslage überwechselt. Deutsche Kampftruppen werden in Kämpfe involviert, die der Logik asymmetrischer Kriegsführung folgen und der Bundeswehr immer mehr Blutzoll bescheren. Die Bundeswehr hat bisher 47 getötete Soldaten neben zahlreichen Verwundeten zu beklagen, wobei seit dem Karfreitag 2010 in einem Abstand von vierzehn Tagen die Zahl der durch Hinterhalt und im Feuergefecht gefallenen Soldaten dramatisch emporschnellte. Mit der wachsenden Verwicklung deutscher Soldaten in asymmetrische Kampfhandlungen trübte gleichzeitig das öffentliche Klima an der „Heimatfront“ ein und die Ablehnung des Afghanistaneinsatzes in der Bevölkerung grenzte an die Drei-Viertel-Marge. Regierung und Verteidigungsministerium gerieten infolgedessen sowohl von Seiten der Bevölkerung als auch von den Einsatztruppen her unter Druck, wobei gerade unter Letzteren sich das Gefühl verstärkte, angesichts der eskalierenden militärischen Auseinandersetzungen in Afghanistan sowohl von der Politik als auch von der Gesellschaft in Stich gelassen zu werden. Vor diesem Hintergrund beschloss zu Guttenberg, der Lage, in der sich die Bundeswehr in Afghanistan befindet, einen neuen Namen zu geben. Die Bellifizierung der Wortwahl fing zunächst nach „persönlicher Einschätzung“ 41
Vgl. Bald (2005), S. 153 ff. und Bald (2007).
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von zu Guttenberg mit „kriegsähnlichen Zuständen“ an, um dann nach dem Karfreitags-Überfall 2010 „umgangssprachlich“ auf „Krieg“ zu wechseln.42 Auf der Trauerfeier für gefallene Soldaten in Selsungen am 9. April 2010 machte sich dann auch die Kanzlerin die Worte „Bürgerkrieg“ und „Krieg“ mit dem Argument zu eigen, dass die Lage entgegen der „juristischen Begrifflichkeiten“ so von den Soldaten bezeichnet würde.43 Mit fast identischer Redewendung („. . . ist das, was landläufig als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird“) ließ sie die Kriegsrhetorik am 22. April 2010 in ihre Regierungserklärung vor dem Bundestag zum Afghanistaneinsatz einfließen.44 Bei vorweihnachtlichen Truppenbesuchen des Verteidigungsministers und der Kanzlerin im Feldlager Kundus bekräftigten beide diese Linie.45 Mit der „umgangsprachlichen“ Anpassung des regierungsoffiziellen Sprachgebrauchs an den soldatischen Kameradenjargon setzt ein einschneidender Umdeutungsprozess von Einsatzwirklichkeit ein, der der Verbreitung einer Kriegs- und Kriegerkultur in den Streitkräften Vorschub leistet. Da sich Identitätsbildung immer über Sprache vollzieht, wird dadurch den Spartanern mit ihrem Miles bellicus zugespielt, die sich dieses neuen Geistes zu bemächtigen versuchen werden. Optische Inszenierungssymbolik leistet ein Übriges zur Spartanisierung der Bundeswehr. So ist es für westliche Demokratien ein beispielsloser Vorgang, dass ein Zivilist als Verteidigungsminister sich vor Kameras und im Fotostudio als olivgrüner Troupier und als „Stahlhelmer“ in Szene setzt. Mit einer weiteren rhetorischen Kunstfigur brachte zu Guttenberg den Tod der Soldaten mit dem Heroischen auf der Trauerfeier in Selsungen zusammen, was an dem von Sparta und dem Miles bellicus repräsentierten Geist in der Bundeswehr nahtlos anschließt. So legte er seiner kleinen Tochter rhetorisch die Frage in den Mund, ob die drei gefallenen Soldaten Helden gewesen seien und ob man stolz auf sie sein könne. Er antwortete darauf: „Ich habe beide Fragen nicht politisch sondern einfach mit ja beantwortet.46 Damit wendet sich der Minister einem ideellen Schlüsselproblem zu, wofür Soldaten im Einsatz sterben, welchen Sinn das Sterben machen könnte.47 Nicht nur für die gefallenen Soldaten, sondern auch für die trauernden Hinterbliebenen, die überlebenden Kameraden und für die politische 42 43 44 45 46 47
Fras/Hebestreit (2010), S. 2. Hamburger Abendblatt vom 10./11.4.2010. Das Parlament vom 26.04.2010. Vgl. Brössler (2010), S. 3. Hamburger Abendblatt vom 10./11.04.2010, S. 4. Vgl. Dausend/Lau/Wefing (2010).
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Gemeinschaft als Ganzes darf das Sterben in Afghanistan nicht umsonst, sinnlos gewesen sein. Nur wenn im Tod ein Opfer gesehen wird, dass einem höheren Zweck diente, für den es sich lohnt, sein Leben hinzugeben, kann der Preisgabe des höchsten Gutes Sinn abgewonnen werden. Der Minister spielt dagegen auf den Heldentod an, der nach vergangener Trauerfeier- und Gedenktradition vom gefallenen Soldaten auf dem „Feld der Ehre“ erlitten wird. Zu diesen Totenreden von Verteidigungsminister und Kanzlerin in Selsungen befragt, sieht es die Historikerin Ute Frevert als „persönliches Anliegen“ und nicht als „pathetische politische Geste“ an, wenn von höchster staatlicher Stelle den Soldaten „die letzte Ehre“ erwiesen würde. „Denn“, so ihre Begründung, „diese Menschen sind nicht als Heroen einer dem Militär ergebenden Gesellschaft, nicht als Elite im ständischen Sinne, nicht als brachial virile Männerbündler umgekommen, sondern sie sind in ihrer Funktion als Bürger in Uniform gestorben.“48 Nur muss dabei aber zu bedenken gegeben werden, dass Kanzlerin und Verteidigungsminister nicht als Privatpersonen, sondern als staatliche Amtsträger fungieren, deren Worte mit Bedacht und wohlgesetzt formuliert werden. Und die sind auf Krieg und verklausuliert auf Heldentod adressiert und nicht, wie Ute Frevert meint, auf den Staatsbürger in Uniform. Denn zu betonen, wofür der Soldat steht, welche demokratischen Ideale und Grundwerte ihn bewegen, für welche große Sache er ficht, machen den Soldaten auch im Tode erst zum Verantwortungsträger des Gemeinwesens und zum Hüter friedlicher und gerechter Ordnung. Der Heldentod des Kriegers kann dagegen der Nichtigkeit des elenden Sterbens nichts an staatsbürgerlichem Trost spenden. Dafür trennen Krieger und Demokratie Welten. Deshalb geht der Versuch auch fehl, mit dem Leitbild des „demokratischen Kriegers“ eine Brücke zwischen Demokratie und dem „Kämpfer ohne Moral und Wertvorstellungen“ schlagen zu wollen.49 Der Begriff Krieger bleibt an einem demokratisch nicht aufgeschlossenen und realitätswidrigen Soldatenbild hängen, was auf den Miles bellicus hinausläuft. In Richtung auf Sparta weist auch die Art und Weise hin, wie die politischen und militärischen Verantwortungsträger mit dem Luftschlag bei Kundus am 4. September 2009 umgegangen sind. Damals wurde auf Befehl des deutschen Kommandeurs des Wiederaufbauteams in Kundus, Oberst i. G. Klein, eine Flusssenke bombardiert, so dass offiziell 102, geschätzt bis zu 142 Menschen zu Tode kamen. Die nächtliche Bombardierung zielte auf 48 49
von Thadden (2010). Herberg-Rothe/Thiele (2010), S. 29.
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die Tötung von lokalen Talibanführern, auf deren Geheiß zwei Tanklastzüge der ISAF-Truppen geraubt worden waren. In juristischer Bewertung haben zivile Bundesanwaltschaft und Wehrdisziplinaranwaltschaft der Bundeswehr Oberst Klein von jeglichem Dienstvergehen und Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht freigesprochen50 und damit dem gezielten Töten durch Bundeswehrsoldaten jenseits der Selbstverteidigungssituation die Rechtmäßigkeit bescheinigt. Allerdings bleibt bei der juristischen Aufarbeitung des Luftschlages der Widerspruch ungeklärt, inwieweit Oberst Klein gegen Einsatzregeln der NATO verstoßen hat und ihm der Verteidigungsminister bereits kurz nach seinem Amtsantritt bescheinigte, „militärisch nicht angemessen“ gehandelt zu haben.51 Hier interessiert jedoch allein, dass durch diesen Vorfall nicht nur Fragen der Legalität, sondern auch der Legitimität aufgeworfen werden, die die moralischen Grundlagen und das Selbstverständnis der Einsatzarmee mit ihren Soldaten im Einsatz grundlegend berühren. So hat sich Oberst Klein allem Anschein nach bei seiner fatalen Entscheidung von der klassischen Kriegslogik leiten lassen, um den Feind auf der Gegenseite zu vernichten. Er hat nicht dem Ziel Priorität eingeräumt, die zu beschützende Bevölkerung des Einsatzlandes mit ihren „hearts and minds“ (Petraeus) für sich zu gewinnen und von den Aufständischen zu trennen. Oberst Klein hat subjektiv Ermessensspielräume für den Befehl zur Bombardierung genutzt, die über zahlreiche zivile Afghanen Tot und Verderben brachten. Den militärischen Erfolg der Tötung von Talibanführern haben zahlreiche Zivilbürger mit ihrem Leben zu bezahlen, die aufgrund der Luftaufklärung wegen ihrer großen Zahl als Nichtkombattanten hätten eingeschätzt werden müssen. Bei dieser Operation ist deshalb schwerlich die Verhältnismäßigkeit gewahrt,52 unter Inkaufnahme der Zerstörung des Menschenlebens zahlreicher unschuldiger Zivilisten einem kleinen Personenkreis von Talibanführern mit ihrem Anhang den Tod bringen zu wollen. Mit der Kundusoperation wird der Punkt erreicht, wo blanke militärische Rationalität dazu führt, nicht vertretbare moralische Schulden zu machen. Und damit ist die Innere Führung als „Unternehmensethik“ der Bundeswehr berührt, „die moralische Fragestellungen des militärischen Handelns (thematisiert)“.53 Nicht von ungefähr steht nach Ziffer 401 der ZDv 10/1 „Innere Führung“ der militärische Vorgesetzte in der Pflicht, nicht nur rechtliche, sondern auch sinnhafte, also „ethische, . . . politische und gesellschaftliche Begründungen für soldatisches Handeln zu vermitteln . . .“. 50 51 52 53
Hamburger Abendblatt vom 20.08.2010, S. 4. Blechschmidt (2010). Vgl. Gillner (2011). Clement (2009).
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Für die geistigen und moralischen Grundlagen der Armee ist der von Oberst Klein befohlene Luftschlag von Kundus auch deshalb von größtem Gewicht, weil von Bundeswehroffizieren vorbildliches Verhalten erwartet wird, und darin sind „politisches Urteilsvermögen, ausgeprägte interkulturelle Kompetenz, Charakterstärke und diplomatisches Fingerspitzengefühl“ eingeschlossen.54 Wenn, an diesen Maßstäben gemessen, die Kundusoperation bei politischen und militärischen Verantwortungsträgern der Bundeswehr nicht zu moralischen und politischen Bedenken führt, kann es um die Innere Führung in der Bundeswehr nicht gut bestellt sein. Um sie als Leitkultur, aber auch um den Miles protector, herrscht Grabesstille. Dagegen werden mit Kriegsgerede und der bedenkenlosen Hinnahme einer moralisch anfechtbaren, unverhältnismäßigen Angriffsoperation eines hohen Bundeswehroffiziers von oben Zeichen gesetzt, die den Weg nach Sparta weisen.
VI. Schluss: Sparta ante portas Soldatische Berufsbilddebatten bewegen sich solange in den luftigen, unverbindlichen Höhen des intellektuellen Diskurses, wie sie nicht von der Wirklichkeit eingeholt werden. Dann stellt sich für Leitbilder heraus, inwieweit sie mehr sind als Floskeln für den Sonntagsredengebrauch, indem sie dem Druck standhalten, in billiger Münze an herausfordernde Gegebenheiten angepasst zu werden. Wie belastungsfest Leitbilder sind, zeigt sich daran, wie in kritischen Momenten, wo es um das geistige Klima und die moralischen Fundamente der Armee geht, mit der Leitkultur der Inneren Führung und dem Leitbild des Soldaten, sei es der Staatsbürger in Uniform oder der Miles protector, umgegangen werden. Kaum dass die Bundeswehr in Afghanistan in die Konfrontation mit asymmetrischer militärischer Gewalt hineingezogen wird und gefallene Soldaten zu beklagen sind, setzt ein martialisches Denken und Reden ein, wodurch die Innere Führung und der Staatsbürger in Uniform unterminiert werden. Selbst vernetzte Sicherheit und der Soldat als militärischer Ordnungshüter und Verantwortungsträger für Freiheit und Sicherheit scheinen wie weggeblasen. Einkehr halten dagegen Krieg und die Verengung von Krisenintervention auf die militärische Kriegslogik. Diese Entwicklungen sind es, die das geistige Klima und die moralischen Fundamente der Bundeswehr in Richtung auf Sparta verändern.55 Dabei hat die Bundeswehr mal die „Armee in der Demokratie“ in den Mittelpunkt ih54 55
Schmidt (2008), S. 12. Wiesendahl (2011).
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Kindersoldaten aus ethischer Perspektive Von Volker Stümke Als Dozent für evangelische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr habe ich mich mit der Thematik „Kindersoldaten“ zu befassen, denn sie gehört zu den Fragestellungen meines Faches. Daher möchte ich mit zwei symptomatischen Äußerungen von Offizieren beginnen, die in Seminaren zu diesem Thema gefallen sind. Der eine bekannte, dass er selbstverständlich bereit sei, in jeden legalen Auslandseinsatz zu gehen, nur möchte er auf keinen Fall mit Kindersoldaten konfrontiert werden. Der andere behauptete, dass Kindersoldaten für ihn kein Problem darstellten, man müsse nur eben (mit der Waffe) tiefer anlegen. Hinter beiden Äußerungen steht nach meiner Überzeugung das Gespür für das moralische Dilemma, in das ein Soldat durch die Konfrontation mit bewaffneten und zum Kampf ausgebildeten Kindern in einem Auslandseinsatz gerät. Es wird im ersten Fall angedeutet, während die zweite Position sofort auf eine Handlungsoption rekurriert, vermutlich, um diesem Dilemma auszuweichen und seine zu befürchtenden individuellen Folgen beiseite zu schieben. Indem beide Soldaten das moralische Dilemma nicht direkt ansprechen, bringen sie zum Ausdruck, was nach meinen Erfahrungen für den Umgang der Bundeswehr mit der Thematik Kindersoldaten symptomatisch ist. Auf der einen Seite sind die Offiziere bereit, sich mit großem Ernst und innerem Engagement auf diese Problematik einzulassen. Auf der anderen Seite sind sie unsicher und bringen dies teilweise direkt zur Sprache, kaschieren es aber auch durch den Rekurs auf extrem vereinfachte Antwortoptionen. Als Ethikdozent ist es nun meine Aufgabe, an dieser Stelle weiter zu denken und zum Weiterdenken anzuregen. Daher möchte ich im Folgenden zumindest einige Impulse in ethischer Perspektive vortragen. Es wird der Anspruch erhoben, im Rückgriff auf ethische Argumentationen und mit der gebotenen Sensibilität erste Bewertungen vorzunehmen und mögliche Handlungsempfehlungen zu formulieren. Angesichts der offenen Debattenlage kann es sich nur um einen Versuch handeln, der sicherlich auf Vertiefungen, Ergänzungen und vielleicht auch Korrekturen angewiesen sein wird. Sofern es gelingt, eine solche Diskussion anzuregen und weitere Beiträge hervorzulocken, wäre mein Ziel erreicht.
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Dazu möchte ich zunächst das moralische Dilemma des Soldaten, wie es vor allem in der Situation eines direkten Kampfes vor Augen steht, analysieren. Die Aufgabe lautet näherhin, die unterschiedlichen Ebenen dieses Dilemmas aufzudecken und damit zu verdeutlichen, warum es sich nicht nur um einen Konflikt handelt, der zwar keine gute Lösung zulässt, aber zumindest die möglichen Lösungen in eine klare Reihenfolge stellen kann. Vielmehr handelt es sich um ein Dilemma, in dem nur gleichermaßen schlechte Handlungsoptionen möglich sind. Im zweiten Kapitel möchte ich dann das Paradigma der direkten Konfrontation ausweiten, weil die Fokussierung nur auf den Zweikampf in der Gefahr steht, die Auseinandersetzung mit dem Problem der Kindersoldaten zu verkürzen und zu verzerren. Diese Ausweitung bedeutet natürlich nicht, dass das moralische Dilemma verharmlost würde, sondern vielmehr, dass es in die Gesamtproblematik eingeordnet wird. Nur so können auch die gesellschaftlichen und politischen Aspekte einbezogen werden, ohne die das Problem nicht wird gelöst werden können. Vorab sind noch zwei Erläuterungen nötig, zum einen muss geklärt werden, was mit Ethik gemeint ist, sodann muss die Faktenlage zum Thema Kindersoldaten erhoben werden. Ethik verstehe ich als die Lehre von der Moral. Sie beschäftigt sich demzufolge in wissenschaftlicher Weise mit dem guten oder schlechten bzw. bösen Handeln von Menschen (Personalethik), aber ebenso mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben in gerechten oder ungerechten Strukturen (Sozialethik). Beide Bereiche sind in unserem Fall angesprochen, denn zum einen geht es um das Handeln von Personen (hier: Soldaten) in der Begegnung mit Kindersoldaten, zum anderen geht es um politische Maßnahmen bspw. zum Schutz der Kinder und zur Verhinderung ihrer Rekrutierung. Dabei erhebt Ethik den Anspruch, Handlungen und Strukturen nicht nur zu beschreiben, sondern mit den genannten Wertworten (gut, schlecht, böse, gerecht, ungerecht) zu beurteilen, also zu empfehlen, zu kritisieren oder gar zu verbieten. Als Urteilsinstanz im Menschen wird dabei das Gewissen angesprochen. Dazu setzt Ethik im Sinne einer wissenschaftlichen Prämisse voraus, dass Menschen erstens für ihr persönliches Handeln ebenso wie für die Gestaltung der Gesellschaft verantwortlich sind, dass sie also wissen, was sie tun (vernünftig denken), und dass sie zweitens dieses Tun oder Unterlassen auch selbst bestimmen (frei handeln) können1. 1 Die Grundsatzfragen, ob bzw. inwiefern Menschen frei und vernünftig sind, werden im Bereich der Metaethik, also der Grundlagenarbeit analysiert – vgl. dazu Stümke (2008), S. 15–27. Dass Ethik diese Prämissen setzt, lässt sich dadurch veranschaulichen, dass nur solche menschliche Tätigkeiten moralisch bewertet werden, die als im Bereich menschlicher Handlungsfreiheit und Vernunft liegend angesehen werden; so ist zwar das Lügen, nicht aber das Atmen ein Thema der Personalethik. Analog beschäftigt sich die Sozialethik mit gesellschaftlichen Institutionen, nicht
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Das Thema Kindersoldaten gehört personalethisch wie sozialethisch in den Bereich der „Angewandten Ethik“. Hier werden nicht grundsätzliche Fragen menschlichen Handelns erörtert, sondern konkrete Probleme analysiert. Dazu ist es unverzichtbar, den Sachstand präzise und umfassend in den Blick zu nehmen. Das Ziel liegt in einem „gemischten Syllogismus“ (V. Hösle) bzw. in einem „Überlegungsgleichgewicht“ (J. Fischer)2, also in einer Synthese aus deskriptiven und normativen Argumenten.3
I. Das moralische Dilemma: Kampf gegen Kindersoldaten Ein moralisches Dilemma liegt vor, wenn die Handlungsoptionen der Protagonisten gleichermaßen als schlecht zu bewerten sind, man also nicht anders als Übel verursachend handeln kann und es auch kein erkennbar kleineres Übel bzw. keine klare Gewichtung der Pflichten gibt. Diese Gleichrangigkeit markiert die Differenz zu einem moralischen Konflikt, bei dem die möglichen Handlungen zwar ebenfalls nicht (nur) gut sind, sich aber eine Rangfolge bilden lässt. Nach welchem Maßstab diese Bewertung erfolgt, muss hier nicht entschieden werden, sofern plausibiliert werden kann, dass jedenfalls der gewählte Maßstab ethische Anerkennung verdient und dass die Anwendung des Maßstabes zu dem genannten Ergebnis führt: Die unterschiedlichen Maßstäbe lassen sich durch folgende Fragen veranschaulichen: Sind die Folgen gleichermaßen unerwünscht? Werden jedes Mal grundlegende Pflichten verletzt oder anerkannte Normen übertreten? Werden gleichrangige Werte oder Güter missachtet? Stehen die möglichen Handlungen im Widerspruch zum (tugendhaften) Lebensentwurf und Selbstverständnis des Akteurs? Dementsprechend wird entweder eine Verantwortungs- oder Folgenethik, eine Gesinnungs- oder Pflichtenethik, eine Güterlehre oder eine Tugendlehre vertreten. Zumeist berücksichtigt eine ethische Handlungsempfehlung in der Praxis allerdings diese unterschiedlichen Ansätze und gelangt zu einem abwägenden Gesamturteil. hingegen mit geographischen Gegebenheiten – es sei denn, sie können von Menschen geändert werden. 2 Vgl. Hösle (1997), S. 165–204. Demgegenüber empfiehlt Johannes Fischer diesbezüglich im Anschluss an John Rawls von einem „Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium)“ zu sprechen, vgl. Fischer (2007), S. 108–113. Hösles Ansatz ist einer universalistischen Ethik verpflichtet, die durch die normative Einbeziehung der konkreten Erfordernisse differenziert, aber nicht zurückgenommen wird. Fischer verfolgt demgegenüber einen deskriptiven Ansatz, der vergleichbar dem Kommunitarismus die Rückbindung der moralischen Grundannahmen an ein Ethos, eine Überzeugung vertritt. 3 Vgl. für eine umfassende Beschreibung den Beitrag von Holler in diesem Sammelband.
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Mit Blick auf Kindersoldaten wird die Situation des Zweikampfes aus der Sicht eines regulären Kombattanten mit guten und überzeugenden Gründen als moralisches Dilemma charakterisiert. Wer in einem legalen Kampfeinsatz, also bspw. in einer UN-Mission, vor angreifenden Kindern steht, steckt in einem solchen Dilemma. Zwar steht völkerrechtlich fest, dass der Einsatz von Kindersoldaten im Kampf verboten ist. Die Zusatzprotokolle I und II zur Genfer Konvention (1949) von 1977 halten ebenso wie die UNKinderrechtskonvention von 1989 samt Fakultativprotokoll von 2000 fest, dass Kinder unter fünfzehn Jahren (so die Zusatzprotokolle, die UN-Kinderrechtskonvention spricht sogar von achtzehn Jahren) nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen dürfen4. Folglich sind nicht die Soldaten der UN-Mission, sondern diejenigen, die Kindersoldaten im Kampf einsetzen, von vornherein im Unrecht. Allerdings fehlt vielen Staaten der Wille oder die Macht, diese völkerrechtlichen Bestimmungen auch durchzusetzen. Die klare Rechtslage hilft dem Soldaten in der konkreten Situation eines Zweikampfes aber nicht weiter, er steht vor den beiden gleichermaßen als schlecht zu bewertenden Handlungsoptionen, entweder Kinder zu töten oder deren militärischem Angriff ausgeliefert zu sein und damit das eigene Leben sowie das von Kameraden und der Zivilbevölkerung zu riskieren. 1. Kindersoldaten in einem Gefecht zu töten ist einerseits ein Akt der Notwehr oder der Nothilfe, so dass der Soldat keine rechtlichen Folgen zu befürchten hat – und auch aus ethischer Perspektive nicht kritisiert werden sollte. Wer einem unmittelbaren Angriff ausgesetzt ist, darf zur Selbstverteidigung, aber auch, um Kameraden oder Unbeteiligte, die ebenfalls angegriffen werden, zu schützen, Gewalt einsetzen. Die zudem relevante Frage nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel und der absehbaren Folgen kann zunächst einmal (als klassischer Aspekt des „ius in bello“, also der Frage nach den erlaubten Handlungen in einem grundsätzlich moralisch akzeptierten Kampf) zurückgestellt werden, denn sie stellt sich bei jedem Einsatz von Waffengewalt. Dass Notwehr und Nothilfe legitim sind, heißt nicht, dass nunmehr alle Formen von Gewalt angewendet werden dürfen; aber um in dieser Problematik präzise argumentieren zu können, müssen sowohl die konkrete Situation wie die verfügbaren Mittel näher bestimmt werden. Andererseits handelt es sich bei dem Angreifer um ein Kind, das oft gewaltsam zum Soldaten manipuliert und unter Drogen gesetzt ins Gefecht 4 Vgl. Zentrum Innere Führung (2007), S. 12–14. Neben der Unklarheit über das Alter von Kindersoldaten gibt es auch Abweichungen bezüglich der Möglichkeiten, Kinder über fünfzehn Jahren, die sich freiwillig melden, militärisch auszubilden, ohne sie aber einzusetzen; diese Möglichkeit wird nur regulären Streitkräften zugebilligt. Vgl. Pittwald (2008), S. 53–59.
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gejagt wurde, das aber eigentlich (also abgesehen von seiner faktischen Deformierung zur Tötungsmaschine) Schutz vor Gewalt verdient. Das Schutzparadigma, also die selbstverständliche Überzeugung, dass Soldaten nicht primär sich selbst, sondern die Zivilbevölkerung des Landes schützen sollen, ist für die Legitimation ihres Berufs unverzichtbar. Es wird zumeist veranschaulicht durch den Rekurs auf Frauen und Kinder als – typisiert schutzbedürftige – Vertreter der Zivilbevölkerung. Daher unterminiert das Töten von Kindern das Selbstverständnis des Soldaten und die moralische Basis seines Berufs5. Wozu ist man Soldat, wenn man Kinder tötet, wenn man also gerade nicht schützt? Notwehr und Nothilfe stehen demzufolge normativ gegen den ebenfalls gebotenen Schutz von Kindern – auf beiden Seiten stehen also grundlegende (rechtliche und ethische) Normen, die anerkannte Güter schützen, so dass man von einem Dilemma sprechen muss. 2. Blicken wir nunmehr auf die Gefühlslage und die affektiven Kräfte des Soldaten im Zweikampf, so ist zu konstatieren, dass das Töten von Kindern selbst im Fall der Notwehr oder Nothilfe beim Soldaten eine extreme innere Belastung hervorruft – das kann von Gewissensbissen und Schuldgefühlen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen reichen. Sowohl der Ausbruch solcher Reaktionen wie deren Dauer und Intensität können zeitlich wie graduell stark variieren, so dass man schon während des weiteren Einsatzes, aber auch noch nach der Rückkehr ins Heimatland mit diesen Folgen rechnen muss. Grundsätzlich kann zwar jede Kampfsituation einen Soldaten traumatisieren, zu vermuten ist allerdings sowohl eine quantitative Zunahme solcher Fälle wie eine qualitative Steigerung der Auswirkungen angesichts der extremen inneren Belastung durch den Kampf gegen Kindersoldaten. Auf der anderen Seite stellt aber auch das Zögern oder Nichteingreifen in einem Zweikampf eine Pflichtverletzung mit vergleichbaren affektiven Konsequenzen dar, weil sie nicht nur die (befohlene) Auftragserfüllung missachtet, sondern auch das eigene Leben sowie das der Kameraden und vielleicht das von Zivilisten gefährdet. 5 Der Einsatz von Kindersoldaten steht diesbezüglich übrigens in einer gewissen Analogie zum gezielten Einsatz von Vergewaltigungen in den neuen Kriegen. Zwar gibt es einen gravierenden Unterschied, weil die vergewaltigten Frauen Opfer und nicht zugleich Täter sind, während die mit Gewalt zum Kämpfen gezwungenen Kindersoldaten eben beides, Täter und Opfer sind. Aber mit Blick auf die regulären Soldaten besteht die Analogie darin, dass in beiden Fällen das Schutzparadigma angegriffen und damit die Grundlage militärischen Dienstes sowohl rechtlich wie moralisch tangiert wird: Wozu ist man Soldat, wenn man Frauen nicht vor Vergewaltigung bewahren kann und Kinder tötet, wenn man also gerade nicht schützt?
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Das moralische Dilemma findet sich also auch im Inneren des Soldaten, also in seinem Gewissen wieder; der Soldat muss davon ausgehen, dass beide Handlungsoptionen für ihn belastende Folgen zeitigen werden. 3. Der bewusste Einsatz von Kindersoldaten bspw. durch Warlords rechnet mit einem Überraschungseffekt (vgl. die „human wave attacks“ als Angriffstaktik) und mit dem moralisch bedingten Zaudern auf Seiten der Soldaten. Solche Warlords nutzen also das moralische Dilemma der Soldaten für ihre kriegerischen Ziele aus. Es verschafft einen zeitlichen Vorteil, der für den Ausgang des Kampfes und also für das Überleben ausschlaggebend sein kann. Um diese Folge zu verhindern, müssten dieses Zaudern sowie die Hemmung, Kinder zu bekämpfen, durch einen besonderen Drill bzw. „operante Konditionierung“ der Soldaten überwunden werden6. Denn es wäre verantwortungslos (und folglich ethisch inakzeptabel), Soldaten in einen möglichen Kampf gegen Kinder zu entsenden ohne sie entsprechend vorzubereiten. Soldaten zum Zweikampf gegen Kinder zu drillen hat allerdings zwei negative Nebenwirkungen: Zum einen können die Langzeitfolgen solcher anerzogenen Maßnahmen – für die Soldaten wie für deren Umgebung – gefährlich sein, so dass die Demobilisierung und Reintegration der Soldaten in die Gesellschaft vor schwierigen Herausforderungen steht. Zum anderen 6 Der Drill gehört in klar definierten und ethisch wie rechtlich ausgewiesenen Grenzen zur Berufsausübung des Soldaten hinzu. Denn die natürliche Hemmschwelle des Menschen, auf andere Menschen zu schießen und sie gegebenenfalls zu töten, muss für die Situation des Kampfes übersteuert werden, damit der Soldat kämpfen kann und nicht sofort erschossen wird. Von dieser „Grundform“ des Drills ist der für die Zurüstung zum Kampf gegen Kindersoldaten erforderliche zusätzliche Drill zu unterscheiden. Er ist notwendig, weil und soweit das Kämpfen gegen Kinder vor einer weiteren Hemmschwelle steht, die zum einen durch mögliche Assoziationen an die Rolle des Vaters oder des großen Bruders, zum anderen durch das bereits angesprochene Schutzparadigma evoziert wird. Selbstverständlich soll dieser zusätzliche Drill nur in solchen Fällen eingesetzt werden, wo Soldaten auf einen Auslandseinsatz vorbereitet werden, in dem sie mit Kämpfen gegen Kindersoldaten rechnen müssen. Unabhängig von diesen beiden Formen des Drills kann und darf es gemäß dem Konzept der Inneren Führung vorkommen, dass einzelne Soldaten bestimmte Befehle aufgrund der Warnung ihres Gewissens nicht befolgen können. Hierbei handelt es sich um konkrete Einzelfälle, die auch als solche zu bewerten sind. Die beiden Formen des Drills können dazu beitragen, die Anzahl dieser Fälle zu reduzieren, indem die Bedenken des Gewissens vorab analysiert und die affektiven Vorbehalte wegtrainiert werden können. Aber keinesfalls hat der Drill die Funktion, das Gewissen des Soldaten komplett auszuschalten und den Soldaten damit zu einer Kampfmaschine zu deformieren. Pointiert formuliert: Das ethische Ideal sähe also so aus, dass es äußerst wenig solcher Einzelfälle gebe; damit würde zum einen dokumentiert, dass die Soldaten sehr gut auf ihre Einsätze vorbereitet werden, zum anderen gäbe es den Beleg, dass die Soldaten die Stimme ihres Gewissens immer noch hören.
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würde sich das Bild unserer Streitkräfte verändern: Wir wären dann ein Land, das seine Soldaten dahingehend ausbildet, gezielt Kinder zu töten. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Entwicklung bei uns auf Zustimmung stößt, ganz abgesehen von dem Einfluss der Massenmedien, die diese Problematik sicherlich aufgreifen und teilweise reißerisch vermarkten würden. Auch an dieser Stelle zeigt sich also wieder das moralische Dilemma, nunmehr in der Form eines „slippery slope“ Arguments und mit Bezug auf den Soldaten und zugleich auf die Gesellschaft: Der Drill der Soldaten wäre notwendig, aber er würde eine zivilisatorische Errungenschaft im Kriegsvölkerrecht weiter unterminieren. Wer das nicht will, müsste umgekehrt verantworten, vor der brutalen Gewalt der Warlords zu kapitulieren. Beide Optionen sind aber gleichermaßen schlecht. Der Kampf gegen Kindersoldaten stellt also ein moralisches Dilemma dar, das gravierende Gefahren für die Soldaten mit sich bringt und riskante gesellschaftliche und politische Konsequenzen in sich birgt. Daher reicht es nicht aus, sich auf die klare rechtliche Lage zurückzuziehen und darüber hinaus zu konstatieren, man müsse lediglich tiefer anlegen. Eine solche Antwort ist zwar (rein sachlich geurteilt) nicht falsch, aber sie ist ungenügend, denn sie steht in der Gefahr, die psychischen wie politischen Konsequenzen solchen Einsatzes zu verdrängen und eine Selbstverständlichkeit der Dienstausübung vorzutäuschen, die es in einem Dilemma nicht gibt. Dadurch werden diese Folgen aber auf die Schultern der kämpfenden Soldaten gelegt – und das ist ethisch verantwortungslos. Ob darüber hinaus nicht sogar die Fürsorgepflicht des Dienstherren (§ 10 Abs. 3 SG) tangiert wäre, ist eine rechtliche Frage, die ich hier nur aufwerfen möchte, aber nicht bearbeiten kann. Jedenfalls lässt sich das moralische Dilemma nicht dadurch auflösen, dass man funktionalistisch lediglich eine Handlungsanweisung für den Zweikampf vorgibt, denn es ist fraglich, ob der Soldat im Kampf – ohne einen solchen Drill – in der gebotenen Routine wird agieren wollen und können. Wer Soldaten in einen Auslandseinsatz sendet, bei dem das Risiko besteht, mit Kindersoldaten konfrontiert zu werden, muss die Soldaten darauf vorbereiten und wird angesichts der gravierenden Veränderungen, die darin impliziert sind, nicht umhin können, diesen Schritt militärisch gründlich einzuüben und genau das gesellschaftlich und politisch abzusichern. Andernfalls wäre es mit Blick auf die eigenen Soldaten moralisch geboten, sich an solchen Einsätzen nicht zu beteiligen – aber auch das wäre gesellschaftlich und politisch zu verantworten. Um es klar zu formulieren: Mir geht es nicht darum, durch die Drohung mit der Öffentlichkeit einen solchen Einsatz zu verhindern, und auch nicht darum, ihn im Gegenteil durchzudrücken. Bei einem moralischen Dilemma wird es keine klare und eindeutige Lösung geben.
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Vielmehr geht es mir darum, den kämpfenden Soldaten so weit als möglich den nötigen Rückhalt zu geben – politisch und gesellschaftlich durch die Zustimmung zu diesem Einsatz oder zu dessen Verweigerung, militärisch durch eine optimale Vorbereitung. Die von Holler diagnostizierten Lücken bei der Ausbildung der Bundeswehr lassen sich vermutlich auf diese Konstellation zurückführen. Solange die gesellschaftliche und politische Zustimmung nicht vorhanden ist, muss die Bundeswehr mit einer operanten Konditionierung zum Kampf gegen Kindersoldaten zurückhaltend sein. Angesichts der großen Anzahl von Kindersoldaten und ihrer weltweiten Verbreitung ist meines Erachtens moralisch geboten, diese Zustimmung zu erfragen. Mit Blick auf die Bundeswehr lautet daher die erste Forderung, einen solchen politischen wie gesellschaftlichen Diskurs einzuklagen. Diese These möchte ich abschließend durch die Zurückweisung von zwei möglichen Entgegnungen weiter profilieren. Zum einen könnte man einwenden, die Bundeswehr verlöre an Zustimmung und gesellschaftlicher Akzeptanz, wenn sie forderte, solch brutale Methoden einsetzen zu dürfen. Aber dieser Einwand ist an sich gefährlich, weil er das demokratische Verfahren fürchtet. Sollte die Gesellschaft deutlich zu dieser Position kommen, dann müsste das auch von der politischen Führung und folgend von der Bundeswehr akzeptiert werden. Es ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass der von mir eingeforderte Diskurs dieses Ergebnis zeitigte, weil auch die Alternative, zusehen zu müssen, wie brutale Diktatoren agieren, nicht akzeptabel ist. Bislang wird das Dilemma verschwiegen – und das ist m. E. für Soldaten unerträglich, weil und sofern ein Einsatz gegen Kindersoldaten durchaus möglich sein kann. Zum anderen könnte man räsonieren, lieber heimlich die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, um die Bevölkerung nicht zu verschrecken. Aber spricht nicht aus diesem Gedankengang das schlechte Gewissen? Und geht eine solche Taktiererei nicht zu Lasten der Soldaten, die nunmehr erst recht im Stich gelassen werden? Leistet dieses Argument darüber hinaus nicht auch noch einer Tendenz, die Armee zu einem Staat im Staate zu verändern, Vorschub? Jedenfalls befördert diese Position das beklagte freundliche Desinteresse an der Bundeswehr. Demgegenüber ist ein Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen des für Soldaten Erlaubten angesichts der veränderten Herausforderungen politisch und gesellschaftlich, aber auch militärisch weitaus angemessener, weil er als Ergebnis den Soldaten Handlungssicherheit vermitteln kann.
II. Die ethische Gefahr des Zweikampfs als Paradigma Um das moralische Dilemma, vor das uns die Existenz und der Einsatz von Kindersoldaten stellen, zu verdeutlichen, habe ich auf die Situation des militärischen Zweikampfes, also der direkten und unmittelbaren Konfronta-
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tion des regulären Kombattanten mit kämpfenden Kindersoldaten, zurückgegriffen. Denn, so behaupte ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen an der Führungsakademie der Bundeswehr, genau diese Situation wird allzu schnell als Paradigma herangezogen, um die entsprechenden Probleme zu analysieren – und zwar nicht nur von Soldaten, sondern auch in ethischen und politischen Diskursen. Und das moralische Dilemma des Soldaten kann damit auch sehr klar herausgearbeitet werden. Dennoch ist es nicht unbedenklich, den Zweikampf in dieser Thematik zum Paradigma zu erheben. Unter Paradigma verstehe ich dabei nicht nur „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern“7, sondern vornehmlich diejenigen Beispiele, Bilder, Fragestellungen und Selbstverständlichkeiten, die den dann folgenden und darauf fußenden wissenschaftlichen Analysen zugrunde liegen und so die Debatte beherrschen. Damit geht einher, dass andere Aspekte an den Rand gedrängt werden können – und genau das evoziert mein Bedenken gegen die Verwendung des Zweikampfs als Paradigma: Sowohl Kindersoldaten wie Militär werden hier auf eine Tätigkeit und auf eine Verantwortlichkeit reduziert, die dermaßen das Verstehen dominiert, dass die weiteren Handlungsfelder aus dem Blickfeld geraten können. Mit Blick auf die Kindersoldaten wird vernachlässigt, dass Kinder schon aufgrund der nur geringen militärischen Ausbildung nicht nur als Frontkämpfer eingesetzt werden, sondern auch und sogar vornehmlich andere Funktionen in den neuen Kriegen wahrnehmen. Militärisch gefährlich sind sie vor allem als „Spione“, die den Gegner auskundschaften und dabei – eben als Kinder – leichter unbeachtet bleiben. Auch als Boten werden sie benutzt. Darüber hinaus werden sie zu Selbstmordattentätern ausgebildet, die unbemerkt in das feindliche Lager eindringen und dort einen Anschlag verüben sollen. Während die Kinder in diesen Verwendungen auch Täter sind, werden sie, weil sie billig und leicht zu rekrutieren sind, ebenfalls häufig zu Opfern. Berüchtigt ist ihr Einsatz gleichsam als „Minensuchgerät“, sie werden über vermutlich vermintes Gelände geschickt. Bei einem Angriff dienen sie oft als „erste Welle“, durch ihre ungestüme Attacke locken sie den Gegner aus der Deckung, binden ihn und können ihn schlicht durch ihre zahlenmäßige Übermacht – bei sehr hohen Verlusten – besiegen. Zudem werden insbesondere Mädchen auch als Sexsklaven in den irregulären Kampfeinheiten missbraucht. Diese Verwendungsbreite erhellt, dass die Kinder zugleich Täter und Opfer sind. Mit einer durch die Fokussierung auf den Zweikampf bewirkten Blickfeldverengung geht zudem die Gefahr einher, dass auch die Lösungsmög7
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lichkeiten bei der militärischen Bekämpfung von Kindersoldaten nur ausschnittsweise rezipiert werden; der Soldat also zusammen mit einer nur begrenzten Wahrnehmung der Situation auch nur verkürzt Handlungsalternativen wird entwickeln können8. Der Soldat steckt in einem moralischen Dilemma, wenn er direkt gegen ein bewaffnetes Kind kämpfen muss. Aber dieses Dilemma ist nicht alles, was zum Thema Kindersoldaten zu sagen ist, und dementsprechend sind Ratschläge zum Verhalten im direkten Kampf auch nicht die einzige militärische Option. Soldaten sind – auch während eines Auslandseinsatzes – eben nicht nur archaische Kämpfer. Peter W. Singer hat folgende Handlungsoptionen für die militärische Bekämpfung von Kindersoldaten aufgelistet9: – Das Ausweiten der Kampfzone: Um Zweikämpfen gegen wild anstürmende Kinder möglichst aus dem Weg zu gehen, sei eine Bekämpfung aus der Distanz oder aus der Luft (Hubschrauber) angeraten. Dabei werden zwar auch Kinder getötet, vor allem aber werde (durch die Unsichtbarkeit des Angreifers) Verwirrung gestiftet, zudem werde den Kindern damit die Flucht oder das Überlaufen erleichtert. Auch der Einsatz nicht letaler Waffen sei nunmehr leichter und effektiver zu bewerkstelligen. – Durcheinander herstellen: Kinder zu verwirren oder zu schocken werde ihre Entschlossenheit und damit ihre Kampfkraft erheblich schwächen. Das könne man zum einen durch Geräusch und Machtdemonstration erreichen – auch aus diesem Grund sei der Einsatz von Hubschraubern empfehlenswert. Zum anderen könne der Einsatz psychologischer Mittel vor allem die Erinnerung an die Familie und an die Kindheit vor der Rekrutierung evozieren und damit innere Distanz zur gegenwärtigen Rolle schaffen. Schließlich sei es immer effektiv, möglichst die militärischen Anführer außer Gefecht zu setzen und die Camps zu vernichten, so dass wiederum die Flucht oder das Überlaufen erleichtert werden. – Das Hinterfeld einbeziehen: Angesichts des menschenverachtenden Umgangs der Warlords mit Kindersoldaten (weitgehend als „Kanonenfutter“) gibt es einen hohen Rekrutierungsbedarf. Daher müsse auch militärisch versucht werden, die Nachschubversorgung zu stoppen, also die Rekrutierung neuer Kinder zu unterbinden, indem bspw. Schulen gesi8
Vgl. dazu Gillner (2007), S. 16. Vgl. zum Folgenden Singer (2006), S. 164–176; die Systematisierung stammt von mir. Gern notiere ich, dass Offiziere mich darauf verwiesen haben, dass vor allem die beiden ersten Vorschläge nicht sonderlich effektiv seien. Diese hilfreichen Hinweise besagen natürlich nicht, dass die Suche nach alternativen Wegen falsch ist, sondern eher, dass sie sich schwierig gestalten dürfte und enorme Anstrengungen erfordert. Namentlich möchte ich mich bei OTL Jürgen Franke und OTL Jörg Bartl für ihre konstruktiven Ergänzungen und Gesprächsbeiträge bedanken. 9
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chert werden. Auch müssten die übergelaufenen Kindersoldaten gut behandelt werden; diese Option sollte für sie attraktiv sein und das sollte sich herumsprechen. Auch diese Handlungsoptionen zielen auf die Anwendung militärischer Gewalt. Das grundlegende Problem, überhaupt gegen Kinder kämpfen zu müssen, können sie also nicht beseitigen. Und damit bleibt auch das normative Dilemma bestehen. Aber sie können zumindest quantitativ einige Probleme verringern. Sofern die empfohlenen Maßnahmen greifen, reduzieren sie die Anzahl der getöteten Kinder, weil sie ihnen neue Optionen neben der „human wave attack“ ermöglichen (Flucht, Gefangennahme), und weil sie auch den Soldaten andere Mittel neben dem Schießen im Zweikampf vorschlagen (verwirren oder nicht letal bekämpfen). Zumindest die affektiven Aspekte des moralischen Dilemmas werden damit für die Soldaten entschärft, sofern so kaum noch Kindersoldaten direkt erschossen werden müssen. Auch die operante Konditionierung würde andere Maßnahmen neben dem Zweikampf umfassen und damit ebenfalls modifiziert. Vielleicht kann man mit Singer sagen, dass diese Maßnahmen Schritte sind hin zu dem Ziel, den Missbrauch von Kindern als Soldaten – der Rechtslage entsprechend – komplett abzuschaffen. An dieser Stelle wird zudem deutlich, dass die Zusammenarbeit des Militärs mit politischen und gesellschaftlichen Akteuren unverzichtbar, dass ein „comprehensive approach“ notwendig ist. Das Militär kann seinen Beitrag zur Bekämpfung von Kindersoldaten leisten. Und dieser Beitrag besteht, wie gezeigt, nicht nur im direkten Zweikampf, vielmehr verfügt das Militär über mehrere Optionen, um einen Feind, der Kindersoldaten einsetzt, effektiv zu bekämpfen. Aber einen Krieg gegen ihn wird das Militär allein, also auf sich gestellt und auf seine Maßnahmen begrenzt, nicht gewinnen können. Dazu muss vor allem die Rekrutierung ständig neuer Kinder – sei es mit Gewalt oder aufgrund freiwilliger Meldung – gestoppt werden, was politische und gesellschaftliche Anstrengungen erfordert. Schon den Zugriff der Warlords auf Kinder zu verhindern, kann vom Militär nur unterstützt werden, benötigt aber auch ziviles Engagement. Zudem muss man den Kindern andere Lebensperspektiven als die Handhabung von Gewalt eröffnen. Daher sind der sorgsame Umgang mit gefangenen Kindern und ihre schrittweise Zurückführung in die zivile Gesellschaft sehr wichtig, weil sie den verbliebenen Kindersoldaten signalisieren, dass diese anderen Optionen wirklich vorhanden und weiterführend sind. Der Prozess der Entwaffnung, Demobilisierung, Rehabilitation und Reintegration ehemaliger Kindersoldaten hat Konsequenzen nicht nur für das Kind, sondern auch für das gesellschaftliche Zusammenleben, das stabilisiert werden muss, um diese Kinder mit ihren Erfahrungen und Prägungen
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tragen zu können. Denn zugleich ist die Gesellschaft auf die Kinder angewiesen, um zukunftsfähig zu werden – gerade in Afrika besteht die Gefahr, dass immer mehr Kinder körperlich krank (Aids) oder seelisch deformiert (Kindersoldaten) und daher kaum geeignet sind, in ihrem Land Führungspositionen zu übernehmen. Das kann vom Militär nicht geleistet werden – und zumindest die Bundeswehr erhebt keinesfalls den Anspruch, dies leisten zu können oder zu wollen. Vielmehr müssen Nichtregierungsorganisationen maßgeblich in diesen Prozess einbezogen werden. Politik und Gesellschaft sind nicht nur gleichsam als Randbedingungen für erfolgreiches militärisches Agieren notwendig, sie haben zudem eigene Problembereiche zu bearbeiten. Die folgenden Aspekte dürfen als besonders relevant gelten: – Proliferation von Waffen: Kindersoldaten sind auf leichte Waffen angewiesen, die sie bedienen und tragen können und die ihnen nicht zuletzt angesichts der verheerenden Wirkung das Gefühl der Stärke vermitteln. Solche Waffen sind gegenwärtig leicht und zudem billig zu erwerben, insbesondere die russische AK-47 ist unter Kindersoldaten weit verbreitet. – Chancenlosigkeit und Armut: Für manche Kinder eröffnet das Soldatsein eine angesichts der Armut des Landes oder der Familie attraktive Möglichkeit, mit den Grundbedürfnissen (Nahrung, Kleidung) versorgt zu werden bzw. sich eigenständig selbst versorgen zu können – durch Gewalt. – Staatliche Strukturen: Die brutalen Methoden der Warlords bei der Rekrutierung und Ausbildung der Kinder, die häufig andere Kinder oder sogar Verwandte töten müssen, um durch diese Tat für die Gesellschaft irreversibel inakzeptabel zu werden, werden begünstigt durch eine schwache Staatsgewalt, die keine (vollständige) Kontrolle über ihr Territorium ausüben kann (oder will). Diese Aspekte wurden hier nur kurz angedeutet, sie sind von Holler wie insbesondere von Singer eindrücklich analysiert (und mit weiteren Veröffentlichungen abgeglichen) worden. Dabei muss nicht entfaltet werden, dass angesichts der globalisierten Welt nicht nur die Politik in den betroffenen Ländern angesprochen ist, sondern auch Europa und Deutschland involviert sind. In ethischer Perspektive ist entscheidend, dass auch diese Faktoren in den geforderten Diskurs einbezogen werden. Sie verdeutlichen und untermauern die These, dass die Verkürzung der Auseinandersetzung mit dem Problem der Kindersoldaten auf die Situation des Kampfes nicht weiterführend ist. Wer ernsthaft die Lösung des Problems der Kindersoldaten vorantreiben möchte, muss diese globaleren Aspekte einbeziehen und hier Optionen ent-
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wickeln. Nur dann kann es geboten sein, auch das Militär und seine Fähigkeit zur Gewaltausübung einzusetzen, um wiederum einen bestimmten Aspekt, nämlich die Kindersoldaten als Gewaltakteure, in den Griff zu bekommen, sofern das auf keinem anderem Weg erreichbar ist (das Kriterium der „ultima ratio“ also erfüllt ist). Und nur in einem solchen Gesamtkonzept kann und sollte dann aber auch ethisch erwogen werden, Soldaten entsprechend zu drillen, um zusätzlich zu den genannten militärischen Handlungen zudem für einen Zweikampf gerüstet zu sein. Literatur Fischer, Johannes (2007): Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. Stuttgart 2007. Gillner, Matthias (2007): Gewissen, in: kompass. Heft 9/2007, S. 16. Hösle, Vittorio (1997): Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München. Kuhn, Thomas S. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/ Main. Pittwald, Michael (2008): Kindersoldaten, neue Kriege und Gewaltmärkte. 2. Auflage. Belm-Vehrte. Singer, Peter W. (2006): Children at War. Berkeley. Stümke, Volker (2008): Was ist der Mensch? Das Menschenbild in der Ethik, in: Bayer, Stefan/Stümke, Volker (Hrsg.): Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven. Berlin, S. 15–27. Zentrum Innere Führung (Hrsg.) (2007): Arbeitspapier: Kindersoldaten. Koblenz.
Kindersoldaten im Visier Herausforderungen der Bundeswehr in militärischen Konflikten mit bewaffneten Kindern Von Daniel Holler Aufgrund des zunehmenden internationalen Engagements der Bundeswehr muss die Thematik minderjähriger Kämpfer näher in das Blickfeld der hiesigen Akteure rücken. Geschätzte 300.000 Kindersoldaten weltweit legen nahe, dass in Zukunft eine Konfrontation mit deutschen Streitkräften wahrscheinlicher wird. Obwohl es einen breiten wissenschaftlichen Kenntnisstand zu bewaffneten Kindern gibt, wurde der militärische Konflikt mit ihnen bisher nur wenig untersucht. Es besteht eine Forschungslücke, die dringend geschlossen werden muss. Der vorliegende Aufsatz soll hierzu seinen Teil beitragen.
I. Kombattanten – kindliche und erwachsene Kämpfer 1. Rechtslage zum Schutz des Kindes in bewaffneten Konflikten Seit den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 wurden eine Vielzahl an wichtigen Abkommen geschlossen, welche den Schutz von Kindern gewährleisten sollen, u. a. in den Zusatzprotokollen (ZP) über den Schutz der Opfer international (I.) und nicht-international (II.) bewaffneter Konflikte. Im ZP I, Kapitel II, § 77 (2) heißt es, dass „die am Konflikt beteiligten Parteien [. . .] alle praktisch durchführbaren Maßnahmen [treffen], damit Kinder unter fünfzehn Jahren nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen; sie sehen insbesondere davon ab, sie in ihre Streitkräfte einzugliedern.“ Diese Forderung wird im ZP II § 4 (3c) unterstützt. Auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention1, KRK, 1989) untermauert dies in § 38(2). So „konnte [im 1 Sie wurde – außer von den USA und Somalia – von allen UN-Mitgliedsstaaten ratifiziert.
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Vergleich zu den ZPs der Genfer Konventionen] also keine Verbesserung des rechtlichen Schutzes von Kindern vor der Teilnahme an Feindseligkeiten erreicht werden“2. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass zwischen § 1 ‚Kind‘ (das Kind als eine Person unter 18 Jahren), § 3 (1) ‚Wohl des Kindes‘ (das Wohl des Kindes ist vorrangig zu berücksichtigen) und § 38 (2) ‚Schutz bei bewaffneten Konflikten‘ (Verbot des Einsatzes von Kindern unter 15 Jahren als Soldaten) keine vollkommene begriffliche Kongruenz besteht. Die bisher von 45 der 53 afrikanischen Staaten ratifizierte African Charter on the Right and Welfare of the Child (1990) schreibt in § 22 (2) vor, „[that] no child shall take direct part in hostilities“. Diese Charter, ebenso wie die KRK, definiert jede unter 18-jährige Person als Kind (s. a. § 2). Vor dem Hintergrund, dass auf dem afrikanischen Kontinent etwa 120.000 der geschätzten 300.000 Kindersoldaten im Einsatz sind, scheint dies jedoch nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zu sein. Die Cape Town Principles (1997) fordern ein Mindestalter von 18 Jahren „for any person participating in hostilities and for recruitment in all forms into any armed force or armed group.“ Durch das Römische Statut wird 1998 die Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren und ihr Einsatz in militärischen Auseinandersetzungen zu Kriegsverbrechen erklärt.3 Dies ist auch im deutschen Rechtssystem durch das Völkerstrafgesetzbuch (2002) verankert (§ 8 (1.5)). Des Weiteren fordert die International Labor Organization (ILO) den Einsatz von Kindersoldaten abzuschaffen (s. a. Übereinkommen 182), da dieser von ihr zu einer der schlimmsten Formen von Kinderarbeit erklärt wird. Das Fakultativprotokoll zur KRK (2000), in Deutschland am 13. Januar 2005 in Kraft getreten, schreibt die Forderung fest, dass Personen unter 18 Jahren nicht an Feindseligkeiten teilnehmen sowie staatliche Streitkräfte ihre obligatorische Rekrutierung vermeiden sollen (§ 2). Zudem legt § 4 (1) fest, dass bewaffnete Gruppierungen dies generell unterlassen sollen. Somit bleibt dem Staat aber die Möglichkeit der Rekrutierung Minderjähriger erhalten. Mit den Paris Principles4 und den Paris Commitments (2007) wurden weitere Grundlagen erarbeitet. Sie fordern die Einhaltung der genannten internationalen Abkommen sowie der hierfür wichtigsten UN-Resolutionen (z. B. UNSCR 1261 von 1999). Erstmals werden Mädchen als „largely invi2
Schmidt/Heintze (1998), S. 175. Rome Statute of the International Criminal Court, Article 8: War Crimes, 2. (b) (xxvi) (Internationale Konflikte, national armed forces) und Article 8, 2. (e) (vii) (nicht-internationale Konflikte, armed forces or groups). 4 Vgl. UN (2007). 3
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sible in [. . .] initiatives“ erwähnt. Um die betroffenen Gruppierungen von der Rekrutierung Minderjähriger abzuhalten, sollen sie bei Verstoß während des Friedensprozesses von Stabilisierungsmaßnahmen ausgeschlossen werden. Hierdurch wurde ein mögliches Druckmittel geschaffen. Im Juni 2010 verabschiedeten sechs zentralafrikanische Staaten5 die Erklärung von N’Djamena zur Vermeidung von Kindersoldaten.6 Auch von Seiten der EU wurde das Thema aufgegriffen. In der Leitlinie 15634/03 (2003, aktualisiert 2008) wird die europäische Außenpolitik zu dem Thema definiert, da „[d]ie Förderung und der Schutz der Rechte des Kindes [. . .] eine Priorität der Menschenrechtspolitik der EU“ ist. Es gibt eine Vielzahl internationaler Abkommen, um Kinder vor der Rekrutierung zu schützen. Gemäß der Einschätzung von Henckaerts stellt dieser Schutz „a norm of customary international law applicable in both international and non-international armed conflicts“7 dar. Zuvor noch mangelnde Durchsetzungsmechanismen (z. B. im Fakultativprotokoll zur KRK) wurden korrigiert (z. B. in den UNSCRs). Unterzeichnet und ratifiziert von einem Großteil der Länder, welche Kindersoldaten verwenden, stehen die Abkommen dennoch im Widerspruch zur Realität. Das Hauptproblem scheint der mangelnde Wille zur Durchsetzung und Einhaltung der Übereinkünfte zu sein. Dazu kommt, dass im Fakultativprotokoll das Mindestalter für obligatorische Rekrutierung auf 18 Jahren festgelegt ist, jedoch „für Freiwillige [. . .] weiterhin die Altersgrenze von 15 Jahren“8 gilt. An dieser Stelle ist zu betonen, dass es nicht zur Glaubwürdigkeit der genannten Abkommen beiträgt, wenn sich die Weltmacht USA z. B. der Ratifizierung der KRK verweigert und das angeratene Rekrutierungsalter von 18 Jahren nicht berücksichtigt. Auch muss darauf verwiesen werden, dass sich in Deutschland 17-Jährige freiwillig zum Wehrdienst melden können, ohne jedoch an Feindseligkeiten teilzunehmen.9 2. Das Phänomen ‚Kindersoldaten‘ Der strategische Einsatz von Kindersoldaten ist ein Symptom der letzten Jahrzehnte. Früher tauchten Kinder vereinzelt als Gehilfen in bewaffneten Konflikten auf; heute sind sie oft ein strategischer Bestandteil. So waren 5
Kamerun, Niger, Nigeria, Sudan, Tschad und die Zentralafrikanische Republik. So fordert u. a. § 4 „to ensure the crime of recruitment and use of children by armed forces and groups does not form part of any amnesty law and is treated as a war crime“. 7 Henckaerts (2005), S. 479 f. 8 Ludwig (2003), S. 7. 9 Vgl. Auswärtiges Amt (2006). 6
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z. B. in Angola (1975–1994) nur 4%, in Ruanda (1990–1995) etwa 25%, und in Liberia (2000–2002) sogar bis zu 53% der Kämpfer Kinder.10 Im Folgenden wird dieses Phänomen mit Fokus auf nichtstaatliche Gruppierungen untersucht, da Kinder „primarily by non-state armed groups“ rekrutiert werden.11 Nachfolgend werden u. a. die Definition des Begriffs ‚Kindersoldat‘, das Werden der Kindersoldaten durch den Anschluss an die Gruppe und die erzwungene Formung zu ‚Tötungsmaschinen‘ sowie ihr Einfluss auf die neuen Kriege, die militärische Struktur und die Erwartungen der zukünftigen Entwicklung dieser Problematik dargestellt. Diese Facetten beeinflussen die in der Konfrontation zu ergreifenden Maßnahmen. a) Definition des Begriffs ‚Kindersoldat‘ Gemäß der Kurzfassung der in den Cape Town Principles (1997) genannten Definition ist ein ‚Kindersoldat‘12 eine Person unter 18 Jahren, welche bewaffneten Gruppierungen und/oder Armeen angeschlossen ist. Die Art der Zugehörigkeit wird sehr breit ausgelegt. Diese Definition wird von Nichtregierungsorganisationen (NRO) und großen Teilen der internationalen Gemeinschaft verwendet.13 Jedoch gibt es keinen allgemein gültigen Terminus: Der Begriff ‚Kindersoldat‘ wird maßgeblich genutzt. Anzumerken bleibt, dass „völkerrechtliche Normen, die sich gegen die Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten richten, [. . .] den Begriff nicht [verwenden]. Stattdessen ist von Personen oder Kindern unter 15 bzw. 18 Jahren die Rede“.14 Zudem gibt es seit 1997 Bemühungen, ihn durch die Umschreibung ‚children associated with armed groups‘ zu ersetzen.15 An dieser Stelle ist darauf zu verweisen, dass es „viele Kindersoldaten [gibt], die unter 10 Jahren alt sind“. Allerdings dürfte „der Altersdurchschnitt zwischen 14 und 18 Jahren liegen“.16
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Vgl. Andvig (2006), S. 17. Vgl. Coalition to Stop the Use of Child Soldiers (2008), S. 9. Auf die teilweise großen Unterschiede zwischen Kindersoldaten in Rebellenorganisationen und in Regierungsarmeen kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht explizit eingegangen werden. 12 Aufgrund des thematischen Fokus werden im Folgenden nur Kinder unter Waffen berücksichtigt. 13 Vgl. Human Rights Watch (2003). 14 Vgl. Suárez (2009), S. 9. 15 Vgl. ein Interview mit Peuschel. Dieser Aufsatz verwendet den Begriff ‚Kindersoldat‘ gemäß der Cape Town Principles, vgl. UNICEF (1997), nicht jedoch die Umschreibung ‚Children associated with armed groups‘. Dies geschieht allein aus Gründen der Vereinfachung. 16 Schorlemer (2009), S. 18. 11
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b) Anschluss an die militärische Gruppierung „Für die meisten Kriege gilt: Je länger ein Krieg dauert, desto mehr Kinder werden rekrutiert. Je mehr Kinder rekrutiert werden, umso jünger werden die Opfer dieser Praxis“ (Terre des Hommes 2010). Die Gründe, warum Kinder zu Soldaten werden, sind vielfältig. Es muss zwischen ‚forciertfreiwilligem‘ und forciertem Anschluss unterschieden werden. Im folgenden Abschnitt werden Aspekte beider Formen dargelegt.17 Die Literatur verweist darauf, dass es auch Kindersoldaten gibt, die sich ‚freiwillig‘ bewaffneten Gruppen angeschlossen haben: „The rough trend line seems to be that roughly two of every three child soldiers have some sort of initiative in their own recruitment“.18 Gemäß einer Studie zur ‚freiwilligen‘ Rekrutierung gilt materielle Not (34%) als Hauptgrund.19 Meist sehen die ‚Freiwilligen‘ im Anschluss ihre einzige Überlebenschance. Erst an fünfter Stelle wird Rache (10%) genannt. Kinder, die in Armut leben, sind anfälliger für die Anwerbung durch bewaffnete Gruppierungen, da sie durch das Versprechen auf regelmäßiges Essen, Unterkunft und eine sichere Zukunft gelockt werden. Teilweise übergeben bzw. verkaufen Eltern sogar ihre Kinder aus Verzweiflung, da sie sie nicht ernähren können.20 Gemäß der Studie von Terre des Hommes bedeutet die Adoleszenz auch „eine Zeit der Verletzbarkeit, bedingt durch die Unsicherheit und Turbulenzen physischer, geistiger und emotionaler Entwicklung“21 und so sind Jugendliche sehr leicht durch Propaganda zu beeinflussen. Statussymbole, Macht und überzogene Versprechungen tragen dazu bei: „They told us we’d all have our own vehicle. They told us they’d build houses for us“.22 Eine Studie zeigt, dass etwa 15% der Rekruten der Faszination bewaffneter Gruppen erliegen.23 Vor allem in „shame cultures“, mit „clanlike social structures“, ist die Motivation der Rache stärker ausgeprägt.24 In vielen Fällen mussten Kinder mit ansehen, wie ihre Familie und ihr soziales Umfeld grausam niedergemetzelt, vergewaltigt, verstümmelt wurden. 17 Die Ausführungen basieren maßgeblich auf der Studie von Terre des Hommes (2004). 18 Singer (2006), S. 61. 19 Vgl. ILO (2003), S. 29. 20 Vgl. ILO (2003), S. 28. 21 Terre des Hommes (2004), S. 5. 22 Singer (2006), S. 66. 23 Vgl. ILO (2003), S. 31. 24 Singer (2006), S. 65.
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Durch jahrelange Konflikte kann sich eine Kultur der Kampfbeteiligung herausbilden. Von den LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) in Sri Lanka ist bekannt, dass sie die Strategie des „cult of martyrdom“25 verfolgten. Familien, die ein Kind im Kampf verloren, wurden zu „great hero families“26 und somit materiell versorgt. In armen Familien kann dies Druck auf die Kinder ausüben. Des Weiteren kann der Anschluss aufgrund von politisch/ideologischen Einstellungen gefördert werden oder aus Perspektivlosigkeit, wenn keine Chance auf Arbeit und Ausbildung vorhanden ist. Oft werden gerade Schulen als Rekrutierungsstätten verwendet, so u. a. „Madrassahs [. . .] z. B. in Pakistan“.27 Wie schon von Singer angemerkt, treiben etwa zwei Drittel der Kinder meist große Verzweiflung an.28 Die genannten Gründe für den Anschluss zeigen, dass der Begriff ‚freiwillig‘ zu kurz greift. Wenn ein Kind im Anschluss an die bewaffnete Gruppe seine einzige Überlebenschance sieht, kann dies nicht als freiwillig bezeichnet werden. Die Methoden der forcierten Rekrutierung können variieren, i. d. R. sind sie jedoch gewaltsamen und brutalen Charakters.29 Um den Nachschub an neuen Kämpfern zu gewährleisten und um Angst und Schrecken zu verbreiten, greift man zu perfiden Mitteln: Kinder werden aus Schulen entführt, von Marktplätzen geraubt oder von Straßen entwendet. Eine populäre Strategie zwingt Kinder zu grausamen Handlungen gegen ihr persönliches Umfeld, um „sie mit Schuld zu beladen“.30 Somit verbleibt nur der Anschluss an die Gruppierung. Die bis 2009 in Sri Lanka kämpfenden LTTEs nutzten das wohl bestentwickelte Rekrutierungssystem. Zur Festlegung der Rekrutierungsraten von meist minderjährigen Kämpfern wurde ein computergestütztes Überwachungsprogramm der demographischen Entwicklung der Region verwendet.31 c) Erzwungene Formung zu ‚Tötungsmaschinen‘ Sobald die Kinder in der Hand der Kämpfer sind, werden sie „zu den ersten Verbrechen gezwungen und dann systematisch zum Morden erzo25 26 27 28 29 30 31
Singer (2006), S. 64. Singer (2006), S. 63. Terre des Hommes (2004), S. 13 ff. Singer (2006), S. 61. Vgl. Singer (2006), S. 70 ff. Levi (1990), S. 40. Vgl. Singer (2006), S. 58 ff.
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gen“32; das Training beinhaltet: „[F]ear, brutality, and psychological manipulation to achieve high levels of obedience“.33 Ist das Kind mental gebrochen, kann es zu einem außergewöhnlich brutalen Kämpfer werden. Quellen beschreiben, wie die neuen Rekruten direkt nach Ankunft im Lager gezwungen wurden, einen Gefangenen oder ein anderes Kind umzubringen oder hierbei zuzuschauen. Oft werden sie unter Drogen und Alkohol gesetzt, was zu Realitätsverlust und Abhängigkeit führt. Der Führer nimmt die Position des Vaters ein, die anderen Kämpfer bilden die Familie. Die Erwähnung des vorherigen Lebens sowie jegliches Fehlverhalten stehen unter schwerer Strafe.34 Um mögliche Fluchtpläne zu durchkreuzen, werden die Rekruten manchmal mit den Zeichen der Gruppe gebrandmarkt.35 Oft werden Kinder ideologisch indoktriniert.36 Es gibt Berichte des forcierten Kannibalismus, wodurch „ihr Gespür für die Heiligkeit des Lebens und ihre Tendenz, Achtung vor Toten zu haben [. . .] gebrochen werden“37 soll. Initiationsriten und religiöse Weihen erzielen gerade am Anfang der Zugehörigkeit große Wirkungen.38 Viele minderjährige Kämpfer bekommen einen Kampfnamen, wie z. B. „Blood Never Dry“ oder „Lieutenant Dirty Bathe“. So soll auf bestimmte Leistungen oder Talente hingewiesen werden. Darüber hinaus hat dieser neu gegebene Name die Funktion: „[T]o indicate a complete split with their prior self [and] to dissociate the children from the culpability for the violence and crimes they commit“.39 Das Ziel aller Maßnahmen ist, die Kinder innerlich abzustumpfen, sie an die Gruppe zu binden und die Verbindungen zu ihrer Vergangenheit zu zerstören. d) Kindersoldaten als Phänomen der ‚neuen Kriege‘ Der Begriff ‚neue Kriege‘ wird verwendet, um eine veränderte Realität des Krieges zu beschreiben. Das Gewaltmonopol des Staates geht verloren, es tritt eine „vielfältige private Konkurrenz“40 auf. Das vorherrschende „diffuse Gemisch“41 erschwert zunehmend die Trennung zwischen Zivilisten 32
Kürschner-Pelkman (2000), S. 331. Singer (2006), S. 71. 34 Vgl. Beah (2007), S. 106 ff. 35 Vgl. Singer (2006), S. 73. 36 Vgl. ILO (2003), S. 40. Singer (2006), S. 99, erwähnt hierzu jedoch: „the philosophy behind an organization becomes almost irrelevant.“ 37 Steel (2008), S. 4. 38 Vgl. Singer (2006), S. 70 ff. 39 Singer (2006), S. 73. 40 Pittwald (2010), S. 101. 41 Münkler (2004), S. 180. 33
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und Kombattanten.42 Die Opferstruktur hat sich grundlegend verändert: Heute sind über 80% der Getöteten Zivilisten.43 Ein wichtiger Grund für die Entstehung der ‚neuen Kriege‘ scheint die Entwicklung und Verbreitung leichterer und günstigerer Waffen zu sein.44 Handfeuerwaffen und die Verwendung asymmetrischer Kriegsführung ermöglichen es auch kleinen, nicht-staatlichen Gruppierungen bewaffnete Konflikte auszutragen.45 Minderjährige Kämpfer sind aus den ‚neuen Kriegen‘ nicht mehr wegzudenken. Eine Vielzahl an Faktoren unterstützt diese Entwicklung. Diese sind z. B. der leichte Zugang zu kleinen Waffen, maßgeblich der AK-47 mit weltweit ca. 70 Mio. Stück,46 die Notwendigkeit der Eigenfinanzierung – „Kinder sind heute das billigste und am leichtesten zu beschaffende und einzusetzende Kampfpotenzial“47 – sowie die Veränderung der Kampfstrategie und -taktik. e) Militärische Struktur des Kindersoldatentums Die Literatur gibt wenige Informationen zu internen Strukturen betroffener Einheiten. Im Folgenden werden die wichtigsten Aspekte, namentlich die Aufgabenverteilung innerhalb der Gruppierung, die Truppenstruktur, die Art des militärischen Trainings, die Bewaffnung und die Verhaltensweisen im Kampf vorgestellt. Wie die Studie der Small Arms Survey zeigt, gibt es für Kinder eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten.48 So dienen in der von der Studie berücksichtigten Region (Guinea, Liberia und Sierra Leone) etwa 58% der Jungen und 62% der Mädchen als Kämpfer. Zudem sind Jungen u. a. als Wächter (48%), an Checkpoints (42%) oder als Spione (18%) eingesetzt. Mädchen dienen oft im Haushalt (42%) und zur sexuellen Ausbeutung (25%). Besonders perfide scheint der Einsatz der Kinder als „human shield[s]“, wofür 8% der Jungen und 12% der Mädchen eingesetzt werden. Kindersoldaten in Regierungsarmeen fügen sich, sollten sie nicht nur als ‚Kanonenfutter‘ eingesetzt werden, in die existierenden Strukturen ein. Die Strukturen in Rebellenorganisationen variieren. Meist sind sie „zusammen42 43 44 45 46 47 48
Vgl. UNICEF (2006), S. 2. Vgl. Münkler (2007), S. 28. Vgl. UNICEF (2006), S. 2. Vgl. Münkler (2007), S. 34. Vgl. Kürschner-Pelkman (2000), S. 330. Pittwald (2010), S, 104. Vgl. Florquin (2005), S. 197.
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gewürfelte Truppe[n] aus [oftmals] entführten Kindern“49. Die „Kinder stehen in der Hierarchie bewaffneter Gruppen ganz unten“.50 Die Gruppierungen achten i. d. R. auf eine starke Führungspersönlichkeit, eine Vaterfigur. Ein kleiner Führungszirkel kann durch eine große Anzahl von Kindersoldaten zu einer einflussreichen Macht ausgebaut werden. So ist z. B. von der LRA bekannt, dass sie in ihren Truppen über etwa „200 core members [and] an army of 14,000 child soldiers“ verfügte.51 Das militärische Training ist abhängig von der bewaffneten Gruppe. Die Dauer des Trainings variiert zwischen ein paar Tagen und einigen Monaten. I.d.R. besteht die von brutaler Gewalt begleitete Ausbildung aus barbarischen psychologischen Maßnahmen zur Abstumpfung jeglichen Mitgefühls, straffen physischen Übungseinheiten und einer Einführung in die notwendigsten Waffenkenntnisse.52 Die Studie ‚Wounded Childhood‘53 zeigt, dass 33% der befragten Kindersoldaten kein und 35% nur ein minimales Training für die Verwendung von Granaten bekamen. Nur 5% der Kinder gaben an, die Handhabung von Minen ausführlich erklärt bekommen zu haben, wohingegen es für 48% keinerlei Training gegeben hatte. Da die Kinder häufig als ‚Kanonenfutter‘ angesehen werden, wird eine teure Ausbildung gescheut.54 Es gibt bisher kaum Daten über die von Kindersoldaten gewählten Waffen.55 Dennoch „waren [Kleinwaffen] seit 1990 weltweit in 46 von 49 Konflikten die wichtigste[n] Waffe[n] der Kriegsparteien“.56 Die russische Kalaschnikow AK-47 ist mit durchschnittlich 55% die meistverwendete Waffe der minderjährigen Kämpfer. Sie ist robust, leicht handhabbar und sehr günstig zu bekommen. So entspricht in Uganda der Preis einer AK-47 dem eines Huhnes. Ein Kind benötigt etwa 30 min., um den Umgang mit dieser Waffe zu erlernen.57 Auch das deutsche Sturmgewehr G-3 von Heckler & Koch ist weit verbreitet.58 Zudem werden jegliche Kleinwaffen verwendet, wie z. B. Gewehre, Granaten, leichte Mörser, Landminen und andere Hiebund Stichwaffen. Kindersoldaten halten sich nicht an Rules of Engagement (ROEs), welche ihnen zudem kaum bekannt sein dürften.59 Gekämpft wird ohne Rücksicht 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Elßner (2007), S. 45. Schumacher (2005), S. 13. Singer (2006), S. 95. Vgl. Beah (2007), S. 109 ff. Vgl. ILO (2003), S. 39 f. Vgl. Singer (2006), S. 107. Eine Ausnahme bildet die regionale Studie von Florquin (2005). UNICEF (2006), S. 2. Vgl. Singer (2006), S. 46 ff. Vgl. Florquin (2005), S. 200.
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auf die eigene Truppe und das eigene Leben. Das einzige Ziel scheint zu sein, dem Gegner Verluste zuzufügen. Da Kinder bei der Rekrutierung oftmals zu jung sind, um den Unterschied zwischen richtig und falsch zu kennen, sind diese Kämpfe meist blutiger und grausamer. Häufig gilt: „[T]error [is] one of the groups‘ best weapons.“60 Demzufolge kommt es zu mehr Menschenrechtsverletzungen als durch Truppen ohne Kindersoldaten. Kriegsgefangene werden vor Ort getötet bzw. im Lager zu Trainingszwecken exekutiert.61 Die Kinder versuchen möglichst nah an den Gegner heranzukommen, um ihn dann mit „human wave attacks“ zu überrennen. Die besonders hohen Opferzahlen unter den Kindern werden billigend in Kauf genommen. Irreguläre Verbände, die aus Kindersoldaten bestehen, kämpfen meist nicht in „cohesive fighting forces“.62 Da solche Truppen in einer direkten militärischen Auseinandersetzung unterlegen wären, nutzen sie Angriffe aus dem Hinterhalt, um den Gegner zu zermürben. Es gilt: „As long as they are able to maintain a small organizational foundation, they may never be strong enough to win, but they will also be more difficult to kill off.“63 Im Kampf zeigt sich die Körpergröße der Kindersoldaten als Vorteil: „[They] could hide under the tiniest bushes and kill men who wondered where the bullets were coming from.“64 Borchini verweist darauf, dass Kindersoldaten „add confusion and ultimately drive up the death toll“.65 In einer militärischen Konfrontation dürfen die verwendeten und erstaunlich erfolgreichen Taktiken nicht unterschätzt werden, auch wenn sie noch so archaisch und primitiv erscheinen mögen. f) Kindersoldaten verhindern: der Wille braucht Taten Ganze Regionen sind von Konflikten zerrüttet und von Strukturlosigkeit geprägt. Die sich verschärfende Armut, eine zunehmende Verbreitung von Ressourcenkonflikten, das Fortschreiten von Gewaltökonomien und Fluchtbewegungen lassen Kinder besonders rekrutierungsanfällig werden. Den Kindern bieten sich wenig Schutzmechanismen und Zukunftsoptionen. „Solange es Krieg gibt, werden junge Leute darin verwickelt werden“66 und infolgedessen das Phänomen der Kindersoldaten nie ganz verschwinden. Auch zahlreiche internationale Bemühungen konnten es bisher nicht lösen. 59 60 61 62 63 64 65 66
Vgl. Borchini (2003). Singer (2006), S. 84. Vgl. Singer (2006), S. 102. Ben-Ari (2009), S. 10. Singer (2006), S. 98. Beah (2007), S. 143. Borchini (2003), S. 4. Terre des Hommes (2010), S. 23.
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Ein Problem stellen die „[Paramilitär-] und Rebellengruppen [dar], [. . .] [die] sich in vielen Fällen keinem internationalen Recht unterwerfen“67. So gehen einige Autoren davon aus, dass der Trend eher zu mehr Kindersoldaten geht als von ihnen weg: „[T]he conflicts that have not seen children serving as fighters are now the rarity“.68 Werden den Kindern und Jugendlichen keine anderen Zukunftsoptionen geboten, könnte dies bedeuten: „[C]hildren of child soldiers [turn into] soldiers.“69. Sie stellen eine Gefahr für ausgehandelte, gerade anfänglich fragile Friedensabkommen dar: „[The existence of] child soldiers may mean that a neighbor’s peace agreement [. . .] could portend a direct threat of war.“.70 Das Risiko neuer Konflikte würde zunehmen und neue Kindersoldaten einfordern. Ein schwer zu durchbrechender ‚Teufelskreis‘ würde entstehen. 3. Bundeswehr – die „Armee im Einsatz“ Seit ihrer Gründung 1955 ist die Parlamentsarmee Bundeswehr in internationale Bündnisse integriert. Mit den Jahren wuchs Deutschlands Verantwortung in internationalen Allianzen. Es begann ein auf politischen Entscheidungen basierender Prozess: die Entwicklung hin zu mehr – auch robusten – Auslandseinsätzen.71 So beteiligten sich seit 1992 über 200.000 Soldaten an Auslandsmissionen.72 Aktuell befinden sich 6.650 Soldaten in elf internationalen Einsätzen.73 Da die Krisen in der Welt weiterhin vielfältig sind und der Kampf gegen den internationalen Terrorismus (‚War On Terror‘) weiter geht,74 wird man auch zukünftig Soldaten zu Auslandsmissionen entsenden. Es ist bekannt, dass in den Einsatzregionen deutscher Kontingente (z. B. Afghanistan, Sudan, Somalia) Kinder eingesetzt werden.75 Jedoch birgt z. B. ATALANTA gemäß aktuellem Mandat keine weitreichende Gefahr einer Konfrontation; ein potentieller Einsatz zu Land könnte dies ändern. Anders sieht es bei dem Einsatz in Afghanistan aus.76 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
Meissner (Interview liegt dem Verfasser vor). Singer (2006), S. 208. Singer (2006), S. 109. Singer (2006), S. 110. Vgl. BMVg (2006a), S. 2. BMVg (2008). Vgl. Bundeswehr (2010). Vgl. Müller (2010), S. 36 ff. Vgl. Coalition to Stop the Use of Child Soldiers (2008). Vgl. Elßner (2007), S. 17.
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Das Risiko wird mit zunehmenden Auslandsengagements steigen. Etwaige Missionen in Afrika bergen das größte Konfrontationsrisiko. Der Jahresbericht des UN-Generalsekretärs verweist z. B. auf die Krisenregionen D.R. Congo, Sudan, Tschad und Zentralafrikanische Republik, in welchen Kindersoldaten in großem Maß und strategisch eingesetzt werden.77 Sollte dort ein Einsatz notwendig werden, wird Deutschland nicht mehr die Freiheit haben „to decide whether to shoot at child soldiers“.78 Die Rekrutierung von Kindern ist durch die bestehende Rechtsgrundlage klar geregelt. Jedoch mangelt es am Willen der Umsetzung und der Einhaltung der Abkommen. Die Gründe, welche das Kindersoldatentum fördern, sind u. a. die steigende Notwendigkeit der Eigenfinanzierung, die fortschreitende Asymmetrie von Konflikten und die weitere Verbreitung von Kleinwaffen. Kinder werden in Konflikten weltweit rekrutiert und dies wird eher zu- als abnehmen. Dadurch wird das Phänomen der bewaffneten Kinder die internationale Gemeinschaft auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Nur mit ihrer Hilfe könnte das Risiko der Bundeswehr, bei zukünftig eher zunehmenden internationalen Engagements auf gegnerische Kindersoldaten zu treffen, reduziert werden.
II. Gegnerische Konfrontation zwischen Militär und Kindersoldaten Nachstehend werden Aspekte der Konfrontation mit bewaffneten Kindern untersucht. Auf die rechtliche Einordnung und das ethische Dilemma folgen die tatsächlichen Maßnahmen, welche die Bundeswehr für eine solche Konfrontation ergreift. Daran schließen die in der Literatur gegebenen Vorbereitungs- und Verhaltensweisen an. Abschließend finden sich ein Fazit und eine Defizitanalyse. 1. Konfrontation mit bewaffneten Kindern als Problem a) Versuch einer rechtlichen Einordnung des Kindersoldaten79 Die Klärung der rechtlichen Aspekte einer Konfrontation war für die Soldaten z. B. vor dem EUFOR RD CONGO Einsatz äußerst wichtig.80 Bisher 77
Vgl. UN (2009) und HIIK (2010). Fiorenza (2003). 79 Es wird allein auf die Thematik hingewiesen. Die detaillierte Bearbeitung kann hier nicht geleistet werden. 78
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werden den Soldaten „eigentlich nur die üblichen Schutzbestimmungen“ der internationalen Konventionen an die Hand gegeben.81 Gemäß des internationalen Völkerrechts scheint, unabhängig ihres Alters, Folgendes zu gelten: „Child soldiers, if falling in one of the categories of § 4(A) GC III[,] are entitled to combatant status“.82 Da Kindersoldaten meist Teil nicht-internationaler Konflikte sind, ist zudem auf das ZP II der GK zu verweisen.83 § 4 (3d) ZP II gesteht Kindern den besonderen Schutz zu, selbst wenn sie, trotz Verbots, an bewaffneten Konflikten teilnehmen.84 Jedoch gilt der Schutz erst nach Gefangennahme. Dies bedeutet Lixenfeld zufolge: „[W]hen fighting, these children are not protected against attacks“.85 Demzufolge sind sie wie gegnerische Kämpfer zu behandeln.86 b) Das ethische Dilemma der Soldaten87 Ein Einsatz in einer Region mit Kindersoldaten kann für den „an unseren Normen und Werten orientierten“88 Soldaten ein großes ethisches Dilemma bedeuten.89 Denn das Kind nimmt aktiv am Kampfgeschehen teil. Es wurde brutal in eine Tötungsmaschine verwandelt, welche rücksichtslos nach dem Leben des Soldaten trachtet. Beim ersten Anblick eines kindlichen Kämpfers fühlt der Soldat i. d. R. einen natürlichen Schutzinstinkt dem Kind gegenüber. Er befindet sich jedoch in einer seinem Wertegefühl widersprechenden Situation, welche ihn „zwingt“, (tödliche) Gewalt gegen ein sonst schützenswertes Lebewesen anzuwenden.90 Selbst in Notwehr spürt ein Soldat normalerweise eine „enormous resistance associated with killing an individual who is not normally associated with [combat]“.91 Ein Soldat be80 2006 wurden 780 deutsche Soldaten zur Sicherung der seit 1965 ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in die Demokratische Republik Kongo entsandt. Vgl. Weingärtner (Interview liegt dem Verfasser vor). 81 Fischer (Interview liegt dem Verfasser vor). 82 Lixenfeld (Interview liegt dem Verfasser vor). Vgl. auch Happold (2005), S. 101. 83 Vgl. Suárez (2009), S. 85. 84 Schorlemer (2009), S. 58: „§ 4 ZP ist Teil des Völkergewohnheitsrechts: Damit greift diese Vorschrift auch für Konfliktparteien, die das Zusatzprotokoll nicht ratifiziert haben“. 85 Lixenfeld (Interview liegt dem Verfasser vor). 86 Vgl. Happold (2005), S. 101. 87 Für weitere Ausführungen zum ethischen Dilemma vgl. auch „Kindersoldaten aus ethischer Perspektive“ von Stümke in diesem Band. 88 Elßner (2007), S. 5. 89 Es gilt zu berücksichtigen, dass eine Konfrontation mit einem 8-Jährigen den Soldaten stärker beeinflusst als mit 17-jährigen Kämpfern. 90 Vgl. Singer (2006), S. 169. 91 Grossmann (1995), S. 174.
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schreibt seine Hilflosigkeit: „Sometimes, when I am here, I put myself in God’s hand.“92 Kindersoldaten sind auf Grund unterschiedlicher Umstände in ihre Rolle hineingezwungen worden. Diese Kinder können meist die Folgen ihrer Taten nicht abschätzen. Gemäß McMahan sind sie „individuals who have hardly had a chance at life yet and who, in this case, have already been terribly victimized.“93 Sie seien u. U. „nonresponsible threats [as] in many or most child soldiers, the capacity for moral agency is absent or has been systematically subverted“.94 Der Autor deutet für diesen Fall an, dass man von den Soldaten, auch bei Gefahr für das eigene Leben, fordern könne, größere Risiken auf sich zu nehmen, um die Schädigung des Kindes weitestgehend zu minimieren.95 Das Dilemma wird von Widersachern instrumentalisiert. Ein al-Qaida Mitglied rechtfertigt den Einsatz von Kindersoldaten mit dieser Zwangslage und bemerkt dazu: „[T]o kill kids [. . .] will bring shame on the American forces [. . .]. [T]he American forces will find it impossible to find a solution for this.“96. Dem Gegner kann dieser Vorteil nicht eingeräumt werden. Unter Berücksichtigung der akuten Bedrohung und der Pflicht sich selbst zu schützen, muss der Soldat handeln. Sollte die unmittelbare Gefahr nicht abgewendet werden können, hat er aus seiner Sicht keine andere Wahl: Er ist gezwungen militärische Mittel zum Einsatz zu bringen, um weiteren Schaden für sich und andere zu verhindern. Unter Berücksichtigung des ethischen Dilemmas und des Einsatzes militärischer Gewalt äußert sich McMahan abschließend: „I know of no formula for the resolution of such conflicts.“97 2. Besondere Vorbereitungsmaßnahmen des Militärs Der gegnerische Kontakt mit bewaffneten Kindern stellt den Soldaten vor außergewöhnliche Herausforderungen. Nachfolgend soll untersucht werden, inwieweit die Bundeswehr ihre Soldaten operativ und psychologisch hierauf vorbereitet. Es gelten „die jeweiligen [ROE], die sog[enannte] interkulturelle Kompetenz und der gesunde Menschenverstand“ (Taubeneder 2010). Dennoch 92
Wax (2003). McMahan (2007), S. 15. 94 McMahan (2007), S. 9 ff. 95 Vgl. McMahan (2007), S. 11. Er ist sich jedoch der Schwere einer solchen Forderung bewusst. 96 Watson (2008), S. 5. 97 McMahan (2007), S. 15. 93
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ist eine einsatzbezogene Vorbereitung notwendig. Dieses Wissen, in Verbindung mit dem EUFOR RD CONGO Einsatz98, ließ in der Bundeswehr ein Bewusstsein für die Thematik ‚Kindersoldaten‘ entstehen. Momentan ist maßgeblich das Zentrum Innere Führung (ZenInFü) in die Bearbeitung der Thematik involviert. Bis zu seiner Auflösung im Jahr 2007 war auch das Zentrum für Nachrichtenwesen mit der Aufbereitung betraut. Durch die Zusammenarbeit der Zentren entstanden Arbeitspapiere und Zusatzmodule zu diesem Phänomen. Im Rahmen der Missionsvorbereitung werden Soldaten vor allem im ZenInFü und im VN-Ausbildungszentrum Bundeswehr (VN-AusbBW) ausgebildet. Jedoch können entsprechende Lehrgänge und Seminare auch in den truppenstellenden Standorten durchgeführt werden.99 Die ersten Papiere zu diesem Thema stammen aus dem Jahr 2003. In Verbindung mit dem Kongoeinsatz entstanden weitere Ausarbeitungen, wie z. B. der ‚Leitfaden für Bundeswehrkontingente in der D.R. Kongo‘ und der ‚Leitfaden zum Kongoeinsatz‘. Es sind Seminare in die Vorbereitung integriert, in denen Papiere wie z. B. das ‚Arbeitspapier I/2007: Kindersoldaten‘ oder die notwendigen Taschenkarten100 zur Anwendung kommen. Die ‚Leitfaden‘ beschränken sich auf kurze Informationen zu bewaffneten Kindern, nennen aber keine militärischen Maßnahmen für den Umgang mit kämpfenden Minderjährigen. Dies gilt auch für die Taschenkarte. Sie gibt generelle Verhaltensweisen zum Konflikt und Vorgaben, wie mit gefangenen Kindersoldaten umzugehen ist. Zudem beschränkt sie sich auf den Hinweis: „Gewalttätige Auseinandersetzungen mit Kindern [. . .] sind über den Kommandeur [. . .] zu melden.“101 Allein das Arbeitspapier I/2007 zeigt knapp gehaltene Verhaltensweisen für den militärischen Zusammenstoß. Der Kurzfilm ‚Snipers Alley‘, welcher die Konfrontation explizit darstellt, wird häufig verwendet. Am Beispiel dieses Films wird den Soldaten die Schwere einer Konfrontation mit kindlichen Kämpfern verdeutlicht. Alle Unterlagen und Maßnahmen zielen darauf ab, durch Aufklärung bei den Soldaten ein Bewusstsein für die Besonderheiten der Thematik ‚Kindersoldaten‘ zu schaffen.102 Unter dem Titel ‚Verhalten gegenüber Kindersoldaten‘ werden im Rahmen der Zusatzausbildung Tagesseminare im ZenInFü durchgeführt.103 Die 98 Hierbei kam es das erste Mal zu einer intensiven öffentlichen Diskussion bzgl. Kindersoldaten. Obwohl der deutsche Einsatz für Kinshasa vorgesehen war, und die Kindersoldaten maßgeblich im Ostkongo aktiv sind, reagierte man auf die von Soldaten geäußerten Befürchtungen. 99 Vgl. Ardner (Interview liegt dem Verfasser vor). 100 Vgl. etwa BMVg (2006b). 101 BMVg (2006b), S. 6. 102 Vgl. Elßner (2007).
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Unterrichtung wird mit o. g. Unterlagen und Dokumenten (z. B. Powerpoint maßgeblich auf dem ‚Arbeitspapier I/2007‘ basierend) durchgeführt. Es können z. B. „ ‚Ethik und Moral im Umgang mit Kindersoldaten‘, ‚Rechtsgrundlagen für den Einsatz‘, ‚landeskundliche Informationen‘ sowie ‚psychologische Aspekte im Umgang mit Kindersoldaten‘ “ gelehrt werden.104 Beispielhaft könnte ‚Ethik und Moral‘ u. a. den Film ‚Snipers Alley‘, Lehrgespräche sowie das Arbeitspapier I/2007 beinhalten. Die Ausbildungsziele solcher Fortbildungen sind u. a. ‚Erkennung der Ursachen des Phänomens‘, ‚Einordnung und Verstehen der Zwangslage der Kinder‘, ‚Sensibilisierung der Soldaten auf die Notlage der Kinder‘, ‚Humanitäres und Internationales Völkerrecht‘ und ‚Verhaltenssicherheit im Umgang mit Kindersoldaten‘. Ein Beispiel für die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit dem vorgenannten Thema ist ein Seminar der Führungsakademie in Hamburg aus dem Jahre 2010. Es umfasste eine Einführung in das Phänomen ‚Kindersoldaten‘ und gab einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen. Des Weiteren wurde auf die ‚Konfrontation von Streitkräften mit Kindersoldaten‘, nach dem Maßnahmenkatalog von u. a. Singer, eingegangen. Ein großes Ausbildungszentrum befindet sich in Hammelburg: das VNAusbBW. Hier werden Fortbildungskurse für Auslandskontingente, Militärbeobachter und Zivilisten durchgeführt. Das Training basiert maßgeblich auf dem Dokument ‚Unit-3: Effective Mandate Implementation‘ (VNAusbBW 2009). Zudem wird der o. g. Film verwendet. Die Ausbildungsmodule sind auf die tatsächliche oder zu erwartende Bedrohung durch Kindersoldaten ausgerichtet. Zudem werden sie durch praktische Übungen, z. B. War-Game-Simulationen, ergänzt. Jedoch beinhalten diese keine Kindersoldaten.105 Zudem scheint es bisher keine Vorbereitungsmaßnahmen für operative Taktiken und Strategien zu geben, welche explizit auf Kindersoldaten ausgerichtet sind. Das Ziel aller Vorbereitungsmaßnahmen ist, den Soldaten auf die besondere Konfrontation mit bewaffneten Kindern und die hiermit verbundenen Stresssituationen vorzubereiten. Um die mentale Stabilität und Gesundheit der Soldaten zu gewährleisten, wird „vor, während und nach dem Einsatz eine psychologische Behandlung“106 angeboten. In u. a. nachgespielten Gefahrensituationen lernen Sol103 Vgl. Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland (2010). Der folgende Abschnitt basiert maßgeblich auf Aussagen von Fröhling (Interview liegt dem Verfasser vor). 104 Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland (2010). 105 Vgl. Taubeneder (Interview liegt dem Verfasser vor). 106 Mähliß (Interview liegt dem Verfasser vor).
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daten Maßnahmen zur Stressbewältigung und Stressprävention. Vor allem Führungskräfte sind verpflichtet, Lehrgänge zu besuchen, um ihr Soldaten entsprechend unterstützen zu können. Zudem sind den Truppen i. d. R. Psychologen, Militärseelsorger und ein Sanitätsdienst angeschlossen. Es ist positiv hervorzuheben, dass sich die Bundeswehr mit der Thematik auseinandersetzt. Es ist der Versuch, die Soldaten in dieser Dilemmasituation zu unterstützen. Die Soldaten werden motiviert, „sich mit diesem Thema persönlich intensiver auseinander zu setzen“.107 Lehrgänge und Seminare werden angeboten, welche die Thematik unterschwellig, aber kontinuierlich behandeln. Aufgrund der Auswertung vorliegender Dokumente und geführter Gespräche muss festgestellt werden, dass die Bundeswehr nicht adäquat auf die potentielle Konfrontation mit gegnerischen Kindersoldaten vorbereitet ist. So erörtern z. B. nur wenige Module die Besonderheiten der militärischen Konfrontation, denn ihre Ausrichtung liegt meist auf dem Phänomen ‚Kindersoldaten‘ insgesamt.108 Für diese Defizite scheint es maßgeblich drei Gründe zu geben: (1) Prioritätensetzung in den Kapazitäten, (2) fehlende Erfahrungswerte, (3) bestehende Forschungsdefizite. Es stellt sich zudem die Frage, ob eine Armee überhaupt ausreichend darauf vorbereitet werden kann, und wenn ja, wie diese Vorbereitung auszusehen hat. Da die aktuellen Auslandsmissionen in Gegenden stattfinden, in denen Kindersoldaten selten eingesetzt werden, sieht die Bundeswehr keine Notwendigkeit, die Maßnahmen, ob psychologisch oder operativ, zu intensivieren.109 So wird z. B. vernachlässigt, dass man in Afghanistan auf Kindersoldaten treffen kann, da die Problematik nicht mit ‚afrikanischen Maßstäben‘ zu vergleichen sei. 3. Weitergehende Ausbildungsempfehlungen110 In der internationalen Literatur finden sich Taktiken, welche für den Einsatz gegen Kindersoldaten empfohlen werden, da sie darauf abzielen, die Kinder nicht mehr als unbedingt notwendig zu schädigen. Im Folgenden sollen die Vorbereitungsmaßnahmen sowie die empfohlenen Verhaltensweisen für den Einsatz kurz erläutert werden.
107
Elßner (2007), S. 5. Vgl. Wirges (Interview liegt dem Verfasser vor). 109 Vgl. Mähliß (Interview liegt dem Verfasser vor). 110 Dieses Kapitel basiert maßgeblich auf den von Borchini (2003) und Singer (2006) genannten Erkenntnissen. 108
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a) Einsatzvorbereitung Experten sind sich einig, dass die Konfrontation mit bewaffneten Kindern für den Soldaten eine außergewöhnliche Belastung darstellt. Somit ist ein intensives psychologisches Training wichtig, um späteren mentalen Überbelastungen (u. a. Posttraumatische Belastungsstörungen oder ASD (Acute Stress Disorder)) vorzubeugen. Es gilt zu bedenken, dass Soldaten beim ersten Anblick bewaffneter Kinder erfahrungsgemäß starke Emotionen überkommen. Zudem hat sich gezeigt, dass eine solche Konfrontation erhebliche Auswirkungen auf die Motivation der Truppe haben kann, sollte sie sich nicht ausreichend vorbereitet fühlen.111 Vor allem Singer112 verweist darauf, in Kriegssimulationen die Konfrontation mit Kindersoldaten zu implementieren. Sie sollten in jedem Vorbereitungsstadium eingebaut sein. Dies kann durch Kindersilhouetten oder Schauspieler geschehen. Lehrinhalte zum Thema müssen zum Standard gehören. Soldaten sollten detaillierte Kenntnis über die verschiedenen Aspekte des Kindersoldatentums erhalten. So muss explizit auf die Rekrutierungsart und die Dauer der Gruppenzugehörigkeit eingegangen werden, da dies direkte Auswirkungen auf die anzuwendenden Strategien und Taktiken hat. Außerdem sollte auf die besondere Letalität der bewaffneten Kinder hingewiesen werden. Man muss sich bewusst sein, dass Kindersoldaten sich nicht an die traditionellen Regeln der Kriegsführung halten.113 Es ist notwendig die veränderten Kampfführungen und die hier verwendeten Waffen genau zu kennen, ebenso die regionalen Gegebenheiten. Die ROEs, welche bisher beim Einsatz von Gewalt keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern machen, sind an die Bedingungen des Einsatzes realistisch anzupassen.114 Immer wieder wird auf von NROs durchgeführte Vorbereitungskurse verwiesen.115 Es empfiehlt sich, die weitreichende Expertise solcher Organisationen wie ‚Save the Children Sweden‘ zu nutzen. Als effektiv gilt, während dieser Lehrgänge ehemalige Kindersoldaten zu Wort kommen zu lassen. Dies hilft den Soldaten, die Thematik praktisch und emotional zu erfassen. Da jedoch Sensibilisierungsmaßnahmen nur sehr langsam greifen, müssen sie eine Grundlage der Ausbildung sein bzw. werden. Vor allem die militärische Führung sollte ein entsprechendes Bewusstsein entwickeln, da ihre aktive Unterstützung wichtig für den Erfolg ist. Die Erstellung einer 111 112 113 114 115
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Singer (2006), S. 169. Singer (2006), S. 166 ff. Singer (2006), S. 168. Lixenfeld (Interview liegt dem Verfasser vor). Save the Children Sweden (2009), S. 21.
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Datenbank mit Kontaktdaten der Seminarteilnehmer, die potentielle Multiplikatoren sind, wird angeraten.116 b) Verhalten im Einsatz117 Grundsätzlich gilt immer das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, d.h. es darf nur das unbedingt notwendige Maß an Gewaltanwendung zum Einsatz kommen. Hierfür stellt die Literatur verschiedene Möglichkeiten vor, welche darauf abzielen, die Ultima Ratio, den tödlichen Einsatz von Schusswaffen, weitestgehend zu vermeiden. Prinzipiell stützt man sich auf Taktiken, welche im ‚normalen‘ Kampf angewendet werden, jedoch auf Kindersoldaten anzupassen sind. Hierbei ist zu beachten, dass die Art der Rekrutierung und die Dauer der Zugehörigkeit zur bewaffneten Gruppe starken Einfluss auf den Erfolg der angewandten Strategien haben.118 Im Folgenden werden die als erfolgreich eingeschätzten Methoden, wie z. B. ‚Schließung/Schutz potentieller Rekrutierungszentren‘, ‚Psychologie/Öffentlichkeit‘, ‚Einsatz nicht-tödlicher Waffen‘ oder ‚(Erwachsene) Anführer eliminieren‘ dargestellt.119 Potentielle Rekrutierungszentren sind u. a. Flüchtlingslager, Schulen und Internate, aber auch DDR-Dörfer und -Projekte. Jugendliche werden hier entweder entführt oder rekrutiert. Um dies zu vermeiden, müssen diese Orte besonders geschützt werden. Sollte der besondere Schutz nicht zu gewährleisten sein, muss man sie verlegen bzw. schließen. Diese Präventionsmaßnahme ist ein wichtiger Schritt, um die Rekrutierung zu unterbinden. Um Kinder zu überzeugen, die Waffen niederzulegen, bietet sich der Einsatz lokaler Medien (z. B. Radio, Zeitungen, . . .) an. Aber auch Aufklärungsmaßnahmen in den Dörfern sind wichtig. Ein Schwerpunkt muss auf der Verbreitung internationaler Verträge und Konventionen zum Schutz von Kindern gelegt werden. Einerseits müssen Kinder ihre Rechte kennen, andererseits sind die Führer auf die Illegalität der Rekrutierung Minderjähriger hinzuweisen (Verweis z. B. auf Römisches Statut). Da Kindersoldaten meist mit kleinen Waffen kämpfen, ohne große Kampfmaschinen zur Verfügung zu haben, hat sich der Einsatz von SchockEffekten (maßgeblich große Waffen, wie z. B. Hubschrauber oder Panzer) bewährt. Denn die Kämpfer sind Kinder. Sie lassen sich von großen, äu116
Vgl. Save the Children Sweden (2009). Der gesamte Abschnitt basiert maßgeblich auf den Angaben von Singer (2006) und Borchini (2003). 118 Vgl. Singer (2006), S. 176. 119 Vgl. Singer (2006), S. 171 ff. und Borchini (2003). 117
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ßerst lauten Maschinen erschrecken und beeindrucken, gleiches gilt für die Verwendung von starkem Rauch und rollendem Sperrfeuer. Jedoch hängt der Erfolg solcher Maßnahmen u. a. stark von der Dauer der Zugehörigkeit und der Art der Rekrutierung der Kinder ab. Um die Ultima Ratio zu vermeiden, wird der Einsatz von nicht-tödlichen Waffen empfohlen, welche in der Auswirkung auf den kleinen Körper eines Kindes anzupassen sind. Hierzu zählen z. B. Active-Denial System (ADS), Plastik- oder Gummikugeln, neutrale Zusatzstoffe, welche vorübergehende Lähmungen bewirken oder stinkende, starke Übelkeit verursachende Chemikalien. Besonders Singer120 verweist auf die Notwendigkeit, den Kindern durch Formung des Schlachtfelds die Flucht zu ermöglichen. Dies soll durch Schaffung von Fluchtzonen geschehen. Auch hier gilt: Vor allem Kinder, welche nicht lange bei der Truppe sind und durch Gewalt rekrutiert wurden, warten oftmals nur auf Chancen zur Flucht. Diese Strategie scheint nur in der Konfrontation mit Kindersoldaten angewendet zu werden. Kindersoldaten sind meist locker organisiert, zusammengehalten durch die, häufig erwachsene, brutal agierende Führungsgestalt. Bricht sie weg, zerstreut sich die Gruppe in der Regel zügig, denn die eintretende Konfusion verhindert eine rasche Neustrukturierung. Gemäß Singer121 gilt dies maßgeblich, wenn Kinder weniger als ein Jahr bei der Truppe sind bzw. durch Gewalt rekrutiert wurden. Um ihre eigene Truppe zu verlassen, müssen den Kindern Anreize geboten werden. Es ist wichtig, ihre Grundbedürfnisse (Essen, Kleider, Schutz, . . .) sofort zu befriedigen. Man muss sie kindgerecht unterbringen, z. B. in Schutzräumen, gesondert von Erwachsenen. Schnellst möglich sollten sie in Einrichtungen lokaler NROs untergebracht werden. Vorbildlich ist die Regelung auf den Philippinen entwaffnete Kinder innerhalb von 24 Stunden an Sozialarbeiter zu übergeben.122 Projekte der Demobilisierung und Rehabilitierung müssen von NROs getragen und bestimmend durchgeführt werden. Soldaten können entsprechende Initiativen nur unterstützen und fördern.
120 121 122
Singer (2006), S. 172. Singer (2006), S. 172. Vgl. Bundang (2008).
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4. Fazit und Defizitanalyse Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass es für Armeen äußerst schwer ist, sich adäquat auf die Problematik der Kindersoldaten vorzubereiten. Dies liegt an verschiedenen Aspekten. So ist die Thematik ‚Kind als Soldat‘ für einen Soldaten mit Emotionen und moralischem Dilemma verbunden. Gemäß Völkerrecht wird der kindliche Kämpfer als Kombattant eingestuft und ist als solcher zu behandeln. Erst nach Gefangennahme muss ihm der besondere, für Kinder vorgesehene Schutz zugestanden werden. Wie gezeigt wurde, setzt sich die Bundeswehr in Ansätzen mit dieser Problematik auseinander. Einige Zusatzmodule und Ausbildungseinheiten (Seminare und Lehrgänge) werden in die Vorbereitung integriert. Jedoch werden spezielle operative Taktiken und Strategien für die Konfrontation nicht ausreichend vermittelt. Gerade im Zusammenhang mit dem EUFOR RD CONGO Einsatz spürte man in der Bundeswehr den Versuch, auf die Befürchtungen der Soldaten einzugehen.123 Gemäß Herling wurde die „Vorbereitung [jedoch] zu schnell [und] viel zu kurzfristig“ anberaumt und durchgeführt. Da es bislang zu keiner Konfrontation kam, fehlt der Bundeswehr die praktische Erfahrung und somit auch das Bewusstsein, die Vorbereitung auf die Konfrontation mit Kindersoldaten zu intensivieren. Bisher werden die Kompetenzen ziviler Einrichtungen und Experten (wie z. B. NROs und P. W. Singer) noch vernachlässigt, obwohl sie von großem Nutzen sein könnten.124 Da aktuell keine Einsätze mit hohem Risiko einer Konfrontation anstehen, wird das Thema nur unterschwellig weitergeführt. Dies sollte dringend geändert werden, da Sensibilisierungsmaßnahmen nur langsam greifen. Wird zu lange gezögert, ist es fraglich, ob nach der Einsatzentscheidung des Parlaments ausreichend Zeit bleibt, um die Soldaten grundlegend auf die Problematik vorzubereiten. Obwohl es einen großen Wissensstand zum Phänomen ‚Kindersoldat‘ gibt, ist die Kenntnis bezüglich der militärischen Umgangsweise mit ihnen noch recht gering. Maßgeblich Singer und manche NROs, z. B. Save the Children, haben spezielle, erfahrungsgemäß recht erfolgreiche Taktiken und Maßnahmen hierfür erarbeitet. Diese sind z. B. die bereits erwähnten 123
Jedoch ist darauf zu verweisen, dass die Gefahr auf Kindersoldaten zu treffen im Kongo sehr klein war. Die Module wurden maßgeblich auf Grund von (durch u. a. verzerrte Darstellung in den Medien hervorgerufenen) Befürchtungen der Soldaten eingeführt. 124 Vgl. Herling (Interview liegt dem Verfasser vor). Save the Children Norwegen, Dänemark und Schweden bereiteten die Auslandskontingente ihrer Länder auf die Thematik vor. Singer hält Vorträge zu diversen Themen u. a. Kindersoldaten und arbeitet mit US Marines zusammen.
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‚Schließung/Schutz von Rekrutierungszentren‘, ‚Psychologie/Öffentlichkeitsarbeit‘ oder auch von ‚NROs geführte Seminare und Kurse‘. Weitere Recherchen hierzu sind angeraten, um die vorhandenen Wissenslücken zu schließen.
III. Reformoptionen und Empfehlungen an das Militär Da das Phänomen der Kindersoldaten weltweit vertreten ist, muss man sich der Tatsache bewusst sein: „[F]or a country to be unwilling or unable to operate in child soldier zones is a recipe for strategic inaction.“125 Und dies kann sich Deutschland nicht mehr leisten. Somit empfiehlt sich weitere Verbesserungsmaßnahmen zu implementieren, basierend auf Methoden und Strategien aus Erfahrungen von NROs, anderer Militärs und der Literatur. Im Folgenden werden vier mögliche Maßnahmen empfohlen, welche helfen sollen, die Bundeswehr besser auf die Konfrontation vorzubereiten: 1. Konzentrierte Datensammlung In den letzten Jahren wurde in der Bundeswehr einiges Wissen zu der Thematik ‚Kindersoldaten‘ erarbeitet und Informationen hierzu gesammelt. Verschiedene Ausbildungsmodule widmen sich dem Phänomen. Der Großteil der Unterlagen und Module sind im ZenInFü verfügbar. Jedoch scheinen immer wieder verschiedene Abteilungen, Zentren und Einrichtungen eigenständig Ausarbeitungen vorzunehmen: Dokumente und Unterlagen sind nicht zentral organisiert. So scheint bisher noch keine Institution vorhanden zu sein, bei welcher die gesamten Vorbereitungsmaßnahmen und Dokumente gesammelt sind. Um eine effiziente Nutzung der vorhandenen Ressourcen zu gewährleisten, empfiehlt sich die Entwicklung einer Datenbank, welche alle Kontaktpersonen, Dokumente und Ausbildungsmodule zu diesem Thema detailliert auflistet. Ebenso muss die Bearbeitung des Themas zentralisiert werden. Dies gewährleistet ein einfaches Auffinden und Nutzen des bisher gesammelten Wissenstands und vermeidet eine Verschwendung wichtiger Ressourcen. 2. Implementierung der Verhaltensweisen gemäß Literatur Wie dargestellt, gibt es eine Vielzahl an operativen Maßnahmen, welche in der Konfrontation mit Kindersoldaten erfolgversprechend sind. Soldaten 125
Singer (2006), S. 164.
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sollten nicht nur theoretisch auf das Phänomen vorbereitet werden, sondern müssen auch ausreichende Handlungsmöglichkeiten an die Hand bekommen. Da gemäß diverser Literaturquellen diese Methoden erfolgsversprechend sind, sollten sie geprüft werden und Eingang in die Rules of Engagement und die Taschenkarten finden. Dies ermöglicht dem Soldaten, bestmögliche Schritte einzuleiten, um die Kinder zu entwaffnen und vor weiterem Schaden zu bewahren. 3. Nutzung der Expertise von NROs Verschiedene Sektionen von Save the Children (u. a. Schweden und Norwegen) legen einen Fokus auf die Vorbereitung staatlicher Armeen zur Konfrontation mit Kindersoldaten. Auf Grund der positiven Erfahrungen sollte die Bundeswehr mit solchen Partnern kooperieren. Dadurch ergeben sich die Möglichkeiten Synergien zu nutzen und Experten zur Verfügung zu haben. Die Zusammenarbeit könnte von NROs organisierte Seminare und Lehrgänge vorsehen. Da diese NROs i. d. R. jahrelange Projekterfahrungen in betroffenen Ländern haben, eröffnet sich eine realistische Wissensvermittlung. Gemäß KzS Herling würde sich „die Bundeswehr bei Bedarf einer potentiellen Zusammenarbeit sicher nicht verschließen, auch wenn es bisher zu keiner Kooperation kam“. 4. Nutzung ziviler Experten Aktuell werden schon manche Seminare von Zivilisten durchgeführt. Jedoch sind diese keine expliziten Fachleute für die Thematik ‚Kindersoldaten‘. Soweit recherchierbar, sind es Personen, welche sich anlassbezogen mit dem Phänomen auseinandersetzen. Natürlich hilft dies in der Vorbereitung. Dennoch empfiehlt sich die Nutzung ziviler Experten wie z. B. Peter W. Singer. Peter W. Singer ist Autor des Buchs ‚Children At War‘ und ein anerkannter Experte auf dem Gebiet. Seine langjährige Zusammenarbeit mit u. a. dem US Marine Corps ermöglicht ihm eine tiefgehende militärische Perspektive. Durch seine weitreichenden Erfahrungen könnte er ein guter Ratgeber für die Bundeswehr sein. Durch die Umsetzung dieser Vorschläge kann die Bundeswehr zusätzliche Expertisen nutzen. Durch praxisnahe Vorbereitung in Kombination mit wissenschaftlichen Ausarbeitungen können den Soldaten realistische und erprobte Verfahrensweisen mit in den Einsatz gegeben werden. Abteilungsübergreifende Datenbanken ermöglichen eine effizientere Ressourcennut-
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zung. Die Zusammenarbeit mit NROs fördert die Kooperation zwischen den NROs und dem Militär. Die zivilen Einzelexperten verfügen über ein Netzwerk an Kontakten und große Erfahrung. Somit stellen sie eine sinnvolle Ergänzung der Ausbildungsmodule dar. Nicht zuletzt müssen den Soldaten die gewonnenen Erkenntnisse an die Hand gegeben werden und Eingang in die ROEs und die Taschenkarten finden. Literatur Andvig, Jens Chr. (2006): Child soldiers: Reasons for variation in their rate of recruitment and standards of welfare. No. 704-2006. Oslo: Norsk Utenrikspolitisk Institutt. Auswärtiges Amt (Hrsg.) (2006): Bericht der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 8 des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten. Beah, Ishmael (Hrsg.) (2007): A Long Way Gone. New Delhi: HarperCollins Publishers India. Ben-Ari, Eyal (Hrsg.) (2009): Facing Child Soldiers, Moral Issues, And ‚Real Soldiering‘: Anthropological Perspectives on Professional Armed Forces, n/a. Borchini, Charles P. (2003): What Marines Need to Know About Child Soldiers, in: Marine Corps Gazette, April 2003. Bundang, Rowena (2008): Solon pushes comprehensive rehabilitation & scholarship program for child soldiers, in: House of Representatives, 14th Congress of the Philippines, http://www.congress.gov.ph/press/details.php?pressid=2920 (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (Hrsg.) (2006a): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin. – (BMVg) R II 3 (Hrsg.) (2006b): Taschenkarte für die Soldatinnen und Soldaten der deutschen Anteile EUFOR RD CONGO in der Demokratischen Republik Kongo DSK SF009320188. – (BMVg) (2008): Zentrale Dienstvorschrift, ZDv 10/1. Bonn: Führungsstab der Streitkräfte (Fü S I 4). Bundesregierung des Bundesrepublik Deutschland (2010): Dritter und Vierter Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes. Bundeswehr (2010): Bundeswehr im Einsatz, http://www.einsatz.bundeswehr.de (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Coalition to Stop the Use of Child Soldiers (2008): Child soldiers: Global Report 2008, London: Coalition to Stop the Use of Child Soldiers. Online: http://www.child-soldiers.org (zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2011). Elßner, Thomas R. (2007): Arbeitspapier I/2007 Kindersoldaten. Koblenz: Zentrum Innere Führung.
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Daniel Holler
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Kindersoldaten im Visier
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Verzeichnis der Interviewpartner Name
Vorname
Rang/Position
Kontakt
Institution
Ardner
N/A
Major
15.06.2010
Luftlandebrigade 26 Saarlouis
Fischer
Andrea
RII3
23.06.2010
Völker-u.Einsatzrecht, BMVg
Fröhling
Hans-Günter
Dr. Oberstleutnant
diverse
Zentrum Innere Führung
Herling
Jürgen
Kapitän zur See/ Bereichsleiter 3
16.06.2010
Heeresführungskommando
Lixenfeld
Harald
LtCol, Capability Development
09.06.2010
UN/DPKO/OMA/ Policy and Doctrine/ USA
Mähliß
Steffen
Kapitänleutnant/Pressesprecher
08.06.2010
Sanitätsdienst Bundeswehr
Meissner
Andreas
Referent Kinderrechte
18.05.2010
Terre des Hommes
Peuschel
Minja
Advisor Child Protection in Emergencies
diverse
Save the Children/ Sweden
Stümke
Volker
Dozent Sozialethik
17.03.2010
Führungsakademie Bundeswehr, Hamburg
Taubeneder
Josef
LtCol, Direktor Training
14.06.2010
VN-Ausbildungszentrum Bundeswehr
Weingärtner
Dieter
Leiter Rechtsabteilung
04.03.2010
BMVg
Wirges
Annegret
ev. Standortpfarrerin
28.05.2010
ev. Militärpfarramt Saarlouis
Der Ruf nach einer nuklearwaffenfreien Welt darf nicht verhallen! Gedanken eines Offiziers zur Rechtmäßigkeit des Besitzes und Einsatzes von Nuklearwaffen Von Christoph Hof
I. Einleitung Seit dem Abwurf der ersten Atomwaffen über Hiroshima und Nagasaki mit ihren verheerenden Folgen sind die Stimmen, die eine nuklearwaffenfreie Welt fordern, nicht verstummt. Gerade in den letzten Jahren hat deren Anzahl sogar wieder merklich zugenommen. So forderte die Union of Concerned Scientists in ihrem Konzept „Toward True Security“ im Februar 2008 eine drastische Reduzierung der Rolle von Nuklearwaffen in den Sicherheitsstrategien.1 Januar 2008 wandten sich namhafte US-amerikanische Politiker, unter ihnen der ehemalige Außenminister Kissinger und der ehemalige Verteidigungsminister Perry, in einem öffentlichen Brief an die großen Nuklearmächte USA und Russland. Darin forderten sie deutliche Anstrengungen zur Dezimierung des Nuklearwaffenpotentials, die Verhinderung der Proliferation und – für die Zukunft – die Schaffung einer nuklearwaffenfreien Welt.2 Auf eine solche Aussicht verweist auch der amtierende US-amerikanische Präsident Barack Obama, als er kurz 1 Vgl. Union of Concerned Scientists (2008). Die Autoren sehen in der aktuellen US-amerikanischen und russischen Nuklearpolitik eine Fortführung der Strategien zur Zeit des Kalten Krieges. Nach ihrer Einschätzung geht derzeit die größte Gefahr von einem versehentlichen oder unautorisierten Nuklearwaffeneinsatz aus. Als äußerst kritisch bewerten sie darüber hinaus die Entwicklung von Nuklearwaffen in instabilen Staaten oder deren Proliferation an Terroristen. 2 Vgl. Shultz, George P. u. a. (2008). Die Autoren weisen deutlich auf die Gefahr der Proliferation von Nuklearwaffen gerade in „dangerous hands“ hin und den damit verbundenen Effektivitätsverlust der Abschreckungsstrategie. Die USA und Russland als größte Atommächte hätten eine Verantwortung und Vorbildfunktion gegenüber der restlichen Welt, um die nukleare Abrüstung voranzutreiben. Auch wenn der Weg zu einer atomwaffenfreien Welt sehr lang sein kann, so sei doch an dieser Vision festzuhalten und alle dazu notwendigen Anstrengungen seien zu unternehmen.
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nach seiner Amtseinführung von der „Vision einer nuklearwaffenfreien Welt“3 sprach. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen soll im Folgenden die Rechtmäßigkeit des Besitzes und Einsatzes von Nuklearwaffen untersucht werden. Zunächst werden die technischen Möglichkeiten und die strategische Bedeutung von Nuklearwaffen beleuchtet (II.), wobei das Augenmerk zunächst auf der Wirkungsweise von Nuklearwaffen liegt (II.1). Im Anschluss werden unterschiedliche Klassen (II.2.) und Einsatzstrategien (II.3.) skizziert. Anschließend wird das Völkerrecht zur Nuklearwaffenfrage analysiert (III.). Nach einem kurzen Exkurs über die rechtlichen Grenzen des Einsatzes von Gewalt zwischen Staaten folgt eine Analyse des humanitären Völkerrechts bezüglich atomarer Kampfmittel (III.1.). Anschließend wird das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zur Nuklearwaffenfrage von 1996 beleuchtet (III.2.). Zuletzt wird der Besitz und der Einsatz von Nuklearwaffen insgesamt unter völkergewohnheitsrechtlichen (IV.1.) und völkervertraglichen Gesichtspunkten (IV.2.) bewertet.
II. Militärische Bedeutung von Nuklearwaffen 1. Wirkungsweise von Nuklearwaffen Nuklearwaffen werden durch ihre enorme Zerstörungskraft im Vergleich zu konventionellen Waffen charakterisiert. Ihr Funktionsprinzip basiert auf der Spaltung oder Verschmelzung von Atomkernen. Die dabei von der Waffe freigesetzte Explosionsenergie wird gegenüber herkömmlichem Sprengstoff in Kilotonnen (KT) angegeben.4 Abhängig von der Detonationshöhe können fünf Einsatzarten unterschieden werden: air, high-altitude, underwater, underground, surface bursts. Der Punkt der Oberfläche, über dem die Explosion stattfindet, wird als Bodennullpunkt oder „ground Zero“ bezeichnet.5 Als Folge einer nuklearen Explosion treten drei Hauptschadenswirkungen zeitlich verzögert auf: Druckwelle, thermische und radioaktive Strahlung.6 3
Rühle (2009). Vgl. o.V. (2008). Die Sprengkraft von einer Kilotonne (1 KT) entspricht dem Energiegehalt von 1000 Tonnen Trinitrotoluol (TNT). Bei einer Megatonne (1 MT) sind dieses dementsprechend eine Million Tonnen TNT. 5 Vgl. o.V. (2008), Kapitel „Types of Nuclear Explosions“. 6 Vgl. o.V. (2008), Lutz (1983), S. 11 ff. und Fischer (1985), S. 24 ff. Die Energie der Explosion verteilt sich auf die Druckwelle (50%), auf die thermische Strahlung (35%) und die radioaktive Strahlung (15%), wobei letztere sich weiter auf in Anfangsstrahlung (5%) und länger andauernde Strahlung (10%) aufteilen lässt. Zu4
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Die größte Zerstörungswirkung übt die Druckwelle aus, die – abhängig von der Entfernung vom Detonationspunkt und der Detonationshöhe – zur Verwüstung der Oberfläche und zur Zerstörung der Infrastruktur führt.7 Die meisten Menschen sterben durch einstürzende Infrastruktur und umher fliegende Gegenstände; sie werden selbst weggeweht oder aufgrund der enormen Druckwelle selbst getötet. Die thermische Strahlung – im Detonationszentrum entstehen Temperaturen von 15 bis 20 Millionen Grad Celsius – führt zu massiven Verbrennungen der Hautoberfläche sowie zu Bränden der Infrastruktur; sie kann auch große Feuerstürme erzeugen.8 Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass die Infrastruktur, durch die einhergehende Druckwelle bereits massiv beeinträchtigt, leichter entflammbar ist oder sich austretendes Gas aus beschädigten Versorgungsleitungen entzündet. Als dritter und am längsten andauernder Effekt ist die radioaktive Strahlung zu nennen. Sie führt zum direkten Tod von Menschen aufgrund der Strahlung während der Explosion. Darüber hinaus hat sie die direkte, induzierte Verstrahlung der Erdoberfläche und damit deren Unbewohnbarkeit auf lange Sicht sowie radioaktiven Niederschlag (Fallout) als indirekter Strahlung zur Folge.9 Je nach Detonationsart und Umweltbedingungen betrifft der Effekt der Rückstandsstrahlung, also des Fallouts,10 unterschiedlich große Gebiete dem führt ein elektromagnetischer Impuls wegen eines starken Gammaquanten-Impulses durch die Explosion zu einer Beeinträchtigung elektronischer Geräte. 7 Für eine Beschreibung der Zerstörungseffekte vgl. Lutz (1983), S. 12 ff. und o.V. (2008), Kapitel „Overpressure“ und „Blast Effects on Humans“. 8 In Fischer (1985), S. 26, wird erwähnt, dass bereits eine 1 KT Bombe noch in etwa zwei Kilometern Entfernung vom Bodennullpunkt der Explosion zu Verbrennung dritten Grades beim Menschen führen kann. Lutz (1983), S. 15, beschreibt für eine 1 MT Bombe die Verbrennungsmuster mit Verbrennungen dritten Grades in einem Umkreis von 8 Kilometern und zweiten Grades im Umkreis von 11 Kilometern. 9 Die Anfangsstrahlung, die bis eine Minute nach der Explosion auftritt, besteht aus Gamma- und Betastrahlen sowie aus Neutronenstrahlung. Deren Reichweite ist begrenzt, so dass bei großen Nuklearwaffen die Haupttodesursache die durch die Explosion ausgelöste Druck- und Hitzewelle ist. Bei kleineren Waffen im KT-Bereich ist allerdings die tödliche Reichweite der Druck- und Hitzewirkung nicht so groß, so dass dann die Anfangsstrahlung den größten letalen Effekt besitzt. Vgl. dazu Fischer (1985), S. 27 f., und Lutz (1983), S. 15. Fischer (1985) beschreibt, dass bei einer 1 KT Explosion in einem etwa 2,9 km2 großen Areal 50% der Menschen allein aufgrund der Strahlung sterben werden. Daneben führt die Anfangsstrahlung zu einer Verstrahlung der Oberfläche im Bereich des Explosionspunktes/ Bodennullpunktes (induzierte Strahlung), so dass das entsprechende Gebiet anschließend radioaktiv weiter strahlen wird und auf lange Sicht unbewohnbar ist. Vgl. Lutz (1983), S. 15. 10 Vgl. Lutz (1983), S. 17 f. und Fischer (1985), S. 28 f.: Durch jede nukleare Explosion, auch eine in sehr großer Höhe, werden Partikel radioaktiv und verbreiten sich anschließend unkontrolliert über die Erde (Fallout). Wenn der Feuerball der Explosion allerdings die Oberfläche berührt, werden die entsprechenden Bodenpartikel
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und führt dort zu lang andauernder Kontamination, wodurch es zu Spätfolgen in der Bevölkerung kommt: radioaktiv bedingte Erkrankungen, Missbildungen und Todesfälle.11 Die drei Hauptschadenswirkungen von Nuklearwaffen zeigen direkt, dass diese Waffen unterschiedslos wirken und die mit ihrem Einsatz verbundenen Spätfolgen schwer bis gar nicht kontrollierbar sind.12 2. Klassen von Nuklearwaffen Nuklearwaffen unterscheidet man nach der Funktionsweise (Kernspaltungs- und Kernfusionswaffen) sowie der Einsatzart (strategische und taktische Nuklearwaffen).13 Bei Kernspaltungswaffen, den Atomwaffen, wird die bei der Spaltung von Atomkernen freigesetzte Energie als Waffe genutzt. Dagegen wird bei den Fusionswaffen (Wasserstoffwaffen) die bei der Verschmelzung von Atomen freiwerdende Energie eingesetzt. Beide weisen die im vorigen Kapitel beschriebenen Effekte auf, wobei die Fusionswaffen eine deutlich größere Zerstörungskraft als die Kernspaltungswaffen besitzen.14 Eine Weiterentwicklung der Atomwaffe ist die Neutronenwaffe. Sie reduziert den Feuerball und die Druckwelle der Explosion, erhöht dagegen deutlich den Neutronenausstoß.15 Da der Feuerball der Explosion nicht die Erdoberfläche berührt, führt ihr Einsatz zu keinem nennenswerten Fallout, radioaktiv strahlend und durch die Explosion in die Luft geschleudert. Abhängig von den Wetterbedingungen verteilen sie sich anschließend unkontrolliert in der näheren und weiteren Umgebung des Bodennullpunktes der Explosion. 11 Für eine genauere Aufstellung der Effekte radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Körper vgl. o.V. (2008), Kapitel „Radiation Effects on Humans“ und „Long Term Effects on Humans“. 12 Atomwaffen wurden bisher zweimal im Zweiten Weltkrieg eingesetzt, in Nagasaki und in Hiroshima. In Hiroshima kam am 06.08.1945 mit 12 KT eine für heutige Verhältnisse kleinere Bombe zum Einsatz. Diese kostete etwa 200.000 Menschen das Leben (viele davon starben an den Spätfolgen) und führte zu etwa 100.000 Verwundeten. Hiroshima wies vor der Explosion eine Gesamtbevölkerung von 350.000 Einwohnern auf, war danach zu 80% zerstört und wurde erst ab 1949 wieder aufgebaut. Diese verheerende Wirkung einer relativ kleinen Nuklearbombe verdeutlicht die enorme Zerstörungskraft dieser Waffen auf erschreckende Weise, vgl. Lutz (1983), S. 11. 13 Vgl. Lutz (1983), S. 11 und Fischer (1985), S. 24. 14 Vgl. Diehl/Clay Moltz (2002), S. 343. 15 Vgl. Fischer (1985), S. 31 und S. 215. Die Neutronenwaffe wird auch als Enhanced Radiation Weapon bezeichnet (ERW). Ein Großteil der Energie der Waffe wird als Strahlung freigesetzt, so dass sie im Vergleich zu einer herkömmlichen Kernspaltungswaffe mit gleicher Sprengkraft einen doppelt so großen Radius bei gleichen Strahlungswerten aufweist und damit zu einer deutlich erhöhten induzierten Strahlung führt. 80% der Energie der Waffe wird als radioaktive Strahlung freigesetzt.
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aber verstärkt zu induzierter und länger andauernder Strahlung und damit zu größeren Folgeschäden im betroffenen Gebiet. Der Einsatzzweck dieser Waffe besteht in der Erhöhung der Mortalitätsrate bei gleichzeitiger „Schonung“ des Materials (z. B. des Militärgeräts).16 Strategische Nuklearwaffen werden durch grundsätzlich größere Sprengkraft (bis 20 MT) und hohe Reichweite charakterisiert. Ihr Ziel ist die Zerstörung gegnerischen Kriegspotentials auf weite Entfernung und die Abschreckung des Feindes.17 Betrachtet man die Anzahl der Systeme, welche die Nuklearstaaten derzeit zur Verfügung haben, stellen sie derzeit den Großteil der Nuklearwaffen.18 Ein Einsatz dieser Waffen im dicht besiedelten Europa hätte verheerende Folgen: er würde aufgrund der Explosion zu einem Massensterben mit katastrophalen Spätfolgen führen.19 Taktische Nuklearwaffen, auch als Gefechtsfeldnuklearwaffen bezeichnet, sind für den Einsatz auf kurzer Reichweite auf dem Schlachtfeld konzipiert. Ihre Sprengkraft liegt zwischen wenigen Bruchteilen einer KT bis zu mehreren hundert KT und sie sollen vor allem gegen Truppenkonzentrationen, Schiffe oder ähnliche Ziele eingesetzt werden.20 Aktuelle Tendenzen auf 16
Vgl. Fischer (1985), S. 31 f., S. 180 und S. 215. Vgl. Lutz (1983), S. 11; Fischer (1985), S. 174; Diehl/Clay Moltz (2002), S. 342 sowie Walton/Gray (2007), S. 213. Fischer und Diehl weisen darauf hin, dass bei den strategischen Nuklearwaffen die Größe der Sprengkraft nicht mehr das entscheidende Kriterium ist. Die strategischen Waffen kennzeichnen ihre Reichweite und sie werden mit ballistischen Interkontinentalraketen (boden- oder unterseebootgestützt) oder Langstreckenbombern verbracht. 18 Vgl. Norris/Kristensen (2009), S. 59 und S. 61. Im Januar 2009 besaßen die Vereinigten Staaten von Amerika noch etwa 5200 nukleare Sprengköpfe, von denen 2700 einsatzbereit waren, der Rest war Reserve. Von den 2700 einsatzbereiten Sprengköpfen waren 2200 strategische und nur 500 „nicht-strategische“, also taktische Sprengköpfe. 19 Vgl. Lutz (1983), S. 23, der die Spätfolgen eines strategischen Nuklearwaffeneinsatzes beschreibt: Zerstörung der Infrastruktur, Vernichtung der Wasser- und Nahrungsvorräte und eine katastrophale medizinische Situation aufgrund der großen Anzahl verletzter Menschen. 20 Vgl. Diehl/Clay Moltz (2002), S. 343 und Walton/Gray (2007), S. 213. Diehl/ Clay Moltz (2002) beschreiben als Beispiele taktischer Nuklearwaffen nukleare Landminen und Artilleriegeschosse. Gemäß Walton/Gray (2007) kann als weiteres Unterscheidungskriterium zu den strategischen Nuklearwaffen der Waffenträger angesehen werden. Bei taktischen Nuklearwaffen sind es Artillerie, ballistische Kurzstreckenraketen/Cruise-missiles oder taktische Flugzeuge. Vgl. auch Fischer (1985), S. 24 sowie 176 f., der den Begriff der auf das Gefechtsfeld fixierten „theatre nuclear weapon“ anführt. Wegen der gestiegenen Genauigkeit der strategischen Nuklearwaffen, aufgrund dessen diese Systeme mit Mehrfachsprengköpfen geringerer Zerstörungskraft ausgerüstet wurden, ist nach Fischer (1985) die Unterscheidung zwischen den beiden Klassen heute nicht mehr trennscharf durchführbar und nach seiner Auffassung obsolet. Ich werde die Unterscheidung allerdings weiterhin zur 17
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dem Gebiet der Entwicklung von taktischen Nuklearwaffen stellen „Bunkerknacker“ oder zur Zerstörung von Raketensilos bestimmte Waffen dar, die möglichst keine Kollateralschäden verursachen sollen.21 Ein solcher Einsatz bedingt eine hohe Sprengkraft der Waffe bei Detonation unterhalb der Erdoberfläche oder auf dem Boden. Versuche haben gezeigt, dass die Eindringtiefe der RNEP allerdings nicht hoch genug ist. Damit kann das Ziel, die Explosionen dieser Waffen so weit unterhalb der Erdoberfläche zu erzeugen, dass keine Kontamination der Umgebung hervorgerufen wird, nicht realisiert werden. Dadurch kommt es zu starker induzierter Verstrahlung der umgebenden Materie, massivem radioaktivem Fallout und einer immensen Schädigung der Bevölkerung sowie der Umwelt in der Umgebung der Explosion mit unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Spätfolgen.22 Ein Einsatz ohne erhebliche Kollateralschäden ist somit nicht vorstellbar. Aber selbst ein Einsatz „kleiner“ taktischer Atomwaffen mit mehreren KT Sprengkraft hätte in dicht besiedeltem Gebiet verheerende Folgen, wenn man sich die Auswirkungen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima mit 12 KT Sprengkraft in Erinnerung ruft.23 3. Einsatzstrategien von Nuklearwaffen Für den Einsatz von Nuklearwaffen finden sich in der Geschichte seit 1945 diverse Begründungen durch die Nuklearwaffenstaaten oder Militärbündnisse. In dieser Abhandlung wird das Augenmerk auf die USA und die Klassifizierung beibehalten, da sie nach m. E. eine gute Unterteilung entsprechend des Einsatzszwecks der Waffen zulässt. 21 Diese Anwendungsmöglichkeit findet sich in: Rötzer (2002), der von „Präzisions-Nuklearwaffen mit einer geringen Sprengkraft von wenigen Kilotonnen [. . .] (berichtet), um unterirdische Ziele möglichst ohne Kollateralschäden von Zivilisten [. . .] zerstören zu können“, an denen die USA arbeiten. Diese Waffen werden bei o.V. (2008), Kapitel „Types of Nuclear Explosions“ als „Robust Nuclear Earth Penetrator (RNEP)“ bezeichnet. 22 Vgl. Fischer (1985), S. 25 und S. 211 sowie Lutz (1983), S. 25. Eine Abschätzung, wie tief ein solcher Bunkerknacker in die Erde eindringen müsste, damit die Explosion ganz unter der Erdoberfläche bleibt und damit kein Fallout auftritt, findet sich in Rötzer (2002). Hier wird dargelegt, dass bereits eine 0,1 KT Nuklearwaffe „70 Meter unter der Erdoberfläche explodieren [müsste], um die Umgebung nicht zu kontaminieren“. Bei einer 5 KT Bombe wächst dieser Wert auf über 200 Meter an. Und selbst wenn die Waffe es schaffen sollte, sich so tief in die Erde zu bohren, besteht immer noch die Wahrscheinlichkeit, dass „die Umgebung mit hoch radioaktivem Staub und Gas“ verseucht werden würde. Daneben haben Versuche gezeigt, dass eine solche Waffe bei einem Testabwurf nur sieben Meter in den Erdboden eingedrungen ist, also viel zu wenig, um eine komplett unter der Oberfläche bleibende Explosion zu erzeugen. 23 Vgl. Lutz (1983), S. 11.
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NATO gelegt. Den Abwurf der Atombomben auf Japan im Zweiten Weltkrieg begründeten die USA offiziell damit, den Krieg vorzeitig zu beenden und das Leben von amerikanischen Soldaten zu schützen.24 In der Zeit des Kalten Krieges waren Nuklearwaffen ein Mittel, um den Gegner von einem Krieg abzuschrecken, indem beide Seiten eine Drohkulisse von nuklearer Erst- und Zweitschlagfähigkeit aufbauten und mit Waffen hinterlegen, so dass ein entsprechender Schlagabtausch zur beiderseitigen Vernichtung führen würde.25 Der Einsatz von Nuklearwaffen galt als „ultima ratio“ und die Strategie hatte durchaus eine friedenssichernde Komponente.26 Das Ende des Ost-West-Konflikts hat jedoch nicht zu einem Ende von Nuklearwaffen geführt. Derzeit besitzen acht Staaten Nuklearwaffen, zwei weitere Staaten (Nordkorea und der Iran) unternehmen große Anstrengungen, ebenfalls eigene Kernwaffen zu produzieren.27 Die Besitzerstaaten oder die entsprechenden Bündnisse begründen den Besitz weiterhin mit ihrer abschreckenden Wirkung. An dieser Strategie vor allem bezüglich der strategischen Nuklearwaffen wird auch für die Zukunft festgehalten. Obgleich U.S. Präsident Obama aktuell die „Vision einer nuklearwaffenfreien Welt beschworen hat“28, gilt dieses alte strategische Konzept weiterhin. So wird im aktuellen strategischen Konzept der NATO – trotz des Bekenntnisses zur Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung – weiterhin an der nuklearen Abschreckung als dem Grundpfeiler der Sicherheit für die NATO-Staaten festgehalten.29 Damit reiht sich die Begründung nahtlos an die der Zeit des 24 Vgl. Weber (2001), S. 249. Auf eine Bewertung des Einsatzes wird im folgenden Kapitel der Arbeit eingegangen. Weber führt darin auch aus, dass der Abwurf allerdings auch das politische und militärstrategische Ziel verfolgte, Stalin einzuschüchtern. 25 Vgl. Fischer (1985), S. 35 ff. und Diehl/Clay Moltz (2002), S. 28 ff. Wie bei Fischer (1985) ebenfalls zu finden ist, existierten in den USA auch Pläne, Atomwaffen außerhalb eines großen Ost-West-Krieges und außerhalb der Abschreckungsstrategie einzusetzen, so zum Beispiel in den Stellvertreterkriegen in Korea und Vietnam. 26 Vgl. Fischer (1985), S. 36. 27 Vgl. Diehl/Clay Moltz (2002), S. 31 und S. 206. Als Atommächte gelten die USA und Russland, die über den größten Besitz an Nuklearwaffen verfügen. Daneben besitzen offiziell noch Frankreich, Großbritannien und China sowie inoffiziell Israel, Indien und Pakistan eine kleinere Anzahl an Atomwaffen. In der aktuellen Entwicklung streben daneben Nordkorea sowie der Iran nach Waffen dieses Typs. Ende Mai 2009 hat Nordkorea einen neuen Atomwaffentest durchgeführt. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um einen Versuchtsträger handelte und die Atombombe für Nordkorea als einsetzbare Nuklearwaffe noch nicht zur Verfügung steht. Allerdings befindet es sich damit an der Schwelle zur Nuklearmacht und könnte in absehbarer Zukunft über einsatzfähige Nuklearwaffen verfügen. 28 Rühle (2009), S. 18. 29 Vgl. NATO (2010). Das neue strategische Konzept der Nato, welches auf dem Gipfel in Lissabon im November 2010 verabschiedet wurde, beinhaltet in den Punk-
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Kalten Krieges an, in der Nuklearwaffen als letztes Mittel immer auch politische Waffen waren.30 In bestimmten Bereichen wie der Abschreckung zwischen Nuklearmächten (USA und Russland, Indien und Pakistan) oder symmetrischen Gegenspielern (Israel und die arabische Welt) mag diese Strategie noch effektiv sein. Es stellt sich allerdings die Frage nach deren Wirkung auf Terroristen oder den ins Abseits der Weltgemeinschaft gestellten Schurkenstaaten.31 Selbstmordattentäter werden durch die Drohung mit Nuklearwaffen nicht von ihren Vorhaben abgebracht. Die Beispiele Nordkorea und Iran mit ihren Bestrebungen nach eigenen Atomwaffen machen deutlich, dass die Abschreckungsstrategie zu einer weiteren Verbreitung von nuklearen Waffen und damit zu einer Destabilisierung führen kann. In den letzten Jahren lässt sich eine „Renaissance von Nuklearwaffen“32 erkennen. Daneben sehen nationale strategische Planungen vor allem taktische Nuklearwaffen „nicht mehr als letztes Mittel der Abschreckung, sondern zunehmend als Kriegsführungswaffen“33. So enthalten die US-amerikanische Nuclear Posture Review (NPR) aus dem März 2002 sowie der Entwurf der Doctrine for Joint Nuclear Operations vom März 2005 Planungen zum Einsatz taktischer Atomwaffen als Bunkerknacker oder in begrenzten Kriegen. Daneben ist ein präventiver Gebrauch von nuklearen Kampfmitteln gegen Terroristen oder Staaten vorgesehen, die Massenvernichtungsmittel einsetzen wollen.34 Diese Entwicklung führte zu einer Modernisierung des strateten 17 und 18 weiterhin die nukleare Abschreckung als den Grundpfeiler der Sicherheitsgarantie der NATO-Staaten. Solange Nuklearwaffen existieren, wird die NATO „a nuclear alliance“ sein. Allerdings wird ebenfalls festgestellt, dass die Umstände zum Einsatz von strategischen Nuklearwaffen äußerst selten sind. Als ein Ziel der NATO wird in Punkt 26 eine nuklearwaffenfreie Welt angestrebt und eine weitere Reduzierung der Nuklearwaffen in Europa in Aussicht gestellt. Es wird allerdings immer die Einschränkung gemacht, dass die Grundvoraussetzung für eine nuklearwaffenfreie Welt das „principle of undiminished security for all“ ist, vgl. auch Kornelius/Winter (2010). 30 Vgl. Fischer (1985), S. 34 ff. 31 Vgl. Diehl/Clay Moltz (2002), S. 31, die eine abschreckende Wirkung des Atomwaffenpotentials Isreals auf die umgebenden arabischen Staaten sowie die gegenseitige Abschreckung zwischen Indien und Pakistan beschreiben. Lüdeking (2005), S. 202, weist in seinem Artikel allerdings darauf hin, dass Abschreckung „nicht gegen zu allem entschlossene Terroristen“ wirken kann. Daneben zeigt er am Beispiel von Iran und Nordkorea als „gebrandmarkte Schurkenstaaten“, dass diese sich aus ihrer Situation heraus genötigt sehen, ebenfalls ein Abschreckungspotential in Gestalt eigener nuklearer Bewaffnung aufzubauen. 32 Lüdeking (2005), S. 203. 33 Mützenich (2006). 34 Vgl. Rötzer (2003) und (2005). In diesen Artikeln wird deutlich, dass gemäß NPR Nuklearwaffen nicht mehr als letztes Mittel der Kampfführung angesehen werden und sie auch gegen Nicht-Nuklearmächte angewendet werden sollen. Des Weiteren werden sie „in das Arsenal der [. . .] Offensivwaffen integriert“. Im Entwurf
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gischen Nuklearwaffenpotentials der offiziellen Atommächte und der Entwicklung neuartiger taktischer Nuklearkampfmittel.35 Im Jahr 2007 folgte ein offizieller Vorschlag fünf ehemaliger Stabschefs der NATO, dieser eine neue und offensive Strategie mit der Option nuklearer Erstschläge zu geben.36 Die genannten Entwicklungen zeigen, dass ein Einsatz gerade taktischer nuklearer Kampfmittel heute wahrscheinlicher denn je geworden ist. Die Schwelle zur Anwendung dieser Art von Atomwaffen ist so niedrig wie noch nie. Inwieweit die aktuelle russisch-amerikanische Annäherung auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung positive Auswirkungen auf diese Tendenzen haben und wie sich das neue strategische Konzept der NATO auf die nationalen Strategien auswirken wird, bleibt abzuwarten.
III. Analyse des Völkerrechts zur Nuklearwaffenfrage Das Recht zur Verteidigung und zur militärischen Gewaltanwendung wird durch die Charta der United Nations (UN) geregelt. Artikel 2 Absatz 4 legt fest, dass sowohl die Androhung als auch die Anwendung von Gewalt grundsätzlich verboten ist. Dieses Verbot ist zwingendes Recht (ius cogens) und somit auch für Staaten verpflichtend, die nicht Mitglieder der UN sind.37 Daneben erlaubt die UN-Charta nur in zwei Ausnahmesituationen die Anwendung von Gewalt: im Falle der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung oder im Falle der Autorisation durch den UN-Sicherheitsrat, um den Weltfrieden wiederherzustellen oder zu erhalten.38 Bei der Ausübung von Gewalt gilt das humanitäre Völkerrecht.39 der „Doctrine for Joint Nuclear Operations“ wird darüberhinaus erstmals von einem „nuklearen Präventivschlag“ gesprochen. Mögliche Ziele von amerikanischen Nuklearschlägen werden im geheimen Teil des NPR aufgeführt, welche die „Schurkenstaaten“ – Irak, Iran, Nordkorea, Syrien und Lybien – sind. Vgl. Diehl/Clay Moltz (2002), S. 157. 35 Vgl. Mützenich (2006) sowie Lüdeking (2005), S. 203 f. 36 Vgl. Naumann (2007), S. 96 f. sowie Neuber (2008). Hier wird eindeutig darauf hingewiesen, dass die NATO proaktiv handeln müsse sowie nukleare Mittel gegen asymmetrische Bedrohungen als ultimatives Instrument einsetzen sollte. 37 UN-Charta, Artikel 2, Absatz 4: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete [. . .] Androhung oder Anwendung von Gewalt.“, vgl. Lutz (1983), S. 2, Greenwood (1994), S. 1; Gasser (2008), S. 17 sowie Krugmann (2004), S. 17. 38 UN-Charta, Artikel 42 „[. . .] kann er [der Sicherheitsrat] mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen.“ Artikel 51: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfrie-
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1. Das humanitäre Völkerrecht zur Nuklearwaffenfrage Das humanitäre Völkerrecht (HVR) setzt sich gemäß Artikel 38 des Statuts des IGH aus Völkervertragsrecht, Völkergewohnheitsrecht sowie allgemeinen Rechtsgrundsätzen zusammen.40 Es ist festzustellen, dass das gesamte HVR kein explizites Verbot der Produktion, des Besitzes oder des Einsatzes von Nuklearwaffen aufweist. Alle diesbezüglichen Bemühungen seitens der UN, des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) oder anderer Akteure, die seit Abwurf der ersten Atombomben auf Japan wiederholt unternommen wurden, scheiterten stets am Veto der fünf offiziellen Nuklearmächte.41 Allerdings bedeutet dieses nicht, dass das HVR den Einsatz von Nuklearwaffen gestattet. Ein Einsatz, allerdings nicht die Produktion oder der Besitz, kann aufgrund verschiedener Einzelnormen des HVR unter bestimmten Bedingungen als rechtlich verboten gelten.42 Ausgangspunkt der Argumentation sind die vier Genfer Abkommen von 1949 (GK), die heute als weltweit geltendes Völkervertragsrecht angesehen werden, daneben die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907, hier vor allem das IV. und V. Abkommen, die für die Vertragsparteien bindend und daneben als Völkergewohnheitsrecht allgemein anerkannt sind.43 In der Präambel zum IV. Haager Abkommen findet sich die Martens’sche Klausel: „[. . .] halten es die Hohen vertragschließenden Teile für zweckmäßig, festzustellen, daß in den Fällen, die in den Bestimmungen der von ihnen angenommenen Ordnung nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens.“44 dens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, vgl. Lutz (1983), S. 2 f., Greenwood (1994), S. 26 f., Gasser (2008), S. 17 ff. und Krugmann (2004), S. 17 ff. 39 Vgl. Gasser (2008), S. 19, und Greenwood (1994), S. 7 ff. 40 Vgl. Gasser (2008), S. 47 ff. 41 Vgl. Gasser (2008), S. 179, Oeter (1994), S. 115; Weber (2001), S. 259 sowie Lutz (1983), S. 10. Eine äußerst detaillierte Darstellung der Bemühungen unterschiedlichster Akteure, Nuklearwaffen völkerrechtlich zu ächten, findet sich in Empell (1989), S. 22 ff. 42 Die Unterscheidung zwischen Besitz, Produktion und Einsatz wird hier explizit hervorgehoben, weil es im Bereich der Nuklearwaffen keine internationalen Verträge wie im Bereich der biologischen oder chemischen Waffen gibt, wodurch bereits die Produktion oder der Besitz entsprechender Waffen illegal wird. 43 Vgl. Gasser (2008), S. 47 ff. und Greenwood (1994), S. 20 f. 44 Bundesministerium der Verteidigung (1991), S. 424. Die Martens’sche Klausel wurde im I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen in Artikel 1, Absatz 2 sowie dem II. Zusatzprotokoll in der Präambel in jüngerer Zeit bestätigt. Vgl. dazu auch S. 253 und S. 335.
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Hierdurch wird festgelegt, dass das Nichtvorhandensein von expliziten Regeln im Recht, hier im HVR, bezüglich eines Nuklearwaffeneinsatzes nicht dazu führt, dass ihr Einsatz dadurch rechtlich zulässig wäre. Vielmehr müssen in einem solchen Fall die allgemeinen Regeln und Grundsätze des Völkerrechts sowie der Menschlichkeit Anwendung finden. Diese allgemeinen Grundsätze, vor allem der humanitäre Gedanke, die Leiden im Falle eines Krieges zu begrenzen, finden sich in unterschiedlichsten Vereinbarungen: Die Sankt Petersburger Erklärung von 1868 legt fest, dass nur militärische Ziele in Kriegshandlungen angegriffen werden dürfen (Unterscheidungsprinzip) und dabei nur Waffen eingesetzt werden dürfen, die keine unnötigen Leiden verursachen (Humanitätsprinzip).45 Das IV. HLKO von 1907 gewährt im Artikel 22 „den Kriegführenden [. . .] kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes“46 und schreibt im Artikel 23 fest, dass grausame Waffen verboten sind und ein sich ergebender Feind Schutz vor weiteren Kampfhandlungen genießt (Verhältnismäßigkeits- und Notwendigkeitsprinzip).47 Die GK bringen in Ergänzung dazu den Humanitätsgedanken im Kriege im I. und III. Abkommen, die auf den Schutz von Verwundeten und Kriegsgefangenen abzielen, und im Teil IV den allgemeinen Schutzgedanken der Zivilbevölkerung zum Ausdruck, um die durch den Krieg verursachten Leiden zu mildern.48 Es lässt sich damit zusammenfassend feststellen, dass gewohnheitsrechtlich bei jeder kriegerischen Handlung Notwendigkeits-, Unterscheidungs- und Verhältnismäßigkeitsprinzip zwingend Anwendung finden müssen und stets das Humanitätsprinzip gelten muss.49 Insofern müssen diese Prinzipien auch beim Einsatz von Nuklearwaffen berücksichtigt werden, wodurch ihr Einsatz eine deutliche Eingrenzung erfährt. So ist es aufgrund dieser Maßregeln völkerrechtlich nicht möglich, Atombomben auf 45 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (1991), S. 395. Die Erklärung von St. Petersburg führt explizit aus, „daß das einzig rechtmäßige Ziel, welches sich ein Staat in Kriegszeiten stellen kann, die Schwächung der Streitkräfte des Feindes ist,“ und „daß der Gebrauch von Mitteln, welche unnötigerweise die Wunden der außer Gefecht gesetzten Leute vergrößern oder ihnen unvermeidlich den Tod bringen, diesem Zweck nicht entspricht“. Im Folgenden wird ausgeführt, „daß außerdem der Gebrauch solcher Mittel den Gesetzen der Menschlichkeit zuwider wäre“. Empell (1993), S. 25 f., stellt fest, dass die Normen des Unterscheidungsprinzips „seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Völkergewohnheitsrecht anerkannt“ sind. 46 Bundesministerium der Verteidigung (1991), S. 434. 47 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (1991), S. 434. Artikel 23, Ziffer 1 (c) und Ziffer 1(e). Vgl. auch Krugmann (2004), S. 36. 48 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (1991), S. 175. Auf die für die Arbeit deutlich wichtigeren Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen wird an späterer Stelle eingegangen. 49 Vgl. Greenwood (1994), S. 26 ff. und Gasser (2008), S. 37 ff.
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Städte abzuwerfen, in denen sich keine militärischen Einrichtungen befinden, oder auf einen militärischen Angriff eines konventionell weit unterlegenen Gegners mit Nuklearwaffen zu antworten. Allerdings kann aus den genannten Punkten kein automatisches Verbot von Nuklearwaffen abgeleitet werden, da sie stets unterschiedslos wirken oder internationale Vereinbarungen brechen würden.50 Es eröffnet sich vielmehr das Problem, dass die Prinzipien in den beschriebenen Vertragswerken nicht eindeutig festgelegt werden und die „völkergewohnheitsrechtlichen Normen lediglich abstrakte, relativ unbestimmte Prinzipien zum Inhalt haben“51. So ist der Begriff der Verhältnismäßigkeit nicht eindeutig definiert und die Verteidigungshandlung darf im Vergleich zum Angriff auch mit größerer Gewalt geführt werden, so dass eine Verteidigung mit einem nuklearen Erstschlag bei Bedrohung des Überlebens des Verteidigerstaates nach diesen Regeln zulässig wäre.52 Aus diesem Grund finden sich in der Literatur unterschiedliche Auffassungen, unter welchen Umständen Nuklearwaffen eingesetzt werden dürfen.53 Eine Änderung dieser Situation hätte das 1978 in Kraft getretene Zusatzprotokoll I (ZPI) zu den GK bringen können. In diesem hat eine „vertragliche Kodifizierung der gewohnheitsrechtlichen Normen zum Schutz der Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen von Kampfhandlungen“54 sowie ein Verbot grausamer Mittel und Methoden der Kriegsführung stattgefunden.55 50 Vgl. Weber (2001), S. 263, Oeter (1994), S. 116 f. und Kimminich (1969), S. 284 ff. 51 Empell (1993), S. 28. 52 Vgl. Greenwood, S. 4; Krugmann, S. 12 ff. und S. 21 sowie Steinkamm, S. 5 f. 53 Lutz (1983), S. 29 und Lutz (1982), S. 20 f., hält nur bei Selbstverteidigung mit existentieller Gefährdung der Selbsterhaltung einen Nuklerawaffeneinsatz für völkerrechtlich legitim. In allen anderen Fällen geht er von einem grundsätzlichen Verbot des Atomwaffeneinsatzes aus. Ein Ersteinsatz oder den Einsatz von Nuklearwaffen als Represssalie sei stets unzulässig. Oeter (1994), S. 430, dagegen sieht einen Ersteinsatz von Nuklearwaffen oder auch den Einsatz als Repressalie – immer unter Beachtung von „besonders strikten Vorsichtsmaßnahmen“ – durchaus für legitim an. 54 Empell (1993), S. 29. 55 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (1991), S. 277 und S. 285 f. Besonders erwähnenswert sind der Artikel 35 (Beschränktes Recht der Wahl der Methoden im Krieg, Verbot von Mitteln und Methoden, die übermäßige Leiden sowie langandauernde Umweltschäden verursachen), der Schutz der natürlichen Umwelt in Artikel 55 sowie der umfangreiche Artikel 51. Er legt in Absatz 2 fest, dass die Zivilbevölkerung oder einzelne Zivilpersonen kein Ziel militärischer Angriffe sein dürfen. Absatz 4 verbietet alle unterschiedslosen Angriffe, d.h. Angriffe, bei denen sowohl militärische als auch zivile Objekte unterschiedlos getroffen werden. Absatz 5 verbietet darüberhinaus Flächenbombardierungen sowie Angriffe, die eine unverhältnismäßig hohe Zahl an getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zum militärischen Vorteil nach sich ziehen würden. Die Bevölkerung wird vor Repressalien im Absatz 6 geschützt.
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Bei Anwendung dieser Regeln hätte ein Einsatz von Nuklearwaffen gemäß Meinung unterschiedlicher Gelehrter weitgehend ausgeschlossen und rechtlich unmöglich werden können.56 Dieses völkerrechtliche Abkommen kann jedoch noch nicht als universell geltendes Recht betrachtet werden, weil die offiziellen Nuklearstaaten es nicht ratifiziert haben oder bei der Unterschrift Erklärungen abgegeben haben, dass sich die in diesem Dokument festgeschriebenen Regeln nicht auf Nuklearwaffen beziehen. Auch aufgrund der Entstehungsgeschichte des Protokolls sind die Regeln des ZPI nicht auf Nuklearwaffen anwendbar.57 Dennoch gelten die grundsätzlichen Regeln des Völkergewohnheitsrechts weiterhin auch für den Einsatz nuklearer Waffen. 2. Das IGH-Urteil von 1996 zur Nuklearwaffenfrage Neben den angesprochenen Quellen des HVR (Völkervertragsrecht und Völkergewohnheitsrecht) hat sich auch der IGH in einem Gutachten in der jüngsten Vergangenheit mit der Problematik des Nuklearwaffeneinsatzes befasst. Das Gutachten war Ergebnis einer Anfrage der Vollversammlung der UN und der Weltgesundheitsorganisation, wobei aus rechtlichen Gründen nur die Anfrage der UN angenommen und beantwortet wurde.58 Dabei stellten die Richter fest, dass es bisher keine völkergewohnheitsrechtlichen oder völkervertraglichen Regeln gibt, die Besitz, Produktion, Drohung mit oder Einsatz von Nuklearwaffen erlauben oder verbieten. Allerdings wird ebenfalls konstatiert, dass unter Rückgriff auf die Martens’sche Klausel Nuklearwaffen nicht außerhalb des Rechts stehen können und für den Einsatz von oder die Drohung mit solchen Waffen die UN-Grundsätze zur Gewaltanwen56 Vgl. Empell (1989), S. 11 f., Empell (1993), S. 29, Fischer (1985), S. 242 f. sowie Steinkamm (1984), S. 7 ff. 57 Vgl. Gasser (2008), S. 48 und S. 180 f., Empell (1993), S. 30 f. und Oeter (1994), S. 118 ff. Die USA haben das Abkommen nicht ratifiziert. Daneben haben die USA sowie Großbritannien und Frankreich bereits während der Diplomatischen Konferenz zur Erstellung des völkerrechtlichen Vertrages zwischen 1974 und 1977 dauerhaft darauf hingewiesen, dass im ersten Vertragsentwurf des IKRK die Nuklearwaffen eindeutig ausgenommen waren. Unter anderem haben diese drei Länder während der ganzen Konferenz verhindert, dass eine Ausweitung der Regeln auf Nuklearwaffen stattfand. Großbritannien und Frankreich haben bei Ende der Diplomatischen Konferenz sowie Ratifikation der Verträge Erklärungen abgegeben, in denen sie feststellen, dass das im ZPI festgelegte Recht nicht auf Nuklearwaffen anwendbar ist. Für eine sehr detaillierte Darstellung des Verlaufes der Diplomatischen Konferenz, vgl. Empell (1993), S. 30 ff. 58 Vgl. Weiss (1997), S. 315 f. und Mohr (1997), S. 344. Beide Autoren weisen darauf hin, dass der IGH die Anfrage der WHO ablehnte, da sie außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der WHO lag. Die Anfrage der Vollversammlung der UN hatte im Wesentlichen den gleichen Inhalt. So führte deren Antrag zur Befassung des IGH mit der Rechtsfrage.
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dung sowie die Regeln des HVR Anwendung finden müssen. Deswegen und unter Berücksichtigung von allgemeinen Aspekten zum Schutz der Menschenrechte und der natürlichen Umwelt müssten folgende Grundprinzipien auch bei Nuklearwaffeneinsätzen beachtet werden: eine ständige Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung sowie der Schutz ziviler Objekte, das Verbot unterschiedsloser Angriffe und Angriffsmittel, das Verbot von Waffen, die unnötige Leiden verursachen und kein unbeschränktes Recht zur Wahl der Waffen. Daneben ist stets das Neutralitätsrecht, das außerhalb des HVR steht, zu berücksichtigen. Somit ergibt sich das Verbot, neutrale und damit an einem Konflikt unbeteiligte Staaten durch Waffenauswirkungen in Mitleidenschaft zu ziehen.59 Daher kommt das Gericht im entscheidenden § 105, E zu nachstehender Schlussfolgerung: „(1) It follows from the above-mentioned requirements that the threat or use of nuclear weapons would generally be contrary to the rules of international law applicable in armed conflict, and in particular the principles and rules of humanitarian law; (2) However, in view of the current state of international law, and of the elements of fact at its disposal, the Court cannot conclude definitely whether the threat or use of nuclear weapons would be lawful in an extreme circumstance of self-defence, in which the very survival of a State would be at stake“60
Das Gutachten des IGH stellt im ersten Absatz des Paragraphen die grundsätzliche Völkerrechtswidrigkeit des Einsatzes von, aber auch die Drohung mit Nuklearwaffen fest. Im zweiten Absatz hingegen trifft das Gericht keine Entscheidung, ob in einer extremen Verteidigungssituation, in der es um die Existenz und das Überleben eines Staates geht, der Einsatz von Nuklearwaffen nicht doch völkerrechtsgemäß sein könnte.61 Aber selbst dann müsste er das letzte und einzig mögliche Mittel zur Abwehr des 59 Vgl. Mohr (1997), S. 348, Gasser (2008), S. 181, Safferling (1998), S. 183, Falk (1997), S. 326; Deiseroth (2005), S. 438 und Paech (1996), S. 178 f. 60 Safferling (1998), S. 184. 61 Vgl. Tams (2006), S. 41 f. sowie S. 45, siehe auch Paech (1996), S. 177, Deiseroth (2005), S. 438; Mohr (1997), S. 349, Falk (1997), S. 330 und Weiss (1997), S. 317. In diesen Schriftstücken findet sich eine eingehende Darstellung der Begründungen der einzelnen Richter zu ihrer Entscheidung und eine Darstellung des Abstimmungsergebnisses. Numerisch erfuhr der Paragraph 105 als ganzes von sieben Richtern Zustimmung und von sieben Richtern Ablehnung, so dass die Stimme des vorsitzenden Richters, der dem Paragraphen zustimmte, den Ausschlag zu dessen Annahme gab. Allerdings muss berücksichtigt werden, wie in der Literatur dargestellt wird, dass drei Richter den Paragraphen nur deshalb ablehnten, weil sie von einer generellen Völkerrechtswidrigkeit der Nuklearwaffen überzeugt waren und deshalb den Paragraphen, der nur als ganzes bestehend aus den absätzen Eins und Zwei zur Abstimmung stand, nicht billigen konnten. Dies zeigt, dass eigentlich eine Mehrheit von 10:4 Richtern von der Völkerrechtswidrigkeit von Nuklearwaffen überzeugt war und die Entscheidung insofern eindeutiger ausfiel.
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Angriffs sein und stets verhältnismäßig bleiben.62 Der Einsatzrahmen von Atomwaffen wird im Vergleich zu den im vorigen Kapitel beschriebenen Regeln des HVR durch das Gutachten drastisch eingeengt. Es beschränkt ihn auf eine Ausnahmesituation, wenngleich es ihn nicht endgültig ausschließt. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass Gutachten des IGH keinen rechtsverbindlichen Charakter und keine unmittelbare Zwangswirkung haben. Hingegen kommt ihnen als Meinung des höchsten gerichtlichen Gremiums der UN eine hohe Autorität zu, haben sie bereits häufig einen entscheidenden Einfluss auf die Weiterentwicklung des internationalen Rechts ausgeübt.63
IV. Völkerrechtliche Bewertung von Nuklearwaffen Die Ausführungen der letzten beiden Unterkapitel haben gezeigt, dass es keine bindende Rechtsnorm gibt, die den Einsatz von Nuklearwaffen verbietet. Die einzigen gültigen Regeln, die auch von den Nuklearmächten akzeptiert werden, beruhen auf den relativ unbestimmten Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts. Dennoch sollen anhand dieser Regeln die Nuklearwaffen und ihre Einsatzstrategien bewertet werden, um darauf aufbauend zu einer moralischen Verpflichtung der Nuklearstaaten aufgrund der weiterführenden Regeln des ZPI und des IGH-Gutachten zu gelangen. Dabei muss immer berücksichtigt werden, dass die Auslegung der gültigen Rechtsnormen, wie in den Kapiteln III.1. und III.2. dargestellt, durch unterschiedliche Rechtsgelehrte zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. 1. Die Perspektive des Völkergewohnheitsrechts Bereits aus völkergewohnheitsrechtlichen Gesichtspunkten stellen sich bestimmte Einsatzstrategien und Nuklearwaffentypen als völkerrechtswidrig dar. So ist ein Einsatz von strategischen Nuklearwaffen in Bodennähe über dicht besiedeltem Gebiet, vor allem als präventiver Schlag, genauso zu verurteilen wie die Drohung der gezielten Zerstörung von Bevölkerungszentren eines Gegners mit nuklearen Waffen, wie in den alten Strategien der 62 Vgl. Tams (2006), S. 42 sowie Safferling (1998), S. 187 ff. Safferling (1998) weist darauf hin, dass auch im Falle der Selbstverteidigung dass Erforderlichkeitsund das Verhältnismäßigkeitsprinzip weiterhin Geltung haben und ein Verteidigungszustand nicht dazu führt, dass sich der verteidigende Staat über humanitäre Normen hinwegsetzen darf. „Der Einsatz von Atomwaffen [steht] dann mit der UN Charter im Einklang [. . .], wenn sich der Staat mit keinen milderen Mitteln erwehren kann, um den bewaffneten Angriff, der seine Existenz akut und unmittelbar gefährdet, endgültig und effektiv zu beenden.“ 63 Vgl. Mohr (1997), S. 350, Paech (1996), S. 185 und Deiseroth (2005), S. 439.
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NATO und des Warschauer Paktes vorgesehen. Hierdurch werden massiv die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit, das Humanitätsprinzip und Unterscheidungsprinzip zwischen Militär und Zivilbevölkerung unterlaufen. Welchen militärischen Sinn hat die Zerstörung der gegnerischen Bevölkerung außer der Vernichtung von Menschenleben? Welche unkontrollierbaren Folgeschäden und lang andauernden Leiden würden diese Einsätze verursachen im Verhältnis zum militärischen „Erfolg“ der Operation? Einzig eine Detonation ohne Kontakt des Feuerballs mit der Erdoberfläche (high-altitude oder Einsatz von Neutronenwaffen) über einer großen Ansammlung von gegnerischem Militärpotential in einer relativ dünn besiedelten Gegend erfüllt die grundsätzlichen Forderungen des Völkergewohnheitsrechts, da die Folgeschäden aufgrund zu vernachlässigendem Fallouts auf einem geringen Niveau bleiben. Allerdings müsste dann perfiderweise sichergestellt sein, dass alle Menschen, die dem Waffeneinsatz ausgesetzt sind, innerhalb sehr kurzer Zeit an den Folgen des Waffeneinsatzes sterben. Ansonsten hätte die Waffe wieder lang anhaltende und unnötige Leiden für die betroffenen Personen selber und für deren Nachkommen zur Folge. Ein Einsatz taktischer Atomwaffen erscheint aus den im zweiten Kapitel dargestellten Einsatzgrundsätzen häufig als völkerrechtlich bedenklich, da er eine bodennahe oder eine unterirdische Detonation erfordern würde. Den dabei massiv auftretenden Fallout und die unkontrollierte, lange Zeit anhaltende Schädigung der Umgebung sowie der Menschen zu verhindern, erscheint aus den oben beschriebenen Punkten unmöglich. In der Nähe dicht besiedelten Gebietes eingesetzt wirken diese Waffen somit stets unterschiedslos und würden zu unnötigen und lang andauernden Leiden führen.64 Die aktuellen Strategien westlicher Atommächte zum Einsatz taktischer Nuklearwaffen sind also äußert kritisch zu betrachten und sodann gewohnheitsrechtlich zu verurteilen, wenn sie die Bevölkerung unterschiedslos treffen. Daneben bergen aktuelle Einsatzstrategien westlicher Staaten, taktische Nuklearwaffen als Kriegsführungsmittel und nicht mehr als ultima ratio Mittel anzusehen, die eindeutige Gefahr eines Verlustes der Hemmschwelle, Nuklearwaffen überhaupt einzusetzen. Ebenso stellt das Festhalten an der Strategie der nuklearen Abschreckung auch im neuen strategischen Konzept der NATO ein Risiko dar, da durch Wegfall der Blockkonfrontation diesem Konzept ein Teil seines Fundamentes genommen wurde und diese Strategie bei bestimmten Gegnern heute keine Wirkung zeigt. Als noch problematischer ist die aktuelle Strategie der USA zu bewerten, gegen die sogenannten „Schurkenstaaten“ bei Bedarf Nuklearwaffen einzusetzen, wenn diese sich 64
Vgl. Lutz (1983), S. 25.
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nicht an die Regeln des Völkerrechts halten, also ein Einsatz als Repressalie.65 Diese Strategie ist völkergewohnheitsrechtlich stets abzulehnen, wenn es nicht um die Reaktion auf einen nuklearen Erstschlag geht. Ähnliche Tendenzen zeigten sich auch in der NATO (Dokument Towards a New Grand Strategy der ehemaligen NATO-Generalsekretäre, vgl. Kapitel II.3.) und deuteten eine mögliche Weiterentwicklung der NATO-Strategie hin zu einem asymmetrisch-nuklearen Konzept mit Erstschlagmöglichkeit an. Im neuen strategischen Konzept der NATO aus dem Jahr 2010 sind diesbezüglich keine Aussagen zu finden. Ob diese Tendenzen ins Gegenteil verkehrt werden, bleibt bei der Umsetzung des neuen strategischen Konzepts der NATO und der Entwicklung neuer Strategien der westlichen Staaten abzuwarten.66 Damit lässt sich feststellen, dass die Einsatzstrategien der westlichen Welt bezüglich der Nuklearwaffen bereits unter völkergewohnheitsrechtlichen Gesichtspunkten als äußerst fragwürdig zu bewerten, teilweise als völkerrechtswidrig anzusehen sind. Alle diese Strategien führen außerdem zu einer Destabilisierung, da die Hemmschwelle zur Produktion oder Anschaffung nuklearer Waffen gesenkt wird. Für „geächtete“ Staaten mag es notwendig erscheinen, selbst an Schutzmechanismen in Gestalt von Atomwaffen zu gelangen, wie das aktuelle Beispiel Nordkoreas aufzeigt.67 65
Vgl. Lutz (1983), S. 28 f., der einen Einsatz von Nuklearwaffen als Repressalie bereits als Zweitschlag aufgrund seiner langandauernden Wirkung als völkerrechtlich stark zweifelhaft ansieht. Betrachtet man im Vergleich dazu die aktuellen amerikanischen Strategien, so sind diese gegen Nichtnuklearstaaten gerichtet und würden einen nuklearen Erstschlag als Repressalie vorsehen, den Lutz eindeutig als völkerrechtswidrig einstuft. 66 Vgl. NATO (2010). Obwohl die NATO das Ziel der atomwaffenfreien Welt und eine weitere Reduzierung der Nuklearwaffen in Europa anstrebt, ist dieses doch an viele Bedingungen geknüpft und nur als Absichtserklärung niedergelegt. Die Frage der taktischen Nuklearwaffen sowie des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen wird nicht beleuchtet. Die NATO verlässt sich weiterhin auf das Mittel der nuklearen Abschreckung mittels strategischer Atomwaffen als dem Sicherheitsgaranten für die Mitgliedstaaten. 67 Dies eröffnet das Problem, dass die heutigen westlichen Nuklearstrategien eher zu einer weiteren Verbreitung von Nuklearwaffen führen können und damit allen Bemühungen, Nuklearwaffen aus dem Arsenal der Kriegsführungsmittel zu verbannen, entgegenstehen. Genauso ist äußerst kritisch zu bewerten, welchen Effekt der erstmalige Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe in einem Konflikt nach sich ziehen würde. Die Dammbruchwirkung könnte ein weiteres Absinken der Einsatzschwelle für diese Kampfmittel zu Folge haben und damit die Atomwaffen endgültig als normale Kampfführungsmittel etablieren. Der destabilisierende Effekt, den dieses auf die globale Sicherheitslage hätte, könnte verheerende Folgen nach sich ziehen. Dadurch muss die Frage gestellt werden, ob aktuelle Strategien der Nuklearmächte nicht schon deshalb teilweise als völkerrechtswidrig anzusehen sind, da sie zu einer Destabilisierung und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen führen können und damit dem Grundsatz der UN zu friedlicher Streitbeilegung entgegenstehen.
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2. Die Perspektive des Völkervertragsrechts Berücksichtigt man dazu die völkervertraglichen Verpflichtungen des ZPI, die von den Atommächten nicht als auf Nuklearwaffen anzuwenden anerkannt wurden, ferner das Urteil des IGH von 1996, das keinen rechtsverbindlichen Charakter hat, so wird der moralisch verpflichtende Rahmen deutlich eingeschränkt. Das ZPI setzt durch eine moralische Verpflichtung zur Einhaltung des Verhältnismäßigkeits- und Notwendigkeitsprinzips sowie zur Humanität und ständigen Unterscheidung zwischen Zivilisten und Militär engere Schranken der Einsatzmöglichkeiten.68 Durch das Gutachten des IGH wird der Einsatz von Nuklearwaffen auf einen einzigen Fall reduziert: eine extreme, die Existenz eines Staates bedrohende Selbstverteidigungssituation, worauf mit einem Nuklearschlag reagiert werden dürfte, allerdings nur, wenn ein militärisches Ziel anvisiert würde und die Verhältnismäßigkeit der Schädigung der Zivilbevölkerung im Vergleich zum militärischen Erfolg durch den Angriff gewahrt bliebe.69 Dies führt dazu, dass der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki nach Auffassung der Gerichts völkerrechtswidrig war, da sich die USA nicht in einer extremen Verteidigungssituation befanden und ihre Begründung, durch den Einsatz das Leben amerikanischer Soldaten geschont und den Krieg früher beendet zu haben, keinen Rechtfertigungsgrund darstellte. Jene Begründung ist schon deshalb als unmoralisch zu bewerten, da Tod und lang anhaltende Leiden hunderttausender japanischer Zivilisten billigend in Kauf genommen wurden. Daneben werden auch die Planungen, Nuklearwaffen als Repressalie einzusetzen, und die Verwendung taktischer Nuklearwaffen als Bunker68 So verstößt m. E. ein Atomwaffeneinsatz gegen Artikel 35 und Artikel 55 ZPI, indem er immer die Umwelt des Explosionsgebietes auf lange Zeit schädigt. Zum Beispiel ist das Bikiniatoll als ehemaliges Testgebiet noch heute in Teilen soweit verstrahlt, dass menschliches Leben dort nicht exisitieren kann. Wie würden die Verhältnisse im dichtbesiedelten Europa aussehen, wenn durch Nuklearwaffeneinsätze Teile des Gebietes und damit auch der Lebensgrundlagen wie Nahrung und Wasser auf lange Sicht kontaminiert werden. Die Langzeitauswirkungen auf die Bevölkerung wären verheerend. Und der langsame und qualvolle Strahlentod von Soldaten und Zivilisten, die nicht direkt durch die Explosion sterben, stellt sicherlich ein übermäßiges Leiden dar. Genauso ist es äußerst schwierig, in einem Konfliktgebiet, welches in heutigen Szenarien nicht von der Bevölkerung evakuiert ist, den in Artikel 51 ZPI festgeschriebenen Schutz der Bevölkerung sicherzustellen und diese nicht unterschiedslos durch den Einsatz nuklearer Kampfmittel in Mitleidenschaft zu ziehen. Vor allem Drohungen in aktuellen Konflikten, im Falle einer Völkerrechtsverletzung durch Gegner, diese Kampfmittel gegen ihn einzusetzen, stellt die Androhung einer Repressalie dar, die auch die Zivilbevölkerung treffen wird, was in Absatz 6 des Artikel 51 ZPI eindeutig verboten ist. Dies zeigt eine eindeutige moralische Verpflichtung für die Nuklearstaaten auf, aktuelle Tendenzen in ihren Einsatzstrategien zu überdenken. 69 Vgl. Safferling (1998), 191 f.
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knacker vom Gericht als völkerrechtswidrig eingestuft. Selbst die Abschreckungsstrategie der NATO ist nicht mehr rechtens, da das IGH sogar die Drohung mit dem Atomwaffeneinsatz außerhalb einer Gefahr für das Überleben, wie sie seit dem Ende des Warschauer-Paktes für die westlichen Staaten nicht mehr vorliegt, verbietet. Darüber hinaus wird aktuellen Tendenzen der westlichen Welt, mit einem präventiven Einsatz von Nuklearwaffen zu drohen, wie durch die USA im Irak-Krieg 1993 geschehen, oder ihn gar zu realisieren, eine moralische Absage erteilt.70 Selbst für einen Staat wie Israel, der in einer Verteidigungssituation gegenüber der arabischen Welt in seinem Überleben bedroht sein kann, ist nach diesen Maßgaben ein Einsatz einer nuklearen Verteidigung moralisch nicht erlaubt, solange die USA und die westliche Welt als Schutzmächte hinter Israel stehen und mit dem dadurch aufgebauten konventionellen Schutzschild Israels Sicherheit gewährleisten können. Dies zeigt, dass bei einer existenz bedrohenden Verteidigungssituation – gemäß Gutachten des IGH – eine konventionelle Verteidigungsmöglichkeit zuerst gewählt werden muss. Die Ausnahme der nuklearen Verteidigung, wenn keine konventionelle Möglichkeit existiert, muss anschließend den Grundsätzen des HVR genügen.
V. Fazit Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Völkergewohnheitsrecht bereits den Einsatz nuklearer Kampfmittel einschränkt, allerdings nur relativ weiche Regeln dafür aufstellt. Das daraus resultierende Problem einer fehlenden klaren Regelung wird durch unterschiedliche Auslegungen der Rechtstexte bezüglich des Einsatzes von Nuklearwaffen weiter verstärkt. Dennoch existieren umfangreiche moralische Verpflichtungen durch das ZPI und das IGH Gutachten, die einen Einsatz dieser Waffen grundsätzlich als völkerrechtswidrig klassifizieren. Vor dem Hintergrund ihrer destabilisierenden Wirkung stellt sich auch die Frage nach der Völkerrechtskonformität aktueller Strategien zum Einsatz dieser Kampfmittel, denn die Auswirkungen widersprechen dem Grundgedanken der UN-Charta einer friedlichen Streitbeilegung. Aber es gibt auch einen Silberstreif am Horizont. Immer mehr einflussreiche Stimmen, deren prominentester Unterstützer der US-amerikanische Präsident Barack Obama ist, fordern öffentlich eine neue Politik, die als langfristiges Ziel eine nuklearwaffenfreie Welt verfolgt. Die NATO hat dieses Ziel in ihrem neuen strategischen Konzept aus dem November 2010 aufgegriffen, wenngleich sie weiterhin an der nuklearen Abschreckung als 70 Vgl. zu den Beispielen Deiseroth (2005), S. 440; Paech (1996), S. 186 und Falk (1997), S. 332.
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dem Grundpfeiler der derzeitigen Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten festhält. Nun muss die Umsetzung dieses Konzeptes in den entsprechenden Strategien vor allem der Nuklearwaffenstaaten selbst erfolgen und es bleibt zu hoffen, dass die Stimmen, die die Abschaffung der Atomwaffen fordern, gehört werden und sie langfristig zu einem Umdenken in der Nuklearwaffenfrage führen. Literatur Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (1991): Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten. o. O. o.V. Deiseroth, Dieter (2005): Atomwaffen und Völkerrecht. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 50 (2005), H. 4, S. 437–445. Diehl, Sarah J./Clay Moltz, James (2002): Nuclear Weapons and Nonproliferation: A Reference Book. Santa Barbara, ABC-Clio Inc. Empell, Hans-Michael (1993): Nuklearwaffeneinsätze und humanitäres Völkerrecht. Die Anwendbarkeit des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1949 aus Nuklearwaffeneinsätze. Heidelberg, Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft. Empell, Michael (1989): Völkerrecht und nukleare Abschreckung: Die Auseinandersetzung um das I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1977 und seine Anwendung auf Nuklearwaffen. In: Leger Sivard, Ruth (Hrsg.): Militärpolitik Dokumentation, H. 65–67. Frankfurt am Main, Haag und Herchen. Falk, Richard (1997): Nuklearwaffen, Völkerrecht und der Internationale Gerichtshof; ein historisches Zusammentreffen. In: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof: Dokumentation – Analysen – Hintergründe. Münster, S. 325–340. Fischer, Horst (1985): Der Einsatz von Nuklearwaffen nach Art[ikel] 51 des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1949: Völkerrecht zwischen humanitärem Anspruch u. militärpolit. Notwendigkeit. Schriften zum Völkerrecht, Band 82. Berlin, Duncker und Humblot. Gasser, Hans-Peter (2008): Humanitäres Völkerrecht – Eine Einführung. Zürich u. a.: Schultheiss Juristische Medien AG; Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG: Baden-Baden. Greenwood, Christopher (1994): Geschichtliche Entwicklung und Rechtsgrundlagen. In: Fleck, Dieter (Hrsg.): Handbuch des humanitären Völkerrechts. München, C. H. Beck’sche Verlagbuchhandlung, S. 1–34. Kimminich, Otto (1969): Völkerrecht im Atomzeitalter – Der Atomsperrvertrag und seine Folgen. Freiburg im Breisgau, Verlag Rombach. Kornelius, Stefan/Winter, Martin (2010): Alte Aufgaben, neue Ziele. Die Nato betont ihre Rolle als Verteidigungsbündnis, will sich aber auch der atomaren Abrüstung widmen, in: Süddeutsche Zeitung, 13. Oktober 2010, S. 7.
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Die Tötung Unschuldiger in Extremsituationen Gedanken eines Offiziers zum Konflikt zwischen geltendem Recht und dem eigenen moralischen Urteil im Kontext der Luftsicherheit Von Ingo Stüer
I. Einleitung Durch die Terroranschläge des 11. September 2001, spätestens aber durch den Luftzwischenfall in Frankfurt/Main am 5. Januar 2003 ist die Möglichkeit, zivile Luftfahrzeuge als terroristische Angriffswaffen gegen zivile Objekte zu verwenden, als reale Bedrohung der Sicherheit in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gedrungen.1 Der Eintritt eines Szenarios, in dem die Abwehr einer solchen Gefahr und damit die Rettung der am Boden bedrohten Menschen einzig durch den Abschuss des entführten Flugzeuges und die Tötung der unschuldigen Besatzungsmitglieder und Passagiere erfolgen kann, erscheint nunmehr möglich. Diese Entwicklung erzeugt nicht nur einen Handlungs- und Regelungsdruck für den die Sicherheit seiner Bürger garantierenden Staat, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob es erlaubt sein kann, in Extremsituationen Unschuldige zu töten oder deren Tötung in Kauf zu nehmen, um andere unschuldige Menschen zu retten. Im Folgenden soll der Frage nach einer Rechtfertigung der Tötung Unschuldiger im Kontext der Luftsicherheit nachgegangen und ein möglicher Konflikt zwischen geltender Rechtslage und dem persönlichen moralischem Urteil aufgezeigt und bewertet werden. Insofern wird der Blick auf die Entscheidungsträger fokussiert: auf den zuständigen Bundesminister, der über die Erteilung eines Abschussbefehls zu entscheiden hat, und auf den das Kampfflugzeug führende Offizier, der entscheiden muss, ob er diesen Befehl ausführt. Ferner soll vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes zwischen Recht und Moral die Frage nach den an die Handelnden gestellten Anforderungen behandelt werden.
1
Vgl. Gramm (2003), S. 89–101.
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II. Die Tötung Unschuldiger aus rechtlicher Sicht 1. Völkerrechtliche Legitimation der Tötung Unschuldiger Das Recht auf Leben wird schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (AEMR) als grundlegendes Menschenrecht deklariert.2 In der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wird das Recht auf Leben als einklagbares Schutzrecht formuliert: „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt.“3 Außerdem beinhaltet der Artikel ein ausdrückliches Tötungsverbot, das allerdings nicht absolut gilt, da die Tötung in bestimmten Fällen nicht als Verletzung dieser Norm angesehen wird. Dies ist der Fall, wenn die Tötung „durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.“4 Ferner wird durch Art. 15 Abs. 2 EMRK festgelegt, dass im Notstandsfall von diesem Tötungsverbot infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen abgewichen werden darf.5 Das Recht auf Leben und das Verbot der Tötung Unbeteiligter ist dennoch auch in bewaffneten Konflikten6 im Sinne des humanitären Völkerrechts nicht aufgehoben. Es gilt das Diskriminationsprinzip, d.h. die strikte Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung. Angriffe der Konfliktparteien dürfen sich nur gegen legitime militärische Ziele 2 AEMR Art. 3: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ 3 EMRK Art. 2 Abs. 1 Satz 1. 4 EMRK Art. 2 Abs. 2 EMRK. Die Vollstreckung der Todesstrafe als Ausnahme des Tötungsverbotes in Art. 2 Abs. 1 wurde durch das 6. Zusatzprotokoll zur EMRK vom 1. März 1985 abgeschafft. 5 „Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegs-handlungen und von Artikel 3, Artikel 4 (Absatz 1) und Artikel 7 in keinem Fall abgewichen werden.“ 6 Die Charta der Vereinten Nationen (VN-Charta) untersagt den Mitgliedstaaten jegliche Androhung und Ausübung von Gewalt (Art. 2 Ziff. 4). Ausnahmen sind die zur Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates der VN (Art. 42) sowie das staatliche Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung im Falle eines „bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“ (Art. 51). Entstanden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beziehen sich das Völkerrecht und die behandelten Normen zunächst auf den zwischenstaatlichen Krieg, d.h. den durch Raum und Zeit determinierten Kampf gegen einen klar erkennbaren und völkerrechtlich anerkannten Gegner. Allerdings wird diese „Zwischenstaatlichkeitsklausel“ in Art. 51 nicht explizit aufgeführt.
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richten:7 „Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein.“8 Gleichwohl schließt das humanitäre Völkerrecht nicht aus, dass bei der Bekämpfung eines legitimen militärischen Ziels Unbeteiligte betroffen sein können. In diesem Falle ist das Proportionalitätsprinzip zwingend zu beachten, d.h. der durch den Angriff erwartete und unmittelbare militärische Vorteil muss in einem rechtfertigenden Verhältnis zum erwarteten Verlust an Leben Unbeteiligter stehen.9 Um den Abschuss eines durch Terroristen entführten zivilen Verkehrsflugzeuges und die implizite Tötung der unschuldigen Besatzungsmitglieder und Passagiere aus völkerrechtlicher Sicht zu rechtfertigen, muss es sich bei der Tat um die Bekämpfung eines legitimen militärischen Ziels im Zuge eines bewaffneten Konflikts im Sinne des Völkerrechts handeln. Das Phänomen des Terrorismus und die kriegsähnliche Bedrohung durch nicht staatliche Terrornetzwerke sowie deren Bekämpfung in kriegsähnlichen Formen, d.h. durch die Ausübung militärischer Gewalt, werden jedoch vor dem normativen Hintergrund eines zwischenstaatlich verstandenen Völkerrechts nicht erfasst. Im Zuge des Diskurses über eine erforderliche Anpassung des Völkerrechts ist zu diskutieren, ob und unter welchen Bedingungen eine terroristische Angriffshandlung das Recht zur staatlichen Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln nach Art. 51 VN-Charta10 auslöst. Gelänge es, die terroristische Handlung des hier behandelten Szenarios als eine solche völkerrechtlich anerkannte Angriffshandlung zu klassifizieren, wäre das entführte Passagierflugzeug mit samt seiner Insassen ein legitimes militärisches Ziel, d.h. unter Wahrung des Proportionalitätsprinzips könnte der Abschuss und die implizite Tötung der Unschuldigen völkerrechtlich gerechtfertigt werden. Eine solche Qualifizierung nichtstaatlicher terroristischer Gewaltakte ist jedoch umstritten.11
7 Vgl. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I). 8 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II), Art. 13 Abs. 2 Satz 1. 9 Vgl. Zusatzprotokoll (Protokoll I). 10 „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ VN-Charta Art. 51 S. 1. 11 In der Debatte wird vielfach die Auffassung vertreten, dass eine Angriffshandlung unabhängig von ihrem Zerstörungspotenzial als Verbrechen anzusehen sei und somit dem internationalen Strafrecht unterliege, wenn sie keinem Staat respektive einem vergleichbaren völkerrechtlichen Subjekt zuzuordnen ist.
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2. Das Grundrecht auf Leben aus verfassungsrechtlicher Sicht Die deutsche Verfassung schreibt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 S. 112 als Grundrecht fest. Allerdings folgt aus dem Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG13, dass das Lebensrecht nicht absolut geschützt ist.14 Da gegenüber dem Recht auf Leben seitens des Staates sowohl eine Achtungs- als auch eine Schutzpflicht besteht, stellt sich die Frage, ob verfassungsrechtlich in Konfliktsituationen die Abwägung zwischen den Folgen der staatlichen Handlung im Rahmen der Umsetzung der Schutzpflicht einerseits und der Unterlassung zur Umsetzung der Achtungspflicht andererseits erlaubt ist.15 Die in einer Reihe von Polizeigesetzen unter dem Begriff „Finaler Rettungsschuss“ geschaffenen Eingriffsgrundlagen beantworten diese Pflichtenkollision mit einer Entscheidung zu Gunsten der Schutzpflicht, in dem sie unter bestimmten Voraussetzungen den polizeilichen Todesschuss gestatten.16 Es gibt jedoch keine verfassungsrechtliche Norm, die eine Tötung Unbeteiligter rechtfertigt.17 Es bleibt die Frage, ob es in Extremsituationen außerhalb des Verteidigungsfalles erlaubt sein kann, Leben gegen Leben abzuwägen und in der Folge Unschuldige zu töten, um Unschuldige zu retten. Eine Antwort findet sich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Luftsicherheitsgesetz. 3. Das Luftsicherheitsgesetz Am 11. Januar 2005 beschloss der Bundestag das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) zum „Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, 12
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ 14 Im Rahmen der Gefahrenabwehr ist eine Tötungshandlung insbesondere durch die strafrechtlichen Normen der Notwehr (§ 32 StGB) und des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) sowie polizeigesetzlich durch die Ermächtigung zum „finalen Rettungsschuss“ (§ 54 II bwPolG) gerechtfertigt. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Angriff bzw. die Gefahr gegenwärtig ist, die Tötungshandlung die einzige Möglichkeit zur Gefahrenabwehr darstellt und das Kriterium der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird, indem „das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“ (§ 34 StGB). 15 Vgl. Bernstorff (2008), S. 25. 16 Vgl. Bernstorff (2008), S. 27. 17 Dies bedeutet keinen Widerspruch zwischen Verfassungsrecht und humanitärem Völkerrecht, denn neben der grundsätzlichen Regelung des Verhältnisses von Völkerrecht und Bundesrecht in Art. 25 GG hat das BVerfG u. a. festgestellt, „dass der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rückwirkungen auf die Bevölkerung bei einem völkerrechtsmäßigen Einsatz von Waffen gegen den militärischen Gegner im Verteidigungsfall nicht umfasst.“ BVerfGE 77, 170 (221). Vgl. Wiefelspütz (2008), S. 81 und Ladiges (2008), S. 5. 13
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insbesondere vor Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen.“18 Dieses Gesetz sollte in der Hauptsache die rechtliche Regelung für den Einsatz der Bundeswehr bilden, die allein über die geeigneten Mittel verfügt, um einen entsprechenden Angriff aus der Luft erfolgreich abwehren zu können. Durch § 14 Abs. 3 LuftSiG19 sollte die Bundeswehr ermächtigt werden, Luftfahrzeuge abzuschießen, die als Waffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden. Diese Maßnahme sollte nur durch den Bundesminister der Verteidigung oder das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung angeordnet werden können.20 Für das Szenario eines durch Terroristen entführten Verkehrsflugzeuges, das aller Wahrscheinlichkeit nach als Tatwaffe zum Angriff auf eine Einrichtung am Boden benutzt werden soll, hieße dies, dass die Tötung der Besatzung und der Passagiere erlaubt wäre, um das Leben der Menschen am Boden zu schützen. Im Verfahren über die gegen diese Abschussermächtigung eingelegte Verfassungsbeschwerde erklärte das BVerfG abschließend in seinem Urteil vom 15. Februar 200621 § 14 Abs. 3 LuftSiG für mit dem Grundgesetz unvereinbar. a) Die Tötung Unschuldiger ist verfassungswidrig Losgelöst von der Frage nach der Ermächtigungsgrundlage zum Einsatz der Streitkräfte22 und der resultierenden fehlenden Gesetzgebungsbefugnis 18
LuftSiG § 1. „Die unmittelbare Einwirkung von Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“ 20 „Die Maßnahme nach Absatz 3 kann nur der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung anordnen. Im Übrigen kann der Bundesminister der Verteidigung den Inspekteur der Luftwaffe generell ermächtigen, Maßnahmen nach Absatz 1 anzuordnen. LuftSiG § 14 Abs. 4. 21 BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006, Absatz-Nr. 1–156), http://www.bverfg. de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html (zuletzt aufgerufen am 7. Juli 2011). 22 Da der Einsatz der Bundeswehr nach LuftSiG als Gefahrenabwehr im Luftraum der Bundesrepublik Deutschland auf der Ermächtigungsgrundlage des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG basiert, d.h. im Rahmen des Katastrophennotstands zur Anwendung kommen muss (vgl. Wiefelspütz (2008), S. 49), befasst sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausschließlich mit dem nichtkriegerischen Luftzwischenfall, also mit einem verbrecherischen Angriff, der außerhalb der Verteidigung liegt. In Konsequenz dessen ist ein Kampfeinsatz mit spezifisch militärischen Waffen, selbst wenn der durch die Terroristen beabsichtigte Flugzeugabsturz die Eigenschaft 19
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des Bundes erklärt das BVerfG § 14 Abs. 3 LuftSiG für unvereinbar mit dem durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG garantierten Recht auf Leben in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG23, wenn durch den Einsatz von Waffengewalt unschuldige, tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeuges betroffen sind. Das Urteil präzisiert, dass die Besatzungsmitglieder und Passagiere des Luftfahrzeuges eine Verdinglichung und zugleich Entrechtlichung erfahren, da sie sich in einer ausweglosen Lage befinden, in der sie ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen beeinflussen können. Somit werden sie auch durch den Staat, im Rahmen seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer, auf den Status eines bloßen Objekts degradiert. Mit Blick auf die Menschenwürdegarantie des Staates ist es für das BVerfG „schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten.“24 Der Abschuss eines Luftfahrzeuges, in dem sich ausschließlich die Entführer befinden, steht laut BVerfG hingegen nicht im Widerspruch zur Menschenwürdegarantie des Staates. Analog zu den dem „Finalen Rettungsschuss“ zu Grunde liegenden Fallkonstellationen haben sich die Entführer hierbei selbstbestimmt außerhalb des Rechts gestellt und werden dafür in Verantwortung genommen. Der Rechtsbrecher kann sich jederzeit in den Rahmen des Rechts zurückbegeben und somit ein staatliches Eingreifen und seine Tötung abwenden. Das Ziel des § 14 Abs. 3 LuftSiG, die Rettung der Leben der unschuldigen Menschen am Boden, rechtfertigt daher nach Auffassung des BVerfG in diesem Fall den schwerwiegenden Eingriff des Staates in das Grundrecht auf Leben der Täter. Da es jedoch bereits an der Ermächtigungsgrundlage zum Einsatz der Streitkräfte fehlt, bleibt diese Regelung des LuftSiG ohne Bestand. eines besonders schweren Unglücksfalles im Sinne des Art. 35 GG erfüllt, nicht zulässig. Das Verfassungsrecht erlaubt den Einsatz der Streitkräfte in diesem Fall nur unterstützend, damit die Länder die ihnen im Rahmen der Gefahrenabwehr obliegende Aufgabe der Bewältigung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen wirksam erfüllen können. Im Sinne dieses verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips dürfen nach herrschender Meinung die Mittel zur Unterstützung nicht von qualitativ anderer Art sein als diejenigen, die den Polizeikräften der Länder für die Erledigung ihrer Aufgaben originär zur Verfügung stehen (vgl. Gramm (2003), S. 96). Dies bedeutet, dass der Abschuss eines zivilen Luftfahrzeuges durch die Bundeswehr, unabhängig von der Frage wer sich an Bord befindet oder ob es sich gar um ein unbemanntes Luftfahrzeug handelt, unvereinbar ist mit Art. 35 GG. 23 „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ 24 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 11/2006 zum Urteil 1 BvR 357/05 vom 15.02.2006.
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b) Ein eindeutiges Urteil – mit Einschränkungen Das BVerfG schränkt das Urteil auf „Friedenszeiten“ ein: das LuftSiG ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, „soweit vom Abschuss eines Luftfahrzeuges Personen betroffen werden, die als dessen Besatzung und Passagiere auf die Herbeiführung des [. . .] vorausgesetzten nichtkriegerischen Luftzwischenfalls keinen Einfluss genommen haben.“25 Geleitet wird das BVerfG von der Auffassung, dass die Menschenwürde als tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Wert der Verfassung26 die Wurzel aller Grundrechte und mithin mit keinem Einzelgrundrecht – in diesem Fall dem Recht auf Leben – abwägungsfähig sei.27 Das BVerfG sieht das menschliche Leben als die „vitale Basis der Menschenwürde“28, das Urteil zum LuftSiG thematisiert jedoch nicht explizit, ob dadurch, dass der Staat seiner Schutzpflicht gegenüber den potenziellen Opfern am Boden nicht nachkommt, nicht nur deren Recht auf Leben, sondern auch deren Würde verletzt wird.29 Der Fokus liegt vielmehr auf der Kollision von staatlicher Achtungs- und Schutzpflicht. Der staatlichen Verpflichtung, Leben und Würde der Menschen am Boden zu schützen, steht die Pflicht zur Achtung der Würde der Unschuldigen an Bord des Flugzeuges gegenüber. Das Urteil impliziert, dass eine Abwägung zu Gunsten der Umsetzung der Schutzpflicht nicht zulässig ist, wenn die Verletzung der Achtungspflicht zugleich eine Verletzung der Garantie der Menschenwürde darstellt.30 Die Rechtsordnung darf daher keine Norm enthalten, die einen solchen Eingriff legitimiert.31 Offen bleiben die Bewertung im Falle eines Einsatzes kriegerischer Art und die Frage, ob die Tötung von Unbeteiligten in diesem Fall gegen die Menschenwürde und das Recht auf Leben verstieße.32 Das BVerfG trifft keine Aussagen darüber, wie und in Bezug auf welche Kriterien der kriegerische vom nichtkriegerischen Luftzwischenfall zu unterscheiden ist. Ferner stellt es explizit fest, dass es im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG „nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung 25
BVerfG, 1 BvR 357/05, a. a. O., Randziffer 122. Vgl. dass., Randziffer 119. 27 Vgl. BVerfGE 93, 266 (293) (oder Zitierung: BVerfG, 1 BvR 102/92 vom 10.10.1995). 28 BVerfG, 1 BvR 357/05, a. a. O., Randziffer 119. 29 Vgl. Bernstorff (2008), S. 25. 30 Vgl. Bernstorff (2008), S. 25. 31 Zum verfassungsrechtlichen Verhältnis von Menschenwürde und Leben siehe Lepsius (2006), S. 59–64. 32 Einen Hinweis auf die Möglichkeit des Eingriffs in das Recht auf Leben für diesen Fall des kriegerischen Einsatzes bzw. Angriffs gibt die EMRK (siehe Kapitel II.1.). Auch im Völkerrecht existiert kein absolutes Verbot der Tötung von Unbeteiligten. Vgl. Ladiges (2008), S. 1–15. 26
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der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind“33, geht. Das Urteil des BVerfG äußert sich folglich nicht zu der Frage, ob in einem solchen Fall eine solidarische Einstandspflicht besteht, d.h. dass „von den Bürgern verlangt werden kann, ihr Leben zu opfern.“34 Schließlich lässt das Gericht die strafrechtliche Beurteilung offen, indem es ausführt, dass es nicht zu entscheiden sei, „wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wäre.“35 4. Zwischenfazit der rechtlichen Betrachtung Das BVerfG hat in seinem Urteil zum LuftSiG klargestellt, dass es keine verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz der Streitkräfte zur Abwehr eines durch Terroristen entführten und als Waffe missbrauchten Luftfahrzeuges im Rahmen des Katastrophennotstandes gibt und die Tötung der an Bord befindlichen Besatzung und der unbeteiligten Passagiere unzulässig ist. Die Tötung der Unschuldigen könnte unter Umständen nur dann rechtlich legitimiert werden, wenn es sich um einen kriegerischen Luftzwischenfall handelte und die Streitkräfte zur Verteidigung gemäß den grundgesetzlichen Vorgaben36 unter Geltung des humanitären Völkerrechts eingesetzt werden könnten. Das Luftfahrzeug würde zu einem legitimen militärischen Ziel, der Abschuss und die Tötung der Unschuldigen wäre unter den in Kapitel II.1 genannten Bedingungen gerechtfertigt. Auf die Diskussion um den „offenen Verfassungsbegriff“37 der „Verteidigung“ und eine mögliche Grundgesetzänderung kann hier nur verwiesen werden. Eine grundlegende rechtliche Entscheidung, ob im behandelten Fall das humanitäre Völkerrecht anzuwenden ist, ist unerlässlich. Bis zu einer eindeutigen Klarstellung gilt, dass für das hier relevante Szenario der Abschuss des Luftfahrzeuges und die Tötung der Unschuldigen rechtlich nicht erlaubt sind. Ohne an dieser Stelle auf befehlsrechtliche Grundlagen eingehen zu können, ist festzustellen, dass der konkrete Befehl zum Abschuss eines durch Terroristen entführten Passagierflugzeuges im Sinne des Soldatengesetzes (SG)38 und 33
BVerfG, 1 BvR 357/05, a. a. O., Randziffer 159. Papier (2008), S. 24. 35 BVerfG, 1 BvR 357/05, a. a. O., Randziffer 130. 36 Die Befugnisse der Streitkräfte werden durch Art. 87a GG geregelt. 37 Baldus (2004), S. 1280. 38 Gemäß § 11 Soldatengesetz (SG) besteht für den Soldaten Gehorsamspflicht. Ein Befehl ist „nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen“ (§ 11 Abs. 1 Satz 2 SG). Jeder Befehl ist jedoch auf seine Rechtmäßigkeit und Verbindlichkeit zu prüfen. § 10 Abs. 4 SG regelt im Rahmen der Pflichten des Vorgesetzten die Kriterien für die Rechtmäßigkeit eines Befehls. Der Vorgesetzte „darf Befehle nur zu dienst34
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einschlägiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG)39 rechtswidrig und unverbindlich ist, da seine Ausführung durch die Tötung Unschuldiger einen nationalen Straftatbestand erfüllt und zudem die Würde der im Luftfahrzeug befindlichen unschuldigen Passagiere verletzt. Die Unverbindlichkeitsgründe lassen dem Befehlsempfänger keinen rechtlichen Ermessensspielraum, der Soldat darf den Abschussbefehl nicht befolgen.40 lichen Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen“ (§ 10 Abs 4 SG). Auch ein erteilter nicht rechtmäßiger Befehl ist zunächst verbindlich und damit durch den Befehlsempfänger auszuführen. Dennoch ergeben sich aus dem Grundgesetz und dem Soldatengesetz rechtliche Grenzen der militärischen Befehlsbefugnis. 39 Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in seinem Urteil zur Gehorsamsverweigerung aufgrund eines Gewissenskonfliktes (BVerwG 2 WD 12.04 vom 21. Juni 2005/BVerwGE 127, 302) die Unverbindlichkeitsgründe eines Befehls in sieben Untergruppen zusammengefasst. Im Rahmen dieser Arbeit sind hierbei vier Fallgruppen herauszuheben. Unverbindlich sind Befehle, durch deren Ausführung die Menschenwürde des Soldaten oder von der Ausführung betroffener Dritter verletzt wird. Weiterhin gelten alle Befehle, die nicht zur Erfüllung eines dienstlichen Zwecks erteilt werden, als unverbindlich. Gemäß BVerwG ist ein Befehl „nur dann in diesem Sinne zu ‚dienstlichen Zwecken‘ erteilt, wenn ihn der militärische Dienst erfordert, um die durch die Verfassung festgelegten Aufgaben der Bundeswehr zu erfüllen“ (BVerwGE 127, 302 (313 f.)). Das BVerwG erläutert hierbei, dass sich die primäre Aufgabe der Bundeswehr auf die „Verteidigung“ beziehe. Mit Bezug auf das erweiterte Aufgabenspektrum der Bundeswehr ist der Begriff Verteidigung an Art. 51 der UN-Charta zu koppeln. Hierbei wird deutlich, dass es sich um die Verteidigung gegen einen militärischen Angriff von „Außen“ handeln muss, wodurch das Recht zur – auch „kollektiven“ – Selbstverteidigung ausgelöst wird. Außer „zur Verteidigung“ im dargelegten Sinne dürfen die Streitkräfte der Bundeswehr, wie die Verfassungsnorm des Art. 87a Abs. 2 GG zwingend bestimmt, nur eingesetzt werden, soweit dies das Grundgesetz ausdrücklich zulässt. Ferner sind Befehle unverbindlich, die gegen § 11 Abs. 1 Satz 2 SG verstoßen, indem ihre Ausführung einen nationalen Straftatbestand oder ein Delikt des Völkerstrafrechts darstellt. Vgl. BVerwGE 127, 302 (313 f.). Schließlich ist ein Befehl für einen Untergebenen auch dann unverbindlich, „wenn ihm die Ausführung nach Abwägung aller maßgeblichen Umstände nicht zugemutet werden kann“ (BVerwGE 127, 302 (318)). Das BVerwG sieht die Unverbindlichkeit dann gegeben, wenn der Befehl „unzumutbar tief in das Persönlichkeitsrecht des Soldaten eingreift“ (BVErwG, Urteil vom 25. Juni 2005, S. 37 – in BVerwGE 127, 302 nicht aufgeführt). Es verweist des Weiteren auf die truppendienstgerichtliche Rechtsprechung, „dass ein vom Gewissen (Art. 4 Abs. 1 GG) eines Soldaten aufgegebenes Gebot, bestimmte Einzelhandlungen zu unterlassen, die ‚Unzumutbarkeit‘ rechtfertigen kann“ (BVErwG, Urteil vom 25. Juni 2005, S. 38 – in BVerwGE 127, 302 nicht aufgeführt). Vgl. dazu auch Gillner (2008), S. 25–27. 40 Bei Vorliegen eines Unverbindlichkeitsgrundes wird zwischen Befehlen unterschieden, die nach Ermessen des Befehlsempfängers ausgeführt werden dürfen und deren Ausführung verboten ist. Beispiel: Ein durch einen fehlenden dienstlichen
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III. Konflikt zwischen Recht und Moral? Die Rechtsnormen unserer Gesellschaft widerspiegeln im Idealfall deren moralische Überzeugungen.41 Diese Übereinstimmung zwischen Recht und Moral ist auch Grundlage des Befehlsrechts. Bezüglich der Frage, ob diese Übereinstimmung zwischen Recht und Moral im hier behandelten Fall gegeben ist, erscheint eine genauere Betrachtung des Szenarios hilfreich. Die rechtliche Bewertung ist eindeutig. Abgesehen von der fehlenden Ermächtigungsgrundlage: das Recht erlaubt die Tötung der unschuldigen Besatzung und der unbeteiligten Passagiere nicht. Ein entsprechender Befehl darf nicht befolgt werden. Angenommen, das Passagierflugzeug steuerte auf ein voll besetztes Fußballstadion zu. Stürzte es hinein, wäre mit tausend, sogar zehntausend Opfern unter den unschuldigen Zuschauern zu rechnen. Ein Abschuss durch ein Kampfflugzeug der Bundeswehr könnte diese Gefahr abwenden. Darf das Leben von einhundert Passagieren geopfert werden, um zehntausend zu retten? Dürfen einhundert Unschuldige geopfert werden, wenn das Luftfahrzeug auf ein Atomkraftwerk zusteuert? Soll der Bundesminister der Verteidigung den Abschuss trotz widersprechender Rechtslage befehlen? Und soll der Offizier an Bord des Kampfflugzeuges den Befehl ausführen, das Recht brechen und eine Straftat begehen? Es ist vorstellbar, dass es Konstellationen gibt, in denen – trotz der generellen Nichtabwägbarkeit des menschlichen Lebens – das Opfern vieler zum Schutze weniger für geboten gehalten wird. Der Konflikt zwischen einer geltenden Rechtsnorm und der moralischen Intuition, d.h. der Vorstellung über das gesollte Verhalten in Bezug auf andere Menschen, stellt eine äußerst unbefriedigende Situation dar, die insbesondere in Extremfällen mit hohen Anforderungen an die Fähigkeit des Einzelnen zur moralischen Urteilsbildung verknüpft ist. Die Rechtsordnung erklärt das Gut des Lebens Unschuldiger für prinzipiell nicht abwägungsfähig im Sinne quantitativer Aufrechnungen und Nützlichkeitserwägungen, während die moralische Intuition genau dies in Ausnahmefällen für erlaubt, ja womöglich sogar für geboten halten könnte. In diesem Konflikt wird die Entscheidung über das Handeln auf das Gewissen der beteiligten Personen zurückgeworfen. Der Einzelne kann eine Entscheidung treffen, die nicht legal, jedoch moralisch zu rechtfertigen ist.
Zweck nicht rechtmäßiger und unverbindlicher Befehl darf ausgeführt werden, ein nicht rechtmäßiger und unverbindlicher Befehl, dessen Ausführung den Tatbestand einer Straftat erfüllt, darf nicht ausgeführt werden. 41 Vgl. Fritze (2004), S. 159.
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IV. Ethische Perspektive Stand im Zuge der rechtlichen Betrachtung bisher das staatliche Handeln im Vordergrund, soll im Folgenden betrachtet werden, ob es moralisch erlaubt sein kann, Unschuldige zu töten. Im Rahmen des betrachteten Szenarios stehen zwei Personen als Entscheider im Vordergrund: der über die Erteilung des Abschussbefehls entscheidende zuständige Bundesminister und der im Weiteren besonders betrachtete, das Kampfflugzeug führende Offizier, der über die Befehlsausführung und letztlich über Handeln oder Nichthandeln entscheidet. 1. Verantwortlichkeit und moralische Urteilsfähigkeit des Soldaten Ein Soldat im Allgemeinen und in diesem Fall der das Kampfflugzeug führende Offizier im Besonderen besitzt eine hierarchische und eine nichthierarchische Verantwortung. Neben der Verantwortung, die sich aus seiner Position und Funktion innerhalb der Befehlshierarchie ergibt, kann der Offizier als moralisches Subjekt nicht von der Verantwortung entbunden werden, die er gegenüber allen Menschen (auch außerhalb der Befehlshierarchie) trägt, insofern sie durch seine Handlungen betroffen sind.42 Um Widersprüche zwischen diesen beiden Verantwortlichkeiten zu vermeiden, muss es möglich sein, einen unrechtmäßigen und unmoralischen Befehl innerhalb der Konventionen der hierarchischen Verantwortung43 zu verweigern. Als Konsequenz besteht, durch Rechtsprechung des BVerwG bestätigt44, die Gehorsamspflicht nur dann, wenn das Befolgen des Befehls dem Gewissen des Ausführenden nicht widerspricht und somit in Einklang mit dessen eigener moralischer Bewertung der Situation steht. Unabhängig von Existenz und Inhalt (Abschuss oder Schießverbot) eines ihm erteilten Befehls ist der Offizier in der dargestellten Extremsituation verpflichtet, vor dem Hintergrund seiner Kenntnis von Pflichten und Verpflichtungen und seiner individuellen Wahrnehmung der Situation, ein moralisches Urteil zu fällen, welches seiner hierarchischen und nicht-hierarchischen Verantwortung gerecht wird. Der negativen Pflicht, Unschuldige nicht zu töten steht im betrachteten Fall die positive Pflicht gegenüber, unschuldige Menschen am Boden zu schützen. Ferner ist zu beachten, dass Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit der Bundeswehr den folgenden Diensteid leisten: „Ich 42
Vgl. Walzer (2003), S. 56 ff. Vgl. Walzer (2003), S. 56. 44 Vgl. BVerwGE 127, 302. Zum Umgang mit dem Urteil in der Bundeswehr siehe Gillner (2009). 43
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schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.“45 Das Volk bildet somit einerseits die legitimierende Grundlage der Hierarchie, zum anderen ist es Schutzobjekt. Bei der Betrachtung der moralischen Rechtfertigung des Abschusses ist also nicht nur zu bedenken, dass es sich um die verbotene Tötung Unschuldiger handelt, die im Rahmen der nicht-hierarchischen Verantwortung zu schützen wären, sondern dass sich, im deutschen Luftraum aller Wahrscheinlichkeit nach, der Eingriff auch gegen Unschuldige richtet, an die der Offizier durch seinen Eid auch innerhalb der Hierarchie gebunden ist und deren Schutz seine zentrale, ihn als Soldat legitimierende Aufgabe darstellt. Die Frage „Soll ich die Passagiermaschine abschießen und mithin die an Bord befindlichen Unschuldigen töten, um die potenziellen Opfer des Anschlages zu retten oder soll ich es unterlassen?“ macht deutlich, dass es in diesem Fall nicht um die Abwägung zwischen alternativen aktiven Handlungsmöglichkeiten, sondern um eine Entscheidung zwischen Eingreifen oder Geschehenlassen, zwischen Tun oder Unterlassen, zwischen Erfüllung der Schutzpflicht oder Einhaltung der Achtungspflicht geht. Da der Abschuss ein aktives Eingreifen in das Leben der schutzlosen Unschuldigen bedeutet, sind die Folgen des Tuns von moralisch vordringlicher Qualität gegenüber denen des Unterlassens.46 Im Folgenden soll nun untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen ein Eingreifen moralisch gerechtfertigt sein kann. 2. Kriterien der moralischen Rechtfertigung Die Frage nach der moralischen Rechtfertigung des Abschusses der Passagiermaschine zur Abwehr der drohenden Gefahr für die Menschen am Boden soll anhand der Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit sowie der Einhaltung des Diskriminations- und des Proportionalitätsprinzips überprüft werden. Aber erst in der Erfahrung einer echten Gewissensnot werden die moralischen Gründe auch handlungsleitend. a) Kriterium der Geeignetheit und der Erforderlichkeit Es steht außer Zweifel, dass der Abschuss durch ein Kampfflugzeug der Luftwaffe ein taugliches Mittel ist, welches den Abwehrerfolg garantiert. Selbst wenn in der Folge durch herabstürzende Trümmer eine Gefahr für 45 46
§ 9 Abs. 1 S. 1 SG. Vgl. Beestermöller (2007), S. 84.
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die Menschen am Boden besteht, so ist doch anzunehmen, dass der Abschuss die ursprüngliche Gefährdung durch eine erhebliche Reduzierung ihres Zerstörungspotenzials wirkungsvoll abschwächt. Somit ist das Kriterium der Geeignetheit erfüllt. Das Kriterium der Erforderlichkeit verlangt das mildeste, nicht schärfer als unbedingt erforderliche Mittel zur Abwehr einer Gefahr zu verwenden.47 Im hier behandelten Szenario ist der Abschuss zur Abwehr der Gefahr in diesem Sinne nicht nur erforderlich, sondern als ultima ratio sogar alternativlos. b) Beachtung des Diskriminationsprinzips Die Bewertung des Abschusses des Passagierflugzeuges und der Tötung der unschuldigen Besatzung und Passagiere zum Zwecke der Rettung der Unschuldigen am Boden folgt dem Prinzip der „Handlung mit doppeltem Effekt“. Dieses Prinzip betrachtet Handlungen, die eine positive und eine negative Wirkung zugleich verursachen und für die sich die Frage stellt, welche Wirkung den Ausschlag für die moralische Bewertung gibt.48 Das im Völkerrecht geltende Diskriminationsprinzip gilt als Anwendungsfall. Das vordringlichste Kriterium dieser Prinzipien ist erfüllt, wenn der Handelnde durch die positive Wirkung motiviert ist und der negative Effekt vorhergesehen, wissentlich herbeigeführt, aber nicht intendiert und nicht Mittel zur Erreichung des positiven Effekts ist.49 Moralisch gerechtfertigt kann eine solche Handlung allerdings nur sein, wenn mit ihr das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.50 Der Abschuss des Flugzeuges steht im Einklang mit dem Diskriminationsprinzip, denn die Handlung richtet sich gegen das als Waffe missbrauchte Flugzeug zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr, die Motivation hierzu resultiert aus der Pflicht, die Menschen am Boden zu schützen. Die Tötung der unschuldigen Besatzung und Passagiere ist ein nicht intendierter negativer Effekt; sie ist nicht Mittel zum Zweck, denn mit Blick auf die Gefahrenabwehr ist es unerheblich, wer sich an Bord des Flugzeuges befindet.
47
Vgl. Fritze (2004), S. 144. Vgl. Beestermöller (2008), S. 39. 49 Das Prinzip der „Handlung mit doppeltem Effekt“ formuliert mehrere Kriterien, deren Erfüllung eine solche Handlung erlaubt sein lassen. Siehe hierzu: Ricken (1998), S. 231–235; Walzer (2006), S. 151–159; McIntyre (2004) und Beestermöller (2006), S. 4. 50 Vgl. Ricken (1998), S. 231. 48
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c) Proportionalitätsprinzip Die bisher überprüften Kriterien sind notwendig, aber allein noch nicht hinreichend, um die Tötungshandlung zu rechtfertigen. Dies ist erst der Fall, wenn das Kriterium der Verhältnismäßigkeit erfüllt wird. Die durch die negativen Effekte der Gefahrenabwehr bewirkten Verluste müssen durch die Gewinne des positiven Effekts überkompensiert werden. „Der voraussehbare, bei der Gefahrenabwehr verursachte Schaden muss vergleichsweise niedrig ausfallen im Vergleich zum Schaden, der im Falle des Geschehenlassens entstünde.“51 Die Überprüfung des Proportionalitätsprinzips führt zu einer utilitaristischen Abwägung der sich in Kollision befindlichen Schutzgüter.52 Die Tötungshandlung ist dann verhältnismäßig, wenn die Zahl der geretteten Leben signifikant größer ist, als die Zahl der durch den Abschuss getöteten Personen. Neben diese quantitative Betrachtung tritt der qualitative Umstand, dass die unschuldigen Passagiere sich in einer Gefahrengemeinschaft mit den am Boden bedrohten Menschen befinden, d.h. wenn man nichts unternähme, kämen sie ohnehin gemeinsam mit den am Boden bedrohten um. Der durch den Abschuss, d.h. die Gefahrenabwehr verursachte Schaden wäre somit in jedem Fall niedriger als der Gesamtschaden bei Unterlassung. Dies wird noch deutlicher, wenn im Sinne der Folgenberücksichtigung auch zukünftige Schäden einbezogen werden, die aus einem Nichthandeln entstehen können. Man stelle sich die möglichen Folgen eines Absturzes auf ein Atomkraftwerk oder eine Chemiefabrik vor. Mit der Erfüllung des Kriteriums der Proportionalität erscheinen der Abschuss und die implizite Tötung Unschuldiger im Sinne eines pragmatischen Handlungsrationals geboten. Diese Zweckmäßigkeit muss allerdings im Lichte der Prognoseunsicherheit gesehen werden. Die Entscheidung über den Abschuss und die Tötung Unschuldiger basiert auf das den Entscheidern (Befehlsgeber und -ausführer) ex ante zur Verfügung stehende Wissen.53 So ist es eine wesentliche Entscheidungsgrundlage im Sinne einer moralischen Rechtfertigung zu 51
Fritze (2004), S. 148. Aus einer pragmatischen Sichtweise basiert diese Abwägung auf einer utilitaristischen Kosten-Nutzen-Analyse, die den positiven bzw. negativen Wert verschiedener Handlungen bestimmt. Fraglich ist, ob den abgewogenen Gütern ein Wert zugewiesen werden kann, insbesondere dort, wo es keine allgemein akzeptierte Bewertung gibt. Vgl. Walzer (2003), S. 67. Ferner kann argumentiert werden, dass eine rein utilitaristische Betrachtung auf eine mathematische Quantifizierung von Leben, die den Menschen objektiviert und somit seiner Würde entledigt, hinausläuft, vgl. Baldus (2004), S. 1285. 53 Vgl. Fritze (2004), S. 136. 52
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wissen, wohin im Falle eines Abschusses die verursachten Trümmer fliegen, d.h., es ist wichtig zu erkennen, ob durch den Abschuss tatsächlich nur diejenigen betroffen werden, die durch die ursprüngliche Gefahr des durch die Entführer herbeigeführten Absturzes bedroht sind. Werden zum Beispiel durch herabfallende Trümmer Menschen betroffen, die sich ursprünglich nicht im Gefahrenbereich befanden und keine Gefahrengemeinschaft mit den originär Bedrohten bilden, wird der Einzugsbereich der Gefahr durch die gefahrenabwehrende Handlung vergrößert. Die Entscheidung zwischen Tun und Unterlassen wäre somit von moralisch anderer Qualität. Da es hier nicht möglich ist, differenziert auf diesen Aspekt einzugehen, wird im Weiteren davon ausgegangen, dass sich der Gefahrenbereich nicht erweitert. Dem betrachteten Szenario liegt generell eine strukturelle Ungewissheit zu Grunde,54 d.h. mangelnde Faktenkenntnis, ein Informationsdefizit und ein begrenzter Wahrnehmungshorizont können dazu führen, dass eine Entscheidung unter Zeitdruck und mit Blick auf prognostische Sachverhalte anstatt auf Tatsachen getroffen werden muss. Allerdings ist es für die Legitimität des Handelns allein maßgeblich, ob der Gefahrenabwehrer im Augenblick seines Entschlusses die notwendigen Einschätzungen pflichtgemäß, d.h. nach bestem Wissen und Gewissen getroffen hat.55 d) Eine Frage des Gewissens Die Beantwortung der moralischen Frage, ob das Luftfahrzeug abgeschossen werden soll und ob das Gebot zum Schutz der Menschen am Boden Vorrang hat vor dem Verbot, Unschuldige zu töten, kann zwar durch eine vernunftgemäße Erwägung herbeigeführt werden, sie muss aber deshalb den Entscheidungsträger noch nicht vollends überzeugen und somit handlungsleitend sein. Eine Gewissensentscheidung basiert auf mehr als bloßen Überlegungen der Vernunft. Die rationalen Gründe für den Abschuss und die Tötung Unschuldiger müssen im Einklang mit den tiefer liegenden Intuitionen und Empfindungen stehen, damit das moralische Urteil vor dem Gewissen Bestand hat. Dann kann der Verantwortliche im Falle der Unterlassung in eine echte Gewissensnot geraten. Das Geschehenlassen des Anschlages kann bei ihm zu einem größeren „Schuldgefühl“, ja zur persönlichen Gewissheit moralischen Versagens führen.56 54 Zur Problematik der „strukturellen Ungewissheit“ des Szenarios siehe auch Lepsius (2006), S. 64–67. 55 Vgl. Fritze (2004), S. 150. 56 Vgl. Fritze (2004), S. 134.
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Der Entschluss zu einer Handlung aufgrund einer Gewissensentscheidung ist in der Rechtsordnung nicht anerkannt, im Schrifttum jedoch als übergesetzlicher entschuldigender Notstand bekannt.57 3. Zwischenfazit der ethischen Betrachtung Es gibt vernünftige und gute Gründe, die die moralische Intuition, d.h. die sich spontan einstellende Überzeugung, dass der Tod so vieler Menschen unerträglich ist und die Tötung Unschuldiger zur Abwendung dieser Gefahr in Kauf genommen werden muss, bekräftigen. Zumindest für den Fall, dass nach menschlichem Ermessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Gefahrenbereich durch die herabstürzenden Trümmer nicht vergrößert wird, lassen sich der Abschuss des Flugzeuges und die Tötung der unschuldigen Besatzung und Passagiere durchaus moralisch rechtfertigen. Allerdings ist diese Rechtfertigung allenfalls in ihrer pragmatisch-rationalen Herleitung objektiv – Kern der Rechtfertigung ist die Gewissensnot, sie basiert also auf der subjektiven Überzeugung hinsichtlich des Guten und des Bösen, des Gesollten und Nichtgesollten. Aufgrund seiner hierarchischen und nicht-hierarchischen Verantwortung ist der Offizier in der dargestellten Extremsituation verpflichtet, seine Handlung nicht mit Intuition, sondern durch ein reflektiertes moralisches Urteil zu begründen.
V. Schluss Es ist deutlich geworden, dass es Extremsituationen gibt, in denen geltende Rechtsnormen mit dem eigenen moralischen Urteil in Konflikt geraten. Dies führt insbesondere dann zu einem schwerwiegenden inneren Konflikt, wenn es um Eingriffe in die Würde des Menschen und das fundamentale Recht auf Leben geht. Die Frage, ob Unschuldige getötet werden dürfen oder ob deren Tötung in Kauf genommen werden darf, um andere Menschen zu retten, stellt den Entscheidungsträger vor einen solchen Konflikt. Das behandelte Szenario eines durch Terroristen entführten zivilen Flugzeuges mit unschuldigen Besatzungsmitgliedern und Passagieren an Bord, das als Waffe missbraucht wird und droht, durch einen gezielten Absturz eine große Anzahl von Menschen am Boden zu töten, zeigt, dass der Abschuss dieses Flugzeuges, also ein Eingreifen mit impliziter Tötung der an Bord befindlichen Unschuldigen, rechtlich eindeutig verboten, aber moralisch gerechtfertigt sein kann. Es stellt sich die Frage, ob zur Vermeidung des daraus resultierenden Konflikts in Entscheidungssituationen eine recht57
Vgl. Fritze (2004), S. 134.
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liche Grundlage im Sinne einer Abschussermächtigung geschaffen werden sollte. Die Schaffung einer Rechtsnorm und insbesondere einer Ermächtigungsgrundlage zum Eingriff in Grundrechte ist nur dann möglich, wenn das durch die Norm legitimierte Handeln den moralischen Überzeugungen der Gesellschaft nicht widerspricht. Die Unzulänglichkeiten einer utilitaristischen Abwägung der Folgen des Handelns und des Geschehenlassens bedingen vor dem Hintergrund einer strukturellen Prognoseunsicherheit eine stets situative Gewissensentscheidung, die nicht vorhersagbar oder berechenbar ist und von der es ex ante unmöglich ist zu beurteilen, ob sie richtig oder falsch ist. Die herrschende Moral kann auf diese Frage also keine eindeutige Antwort geben. Somit ist es unmöglich, solche Extremsituationen zu antizipieren und in die Rechtsordnung aufzunehmen. Der Abschuss und die implizite Tötung Unschuldiger kann nicht gesetzlich oder im Rahmen der Verfassung legitimiert werden. Dennoch ist in diesen Ausführungen deutlich geworden, dass es Extremsituationen gibt, in denen die Rechtsnormen übertreten werden können, oder sogar übertreten werden müssen, gerade weil sie nicht aufgehoben sind. „Ihr Übertreten lässt Schuldgefühle zurück, in denen sich die Anerkennung des Ungeheuerlichen unseres Tuns und die Verpflichtung ausdrücken, unser Handeln nicht leichthin zu einem Präzedenzfall werden zu lassen.“58 Die Frage, wie ein Handeln gegen die Rechtsnorm, in unserem Fall die Erteilung des Abschussbefehls und der tatsächliche Abschuss, strafrechtlich beurteilt wird, hat das BVerfG in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz bewusst offen gelassen. Die Ahndung des Rechtsbruchs als Folge einer tragischen Entscheidung ist unumgänglich, die Strafzumessung kann jedoch den Gewissenskonflikt berücksichtigen.59 Für die politische und militärische Führung der Bundeswehr und für den Soldaten, der in hoheitlichem Auftrag tödliche militärische Gewalt projiziert, können moralische Konflikte in Entscheidungssituationen nicht von Vornherein ausgeschlossen werden. Ein Soldat wird in Ausübung seines Berufes sogar öfter mit solchen Extremsituationen konfrontiert sein, als dies für Zivilisten der Fall sein dürfte. Der Frage nach dem Umgang mit solchen Konflikten kann er nicht ausweichen. Sein Agieren in solchen Situationen erfordert vor dem Hintergrund der ihm aus seinem Diensteid erwachsenden Verantwortung, treu und rechtskonform zu dienen, eine ethisch-moralische Sensibilität als Teil seiner Professionalität. Grundlage aller Entscheidungen muss ein Berufsethos sein, das die Fähigkeit zur moralischen Urteilsbildung beinhaltet.
58 59
Walzer (2003), S. 63. Zur strafrechtlichen Beurteilung siehe auch Bernstorff (2008), S. 39–40.
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Ingo Stüer II. Gesetzestexte und Entscheidungen des Bundesverfassungs- (BVerfG) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG)
Gesetzestexte – Charta der Vereinten Nationen (VN-Charta) – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (AEMR) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) – Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) – Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) – Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) vom 11. Januar 2005 (BGBl. I S. 78) – Soldatengesetz (SG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Mai 2005 (BGBl. I S. 1482) – Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG, 1 BvR 518/02 vom 4.4.2006, Absatz Nr. (1–184) – BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006, Absatz-Nr. (1–156) – BVerfGE 93, 266 (293) – (BVerfG, 1 BvR 102/92 vom 10.10.1995) – BVerfGE 77, 170 (221) – (BVerfG, 2 BvR 1080/83 vom 29.10.1987) Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts – BVerwG 2 WD 12.04 vom 21. Juni 2005 Pressemitteilungen des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG, Pressemitteilung Nr. 11/2006 zum Urteil 1 BvR 357/05 vom 15.02. 2006
Autorenverzeichnis Privatdozent Dr. Stefan Bayer: Volkswirt; Dozent für Ökonomie/Ökologie im Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Interessenschwerpunkte: Verteidigungsökonomie, Umweltökonomie und Finanzwissenschaft; wichtige Publikationen: (i) Mensch – Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin: Duncker & Humblot 2008 (Sozialwissenschaftliche Schriften, Band 44) (herausgegeben zus. mit Volker Stümke); (ii) Die Mittelausstattung der Bundeswehr – Der Einzelplan 14 im Spannungsfeld zwischen Auftragslage und (finanzieller) Realität, in: Gießmann, Hans J. und Armin Wagner (Hrsg.): Armee im Einsatz. Grundlagen, Strategien und Ergebnisse einer Beteiligung der Bundeswehr, Baden-Baden: Nomos 2009, S. 224–234 (iii) Sustainability gaps in municipal solid waste management: The case of landfills, Environment, Development, and Sustainability, Vol. 11, No. 1, S. 43–69 (zus. mit Jacques Méry), DOI: 10.1007/s10668-007-9097-0. Dr. Heiko Biehl: Sozialwissenschaftler; Leiter Forschungsschwerpunkt Multinationalität/Europäische Streitkräfte am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr und Lehrbeauftragter (Politikwissenschaft und Militärsoziologie) an der Universität Potsdam; Interessenschwerpunkte: Parteienforschung und Militärsoziologie; wichtige Publikationen: (i) Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven. Berlin: Duncker & Humblot 2009 (Hg. mit Sabine Jaberg, Günter Mohrmann und Maren Tomforde), (ii) Kohäsion als Forschungsgegenstand, militärische Praxis und Organisationsideologie, in: Maja Apelt (Hg.): Forschungsthema Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaften und soldatischen Subjekten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 139–162, (iii) Große Politik in einer kleinen Partei. Strukturen und Determinanten innerparteilicher Partizipation in der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp), in: Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung, 17. Jg., 2011, S. 93–109 (mit Uwe Kranenpohl). Dr. Matthias Gillner: Katholischer Theologe und Philosoph; Dozent für Sozialethik im Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr; Interessenschwerpunkte: Moralphilosophie und Friedensethik; wichtige Publikationen: (i) Bartolomé de Las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents. Das friedensethische Profil eines weltgeschichtlichen Umbruchs aus der Perspektive eines Anwalts der Unterdrückten, Stuttgart: Kohlhammer 1997; (ii) Praktische Vernunft und militärische Professionalität. WIFIS-Aktuell Bd. 23, Bremen: Edition Temmen 2002; (iii) Gewissensfreiheit unter den Bedingungen von Befehl und Gehorsam. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 zur Gewissensfreiheit des Soldaten und die katholische Lehre von der Kriegsdienst- und Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen. Deutsche Kommission Justitia et Pax. Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden, Bonn 2008.
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Dr. Christoph Hof: Oberstleutnant i. G. und Dipl.-Ingenieur (Maschinenbau); ehemals Teilnehmer Lehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst an der Führungsakademie der Bundeswehr (LGAN 2008); Interessenschwerpunkte: Bio-Medizintechnologie, Informationstechnologie, Völkerrecht; Publikation: Analyse dreidimensionaler Messdaten der menschlichen Hauttopographie mittels Wavelet- und Wavelet-Paket-Transformation, vdi-Verlag, Düsseldorf 2002. Daniel Holler, M. P. S.: Referent Religionsfreiheit bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt; Studium in Hamburg am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) und Institut für Theologie und Frieden (ithf); Interessenschwerpunkte: Friedensethik, Kinder in bewaffneten Konflikten, Menschenrechte, Kinderrechte und -schutz, Konflikttransformation in Subsaharaafrika, Demokratisierungsprozesse im Nahen Osten; Publikation: Kindersoldaten im Visier – die ethischen Herausforderungen der Bundeswehr in bewaffneten Konflikten mit bewaffneten Kindern 2010 (Masterarbeit). Privatdozentin Dr. Kerstin S. Jobst: Osteuropahistorikerin, z. Zt. Dozentin für Politikwissenschaften und Geschichte im Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, seit 2006 Gastprofessorin an der Paris-Lodron Universität Salzburg; Interessenschwerpunkte: Geschichte und Gesellschaften in Ost- und Ostmitteleuropa, History of Desaster, Imperiumsforschung; wichtige Publikationen: (i) Geschichte der Ukraine, Stuttgart 2010, (ii) Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich, Konstanz 2007 (= Historische Kulturwissenschaft, 11); (iii) Trans-national or Trans-denominational? The Veneration of Jozafat Kuntsevych in 19th and 20th Century, in: Martin Schulze Wessel/ Frank Sysyn (ed.), Religion, Nation and Secularity in the Ruthenian and Ukrainian Culture in Modern History, Themenband der Harvard Ukrainian Studies, im Druck. Dipl.-Päd. Jörg Keller: Oberstleutnant und Pädagoge, Dozent für Militärsoziologie im Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr; Interessenschwerpunkte: Organisationssoziologie, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Streitkräften; wichtige Publikationen: (i) Soldat und Soldatin – Die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit am Beispiel von Printmedien der Bundeswehr, in: Ahrens, Jens-Rainer, Apelt, Maja und Christiane Bender (Hrsg.): Frauen im Militär. Wiesbaden 2005; (ii) Menschenbild und gender, in: Bayer, Stefan und Stümke, Volker (Hrsg.): Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven. Berlin 2008, (iii) in Zusammenarbeit mit Biehl, Heiko: Hohe Identifikation und nüchterner Blick. Die Sicht der Bundeswehrsoldaten auf ihre Einsätze, in: Jaberg, Sabine u. a. (Hrsg.): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven. Berlin 2009. Dipl.-Kfm. Dieter Kinne: Oberstleutnant und Diplom-Kaufmann; Tutor und Dozent im Fachbereich Militärische Führung und Organisation an der Führungsakademie der Bundeswehr, davor u. a. Dozent für CIMIC im Fachbereich Führungslehre Heer, zweimaliger Auslandseinsatz, zuletzt 2009 als Abteilungsleiter CIMIC (CJ 9) im Regionalkommando Nord in Masar-e-Sharif/Afghanistan; Interessenschwerpunkt: aktuelle Einsatzerfahrungen und ihre Umsetzung in Lehre und Ausbildung. Dr. Martin Kutz: Historiker; Wissenschaftlicher Direktor a. D. am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr; Interessenschwer-
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punkte: Sozial-, Bildungs- und Kulturgeschichte des Militärs; wichtige Publikationen: (i) Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2006; (ii) Fantasy, Reality, and Modes of Perception in Ludendorff’s and Goebbels’s Concept of „Total War“, in: Chickering, Roger, Förster, Stig, Greiner, Bernd (Eds.): A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 1937–1945, Cambridge 2005, S. 189–206; (iii) Kutz, Martin (Hrsg.): Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 2004. Dr. Nina Leonhard: Sozialwissenschaftlerin; Dozentin für Soziologie und Politikwissenschaften im Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Interessenschwerpunkte: Erinnerungs- und Gedächtnisforschung; Wissenssoziologie; Militärsoziologie; wichtige Publikationen: (i) Militärsoziologie – Eine Einführung. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2011 (hrsg. zusammen mit Ines-Jacqueline Werkner), (ii) Generationenforschung, in: Gudehus, Christian u. a., Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010, S. 327–336, (iii) The National People’s Army as an Object of (Non) Remembrance. The Place of East Germany’s Military Heritage in Unified Germany, in: German Politics and Society, 26 (4), 2008, S. 150–163. Dr. Günter Mohrmann: Ökonom/Politologe; Dozent für Volkswirtschaftslehre im Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr; Interessenschwerpunkte: Weltwirtschafts- und Weltwährungssystem, Europäische Wirtschaftsintegration, ökonomische Determinanten internationaler Krisenbearbeitung, interkulturelle Kompetenz; wichtige Publikationen: (i) Der Mensch in der ökonomischen Globalisierung: Zur individuellen Bewältigung epochaler Wirtschaftsentwicklungen, in: Bayer, Stefan/Stümke, Volker (Hrsg.): Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin 2008, S. 93–118; (ii) Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven, Berlin 2009 (hrsg. zus. mit Sabine Jaberg, Heiko Biehl und Maren Tomforde); (iii) Auslandseinsätze und zivil-militärische Zusammenarbeit. Herausforderungen – Entwicklungslinien – Wirkungen – Perspektiven, in: Sabine Jaberg et al. (Hrsg.): Auslandseinsätze der Bundeswehr, Berlin 2009, S. 93–120. Dr. Lutz Nolde, MBA: Flottillenarzt, Zahnarzt und Dozent für Öffentliches Gesundheitswesen im Fachbereich Sanitätsdienst und Gesundheitswissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr; Interessenschwerpunkte: zivile und militärische Gesundheitssysteme, humanitäre Hilfe und Entwicklung im Gesundheitssektor; wichtige Publikationen: (i) Effects Based Approach to Multinational Operations, Medical Concept“; in: Wahl, M. et al.: Multinational Experiment 4 Final Report, USJFCOM 2006, (ii) Gesundheitsindikatoren als Measures of Effectiveness in Effects Based Operations, Poster, 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2006, (iii) Konzept zur Einführung eines Qualitätsmanagementsystems im Fachbereich Sanitätsdienst und Gesundheitswesen der Führungsakademie der Bundeswehr, Fachhochschule Lübeck 2007. General a. D. Wolfgang Schneiderhan: General a. D. der Bundeswehr, von 2002 bis 2009 der 14. und mit sieben Jahren in dieser Funktion der am längsten dienende Generalinspekteur der Bundeswehr; zahlreiche Orden und Ehrenzeichen im In- und
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Ausland, darunter das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (Bundesverdienstkreuz), das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold, das Legion of Merit der US-Streitkräfte, den Orden der französischen Ehrenlegion sowie das Offizierskreuz des Ordre national du Mérite; Interessenschwerpunkte: Berufsethik, Innere Führung, Kriegsgräberfürsorge, militärischer Widerstand im 3. Reich; Mitglied im wissenschaftlichen Beirat ZEBIS (Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften der katholischen Militärseelsorge) und Erster Vorsitzender der Stauffenberg-Gesellschaft. Dr. Hartwig von Schubert: Militärdekan, Evangelisches Militärpfarramt Hamburg II, Führungsakademie der Bundeswehr; Interessenschwerpunkte: Politische und militärische Ethik, Medizinethik, Wirtschaftsethik; wichtige Publikationen: (i) Friedensethik im Einsatz, hg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Gütersloh 2009, (ii) Die Vision des Gerechten Friedens in Europa und der Welt, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 53/2009/3, S. 191–197; (iii) Vom ehrbaren Kaufmann, in: Harvard Business Manager, 2009/8, S. 104–107. Dipl.-Ing. Ingo Stüer: Oberstleutnant i. G. und Diplom-Ingenieur, ehemals Teilnehmer Lehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst an der Führungsakademie der Bundeswehr (LGAN 2008); Interessenschwerpunkte: Militär- und Sicherheitspolitik, Ethik des Soldaten, Innere Führung; Publikation: Der Offizier im General-/Admiralstabsdienst. 10 Thesen, in: LGAN 2008 (Hg.): Auf dem Weg zur Verantwortungselite, Hamburg 2009, S. 5–22 (zusammen mit weiteren Lehrgangsteilnehmern). Professor Dr. Volker Stümke: Evangelischer Theologe; Dozent für Sozialethik im Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und apl. Prof. für systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal; Interessenschwerpunkte: Politische Ethik, Eschatologie, Theologie Luthers; wichtige Veröffentlichungen: (i) Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart 2007, (ii) Überlegungen zur gegenwärtigen Folterdebatte, Hamburg 2007, (iii) Friedensethik im 20. Jahrhundert (hrsg. zusammen mit Matthias Gillner), Stuttgart 2011. Professor Dr. Elmar Wiesendahl: Soziologe, bis Mai 2010 Leiter des Fachbereichs Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr. Jetzt Geschäftsführer der Agentur für Politische Strategie (APOS), Interessenschwerpunkte: Parteien, Eliten, Politische Strategie, Bundeswehr und Gesellschaft; wichtige Publikationen: (i) Elmar Wiesendahl (Hrsg.): Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn etc. 2007; (ii) Elmar Wiesendahl: Athen oder Sparta – Bundeswehr quo vadis? WIFIS-AKTUELL Nr. 44, Edition Temmen, Bremen 2010; (iii) Elmar Wiesendahl: Volksparteien: Aufstieg – Krise – Zukunft, Barbara Budrich Verlag, Leverkusen 2011.