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German Pages 144 [146] Year 2008
Horst-Alfred Heinrich / Michael Kohlstruck (Hg.)
Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie
Geschichte Franz Steiner Verlag
Horst-Alfred Heinrich / Michael Kohlstruck (Hg.) Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie
Horst-Alfred Heinrich / Michael Kohlstruck (Hg.)
Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09183-1 Satz: Daniel Krüger
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
INHALT
Vorwort....................................................................................................................7
Horst-Alfred Heinrich und Michael Kohlstruck Zur theoriegeleiteten Analyse von Geschichtspolitik..............................................9
Horst-Alfred Heinrich Erklärung von Geschichtspolitik mittels der Theorie sozialer Identität ................17
Johannes Marx Geschichtspolitik und Rational Choice-Theorie. Zur ökonomischen Betrachtung kultureller Phänomene .......................................37
Mark Arenhövel Das Gedächtnis der Systeme..................................................................................59
Harald Schmid Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik ..........75
Birgit Schwelling Politische Erinnerung. Eine akteurs- und handlungsbezogene Perspektive auf den Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Politik .....................................99
Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck „Aus der Geschichte lernen“. Zur aktuellen Bedeutung einer Alltagsmaxime ...................................................123
Autorenverzeichnis ..............................................................................................143
VORWORT
Mit dem vorliegenden Band erscheint nach „Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht“ (1999) und „Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?“ (2004) die dritte Publikation, die aus Diskussionen des heutigen Arbeitskreises Politik und Geschichte innerhalb der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) entstanden ist. Thomas Schaber vom Steiner Verlag in Stuttgart danken wir für die Bereitschaft, diesen weiteren Band zum Thema Geschichtspolitik zu verlegen. Alle Beiträge wurden extern begutachtet. Wir danken Prof. Dr. Arnd Bauerkämper, Dr. Christopher Cohrs, PD Dr. Rainer Erb, Dr. Kai Junge, PD Dr. Gary S. Schaal und PD Dr. Ulrich Wyrwa für ihre Gutachten zu den Ausgangsfassungen der Beiträge. Daniel Krüger (Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin) danken wir für die Einarbeitung von Korrekturen und die Erstellung der Druckvorlagen.
Stuttgart und Berlin im März 2008
Horst-Alfred Heinrich und Michael Kohlstruck
Horst-Alfred Heinrich und Michael Kohlstruck
ZUR THEORIEGELEITETEN ANALYSE VON GESCHICHTSPOLITIK Der vorliegende Band stellt ausgewählte theoretische Ansätze aus den Sozialwissenschaften hinsichtlich ihrer Erklärungskraft für Geschichtspolitik vor. In den Forschungen der vergangenen Jahre werden mit Geschichtspolitik innerhalb des umfassenden Verhältnisses von Geschichte und Politik im Wesentlichen drei Sachbereiche behandelt (vgl. u.a. Wolfrum 1999; Schmid 2001; Kohlstruck 2004; Assmann 2006). Erstens tragen Forschungen zur Geschichtspolitik dem Umstand Rechnung, dass Erinnerung in den Staatsgesellschaften des Westens zur maßgeblichen geschichtszeitlichen Orientierung geworden ist. Eine Kultur der Erinnerungen hat als solche keine unmittelbar politische Relevanz. Als dominante Bewusstseinshaltung aber prägt sie Erwartungen, präformiert Zustimmungen und Ablehnungen zu politischen Themen und Entscheidungen und ist insofern politisch nicht neutral. Die „Arbeit an der Geschichte“ (Wolfrum) kann als Pflege eines gesellschaftsintegrativen Geschichtsbildes gelten. Bei den beiden anderen Sachbereichen von Geschichtspolitik rückt das politische Handeln oder das politische System stärker ins Zentrum. Für einen zweiten Forschungsstrang sind die historischen Voraussetzungen und Festlegungen gegenwärtigen politischen Handelns von Interesse. Im Vordergrund stehen die in der Vergangenheit vorgenommenen Weichenstellungen, die in der Gegenwart als unabweisbare Aufgabe, als Verpflichtung oder als Pfadabhängigkeit von Entscheidungen die Ausgangsbedingungen politischen Handelns ausmachen. Dieser Aspekt bezieht sich auf die Konstitution von politischen Systemen oder von einzelnen Politikfeldern. Drittens kann die Analyse von Geschichtspolitik auf Phänomene zielen, die Ergebnis ausdrücklicher Thematisierung von Vergangenheit zu politischen Zwecken sind. Die dabei untersuchten politischen Handlungen reichen von der historisch begründeten Legitimation eines politischen Kollektivs (vgl. Binder et al. 1999) über Abgrenzungen von Vorgängersystemen bei politischem Systemwechsel (vgl. Landkammer/Noertzel/Zimmerli 2006) bis zu innenpolitisch motiviertem Gebrauch von Geschichte in Debatten mit dem Ziel, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Mit Geschichtspolitik, das ergibt sich aus dem Vorgesagten, ist nicht ein in sich einheitlicher Gegenstand gemeint, sondern Frageperspektiven, die von einer politisch relevanten Durchdringung von Geschichte und Politik bis zur expliziten und strategischen Thematisierung von Geschichte in politischen Kontexten reichen. Bei der Konzeption des vorliegenden Bandes wurden die Beiträge nicht auf ein bestimmtes Konzept von Geschichtspolitik verpflichtet. Die Autorinnen und Autoren hatten deshalb zu entscheiden, welche Aspekte einer politisch relevanten Vergegenwärtigung von Historie mit der jeweiligen Theorie erklärt werden sollen. Sie hatten zudem zu erläutern, in welchem Sinne jeweils von Geschichtspolitik, von Erinnerungspolitik oder von Vergangenheitspolitik die Rede ist. Daraus resul-
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tieren sprach- und begriffsreflektierende Überlegungen zu den Konzepten wie zu ihrer Verwendung. Erkenntnistheoretisch berücksichtigt der Band zwei sozialwissenschaftliche Theoriekulturen. Dem Realismus verpflichtete Theorien unterstellen, dass wir als erkennende Subjekte in der Lage sind, die uns umgebende Wirklichkeit direkt zu erkennen. Daraus folgt, dass wir unsere Aussagen über diese Wirklichkeit auch direkt an ihr überprüfen können. Das konstruktivistische Paradigma stellt demgegenüber eine solche Möglichkeit in Abrede. Da Erkenntnis immer an Möglichkeiten und Fähigkeiten des erkennenden Subjekts gebunden bleibe, konstruierten wir uns eine Realität, der wir nur unterstellten, sie sei mit der tatsächlich bestehenden identisch. Da „Welt nicht direkt erfahren werden kann, [...] Objektivität im herkömmlichen Sinn also nicht herstellbar ist, wird [...] die Frage nach der Beschaffenheit der Welt gänzlich ausgeklammert: wir können aufgrund unserer Erfahrungen ‚nichts‘ über die reale Beschaffenheit der Welt sagen, sondern wir können nur von Konstruktionen berichten, die sich in der Welt für die bisher verfolgten Ziele bewährt haben.“ (Meinefeld 1995: 104). Realistische Theorien beharren demgegenüber darauf, Aussagen über Zustand und Beschaffenheit der Wirklichkeit machen zu können, die sich mittels eines angemessenen Forschungsprogramms testen lassen. Erkenntnis und Realität werden hier ebenfalls nicht als identisch begriffen. Doch ist aus realistischer Perspektive objektive Erkenntnis möglich, auch wenn wir kein sicheres Wissen über die Welt haben (Vollmer 1998: 119ff.). Einschränkend ist in Bezug auf die hier präsentierten Ansätze darauf hinzuweisen, dass es sich bei beiden erkenntnistheoretischen Positionen um Extreme handelt, die in der Forschungspraxis nicht umsetzbar sind (Meinefeld 1995: 21). Hier geht es lediglich darum, die vorgestellten Theorien und deren Anwendung auf Geschichtspolitik grob einzuordnen. Zu den konstruktivistischen Theorien zählen unter anderem die mit dem cultural turn verbundenen Ansätze, die ihre Aufmerksamkeit auf die kulturelle Dimension sozialer und politischer Prozesse richten. Dabei handelt es sich um Ansätze, die methodologisch, mit ihren Forschungsgegenständen, ihren gegenstandsnahen Generalisierungen und den verwendeten Kategorien auf die Dimension von sozial relevanten Deutungen und Bedeutungen ausgerichtet sind (Schwelling 2004). Es liegt auf der Hand, dass damit eine vergleichsweise geringe Abstraktionshöhe und eine engere Reichweite des Erklärungsanspruchs verbunden sind als dies bei den realistischen Ansätzen der Fall ist. Horst-Alfred Heinrich geht dem Zusammenhang von sozialer Identität und Geschichtspolitik nach. Unter Rückgriff auf den von Henri Tajfel entwickelten Theorieansatz unternimmt er es, Erklärungen dafür zu finden, warum Individuen zur Konstruktion ihrer Identität auf geschichtliche Elemente zurückgreifen und inwieweit politische Akteure zur Konstituierung von Gruppenidentität ausgewählte Aspekte von Geschichte heranziehen. Der Theorie sozialer Identität liegen die Grundannahmen zugrunde, dass Menschen eines positiven Selbstwertgefühls bedürfen und dass soziale Interaktion und Selbstwahrnehmung vermittelt über soziale Kategorisierungen erfolgen. Die Eigengruppe und damit das Ich werden positiv
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erfahren, wenn soziale Vergleiche mit anderen Gruppen als Erfolg verbucht werden. Auf diese Weise lässt sich die Gruppenidentität verstärken. Wird der Entwicklungsstand der eigenen Gruppe zu einem früheren Zeitpunkt mit dem späteren, heutigen Zustand verglichen und die Veränderung positiv bewertet, ist der Vergleich auf der Zeitachse für ein positives Selbstbild funktional. Folglich sind geschichtspolitische Argumente für politische Akteure attraktiv, weil sich nationale Identität damit stärken lässt. Heinrich lotet Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes in Bezug auf Geschichtspolitik am Beispiel Deutschlands aus. Dieser Fall ist exemplarisch, weil größeren Teilen der Bevölkerung aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit eine positive Identifikation mit der eigenen Nation schwerfällt. Wie sich zeigen lässt, ermöglicht es die Theorie sozialer Identität, geschichts- und erinnerungspolitische Konflikte mittels eines sozialpsychologischen Modells mit nur wenigen Axiomen darstell- und erklärbar zu machen. Johannes Marx stellt sich die Frage, in welcher Weise Ansätze aus der Familie des ökonomischen Forschungsprogramms fruchtbar mit Konzepten von Geschichtspolitik verbunden werden können. Es ist davon auszugehen, dass bestimmte Geschichtsbilder verbreitet werden, um die Durchsetzungschancen politischer Entscheidungen zu vergrößern; dies ist jedoch nur möglich, soweit die Rezipienten von den jeweiligen Geschichtsbildern erreicht werden und diese Deutungen als Bestimmungsgrößen in die Situationsdefinitionen der Handelnden eingehen. Das zielgerichtete Handeln der Akteure basiert auf Präferenzen und unterliegt zugleich Beschränkungen. Die individuellen Akteure führen deshalb diejenigen Handlungen aus, die ihre Ziele im höchsten Maße verwirklichen. Marx stellt heraus, dass die analytischen Theoriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms wenig Offenheit bieten, da sie auf ein Verständnis von Rationalität festgelegt sind, das sich auf die Ziele Macht und Einkommen beschränkt. Bessere Erklärungsmöglichkeiten verbindet der Autor mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen, das auch andere als monetäre und machtbezogene Motive einbezieht. Es erlaubt, die soziale Konstruktion individueller Zielpräferenzen so weit zu fassen, dass damit Ziele sozialethischer oder eben geschichtsbezogener Art eine Rolle spielen. Dies geschieht über die Einführung des Denkmodells der sogenannten Zwischengüter. Sie sind funktional auf Primärgüter bezogen, entweder als deren Teilrealisierung oder als Zwischenglied auf dem Wege zu diesen Zielen. Das Produkt von Geschichtspolitik besteht in der Existenz eines Angebots divergierender, teilweise auch konfligierender Geschichtsbilder. Sie beeinflussen Wahrnehmungsprozesse und stellen damit eine Bestimmungsgröße für die subjektive Definition der Situation dar. Damit verbunden sind jeweils bestimmte mentale Repräsentationen der Situationsdefinition, Frames also, die wieder Handlungsoptionen implizieren. Von dieser Perspektive aus führt die Geltung bestimmter Geschichtsbilder dazu, Individuen gewisse Handlungen als geeignete instrumentelle Güter für die Erzeugung von Primärgütern erscheinen zu lassen. Der wesentliche Impuls dieses Konzepts besteht darin, genuin soziale Phänomene auf Handlungsmöglichkeiten von Individuen zurückzuführen und an der Idee der sozialen Definition von individuellen Handlungszielen festzuhalten – Kultur und mit ihr
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die Perzeption von Geschichte wird als Produkt wie als Voraussetzung individueller Handlungen verstanden. Marc Arenhövel argumentiert innerhalb der Systemtheorie Luhmannscher Prägung. Deren Ausgangsvoraussetzung besagt, dass soziale Subsysteme wie Politik, Recht oder Wirtschaft Zeit verarbeiten und deshalb über ein eigenes Gedächtnis verfügen müssen. Die Theorie erlaubt es aufzuzeigen, wer die Träger solcher Gedächtnisse sind, wie sich die subsystemischen Spezialgedächtnisse zueinander verhalten und wie das Systemgedächtnis durch Globalisierungsprozesse verändert wird. Die Systemtheorie geht von der Voraussetzung aus, dass soziale Systeme ohne eine ihnen eigene Gedächtnisleistung nicht gedacht werden können. Ihre Identität, die Differenzierung ihres Selbst von anderen Subsystemen, basiert darauf, dass zunächst zwischen Vergangenheit und Zukunft unterschieden wird und auf diese Weise das Prozessieren in der Zeit verfügbar wird: Das ist die Unterscheidung zwischen getroffenen und offenen Entscheidungen. In der Auswahl der Entscheidungsoptionen muss das jeweilige System an sein früheres Prozessieren anknüpfen. Zurückgegriffen auf die Vergangenheit des eigenen Prozessierens wird primär im Modus des Vergessens, der durchbrochen wird durch die systemspezifische Entscheidung, was erinnert werden soll. Speziell für das politische System existieren Handlungsanleitungen oder Skripts. Sie zeichnen sich dadurch aus, Entscheidungsfindungen zu ermöglichen. Zur Stabilisierung ihrer kommunikativen Nachhaltigkeit rekurrieren Macht- und Legitimationsdiskurse auf vergangene Zeit, das heißt auf Diskurs- oder Argumentationselemente, die bereits bekannt sind. Wiederholungen verbinden die Vergangenheit mit der Gegenwart und reaktivieren frühere Selektionen als heute gültige. Repräsentiert werden solche Resultate, die das Spezifikum des politischen Subsystems ermöglichen, nämlich Entscheidungen zu treffen. Ein Resultat des Gedächtnisses politischer Systeme ist die Verpflichtung, Verträge oder dergleichen einzuhalten. Weitere Modi der selbstbezogenen Vergangenheitsbeobachtung sind die Gedenkkommunikation sowie die vergewissernde Orientierung an geltenden Werten und Interessen. Im Rahmen einer möglichen Anwendung seiner Überlegungen geht Arenhövel auf das Gedächtnis des politischen Systems in der Weltgesellschaft ein. Harald Schmids Rückblick auf die wissenschaftliche Erforschung von Kultur erinnert daran, dass die Kulturwissenschaften wie die Cultural studies in einer Kontinuität zu älteren Ansätzen von Friedrich Nietzsche bis Aby Warburg und anderen stehen. Schmid inspiziert sie unter der Frage ihres jeweiligen Beitrages für die Kulturwissenschaften. Im Verlauf der historischen Entwicklung wurde der substanzialistisch-normative Kulturbegriff in seiner Geltung hinterfragt. Ermöglicht wurden damit empirisch-historische Konzepte von Kultur, in deren Mittelpunkt „die Trias Werte, Sinn und Bedeutungen, ein relativistischer Wahrheitsbegriff“ und die Symbolforschungen stehen. Cultural studies und die neueren Kulturwissenschaften leben von der Übernahme zentraler Denkmotive des Strukturalismus. Zwei Merkmale kristallisieren sich im Verlauf der Entwicklung von den alten zu den neuen Kulturwissenschaften heraus: Die Dekonstruktion großer Erzählungen und damit korrespondierend der Konstruktionscharakter der Welt-, Sinn- und Selbstentwürfe. Darauf aufbauend richtet sich wissenschaftliches Inte-
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resse auf die Konstitution und Konstruktion, die Organisation und Prozessualität von Bedeutungs- und Sinnbildungsstrategien. Für die Untersuchung von geschichtspolitisch relevanten Phänomenen ist dies ein wichtiges Ergebnis, weil sich eine Verbindung zwischen der Ebene von Akteuren und der von Strukturen herstellen lässt: Soweit kommunizierte Geschichtsbilder und damit kulturelle Strukturen geglaubt werden, können sie in die Akteursmotive eingehen und somit Handlungen erklären. Konstruktivismus und die Relevanz von Bedeutungen verbinden sich mit den Fragen nach Macht, Herrschaft und Interesse, dem inhaltlichen Fokus der politischen Wissenschaften, zu einer kulturwissenschaftlich angelegten Geschichtspolitologie. Sie erlaubt es, die „Schauseite der Macht“ mit zu berücksichtigen. Auch Birgit Schwelling behandelt die Kulturwissenschaften. Anders als Harald Schmid fragt sie, wo jeweils Geschichte ihren Ort im politischen Feld hat und welche Gegenstände in den Blick genommen werden. Da jedoch die Konzepte, die dieser Variante folgen, Politik in einen Bereich der praktisch-politischen Maßnahmen einerseits und des öffentlich-symbolischen Handelns andererseits dichotomisieren, treten Herstellung und Darstellung als zwei in sich selbständige Komplexe auseinander. Demgegenüber macht Schwelling geltend, dass die Unterscheidung zwischen Instrumentalität und Symbolhaftigkeit als zwei Dimensionen jeder sozialen und politischen Handlung aufzufassen sind. Ihre gegenstandsbezogene Befragung von Studien zur Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik mündet in eine zweite Problemdiagnose: Die Studien konzentrieren sich auf intentionale Akte des Erinnerns und explizite Thematisierungen vergangener Geschichte. Demgegenüber bleiben die Folgen von Erinnerung in Politikfeldern, in denen es primär nicht um Diskussion oder Umgang mit Vergangenheit geht, weitgehend unberücksichtigt. Dieses Befundes wegen befürwortet die Autorin eine Erweiterung des Untersuchungsfeldes. Sie plädiert dafür, die Spuren der Vergangenheit auch dort zu suchen, wo sie nicht von intentionalen Erinnerungsakten herrühren. Die Forschung hätte in diesem Sinne die sehr viel weiter gefasste Frage zu verfolgen, wie Erinnerung soziale Beziehungen formt. Aus dieser Problem- und Defizitdiagnose heraus entwickelt Schwelling Überlegungen zu einem Neuansatz, der ausgehend von einer akteurs- und handlungsbezogenen Perspektive auf die Zusammenhänge von Gedächtnis, politischem Selbstverständnis und politischer Legitimität zielt. Ihr geht es darum, bei den politischen Akteuren anzusetzen, „die deutend auf Vergangenheit Bezug nehmen und diese Deutungen wiederum handelnd in den politischen Prozess einbringen.“ Da die Autorin Geschichtspolitik nicht als separiertes Politikfeld versteht, sondern die Untersuchungsperspektive in einem weiten Sinn sowohl den konstituierenden Einfluss von Geschichte auf Politik wie auch das Operieren der Politik mit Geschichte erweitert, steht sie vor der Aufgabe, einen weit gefassten Begriff von Kultur wie von Politik zu entwickeln. Kulturwissenschaften – so ihr Vorschlag – interessieren sich für die Bedeutungen, Wahrnehmungsweisen und Sinnangebote der Personen. Politik habe es mit der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten, genauer der Steuerung und der Integration zu tun. Die Kategorie des kollektiven Gedächtnisses ließe sich hier zu konkreten Untersuchungen nutzen, die die Frage
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nach Legitimation stellen und somit auf die Stabilisierung politischer Kollektive ausgerichtet sind. Auf diese Weise wird die Mesoebene zwischen dem kommunikativem und dem kulturellen Gedächtnis repräsentiert. Eine wechselseitige Anregung von Kultur- und Politikwissenschaft könnte vor diesem Hintergrund sowohl in der Anbindung von Vergangenheitsrepräsentationen an Interessens- und Machtkategorien bestehen als auch darin, eine Relevanz von Gedächtnis und Erinnerung jenseits des geschichtspolitisch deklarierten Politikfeldes erkennen zu können. In Deutschland spielt heute die Erwartung, aus der Geschichte könne und müsse gelernt werden, im Zusammenhang mit der historisch-politischen Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck untersuchen, welche Geltung die scheinbar selbstverständliche Aufforderung haben kann, man habe aus der Geschichte zu lernen. Der Beitrag fragt, mit welchen Erwartungen der Topos verbunden wird, inwieweit diese Ziele zwingend mit einer Beschäftigung mit dem historischen Nationalsozialismus verbunden sind und inwieweit sie für die heutige Beschäftigung von jungen Leuten mit dem Nationalsozialismus tatsächlich verbindlich gemacht werden können. Die Forderung Aus der Geschichte lernen kann in verschiedenem Sinne verstanden werden. In jedem Fall handelt es sich um eine moralische Forderung, die mehr meint als das bloße Lernen von oder über Geschichte. Auch das biographische Lernen der Erlebnisgeneration erfüllt nicht jenes spezifische Soll, für das diese Maxime steht. Im Einzelnen lassen sich vier Bedeutungsschichten unterscheiden: Die Forderung zielt zunächst auf Kenntnis und Anerkennung der Menschenrechte. Eine zweite Erwartung betrifft den Erwerb der moralischen Urteilsfähigkeit. Aus der Geschichte lernen kann drittens bedeuten, sich als Deutscher über die Befassung mit der Vergangenheit mit der eigenen Nation zu identifizieren. Schließlich wird in der Gesellschaft die Erwartung formuliert, der NS-Opfer zu gedenken. Die kritische Betrachtung dieser Erwartungshaltungen führt zu dem Ergebnis, dass es sich nur bei den beiden letzten Aspekten um spezifische, also nicht ersetzbare Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus handelt. Sowohl eine nationalidentifikatorische Befassung mit dem Nationalsozialismus wie das zweckfreie Erinnern der Opfer können heute nur als freiwillige Optionen formuliert werden. Obligatorisch für die nachwachsenden Generationen dagegen kann das Lernen von oder über Geschichte gemacht werden. Die meisten vorliegenden Studien zu Geschichtspolitik entstammen der Tradition „korporativer Selbstkritik“ (Winkler 2004) der Geschichts- und Politikwissenschaft: Im Rückblick analysieren und kritisieren heutige Politik- und Geschichtswissenschaftler die Geschichtsbilder ihrer Vorgänger. In der Regel folgen sie in der konzeptionellen Anlage und den verwendeten Methoden dem sogenannten historisch-genetischen Ansatz (von Beyme 2000). Die Studien münden allenfalls in vorsichtig generalisierende Fallbeschreibungen. Allerdings haben die begriffslogischen und methodologischen Reflexionen in diesen Studien einen längeren Vorlauf als in jenen Untersuchungen von geschichtspolitischen Phänomenen, die der Logik einer ausdrücklichen Theorieanwendung folgen (vgl. u.a. Kölsch 2000; Meseth 2005).
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Der vorliegende Band eröffnet neue Perspektiven auf das Forschungsfeld Geschichtspolitik, insofern die einzelnen Beiträge Beispiele liefern, wie geschichtspolitische Fragestellungen in dezidiert theoretische Bezüge gestellt werden können. Dadurch wird es möglich, das Handeln politischer Akteure unter Rückgriff auf allgemeine Kategorien zu erklären, Erkenntnisse anderer Sozialwissenschaften einzubeziehen und die Rolle von Geschichtspolitik in der Selbstverständigung von politischen Verbänden aus einer größeren Distanz zu untersuchen. Den Herausgebern ist bewusst, dass hier nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Spektrum denkbarer theoretischer Herangehensweisen präsentiert wird. In dieser Auswahl dokumentiert sich der Versuch, das Forschungsfeld Geschichtspolitik weniger in seinen Gegenständen als vielmehr in seiner epistemologischen Selbstreflexion zu erweitern. Von daher soll dieser Band auch als Aufforderung gelesen werden, Geschichtspolitik mittels weiterer sozialwissenschaftlicher Theorien zu analysieren. Literaturverzeichnis Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München. Beyme, Klaus von (2000): Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne. Frankfurt am Main. Binder, Beate et al. (1999): „Geschichtspolitik“. Zur Aktualität nationaler Identitätsdiskurse in europäischen Gesellschaften. In: Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer (Hrsg.): Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften. 2. Aufl. Frankfurt am Main, 465–508. Kohlstruck, Michael (2004): Erinnerungspolitik: Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie. In: Birgit Schwelling (Hrsg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden, 173–193. Landkammer, Joachim et al. (Hrsg.) (2006): Erinnerungsmanagement. Systemtransformation und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. München. Meinefeld, Werner (1995): Realität und Konstruktion. Erkenntnistheoretische Grundlagen einer Methodologie der empirischen Sozialforschung. Opladen. Meseth, Wolfgang (2005): Aus der Geschichte lernen. Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Frankfurt am Main. Schmid, Harald (2001): Erinnern an den Tag der Schuld. Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik. Hamburg. Schwelling, Birgit (2004): Der kulturelle Blick auf politische Phänomene. Theorien, Methoden, Problemstellungen. In: dies. (Hrsg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden, 11–29. Vollmer, Gerhard (1998): Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie. 7. Aufl. Stuttgart. Winkler, Heinrich August (2004): Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland. Göttingen, 7–13. Wolfrum, Edgar (1999): Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990. Darmstadt.
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ERKLÄRUNG VON GESCHICHTSPOLITIK MITTELS DER THEORIE SOZIALER IDENTITÄT Gemeinhin wird davon ausgegangen, Gesellschaft bräuchte die Erinnerung der kollektiven Geschichte, um Gemeinschaft zu generieren und aufrechtzuerhalten. Eine Begründung erfährt diese Annahme selten. Noch seltener wird sie theoretisch abgeleitet. Edgar Wolfrum (1999: 52) etwa postuliert, politische Gründungsmythen „stellen eine verinnerlichte Form der Geschichte dar und können einer Gemeinschaft ihre Einheit und Eigenart sowie Dauer und Stabilität geben. [...] Als narrative Sinnstrukturen haben [sie; HAH] eine wichtige Funktion darin, den Horizont der Identität des politischen Verbandes über die Gegenwart der lebenden Generation hinaus auf die Vergangenheit und die Zukunft zu erweitern.“ Herfried Münkler (1998: 17f., 23) folgend haben Gründungsmythen eine identitätsverbürgende Bedeutung. Indem sich die Mitglieder einer Gesellschaft ihrer politischen Mythen erinnerten beziehungsweise das an sie herangetragene Mythenangebot akzeptierten, sicherten sie sich die Integration nach innen und reduzierten die Erfahrung von Kontingenz. Das eigene Dasein erscheine nicht mehr zufällig, werde mit Sinn gefüllt. Die für das Kollektiv anerkannte Geschichte markiere jene Ereignisse der Vergangenheit, durch die das Selbst konstituiert und vom Fremden abgegrenzt werde. Auf diese Weise schaffe sich Gesellschaft Identität. Und Mark Wolfgram (1999: 568) konstatiert: „Erinnerung und Identität (sind) eng verbunden, da nur die Erinnerung dem Individuum, einer Institution oder einer Nation auf Dauer die Ausbildung einer Identität ermöglicht. Ohne sie müßte Identität permanent rekonstruiert werden, soziale Interaktion würde schlicht gefrieren und nicht mehr stattfinden.“
Diese inhaltlichen Aussagen, denen sich zahllose andere anfügen ließen, sollen hier keineswegs bestritten werden. Allerdings liefern schon die wenigen Zitate unterschiedliche Vorstellungen über die empirische Wirklichkeit, insofern die durch sie vermittelten Beziehungsstrukturen jeweils gegensätzliche Richtungen unterstellen. Wenn Geschichte eine kollektive Identität konstituiert, ist diese von der erstgenannten abgeleitet, eine Folge von ihr. Münklers Überlegungen sagen dem gegenüber aus, eine bestimmte Version von Geschichte werde deshalb konstruiert, weil sich mit ihr der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Unterordnung der Individuen unter gesellschaftliche Zwänge, legitimieren lasse. Damit ist eine in ihrer Wirkung entgegengesetzte Kausalitätsrichtung unterstellt: aus dem Bedürfnis nach Identität folge eine spezifische Interpretation von Geschichte. Geschichtspolitisch ergeben sich vergleichbare Fragestellungen. Verursachen Unvereinbarkeiten zwischen den multiplen Identitäten in modernen Gesellschaften einen Vermittlungsbedarf, der zu geschichtspolitischen Interventionen führt? Wenn ja, wird durch Geschichtspolitik Identität gestiftet? Oder erfordert die soziale Identität einer Gesellschaft eine bestimmte Geschichtspolitik, vollzieht letz-
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tere somit nur eine Anpassung an die Gegebenheiten? Auch hier sind die UrsacheWirkungs-Beziehungen jeweils unterschiedlich. Schließlich ist im Fall von Geschichtspolitik auch eine wechselseitige Beeinflussung zwischen Identitätsbedürfnissen und -angeboten sowie Geschichtsinterpretationen vorstellbar. Der vielzitierten Definition Wolfrums (1998: 5) von Geschichtspolitik zufolge ist die Rezeption von Geschichte als ein Vehikel zu begreifen, das zwischen diffusen Gruppen Zusammenhänge schaffe. Geschichtspolitische Forschung interessiere sich für „die Frage, wie, durch wen, mit welchen Mitteln, welcher Absicht und welcher Wirkung Erfahrungen mit der Vergangenheit thematisiert und politisch relevant werden“ (ebd.). Michael Kohlstrucks Begriff der Erinnerungspolitik (2004: 178) reicht zwar über die Definition Wolfrums hinaus, indem er das Einwerben von Legitimität als gegenwartsbezogenes politisches Ziel in den Vordergrund rückt. Doch auch er stimmt der Überlegung zu, dass Erinnerung im Prozess der Propagierung und Bildung von Nationen eine Funktion zukomme (ebd.: 182). Wenn aber Erinnerungspolitik durch den gezielten Verweis auf bestimmte Ausschnitte der Geschichte dazu beiträgt, sich der eigenen Identität bewusst zu werden (vgl. Nipperdey 1981: 601), ist diese Form politischen Handelns im Rahmen eines Ursache-Wirkungs-Gefüges als Mittel zum Zweck anzusehen. Von seiten sowohl der Erinnerungs- als auch der Geschichtspolitik entspricht der Gebrauch der Geschichte durch politische Akteure folglich einer intervenierenden Variablen, die, so ist die Annahme, eine Stärkung nationaler Identität bewirkt, was wiederum zur Systemstabilität führt. Da die vorgetragenen Begriffsdefinitionen von Geschichts- und Erinnerungspolitik hinsichtlich Identität gleichlautende Aussagen treffen, werden hier beide Ansätze ungeachtet ihrer Differenzen konzeptuell nicht voneinander unterschieden. Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf den theoretischen Klärungsbedarf zum Zusammenhang von Identität und Geschichtspolitik. Zu klären ist die Frage, ob bei der Konstituierung sozialer Identität immer auf Geschichte zurückgegriffen wird oder nicht. Es sind die Bedingungen darzulegen, unter denen ein Rückgriff auf die Vergangenheit erfolgt. Außerdem werden die Folgen erörtert, wenn sich aufgrund negativ bewerteter Vergangenheitsereignisse, nämlich der Zeit des Nationalsozialismus, keine positive soziale Identität herstellen lässt. Die vorliegenden Publikationen zu Geschichtsbewusstsein oder zu Geschichtspolitik thematisieren den Aspekt sozialer Identität unter geschichtsphilosophischer Perspektive (Lübbe 1977; Angehrn 1985; Förster 2003). Deren Grundaxiom wird im Folgenden übernommen, dem zufolge sich Menschen mittels Vergegenwärtigung der Vergangenheit eine Vorstellung über sich selbst verschaffen und sich auf diese Weise gleichzeitig von anderen abgrenzen (vgl. Rüsen 1994: 80). Da aber Geschichtspolitik als strategisches Handeln politischer Akteure zu erklären ist, wird es im Weiteren nicht um den argumentativen Beleg für das geschichtliche Gewordensein als Komponente menschlicher Identität gehen. Stattdessen richtet sich der Fokus darauf, warum politische Akteure zur Konstituierung von Gruppenidentität spezifische Aspekte der Geschichte heranziehen, warum Individuen zur Herstellung ihrer eigenen Identität auf Teile der Vergangenheit zurückgreifen, andere Teile aber verwerfen.
Theorie sozialer Identität
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Zur Beantwortung dieser Fragen wird die Theorie sozialer Identität herangezogen. Sie kann als weithin anerkannt und empirisch belegt gelten. Als Theorie trug sie in den letzten dreißig Jahren erheblich zu unserem Wissen über Gruppenkohäsion bei (Brown 2000: 745f.; Hogg/Abrams 1988: 14–19). Da sich die meisten Arbeiten zur Theorie sozialer Identität mit Intergruppenbeziehungen beschäftigen, bedarf es für diesen Beitrag einer Ausweitung, die den historischen Aspekt berücksichtigt. Mit der Theorie des zeitlichen Vergleichs (Albert 1977) liegt ein solcher Ansatz vor. Beide Theorien werden nachfolgend ausführlich in ihren Aussagen und Implikationen dargelegt. Präsentiert wird damit ein Modell zur Erklärung geschichtspolitischen Handelns. Im Fazit wird zu diskutieren sein, ob sich mittels dieser Theorien geschichtspolitisches Handeln erklären lässt, soweit es sich auf die Konstruktion sozialer Identitäten bezieht. BEGRIFFSEBENEN VON IDENTITÄT Bei menschlicher Identität geht es um die Konstituierung des Subjekts als einem, das sich von allen anderen Menschen unterscheidet. Der Anspruch auf Einzigartigkeit lässt sich allerdings abhängig vom Kontext immer nur in unterschiedlichem Grad und nie vollständig einlösen. Es ist nicht möglich, alle ans Unendliche grenzenden Eigenschaften des Einzelnen aufzuzählen, wie es auch bei allen Kategorien Überschneidungen mit den Merkmalen anderer Menschen gibt. Die unsere Identität begründenden Charakteristika lassen sich auf drei Dimensionen verorten. So sprechen wir von – einer numerischen, – einer sozialen und – einer historischen Identität (vgl. Angehrn 1985: 8; 236). Die erstgenannte entspricht der Referenzsicherung. Eine Person wird als diese konkrete identifiziert (Goffman 1967: 73). Wir konstruieren die eigene Identität über das Wissen um die uns charakterisierenden Merkmale. Dementsprechend vermögen wir mittels Deskription in Bezug auf Alter, Geschlecht, Geburtsort, bis hin zu Haar- oder Augenfarbe jemanden zu bestimmen, ohne aber ausschließen zu können, dass die genannten Eigenschaften auf jemand anderes ebenfalls zutreffen. Das Bild vom Selbst eines Individuums wird ergänzt durch dessen soziale Identität. Sie basiert auf der Wahrnehmung von Menschen als Gruppenmitgliedern. Wer mit anderen interagiert, definiert jene und sich selber selten als unverwechselbare Einzelne. Menschen werden in ihren Rollen gesehen, die sie in der Gesellschaft innehaben und mit denen sie sich identifizieren (Tajfel/Turner 1986: 15). Primär dienen solche sozialen Kategorisierungen der Strukturierung und Vereinfachung von Erfahrung und Kommunikation. Damit ermöglichen sie die Voraussagbarkeit menschlichen Handelns (Hogg/Abrams 1988: 17f.). Indem wir Rollen annehmen, ausfüllen oder auch modifizieren, machen wir sie zu einem Teil von unserem Selbstbild (Mead 1968: 218). Soziale Identität beruht folglich auf der Identifikation mit Gruppen sowie auf dem Wissen um Rollen und den Erwartungen des sozialen Umfelds an diese. Zugleich zeigt sich hier ein Spannungsverhältnis zur numerischen Identität. Auch die soziale Identität beschreibt Eigen-
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schaften einer Person, „bezieht sich aber auf die Mitgliedschaft dieser Person in Gruppen.“ (Stephan 2006: 74) Wird sie im einen Fall als dieses einzigartige Individuum erkannt, unterscheidet sie sich im zweiten Fall nicht von den Mitgliedern derselben Gruppe. Zum Selbst gehört es eben auch, Normen zu entsprechen, sich von den Gruppenmitgliedern als Anderen nicht zu unterscheiden. Darüber hinaus spielt bei der Bestimmung von Identität das historische Gewordensein eines Subjekts eine Rolle. Gemeint ist eine Identitätsebene, die Emil Angehrn (1985: 236) als Selbigkeit bezeichnet. Mit dem Blick auf die Geschichte verschafft das Individuum sich Sicherheit darüber, dass es im Lauf der Zeit dasselbe geblieben ist. Ein Mensch erhält eine weitgehend zutreffende Selbstdefinition dann, wenn sie oder er sich neben dem Vergleich mit anderen zugleich mit dem eigenen Selbstbild in der Vergangenheit auseinandersetzt. Das Ziel wird erreicht, wenn sich die Vorstellung persönlicher Identität über die Zeit erhält und stabil bleibt (Albert 1977). Setzt sich jede Selbstdefinition aus einer individuellen und einer sozialen Komponente zusammen, kann die temporale Perspektive sowohl bei der Fixierung auf das individuelle wie auf das kollektive Selbst eingenommen werden (vgl. Mummendey/Simon 1997). Diese Möglichkeit wird in Bezug auf Geschichtspolitik augenfällig in den Auseinandersetzungen um die Interpretation des Nationalsozialismus. Die von Helmut Dubiel (1999) nachgezeichneten Bundestagsdebatten zu diesem Themenfeld demonstrieren mit der in ihnen spürbaren hochemotionalen Atmosphäre, wie sehr es den Rednerinnen und Rednern jeweils um eine Standortbestimmung für das Kollektiv der Deutschen, aber eben auch um die der eigenen Person ging. Wenn der CDU-Abgeordnete Alfred Dregger in der Aussprache vom März 1997 zur Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung „die gesamte Kriegsgeneration pauschal als Angehörige und Helfershelfer einer Verbrecherbande“ abgestempelt sieht (zit. n. Stephan 2006: 15), fühlt er, der ehemalige Wehrmachtssoldat, nicht nur die Deutschen, sondern als Gruppenmitglied auch sich selbst diffamiert. Es steht außer Frage, dass Identität allein von Individuen, nie von Kollektiven erfahren werden kann. Dennoch ist das Bild des individuellen Selbst nicht unabhängig vom Kollektiv, dem es sich zurechnet. Wir definieren uns sowohl über Eigenschaften und Charaktermerkmale, die wir uns ganz persönlich und unserem Werdegang als Einzelwesen zuschreiben, als auch über die Spezifika jener Gruppen, denen wir angehören oder deren Mitgliedschaft wir anstreben. Damit ist einsichtig, warum es heftige Auseinandersetzungen um prekäre Gruppendefinitionen wie im Falle der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands gibt. Wird eine Version des Gruppenselbstbildes zur dominierenden, wirkt sie auf die individuellen Selbstbilder der Gruppenmitglieder zurück. In geschichtspolitischen Disputen geht es folglich darum, die Dominanz unerwünschter Gruppenselbstbeschreibungen zu unterbinden oder zurückzudrängen. Zusammengefasst lässt sich in Ergänzung zu Bernd Simon und Amélie Mummendey (1997: 20) festhalten, dass personale Identität in der Selbstinterpretation als singulärem, einzigartigem Individuum gründet, das zusätzlich von sich den Eindruck hat, über die Zeit dasselbe geblieben zu sein.
Theorie sozialer Identität
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„Soziale Identität setzt voraus, daß die Selbst-Interpretation sozial erweitert wird. Eigengruppen-Mitglieder werden mit in die eigene Selbst-Interpretation aufgenommen. [...] Soziale Identität gründet demnach in der Selbst-Interpretation als austauschbares Gruppenmitglied, also im kollektiven Selbst.“ (ebd.)
Auch hier dient der Blick in die Geschichte der Selbstversicherung. Die Vorstellung einer historisch gewachsenen Einheit trägt insbesondere bei Großgruppen, wie es Nationen sind, zur Kohäsion bei, weil durch die Übernahme historischer Vorstellungen innergesellschaftliche Konflikte entschärft werden, insofern Gegensätze im Vergleich mit den in der Vergangenheit bewältigten Gemeinsamkeiten als unwichtig erscheinen (Ben-Amos 1997: 144). GRUNDLAGEN DER THEORIE SOZIALER IDENTITÄT Die von Henri Tajfel (1974) entwickelte Theorie sozialer Identität belässt es nicht dabei, das Vorhandensein eines Gruppen- oder Gesellschaftsbewusstseins zu konstatieren. Sie behandelt die Fragen, warum, wie und mit welchen Konsequenzen eine soziale Realität – Gruppen und Gruppenmitgliedschaften nämlich – in eine psychologische – die verhaltensleitende Identifikation mit den Gruppen – transformiert wird (ebd.: 16f.). Insofern bewegt sie sich an der Schnittstelle zwischen Mikro- und Makroebene. Als Grundannahme behauptet die Theorie, jede Gesellschaft setze sich aus sozialen Kategorien zusammen, die vermittelt über Macht- und Statusrelationen miteinander in Verbindung stehen. Als soziale Kategorien gelten Unterteilungen der Menschen in Gruppen nach Merkmalen wie Nationalität, Schicht, Einkommensklasse, Beruf, Geschlecht etc. Da den Angehörigen einiger dieser Kategorien eine größere Macht zur Verfügung steht als jenen anderer Kategorien, beeinflussen Macht- und Statusrelationen die Sozialstruktur der Gesellschaft und damit die Wahrnehmungen und das Handeln der Menschen (Hogg/Abrams 1988: 14). Allerdings propagiert Tajfel kein statisches Modell. Er geht von Freiheitsgraden aus, die den Menschen in der Interaktion mit anderen beim Ausfüllen ihrer Rollen bleiben. Als weiteres Axiom unterstellt die Theorie sozialer Identität, Menschen bedürften eines positiven Selbstwertgefühls (Tajfel 1978: 63). Gemeint ist, dass Individuen auf Dauer nicht fähig sind zu überleben, wenn sie sich aufgrund ihrer Eigenwahrnehmung allein negative Eigenschaften oder Bewertungen beimessen. Ihr Selbstwertgefühl erreichen die Menschen über ein positives Selbstkonzept. Es beinhaltet jene positiv bewerteten Charakteristika, die sich eine Person selber zuschreiben kann und die in ihrer Sicht das eigene Selbst repräsentieren (Sedikides/ Gregg 2003: 118). Indem wir uns über uns selber Rechenschaft geben, betrachten wir uns nur zu geringem Teil als Wesen mit persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Überzeugungen, die unabhängig von Gruppenzusammenhängen zustande kommen. Aus Sicht der Theorie sozialer Identität beruht das Selbstkonzept in hohem Maße auf Kategorisierungen. Die mit ihnen wahrgenommenen Objektklassen leiten sich aus gesellschaftlich geteilten Überzeugungen hinsichtlich dieser Rollen ab. So
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führt die Perzeption einer Person in Bezug auf ihren Sozialstatus dazu, gemäß dieser Kategorie ein bestimmtes Verhalten zu erwarten. Dieser Mensch erscheint in einem solchen Moment weniger als das singuläre Individuum XYZ, sondern als Arbeiterin, Unternehmerin etc. Die Funktionalität der sozialen Kategorien liegt darin, dass sie unsere Erfahrungen vereinfachen. Sie strukturieren die unendliche Zahl der von uns wahrgenommenen Stimuli, indem sie auf eine behandelbare Anzahl von Klassen reduziert werden. Die soziale Kategorie entspricht dem Prototyp der sozial vorgegebenen Rolle (Hogg/Abrams 1988: 21). Der Nachteil der vereinfachten Wahrnehmung liegt in den mit der Kategorisierung einhergehenden Informationsverlusten. Wie empirische Tests belegen, geht die Klassifizierung in soziale Kategorien einher mit kognitiver Akzentuierung von intrakategorialen Ähnlichkeiten wie interkategorialen Unterschieden. Sowohl die Ähnlichkeit von Stimuli der gleichen Klasse wie auch die Differenz zwischen Stimuli verschiedener Klassen werden überschätzt (Stephan 2006: 75).1 Unabhängig von Handlungsspielräumen, die uns unsere Rollen ermöglichen, nehmen wir Menschen in Erscheinung oder Verhalten als gleich wahr, wenn wir sie einer spezifischen sozialen Kategorie zurechnen. Menschen, die wir unterschiedlichen sozialen Kategorien zuordnen, schätzen wir demgegenüber als ungleich ein, auch wenn ihr tatsächliches Verhalten dem widerspricht. Wie empirische Forschungen zur Theorie sozialer Identität belegen (Brown 2000), ist für die soziale Komponente der Selbstidentifikation entscheidend, dass wir ein positives Bild jener Gruppen zeichnen, denen wir selber angehören. Auf diese Weise stabilisieren wir unser Selbstbild. Wir erzeugen es mittels sozialer Vergleiche, die zu einem für die Eigengruppe günstigen Vergleichsergebnis führen. Auf derartige Vergleiche wird in der Regel zurückgegriffen, weil, anders als etwa bei sportlichen Wettkämpfen, selten absolute Maßstäbe zur Verfügung stehen, mittels derer eine Leistungsbewertung entscheidbar wäre. Der soziale Vergleich beruht auf gegenseitiger Verständigung von Gruppenmitgliedern über die Einschätzung anderer Gruppen, Leistungen oder Sachverhalte, welche Grundlage des Vergleichs sind. Wir vertrauen auf die Wahrheit unserer eigenen Sichtweise, indem wir auf den Konsens unter jenen bauen, mit denen wir uns identifizieren (Hogg/Abrams 1988: 22). Beim sozialen Vergleich geht es allerdings nicht nur um die Richtigkeit der eigenen Überzeugungen. Weil wir ein positives Selbstkonzept anstreben, versuchen wir ebenfalls, im Vergleich besser abzuschneiden als die Vergleichsgruppen. Schaffen wir es, uns von den anderen positiv abzusetzen, erfahren wir eine Selbstwertsteigerung, verbessern unser Wohlergehen. Soziale Vergleiche zielen somit auch auf die Bewertung der eigenen Überzeugungen, was aber nicht automatisch
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Solche Akzentuierungen nehmen wir aber nur auf Dimensionen vor, bei denen wir einen Zusammenhang mit der Kategorisierung unterstellen, und sofern die Kategorie für uns von Bedeutung ist. Hogg und Abrams (1988: 20) nennen als Beispiel, dass bei der Dimension Rhythmusgefühl die Kategorisierung nach Hautfarbe wahrscheinlich zu einer Akzentuierung führen, während dies bei der Kategorisierung nach Geschlecht nicht der Fall sein dürfte.
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Entwertung der Vergleichsgruppen bedeuten muss (Brown 2000: 763; vgl. Mummendey et al. 2001). Wird die Selbstwahrnehmung im Zusammenhang mit sozialer Kategorisierung gesehen, entspricht das Selbst dem im einzelnen Menschen repräsentierten Eigengruppenprototyp (Hogg/Abrams 1988: 21). Der soziale Vergleich zwischen Eigen- und Fremdgruppe erfolgt mit dem Ziel, eine positive Distinktion für die Eigengruppe zu erreichen, was dann wiederum auf das Individuum zurückwirkt. „Wenn die Eigengruppe auf einer Wertdimension positiver bewertet werden kann als eine andere Gruppe, dann können Personen durch das Übertragen dieser positiven Bewertung auf die eigene Person zu einem positiven Selbstbild gelangen.“ (Stephan 2006: 76) Nun kann eine Gruppe keineswegs davon ausgehen, dass soziale Vergleiche, die angestellt werden, selbstverständlich zu ihren Gunsten ausgehen werden. Eine solche Erwartung setzt starre innergesellschaftliche beziehungsweise internationale Hierarchien voraus, aufgrund derer die Strukturen zwischen den Gruppen festgelegt wären. Eine solche Vorstellung ist nicht nur unrealistisch, sie verstellt auch den Blick auf gesellschaftliche Dynamiken sozialen Wandels. Um dennoch zu positiven Vergleichsergebnissen zu kommen, greifen Menschen auf unterschiedliche Formen sozialer Kreativität zurück. Henri Tajfel und John Turner (1986: 19f.) nennen hier – die Wahl eines anderen relevanten Vergleichsobjektes, – die Wahl einer anderen relevanten Vergleichsdimension und – die Redefinition traditionell negativ eingeschätzter sozialer Kategorien. Sind die Individuen mit einem negativ ausgefallenen Vergleich konfrontiert, können sie mit der Heranziehung eines anderen, für die Eigengruppe ebenfalls relevanten Vergleichsobjektes reagieren, bei dem ein besseres Vergleichsergebnis auf der für das Selbstbild wichtigen Dimension zu erwarten ist. Um ein Vergleichsergebnis als Erfolg verbuchen zu können, ist es grundsätzlich notwendig, dass die für die Konstitution des Selbst bedeutsamen Aspekte nicht mit irgendeiner anderen Gruppe gemessen werden. Vielmehr sollte es sich beim Vergleichsobjekt um eine wenigstens statusähnliche Gruppe handeln, die durch die Eigengruppe überflügelt wird. Wenn etwa Samuel Huntington (1991) in seinem Wellenmodell der Demokratisierung der Welt die USA am Beginn dieser Entwicklung sieht, ist es für die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik aussichtslos, sich auf dieser Dimension mit den USA zu messen, da Deutschland nicht der ersten Demokratisierungswelle zugerechnet werden kann. Ist es für das soziale Selbst wichtig, sich in demokratischer Tradition zu verankern, ist es möglich, als Vergleichsobjekt Länder der sogenannten dritten Welle heranzuziehen, in denen es Mitte der 1970er Jahre zur Demokratisierung kam. Von diesen wiederum eignen sich aber nicht alle als adäquate Vergleichsobjekte. So dürfte die Wahl kaum auf Griechenland oder Portugal fallen, die ihrer geographischen Größe, der Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft etc. keine ernstzunehmenden Konkurrenten sind. Stattdessen eignet sich Spanien für einen solchen sozialen Vergleich, weil es eine für Deutschland relevante Fremdgruppe darstellt, der gegenüber die Bundesrepublik auf eine
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länger währende demokratische Tradition zurückblicken kann. Ein solches Resultat trägt dann zur Stärkung des Selbst bei. Ist es nicht möglich, ein negatives Vergleichsergebnis durch den Wechsel des Vergleichsobjekts zu korrigieren, steht den Individuen die Möglichkeit offen, eine andere Vergleichsdimension zu wählen, um auf diese Weise die Eigengruppe positiv wahrnehmen zu können. Lässt es der Handlungskontext nicht zu, die USA als Vergleichsgruppe gegen eine andere Nation zu vertauschen, fällt es angesichts der Erfahrung des Nationalsozialismus Deutschen zweifellos schwer, sich mit jener Nation zu messen, deren Mitglieder sich selber als Wiege westlich geprägter demokratischer Tradition begreifen. Ein Ausweg besteht darin, den Umgang mit der negativ bewerteten Vergangenheit zum Ausgangspunkt eines sozialen Vergleichs zu machen. Eine derartige Argumentation zielt darauf ab, die aufgrund von Zweitem Weltkrieg und Völkermord an den Juden beschädigte nationale Identität durch den Verweis auf die Vergangenheits- und Erinnerungspolitik zu stärken. Der beispielhafte Umgang mit dem Nationalsozialismus habe in der Bundesrepublik dazu geführt, das frühere kollektive Fehlverhalten anzuerkennen und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.2 Im Vergleich mit anderen Nationen, eben auch mit den USA und deren Erbe bezüglich der Vergehen an den Ureinwohnern oder den Schwarzen, kann Deutschland als Paradebeispiel für die Aufarbeitung einer verbrecherischen Vergangenheit erscheinen. Eine solche Strategie führt den sozialen Vergleich bei einer festgelegten Vergleichsgruppe zum Erfolg. Indem sich der Vergleich auf spezifische Dimensionen beschränkt, ist es möglich, das Selbst gezielt zu stabilisieren. Sind die Intergruppenbeziehungen durch eine starre Hierarchie gekennzeichnet und sind statusniedrige Gruppen auf keiner allgemein anerkannten Vergleichsdimension im Vorteil, können sie keine der vorgenannten Strategien nutzen, um zu einem positiven Selbstbild zu gelangen. Wollen sie sich nicht damit abfinden, bleibt ihnen die Möglichkeit der Redefinition von sozialen Kategorien beziehungsweise Vergleichsdimensionen, die im Verständnis der dominanten Gesellschaftsgruppen als negativ bewertet gelten.3 Als exemplarisch dafür kann das Verhalten von Rechtsextremen gelten. Sie beharren darauf, Hitler und die Nationalsozialisten als Teile der Tradition, auf die sie sich berufen, hätten entgegen der heute herrschenden Meinung eine „gute“ und „richtige“ Politik gegenüber Fremdgruppen betrieben. Mittels solcher Umbewertung von ansonsten gesellschaftlich geächteten Einstellungen nehmen Neonazis für sich in Anspruch, in Bezug auf Ausländer eine bessere und klarere Position einzunehmen als die Mitglieder der übrigen gesellschaftlichen Gruppen. Auf diese Weise stärken sie ihr Gruppenselbst.
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Auf die Brüchigkeit dieser Argumentation wird weiter unten noch eingegangen. Das eingängigste Beispiel dafür ist der Slogan Black is beautiful. Er wurde von Teilen der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren in den USA geprägt und wertete eine von der weißen Mehrheitsgesellschaft abschätzig betrachtete soziale Kategorie auf, indem das Schwarzsein zu einem Merkmal des Stolzes erklärt wurde.
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Als Reaktion auf negative Vergleichsergebnisse ist weiterhin der Abbruch des sozialen Vergleichs denkbar, um die eigene soziale Identität nicht zu beschädigen. Allerdings dürfte ein Abbruch allein nicht ausreichen, um den Schutz der Identität zu bewirken. Erscheint ein Vergleichsresultat bedrohlich, müsste auch das Wissen darum, dass der Vergleich angestellt wurde, verdrängt werden. Eine erfolgreichere Copingstrategie dürfte es dann schon sein, das Vergleichsobjekt respektive die Vergleichsdimension für irrelevant zu erklären, den Wahrnehmungsfokus somit zu verändern. Derartige Vorgehensweisen sind kennzeichnend für statusniedrige Gruppen, für die absehbar keine Aussicht auf Veränderung der Gruppenposition in der gesellschaftlichen Hierarchie besteht und die sich deshalb in ihr Schicksal fügen. Schließlich kommen beim negativen sozialen Vergleich zwei weitere Handlungsstrategien in Betracht: – individuelle Mobilität und – sozialer Wandel. Im ersten Fall werden die Menschen danach streben, die Eigengruppe zu verlassen, um Mitglied in der besser bewerteten Vergleichsgruppe zu werden. Gelingt dieses Unterfangen, schneiden diese Personen zukünftig im sozialen Vergleich besser ab und können sich zudem den Gruppenwechsel als positive Leistung zuschreiben. Allerdings kann die Annahme als Mythos gelten, unsere westlichen demokratischen Gesellschaften böten große Möglichkeiten individueller Mobilität und die Individuen könnten bei großen Anstrengungen den sozialen Aufstieg schaffen (Hogg/Abrams 1988: 28). Erst recht auf der Ebene nationaler oder ethnischer Kollektive ist ein Wechsel der Gruppenmitgliedschaft nur unter erschwerten Bedingungen möglich und für die einzelne Person oft mit erheblichen Kosten verbunden. Weiterhin bleibt bei individueller Mobilität die Gesellschaft selber in ihren Gruppenrelationen statisch, besteht für die statusniedrigen Individuen als Gruppe keine Möglichkeit, zukünftig zu einem besseren Vergleichsergebnis zu kommen. Die andere Möglichkeit, mit einem negativen Vergleichsresultat umzugehen, zielt darauf, den Gruppenstatus zu verbessern und damit auf die Veränderung in der Gesellschaft zu setzen. Zweifellos muss in derartigen Fällen eine gesellschaftliche Situation gegeben sein, die den Wandel zulässt, sei es, dass sich die Machtverhältnisse verschieben, sei es dass die ökonomischen Ressourcen umverteilt werden. Bislang unterprivilegierte Gruppen, die an den Veränderungen partizipieren, können den Wandel nicht nur als Erfolg ihrer Gruppe verbuchen. Sie können gleichzeitig auf einen Einstellungswandel hinwirken, durch den ihrer Gruppe eine Anerkennung widerfährt, die ihr bislang versagt war. Die beschriebenen Umstände führen zur Erfahrung einer positiven sozialen Identität. Mit den voranstehenden Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass die Theorie sozialer Identität als Erklärungsmodell geschichtspolitischer Analysen dienen kann. Sie vermag zu verdeutlichen, warum Individuen nationale Identität als Sonderfall der sozialen Identität wichtig ist, nämlich dann, wenn sich der eigenen Nation Erfolge zuschreiben lassen, die zugleich der Stärkung des individuellen Selbst dienen. Weiterhin macht die Theorie nachvollziehbar, auf welche Wei-
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se versucht wird, nationale Identität zu erlangen. Geschichtspolitik spielt hier eine Rolle, wenn mit ihr Identitätsangebote gemacht werden. Beantworten lassen sich folglich Fragen danach, wie Geschichte zur Herstellung einer positiven sozialen Identität eingesetzt wird. Weiterhin wird vermittelbar, inwieweit historisch begründete soziale Vergleiche das soziale Selbst der Nationsangehörigen stärken. Mit Hilfe der Theorie sozialer Identität ist es somit möglich zu zeigen, warum sich Geschichte als identitätsstiftendes Objekt anbietet und unter welchen Bedingungen auf sie zurückgegriffen wird. Die Theorie liefert eine Begründung dafür, warum sich spezifische Ausschnitte aus der Vergangenheit als vorbildlich für Gegenwart und Zukunft präsentieren lassen. Sie tragen zur individuellen Identitätsbildung bei, weil diese Geschichtsbilder im Vergleich mit anderen Objekten, anderen Dimensionen oder über die Zeit hinweg den Gesellschaftsmitgliedern ein positives Bild der Eigengruppe vermitteln. DER BEZUG AUF DIE GESCHICHTE: DIE THEORIE TEMPORALER VERGLEICHE Die voranstehend gewählten Beispiele wurden herangezogen, um die einzelnen Theorieaspekte anhand des Umgangs mit Geschichte zu demonstrieren. In der Literatur zur Theorie sozialer Identität wird den Zusammenhängen mit der Vergangenheit jedoch kaum Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Hogg/Abrams 1988; 2003; Brown 2000; als Ausnahme siehe Mummendey et al. 2001). Schon bei Tajfel (1982: 70f.) spielt die Zeitebene eine nur untergeordnete Rolle. So sind für ihn Gruppen dadurch definiert, dass ihre Mitglieder sich selber mit einem hohen Grad an Übereinstimmung als solche begreifen und andere ihnen dieselbe Kategorisierung zusprechen. Kulturelle Traditionen seien einer von mehreren Aspekten, die die Auswahl derjenigen Charakteristika determinierten, nach denen sich eine Gruppe von Fremdgruppen unterscheidbar mache. Die gemeinsam geteilte Erinnerung an kollektiv gemachte Erfahrungen werde der gesamten Gruppe zugeschrieben (ebd.: 57). Allerdings begründet Tajfel diese Aussage nicht weiter, noch vertiefen er oder andere die Bedeutung der Konstruktion eines Geschichtsbildes für die soziale Identität. Die Vernachlässigung der historischen Dimension in der Theorie sozialer Identität ist plausibel, weil Kollektive Geschichte nicht unabdingbar „brauchen“, um ihre soziale Identität herstellen oder aufrechterhalten zu können (Angehrn 1985: 368). Hält die Vergangenheit keine Ereignisse bereit, aus denen sich in sozialen Vergleichen ein positives Gruppenbild ableiten lässt, werden die Gesellschaftsmitglieder andere Vergleichsdimensionen nutzen. Der Zusammenhang zwischen Geschichte und Identität ist somit kein kausaler, sondern entspricht vielmehr einer Zweck-Mittel-Relation. In ihr stellt die mehrheitlich übereinstimmend wahrgenommene Geschichte beziehungsweise das konstruierte Geschichtsbild eine intervenierende Variable dar. Wenn eine Nation ihre Geschichte gemeinschaftlich als wichtig ansieht und der soziale Vergleich mit ähnlichen Ereignissen in der Vergangenheit anderer Nationen zu einem positiven Ergebnis führt, kann die Geschichte den Individuen zur Stabilisierung ihrer Identität dienen. Sollten
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solche temporalen Vergleiche jedoch negativ ausfallen, dürfte die Vergangenheit des Kollektivs keine identitätsstiftende Bedeutung haben. Folglich behandelt die Theorie sozialer Identität historische Ereignisse oder Leistungen lediglich als Vergleichsdimensionen, die in soziale Vergleiche einfließen. Eine weitergehende Bedeutung kommt der Zeitebene nicht zu. Unberücksichtigt bleibt, dass Menschen über ihr individuelles und kollektives Selbst auch in Bezug auf die Entwicklung in der Zeit reflektieren. Wir können unser Selbst auch stärken, indem wir uns die positiven Ergebnisse von Veränderungsprozessen als Erfolge zuschreiben. Entwicklungen, die wir im Laufe des Lebens durchmachen, tragen folglich ebenfalls zur sozialen Identität bei. Im Rahmen seiner Theorie temporaler Vergleiche erweitert Stuart Albert (1977) die Überlegungen zum sozialen Vergleich um die Dimension der Selbigkeit. Übertragen auf den Bereich von Geschichtspolitik ergeben sich zwei weitere Wege, um soziale Identität zu stabilisieren. Der eine von ihnen entspricht dem bereits genannten Vergleich zwischen zwei sozialen Kategorien. Der zweite, hier stärker interessierende, vergleicht dasselbe Objekt in Bezug auf Veränderung. – Die Kontrastierung zweier Objekte zum selben historischen Zeitpunkt führt zum Vergleich in der Geschichte. Mit ihm kann das Individuum der Eigengruppe dann ein positives Bild zusprechen, wenn der Rückblick in die Vergangenheit zeigt, dass das eigene Wir schon immer gut und besser als das der anderen war. Verdeutlicht werden kann diese Art der Selbststärkung mit dem oben beschriebenen Verweis von US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern auf ihre lange demokratische Tradition. Auf dieser Ebene gestaltet sich ein sozialer Vergleich für sie positiv.4 – Zu unterscheiden davon ist der Vergleich über die Geschichte, bei dem dasselbe Objekt in seiner zeitlichen Veränderung betrachtet wird. Der soziale Vergleich basiert hier nicht auf der Konkurrenz zwischen zwei sozialen Kategorien. Im Betrachtungsfokus steht lediglich die eigene Gruppe, deren Entwicklung in die Gegenwart hinein als Leistungssteigerung beurteilt und dem entsprechend positiv bewertet wird. Die Gruppenmitglieder können die Verbesserung im Gegensatz zu früher für sich als Erfolg verbuchen. Zentral ist hierbei, dass der Vergleich unabhängig von den Leistungen oder Eigenschaften von Fremdgruppen erfolgt. So erreichen Westdeutsche ein positives Selbstbild, wenn sie für sich in Anspruch nehmen, sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer gefestigten Demokratie westlichen Zuschnitts entwickelt zu haben. Soweit soziale Vergleiche zu positiven Resultaten für die Eigengruppe führen, lassen sie sich geschichtspolitisch als Basis für Handlungsstrategien nutzen. Politikerinnen und Politiker trachten danach, die Ergebnisse der Vergleiche in das öffentliche Bewusstsein zu heben, um den Individuen Identitätsangebote zu machen. Auf diese Weise werden die positiven Beurteilungen der Eigengruppe für die Ein4
Auf die mit solchen Vergleichen einhergehende problematische Annahme von Kontinuität gehe ich nicht weiter ein, da sie für das Vergleichsergebnis und die Herstellung einer positiven sozialen Identität solange nicht relevant ist, solange sie nicht infrage gestellt wird.
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zelnen denkbar und können auf das je eigene Selbst bezogen werden. Damit tragen sie zur Herstellung und Aufrechterhaltung einer nationalen Identität bei. Dem in der Theorie temporaler Vergleiche thematisierten Rückgriff auf die Geschichte kommt besondere Bedeutung zu, insofern er auf eine Form konstruktiver sozialer Kreativität verweist. So erlaubt es der Vergleich über die Geschichte, einer Konkurrenzsituation und der mit ihr verbundenen möglichen Abwertung von Fremdgruppen zu entgehen. Statt dessen wird dem sozialen Wandel in der eigenen Gesellschaft Beachtung geschenkt und die Entwicklung des eigenen Kollektivs an einem generalisierten Maßstab gemessen und bewertet. Gerade hierin liegt eine Möglichkeit von Geschichtspolitik, die Potentiale der Eigengruppe hervorzuheben. VERMAG EINE NEGATIV BEWERTETE GESCHICHTE NATIONALE IDENTITÄT ZU STIFTEN? Diese Frage ist im Falle Deutschlands mit seiner negativ bewerteten Vergangenheit von nicht zu unterschätzender Brisanz. Wenn die Theorie sozialer Identität bestimmt, dass sich unser Selbst mittels Herstellung einer positiven sozialen Identität stabilisiert, kann ein solcher Prozess nur gelingen, sofern die durchgeführten sozialen Vergleiche in der beziehungsweise über die Zeit zu positiven Resultaten für die Eigengruppe führen. Daraus folgt aber, dass Deutsche für sich kaum eine soziale Identität gewinnen können, sollten sie anerkennen, Teil eines Volkes von früheren Massenmördern beziehungsweise Mordgehilfen zu sein. Notwendigerweise muss ein solches Eingeständnis eine Bedrohung für das soziale Selbst der Individuen darstellen. Diese Schlussfolgerung ist politisch brisant, weil sich mit ihr Verdrängungsprozesse rechtfertigen lassen. Exemplarisch hierfür ist die von Hermann Lübbe beschriebene „gewisse Stille“ der 1950er Jahre, mit der er die fehlende Bereitschaft zur Erinnerung des Nationalsozialismus charakterisierte. Die Weigerung, diese Vergangenheit wahrzunehmen, erachtete Lübbe für den Aufbau der jungen Bundesrepublik Deutschland als notwendig, damit die Täter in die neue Demokratie integriert werden konnten (1983: 586f.). Lübbes Rechtfertigung zeigt im vorliegenden Zusammenhang, dass er die NS-Täter dem eigenen Kollektiv nicht nur zurechnete, sondern sie auch als integralen Bestandteil akzeptierte. Wird sein Gedanke zu Ende gedacht, gefährdeten die Forderungen der Opfer nach Anerkennung des erlittenen Unrechts die soziale Identität der Deutschen und damit die Festigung der jungen Demokratie. Sie stellten eine Gefährdung dar, weil sie es allein durch Anmeldung ihrer berechtigten Ansprüche den Deutschen als den Tätern verwehrten, eine Kontinuität über die Zeit konstruieren. Vergleichbar lassen sich die vielen aggressiven Abwehrreaktionen erklären, die zu beobachten waren, wenn die Verdrängung durchbrochen wurde. Indem die Wehrmachtausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung Belege dafür lieferte, dass ein Großteil der männlichen deutschen Bevölkerung an den Massenmorden im Zweiten Weltkrieg beteiligt war, sahen viele ältere Deutsche ihre
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individuelle wie auch soziale Identität infrage gestellt. Genau darin lag die Quelle der durch die Präsentation hervorgerufenen Wut gegen die Organisatoren. Welche Verhaltensmöglichkeiten bleiben den Einzelnen bei einer solchen Vergangenheit, zumal wir es bei Geschichte mit einem zwar interpretationsfähigen, aber nicht zu ändernden Faktum zu tun haben? Diese Vergangenheit zu ignorieren ist in einer offenen demokratischen Gesellschaft auf Dauer nicht möglich. Wie die Geschichte der Bundesrepublik belegt, werden immer wieder Anstöße zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gegeben (Benz 1995), seien es die auf Anerkennung und Kompensation pochenden Opfergruppen, seien es kritische Intellektuelle, seien es ausländische Regierungen, die Verweise auf die Ära 1933 bis 1945 als außenpolitisches Druckmittel einsetzen. Aus der Perspektive der Theorie sozialer Identität fällt eine Antwort differenziert aus. Generell ist anzunehmen, dass die Übernahme von Verantwortung zur Erinnerung einer verbrecherischen Vergangenheit die Identifikation mit dem Kollektiv verunmöglicht. Dieser Aussage steht das Konzept des Verfassungspatriotismus entgegen, wie es von Jürgen Habermas vertreten wird. Seine Vorstellung beruht auf der Überlegung, dass „die demokratische Staatsbürgerschaft [...] nicht in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein (braucht); unangesehen der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen, verlangt sie aber die Sozialisation aller Staatsbürger in einer gemeinsamen politischen Kultur“ (Habermas 1990b: 642). Im Falle Deutschlands sei diese Kultur aber nicht nur aus der Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch erwachsen, den der Nationalsozialismus bedeutete. Seiner Folgen wegen wirke er sich auch auf das Gruppenselbstbild aus. Mit Auschwitz „haben die Deutschen die Möglichkeit eingebüßt, ihre politische Identität auf etwas anderes zu gründen als auf die universalistischen staatsbürgerlichen Prinzipien, in deren Licht die nationalen Traditionen nicht mehr unbesehen, sondern nur noch kritisch und selbstkritisch angeeignet werden können“ (Habermas 1990a: 219f.). Anders formuliert: erst wenn sich Deutsche diesem Teil ihrer Vergangenheit stellen, erwächst daraus die Grundlage für die gegenwärtige politische Kultur. Indem Habermas die Identifikation mit der Gesellschaft als Grundlage für gelebte Staatsbürgerschaft anerkennt, ist es nur folgerichtig, wenn er die Tradition als Grundlage für eine kollektive Identität durch den Rassenwahn entwertet sieht (Habermas 1989: 152). Andererseits führe gerade die Reflexion des Völkermordes an den Juden zu einem Verständnis für den Stellenwert von Menschenrechten und Demokratie. Indem Deutsche bereit seien, sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen, wachse ein Verständnis für die „Erwartung, niemanden aus der politischen Gemeinschaft auszuschließen und die Integrität eines jeden in seiner Andersheit gleichermaßen zu achten” (Habermas 1995: 170). Im Sinne der Theorie sozialer Identität ist es für die Herstellung eines positiven Selbstbildes gleichgültig, ob sich die nationale Identität von einer ethnisch oder staatsbürgerlich konzipierten Gesellschaft ableitet. Das im konkreten Fall wirksame Konzept ergibt sich allein aus den Überzeugungen und Einstellungen des wahrnehmenden Individuums wie des Kollektivs (vgl. Bar-Tal 2000). Wichtig im vorliegenden Zusammenhang sind die von Habermas nicht explizit gemachten
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Konsequenzen einer Identitätskonstruktion, die Auschwitz als Verbrechen des eigenen Kollektivs anerkennt. Wenn nämlich das Individuum das moralisch zu verurteilende Handeln der Kollektivmitglieder anerkennt und in das Bild der Eigengruppe integriert, wächst die innere Distanz zu dieser Wir-Gruppe. Die einzelne Person vermag sich nicht mehr mit ihr zu identifizieren. Eine solche Reaktion ist der Theorie sozialer Identität folgend zwangsläufig, weil die Kennzeichnung der Eigengruppe als verbrecherisch es nicht zulässt, aus ihr ein positives Selbstbild zu konstruieren. Folglich sind unterschiedliche Verhaltensweisen der Nationsmitglieder denkbar. In Bezug auf Deutschland ist bei Verfassungspatrioten anzunehmen, dass sie ihr Kollektiv gespalten wahrnehmen, sofern Deutschland für sie trotz Shoah eine wichtige Kategorie ihrer sozialen Identität darstellt. Das Wir bezieht sich dann auf die Vergangenheit nach 1945 mit der Gründung der Bundesrepublik und der Entwicklung hin zu einer gefestigten Demokratie. Die Deutschen in der Zeit davor werden dann notwendigerweise als Fremdgruppe begriffen. Es sind Andere, die nichts mit der heutigen Gesellschaft zu tun haben. Dementsprechend berührt der Völkermord an den Juden nicht das eigene Kollektiv. Vielmehr erwächst dessen Leistung daraus, den Nationalsozialismus zum Anlass für einen Bruch mit der Vergangenheit genommen zu haben. Theoretisch ist die beschriebene Distanzierung von der verbrecherischen Vergangenheit zwar plausibel, doch ist sie für das einzelne Individuum selten konsistent durchzuhalten. Weil ungeachtet von Annahmen über das Entstehen von etwas Neuem in der Regel Kontinuitäten gegeben sind, erzeugt jeder Rückgriff auf die Geschichte Ambivalenzen. Er ist mithin nur bedingt geeignet für die Herstellung nationaler Identität. Zweifellos kann das Lernen aus der Geschichte positiv bewertet und als Gelegenheit interpretiert werden, dass die Deutschen der Gegenwart auf diese Weise ein Identitätsangebot erhalten. Sie können auf den jahrzehntelangen, mühsamen Aufarbeitungsprozess stolz sein. Dieser Gedanke blendet jedoch aus, dass allemal die alten Bevölkerungsmitglieder kaum willens oder in der Lage sein werden, ihre frühere Teilhabe am abgespaltenen Teil der kollektiven Vergangenheit zu verleugnen. Nicht selten bekennen sie sich zu der Meinung, nicht alles sei im Nationalsozialismus schlecht gewesen.5 Wie weitgehend das individuelle Bedürfnis nach positiven Anknüpfungspunkten in der Geschichte hinsichtlich der Zeit des Nationalsozialismus ist, wird durch die Forschungen Harald Welzers deutlich. Im Rahmen einer Repräsentativerhebung ging sein Forschungsteam der Frage nach, ob und in welchem Ausmaß Bundesbürgerinnen und Bundesbürger von der Verstrickung der Generation ihrer Eltern beziehungsweise Großeltern wissen und zuzugeben bereit sind. Die Befunde der Studie belegen, dass eigene Familienangehörige mehrheitlich nicht als Nazis 5
Vergleichbares erleben wir gegenwärtig, wenn sich Ostdeutsche zu ihrem Leben in der DDR äußern. Bei der Konstruktion ihrer nationalen Identität ist noch zusätzlich zu beachten, dass die ostdeutsche Minderheit gezwungen ist, sich gegen eine desinteressierte westdeutsche Mehrheit zu behaupten.
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gesehen werden. Antisemiten und Tatbeteiligte scheinen in der Gesamtbevölkerung nicht existent gewesen zu sein (Welzer et al. 2002: 247). „Die Aufklärung über die NS-Verbrechen und den Holocaust (bringt) den paradoxen Effekt mit sich, daß man die eigenen Eltern und Großeltern zu Regimegegnern, Helfern und alltäglichen oder sogar expliziten Widerständlern macht.“ (ebd.)
Aus dem Blickwinkel der Theorie sozialer Identität lässt sich dieses Paradox auflösen. Die Befragten sorgten mit ihren Antworten dafür, nicht die von ihnen für wichtig erachteten Dimensionen ihrer sozialen Identität zu beschädigen. Die Mitglieder der eigenen Familie werden explizit in einen Gegensatz zum Nationalsozialismus gesetzt. Das individuelle Selbst muss sich also nicht das Merkmal zuschreiben, Teil eines Verbrecherkollektivs zu sein. In weiteren Forschungen wäre zu klären, ob solche Personen nicht auch dazu tendieren, Täter oder Tatbeteiligte jener Vergangenheit von den heutigen Deutschen zu trennen, sie als Fremdgruppe wahrzunehmen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: es gäbe schon Handlungsalternativen. Möglich wäre die Distanzierung von der Nation oder auch der Familie. Es handelte sich dann um Kollektive, die keine oder eine nur geringe Bedeutung für das eigene Selbst hätten. In Bezug auf Deutschland gibt es empirisch jedenfalls ernstzunehmende Hinweise auf entsprechendes Verhalten. Personen, denen Auschwitz bewusst ist, und die der Opfer des nationalsozialistischen Terrors gedenken, fühlen sich kaum als Deutsche (Heinrich 2004). Ähnlich lässt sich die Negierung der Jahre von 1933 bis 1945 mittels des präsentierten theoretischen Rahmens erklären. Exemplarisch sind dafür die Äußerungen des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Mitte der 1980er Jahre, Hans Filbinger. Er leugnete den Nationalsozialismus nicht und sah auch eine Verantwortung von Deutschen für die damals begangenen Untaten. Allerdings beharrte er darauf, die gesamte deutsche Geschichte zu betrachten. Patriotischer Stolz ergebe sich dann, wenn Deutsche die Leistungen ihrer Vorfahren in der Gesamtheit der Geschichte würdigten (zit. n. Krieg 1986: 3f.). Faktisch erfolgt hier eine normativ-wertende Abwägung der Verbrechen mit den positiven Leistungen von Deutschen in der Geschichte vor 1933, bei der aber das Ergebnis vorab feststeht. Insofern haben wir es hier mit dem Wechsel der historischen Vergleichsdimension zu tun. Indem die Folgen des Nationalsozialismus aus dem Wahrnehmungsfokus gerückt und auf diese Weise minimiert werden, ist es möglich, Kontinuität über die Zeit herzustellen und eine Stärkung des Selbst zu erreichen. Von diesen Gedanken ausgehend ist Dariuš Zifonun (2004: 93) beizupflichten, wenn er in seiner Abhandlung über Gedenken und Identität die historische Dimension als Konstruktionselement kollektiver Identität ansieht. Gruppenmythen, seien es die von Familien, Organisationen oder Nationen, vermitteln eine Konstante über die Zeit. Die Gruppe erzeugt von sich das Bild, schon immer dieselbe gewesen zu sein, ihre konstitutiven Merkmale unverändert beibehalten zu haben. Dem entsprechend vermittelt sie ihren Mitgliedern eine feste Vorstellung von ihrem Charakter, den sich die Einzelnen als Teil ihrer individuellen Eigenschaften persönlich zuschreiben können. Fraglich ist es aber, wenn Zifonun dem historischen Vergleich eine zentrale Rolle zuweist. Gerade weil Nationen kaum
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auf eine ausschließlich positiv zu bewertende Geschichte zurückblicken können, ruft die Vergangenheit Ambivalenzen hervor. So konnten Bertjan Doosje und andere (1998) für die Niederlande empirisch nachweisen, dass die Konfrontation mit Verbrechen des eigenen Kollektivs, hier als Teil der kolonialen Vergangenheit, die Identifikation mit der eigenen Nation schwächt. Selbstverständlich kann die Annahme der Schuld, die Anerkennung, dass die eigene Nation die Shoah zu verantworten hat, eine neue, eben verfassungspatriotische Identität ermöglichen (Zifonun 2004: 134). Jedoch ist das Erinnerungskollektiv, das sich eine solche erschafft, nicht deckungsgleich mit den Deutschen, ein Eindruck, wie ihn Zifonun vermittelt. Es bleiben genügend Nationsangehörige, die nicht in der Lage sind, Stolz auf das Ergebnis der Erinnerungsarbeit zu empfinden, denen es nicht gelingt, Sensibilität für die Opfer nationalen Wahns zu entwickeln. Sie wehren sich gegen die Wahrnehmung des Verbrechens, weil ihr kollektives Selbstbild dadurch gefährdet würde (Hondrich 2001: 582f.). Zumindest noch bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts müssen wir aufgrund individueller zeitlicher Kontinuitäten davon ausgehen, dass die Geschichte der Bundesrepublik mit der Aufarbeitung des Völkermordes an den Juden nicht als alleiniges Erfolgsmodell für eine einheitliche nationale Identität taugt. Parallel werden immer auch Gruppen als Teil des Gesamtkollektivs auf einem zeitlich weiter in die Vergangenheit hinausgreifenden nationalen Mythos bestehen und deshalb den Nationalsozialismus beschönigen oder ausblenden. Auf diesem Gegeneinander verschiedener Interpretationen nationaler Identität basieren die Ambivalenzen, die durch die Wahrnehmung von Geschichte erfahren werden. Genau daraus resultieren dann die schon notorischen geschichtspolitischen Konflikte um die jüngere deutsche Vergangenheit. Die voranstehende Erörterung macht deutlich, wie sie sich theoriebasiert interpretieren lassen. DER ERKLÄRUNGSWERT DER THEORIE SOZIALER IDENTITÄT FÜR GESCHICHTSPOLITIK Der Theorie sozialer Identität kommt auf dem Feld von Geschichtspolitik ein nicht zu unterschätzender Erkenntniswert zu, weil sie erklärt, warum Individuen bei der An- und Übernahme historisch begründeter Identitätsangebote eine positive soziale Identität empfinden. So führt der Vergleich einer in der Geschichte durch das eigene Kollektiv erbrachten Leistung mit den Anstrengungen anderer Kollektive in der Vergangenheit zu einer positiven Bewertung, wenn die Eigengruppe den Vergleich für sich entscheiden kann. Außerdem vermag der Blick über eine längere historische Periode den Individuen den Eindruck zu vermitteln, ihr Kollektiv habe in dieser Zeitspanne hinsichtlich eines bestimmten Leistungsmerkmals einen Entwicklungsprozess durchgemacht, den sie, die Mitglieder, sich als Erfolg selber zuschreiben können. In beiden Fällen des historischen Vergleichs kommt es als Folge zu Selbstwertsteigerungen. Die auf Tajfel und Turner zurückgehende Theorie verdeutlicht, warum Individuen eine positive nationale Identität anstreben und welche unterschiedlichen Wege ihnen offen stehen, eine solche zu erreichen. Mittel zum Zweck sind dazu
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soziale Vergleiche. Über sie versuchen die Einzelnen, ein für ihre Gruppe positives Bild zu zeichnen. Neben anderen Vergleichsobjekten dient Geschichte dazu, die Eigengruppe mit Fremdgruppen in Bezug auf eine bestimmte Dimension in der Vergangenheit oder hinsichtlich der Entwicklung der Eigengruppe über die Zeit zu vergleichen. Mit Vergangenheit wird unter anderem deshalb Politik gemacht, um Nationalgefühle und damit breite Zustimmung zu bestimmten Politiken zu erzeugen. Mit dem hier skizzierten theoretischen Werkzeug ist es möglich, geschichtspolitische Konflikte in einer Gesellschaft zu erklären. Verschiedene Vergangenheitsinterpretationen stehen deshalb in Konkurrenz zueinander, weil sie mit gegensätzlichen Einstellungen über die jeweilige Nation einhergehen. Der großen Anzahl von Menschen wie auch des offenen Charakters der Gesellschaft wegen kann bei nationaler Identität nicht davon ausgegangen werden, dass die sozialen Selbstbilder der Individuen identisch sind. Im Gegenteil differieren sie insoweit voneinander, als teils gegensätzliche Vorstellungen über die Kriterien der Mitgliedschaft in einer Nation vorhanden sind (vgl. Blank 1997). Die voranstehenden Ausführungen machen deutlich, dass Geschichte keineswegs die zentrale Kategorie ist, mit der nationale Identität konstruiert wird. Mythen mögen hilfreich sein, um den Nationsangehörigen ein Gefühl von Kontinuität dieser für sie wichtigen Gruppe zu geben. Ist die Geschichte jedoch ambivalent und erschweren negativ bewertete Ereignisse in der Vergangenheit die Identifikation mit der Nation, werden die Individuen auf andere Dimensionen des sozialen Vergleichs ausweichen. Ungeachtet der kritischen Anmerkungen zu den Ausführungen Zifonuns bleibt es sein Verdienst, die Erfolgsmöglichkeiten der verschiedenen geschichtspolitischen Strategien zum Umgang mit einer negativ bewerteten Vergangenheit einer Gesellschaft aufgezeigt zu haben. Wird die Theorie sozialer Identität als Erklärungsmodell zugrundegelegt, erweisen sich auch solche Strategien zumindest kurzfristig als identitätsstiftend, denen auf Dauer kein Erfolg beschieden sein kann. Ob es sich um Schlussstrichforderungen oder um Beschwörungen fragiler Kontinuitäten handelt, sie bezwecken, jeweils Dimensionen des sozialen Vergleichs aufzuzeigen, die zumindest momentan erfolgversprechende Identitätsangebote machen. Ob sich Individuen dafür entscheiden, einen historischen Vergleich abzubrechen, die historische Vergleichsdimension zu wechseln, das Vergleichsobjekt für irrelevant zu erklären beziehungsweise für Verfehlungen in der Geschichte die Verantwortung zu übernehmen, in allen Fällen haben wir es mit Wegen zu tun, für sich selber eine positive soziale Identität zu erzielen. Deutlich wird damit zweierlei: Weder gibt es eine von allen Nationsangehörigen gemeinsam geteilte Vorstellung nationaler Identität, noch werden wir absehbar ohne geschichtspolitische Konflikte auskommen. In ihnen verhandeln die Gesellschaftsmitglieder immer wieder aufs Neue ihr Bild von der Nation, das zugleich die individuellen Selbstbilder spiegelt.
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Horst-Alfred Heinrich
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Johannes Marx
GESCHICHTSPOLITIK UND RATIONAL CHOICE-THEORIE. ZUR ÖKONOMISCHEN BETRACHTUNG KULTURELLER PHÄNOMENE1 Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein. Sie konstituiert oder beschränkt Handlungsräume politischen Gestaltens. Damit ist die Vergangenheit nicht nur für den historisch interessierten Wissenschaftler von Bedeutung, sondern auch für den, der heute Politik gestalten will. Allerdings ist das, was man als Vergangenheit bezeichnet, nicht unmittelbar gegeben und direkt erfahrbar. Oder anders gesagt: Es ist nicht die Vergangenheit „an sich“, die eine Determinante heutiger Politik ist. Stattdessen existieren verschiedene Interpretationen der Vergangenheit, verschiedene konkurrierende Geschichtsbilder, die den jeweilig relevanten historischen Gegenstand unterschiedlich darstellen und interpretieren. Spezifische Interpretationsweisen historischer Ereignisse haben, so eine oft geäußerte Vermutung, Einfluss auf menschliches Handeln. Verschiedene Gruppen einer Gesellschaft wachsen durch gemeinsame Geschichtsbilder zu Interpretationsgemeinschaften zusammen und es kann eine kollektive Identität entstehen. Geschichte besitzt Appellcharakter, evoziert Stimmungen und kann dadurch sogar Massen mobilisieren. Die aktive Gestaltung von Geschichtsbildern ist daher ein zentrales Motiv politischen Handelns (vgl. Wolfrum 2001: 33). Damit gewinnt die Frage des Wirkungszusammenhangs von Geschichtsbildern auf menschliche Verhaltensweisen an wissenschaftlicher Relevanz. Dieser Aufsatz möchte dazu beitragen, den Zusammenhang zwischen Geschichtspolitik und dem konkreten Verhalten von Akteuren aus der Perspektive der Rational Choice-Theorie zu beleuchten. Dabei wird unter Geschichtspolitik das aktive, auf die breite Öffentlichkeit hin ausgerichtete Handeln „bei der Produktion von Geschichtsbildern“ (ebd.: 30) verstanden. Es gilt deshalb zunächst zu klären, wie der Einfluss von Geschichtsbildern auf menschliches Handeln theoretisch zu fassen ist. Dafür wird auf Überlegungen von James S. Coleman (1995) und Hartmut Esser (1999a) zurückgegriffen. Auf sie geht maßgeblich das Modell der strukturindividualistischen Erklärung zurück. Zwar determinieren gesellschaftliche Strukturen den individuellen Handlungsspielraum, sie bestimmen jedoch nicht das individuelle Handeln selbst, wie in makrosoziologischen Theorien mitunter formuliert (vgl. Durkheim 1995). Es sind also nur solche Strukturen handlungsrelevant, die von den Akteuren auch als solche wahrgenommen werden (vgl. Kunz 2004). Wenn man nun den Einfluss von Geschichtspolitik auf menschliches Handeln untersuchen will, dann sollte man den theoretischen Zusammenhang zwischen 1
Für hilfreiche Anregungen und Kommentare danke ich Carina Schmitt, Andreas Frings, dem anonymen Gutachter und den Herausgebern dieses Bandes.
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Geschichtsbildern und der subjektiv gedeuteten Welt der Akteure genauer erfassen. Geschichtsbilder scheinen den Individuen Interpretationsmöglichkeiten vorzugeben. Es wird vermutet, dass sie den Prozess der Situationswahrnehmung vereinfachen. Damit können Geschichtsbilder eine Orientierungsfunktion in einer komplexen und unübersichtlichen Welt erfüllen und stellen so einen wesentlichen Faktor dar, der die individuelle Definition der Situation durch die Akteure prägt. Mit solchen Überlegungen knüpft man an das Gedankengut von Maurice Halbwachs an. Demnach sind Geschichtsbilder in hohem Maße sozial konstruiert und damit dem direkten Einfluss intentional handelnder Akteure entzogen. Halbwachs spricht schon 1939 von einem kollektiven Gedächtnis: „Man hat mit anderen Worten die geistigen Vorgänge, wie sie sich in diesem oder jenem Menschen vollziehen, als fragmentarische Aspekte eines Denkens aufzufassen, das sie mit anderen Gruppenmitgliedern teilen. Die Individuen denken, fühlen, handeln gemeinsam, indem sie eine geistige Haltung annehmen, die ganz der Gruppe zugehört“ (Halbwachs 2001: 36). Trotzdem betont Halbwachs, dass unser kollektives Denken kein eigenes metaphysisches Dasein führt, „das in einer anderen, in einer ebenso metaphysischen Welt untersucht werden müsste. Der kollektive Geist lebt und verwirklicht sich nur in den individuellen Bewußtseinen“ (Halbwachs 2001: 36). Eine solche makrosoziologische Betrachtung ist jedoch aus wissenschaftstheoretischer Perspektive problematisch (vgl. Esser 2001; Kunz 1996). Fehlt doch auf der Makroebene ein kausaler Mechanismus, der die direkte Wirkung von gesellschaftlichen Situationen, Strukturen und Ideologien auf kollektive Explananda erklären könnte (vgl. Braun 1999: 23f.). Dementsprechend konnten bisher auch keine allgemein akzeptierten und bewährten Gesetze auf der Makroebene formuliert werden (vgl. Frings/Marx 2005). Im Folgenden soll daher untersucht werden, inwieweit das Konzept der Geschichtspolitik aus der Perspektive des methodologischen Individualismus inhaltlich ausgearbeitet werden kann. Insbesondere die Rational Choice-Theorie scheint geeignet, Fragen der Wirkung von Überzeugungen und Geschichtsbildern und damit von Kultur auf menschliches Handeln zu diskutieren. Jedoch werden solche Themen erst seit wenigen Jahren im Kontext der Rational Choice-Debatte erörtert. Um den Zusammenhang zwischen Kultur und rationalem Handeln theoretisch erfassen zu können, muss deshalb auf neuere Theorieansätze des ökonomischen Forschungsprogramms zurückgegriffen werden. Insbesondere Siegwart Lindenberg, Hartmut Esser und Volker Kunz stellen im deutschen Sprachraum Weiterentwicklungen dieses Programms vor, die sich um die Integration kultureller Faktoren bemühen und damit über dessen klassische Variante in Form des Homo Oeconomicus hinausgehen. Das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen von Lindenberg stellt ein theoretisches Instrumentarium dar, um Fragen der sozialen Konstruktion von Nutzenmotiven und Kultur auf der einen Seite und rationalen Handelns auf der anderen Seite zu verbinden. Die Untersuchung lässt sich deshalb folgendermaßen strukturieren: Zunächst steht das Konzept der Geschichtspolitik im Mittelpunkt, dessen unterstellte Wirkungsmechanismen herausgearbeitet werden. Darauf aufbauend soll gezeigt wer-
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den, wie der Einfluss von Geschichtsbildern auf die Ausprägung menschlicher Handlungsräume handlungstheoretisch zu verorten ist. Dafür wird auf Überlegungen von Esser und Coleman zurückgegriffen. Anschließend soll das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen von Lindenberg vorgestellt werden. Es bietet einen Ansatzpunkt, die soziale Komponente bei der Interpretation von Handlungssituationen sowie die Wirkung von Geschichtsbildern auf menschliches Handeln mit dem für die Rational Choice-Theorie notwendigen methodologischen Individualismus zu verbinden. WAS IST GESCHICHTSPOLITIK? DEFINITIONEN, AKTEURE, MOTIVE UND WIRKUNGSMECHANISMEN Seit den 1980er Jahren lässt sich in den Sozialwissenschaften ein Perspektivenwandel feststellen. Kulturelle Phänomene werden vermehrt Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen. Verglichen mit anderen sozialwissenschaftlichen Fächern reagierte die Politikwissenschaft erstaunlich spät auf diesen Trend. „Gründe für diese Zurückhaltung mögen sein, dass Fragen der Kultur innerhalb der Zunft entweder ganz ignoriert oder aber dem Forschungsfeld Politische Kulturforschung zugeordnet wurden, dessen Kernbereich sich im Wesentlichen mit der Analyse von Einstellungen beschäftigt“ (Schwelling 2004: 11). Das Konzept der Geschichtspolitik lässt sich im Kontext dieser kulturellen Wende in den Sozialwissenschaften verorten.2 In der Geschichtswissenschaft finden sich schon seit den 1980er Jahren zahlreiche Ansätze zu Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. Fragen der Konstruktion sozialer Identitäten und diskurstheoretische Analysen rückten damit in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen (vgl. Heinrich 2004: 30). Insbesondere die Arbeiten von Edgar Wolfrum (1998, 1999) haben zur Klärung des Konzepts der Geschichtspolitik beigetragen. Mit dem Begriff Geschichtspolitik bezeichnet er „einen öffentlichen und massenmedial vermittelten Prozess, in dem sichtbar Kräfte und Gegenkräfte am Werk sind und um die Hegemonie von Diskursen und Deutungsmustern ringen“ (Wolfrum 1999: 28). Ähnlich äußert sich Heinrich August Winkler (2004: 11): „Geschichtspolitik meint die Inanspruchnahme von Geschichte für Gegenwartszwecke. Keine politische Richtung wird je auf den Versuch verzichten, ihre Positionen historisch zu untermauern. In einer demokratischen Gesellschaft pflegen mehrere Geschichtsbilder miteinander zu konkurrieren. Geschichtspolitik zielt darauf ab, die eigene Deutung 2
Die Popularität des Begriffs ist jedoch auf seine Verwendung als politischer Kampfbegriff im Rahmen des Historikerstreits der Jahre 1986/87 zurückzuführen. Geschichtspolitik wird erst später zu einem wissenschaftlichen Konzept, das zur Analyse politischer Prozesse benutzt werden kann (vgl. Kohlstruck 2004). Kohlstruck weist darauf hin, dass zunächst Wolffsohn (1988: 21) Geschichtspolitik als analytisches Konzept verwendet: Politik „kann versuchen, die eigene Geschichte nicht zu beachten und sich an den Interessen der eigenen Gegenwart zu orientieren – wir nennen das im Folgenden Tagespolitik; sie kann aber auch ihre geschichtliche Erfahrung ihrem Handeln voraussetzen, sich mit diesem Handeln auf die eigenen Geschichte beziehen – wir sprechen dann von Geschichtspolitik“.
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durchzusetzen.“ Auch weist Winkler darauf hin, dass Geschichtsbilder zwar eine große historische Wirkung entfalten können, dieses Thema aber noch nicht umfassend erforscht sei. Versucht man über die reine Begriffsbestimmung hinauszugehen und begibt man sich auf die Suche nach Kausalmechanismen, die im Rahmen des Konzeptes der Geschichtspolitik diskutiert werden, so findet man unterschiedliche Hypothesen, die zumeist nicht explizit ausformuliert werden. Michael Kohlstruck (2004: 176) nennt zentrale Fragestellungen, die einen ersten Hinweis auf gesuchte Kausalstrukturen geben: „Wer entscheidet über die Auswahl öffentlich präsentierter Gedächtniselemente, aus welchem Interesse werden bestimmte Erinnerungen wachgehalten und andere vergessen? Welche Ressourcen stehen für ihre Verbreitung zur Verfügung? Wie sind diese Deutungsangebote beschaffen und wie werden sie repräsentiert?“ Letztlich drehen sich diese Fragen um zwei zentrale Perspektiven. Die erste Herangehensweise wählt die Konstrukteure der Geschichtspolitik als Untersuchungsgegenstand. Folgende theoretische Fragen sind aus dieser Perspektive zu untersuchen: Welche Akteure haben ein Interesse, bestimmte Geschichtsbilder zu konstruieren? Warum bemühen sich Akteure darum, bestimmte Geschichtsbilder zu entwickeln? Welche Mittel können sie einsetzen, Geschichtsbilder zu konstruieren? Eng mit diesen Fragen verbunden ist die zweite Perspektive auf das Phänomen der Geschichtspolitik. Diese nimmt die Adressaten der konstruierten Geschichtsbilder in den Blickwinkel. Aus dieser Perspektive stehen andere Fragen im Mittelpunkt: Welche gesellschaftlichen Wirkungen können Geschichtsbilder erzielen? Wie wirken Geschichtsbilder auf das Handeln von Akteuren? Inwieweit lassen sich Akteure tatsächlich durch Geschichtsbilder in ihrem Denken und Handeln lenken? Wie groß ist der Spielraum für Manipulationen durch Geschichtsbilder? Das sind die Fragen, die auf der Rezeptionsebene wichtig sind. Im Kontext der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichtspolitik und der Wirkung und Konstruktion von Wissen finden sich Ansätze, die sich für eine Analyse der Fragestellungen der ersten Perspektive – Untersuchung der Konstrukteure – nutzen lassen. Beispielsweise hat sich Reinhard Kühnl mit der Frage der Konstruktion von Wissen auseinandergesetzt. Die Überlegungen, die er in einem Aufsatz über die Faschismusforschung entwickelt, sind übertragbar auf das Feld der Geschichtspolitik. Als relevante Akteure identifiziert er gesellschaftliche und wirtschaftliche Eliten, die ihre Vormachtstellung und materiellen Ressourcen instrumentell einsetzen. „Gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen, auch konkrete soziale und politische Interessen legen den Rahmen fest, innerhalb dessen materielle Ressourcen auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und Forschungsrichtungen verteilt werden. Sie prägen auch das allgemeine Klima, das bestimmte Fragestellungen favorisiert, andere dagegen tabuisiert. Es ist dann einfach unschicklich, bestimmte Fragen überhaupt zu stellen, bestimmte Begriffe überhaupt zu benutzen: unschicklich nach den Maßstäben der politischen Öffentlichkeit, unschicklich aber auch innerhalb der scientific community“ (Kühnl 1995: 227).
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Kohlstruck identifiziert folgende Elemente, die mit Geschichtspolitik verbunden sind: „Erstens bestimmte politische Akteure, die mit anderen Akteuren interagieren. Sie versuchen zweitens mittels Erinnerungsstrategien, Legitimation für ihre politischen Projekte zu schaffen. Dazu werden drittens bestimmte historische Ereignisse, Personen oder Handlungen ausgewählt und viertens in einer dem eigenen Vorhaben förderlich erscheinenden Weise interpretiert. Diese Deutungen werden fünftens sprachlich oder in anderer Weise symbolisch kommuniziert und können damit öffentlich wirksam werden“ (Kohlstruck 2004: 181). Kohlstruck führt somit politische Akteure an, die aus Gründen der Legitimation aktueller politischer Handlungen ein Interesse an einer bestimmten – für sie nützlichen – Interpretation historischer Ereignisse haben. Um ihre Interpretation im kollektiven Gedächtnis zu verankern, greifen sie auf symbolische Kommunikationsformen zurück. „Geschichtlicher Sinn kann in vielfältiger Weise kommuniziert werden: Als Rede, als geschriebener Text, als politische Inszenierung, als Ritual, als politische Mythologie, in politischen Symbolen und schließlich über die Gestaltung von Denkmälern und Mahnmalen oder Gedenkstätten“ (ebd.: 178). Konstrukteure sind also offensichtlich politische oder wirtschaftliche Eliten, die mittels Geschichtspolitik versuchen, ihren aktuellen politischen Handlungsspielraum zu verbessern. Um zu verstehen, auf welche Weise Geschichtsbilder dazu beitragen können, soll im Folgenden die zweite Perspektive im Mittelpunkt stehen. Diese beschäftigt sich mit dem Einfluss von Geschichtsbildern auf die Adressaten von Geschichtspolitik. Dafür muss geklärt werden, wie sich Geschichtsbilder verbreiten und wie sie wirken. Um Fragen der Diffusion und der Ausbreitung von Geschichtsbildern zu diskutieren, wird häufig auf kulturwissenschaftliche Theorien zurückgegriffen (vgl. Kohlstruck 2004: 181; Schwelling 2004: 13). Kultur definiert den Handlungsspielraum und bestimmt, „was und wie ‚man‘ innerhalb eines sozialen Verbandes politisch handeln, politisch reden und politisch denken kann, ohne mit informellen gesellschaftlichen Sanktionen rechnen zu müssen“ (Rohe 1994: 163). Einer Definition von Esser folgend, kann man Kultur definieren als „die erlernten oder sonst wie angeeigneten, über Nachahmung und Unterweisung tradierten, strukturierten und regelmäßigen, sozial verbreiteten und geteilten Gewohnheiten, Lebensweisen, Regeln, Symbolisierungen, Wert- und Wissensbestände der Akteure eines Kollektivs, einschließlich der Arten des Denkens, Empfindens und Handelns. Auch die Relikte dieses Handelns gehören dazu, wie der Kölner Dom, Max und Moritz, Messer und Gabel oder das White Horn von Iffington“ (Esser 2001: IX). Es bleibt jedoch unklar, welchen Einfluss Kultur auf den Erwerb von individuellen Handlungsprogrammen hat. Es finden sich in kultur- und kommunikationstheoretischen Arbeiten lediglich Hinweise, dass Kultur für den Erwerb spezifischer individueller Schemata verantwortlich ist (vgl. Tanner 2001). Auf solche Schemata greifen Akteure mit ihren beschränkten kognitiven Fähigkeiten zurück, um die ansonsten unübersichtliche und überkomplexe Welt zu ordnen und verstehbar zu machen. Diese Schemata oder Frames stehen zwischen dem Individuum und der Objektwelt, die nicht direkt erfahrbar ist, sondern nur in der gedeuteten Form der Erscheinungswelt. Das hat die Konsequenz, dass „Wirklichkeit
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sich in der individuellen Wahrnehmung konstituiert“ (Bänsch 2001: 15). Trotzdem verfällt eine solche Konzeption nicht automatisch dem Solipsismus. Schließlich wird „die Konstruktion der Wirklichkeit als sozialer Vorgang“ (ebd.: 15) begriffen. Schemata und Frames werden in hohem Maße sozial konstruiert. Wichtige Elemente eines so verstandenen Sozialisationsprozesses sind Geschichte, Sprache und Kultur. Diese überindividuellen Träger von Bedeutung gewährleisten die soziale Dimension der individuellen Konstruktion von Wirklichkeit. Der handlungstheoretische Zusammenhang zwischen Schemata, Kultur und individuellem Handeln ist damit aber nicht geklärt. Im Folgenden sollen Überlegungen entwickelt werden, die diesen Zusammenhang näher beleuchten. Als Geschichtspolitik werde ich im Folgenden den instrumentellen Einsatz von Geschichtsbildern bezeichnen (vgl. Wolfrum 1999). Von Interesse sind dabei zwei Wirkungsmechanismen: Erstens: Wie wirken Geschichtsbilder auf Akteure? Zweitens: Wie lassen sich Geschichtsbilder erzeugen? Als theoretischer Rahmen wird das ökonomische Forschungsprogramm herangezogen. Dieses eignet sich aus zweierlei Gründen: Erstens zeichnet sich das ökonomische Forschungsprogramm durch eine allgemeine Gesetzesaussage aus. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, wenn man soziale Zusammenhänge erklären möchte.3 Der zweite Vorteil besteht in der universellen Anwendbarkeit des ökonomischen Forschungsprogramms. Man ist keineswegs auf den Bereich der Ökonomie festgelegt. Stattdessen gilt die Annahme der prinzipiellen Offenheit menschlicher Handlungsmotive, die – wie zu zeigen sein wird – auch kultureller Natur sein können. Damit wird auch der Anspruch des ökonomischen Forschungsprogramms deutlich: es geht um die Formulierung einer allgemeinen menschlichen Handlungstheorie. KULTUR ALS VARIABLE IM ÖKONOMISCHEN FORSCHUNGSPROGRAMM Zunächst wird in diesem Kapitel das ökonomische Forschungsprogramm vorgestellt und im Hinblick auf seine Verwendbarkeit für das Konzept der Geschichtspolitik geprüft. Für die Darstellung des ökonomischen Forschungsprogramms wird eine Systematisierung entwickelt, die die unterschiedlichen Spielarten innerhalb des ökonomischen Forschungsprogramms anhand ihrer Vorgehensweise zur Konstruktion von Brückenhypothesen unterscheidet. Es wird sich zeigen, dass das ökonomische Forschungsprogramm nicht mit dem „Homo Oeconomicus“ gleichgesetzt werden kann, der vorwiegend analytisch orientiert ist. Zumindest in seiner empirisch orientierten Variante eignet sich das ökonomische Forschungsprogramm, um kulturelle Phänomene zu thematisieren.
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Möchte man über die Deskription sozialer Zusammenhänge hinausgehen, ist es notwendig, ein theoretisches Instrumentarium zu verwenden, das auf eine allgemeine Gesetzesaussage rekurriert. Erst ein solcher theoretischer Zugang ist in der Lage, soziale Phänomene nicht nur zu beschreiben, sondern darüber hinaus auch zu erklären (vgl. Opp 1999).
Das ökonomische Forschungsprogramm
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Für das ökonomische Forschungsprogramm finden sich in der Literatur häufig Bezeichnungen wie Rational Choice, Nutzentheorie, Theorie rationalen Handelns oder Homo Oeconomicus. Da die inhaltliche Bandbreite der ökonomischen Theorien sehr groß ist und durchaus Unterschiede zwischen den Theorien bestehen, wird im Folgenden vom ökonomischen Forschungsprogramm als Oberbegriff gesprochen und von verschiedenen Theoriemodellen innerhalb des ökonomischen Forschungsprogramms, wenn auf konkrete Theorien Bezug genommen wird.4 Theorien sollen genau dann dem ökonomischen Forschungsprogramm zugerechnet werden, wenn sie zur Erklärung menschlichen Handelns auf drei Annahmen zurückgreifen: Erstens sind die Präferenzen von Akteuren eine Bedingung für ihr Handeln, das heißt Handeln ist zielgerichtet. Zweitens unterliegen die Akteure in ihrem Handeln Beschränkungen. Und drittens führen Individuen genau diejenigen Handlungen aus, die ihre Ziele im höchsten Maße realisieren (vgl. Opp 1993: 209; Kunz 2004). Diese Kernannahmen werden von allen Spielarten des ökonomischen Forschungsprogramms geteilt. Die Rational Choice-Theorie, die Nutzentheorie, die Spieltheorie, die Neue Politische Ökonomie, der Homo Oeconomicus und so weiter stellen damit Theoriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms dar (vgl. Kunz 2004). Darüber hinaus sind sie dem methodologischen Individualismus verpflichtet. Das bedeutet, dass die Erklärung sozialer Phänomene immer die Ebene der einzelnen Individuen beachten muss. Im Einzelnen sind dabei drei Schritte von Bedeutung: Erstens ist die auf der Makroebene liegende Struktur der Handlungssituation zu berücksichtigen. Aus der sozialen Situation, der die Akteure ausgesetzt sind, lassen sich die Bedingungen ableiten, die die Handlungsmöglichkeiten der Akteure strukturieren. In diesem Schritt werden über eine Makro-Mikro-Verbindung „die Erwartungen und die Bewertungen des Akteurs mit den Alternativen und den Bedingungen in der Situation“ verknüpft (Esser 1999a: 94). Dieser Schritt der sozialwissenschaftlichen Erklärung wird häufig mit dem Begriff der Definition der Situation umschrieben. In einem zweiten Schritt findet sich auf der Mikroebene ein theoretischer Auswahlmechanismus. Er erlaubt, aus der Vielzahl der durch die Struktur der Situation ermöglichten Handlungsalternativen eine auszuwählen. Diese zweite Phase bezeichnet Esser (1999a: 94f.; 1999b: 66f.) mit dem Begriff der Logik der Selektion. Es sind die Bedingungen der sozialen Struktur einerseits und die akteursinternen Erwartungen und Bewertungen andererseits, die die Auswahl der Handlung bestimmen (vgl. Marx 2005: 49f.). Coleman (1995: 17) knüpft mit seinen Überlegungen an der alltäglichen Vorstellung von Handeln an: „Wir sagen, daß wir die ‚Gründe‘ verstehen, warum die Person auf eine bestimmte Weise gehandelt hat, und implizieren damit, daß wir das beabsichtigte Ziel verstehen und auch, wie der Akteur die Handlungen und deren Beitrag zur Zielerreichung einschätzt.“ Colemans Angaben folgend reicht diese Common-sense-Vorstellung von Rationalität für die meisten Anwendungen der ökonomischen Methode aus. Der
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Diese Benennung orientiert sich an der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme von Lakatos (1982).
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Begriff der Rationalität lässt sich aber noch präziser fassen: „Dabei geht man davon aus, daß verschiedene Handlungen (…) für den Akteur von bestimmtem Nutzen sind, und verbindet dies mit einem Handlungsprinzip, wonach der Akteur diejenige Handlung auswählt, die den Nutzen maximiert“ (ebd.: 17).5 In einem dritten Schritt wird die Verbindung von der Individualebene zur Ebene der sozialen Struktur wiederhergestellt. Mittels einer Logik der Aggregation kommt es zu einer Verknüpfung von individuellen Handlungen und kollektiven Folgen. Dazu bedarf es spezifischer Transformationsregeln, um die Aggregation der individuellen Handlungen zu einem kollektiven Explanandum zu erklären. Einfache Aggregationsprozesse, die das Entstehen eines kollektiven Phänomens aus individuellen Handlungen verständlich machen, sind Zählverfahren bei Wahlen. Komplizierte Aggregationsprozesse werden durch Schwellenwertmodelle oder Computersimulationen modelliert.
Soziale Situation
Explanandum
Definition der Selektion
Logik der Aggregation
Akteur
Logik der Selektion
Handlung
Abbildung 1: Strukturindividualistisches Erklärungsmodell nach Coleman Die Struktur einer Mehrebenenerklärung eignet sich auch, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Theoriemodellen des ökonomischen Forschungsprogramms zu verdeutlichen. Zunächst einmal können im Rahmen des ökonomischen Forschungsprogramms grob zwei Spielarten identifiziert werden, die sich im Hinblick auf die Annahmen hinsichtlich der Motive menschlichen Handelns beziehungsweise der relevanten Restriktionen unterscheiden (Definition der Situation). Die Unterschiede bestehen damit in einer divergierenden Vorgehensweise bei der Konstruktion von Brückenhypothesen. Es existieren keine Unterschiede hinsichtlich der zentralen Gesetzesannahme der Nutzenmaximierung (Logik der Selektion). Die Varianten innerhalb des Forschungsprogramms sollen im Folgenden als analytische und empirische Theoriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms bezeichnet werden. 5
Verschiedene Autoren haben auf der Grundlage dieser oder ähnlicher Definitionen Formalisierungen entwickelt, um die Theorien empirisch zu überprüfen (vgl. Kunz 1997, 2004; Esser 1999a; Coleman 1995; zum Überblick Jungermann et al. 1998).
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Die analytischen Theoriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms Die übliche Darstellung des ökonomischen Forschungsprogramms entspricht weitgehend dem analytischen Zweig des ökonomischen Forschungsprogramms: Menschen sind Nutzenmaximierer, die lediglich darauf abzielen, ihre Macht und ihr Einkommen zu vermehren. Üblicherweise wird eine solche Position an den Klassikern der Neuen Politischen Ökonomie festgemacht und mit Verweisen auf die Werke von beispielsweise Anthony Downs (1968), Mancur Olson (1965) und Gary Becker (1993) belegt. Demnach stehen der Realisierung der menschlichen Handlungsmotive äußere Restriktionen wie zum Beispiel eine begrenzte Verfügbarkeit von Zeit, Geld oder Macht entgegen. Ökonomische Analysen untersuchen, wie sich bei gegebenen Präferenzen die Änderungen einzelner Restriktionen auf das Verhalten der Akteure auswirken. Oder in den Worten von Becker (1993: 15): „Alles menschliche Verhalten kann […] so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Information und anderen Faktoren schaffen.“6 Dabei blieb bisher offen, wie sich der Begriff des Nutzens konkretisieren lässt. „One obvious way […] could be to endow the actors with some specific types of motives (materialist, egoistic), uniform and specific perceptional and calculatorial capabilities (maximising) and a uniform behavioural mode (strict consequentialism, that is, opportunism) – in other words: to use homo oeconomicus in its classical form as the cornerstone of the building” (Zintl 2001: 39).7 Damit stellt sich der Homo Oeconomicus als ein spezifisches Theoriemodell des ökonomischen Forschungsprogramms dar, dass sich durch eine analytische Einschränkung der Bandbreite zugelassener Handlungsmotive auszeichnet. Folgt man dieser analytischen Orientierung, lassen sich kulturelle Bestimmungsfaktoren menschlichen Handelns nur unzureichend theoretisch erfassen. „Vor allem mit Bezug auf das Phänomen der Kultur hat sich im sozialwissenschaftlichen Allgemeingut eigentlich bis heute die Dichotomie von utilitaristischen Interessen der Akteure einerseits und kulturellen Prägungen über Werte, Normen, Wirklichkeitsinterpretationen oder Symbole andererseits gehalten“ (Hegmann/Reckling 2004: 59). Damit einher geht eine Aufgabenteilung in der Theoriebildung, die für spezifische Handlungsbereiche unterschiedliche Handlungstheorien fordert. Das bedeutet aber letztlich, dass große Bereiche menschlichen Handelns nicht im Rahmen des analytischen Zweigs des ökonomischen Forschungsprogramms analysiert werden können. Zudem bleibt unklar, in welchen Situationen auf das ökonomische Forschungsprogramm zurückgegriffen werden kann. Ein in der Literatur diskutierter möglicher Ausweg scheint die Unterscheidung von Hoch- und Niedrigkostensituationen zu sein. Demnach lässt sich das ökonomische For6
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Diese Vorgehensweise entspricht der Marginalanalyse und stellt eine gängige Methodik in den Wirtschaftswissenschaften und in großen Teilen der analytisch geprägten Rational Choice-Diskussion dar (vgl. Kunz 2004). Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass dies nicht der Vorgehensweise von Zintl entspricht.
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schungsprogramm ohne größere Schwierigkeiten auf Hochkostensituationen anwenden, während Niedrigkostensituationen keinen Anwendungsfall des ökonomischen Forschungsprogramms darstellen.8 Dies ist jedoch nur eine scheinbare Lösung des eigentlichen Problems. Sie kann lediglich gelingen, weil Hochkostensituationen gerade über die Wirksamkeit von harten Anreizen definiert werden.9 Damit liegt es auf der Hand, dass ein Homo Oeconomicus, der sich durch die Festlegung auf ökonomische Handlungsmotive auszeichnet, eine empirisch adäquate Beschreibung der tatsächlichen Motivationsannahmen in Hochkostensituationen darstellt. Das bedeutet aber auch: Legt man sich in der Wahl menschlicher Präferenzen analytisch auf harte Präferenzen fest, modifiziert man das ökonomische Forschungsprogramm dahingehend, dass lediglich Hochkostensituationen als Anwendungsfall solcher Theoriemodelle in Frage kommen. Ausgeschlossen sind damit diejenigen Lebensbereiche, in denen prosoziale Handlungsmotive verstärkt auftreten und die üblicherweise als Niedrigkostensituationen bezeichnet werden. In diesem Sinne urteilt auch Lindenberg (1996: 131): „Im allgemeinen sind ökonomische Theorien dann am erfolgreichsten, wenn sie sich auf ein Gebiet beziehen, in dem die ad hoc Annahmen über Präferenzen einigermaßen zutreffen (…).“ Fragen der Wirkung von Kultur auf das Handeln von Akteuren oder nach dem Zusammenhang von Geschichtsbildern und individuellem Handeln fallen in dieser Perspektive aus der Menge der potentiellen Anwendungen des ökonomischen Forschungsprogramms heraus. Mit diesem Rückzug gibt man den allgemeinen Erklärungsanspruch der Nutzentheorie auf und beschränkt sie in ihrem Anwendungsgebiet. Diese Einschränkung des Anwendungsgebietes ist jedoch nicht notwendig und eine Folge der analytischen Orientierung der vorgestellten Theoriemodelle. Die empirischen Theoriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms Verzichtet man auf die analytische Setzung von Präferenzen und öffnet den Präferenzbegriff zum Beispiel auch für alltagsweltliche Handlungsmotive, so lässt sich das ökonomische Forschungsprogramm insofern modifizieren, als auch so genannte Niedrigkostensituationen zur Menge der potentiellen Anwendungen der Theorie gerechnet werden können. In dieser Hinsicht charakterisieren auch Horst Hegmann und Falk Reckling (2004: 57) die Motivationsannahme des ökonomischen Forschungsprogramms: „Als methodologische Individualisten gehen die Vertreter der Ökonomik davon aus, dass nur Individuen handeln können und dies auf der Grundlage von Präferenzen, die inhaltlich grundsätzlich offen bleiben. So mögen Individuen mit der Anhäufung von Geld oder Macht ebenso ihren Nutzen mehren, wie mit der tätigen Sorge um ihre Familie, mit einem Engagement im Umweltschutz oder dem Bemühen, ein gottgefälliges Leben zu führen.“ Die The8 9
Hochkostensituationen werden üblicherweise definiert als Situationen, in denen für den Akteur viel auf dem Spiel steht (vgl. dazu kritisch Mensch 2000; Quandt/Ohr 2004). Die Begriffe harte und weiche Anreize werden keineswegs einheitlich verwendet. Zumeist werden unter harten Anreizen jedoch materielle Anreize verstanden (vgl. Opp 1993: 210).
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oriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms, die die analytische Einschränkung der Bandbreite menschlicher Handlungsmotive ablehnen und die Bestimmung der Präferenzen als empirisches Forschungsproblem begreifen, sollen dem empirischen Zweig des ökonomischen Forschungsprogramms zugerechnet werden. Sie teilen ebenso wie die Vertreter des analytischen Zweigs die drei genannten Kernannahmen des ökonomischen Forschungsprogramms, nach denen das Handeln durch individuelle Handlungsmotive, Restriktionen und das Nutzenmaximierungsaxiom bestimmt ist (vgl. Opp 1993: 209; Kunz 2004; Esser 1999a, 2000, 2001; Faust/Marx 2004). Die Vertreter der empirischen Theoriemodelle gehen aber im Gegensatz zu den Vertretern des analytischen Zweigs nicht von der zusätzlichen Annahme einer speziellen Brückenhypothese aus, dass lediglich harte, das heißt materielle Präferenzen als Handlungsmotive in Frage kommen. Darüber hinaus sehen sie die Bestimmung der menschlichen Handlungsmotive nicht als eine theoretische, sondern als eine empirische Frage an. Das zentrale Problem des empirisch orientierten Zweigs des ökonomischen Forschungsprogramms besteht daher auch in der Konstruktion von empirisch angemessenen Brückenhypothesen. Üblicherweise werden sie direkt mittels empirischer Untersuchungen erhoben (vgl. Opp 1984; Diekmann/Preisendörfer 2003). Daten dieser Qualität stehen nicht immer zur Verfügung. Auch bleibt bei dieser Vorgehensweise unklar, warum die individuellen Präferenzen einen bestimmten Inhalt haben, warum sich Präferenzen wandeln und warum sie entstehen. Gerade diese Fragen sind jedoch von Interesse, will man den Einfluss spezifischer Geschichtsbilder auf individuelles Handeln thematisieren. Dafür ist es notwendig, den Zusammenhang zwischen Geschichte und Kultur auf der einen Seite und individuellen Zielen und Wünschen auf der anderen Seite theoretisch zu klären. Dazu muss man spezifische Brückenhypothesen formulieren. Diese erhebt man nicht empirisch, sondern man konstruiert sie theoretisch.10 So wird die Frage der Präferenzentstehung endogenisiert und selbst zum Gegenstand des ökonomischen Forschungsprogramms. KULTUR UND DIE SOZIALE KONSTRUKTION VON HANDLUNGSPROGRAMMEN Eine Möglichkeit der theoretischen Konstruktion von Brückenhypothesen bietet das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen. Es erlaubt, Fragen der sozialen Konstruktion von Präferenzen ökonomisch zu analysieren. „Auf diese Weise werden Präferenzen aus dem Reich des Geschmacks in das Reich der (objektiv be10 Die theoretische Konstruktion von Brückenhypothesen unterscheidet sich von der analytischen Vorgehensweise. Der Unterschied besteht in der Begründung und der wissenschaftlichen Qualität der Brückenhypothesen. Da Theorien als Menge von empirischen Sätzen verstanden werden, die einen Sachverhalt kausal erklären, und die die Wahrheitswerte wahr oder falsch einnehmen können, gilt dies auch für theoretisch konstruierte Brückenhypothesen. Auch sie können wahr oder falsch sein. Analytisch konstruierte Brückenhypothesen können streng genommen nicht in diesen Kategorien bewertet werden, da analytischen Aussagen kein Wahrheitswert zugesprochen werden kann.
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schreibbaren) sozialen Produktion gerückt. Präferenzen können dadurch nun auch aus dem Schattenreich der Gewohnheitsheuristik in das Land der theoretisch begründeten Heuristik wandern“ (Lindenberg 1991: 58). Anders gesagt und etwas weniger metaphorisch: Mit dem Konzept sozialer Produktionsfunktionen wird es möglich, Fragen der sozialen Konstruktion individueller Präferenzen in die Terminologie des ökonomischen Forschungsprogramms zu integrieren. Damit gewinnt das ökonomische Forschungsprogramm an Relevanz für das Konzept der Geschichtspolitik. Schließlich sind Phänomene wie Schemata-Bildung, symbolische Kommunikation und kulturell geprägtes Handeln zentrale Begrifflichkeiten des Geschichtspolitikansatzes. Sie sind deshalb aus Sicht des ökonomischen Forschungsprogramms zu berücksichtigen, wenn man geschichtspolitische Phänomene untersuchen will. Die Theorie sozialer Produktionsfunktionen bietet einen Anknüpfungspunkt für einen handlungstheoretischen Zugang zu Geschichtspolitik. Schon Adam Smith (1976: 212) nimmt natürliche Bedürfnisse des Menschen als Ausgangspunkt, um spezifische instrumentelle Ketten von Handlungen zur Bedürfnisbefriedigung zu konstruieren. „The appetites of hunger and thirst, the agreeable or disagreeable sensations of pleasure and pain, of heat and cold, etc., may be considered as lessons delivered by the voice of Nature herself, directing him what he ought to choose, and what he ought to avoid, for this purpose.“ Hunger und Durst oder allgemein gesprochen physisches Wohlergehen scheinen ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Daneben besteht auch ein Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung. Die Theorie sozialer Produktionsfunktionen stellt nun eine Verbindung zwischen der sozial strukturierten Handlungssituation und den menschlichen Grundbedürfnissen her (vgl. Marx 2004: 183f.). „In den Begriffen von Gary Becker (…) stellt die Kultur eine soziale Produktionsfunktion bereit, mit der die Menschen versuchen, ihren Nutzen mit Bezug auf einige wenige, z.T. auch evolutionsbiologisch abgeleitete, universale Basispräferenzen wie ‚physisches Wohlbefinden‘ und ‚soziale Wertschätzung‘ zu maximieren“ (Hegmann/Reckling 2004: 65). Kultur verringert damit die Unsicherheit der Akteure und prädeterminiert den Raum möglicher Handlungen (vgl. Lindenberg 1991). Für die Maximierung der Primärgüter (physisches Wohlergehen und soziale Wertschätzung) müssen die Akteure etwas investieren. Sie setzen Ressourcen ein, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Eigenschaften, Objekte, Ressourcen, Güter oder Leistungen, die im Hinblick auf die Produktion der Primärgüter von Nutzen sind, werden primäre Zwischengüter genannt (vgl. Esser 1999a: 97f.). Man nennt sie Zwischengüter, da sie zwischen den Bedingungen der sozialen Struktur und der Produktion der letzten Güter stehen. Die Zwischengüter lassen sich beschreiben als „hierarchisch geordnete Produktionsfunktionen, die in ihrer Allgemeinheit abnehmen, also für Menschen sehr verschieden sein können (…). Je niedriger man in der Hierarchie ist, desto vielfältiger sind die Wege zu den Hauptzielen der Nutzenfunktion, also desto idiosynkratischer sind die Produktionsmittel“ (Lindenberg 1996: 135). Die Funktionsfähigkeit eines Zwischengutes im Hinblick auf die Produktion der letzten Güter ist nicht in allen Situationen gleich, sondern kulturabhängig (vgl.
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Esser 1999a: 101f.; Kunz 1997: 227f.). Es ist daher für die Akteure notwendig, die sozialen Regeln gut zu kennen und die Situation mit all ihren normativen Anforderungen richtig zu deuten. Nur wenn man eine den normativen Erwartungen und den situativen Gegebenheiten adäquate Definition der Situation vornimmt, wird das eigene Handeln von den anderen als sinnvoll angesehen. Die Definition des richtigen Handelns resultiert aus den sozialen Regeln und den materiellen Situationsmerkmalen, die den Handlungsraum des Individuums darstellen. Mittels Kommunikation vergewissern sich die Akteure untereinander über die sinnhafte Ordnung der Welt.11 Die primären Zwischengüter hängen damit von den gesellschaftlichen Umständen, den sozialen Regeln und den Erwartungen der Mitmenschen ab. Maximiert man das falsche Zwischengut, indem man zum Beispiel auf einer Antikriegsdemonstration von den „schönen“ Erfahrungen beim letzten Rudolf-Heß-Gedenkmarsch berichtet oder sich bei den Montagsdemonstrationen 1989/1990 in der DDR mit dem Scharnhorst-Orden schmückte, der für Leistungen zur militärischen oder sonstigen Stärkung der DDR verliehen wurde, kann sich dies negativ auf die Produktion der Primärgüter auswirken. Häufig lassen sich die allgemeinen Bedürfnisse nur über mehrstufige Ketten von Produktionsfunktionen befriedigen. Aus dieser Perspektive lässt sich der Schulbesuch, die Mühen im Studium, ein Referendariat et cetera damit erklären, dass man letztlich mit der angestrebten Position zum Beispiel eines Anwaltes soziale Anerkennung erwirtschaften möchte. Im Rahmen des Sozialisationsprozesses werden die sozial definierten Produktionsfunktionen kognitiv erlernt. Sie finden damit Eingang in die Persönlichkeitsstruktur der Akteure und stellen einen Teil seiner Identität dar. Bei diesem Prozess bilden sich die zentralen individuellen Handlungsziele und die gesellschaftlich akzeptablen Wege zu ihrer Realisierung heraus (vgl. Hegmann/Reckling 2004: 65f.). Die kulturell definierten Produktionsketten finden durch den Sozialisationsprozess Eingang in die Persönlichkeit der Akteure. Die instrumentellen Zwischengüter sind kognitiv als Handlungsprogramme in Form von Frames repräsentiert. Diese strukturieren die Wahrnehmung der Akteure und definieren zugleich die sozial erlaubten Handlungspfade zur Produktion der Zwischengüter (vgl. Lindenberg 1993). GESCHICHTSPOLITIK, FRAMES UND SOZIALE PRODUKTIONSFUNKTIONEN Greift man die zur Geschichtspolitik diskutierten Thesen auf, lassen sich diese im Rahmen des Konzepts sozialer Produktionsfunktionen handlungstheoretisch fundieren. Geschichtspolitik wirkt, indem eine spezifische Interpretation von Ge-
11 Hier bestehen Berührungspunkte zu Überlegungen des Symbolischen Interaktionismus (vgl. Goffman 1977). Das Erkennen der richtigen Rahmung der Situation oder in den Worten des Subjective-Expected-Utility-Modells eine situationsangemessene Definition der Situation sind entscheidende Faktoren zur sinnhaften und gesellschaftlich tolerierten Bewältigung von Alltagsproblemen. Auch die Wahl einer angemessenen Situationsrahmung kann im Rahmen des ökonomischen Forschungsprogramms modelliert werden (vgl. Esser 2000, 2001).
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schichte instrumentell eingesetzt wird. So beeinflussen Geschichtsbilder das Handeln von Akteuren, indem sie Wahrnehmungsprozesse verändern und Handlungssituationen vorstrukturieren. Sie stellen damit einen Bestimmungsfaktor der subjektiven Definition der Situation dar. Durch die Festlegung auf eine Definition der Situation entscheidet sich ein Akteur für eine spezifische Situationsinterpretation. Er legt sich auf situationsangemessene und unangemessene Handlungen fest. Die mentale Repräsentation eines solchen Modells der Situation nennt man Frame, Rahmung oder auch Schema. Ein Frame bestimmt nicht nur die zu realisierenden Handlungsziele, sondern auch die sozial erlaubten Wege zur Produktion dieser Ziele. Letztere werden Skript genannt und schreiben ein spezielles Programm von Handlungen für konkrete Situationen vor (vgl. Esser 2001: 263).12 Damit zeichnet sich ein Modell einer Situation durch eine spezielle inhaltliche Interpretation der Situation aus. Diese Interpretation beinhaltet eine Definition des Oberziels, das für die jeweilige Situation charakteristisch ist (vgl. Esser 2001: 263), und instrumentelles Wissen über die Produktionsfunktionen zur Realisierung des Oberziels. Zwei Selektionsvorgänge sind daher mit dem Framingprozess verbunden: Erstens gilt es, eine angemessene Situationsdeutung vorzunehmen (ModellSelektion). Akteure verfügen üblicherweise über ein umfangreiches Set von Frames für typische „Situationen mit typischen Symbolisationen und typischen Bewertungen“ (Esser 2001: 279). Je nach situativem Bedarf wählt man eine passende Rahmung aus. Dabei überprüft der Akteur die Passung zwischen dem mentalen Modell der Situation und den wahrgenommenen Situationsmerkmalen. Ist der Match zwischen dem gedanklichen Modell und den erkennbaren Situationsmerkmalen hoch, gibt es keinen Grund, an der Angemessenheit des Frames zu zweifeln oder ihn gar zu wechseln. „Man weiß, ganz unbewusst sicher, in welcher Situation man sich befindet, und damit auch, was jetzt zu tun ist. Nachgedacht, reflektiert oder interpretiert wird dabei nicht“ (Esser 2001: 273). Die Definition der Situation mittels eines gedanklichen Bezugsrahmens ist auch gegenüber störenden Situationsmerkmalen relativ stabil. Erst wenn Störungen eine gewisse Schwelle überschreiten und ein eindeutiger Mismatch zwischen Rahmung und Situationsmerkmalen vorliegt, wechselt man das mentale Modell der Situation. Mit der Selektion des Modells der Situation ist jedoch das konkrete Handeln noch nicht bestimmt. In einem zweiten Schritt muss durch den Akteur abgewogen werden, ob die durch den Frame vorgegebenen Handlungsskripte ausreichend und hinreichend klar definiert sind (Modus-Selektion). Meistens definieren Frames eine Situation so eindeutig, dass nur ein Skript vorhanden ist. Das Skript wird dann gleichsam mit der Entscheidung für ein bestimmtes Frame ebenfalls aktiviert. Die Handlung erfolgt quasi automatisch. Dies ist aber nicht notwendig. Es 12 Die Framing-Theorie versucht eine motivationspsychologische Fundierung des Konzepts der sozialen Produktionsfunktionen zu liefern (vgl. Burth 1999: 261f.). Für einen Überblick lohnen die Werke von Esser (1993, 1996, 2001), Tversky/Kahnemann (1981), Lindenberg (1993, 1981), Kunz (1996), Stocké (2004), Jungermann et al. (1998), Lüdemann/Rothgang (1996), Scheufele (2003).
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gibt auch Frames, die mehrere Skripte mitliefern oder keine Handlungsvorgaben formulieren (vgl. Esser 2001: 291f.). Dann setzt beim Akteur ein Such- und Informationsprozess ein, um notwendiges Wissen zur Orientierung in der Handlungssituation zu erlangen. Im üblichen Fall ist diese Form des aufwendigen rationalen Handelns nicht notwendig. „Die Frames sind den Erfordernissen des Alltags meist so gut angepasst, (…) dass das Nachdenken über Konsequenzen in aller Regel gänzlich unnötig, ja höchst unvernünftig wäre. In den Frames und in den Skripten des Alltags spiegelt sich ja die, oft mühselig zuvor in zahllosen ‚reflexiven‘ Schritten entwickelte, Weisheit der Routine, (…) die jetzt, zu fertigen gedanklichen Modellen stilisiert, abrufbereit und unaufwendig zur Verfügung steht“ (Esser 2001: 295). Frames definieren die situationsspezifischen Handlungsziele und hängen auf diese Weise eng mit der Idee der sozialen Produktionsfunktionen zusammen. Frames bestimmen die sozialen Produktionsfunktionen, die für die Produktion der Primärgüter notwendig sind, und vereinfachen dadurch den Entscheidungsprozess der individuellen Akteure (vgl. Lindenberg 1993: 11–49; Kunz 1997: 246f.; Esser 1996; Burth 1999: 272f.). Umgekehrt liefert das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen die theoretische Heuristik, um die Entstehung, den Wandel und die Wirkung von Frames zu untersuchen. Geschichtspolitik zielt genau auf die Veränderung individueller Situationswahrnehmungen ab. Mittels der Konstruktion von Geschichtsbildern versuchen geschichtspolitische Akteure ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das gewisse Handlungen als instrumentelle Güter für die Erzeugung der Primärgüter attraktiv erscheinen lassen und andere nicht (zum Beispiel das Wählen einer Partei). Dies fängt bei kleinen geschichtspolitischen Debatten um die politische Vergangenheit von grünen Spitzenpolitikern an und geht bis zu politisch kontrovers diskutierten Themen wie die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen. Jeder kann in diesem Sinne geschichtspolitisch wirksam werden, wenn er mittels Stereotypen die Situationswahrnehmung seiner Kameraden beeinflussen möchte. Von den üblichen geschichtspolitischen Akteuren unterscheidet ihn lediglich die Reichweite seines Einflusses. Exemplarisch sollen die bisher entwickelten Überlegungen anhand eines Beispiels aus Japan demonstriert werden (vgl. Richter 2001; Petersen 2001; Conrad 2001; Fuhrt 2001). Direkt nach der Wiedererlangung der Souveränität Japans nach dem Zweiten Weltkrieg entflammte eine Debatte über die ideologische Ausrichtung der japanischen Geschichtslehrbücher. Dabei bemühten sich konservative Politiker, ihren Einfluss auf die Schulbuchpolitik ihres Landes auszuweiten. 1996 haben sich zentrale konservative Akteure im Verein zur Erstellung neuer Geschichtslehrbücher zusammengeschlossen. Erstens übt der Verein indirekt Einfluss über das Bildungsministerium aus, indem er strenge inhaltliche Auflagen für neue Schulbücher fordert. Zweitens unterstützt er finanziell die Erstellung von revisionistischen Geschichtsbüchern. Diese konkreten Versuche geschichtspolitisch zu agieren, wurden in der japanischen Öffentlichkeit stark debattiert (vgl. Richter 2001).
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Der Verein verfolgt dabei die Zielsetzung, über Schulbücher Einfluss auf die Identität und Werte der japanischen Jugend zu nehmen. So sollen Schulbücher beispielsweise mittels Farbfotos die Schönheit Japans vermitteln oder Kolumnen mit den zentralen japanischen Persönlichkeiten enthalten. Die Darstellung soll dabei auch die Tugenden dieser Persönlichkeiten hervorheben, ihren Mut und Fleiß und welche Last sie zu tragen hatten (vgl. Richter 2001: 179). Die Besonderheit der japanischen Kultur müsse im Schulbuch deutlich sichtbar sein. Außerdem soll die Beschreibung des modernen Japans von Sympathie und Respekt getragen sein: „es gehe um die wahre Gestalt des ‚Jahrhunderts der Kriege‘, ohne vereinfachende Urteile wie ‚gut‘ oder ‚böse‘ zu fällen“ (Richter 2001: 280). Dabei steht weniger die Leugnung der verübten Kriegsgräuel im Vordergrund als vielmehr das Bestreben, den Diskurs über die Gewaltverbrechen zu beenden. Im Jahr 2002 wurde das erste Schulbuch, das mit Mitteln dieses Vereins finanziert wurde, staatlich zugelassen. Zwar mussten einige Passagen auf Aufforderung des Bildungsministeriums geändert werden. Das umfangreiche Begleitmaterial unterliegt jedoch nicht der staatlichen Kontrolle. Daneben veröffentlichte der Verein zahlreiche weitere Bücher zu Themen der nationalen Geschichte. Die Publikationen werden durch Werbekampagnen unterstützt, so dass hohe Verkaufszahlen realisiert werden können. Darüber hinaus organisierte der Verein allein zwischen 1997 und 1999 mehr als 350 Symposien und zahllose Vorträge mit prominenten Konservativen. Beispielsweise arbeitet auch der populärkulturelle Star und Comicautor Kobayashi Yoshinori in diesem Verein mit. „An ihm wird deutlich, dass sich der Erfolg des Vereins auch der Tatsache verdankt, neben Schulbüchern und Internet auch andere Medien in den Dienst der sich gesteckten Ziele stellen zu können“ (Richter 2001: 282).13 Die Mitglieder des Vereins sind der Ansicht, mittels Schulbücher ein geeignetes Instrument in den Händen zu halten, um die Veränderungen der japanischen Gesellschaft in ihrem Sinne zu beeinflussen. So äußert sich auch der Manga-Autor Kobayashi: „Ich sehe Schulbücher als einen neuen Meilenstein für Bemühungen zur Trendwende in der Gesellschaft an. Wenn man die Texte umschreibt, verändert man auch gesellschaftliche Strömungen“ (Yoshimasa 1997: 98). Wie lässt sich der unterstellte Zusammenhang nun handlungstheoretisch formulieren? Um die erhoffte Wirkung der Geschichtspolitik zu demonstrieren, wird auf die Struktur einer Mehrebenenerklärung nach Coleman zurückgegriffen. Geschichtspolitik soll die Situationswahrnehmung der Schüler beeinflussen (vgl. Abb. 2). Das geschichtspolitische Instrument, auf das in Japan zurückgegriffen wird, sind Geschichtsbücher für den Schulunterricht. Über Schulbücher wird versucht, ein spezielles Frame bei den Schülern zu erzeugen, das später das Handeln der so sozialisierten Kinder in der erhofften Weise bestimmt. Ziel könnte beispielsweise sein, dass man durch die Erzeugung eines bestimmten Geschichtsbildes bei den Schulkindern die spätere Legitimation der geplanten Politik ermöglichen möchte,
13 Millionenfach verkauft haben sich auch die populärwissenschaftlich geschriebenen Werke der Geschichtsrevisionisten Fujioka Nobukatsu und Nishio Kanji (vgl. Conrad 2001: 9).
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GeschichtsPolitik
soziale Strukturen
veränderte soziale Strukturen
spezielle Definition der Situation / Frame
Logik der Aggregation
Logik der Selektion
Handlung
Wahlergebnis
gesellschaftliche Unterstützung von Außenpolitik
Wahl einer Partei
Teilnahme an Demonstrationen
Akteur
Abbildung 2: Wirkung von Geschichtspolitik
GeschichtsPolitik
soziale Situation
Definition der Situation / Frame
Akteur
Abbildung 3: Geschichtspolitik und das Konzept sozialer Produktionsfunktionen indem das spätere Wahlverhalten oder die Zustimmung für außen- und innenpolitische Entscheidungen beeinflusst werden (vgl. Abb. 3). Konkrete geschichtspolitisch umstrittene Sachverhalte sind der Besuch des Yasukuni-Schreins durch japanische Politiker und das damit verbundene Gedenken an die Kriegstoten, die Debatte um die Zwangsprostitution von koreanischen Frauen durch die japanischkaiserliche Armee, Japans Kriegsschuld und die Frage möglicher Entschädigungszahlungen et cetera (vgl. Buchholz 2001; Seraphim 2001; Conrad 2001).
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Hier zeigt sich auch die Verbindung zwischen der Framing-Theorie und dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen. Es wird versucht, über die Erzeugung von spezifischen Frames Handlungsprogramme zu vermitteln, die im Interesse der geschichtspolitischen Akteure liegen. Letztlich soll durch Geschichtspolitik ein soziales Klima erzeugt werden, dass die geplante revisionistische Politik unterstützt und gesellschaftlich legitimiert. Inwieweit tatsächlich durch Geschichtspolitik eine konkrete Veränderung von Produktionsfunktionen vorgenommen werden kann, darf skeptisch beurteilt werden. Schließlich kann die Veränderung der Produktionsfunktionen nur gelingen, wenn man die Frames der Akteure gezielt erzeugen und verändern kann. Jedoch sind die Reize, die innerhalb einer Gesellschaft vorgegeben werden, heterogen und zahlreich. Dementsprechend eindeutig und stark müssen die Anreize gestaltet werden, wenn man konkret Zwischengüter verändern möchte. Um die typischen Produktionsfunktionen in einer Gesellschaft umzuformen, sind darüber hinaus soziostrukturelle und kulturelle Veränderungen notwendig. Diese stellen die zentralen Bestimmungsfaktoren der sozialen Produktionsfunktionen dar. Erhebliche politische und ökonomische Ressourcen müssen vorhanden sein, um solche Änderungen schnell herbeizuführen. Allerdings können historische Zufälligkeiten geschichtspolitischen Akteuren in die Hände spielen. Beispielsweise können durch Wirtschaftskrisen evozierte soziostrukturelle Veränderungen durch geschichtspolitische Akteure aufgegriffen und instrumentalisiert werden, um Frames und damit Handlungsprogramme zu verändern. Ähnliches versuchen die geschichtspolitischen Akteure in Japan gerade zu nutzen, wo der geschichtspolitische Diskurs einher geht mit einem tief greifenden Wandel der japanischen Kultur und Wirtschaft (vgl. Conrad 2001: 3f.). SCHLUSSBEMERKUNG Insgesamt zeigt sich, dass der theoretische und empirische Beitrag des ökonomischen Forschungsprogramms zum Konzept der Geschichtspolitik bisher bedauernswert gering und unkonkret ist. Die verstärkte Anwendung handlungstheoretischer Überlegungen in diesem Politikfeld wird jedoch fruchtbar sein. Schließlich bietet diese Perspektive die Möglichkeit, unbefriedigende makrosoziologische Zuschreibungen wie zum Beispiel die eines kollektiven Gedächtnisses oder eines sozialen Klimas zu überwinden und trotzdem die Idee einer sozialen Definition individueller Handlungsziele beizubehalten (vgl. Frings/Marx 2005). Auch bleibt der hier gewählte Zugang nicht bei der Beschreibung kollektiver Sachverhalte stehen, sondern versucht ihre Entstehung und ihren Wandel auf individuelle Handlungen zurückzuführen und damit zu erklären. Kultur wird auf diese Weise sowohl als Produkt wie auch als Rahmen menschlichen Handelns verstanden. Damit können auch Explananda wie die Entstehung individueller Handlungsziele und deren Wandel in der Terminologie des ökonomischen Forschungsprogramms behandelt werden. In diesem Sinne wären konkrete Anwendungen des ökonomischen Forschungsprogramms im Gebiet der Geschichtspolitik wünschenswert, um
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die Möglichkeiten und Grenzen einer handlungstheoretischen Betrachtung kultureller Prozesse weiter auszuloten. Literaturverzeichnis Bänsch, Alexandra (2001): Zur kulturellen Konstruktion von Gemeinschaften. Eine Einführung. In: Alexandra Bänsch und Bernd Henningsen (Hrsg.): Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften. Schweden und Deutschland im Modernisierungsprozeß. Baden Baden, 9–33. Becker, Gary (1993): Die ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens. Tübingen. Braun, Dietmar (1999): Theorien rationalen Handelns in der Politikwissenschaft. Eine kritische Einführung. Opladen. Buchholz, Petra (2001): Jibushi – die Pluralisierung der Erinnerung von unten? In: Periplus 2001. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 11, 43–58. Burth, Hans-Peter (1999): Steuerung unter der Bedingung struktureller Kopplung. Ein Theoriemodell soziopolitischer Steuerung. Opladen. Coleman, James (1995): Grundlagen der Sozialtheorie. München. Conrad, Sebastian (2001): Einleitung: Erinnerungspolitik in Japan, 1945–2001. In: Periplus 2001. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 11, 1–12. Diekmann, Andreas und Peter Preisendörfer (2003): The behavioral effects of environmental attitudes in low-cost and high-cost situations. In: Rationality and Society 15, 441–472. Downs, Anthony (1968): Ökonomische Theorie der Demokratie. Tübingen (engl. 1957). Durkheim, Emile (1995): Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt am Main. Esser, Hartmut (1993): The rationality of everyday behavior. In: Rationality and Society 5, 7–31. Esser, Hartmut (1996): Definition der Situation. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1–34. Esser, Hartmut (1999a): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main. Esser, Hartmut (1999b): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln. Frankfurt am Main. Esser, Hartmut (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft. Frankfurt am Main. Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur. Frankfurt am Main. Faust, Jörg und Johannes Marx (2004): Zwischen Kultur und Kalkül? Vertrauen und Sozialkapital im Kontext der neoinstitutionalistischen Wende. In: Swiss Political Science Review 10, 29– 55. Frings, Andreas und Johannes Marx (2005): Wenn Diskursanalysen baden gehen. Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16, 81–105. Fuhrt, Volker (2001): Nachhilfe durch gaiatsu. Vergangenheitsbewältigung im Kontext der Beziehungen Japans zu seinen ostasiatischen Nachbarn. In: Periplus 2001. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 11, 83–92. Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main. Halbwachs, Maurice (2001): Kollektive Psychologie: ausgewählte Schriften. Konstanz. Hegmann, Horst und Falk Reckling (2004): Der kultivierte Homo Oeconomicus. Zum Ort der Kultur in der Ökonomie. In: Birgit Schwelling (Hrsg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden, 57–79. Heinrich, Horst-Alfred (2004): Geschichtspolitische Akteure im Umgang mit der Stasi: Eine Einleitung. In: Claudia Fröhlich und Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.): Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? Stuttgart, 9–33.
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DAS GEDÄCHTNIS DER SYSTEME Der Begriff des Gedächtnisses bringt, wenn man ihn allgemein faßt, zum Ausdruck, daß das Einsetzen von Operationen im System immer schon vorbereitet ist. Niklas Luhmann GEDÄCHTNIS OHNE BEWUSSTSEIN – WAS LEISTET EIN SYSTEMTHEORETISCHER BEITRAG ZUM VERSTÄNDNIS VON GESCHICHTSPOLITIK? Dass Individuen über Erinnerungen verfügen und dass sie sich auch in Form eines kollektiven Gedächtnisses mit Ereignissen identifizieren, welche für ihre soziale Gruppe eine konstituierende Bedeutung haben, so dass sie sich auf eine ganz eigentümliche Weise an Ereignisse erinnern, die sie nicht selbst erlebt haben und die sich vor ihrer Zeit ereignet haben, sofern diese für die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, von Bedeutung sind, ist längst zu einem kaum mehr zu problematisierenden Bezugspunkt der Beschäftigung mit geschichtspolitischen Phänomenen geworden. Weiterhin gilt als zumeist unstrittig, dass Geschichte – als erinnerte, in einen Zusammenhang gebrachte Vergangenheit – im politischen Feld „instrumentalisiert“ wird und mithin zu einer wichtigen „Mobilisierungsressource“ (Wolfrum 2001) im Kampf um Masseneinfluss, Macht und Legitimität gerät. Politik ist damit immer schon zu einem großen Teil Geschichtspolitik, insofern die Vergangenheit einen Bezugspunkt aktuellen Entscheidens bildet oder deutend auf sie eingegangen wird. So unterschiedlich die Konzepte des individuellen wie auch des kollektiven Gedächtnisses und der historischen Sinngebung auch immer sein mögen, so sind sie doch ausnahmslos an die Vorstellung von Subjektivität gebunden und es fällt in der Tat schwer, sich ein wie auch immer geartetes Gedächtnis ohne Rückbezug auf Subjektivität und Bewusstsein überhaupt vorzustellen. In Ridley Scotts düsterem Science Fiction Klassiker Blade Runner von 1982 stellt das individuelle Gedächtnis das einzige verlässliche, noch verbliebene Kriterium dar, um menschliche Wesen von Cyborgs und Replikanten unterscheiden zu können, da diese über keine individuelle, sondern lediglich über eine standardisierte, allen gleiche Erinnerung verfügen.1 Das individuelle Gedächtnis gerät so zu einer das Menschliche geradezu charakterisierenden anthropologischen Konstan1
Die Thematisierung der Gedächtnis-/Erinnerungs-/Zeitproblematik im populären Gegenwartskino wäre eine eigene Untersuchung wert. Während etwa in Christopher Nolans Memento, in David Lynchs Mulholland Drive und in der Terminator-Reihe Erinnerung – oder der Verlust der Erinnerung – auf der inhaltlichen Ebene angesprochen wird, beschäftigt sich eine Reihe neuerer Filme durch die bewusste Verwendung von echtem und fingiertem Archivmaterial auch auf der ästhetischen Ebene mit dem Thema Gedächtnis. Vgl. zum letzten Aspekt Jutz (2001).
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te. Dieser allzu vertrauten Vorstellung zum Trotz, soll im Folgenden davon ausgegangen werden, dass auch soziale Systeme nicht ohne ein Gedächtnis auskommen, ja mehr noch, dass selbst soziale Subsysteme (Politik, Wirtschaft, Recht und so weiter) jeweils auf eine spezifische Art und Weise Zeit verarbeiten und damit über ein eigenes Gedächtnis verfügen müssen. Die Anschlussfrage lautet dann: Wer sind die Träger solcher systemischer beziehungsweise subsystemischer Gedächtnisse? Welche systemspezifischen Eigenschaften sind von einem Gedächtnis des politischen Systems zu erwarten? Wie verhält sich dieses Gedächtnis zu den Spezialgedächtnissen anderer sozialer Subsysteme und was passiert, wenn es zu Formen subsystemischer Desynchronisation kommt? (vgl. Rosa 2005, Reheis 1998, Scheuermann 2001) Gibt es einen Zusammenhang zwischen den verfügbaren Kommunikationstechnologien und einem Gedächtnis der Systeme beziehungsweise wird dieses Gedächtnis durch Globalisierungsprozesse in seiner Grundstruktur verändert? Ziel eines Beitrags zur Geschichtspolitik aus systemtheoretischer Perspektive ist es daher, ein Stück weit Theoriearbeit zu leisten und in jener Theoriesprache, die Klaus von Beyme (1991: 251) als den akteursfremdesten Ansatz aller nachmodernen Denkmöglichkeiten bezeichnet hat, nämlich in der Sprache (und mit dem Instrumentarium) der Systemtheorie von Niklas Luhmann, geschichtspolitische Phänomene zu deuten und zu erklären. Obwohl Luhmann selbst wiederholt auf die Relevanz einer „systemtheoretischen Zeittheorie“ hingewiesen hat, gilt nach wie vor, was Hartmut Rosa (2005: 22) in seiner fulminanten Studie Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne feststellt, dass nämlich eine systematische Anbindung der Zeitsoziologie an eine empirisch gehaltvolle sozialwissenschaftliche Theoriebildung trotz der Versprechungen von Giddens und Luhmann, Zeit zu einem unverzichtbaren Grundbegriff ihrer Theoriebildung zu machen, ein unerfülltes Forschungsdesiderat darstelle. Dabei stellt Luhmanns Systemtheorie – wie zu beweisen sein wird – ein reichhaltiges theoretisches Rüstzeug bereit, um gleichsam den offenkundig zur Zeit noch anhaltenden Vergangenheitsboom in öffentlichen Debatten wie auch das neue Paradigma der Kulturwissenschaften, welches sich seit circa 15 Jahren um den Begriff der Erinnerung aufgebaut hat, sowohl theoretisch wie auch begrifflich erfassen zu können und weiterhin die in anderen Theoriesprachen formulierten Hypothesen zur Relevanz des Gedächtnisses in der Politik auf ihre Plausibilität hin zu testen. Freilich muss man sich auf der Leiter der Abstraktionen ein Stück weit nach oben bewegen, um den systemtheoretischen Zugang zur Geschichtspolitik zu erfassen, welcher seinen Ausgang nimmt in der Feststellung, dass auch soziale Systeme über ein Gedächtnis verfügen. Wie sehr sich dieser Ansatz von anderen geschichtspolitischen Zugängen unterscheidet wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass systemtheoretische Überlegungen zum Gedächtnis nicht auf der Ebene organischer, psychischer, neurophysiologischer oder bewusstseinsmäßiger Leistungen ansetzen und dann auf eine Ebene kollektiver Erinnerungen übergehen, sondern radikal zwischen einem individuellen beziehungsweise kollektiven Gedächtnis und dem Gedächtnis der Systeme unterscheiden. Demnach verfügen in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften die jeweiligen Subsysteme, das politische Sys-
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tem, das Rechtssystem, die Wirtschaft, die Wissenschaft und so weiter, über ein spezifisches Gedächtnis, welches sie – durch die Fähigkeit, das Vergessen und Erinnern zu organisieren – in die Lage versetzt, überhaupt operativ geschlossen arbeiten zu können und ein Verhältnis zu sich selbst – und in Abgrenzung dadurch auch zu ihrer Umwelt – gewinnen zu können (vgl. Luhmann 1995: 109ff.). Bereits anhand dieser kurzen Bemerkungen sollte deutlich geworden sein, welch zentralen Stellenwert die Unterscheidung zwischen Vergessen und Erinnern bei der Systembildung einnimmt. Dazu Luhmann: „Nur mit Hilfe eines an allen Operationen beteiligten Gedächtnisses ist ein System überhaupt in der Lage, Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden und in beiden Zeitrichtungen Selektivität zu praktizieren“ (ebd: 112). Die Crux einer solchen, auf Gedächtnis aufbauenden systemischen Operationsfähigkeit liegt nun eben aber darin, dass die Fähigkeit der Systeme zur Operation und zur Abgrenzung gegenüber der Umwelt auf einer gewissermaßen „fatalen“ Anfangsunterscheidung beruht (vgl. Saake 2004: 103), die auf Gedächtnis aufbaut und gleichzeitig die Gedächtnisleistung anleitet: folglich auf einer Paradoxie. Denn das Gedächtnis der Systeme begründet die Leitunterscheidungen, nach denen das System überhaupt operieren kann, wie es gleichsam auch selektiert, was für das System einen relevanten Reiz darstellt.2 DAS GEDÄCHTNIS DER POLITIK ALS „BI-STABILE OSZILLATION“ ZWISCHEN INNEN- UND AUSSENREFERENZ Im Jargon der Systemtheorie gesprochen, führt die Gesellschaft ihre Evolution in die Evolution wieder ein, indem gesellschaftliche Transformation beobachtet und kommentiert wird (Luhmann 1997: 577). Mit anderen Worten: Das politische System braucht – wie jedes anderes System auch – ein „Gedächtnis, um sich dessen vergewissern zu können, was seine Gegenwart ist, und um entscheiden zu können, was für es diskreditierbare Vergangenheit ist“ (Baecker 1987: 519). Das System selbst ist sein Gedächtnis und der Adressat seines Gedächtnisses zugleich. Demnach ist das Gedächtnis nichts anderes als Ausgangspunkt und Produkt der Auseinandersetzung des Systems mit seiner Umwelt: Das meint Luhmann, wenn er vom bi-stabilen Oszillieren zwischen der Innen- und Außenreferenz spricht, die es dem System möglich macht, induktive Schlüsse aus vergangenen Ereignissen zu ziehen und „Ungewissheit zu beseitigen“ (vgl. von Foerster 1985: 138). Diese Operationen temporalisierter Systeme sind nicht auf die Schließung beziehungsweise Beendigung der Prozesse hin angelegt, sondern sie sind, wenn man so sagen kann, immanent unruhig. Der Systemtheorie geht es also nicht, wie etwa den klassischen Gleichgewichtstheorien, „um Rückkehr in eine stabile Ruhelage nach Absorption von Störungen, sondern um die Sicherung der unaufhörlichen Erneuerung der Systemelemente; oder in kurzer Formulierung: nicht um statische, sondern um dynamische Stabilität“ (Luhmann 1996: 79). 2
Esposito (2002: 25) fasst diesen Zusammenhang lapidar zusammen mit den Worten: „Das Gedächtnis geht der Information voraus und bildet die Voraussetzung dafür, dass einige Ereignisse gegen die Vielheit, die vergessen wird, als Information gefiltert werden.“
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Es ist die Thematisierung der Zeitdifferenz, die Organisation von Unterscheidung in der Zeit, die ein System dazu bringt, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu unterscheiden (vgl. Luhmann 1990: 115) und damit überhaupt eine systemische Identität herauszubilden. Folglich bedarf die Gesellschaft – als soziales System, nicht als Summe der psychischen Systeme – eines Gedächtnisses, um Unterscheidungen prozessieren zu können. Dabei stellt sich dann die Frage, welche Unterscheidungen in bestimmter und nicht in anderer Weise getroffen werden. Dieser Punkt wird noch eingehender zu betrachten sein. Zunächst wollen wir uns mit der Feststellung begnügen, dass es jeweils von der Art der systemspezifischen Kommunikation abhängt, was das „Gedächtnis erinnern soll und was es vergessen wird“ (Luhmann 2000: 172). Um das Prozessieren von Kommunikation zu befördern, liegt der Primat des Gedächtnisses nicht im Erinnern, die Speichermetapher ist hier also gerade nicht in Anschlag zu bringen, sondern – wie Luhmann mehr als einmal betont hat – im Vergessen, um Abstraktion und Generalisierungen immer wieder neu möglich zu machen.3 Als Paradoxie könnte dann Erinnerung als das zielgerichtete Vergessen des Vergessens formuliert werden. „Das Gedächtnis re-imprägniert gewissermaßen die laufend frei werdenden Kapazitäten des Systems und richtet sich dabei nach dem, was aktuell anfällt“ (Luhmann 2000: 173). Es sind die vom Gedächtnis zur Verfügung gestellten Redundanzen und Varietäten, die dazu dienen, Informationen überhaupt verarbeitbar und damit anschlussfähig zu machen. Verfolgen wir diesen Gedanken etwas weiter, so kommen wir zu der Einsicht, dass die Gesamtgesellschaft über ein Gedächtnis verfügt, welches auf einzelne Spezialgedächtnisse zurückgreifen kann. Anders wäre ein Operieren von Systemeinheiten in der Gegenwart gar nicht vorstellbar. Allerdings stellt sich an dieser Stelle die Frage, was als Gesamtgesellschaft bezeichnet werden kann. Im letzten Abschnitt dieses Beitrags wird auf diese Frage im Zusammenhang mit geschichtspolitischen Phänomenen zurückzukommen sein. Hier soll zunächst als Antwort genügen, dass die Grenzen der Kommunikation auch die Grenzen des Systems festlegen. Eine gewisse Staatszentriertheit bei der Herausbildung moderner funktional differenzierter Gesellschaften hatte dazu geführt, dass die Grenzen systemischer Kommunikation in vielen Fällen als kongruent mit den Staatsgrenzen betrachtet wurden, das heißt die Grenzen des Rechtssystems, der Wirtschaft, sogar der Kunst und so weiter wurden entsprechend zu den territorialen Grenzen staatlicher Herrschaft gezogen. Dem Gedächtnis des politischen Systems kam gerade in dieser Phase die Rolle zu, die zu begründenden Funktionsvoraussetzungen moderner Herrschaftsformen bereits als begründet zu beschreiben. So rekurrierte das politische System, um Systembildung überhaupt möglich zu machen, auf vergangene Herrschaftsformen, und beim Fehlen früherer Systembildung musste auf Mythen verwiesen werden. Als Beispiel führt Luhmann an, dass sich in Mesopotamien aus der erinnernden Erzählung von Heldengeschichten die Vorstellung einer Königsherrschaft ergeben habe (vgl. Luhmann 2000: 412), wie auch die 3
Wie Esposito (2002: 24, Hervorheb. M.A.) im Anschluss an Luhmann (1993: 118) bemerkt: „Das Gedächtnis ist nicht einfach ein Vorrat an vergangenen Ereignissen, sondern in erster Linie die Organisation des Zugangs zu Informationen.“
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„Imaginierung von Gemeinschaftlichkeit“, wie sie bei Ben Anderson beschrieben wird, erst durch den Rückbezug auf die Erinnerung gestützt und legitimiert wird, wie selbst eine Reihe von Staatsgründungen nach dem Zerfall des real-existierenden Sozialismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll dokumentiert hat. Die Konstitution und Evolution dynastischer Systeme war ohne die Könige und Kaiser als Platzhalter einer Systemevolution nicht denkbar, und sie ist noch heute über die Erinnerung – wenn nicht über Erinnerungsfiktionen – an jene Könige rekonstruierbar. Seit dem 18. Jahrhundert bildete dann – anstelle der Könige – die Nation den Referenzpunkt einer das politische System in seiner Gesamtheit abbildenden Erinnerungsleistung, welche das (politische) Kollektiv zu einer Einheit zusammenschloss (vgl. Stichweh 2000a: 48). Die kontinuierliche Erinnerung an die republikanischen Gründungsakte moderner Demokratien steht ebenfalls in einer solchen geschichtspolitischen Tradition.4 Eine Pointe dieser Überlegungen lässt sich an dieser Stelle schon benennen: Je mehr selbsterzeugte Ungewissheit ein System zu bearbeiten hat, desto mehr bedarf es eines Gedächtnisses, um den blinden Fleck der Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft (Luhmann) auszufüllen. Doch worin besteht die Selbstreferenz des politischen Systems? Was bildet den Leitfaden, um Differenzen des Vorher und Nachher an Beobachtungen anderer Ereignisdifferenzen anschließen zu können? (vgl. Baecker 1987: 522) Die Gegenwart ist – mit Luhmann (200: 150) – nichts anderes als die augenblickliche Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, oder mit anderen Worten: nichts anderes als deren Beobachter. Dies deutet auf den hochkonstruktivistischen Zug, der jeder Verzeitlichung eignet. „Gegenwart entsteht ihrerseits nur durch die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Sie ist an sich selbst (also ontologisch beschrieben) ein Nichts – nichts als die Einheit der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft“ (ebd.: 235). Entscheiden bedeutet mithin, Zeit zu verarbeiten. Letztlich wird aus Luhmanns Explikation des Entscheidungsbegriffs deutlich, dass politische Entscheidungen, wenn nicht jegliche Entscheidungen, auf der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, und damit auf Erinnerung, beruhen. „Stünde die Übereinstimmung von Vergangenheit und Zukunft fest, gäbe es keinen Spielraum für Entscheidungen“ (ebd.: 145), und damit gäbe es weder ein politisches System, noch überhaupt irgendein sinnvolles systemisches Operieren. Folglich sind es Entscheidungen, in der Politik bindende Entscheidungen, die die Problematisierung und Neuinszenierung des Zusammenhangs von Vergan-
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Es mag als ein Grund für die sich herausbildende Fragmentierung des globalen Rechts der Umstand herangezogen werden, dass die Vervielfältigung unterschiedlicher und dabei in völliger Unabhängigkeit voneinander operierender sektoral begrenzter Gerichte, globaler Regelungsregimes und Schlichtungsinstanzen zu schier unüberschaubaren Normenkonflikten und Regimekollisionen führt, während sich für das globale Recht vorerst nur sehr unscharfe Referenzen in einem globalen Rechtsgedächtnis abgelagert haben. Als am weitesten fortgeschritten mögen in diesem Zusammenhang das Völkerrecht beziehungsweise der globale Menschenrechtsdiskurs gelten (vgl. hierzu – allerdings ohne auf die Leistung eines subsystemischen Gedächtnisses einzugehen – Fischer-Lescano/Teubner 2006).
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genheit und Zukunft immer wieder neu thematisieren und damit gerade für das politische System ständig aktuell halten. Das Systemgedächtnis kann nun seinerseits nicht immer wieder neu prozessieren, was erinnert und vergessen werden soll. Es bedarf somit einer – wenn man so sagen darf – Routinisierung des Gedächtnisses, welches nun seinerseits auf festgelegte Indikatoren zurückgreift, die standardisiert anzeigen, was als entscheidungsrelevant zu gelten hat und was nicht. Luhmann greift hier auf den aus der kognitiven Psychologie stammenden Begriff des Skripts zurück, wobei Skripts als Handlungsanleitungen in komplexen Situationen dienen: Subventionen verringern die Arbeitslosigkeit, lautet das Beispiel bei Luhmann (ebd.: 155), aber unschwer lässt sich eine ganze Reihe solcher Skripts ausmachen: Deregulierung und Privatisierung stimulieren die Wirtschaft, während ein gut ausgebauter Kündigungsschutz in die Rezession führt; auf einen aggressiven Akt einer fremden Macht wird mit Aggression geantwortet, oder generell: si vis pacem, para bellum. „In jedem Fall dienen sie [die Skripts] der Simplifikation und damit der Fortschreibung des Systemgedächtnisses. Ihre Wirkung hängt nicht von der Wahrheit ab, sondern nur davon, daß sie zu Entscheidungen führen“ (ebd.: 156). Systemtheoretisch ist die Pilatusfrage unerheblich, auch – oder gerade – im Hinblick auf ein Systemgedächtnis und die Kommunikation über Geschichte im politischen System, also der Geschichtspolitik, ist die Frage nach der Wahrheit zweitrangig (wenn überhaupt kommunizierbar). Die Einordnung der Erinnerungen unterschiedlicher Trägergruppen in wahre und falsche Erinnerungen oder gar in subjektive und objektive Erinnerungen führt hier nicht weiter. Vielmehr stellt sich die Frage, welche systemspezifischen Erinnerungen das politische System jeweils dominieren. Dabei kann das Systemgedächtnis immer nur im Sinnhorizont des operativ geschlossenen Systems operieren. Skripts sind Schematisierungen der Zeit, um die Determination durch Vergangenheit aufzulösen, damit eine unbekannte Zukunft offen und entscheidbar zu bewältigen ist. Es ist also systemisch vor-entschieden, welches Repertoire an Skripts den anfallenden Entscheidungen zugrunde gelegt wird, genauer: welche Skripts zu einem bestimmten Zeitpunkt Verwendung finden und wie Vergangenheit und Zukunft diskriminiert werden. Die Skripts ihrerseits sind nur in bestimmten Kontexten übersetzbar, das heißt sie beruhen auf den Konventionen, unter denen das System seine Entscheidungen fällt. Diese Konventionen beschreibt Luhmann als Kontingenzformeln, also als Stilvorschriften für die Bestimmungsleistungen des Systems. Wenn das politische System auf die demokratie-kompatible Kontingenzformel der Legitimation festgelegt ist, so müssen die verwendeten Skripts ebenfalls im Modus der Unterscheidung legitim versus illegitim operieren und durch die „öffentliche Meinung“ gedeckt sein. Die Einführung der „öffentlichen Meinung“ ist hier insofern interessant, als mit ihr die Aktualisierung bestimmter Erinnerungen begründet werden kann, wie auch die „öffentliche Meinung“ innerhalb des politischen Systems bestimmte Meinungsäußerungen und Erinnerungen latent halten kann. Mit der öffentlichen Meinung – oder in unserem Zusammenhang besser – einer öffentlichen Erinnerung, kommt eine neue Instanz ins Spiel, deren Funktion wie folgt beschrieben werden könnte: Mit der öffentlichen Erinnerung – oder dem öffentli-
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chen Resümieren des Vergangenen oder in der Repräsentation des Vergangenen – kann das System die innergesellschaftlichen Systemgrenzen via Reflexion nachvollziehen und mit den Kontingenzformeln des politischen Systems in Übereinstimmung bringen. Freilich stoßen wir hier an die Grenzen des Analysierbaren, wie ein Vergleich mit dem Gedächtnis der Wirtschaft zeigt. Trotz der sprichwörtlichen Gedächtnislosigkeit des Geldes – pecunia non olet – verweist das Geld als „instituierte Selbstreferenz“ auf die Knappheit von Gütern schlechthin, wie auch auf das grundlegende Problem des Wirtschaftssystems, Knappheit nur auf Kosten einer anderen Knappheit zu reduzieren (vgl. Baecker 1987: 527). Die auf Macht, Durchsetzungsmacht – oder Machterwerb – programmierten Operationen im politischen System verfügen über keine so eindeutige Referenz, und die Differenzen, die das politische System erzeugt – etwa das etwas antiquiert wirkende Parteienschema links/rechts5 – können selbst nicht politisch zur Wahl gestellt werden (vgl. Luhmann 2000: 113f.). Hinzu kommt, dass die Stelle der Macht in demokratischen politischen Systemen leer ist und somit nur noch symbolisch repräsentierbar erscheint.6 Rekurriert werden muss nunmehr auf allgemein geteilte Formeln wie Gemeinwohl, Sicherung der individuellen Freiheit, Sicherheit oder Legitimität „im Sinne einer öffentlichen Darstellbarkeit von Präferenzen, für die man sich politisch einsetzt“ (ebd.: 122). Mit anderen Worten: „Die öffentliche Meinung bildet für die Gesellschaft ein öffentliches Gedächtnis ohne bestimmten Verpflichtungsgehalt“ (ebd.: 300), sie „ermöglicht Sinnformungsprozesse, die aufeinander Bezug nehmen können, ohne deswegen in Übereinstimmung einmünden zu müssen“ (Luhmann 1999: 27). Präferenzen, Werte, Besorgnisse, Ängste und Gefühle sind somit keine „rein privaten Angelegenheiten des Einzelnen“ (ebd.). Vielmehr sind individuelle Motive „Akzessorien der Schemata, die in der öffentlichen Meinung kursieren“ (Luhmann 2000: 302). Da das politische System in einem gesellschaftlichen Kontext operiert, muss es die eigenen Operationen reflektieren und den anderen (zum Beispiel religiösen oder ökonomischen) Aktivitäten vermitteln können. Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, wie wichtig der Faktor Zeit für die Systembildung ist. Systembildung, so ein zentraler Gedanke bei Luhmann, folgt aus dem Anschluss von Operationen an andere Operationen, wodurch das System eine Identität ausbildet. Diese Identität basiert auf der Möglichkeit, die „rekursive Vernetzung der Operationen in Rückgriffen auf Vergangenes und Vorgriffe auf Zukünftiges durch Invarianten abzusichern, so daß man etwas 5
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Das Links/Rechts-Schema ist selbst wiederum nichts anderes als ein Produkt des Gedächtnisses des politischen Systems. Vergessen wird dabei allerdings der historische Ursprung des Schemas in der französischen nach-revolutionären Nationalversammlung: „Mehr als zuvor sind es nicht mehr historische Ereignisse wie die französische Revolution und die Proklamation ihrer Prinzipien, sondern eher die Konsistenzlinien laufender Politik, die man nach dem links/rechts-Schema sortieren muß, um das Schema mit Inhalten zu füllen. Ohne Gedächtnis an das, was ‚gemeint ist‘, wenn man links beziehungsweise rechts sagt, könnte das Schema nicht erwartungsbildend funktionieren. Wie immer gilt also auch hier: ohne Gedächtnis keine Zukunft“ (Luhmann 2000: 187f.). Vgl. hierzu, in Anlehnung an die demokratietheoretischen Überlegungen von Gauchet und Castoriadis, den Essay von Frankenberg et al. (1989).
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als Dasselbe, zum Beispiel den Machthaber als denselben, ein Amt als dasselbe, ein Thema als bei allen neuen Beiträgen dasselbe Thema wiedererkennen kann“ (ebd.: 65). Hier wird deutlich, obwohl von Luhmann selbst nicht expliziert, wie groß der Anteil von „zeitlichen Rückgriffen und Vorgriffen, aus (selektiven) Erinnerungen und (selektiven) Antizipationen“ (ebd.: 67) an der Bildung von Systemidentität tatsächlich ist. Das System rekurriert auf eine (antizipierte) systemeigene Zukunft, indem es etwa Politikprojekte entwirft, und dies geschieht vor dem selektiven Abgleich einer systemeigenen Vergangenheit, in der die relevanten kontextabhängigen Merkmale kondensiert beziehungsweise die nicht relevanten Merkmale ausgeschieden und weggelassen werden. Was jedoch, bleibt zu fragen, unterscheidet relevante Merkmale von den nicht relevanten? Welche Erinnerungen werden selektiert und für das politische System als zeitlicher Rückgriff behandelt? Konstruktivistisch gefragt: Wie produzieren Kommunikationen über Vergangenes sich als politische Kommunikationen? (vgl. ebd.: 81). Zwei Antworten bieten sich hier an: Zunächst liegt es nahe, jegliche Kommunikation im Rahmen politischer Entscheidungen, sozusagen im Vorfeld der Politik, auf ihre zeitlichen Rückgriffe zu hinterfragen. Die zweite Antwort scheint jedoch ergiebiger: Macht- und Legitimationsdiskurse führen zur Stabilisierung ihrer kommunikativen Nachhaltigkeit rekursive Bezüge auf die vergangene Systemzeit mit sich, um ihre kommunikative Anschlussfähigkeit zu beweisen oder, um einen Begriff von James March und Johan Olsen (1989) zu gebrauchen, um Unsicherheit zu absorbieren. Sie tun dies, indem sie in der systemspezifischen Semantik des politischen Systems über Werte, Interessen und Ideologien kommunizieren, die, weil sie in die Rahmung passen, situationsspezifisch kommunikabel sind. Somit lässt sich hier zusammenfassen: „Unsicherheitsabsorption ist eine Weise der Erzeugung von Tatsachen“ (ebd.: 44), nämlich der Tatsachen, die durch erinnernde Konstruktion in der Welt und damit „wahr“ sind. Mit anderen Worten: Mit der Aktualisierung des Wissens über die Zeit – oder die Vergangenheit – mit dem Wiedereinführen der Zeit in die Zeit, entsteht aus den Resultaten vergangener Selektion eine „sinnvolle Gegenwart“. Es ist dann diese Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit, die Sinn im Operieren von Zeit konstituiert. „Aber die Erinnerung führt nicht zurück zum eigentlichen, fast vergessenen Sinn des Seienden, seinen Wesensformen, den Ideen; sondern das Gedächtnis konstruiert Strukturen nur für den momentanen Gebrauch zur Bewahrung von Selektivität und zur Einschränkung von Anschlußfähigkeit“ (Luhmann 1997: 44). Systeme brauchen ein Gedächtnis, eine „memory function“, die ihnen „die Resultate vergangener Selektion als gegenwärtigen Zustand verfügbar machen (wobei Leistungen des Vergessens und des Erinnerns eine Rolle spielen)“ (ebd.: 45f.). Es geht daher nicht darum, inwiefern die Politik in ihrer heutigen Gestalt durch die Vergangenheit geformt und mitbedingt wurde: dies sind eher Fragen historisch-genetischer Natur. Hier interessiert viel eher, wie die Politik die Vergangenheit beobachtet, in ihren Entscheidungskreislauf einspeist und wie sie sich merken kann (und wohl auch muss), was in einer zukünftigen Gegenwart eine Rolle spielen mag (vgl. Baecker 1987: 520).
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GEGENWART ALS DIE AUGENBLICKLICHE EINHEIT DER DIFFERENZ VON VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT Gedächtnisleistungen des politischen Systems, das wurde bereits betont, dienen der Komplexitätsreduktion, der Unsicherheitsabsorption, der Orientierung und der Entscheidungsfindung. „Im Normalfall kristallisieren [sie] zu Routinen, die beim Auftreten bestimmter Auslösesignale wiederholt werden können“ (Luhmann 2000: 177). Das politische System braucht ein Gedächtnis, um sich von anderen systemischen Zuständen unterscheiden zu können. Wie sonst könnte es sich als modern, etwa im Unterschied zu traditional oder postmodern, verstehen? Wie sonst ließe sich rechts von links unterscheiden und wie ließe sich die Unterscheidung in Monarchie und Republik begründen? Doch wie ist das möglich? Wie beobachtet das politische System die eigene Vergangenheit? Oder wie konstruiert das politische System seine Gegenwart aus der Beobachtung der Vergangenheit? Hier sind nun drei Modi der Vergangenheitsbeobachtung zu unterscheiden: 1) Gesetze, Verträge, aus der Vergangenheit übernommene Verpflichtungen – pacta sunt servanda – legen bereits einen Erinnerungspfad an, der die gegenwärtigen Entscheidungen prägt und die offene Zukunft bindet.7 Allerdings ist diese Art der Systemerinnerung in hohem Maße voraussetzungsvoll, da dann der rechtliche Verpflichtungscharakter der Gesetze, Verträge oder Verpflichtungen bereits im politischen System verankert und bindend akzeptiert sein muss und immer wieder erinnert werden kann. Dieser Zusammenhang stellt eines der größten begründungstheoretischen Probleme der (freilich nicht systemtheoretisch argumentierenden) Vertragstheorie dar: Wodurch erlangt der Herrschaft begründende und Herrschaft limitierende Vertrag seine Gültigkeit? Systemtheoretisch kommt solchen Begründungfragen allerdings keine Relevanz zu, da es schlichtweg kein Verhalten ohne Ursache gibt und dann gilt: „Die Frage kann nur sein, wie man die Einflüsse, die ein Verhalten bestimmen, beobachtet und ob man sie billigt oder nicht billigt; und das ist eine Sache des Standpunktes“ (Luhmann 2000: 171). Verträge und Vereinbarungen sind einzuhalten, dies ist ein Resultat des Gedächtnisses des politischen Systems. Wie Elena Esposito (2002: 22) bemerkt, ist das Gedächtnis die Funktion, die für Wiederholung sorgt. Das Gedächtnis erfüllt hier die notwendigen Selektionsleistungen, indem es verschiedene Verhaltensroutinen offenhält: Verträge gelten, Gesetze sind einzuhalten (und durchzusetzen), doch diese prozedurale Standardisierung gilt nicht etwa für Wahlversprechen. Diesen kann kaum ein Verpflichtungsgrad zugesprochen werden und allenfalls im Wahlkampf werden sie in die politische Rhetorik einbezogen. Für die Beobachtung des politischen Systems kommt ihnen keine Relevanz zu, da die verpflichtende Rahmung von Wahlversprechen fehlt und nur durch eine (systemfremde) Moralisierung temporär und relativ folgenlos eingeführt werden könnte. Interessant wird dieser Fall der Selbstbeobachtung nur dann, wenn historische, lange Zeit nicht aktualisierte Verträge – etwa zwischen Kolonialmächten und der indigenen 7
Auf den system-strukturierenden Einfluß verweisen bereits Parsons und Smelser (1956: 119): „One of the characteristics of a contract is that a fluid state of a system becomes more definitely structured.“
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Bevölkerung – aus der Latenzphase unter der Kontingenzformel der Legitimität neu erinnert, und damit für die politische Auseinandersetzung unter neuen Gesichtspunkten relevant werden. In diesem Fall müssen neue Verhaltens- und Entscheidungsstandards erst gefunden und habitualisiert werden. Hier zeigt sich der zeitmodale Charakter der Vergangenheit, die erst damit entsteht, dass ein vorher und nachher beobachtet wird. 2) Der zweite hier relevante Modus der Vergangenheitsbeobachtung lässt sich unter dem Begriff der „Gedenkkommunikation“ zusammenfassen. Gemeint sind damit auf eigentümliche Art standardisierte und kanonisierte Erinnerungen, die eine recht lange Zeit seltsam „eingefroren“ überdauern können, obwohl die Kommunikation der unterschiedlichen Teilsysteme sich währenddessen stark verändern kann. Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses arbeitet hier mit einer starken Verknüpfung von Identitätsbildung und Gedenkpraktiken. So bemerkt er: „In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden und in der Wertperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten läßt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill“ (Assmann/Hölscher 1988: 16). Es werden sich ohne Mühe Beispiele dafür finden lassen, wie Gedenken und identifikatorische Aneignung zusammengehen, insofern ist Assmanns Verbindung von Gedenkkommunikation und Identitätsbildung sicherlich plausibel. Dennoch – und darauf haben bereits einige Kritiker hingewiesen – muss eine identifikatorische Aneignung keine automatische Folge der kulturellen Überlieferung sein (vgl. Kölsch 2000). Vielmehr scheint es angesichts der Pluralisierung möglicher Interpretationen auch von Erinnerungsdiskursen angebracht, die Funktion der Gedenkkommunikation dergestalt zu bestimmen, dass sie der spannungsvollen Aufrechterhaltung von Offenheit und damit gerade immer auch der Entlastung von identifikatorischer Aneignung dient. Hier kommen Erinnerungspraktiken in den Blick, die man als Gedenken ohne Konsens oder ohne Stolz angesichts einer „problematischen“ Vergangenheit bezeichnen könnte (vgl. Wagner-Pacifici/Schwartz 1994). In der oben nachgezeichneten Theoriesprache könnte man versuchen, diesen Zusammenhang wie folgt zu formulieren: Das reiterative, formalisierte Vergessen des Vergessens führt zu symbolisch verdichteten Strukturen, die das Reflexivwerden der Erinnerung gerade verhindern, um von der problematischen Vergangenheit zu entlasten, weil – gegen Durkheim – kein Wertekonsens hinsichtlich des Erinnerten oder des der Erinnerung Werten hergestellt werden kann. Angesichts der latent zu haltenden Vergangenheitskommunikation bilden sich so Muster heraus, die es ermöglichen, durch den Rückbezug auf die Vergangenheit von einem Rückbezug auf die Vergangenheit zu entlasten. Die ritualisierte Gedenkkommunikation wäre dann „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ (Luhmann), Kommunikation, die um so ritueller ausgestaltet wird, je brüchiger der unterstellte Konsens tatsächlich ist. Die Vergangenheit ist nicht mehr als bindende Tradition verpflichtend, indem sie beweist, „was gut und richtig ist. Sie wird nur noch in ihrer spezifischen Funktion als reduzierte Komplexität (...) herangezogen“ (Luhmann 1970: 168). Sie dient der Unsicherheitsabsorption durch „taktische Verein-
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fachungen oder durch Aufbau einer geschichtlichen Tradition generalisierter Erfahrungen“ (ebd.: 167). Damit sind zwei wichtige Muster, in denen sich das politische System zu einer Vergangenheit in Beziehung setzen kann, benannt. Doch verfahrenstechnische Routinen wie etwa Absprachen und Verträge und „klassische“ Kommemorationsrituale reichen nicht hin, das politische Funktionssystem einer modernen, hochkomplexen Gesellschaft so auszulegen, dass es dem Gedächtnis möglich ist, die Zukunft nicht zu stark festzulegen (Luhmann 2000: 177). 3) Letzteres geschieht durch die erinnernde Orientierung an Werten und Interessen, wobei Entscheidungsbäume und -alternativen sinnvoll verglichen und bewertet werden können. Systemtheoretisch könnten Werte und Interessen als Platzhalter früherer verbindlicher Bewertungen bezeichnet werden, ohne dass ihnen ein Geltungsstatus zugesprochen werden sollte. Wir müssen zunächst davon absehen, bemerkt Luhmann dazu trocken, „daß behauptet wird, daß Werte ‚gelten‘ und daß es Interessen ‚tatsächlich‘ gibt“ (ebd.). Die Rechtfertigung einer humanitären Intervention mit dem Hinweis auf gröbste Menschenrechtsverbrechen oder – geschichtspolitisch noch einschlägiger – durch den Gebrauch des Skriptes „Nie wieder Auschwitz“ bezieht ihre Geltung zunächst ja nicht aus dem verifizierbaren Verstoß gegen das rationale Naturrecht oder dem feststellbaren objektiven Verweisungszusammenhang auf die Verbrechen der Nationalsozialisten. Vielmehr wird durch die Alarmierfunktion des Wertediskurses die politische Entscheidung in der Weise abgekürzt, dass die zugrunde liegenden Wertepräferenzen nicht mehr spezifiziert zu werden brauchen, sondern nur noch die Handlungen mit der Semantik, als dem „gleichsam offiziellen Gedächtnis der Gesellschaft“ (Luhmann 1997: 627), in Einklang gebracht werden müssen. Werte und Interessen dienen in diesen Fällen lediglich als „Erinnerungsposten“, die eine schnelle, von der „öffentlichen Meinung“ abgestützte Orientierung und damit auch Reaktion ermöglichen. Diesen – handlungstheoretisch betrachtet eher kontra-intuitiven Gedanken – erläutert Luhmann am vieldiskutierten Wertewandel: „Es ist nicht so, daß sich zunächst auf schwer zu erklärende Weise die Werte wandeln und daß daraufhin die Kausalpläne und Handlungen adaptiert werden. Vielmehr ändern sich zunächst die Kausalattributionen und damit die Empfindlichkeiten für Ursachen und Wirkungen, die dann mit entsprechenden Werten besetzt und legitimiert werden“ (Luhmann 1999: 26). Der gegenwärtig stattfindende Erinnerungs- und Geschichtsboom würde dann auf ein grundlegendes Phänomen verweisen: Es wäre zu zeigen, dass die Bedeutung der Differenz von Vergangenheit und Zukunft zunimmt, wenn die Gesellschaft auf die Änderung vieler Strukturen reagieren muss, und sie tut dies in einem anschlussfähigen Modus. Die Zukunft ist offen, aber gestaltbar. Sie hängt davon ab, was in einer Gegenwart geschieht. Politische Geschichtskonstruktionen gewinnen damit an Relevanz und Erinnerungspolitik organisiert die Anschlussfähigkeit der politischen Semantik. Geschichtspolitische Phänomene wären hier zu deuten als Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft – und damit Beobachtung in der Gegenwart – unter Vermeidung von Vergangenheit.
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DAS GEDÄCHTNIS DES POLITISCHEN SYSTEMS IN DER WELTGESELLSCHAFT Die bisherigen Überlegungen bezogen sich auf das Gedächtnis des politischen Systems, wobei das politische System als Subsystem einer nationalstaatlich verfassten Gesamtgesellschaft gesehen wurde. Theoretisch scheint es jedoch keinen Unterschied zu machen, analog auf das Prozessieren von Kommunikation in der Weltgesellschaft zu schließen; höchstens wäre in einer weltgesellschaftlichen Kommunikation von einer vielfach komplexeren und wohl auch konfliktreicheren Organisation des Zugangs zu Informationen und ihrer Prozessualisierung auszugehen. Definieren wir Gesellschaft über kommunikative Erreichbarkeit, so wird man zwingend zugestehen müssen, dass nur noch die Weltgesellschaft als Ganze für die Anwendung des Gesellschaftsbegriffs in Frage kommt. Für die Systemtheorie gilt sowieso, dass die Weltgesellschaft das einzige Sozialsystem ist, das völlig eindeutige Grenzen aufweist (Stichweh 2000a: 31). Wenn Nationalstaaten an Souveränität verlieren, so radikalisiert die Vorstellung der Weltgesellschaft diese Sichtweise: Souveränität wird zur „Verantwortung für regionale Ordnung“. Die klassische Rahmung des politischen Systems und seines Gedächtnisses, die territoriale (nationalstaatliche) Begrenzung, kann damit nicht länger der Unsicherheitsabsorption dienen, vielmehr führt sie zu einer systemischen Blockade von Kommunikation, da das politische System durch zwei Prozesse unter Druck gerät: Das politische System der Demokratie, welches sich als die Institutionalisierung der Ungewissheit beschreiben ließe, und der Prozess der Globalisierung, der eine Weltgesellschaft als Weltkommunikationsgesellschaft entstehen lässt, verursachen gemeinsam eine strukturelle Verunsicherung. Heinz von Foerster (1985) notierte vor vielen Jahren, Gedächtnis sei ein anderes Wort für die Zunahme innerer Organisation. Die sich abzeichnende fortschreitende Differenzierung in Richtung auf eine Weltgesellschaft bezeugt eine solche Zunahme innerer Organisation, und damit auch eine Zunahme des Gedächtnisses. Freilich lässt sich die Weltgesellschaft nur als ein Raum ohne Zentrum beschreiben, und zwar sowohl hinsichtlich der Werte, der Kultur als auch der Herrschaft. Das weltpolitische System wäre dann ein Subsystem der Weltgesellschaft, neben einem Weltwirtschaftssystem, einem Weltrecht, dem Weltsystem der Massenmedien und so weiter, und all diese Systemen müssen über ein spezifisches Gedächtnis verfügen, um unter weltgesellschaftlichen Bedingungen operieren zu können. Als interne Differenzierung findet sich nach wie vor unterhalb der Ebene des weltpolitischen Systems das System der Territorialstaaten. Wird nun unterstellt, dass die Anschlussfähigkeit der politischen Kommunikation immer schon an die internationale Anerkennung gebunden war (Anerkennung hier verstanden als Zuweisung von Legitimität, also der Anerkennungswürdigkeit legaler Herrschaft, die zunächst aus dem rechtmäßigen Erwerb der Krone erwuchs, dann auf Volkssouveränität, Demokratie und die Beachtung der Menschenrechte umgestellt wurde), und wird weiterhin unterstellt, dass die Semantik dieser internationalen Anerkennung sich einem Wandel unterzogen hat, so stellt sich auch die Semantik der Erinnerung auf diese Umstellung um. Für die Erinnerung des politischen Systems hat dies zur Folge, dass nunmehr auch sie
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anschlussfähig sein muss an ein Weltgedächtnis, will sie einerseits die Ausfallbürgschaft nationalstaatlich erodierender Souveränität übernehmen, andererseits mit anderen Erinnerungen kommunizieren können. Analog zum Modell einer globalen Diffusion institutioneller Muster (vgl. Powell/DiMaggio 1991) entsteht somit eine globale Diffusion von Erinnerungspraktiken. Freilich ist eine solche Gedenk-, Erinnerungs- und Vergangenheitskommunikation in einem ungleich geringeren Maße strukturiert und kanonisiert als dies innerhalb der nationalen Rahmungen der Fall ist. Erinnerungskonflikte ebenso wie Wert- und Interessenkonflikte finden auf der Ebene des globalen Systems weitaus heftiger statt, als in den nach wie vor Bestand habenden Staaten und territorial organisierten Gesellschaften und bis auf Weiteres kommt den Staaten hierbei eine wichtige Aufgabe zu. Die im Zeichen der Universalisierung stattfindende Erinnerungskommunikation braucht eine „Adresse“ als lokalen Punkt in einem an sich enträumlichten Kommunikationsstrom, und dies kann nur die Identitätsmarkierung eines Staates sein: Peter van Ham (2001: 2) hat dies jüngst „The rise of the brand state“ genannt. Er schreibt: „In today’s world of information overload, strong brands are important in attracting foreign direct investment, recruiting the best and the brightest, and wielding political influence.“ Image und Reputation, kondensiert in einem positiv konnotierten Logo, werden so – aus der Sicht van Hams – für Staaten genauso wichtig wie für Unternehmen.8 Das von den „brand states“ verbreitete Image, welches sich aus Motiven aus Geschichte, Geographie und ethnisch-kulturellen Bezügen zusammensetzt, allerdings, so steht zu erwarten, nunmehr angereichert mit einem „universal appeal“, träte dann an die Stelle eines chauvinistischen Nationalismus. Ich will diese Übung in „postmoderner Image- und Reputationspolitik“, so der Untertitel des Artikels von Peter van Ham, hier nicht weiter verfolgen. Wichtig scheint hier nur zweierlei: Eine neue „nationalstaatliche Selbstbeschreibung“ – wenn nicht Selbstbeobachtung, deutet sich hier an, die eine staatliche Identität nach wie vor betont und damit eine eigenwillige Version der postnationalen Konstellation in der „Einheitssemantik“ (Fuchs 1992) des Nationalen zeichnet, die jedoch nunmehr Anschluss sucht an eine globale Rahmung und sich eines allgemein verständlichen Zeichenvorrats bedient. 8
Dies gilt nicht nur für Staaten oder Unternehmen, sondern mehr und mehr auch für weltweit agierende NGOs bis hin zu terroristischen Organisationen, die ebenfalls eine Adresse benötigen, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Selbstbeschreibung, um „Reputation“ zu erlangen und mobilisierend zu wirken, wie auch hinsichtlich der Fremdbeschreibungen durch andere Akteure, die sich mit ihnen auseinandersetzen. Gilles Kepel (2004: 144) gibt hiervon ein eindrucksvolles Beispiel, wenn er bemerkt: „Der terroristische Anschlag auf Amerika kann erst dann richtig gesühnt werden, wenn ein ganzer Staatsapparat (…), der als der eigentliche Schuldige, Auftraggeber und Drahtzieher gilt, zerstört worden ist. In der Logik der Vergeltung genügt es nicht, daß George W. Bush Jagd auf eine Bande von abgemagerten Bartträgern macht, die in Höhlen, Motelzimmern oder Vorstadtwohnungen Unterschlupf gefunden haben. Auch wenn sie über Satellitentelefone und Bankkonten in Steueroasen auf der ganzen Welt verfügen, sind sie für Amerika kein gleichwertiger Gegner. In das gesuchte Register der hard power gehört ein Staat mit Territorium und Institutionen, keine terroristische Nichtregierungsorganisation ohne Status und soziale Verankerung, so verheerende Anschläge sie auch immer ausführen mag.“
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BILANZ: AUF DEM WEG ZU METATOPISCHEN ERINNERUNGSRÄUMEN Soziale Systeme, so lautet der erste Befund, benötigen zwingend ein Gedächtnis. Das politische System bildet hier keine Ausnahme. Eher lässt sich zeigen, wie relevant gerade für das Treffen bindender Entscheidungen ein Operieren in der Zeit ist. Man mag sogar mit der Umstellung auf die Legitimitätsanforderung gegenüber jeder demokratischen Entscheidung eine Zunahme der Gedächtnisleistungen des politischen Systems in der Moderne vermuten. Die Evolution des politischen Systems und die damit zunehmende funktionale Ausdifferenzierung führte dazu, „daß die alten Staatstypenbegriffe (...) für neue Sinngebungen frei wurden, und in der politischen Semantik sich Demokratie zum Führungsbegriff, ja zu einer normativen Anforderung an alle Gebilde, die als Staat auftreten und Anerkennung finden wollen“ entwickelte (Luhmann 2000: 96f.). Die Rekonstruktion der Vergangenheit dient seither der Unterfütterung und Bestätigung eines in der Gegenwart existenten Weltbildes (vgl. Kölsch 2000: 76). Die wie auch immer genau zu fassenden und zu wertenden Globalisierungsprozesse verweisen hier auf die Entstehung einer Weltgesellschaft, die – systemtheoretisch gesehen – zu einem Weltgedächtnis führt. Dieses ist insofern performativ, als es in dem Moment entsteht, in dem es nicht länger prinzipiell nicht-anschlussfähige Teilerinnerungen gibt. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, heißt es bei Wittgenstein (1999: 11), die Welt als Gefüge aller Dinge im systemischen, polyzentrischen Spiel. Bei Luhmann wird daraus: Die Welt ist alles, was kommuniziert wird. „Die Welt ist immer eine gleichzeitige Welt“ (Luhmann 1990: 102), und die Weltgesellschaft vermittelt in der Nahwelt Sinngebung für Fernes, eben „weil man in der Nahwelt über Nahes und Fernes unter Gleichzeitigkeitsbedingungen kommunizieren kann“ (ebd.: 105). Damit gewinnt die Welt als Resonanzkörper von lokalen Ereignissen die Bedeutung eines sinnstiftenden politischen, kulturellen und moralischen Kontextes, sofern die Ereignisse anschlußfähig sind an lokale Kommunikation. Demokratie und Menschenrechte sind hier die werthaften Erinnerungsposten, die zwar nicht zu konfliktfreien Erinnerungskommunikationen führen – eher das Gegenteil dürfte der Fall sein – die aber ein gemeinsames Rekurrieren auf Vergangenheit ermöglichen. Die Verfasstheit einer solchen Weltgesellschaft ist höchstens als Heterarchie oder als eine konnexionistische, netzwerkartige Verknüpfung von Kommunikation beschreibbar. Ein so konzipierter Begriff des weltpolitischen Systems beruht, damit die Kommunikation schlichtweg gelingen kann, auf einem Mindestmaß an Ähnlichkeit der Segmente, sprich: der sogenannten souveränen Staaten – trotz aller kulturellen, klimatischen, ökonomischen und ökologischen oder sonstigen Unterschiede. Die Betonung der strukturellen Ähnlichkeit liegt daher in der Beschreibung der „Staatlichkeit“ wie auch – und das ist ja hier das Thema – der Einführung der Zeit als Erinnerung in die Zeit des Systems zur Organisierung der Kommunikationskompetenz. Freilich wird davon auszugehen sein, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen den verfügbaren Kommunikationstechnologien und der Thematisierung von Zeitlichkeit beziehungsweise dem Umgang mit der Zeit. Lassen sich verschiedene Formen des Gedächtnisses unterscheiden bezüglich ihrer Art, Ordnung auf Ereignisse zu übertragen (vgl.
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Esposito 2002: 27), so deutet sich in einem weltgesellschaftlichen Kontext ein neuer Modus zur Herstellung der Ordnung an, der jenseits des Bereichs geordneter Räume (zum Beispiel in der Mnemotechnik bei Simonides) oder einer klar strukturierten zeitlichen Ordnung anzusiedeln ist. Der abnehmende Einfluss der traditionalen Bedingungen gesellschaftlicher Konstituierung ehemals strikt räumlich und zeitlicher Verweisungen – Anthony Giddens spricht von raumzeitlicher Abstandsvergrößerung und Entbettung (Giddens 1995: 28) – führt nun zur Bildung metatopischer Erinnerungsräume, in denen die Form der Organisation von Redundanz im Inneren der Semantik, also des Gedächtnisses, nicht mehr (vornehmlich) räumlich oder zeitlich, sondern eher bildsprachlich als sprachlich und damit prinzipiell universell dechiffrierbar organisiert ist. Welche Folgen dies für die Gesellschaft und die sozialen Praktiken hat, muss an dieser Stelle offen bleiben. Sicherlich: Luhmanns Konstrukt einer Weltgesellschaft ist eine Idealisierung in eigener Sache, die über feingliedrige Unterscheidungen hinsichtlich der Sprachen, Kulturen, Völker, Staatsformen und Nationen hinweggeht. Doch bietet Luhmanns Systemtheorie ein vortreffliches Instrumentarium, sowohl die Beobachtung der Zeit in der Systemzeit des politischen Systems auf der abstrakten Theorieebene zu beschreiben als auch in der vielgestaltigen Erscheinungsform der Empirie zu erklären. Um mit dem Urteil eines Philosophen – es handelt sich um Peter Sloterdijk (2001: 123) – zu enden: „Ein Weltzustand wie dieser, um Hegels Terminus zu gebrauchen, in dem die Risiken steigen, indessen die Zurechenbarkeit von Schuld und Verantwortung im Sinken begriffen ist, ruft geradezu nach einer Luhmannschen Beschreibung.“ Literaturverzeichnis Assmann, Jan und Tonio Hölscher (Hrsg.) (1988): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main. Baecker, Dirk (1987): Das Gedächtnis der Wirtschaft. In: ders. et al. (Hrsg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main, 519–546. Beyme, Klaus von (1991): Politische Theorien der Gegenwart. Frankfurt am Main. Esposito, Elena (2002): Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt am Main. Fischer-Lescano, Andreas und Gunther Teubner (2006): Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts. Frankfurt am Main. Foerster, Heinz von (1985): Gedächtnis ohne Aufzeichnung. In: ders.: Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Braunschweig, 133–171. Frankenberg, Günther et al. (1989): Die demokratische Frage. Frankfurt am Main. Fuchs, Peter (1992): Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt am Main. Giddens, Anthony (1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main. Ham, Peter van (2001): The rise of the brand state. In: Foreign Affairs 80 (5), 2–5. Jutz, Gabriele (2001): Gedächtnis und Material. Strategien des Erinnerns in der zeitgenössischen Filmkunst. In: Moritz Csáky und Peter Stachel (Hrsg.): Die Verortung von Gedächtnis. Wien, 107–128. Kepel, Gilles (2004): Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Westens. München.
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KONSTRUKTION, BEDEUTUNG, MACHT. ZUM KULTURWISSENSCHAFTLICHEN PROFIL EINER ANALYSE VON GESCHICHTSPOLITIK Wer sich auf „die“ Geschichte und ihre vermeintlichen Lehren beruft, darf einen gewissen Mehrwert erwarten. Die Akzeptanz politischer Interessen und Ziele kann so erleichtert, die Abgrenzung zum politischen Gegner befördert werden. Im Alltagsdiskurs gilt ebenso wie in der politischen Arena: „Geschichte, die nicht für die Gegenwart genutzt wird, bleibt stumpf“ (Pellegrini 2005). Dabei ist der politische Umgang mit Geschichte kein neueres Handlungsfeld, vielmehr genuiner Bestandteil des Denkens und Handelns im Banne der Polis. Neueren Datums allerdings ist das systematische Bemühen um ein angemessenes theoretisches Verständnis und tragfähiges empirisches Wissen des Verhältnisses von Politik und Geschichte. Die Frage nach dem kulturwissenschaftlichen Beitrag zu einer Theorie von Geschichtspolitik steht nicht an einem wissenschaftshistorischen Nullpunkt, an dem man überlegen könnte, welche Erkenntnispotenziale diese Perspektive für die Kategorie Geschichtspolitik bergen könnte. Tatsächlich ist die Integration längst geschehen. Gerade die Konzeptualisierungsphase von Geschichtspolitik erscheint im Rückblick als Rezeption kulturwissenschaftlicher Ansätze. Wissenschaftsgeschichtlich wurzelt die Genese des Konzepts Geschichtspolitik neben einem allgemeinen Wandel des Politikbegriffs in der Perspektivenverschiebung von Gesellschaft zu Kultur, die seit den 1980er Jahren zu beobachten ist. In diesem Sinne wird im Folgenden eine retrospektive Versicherung der kulturtheoretischen Basis eines Verständnisses von Geschichtspolitik entwickelt. EIN BEGRIFF VON GESCHICHTSPOLITIK Seit der Neologismus Geschichtspolitik im deutschen Sprachraum geprägt worden ist, also seit nunmehr zwei Jahrzehnten, hat sich seine Bedeutung vom polemischpejorativen Schlagwort hin zu einer analytischen Kategorie erweitert. Hintergrund dieser Bewegung ist die Aufnahme von Thema und Terminus in der Politik- und Geschichtswissenschaft, wie sich in Dutzenden von Monographien und Aufsätzen der letzten Jahre zeigt (vgl. Assmann 2006; Winkler 2004; Fröhlich/Heinrich 2004; Vollhardt 2003; Wolfrum 1999). Was anfangs noch in erster Linie als abwertender Hinweis auf einen inakzeptablen Umgang mit Geschichte, auf kritisierte oder verdammte Geschichtsbilder verwandt wurde, ist mittlerweile im Stadium der Begriffs- und Theoriebildung angelangt.1 1
Zur Genese des Konzepts Geschichtspolitik gibt es bislang kaum Vorarbeiten. Vgl. dazu meine Ausführungen in Schmid (2001: 23ff.)
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Geschichte und Politik Am Beginn einer begrifflichen Klärung des Verwertungszusammenhanges zwischen Geschichte und Politik steht die Reflexion der Kategorie Geschichte. Sie ist bekanntermaßen doppeldeutig und umfasst sowohl das vergangene Geschehen selbst (Vergangenheit als Vergangenheit) als auch den gegenwärtigen Bericht darüber (Vergangenheit als Gegenwart), das „Objekt der Darstellung“ ebenso wie die „Darstellung des Objekts“ (Rothfels 1974: 7). In diesem Zusammenhang bedarf eine elementare Tatsache der Hervorhebung: Aufgrund der absolut geltenden Zeitrichtung von der Gegenwart in die Zukunft ist abgelaufene Zeit für menschliches Handeln unzugänglich und in ihrem Gehalt unveränderbar. „Es geht um den einfachen und grundlegenden Gedanken, dass die Vergangenheit wirklich vergangen ist“ (Schörken 1995: 12; vgl. Buck 2001). Folglich kann auch politisches Handeln, das stets in der Gegenwart stattfindet, Geschichte im Sinne vergangener Ereignisse nicht beeinflussen. Beispielhaft gesprochen: Die Faktizität etwa der Bismarckschen Reichseinigung ist unabhängig von jeder späteren Politik. Anders aber die Überlieferung und Deutung dieses Geschehens: Die „Vergangenheit ist vergangen. Geschichte aber lebt: sie ist“ (Fried 1996: 295). Vergangenheit fällt zwar infolge des permanenten Zeitablaufs gleichsam naturwüchsig an, doch als aktuell verfügbare und identitätsrelevante Geschichte ist sie immer ein gegenwartsabhängiges Kulturprodukt – nur sie ist für politische Versuche der Veränderung des Geschichtsbildes in der jeweiligen Gegenwart zugänglich. Gestern kann also nur in dem Sinne besser werden, indem es geschichtspolitisch bearbeitet wird (vgl. Rüsen 2002). Geschichtspolitik, so lautet folglich die erste Unterscheidung, zielt nicht auf das vergangene Geschehen selbst, sondern auf die Beeinflussung gegenwärtiger Erzählungen und Interpretationen desselben, auf „Vergangenheitsnarrative“ (Marchart 2005: 23), mit denen Geschichte und Geschichten konstruiert werden. Nur mit dieser Beschränkung der erwähnten zweifachen Bedeutung von Geschichte auf die Vergegenwärtigungsform von Vergangenheit ist ein sinnvoller Begriff von Geschichtspolitik zu entwickeln. Eine zweite, unmittelbar daran anschließende Prämisse des Begriffsverständnisses von Geschichtspolitik zielt auf das Politische ab: Wenn von Politik gesprochen wird, ist stets – sei es in einem unmittelbaren, sei es in einem indirekten Sinne – von einem beabsichtigten Einfluss die Rede. Politisches Denken und Handeln will die Verhältnisse beeinflussen. Folglich sind alle Zusammensetzungen mit -politik nur sinnvoll, wenn eine gezielte und mögliche Veränderung des Zusammenhanges, der politisiert wird, vorausgesetzt wird. Etwa Sozialpolitik ist nur dann eine solche, wenn sie die Einwirkung auf das Soziale anstrebt und wenn dies auch im realen Handlungsspektrum von Politik liegt. Dasselbe ließe sich für andere Politikfelder sagen.
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Geschichtspolitik als zentraler Begriff Diese grundsätzlichen Feststellungen sind zunächst wichtig, um Geschichtspolitik abzugrenzen von den konkurrierenden Termini Vergangenheitspolitik und Erinnerungspolitik. Hier gibt es zwei sinnvolle Möglichkeiten: Entweder hält man diese Begriffe für mehr oder weniger sachadäquat und trennscharf – und führt dann die Diskussion, ob sie synonym sind oder einer definitorischen Zuordnung beziehungsweise Hierarchisierung bedürfen.2 Oder man formuliert die Kritik derselben und plädiert für einen exklusiven Terminus. Ich wähle den zweiten Weg. Dies gilt es zu begründen. Auf der Basis obiger Prämissen, dass Politik Einflusshandeln ist und dass Vergangenheit nur in ihrer Gegenwartsform Geschichte beeinflussbar ist, sind Vergangenheitspolitik und Erinnerungspolitik untaugliche Bezeichnungen, den hier zu umreißenden Kontext eines politischen Umgangs mit Geschichte wissenschaftlich adäquat zu erfassen. Vergangenheitspolitik hat sich etabliert, besonders durch die einflussreiche gleichnamige Studie von Norbert Frei (1997).3 Aus zwei Gründen ist der Begriff jedoch problematisch. Zum einen ist der sachliche Zusammenhang von Vergangenheitspolitik ein bloß suggerierter, denn strenggenommen ist Vergangenheit für Politik nicht erreichbar. Das Gegenargument, gemeint sei aber der Umgang mit Vergangenheit in der Gegenwart, ist nicht stichhaltig. Eine informierte Geschichtstheorie weiß darum, dass wir es in der Gegenwart nur mit Geschichte(n) zu tun haben, mit Narrativen und Imaginationen von Vergangenheit, nicht aber mit der Vergangenheit selbst, die – nomen est omen – vorüber ist. Ist Vergangenheitspolitik also begriffslogisch absurd (und deshalb auch nicht für hierarchisierende Zuordnungen der Begriffe brauchbar), so ist der zweite Grund, der gegen den Ausdruck spricht, ein begriffspraktischer. Den Begriff auf ein eng begrenztes Handlungsfeld und eine ebenfalls eng bemessene Epoche einzuschränken, ist willkürlich. Wenn Norbert Frei (1997) ihn auf die 1950er Jahre begrenzen will und damit den „Prozess der Amnestierung und Integration der vormaligen Anhänger des ‚Dritten Reiches‘ und der normativen Abgrenzung vom Nationalsozialismus“ in der frühen Adenauer-Ära meint, dann ist diese Engführung sachlich und zeitlich nicht nachvollziehbar. Dies gilt auch für entsprechende Ausweitungen (vgl. Offe 1994; Sandner 2001). Und Erinnerungspolitik? Dieser Begriff hat kaum konzeptionelle Fundierung erfahren, ist aber Teil des öffentlichen und partiell auch des fachwissenschaftlichen Diskurses.4 Erinnern ist der Versuch des Wiederaufrufens eigener Erlebnis2 3
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Diesen Weg gehen etwa Wolfrum (1999); Sandner (2001); Kohlstruck (2004); Reichel (2005). Die breite Rezeption dieser Untersuchung verdeckte allerdings, dass der Begriff bereits zuvor an anderer Stelle vorgedacht war, vgl. etwa Offe (1994). Die Aufnahme des Begriffs Vergangenheitspolitik geschah oft nur als Stichwort, das implizit mit dem älteren und umfassenderen Schlagwort Vergangenheitsbewältigung gleichgesetzt wurde. Vgl. etwa Weisbrod (2002). Einen der ersten Ansätze zur Aufnahme des Begriffs legte Reichel (1995; 1999) mit seiner bis heute grundlegenden Studie vor; siehe auch den bereits erwähnten Aufsatz, in dem er Erinnerungspolitik und -kultur auf Symbole, politische Feiern und Medien beschränkt (Reichel 2005: 11). Vgl. auch Kohlstruck (2004).
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se. Von diesen individuellen Erinnerungen, die freilich nicht autonom, sondern sozial bedingt rekonstruiert werden, ist die Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit früheren, aber nicht selbst erlebten Geschehnissen zu unterscheiden, die ungenau oft ebenfalls als Erinnerung bezeichnet werden, tatsächlich jedoch exakter Vergegenwärtigungen oder, will man den Erinnerungsbegriff retten, vermittelte Erinnerungen darstellen. Auch hier gilt die oben erläuterte Prämisse: Politik kann das individuelle Erinnern nicht beeinflussen, wohl aber die kollektive deutende Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse. Nach diesen Abgrenzungen ist zu fragen, was dann Geschichtspolitik heißen kann. Bedingung der Möglichkeit eines – auch politischen – Umgangs mit Geschichte ist die einfache Tatsache, dass ein Geschehen vergangen oder im Prozess des Vergehens begriffen ist. Entscheidend ist also zunächst als allgemeinste Voraussetzung, dass im Horizont von Geschichte, des intendierten Einflusses auf Geschichtsbilder gehandelt wird. Geschichtspolitik sollen jene Diskurse und Handlungen heißen, mit denen die Deutung von Geschichte als gegenwärtige öffentliche Repräsentation einer kollektiv relevanten Vergangenheit zu politischen Zwecken betrieben wird. Genauer gefasst müsste eher von Geschichtsbildpolitik und von Geschichtsbewusstseinspolitik gesprochen werden, denn das Bewusstsein und das Bild von Geschichte stehen im Zentrum dieses Komplexes. Geschichtspolitik ist Teil des allgemeinen politischen Handelns und damit auch Ressource und Instrument im politischen Machtkampf (vgl. Schmid/Krzymianowska 2007). In dieser Hinsicht sind auch die drei Grundfunktionen des politischen Umgangs mit Geschichte zu verstehen: die Schaffung einer Tradition, die Prägung einer kollektiven Identität und die Generierung politisch-historischer Legitimität. Wie leicht zu erkennen ist, stehen dabei jeweils Konstruktionsprozesse im Vordergrund. Grundfragen jeder Analyse von Geschichtspolitik führen damit unmittelbar ins Feld kulturwissenschaftlicher Perspektiven. Politik, Geschichte, Kultur – konzeptionelle Kristallisationen So wie die politik- und geschichtswissenschaftliche Frage nach dem Umgang mit Vergangenheit inzwischen Teil der Professionen ist, konnte sich auch die Analyse der kulturellen Dimension etablieren, ohne freilich unstrittig zu sein.5 Die Konzepte der politischen Kultur und der Geschichtskultur markieren zwar Ansätze aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven, treffen sich jedoch in der Konzentration auf den kulturellen Aspekt des Spannungsverhältnisses von Politik und Vergangenheit. Die politische Kulturforschung stellt Fragen nach dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung mit der subjektiven Dimension der Politik (vgl. Dörner 2003; Greiffenhagen/Greiffenhagen 2002; Rohe 1990). Sie untersucht, wie „objektive“ (Institutionen) mit „subjektiven“ (politisches Bewusstsein) Bedingungen eines politischen Systems miteinander korrelieren. Diese, auf der quantitativen empirischen Sozialforschung fußende Hauptrichtung der politischen 5
Vgl. etwa die andauernde Kontroverse um die politische Kulturgeschichte: Mergel (2002); Landwehr (2003); Nicklas (2004); Deile (2005); Frevert (2005).
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Kulturforschung analysiert Verteilungsmuster individueller Einstellungen zu politischen Sachverhalten innerhalb einer Gesellschaft, fragt also nach der Internalisierung des politischen Systems in der Bevölkerung in Überzeugungen, Bewertungen und Gefühlen, um so letztlich die Legitimität des Systems zu bestimmen. Infolge der häufigen Kritik der damit einhergehenden Reduktion des politikwissenschaftlich relevanten Kulturbegriffs auf individuelle Einstellungen hat diese dominierende Strömung zuletzt zwei Ausweitungs- und Differenzierungsversuche erfahren. Zum einen werden von einigen Politologen neben den eher an der Oberfläche liegenden, demoskopisch erhobenen Einstellungen auch die lebensgeschichtlich tiefer fundierten Vorstellungen zum Untersuchungsfeld gezählt; hier geht es also primär um Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe einer Gesellschaft, um „Grundannahmen über die politische Welt“ (so vor allem Rohe 1996). Zum anderen wird argumentiert, dass auch das politische Verhalten, allgemeiner gesagt: die Ausdrucksseite einer politischen Kultur berücksichtigt werden muss (vgl. Schwelling 2001; Rohe 1996: 7; Dörner 2003: 596ff.). Damit ist das Konzept der politischen Kultur endlich auf der Höhe eines anschlussfähigen und adäquaten Kulturbegriffs angelangt, der die Grunddimensionen von Kultur – Struktur und Prozess – berücksichtigt. Diese revidierte Fassung des Politischen-Kultur-Ansatzes war und ist ein Einfallstor für kulturtheoretisch beeinflusste Importe. Politikwissenschaftliche Ansätze, die sich daraus entwickelten, seien nur angedeutet. Hier ist zunächst die Aufnahme des symbolischen Interaktionismus in Murray Edelmans (1976) Studie Politik als Ritual zu nennen, der die symbolische Dimension politischen Handelns unterstreicht und die wichtige Unterscheidung von instrumentellem und expressivem Handeln etabliert hat. Darauf bauten dann beispielsweise Ulrich Sarcinellis (1987) Untersuchungen zur Symbolischen Politik auf. Das Interesse an kollektiven Identitäten erneuerte Benedict Andersons (1998) konstruktivistische Analyse der Nation als „imaginierte Gemeinschaft“. Und als jüngste Entwicklung ist auf die explizite Rezeption kulturwissenschaftlicher Ansätze zu verweisen (Schwelling 2004; Müller et al. 2002; Mergel 2004; Baldwin et al. 2004: 221ff.). Wenn die Kultur des Politischen eine Innenseite (politisches Bewusstsein) und eine Außenseite (politisches Verhalten) umfasst, ist dabei die Dimension Geschichte durchaus mitgedacht. Wie jede Kultur beginnt auch die politische Kultur da, wo nicht mehr alles möglich ist. Diese „spezifische Selektivität“ (Rohe 1990: 341; ders. 1994: 169f.) ist vor allem eine Folge der konstitutiven Bedeutung von Geschichte und Tradition für politische Kulturen: „Wer über Geschichte nicht reden will, sollte über politische Kultur schweigen“ (Rohe 1994: 164). Es ist keine politische Praxis, keine politische Institution denkbar, die ihre Legitimität nicht auch historisch begründen würde. Sind doch historische Erfahrungen nicht nur im Leben der Menschen, sondern ebenso für politische Akteure ein unverzichtbares Fundament der Orientierung, das auch den Horizont des Handelns prägt, gewissermaßen das „Rückgrat der Politik“ (Steinbach 2001: 4). Politik steht in jeder systemischen Ausprägung normativ, institutionell und personell in verschiedenen Traditionen, die narrative Anschluss- oder Abgrenzungsoperationen im Medium der Geschichte erforderlich machen. Identität, der analytisch im Zentrum der poli-
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tischen Kulturforschung stehende Begriff, ist notwendig auch historisch grundiert – individuelle und kollektive Selbstbilder ohne die Dimension der Vergangenheit sind irreal. Deshalb kann politische Kultur verstanden werden als eine Schnittmenge zu der Geschichtskultur. Die Bedeutung des Umgangs mit Vergangenheit in einer Gesellschaft ist Gegenstand der Studien zur Geschichtskultur.6 Vor allem Jörn Rüsen hat systematische Überlegungen zur Konzeptualisierung der Kategorie vorgelegt. Er versteht darunter den spezifisch interpretierenden Umgang mit Zeit im Modus der historischen Erinnerung: „‚Geschichte‘ als Erfahrungsinhalt, als Deutungsprodukt, als Orientierungsgröße und als Zweckbestimmung“. So definiert er Geschichtskultur als „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft“. Präzisierend heißt es weiter: „Geschichtskultur ist (…) die durch das Geschichtsbewusstsein geleistete historische Erinnerung, die eine zeitliche Orientierung der Lebenspraxis in der Form von Richtungsbestimmungen des Handelns und des Selbstverhältnisses seiner Subjekte erfüllt“ (Rüsen 1994: 7, 5, 11; vgl. Fischer 2000). Demnach bilden Prozesse der Identitäts- und Sinnkonstruktion das Zentrum der Geschichtskultur. Rüsen unterscheidet drei geschichtskulturelle Hauptfelder: Kunst, Politik und Wissenschaft. Diese werden getragen von den jeweiligen mentalen Grundoperationen des Fühlens, Wollens und Denkens. Jeder Handlungsbereich ruht auf einem je spezifischen Prinzip der Sinnkonstruktion: Schönheit, Macht und Wahrheit. Analytisch interessant ist das dynamische Element dieser Konzeption, denn Rüsen sieht jede Handlungsdimension von einer wechselseitigen Instrumentalisierungstendenz geleitet: Ästhetisierung, Politisierung und Ideologisierung. Gleichsam als Dominanzstrategie versuchen die jeweiligen Akteure, mit diesen Vereinseitigungen den konkurrierenden Akteuren der anderen Handlungsfelder die eigenen Prinzipien der Sinnkonstruktion aufzuzwingen. Geschichtskultur wird hier als der arbeitsteilige und aufeinander bezogene gesellschaftliche Umgang mit der Vergangenheit begriffen: in unterschiedlichen Bereichen und mit verschiedenen Akteuren, mittels spezifischer Strategien, Konflikten und Bündnissen. Eine Analyse wird freilich nicht nur die extremen Ausprägungen im Auge behalten müssen: hier ein abstrakter Normalzustand gleichgewichtiger Autonomie der drei Geschichtskulturen, dort die radikalisierte Unterordnung. Vielmehr sind gerade die vermittelnden, ja rivalisierenden Konstitutions- und Veränderungsprozesse aufschlussreich. Dazu bedarf es der detaillierten Analyse der geschichtskulturellen Akteure. Auf diesem Wege lassen sich die politischen Prozesse der Generierung, Aufrechterhaltung und Bearbeitung von historisch-politischen Identifikationen und Legitimationen beschreiben. Dies ist der Ort der Geschichtspolitik.
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Der mitunter benutzte Ausdruck Erinnerungskultur wird hier bewusst vernachlässigt, da er kaum eine systematische Konzeptualisierung erfahren hat und zudem häufig synonym oder ohne klare Abgrenzung zu Geschichtskultur gebraucht wird. Vgl. etwa Oexle (1995); Hölscher (1995); Cornelißen (2003); Rüsen/Jaeger (2001).
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DER KULTURWISSENSCHAFTLICHE ANSATZ Zunächst ist eine begriffliche Irritation aus dem Weg zu räumen: Die deutschsprachigen Kulturwissenschaften und die englischsprachigen Cultural Studies weisen zwar eine unterschiedliche Genese auf, konvergieren freilich in ihrem Gegenstands- und Methodenverständnis zunehmend. Jenseits der verschiedenen wissenschaftlichen, politischen und sozialen Entstehungsbedingungen liegt eine wesentliche Differenz heute primär in einem unterschiedlichen Praxis-Verhältnis. Kulturwissenschaftler sehen sich in einem distanzierteren Verhältnis zu politischem Handeln als ihre Kollegen der Cultural Studies, für die politische Interventionen, ein möglicher Widerstand gegen repressiv-ungerechte Verhältnisse Teil der fachlichen Identität darstellen (Gerbel/Musner 2003: 9f.).7 Dies sollte bei der folgenden Darstellung in Erinnerung behalten werden. Einer verbreiteten Interpretation zufolge fungieren die jüngeren deutschsprachigen Kulturwissenschaften als Nachfolgerin der überkommenen Geisteswissenschaften. Nicht nur die Einrichtung von Lehrstühlen, Instituten und Studiengängen oder die große Zahl von Publikationen aus diesem Forschungsfeld deuten in diese Richtung. Vielmehr ist auch die produktive und kreative Unruhe, die mit der raschen Verbreitung des spezifisch kulturwissenschaftlichen Vokabulars in nahezu allen Humanwissenschaften Einzug gehalten hat, ein Ausdruck für die intellektuelle Breitenwirkung und nährt die Hoffnung auf ein Gegengewicht zur allseitigen fachwissenschaftlichen Fragmentierung. Vielleicht am offensichtlichsten zeigt sich diese diskursive Wirkung in der seit etwa einem Jahrzehnt inter- und transdisziplinär diskutierten und rezipierten Kategorie des Gedächtnisses (vgl. Assmann 2003). Als Indikator dieses „Siegeszugs“ mag man das umfassende Handbuch der Kulturwissenschaften verstehen.8 Allerdings, und dies gilt es zunächst mit groben Strichen nachzuzeichnen, ist der „cultural turn“ nur das jüngste Resultat einer über hundertjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Feld der Kultur, denn es gab sozusagen eine Kulturwissenschaft vor der Kulturwissenschaft.9
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In diesem Sinne ist die Bestimmung, Cultural Studies seien „eine Art, die Theorie zu politisieren und die Politik zu theoretisieren“, für die Kulturwissenschaften nur bedingt zutreffend (vgl. Grossberg 2003: 50). Jaeger et al. (2004); vgl. die jüngeren Übersichten und Einführungen: Därmann/Jamme (2007); Bachmann-Medick (2006); List/Fiala (2004); Baldwin et al. (2004); Kittsteiner (2004); Müller (2003); Musner/Wunberg (2003); Helduser/Schwietring (2002); Reckwitz (2000); Reckwitz/Sievert (1999). Vgl. die Beiträge in Musner et al. (2001); ferner Oexle (2000; 1995); Aleksandrowicz et al. (2004).
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Die alte Kulturwissenschaft Der Kulturbegriff hat eine lange Geschichte. „Zu seiner Erfolgsgeschichte gehört seine Ungenauigkeit.“ (Bollenbeck 1996: 92)10 Analytische Vagheit und programmatische Offenheit sind der Kern seiner Attraktivität. Eine Debatte über die Grundlagen und das Selbstverständnis der Kulturwissenschaften markiert sowohl den Anfang wie das Ende des 20. Jahrhunderts. Jeweils bezeichnet die Kontroverse um Kultur einen fundamentalen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Wandel. Wurde am Ende des 20. Jahrhunderts ein ungeheurer Schub der Differenzierung kulturwissenschaftlichen Wissens erarbeitet, so fand um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gleichsam die ursprüngliche Akkumulation systematischer Erkenntnisanstrengungen im Feld des Kulturellen statt: vor allem in der Geschichtswissenschaft, in der Kunstgeschichte, in der Soziologie und in der Philosophie. Dem älteren Schlüsselbegriff Geist erwuchs dadurch nach und nach eine ernsthafte Konkurrenz, indem sich mit leitenden Begriffen wie Symbol und Kultur ein neues, nun grundsätzlich kritisches Begreifen etablierte: „Während das Wort ‚Geist‘ eine der empirischen Forschung verschlossene Fundierungskategorie ist, öffnet sich mit dem Wort ‚Kultur‘ eine Fülle neuer Fragen. (…) In dieser Perspektive spielen symbolische Prozesse eine wichtigere Rolle als ein substantialistischer Wahrheitsbegriff“ (Assmann 2004: 12f.). Mit einigen knappen, notwendig verkürzenden Hinweisen auf die Entwicklung vom Neukantianismus über den Poststrukturalismus bis zum Multi-Konstruktivismus unserer Tage sei dies am Beispiel der entsprechenden Wissenschaftler rekapituliert. Dabei werden jeweils Werkübersichten und werkgeschichtliche Differenzierungen vernachlässigt zugunsten der leitenden Frage, worin der kulturwissenschaftliche Beitrag des Autors besteht. Eine wesentliche Voraussetzung für die neueren Kulturwissenschaften war und ist das Denken Friedrich Nietzsches, besonders in Gestalt der Foucaultschen Rezeption. Nietzsches ideologiekritische Begründung eines antiobjektivistischrelativistischen Wahrheitsbegriffs – und damit seine Wissenschaftskritik – stand dabei Pate für den neueren Konstruktivismus. Sie bildet auch die Basis seines zweidimensionalen elitären Kulturbegriffs, den er ästhetisch und lebensphilosophisch begründet. Einerseits sieht er Kultur in einem Akt der – stets relativen – Wertsetzung fundiert. Andererseits zeitige der Kulturprozess bei den Menschen ein orientierendes und verpflichtendes Gedächtnis, woran er seine Kulturkritik festmacht, denn das Lebensdienliche werde durch solche Kulturfolgen eingeengt. In seiner Schrift „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ – einem Grundlagentext zum Verständnis von Geschichtspolitik – hat er dies eindrücklich formuliert (Nietzsche 1983).11 Parallel zu Nietzsches Schaffen dominierte der Neukantianismus die deutsche Universitätsphilosophie, wobei der vor allem durch Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband geprägte südwestdeutsche Neukantianismus die kulturtheoretischen 10 Zur Begriffsgeschichte vgl. Bollenbeck (1996: 31ff.); ders. (1997); Perpeet (1984); Hansen (1995: 9ff.). 11 Vgl. dazu Gerhardt (1988); Jung (1999: 54ff.).
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Ansätze von Georg Simmel über Max Weber bis zu Ernst Cassirer beeinflusste. Besonders Rickert gab wesentliche Eckpunkte kulturwissenschaftlicher Reflexion vor. Kultur definiert er als „die Gesamtheit der realen Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte oder durch die konstituierte Sinngebilde gepflegt werden“. In seinem Bemühen, die beiden Hauptgruppen von Spezialdisziplinen, die Naturvon den Kulturwissenschaften zu trennen, stellt er „wertfreie Natur und wertbehaftete Kultur“ einander gegenüber. Deshalb geht es im Kulturleben um die Geltung von Werten, die Rickert freilich überzeitlich konzipierte (Rickert 1986: 46, 38, 201). In den etwa eineinhalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, als der Kulturbegriff in verschiedenen Disziplinen intensiv erörtert wurde, beteiligte sich auch Max Weber an dieser Diskussion. Für ihn ist Kultur konstitutiv mit dem Sinnproblem verknüpft, deshalb versteht er Kultur als einen Wertbegriff. Doch anders als bei Rickert sind Werte, ist Sinn für Weber einerseits relativer, zeitgebundener Art, andererseits treten diese empirisch mit dem Anspruch der absoluten Geltung auf, weshalb Kultur bei ihm ein Feld des Wertekonflikts und miteinander rivalisierender Weltanschauungen darstellt. Er beschreibt Kultur als „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“. Aufgabe der Kulturwissenschaft – von Weber definiert als jene Disziplinen, „welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten“ – ist es demnach, diesen Sinn und die Bedeutung zu verstehen. Die individuelle Wahl zwischen Werten ist dabei unhintergehbar subjektiv, weshalb Weber darauf zielt, die Möglichkeit objektiver sozial- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnis zu begründen. Hierzu entwickelte er die Methode der Bildung und Anwendung von Idealtypen, um so „die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen“ (Weber 1922: 180, 202).12 Bei Weber spielt die Frage nach Wechselwirkungen zwischen kulturellen Akteuren und Objekten keine besondere Rolle. Anders im Werk Georg Simmels. Gegenstand der Kulturwissenschaft sind für ihn die „handelnden, interpretierenden und wahrnehmenden Menschen“. Ausgehend von der Mikroperspektive der Denkformen, Mentalitäten und geistigen Haltungen von Individuen und Gruppen untersucht er den Einfluss derselben auf die jeweiligen kulturellen Objekte (wie das Geld oder die Mode) ebenso wie die Rückwirkungen der Objekte auf die kulturellen Subjekte, um so „an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines Sinnes zu finden“, wie Simmel in seiner Philosophie des Geldes schreibt (Simmel 2001: VIII; ders. 1908).13 Mit Aby M. Warburg und Ernst Cassirer beginnt eine an der menschlichen Symbolpraxis orientierte Kulturwissenschaft. Cassirer (1996; 1994a: 15, 25, 43, 75, 126; 1994b) steht mit seiner Philosophie der symbolischen Formen für die Ausdehnung der Kantischen Kritik des Erkenntnissubjekts auf die Kultur.14 Menschliches Weltverstehen und -verhalten ist demnach grundsätzlich von media12 Vgl. Scaff (1994: 685ff.); vgl. auch Daniel (2001: 77ff.); Oakes (1990: 10ff., 141ff.). 13 Vgl. Daniel (2001: 58); Oexle (1995: 26ff., 70ff.). 14 Vgl. auch Neumann (1973); Daniel (2001: 90ff.); Böhme et al. (2000: 66ff.).
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lem Charakter: Eine unmittelbare Erfassung oder Wiedergabe von Wirklichkeit ist unmöglich, „menschliche Kultur nichts Gegebenes und Selbstverständliches“. Vielmehr bedarf jede Art von Gegenstandsbezug einer besonderen Vermittlungsform – des Zeichens. „Der Mensch kann sein Leben nicht leben, ohne es zum Ausdruck zu bringen“, schreibt Cassirer in seinem Versuch über den Menschen. So vollziehe sich das Leben des Menschen, des „Animal symbolicum“, nicht in einer natürlichen, sondern in einer von ihm geschaffenen symbolischen Welt. Grundbegriffe Cassirers Kulturphilosophie sind deshalb das Symbol und der Sinn. „Dieses Erscheinen eines ‚Sinnes‘, der nicht vom Physischen abgelöst ist, sondern an ihm und in ihm verkörpert ist, ist das gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen ‚Kultur‘ bezeichnen“, heißt es in seinen Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften. Das Leben in der „intersubjektiven Welt“ der Kultur versteht Cassirer als „das Leben in ‚Bedeutungen‘“. Als solche selbst erzeugten symbolischen Systeme beziehungsweise „Symbolwelt(en)“ untersuchte Cassirer Mythos und Religion, Sprache, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Recht, Moral, Technik, Wirtschaft. „Sie sind die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden.“ Nur vermittels der in den symbolischen Formen artikulierten Bildwelten „erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die ‚Wirklichkeit‘ nennen“, so Cassirer. Diese vom Menschen hervorgebrachten symbolischen Formen markieren „das Eigentümliche seines Wesens und seines Könnens“. Sie stellen für Cassirer die kulturellen Entsprechungen dessen dar, was Kant in der Kritik der reinen Vernunft die transzendentalen Kategorien und in der Kritik der praktischen Vernunft den kategorischen Imperativ nannte – symbolische Formen sind in der Kultur und Geschichte die transzendental-konstruktiven, unhintergehbaren Voraussetzungen. Das Verständnis derartiger symbolischer Formen ist Bedingung für ein Verstehen des Menschen. Mit Aby M. Warburg wird inzwischen (wieder) die von ihm in den 1920er Jahren aufgebaute kulturwissenschaftliche Bibliothek verbunden. Nach Jahrzehnten des Vergessens ist der 1929 Gestorbene, dessen Bibliothek 1933 nach London gerettet werden konnte, wiederentdeckt worden. Mit seiner Erforschung der visuellen Kultur hat er wesentliche Grundlagen auch heutiger Perspektiven begründet. Im Mittelpunkt seines Werkes steht der Begriff der Pathosformel – zu Bildern und Verhaltensmustern verfestigte Ausdrucksformen. Bilder deutet er als von einem bestimmten Lebenskreis hervorgebrachte Ausdruckssymbole, worin sich dessen kulturelle Identität temporär manifestiere. Im Unterschied zu Cassirer hat Warburg nicht eine Systematik der symbolischen Formen entworfen, sondern die sich wandelnde historische Funktion derselben untersucht. Am Ende seines Lebens erarbeitete er das Ausstellungsprojekt Mnemosyne, ein Ausgangspunkt der vergleichenden Erforschung kultureller Gedächtnisse.15 Von Nietzsche bis Warburg, so ließe sich sehr knapp pointieren, wurden in einer ersten Etappe kulturwissenschaftlicher Arbeiten zwei wichtige Durchbrüche 15 Vgl. Wuttke (1993); Diers (1995); Böhme et al. (2000: 72ff.).
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erzielt: Einerseits wurde der alte Kulturbegriff mit seiner substanzialistisch-normativen Verengung dauerhaft unterminiert, andererseits öffnete sich dadurch ein weiter Horizont zu einem empirisch-historischen Kulturverständnis, in dessen Mittelpunkt die Trias Werte, Sinn und Bedeutungen, ein relativistischer Wahrheitsbegriff und der vielleicht zentrale kulturwissenschaftliche Ansatz der Symbolforschung stehen. Cultural Studies und neue Kulturwissenschaften Der hier nur skizzierte Komplex älterer kulturwissenschaftlicher Arbeiten war auf die Zeit der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts begrenzt. Die deutsche Prägung dieses Denkens brach mit den auch intellektuell verheerenden Folgen der „deutschen Diktatur“ ab (Karl Dietrich Bracher); erst mit der langsam einsetzenden Rezeption der deutschen Exil-Wissenschaftler seit den 1960er Jahren begann eine Wiederentdeckung etwa Cassirers oder Warburgs. Anknüpfungen und Erweiterungen erfuhren diese Ansätze mit den Impulsen der angloamerikanischen Cultural Studies und dem postmodernen Wissen (Jean-François Lyotard) der französischen Philosophie und Soziologie sowie zuletzt nordamerikanischer Philosophie. Die Erneuerung und Belebung internationaler kulturwissenschaftlicher Forschung geht auf Entwicklungen in Großbritannien seit Mitte der 1950er Jahre zurück und setzte sich in den britischen und nordamerikanischen Sozialwissenschaften seit den 1970er Jahren durch.16 Seit dieser Revitalisierung – und dies gilt bis zur Gegenwart – haben sich die Cultural Studies in Interaktion von wissenschaftlichen Studien und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen entwickelt. Im Zuge der 1980er Jahre vollzogen die britischen Cultural Studies diverse Adaptionen, vor allem zu den Postcolonial Studies und den Gender Studies: Macht, Herrschaft und Gesellschaft rückten damit (wieder) stärker ins Zentrum der Arbeiten. Mit der programmatischen Aufwertung des Forschungsgegenstands popular culture in den britischen Cultural Studies begann die entscheidende jüngere disziplinäre Etappe der Kulturwissenschaften. Was als Abgrenzungsunternehmen zum Marxismus begann, weitete sich aus zur Internationalisierung der Cultural Studies seit dem Ende der 1970er Jahre, indem der französische Poststrukturalismus und die US-amerikanische Kulturanthropologie eine neue kulturwissenschaftliche Legierung hervorbrachten. Der Einfluss poststrukturalistischen Denkens in den jüngeren Kulturwissenschaften ist beträchtlich. Insbesondere die Erkenntnisproblematik wird dadurch eine Stufe weitergetrieben. Dabei ist es für den vorliegenden Zweck vor allem wichtig, auf die dialektische Verschränkung von Strukturalismus und Poststrukturalismus hinzuweisen (vgl. Schiwy 1973: 228ff.; vgl. zum Folgenden ebd.: 85, 212; Daniel 2001: 120ff.). Im strukturalistischen Ansatz werden „die Strukturen der Sprache zum Schlüssel aller Dinge“. Claude Lévi-Strauss etwa überträgt die 16 Dies kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, vgl. dazu Dworkin (1997); Bromley (1999); Sommer (2003: 26ff.).
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sprachwissenschaftlichen Ansätze auf Ethnologie und Mythenforschung: Verwandtschaftsbeziehungen und Mythen, das „wilde Denken“, so Lévi-Strauss, seien organisiert wie eine Sprache. Sein semiotisches Modell basiert auf der Herstellung von Ordnungen (Systemen). Kritiker sehen darin einen „Positivismus der Zeichen“ (Jean Paul Sartre). Zwar werde versucht, die hinter den Menschen agierenden Steuerungsmechanismen bloßzulegen, aber die Frage nach dem Subjekt und damit nach der Politik werde nicht mehr gestellt. Freilich vertritt Lévi-Strauss eine melancholisch fundierte, kulturegalitäre Position mit der These von der Gleichrangigkeit aller Kulturen, basierend auf dem Begriff der Differenz. Diesen Terminus übernahm der Poststrukturalismus, doch verwirft dann etwa Jacques Derrida später just diese Möglichkeit des Entwerfens von Systemen mit dem Anspruch umfassender Abbildung der Welt. Vielmehr werden bei ihm die untersuchten Zeichen unsicher, ebenso wie deren Sinn und Identität; Bedeutungsveränderungen geschehen unkontrollierbar. Bei Michel Foucault (1991, 1988) richtet sich die Analyse auf die Mikrophysik der Macht.17 Sich als Kritiker eines überkommenen Humanismus und radikaler Skeptiker der Fortschrittsidee verstehend, rückte Foucault Diskurse ins Zentrum der Aufmerksamkeit, um wiederholt zu unterstreichen, „dass sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt“. Diskurse bestimmt er als „die Gesamtheit aller effektiven Aussagen“. Allerdings gebraucht er den Diskursbegriff nicht in dem Sinne, dass er damit die durch einen Gegenstand evozierten Aussagen untersucht, sondern setzt bereits vorher an, indem er die Konstitution des jeweiligen Gegenstandes selbst als Diskurswirkung zugrundelegt. Es geht somit um – nicht nur textuelle – Praktiken, die einen Gegenstand konstituieren, besonders um die von Foucault exemplarisch analysierten Felder moderner Gesellschaften: Wahnsinn und Medizin, Gefängnis, Sexualität und Wahrheit, Politik und Krieg – und das Selbst, das Subjekt, das Foucault gegen Ende seines Lebens zunehmend beschäftigte. Diese Institutionen sind nicht als probleminduzierte Objekte zu verstehen, sondern als durch vorgängige Praktiken und Diskurse – Foucault spricht von Technologien – konstituierte Felder. Nicht ein Problem wie Krankheit oder Kriminalität evoziert einen entsprechenden Diskurs, vielmehr produzieren Diskurse ihre Gegenstände. Die Analyse der Ordnung des Diskurses konfrontiert Foucault mit spezifischen Machtstrukturen. Er differenziert drei Gruppen diskurskontrollierender Prozeduren, Dispositive der Macht: externe Verbote, interne Klassifikations-, Anordnungs- und Verteilungssysteme sowie partizipatorische Zugangsbeschränkungen. „Macht ist keine Substanz“ und existiere „nur in actu“, so Foucault, freilich unterliege sie einer „fortlaufenden Rationalisierung“. Macht versteht er dabei – jedenfalls seit seiner für ihn umwälzenden Nietzsche-Rezeption und seiner Studie Überwachen und Strafen – nicht bloß im traditionellen Sinne als repressiven, vielmehr als einen produktiven prozessualen Vorgang: eine Kraft, die immer weniger
17 Vgl. Honneth/Saar (2003); Chlada/Dembowski (2002); Maset (2002); Lommel (1994); Wehler (1998: 45ff.); Daniel (2001: 167ff.); Schiwy (1986: 22ff.; 1973: 80ff.).
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mit Recht, Gesetz oder Strafe arbeitet, sondern kreativ mit Technik, Normalisierung und Kontrolle agierend auf den Körper der Menschen einwirkt. Diese so verstandene Macht geht durch die Einzelnen hindurch und setzt Einverständnis und Mitwirkung der Betroffenen in gewissem Maß voraus: „Wir reden noch von Unterdrückung“, so Foucault in Sexualität und Wahrheit, „wo die Macht schon längst nicht mehr darauf angewiesen ist.“ Macht wird hier zu einer Kräftebeziehung, einem produktiven und reflexiven Netz, das die gesamte Gesellschaft durchzieht, sei es den Körper, sei es die Sexualität, die Verwandtschaft oder die Identität. Für diese spezifisch moderne Machtstrategie prägt Foucault den Begriff der Bio-Macht beziehungsweise Bio-Politik. Nicht so sehr die herkömmliche Unterdrückung von Lebensäußerungen der Menschen sei entscheidend, sondern die Generierung, Regulierung und Kontrolle ihrer Körper und Seelen. Der Humanismus habe immer feinere Methoden der Disziplinierung und Kontrolle hervorgebracht. Ergebnis ist die moderne Disziplinargesellschaft. Der Mensch ist für ihn keine feste Größe, sodass Foucault nicht die traditionelle humanistische Frage leitet, was der Mensch ist, vielmehr jene, wie der Mensch gemacht wird. Foucault hat damit eine kritische Analyse moderner Individuationsprozesse vorgelegt, in deren Zentrum „die gleichzeitige Entfaltung und Regulierung des Subjekts“ (Butler, zit. nach Conrad/Kessel 1998: 11) steht. Foucaults Bestreben, aus der „Erfahrung unserer Moderne“ zu verstehen, „kraft welcher Mechanismen wir zu Gefangenen unserer eigenen Geschichte geworden sind“, hat mit seinen eindringlichen Hinweisen auf die moderne Sozialdisziplinierung neue, durchaus über Norbert Elias’ Zivilisationstheorie hinausführende kritische Perspektiven eröffnet (vgl. Lemke 2001). Insbesondere die vom „späten“ Foucault skizzierte Konzeption einer Regierungsmentalität markiert einen interdisziplinären Theorieansatz mit engen Verbindungen zwischen Kulturwissenschaften und politischer Theorie, geht es hier doch um die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Herrschaftstechniken und Selbsttechniken. Dies ist auch für die Erkenntnis geschichtspolitischer Prozesse bedeutsam, indem das Verhältnis politischer Praktiken zu den dadurch konstituierten Diskursen und politischen Intentionen ebenso wie zu den sie tragenden Individuen transparenter wird. Als „konstruktivistischen Strukturalismus“ hat Pierre Bourdieu (vgl. 1993, 1997) die eigene Denkweise bezeichnet.18 Das Zentrum seiner Arbeit sah er darin, „die Fundamente der symbolischen Formen von Herrschaft zu analysieren“. Er geht von einer „Doppelnatur der sozialen Welt“ aus: einerseits materielle, also wirtschaftliche, soziale und politische Konstellationen, andererseits kulturelle Symbole, Welt- und Sinndeutungen. Diese nur auf dem Weg der Analyse unterscheidbaren, in Wechselwirkung begriffenen Dimensionen sind gleichermaßen bedeutend, real und prägend. Er plädiert für ein Primat der Relation statt eines Primats der Substanz und für die Übernahme einer relationalen oder strukturalen Denkweise aus der modernen Mathematik und Physik, die das Wirkliche mit Re-
18 Vgl. Fuchs-Heinritz/König (2005); Kraemer (2002); Daniel (2001: 179ff.); Wehler (1998: 15ff.).
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lationen statt mit Substanzen identifiziert. Den damit umrissenen sozialen Beziehungsraum, dessen relationale Strukturierung, beschreibt Bourdieu mit dem Begriff des Feldes. Hier kommt der Habitus ins Spiel. Dieser Kernbegriff seiner Soziologie umreißt ein Konzept zum Verständnis sozialen Handelns: „das inkorporierte Soziale“, also „die durch Erfahrung erworbenen, zur zweiten Natur gewordenen Dispositionen, die die Akteure in einem bestimmten Feld nicht nur verinnerlicht, sondern geradezu verkörperlicht haben“ (Ute Daniel). Der Habitus – in diesem Sinne die Gegenwart der Vergangenheit, die ihn erzeugt hat – steht für die Wechselwirkung zwischen strukturellen und individuellen Gegebenheiten und ist aufgrund seiner Einverleibung nur durch eine gezielte „Gegendressur“ dauerhaft zu transformieren. In diesen Prozessen verleiht das Kapital – Bourdieu unterscheidet ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital – den Handelnden im jeweiligen Feld Macht und ist gleichzeitig Machtressource der Kämpfe in diesen Feldern. Das symbolische Kapital ist hierbei kein besonderes Kapital, sondern gewissermaßen das, „was aus jeder Art von Kapital wird, das als Kapital, das heißt als (aktuelle oder potentielle) Kraft, Macht oder Fähigkeit zur Ausbeutung verkannt, also als legitim anerkannt wird“, schreibt Bourdieu. Politisches Kapital ist bei Bourdieu nicht als spezielle Kapitalform ausgearbeitet, sondern fungiert bei ihm als Unterform des symbolischen Kapitals. Eine vermittelnde Funktion kommt hierbei der „symbolischen Macht“ zu, einer „unsichtbaren Macht“ der „Wirklichkeitskonstruktion“ infolge des ihr inhärenten Potenzials, Bedeutungen durchzusetzen, die „Macht, das Gegebene durch die Äußerung zu konstituieren, sehen und glauben zu machen“. Die symbolischen Systeme fungieren als Instrumente der Durchsetzung oder der Legitimation von Herrschaft, indem sie sozial integrierend wirken. Weitreichende politische Wirkungen der jüngeren Kulturwissenschaften entfalteten zwei vieldiskutierte Ansätze: die vor allem mit Judith Butler verknüpfte Neu-Theoretisierung des Feminismus (und von hier ausgehend auch weiterer politischer Bewegungen) sowie die Postcolonial Studies. Beide Richtungen haben die seit den achtziger Jahren geführten Identitätsdebatten noch forciert. Autoren wie etwa Edward Said, Stuart Hall oder Homi Bhabha, die sich der postkolonialen Theorie zurechnen lassen, setzen sich mit Geschichte und Kultur der einstigen Kolonialländer auseinander und analysieren aus dieser Perspektive die Kultur der Kolonisatoren. Leitend ist das Interesse an der Verflechtung kolonialer und postkolonialer Verhältnisse, wobei die Frage nach der Repräsentativität von Identitäten und Diskursen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Ethnozentrismus steht. Seit Saids bahnbrechender Studie Orientalism sind Rassismus, Imperialismus und Sexismus Kategorien zur Untersuchung der repressiven Kultur der Kolonisierer und der kolonisierten Identitäten. Anfänglich als antagonistisches Verhältnis konzipiert, haben sich die postkolonialen Studien inzwischen der These der Transkulturation angenähert, wonach Sprache, Identitäten und Kulturen von Kolonisator und Kolonisiertem gerade in ihren Durchdringungen und Vermischungen kennzeichnend sind – und Eigenes und Fremdes diffundieren. Darin
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gründet die „Hybridität“ (Bhabha 2000) auch von Kolonialkulturen. Das „wilde Außen der Geschichte“, als welches postkoloniale Räume, Erfahrungen und Kulturen lange Zeit galten, ist damit verschwunden und die Frage aufgeworfen, ob es je existiert hat.19 Diese Existenzfrage ist auch durch die Debatten um Judith Butler aufgeworfen worden, wenngleich im Zusammenhang der Gender Studies. Die stark von der Auseinandersetzung mit dem Foucaultschen Denken geprägte US-amerikanische Philosophin vertritt (in abnehmender Radikalität) die Grundthese, die menschlichen Körper seien konstruiert.20 Entscheidend ist Butlers Kritik der (im Englischen üblichen, im Deutschen jedoch problematischen) Differenzierung zwischen der materiellen biologischen Körperoberfläche (sex) und der gesellschaftlichkulturell formierten Geschlechtsidentität (gender): Körper existierten nicht als neutrale, physiologische, vielmehr stets schon als geschlechtliche, also diskursiv konstruierte (eingeschriebene) Entitäten. Ein Außerhalb und Vorher des Diskurses gebe es nicht, folglich auch keinen Körper, „der seinen kulturellen Einschränkungen vorgängig ist“; es existierten weder „vordiskursive Fakten“ einer Geschlechtsidentität noch ein „natürliches Geschlecht“. Die „Materialität des biologischen Geschlechts“, so Butler, sei „durch eine ritualisierte Wiederholung von Normen konstruiert“. Verstanden als „konstitutiven Zwang“ sieht sie Konstruktionen – wie Körper – als dasjenige, „‚ohne das‘ wir gar nicht denken können“. Gewissermaßen Motor und Zentrum der Konstruktionsarbeit markiert dabei die Performativität, „jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“. Performatives Sprechen – „weder freie Entfaltung noch theatralische Selbstdarstellung“ – bedeutet, einen Gegenstand durch dessen Benennung zu formieren und umreißt damit „eine inszenierte, kontingente Konstruktion“. Die ritualisierte Wiederholung, so Butler, werde nicht von einem Subjekt performativ ausgeführt, sondern ist das, was ein Subjekt ermöglicht. Das Subjekt ist so in ihrer Sicht sowohl machtunterworfen als auch machtkonstituierend. Durch die Koppelung des Performanzbegriffs mit dem Kulturbegriff ist der ursprünglich auf John L. Austin zurückgehende Ansatz von der Sprachphilosophie auf den sozialen Raum erweitert worden: Alles Handeln (auch symbolisches wie das Sprechen) lässt sich als performance (Inszenierung, Darstellung) betrachten, aber nur ein Teil davon ist performativ. Genau diesen Übergang von der performance- zur performatives-Ebene fokussiert die jüngere kulturwissenschaftliche Medienforschung, die der medialen Verkörperung des Diskurses, der für die Konstitution von Identität(en) grundlegend ist. So kann man mit Noam Chomskys Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur sagen: „Die verkörperte performance an der Oberfläche ist eine ‚verkörperte Erscheinungsweise‘ jener performatives, welche auf der Tiefenstruktur arbeiten“ (Wirth 2001).
19 Siehe auch den Themenschwerpunkt „Postkoloniale Kultur-Geschichten“ der Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 2 (2002) 1 mit dem Editorial der Herausgeberin Martina Kaller-Dietrich; Biti (2001: 629-638). 20 Der folgende Abschnitt nach: Butler (1997, 1991); Backhaus (2002); Wirth (2002, 2001).
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Eine Analyse performativer Geschichtspolitik bedeutet also beispielsweise, das ritualisierte Jahrestagshandeln politischer Akteure daraufhin zu befragen, welche Geschichte durch diese besondere politische Kommunikation aus der Vergangenheit in die Gegenwart „gerufen“, aktualisiert wird, welche Ereignisausschnitte und Bewertungen durch das Aufrufen vergegenwärtigt und sedimentiert werden sollen – und welche Tiefenstrukturen der politischen und Geschichtskultur Anschlussfähigkeit und Tendenz des Jahrestagshandelns bestimmen. Fazit In den „alten“ Kulturwissenschaften am Beginn des frühen 20. Jahrhunderts begann die Ablösung des auf eine eher statisch verstandene bürgerliche Hochkultur fixierten, empirisch-normativ verengten Kulturbegriffs zugunsten einer Neubestimmung von Kultur als einer eigendynamischen, symbolischen Konstruktion von Wirklichkeiten. Diese Entwicklung brach sich in einem weiteren Differenzierungsschub mit dem „cultural turn“ der neuen Kulturwissenschaften im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts Bahn. Damit öffnete sich das weite Feld der Analyse kultureller Prozesse. In sämtlichen Humanwissenschaften veränderten sich so Perspektive, Methode und Ertrag. Nicht mehr der neomarxistisch fundierte, grundsätzlich kritische kulturindustrielle Blick prägt seither einen beträchtlichen Teil der wissenschaftlichen Produktion, sondern die Frage nach den Strukturen und Prozessen kultureller Vorgänge. Basis desselben ist ein Set „neuen erkenntnisleitenden Vokabulars“ (Reckwitz 2000: 644), das binnen weniger Jahre nahezu flächendeckend in die Geistes- und Sozialwissenschaften eingedrungen ist und die bis dato vorherrschende „lingua franca“ neu dimensioniert und beträchtlich erweitert hat. Begründet ist dies auch darin, dass die jüngeren Kulturwissenschaften – anders als die Postmoderne-Arbeiten – weniger für eine weltanschauliche Botschaft stehen, wohl aber einen wissenschaftlichen Gewinn versprechen, der besonders im hohen heuristischen Potenzial liegt. Zentrale Begriffe der neueren Kulturwissenschaften sind etwa die Trias Race (Ethnicity), Class, Gender (vgl. Knapp 2005); (kulturelle, geschlechtlich-sexuelle) Differenz und Identität, Gedächtnis und Erinnerung, Text und Kontext, (De-)Konstruktion und Codierung, Repräsentation und Symbol, Diskurs und Semiotik – nicht zu vergessen: Performanz. Mit diesen Begriffen und den damit verbundenen Konzepten ist es gelungen, die Humanwissenschaften nicht nur neu zu beleben, sondern die Geistes- und Sozial-, ja inzwischen auch die Naturwissenschaften zu vernetzen und dadurch einen kulturwissenschaftlichen Ort der Interdisziplinarität zu etablieren, der von neuen Erfahrungen, Perspektiven und Fragen beim Umgang mit dem alten, aber neu verstandenen Feld der Kultur gekennzeichnet ist – geleitet von der längst kanonisierten, an Max Weber anschließenden Definition von Clifford Geertz (1983: 9; vgl. Fuchs/Berg 1995: 43ff.), wonach Kultur das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“ ist, in das der Mensch verstrickt ist. Worin besteht die Schnittmenge dieser kulturwissenschaftlichen Tour d’horizon? Zum einen sticht bei allen relevanten wissenschaftlichen und intellektuellen
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Strömungen die Distanzierung, ja Dekonstruktion großer Erzählungen hervor – von der Geschichte bis zum Geschlecht, basierend auf einer kategorischen, meist in der Nachfolge Kants stehenden Kritik menschlicher Erkenntnisfähigkeit und getragen von der darin gründenden antiessenzialistischen Einsicht in den Konstruktionscharakter menschlicher Welt-, Sinn- und Selbstentwürfe. Von Nietzsche bis zum Konstruktivismus und zum jüngsten Schub neurowissenschaftlicher Forschungen ist die Kritik der Bedingungen der Möglichkeit adäquater Erkenntnis, Wahrnehmung und Erinnerung mal Zentrum, mal Ausgangspunkt kulturwissenschaftlicher Anstrengungen; ohne diese kritische Distanzierung und ohne die Einsicht, wie umfassend die individuellen Wissensprozesse gesellschaftlich geprägt sind, ohne diese elementare Skepsis gibt es keine Kulturwissenschaft. Dabei markiert die Konzentration kulturwissenschaftlicher Analysen auf den Konstruktionscharakter von Identität, Geschichte, Bildern et cetera Distanz und Vorteil gegenüber der älteren Schule der Ideologiekritik, die ein „falsches Bewusstsein“ nur bei Anderen, nie bei sich selbst zu erkennen vermochte. Die Konstruktionsprämisse gilt hingegen ohne politische, kulturelle oder historische Begrenzung (vgl. Assmann 2006: 30f.). Zum anderen – und in gewisser Weise als Konsequenz des ersten Aspektes – wird versucht, die Konstitution und Konstruktion, die innere Beschaffenheit und Prozessualität menschlicher Bedeutungs- und Sinnbildungsstrategien näher zu bestimmen. Wie gelingt es Einzelnen und Gruppen, sich Bedeutungen und Sinn anzueignen? Wie kommunizieren sie miteinander, mit welchen Mitteln und zu welchen Funktionen? Mit dieser Sichtweise rücken Vermittlungsformen im Allgemeinen und Symbole, Rituale, Mythen und Sprachstrukturen als Kommunikationsformen im Besonderen ins Zentrum. Beide angesprochenen Aspekte, die Distanzierung von Metaerzählungen und das Interesse für Bedeutungskonstruktionen, haben für die Wissenschaftler einen Reflexionsschub ihrer Forschungstätigkeit zur Folge – und anhaltende Verunsicherungen über die „verlorene Wahrheit“ (Kiesow/Simon 2000), über den epistemologischen Status der eigenen Arbeit und des fachspezifischen Gegenstands. DER KULTURWISSENSCHAFTLICHE ANSATZ UND DIE KATEGORIE GESCHICHTSPOLITIK – EIN RESÜMEE Der mit dieser Schnittmenge kulturwissenschaftlicher Ansätze implizierte gesellschaftliche Raum, der politikwissenschaftlich sofort als Raum der Herrschaft und Macht kenntlich wird, ist die entscheidende Verknüpfungsebene für eine Theorie der Geschichtspolitik – und der Institutionentheorie. Denn kulturelle Faktoren stellen ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der Ebene der Strukturen und der Ebene der Akteure dar.21 Dieser gleichsam als humanwissenschaftliche „Sy-
21 „Kulturelle Faktoren zählen insofern zum Bereich der Strukturen, als sie nicht durch individuelles Handeln beeinflussbar sind; sie haben aber einen direkten Bezug zum Akteur insofern, als sie das Resultat habitualisierter menschlicher Verhaltensweisen sind, die sich in Interaktionsprozessen als Deutungsmuster kognitiv verfestigt haben.“ (Lehmkuhl 2000: 192)
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napse“ zwischen den Disziplinen zu begreifende Ansatz ist sowohl heuristisch als auch analytisch horizonterweiternd und erkenntnisfördernd. Werden diese Ansätze mit den Kategorien Geschichte und Politik verknüpft, eröffnet sich ein breiter und spezifisch kulturwissenschaftlich ausgeleuchteter Erkenntnisraum, der sich besonders um drei Zentralbegriffe gruppiert: Konstruktion, Bedeutung, Macht. Eine Theorie der Geschichtspolitik verfehlte und verkürzte wesentliche Aspekte ihres Gegenstandes, ließe sie diese Dimensionen unberücksichtigt. Maßgeblich ist dabei allerdings die Berücksichtigung spezifisch politologischer Zugänge: Wenn für das kulturwissenschaftliche Wissen die strikte Relativierung der Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit grundlegend ist, korrespondiert damit die politikwissenschaftliche Einsicht, dass der politische Umgang mit Geschichte unweigerlich verwickelt ist in den konstitutiven Macht- und Interessenskomplex. Dazu ein Beispiel: Wie gelingt es politischer Macht, Legitimation für die eigene Herrschaft zu erlangen? „Klassisch“ politologisch lautete die Antwort hierauf: Indem formale und normative Bedingungen erfüllt werden, etwa gesetzlich geregelte Machtzugangs- und Herrschaftsausübungskriterien und die Überschneidung mit Überzeugungssystemen in der Bevölkerung. Diese Antwortrichtung ist freilich außerordentlich eng angelegt, weil an einem überholten Politikbegriff orientiert, ignoriert sie doch den gesamten aufwendigen Apparat der Schauseite der Macht (Lenk 1996: 111). Die faktische Geltung und damit Mobilisierungsfähigkeit politischer Legitimität findet gerade in jenem weiten Bereich symbolischer Beglaubigungshandlungen statt, im Feld der (Re-)Präsentation von Politik, in dem Werte und Gefühle affiziert werden. Diese ästhetische Ausdrucksseite der Macht – besonders Rituale, Mythen und Symbole sind hier zu nennen – wird erschlossen durch eine kulturwissenschaftlich informierte Politikanalyse. Geschichtspolitik hat ihren Ort zu einem beträchtlichen Teil in dieser sinnfälligen Seite der Macht. So werden mittels einer kulturwissenschaftlichen Dimensionierung des geschichtspolitischen Ansatzes kulturelle Faktoren der Vermachtung im Medium der Geschichte sichtbar. Mit diesem heuristischen Instrument können insbesondere Prozesse der Konstruktion und Aneignung von Bedeutungen, Weisen der Wahrnehmung und Sinnstiftung, der Symbolproduktion und -praktiken, kurz: die Konstitutions- und Wandlungsbedingungen von Geschichte in der Politik besser verstanden und erklärt werden. Geschichtspolitologisch ist hierbei erforderlich, die kulturellen Aspekte mit Fragen nach den geschichtspolitischen Akteuren, Prozessen, Handlungsfeldern, Inhalten, Medien oder Zielen zu konfrontieren. Kulturtheoretische Anleihen sind für geschichtspolitische Fragestellungen da sinnvoll, ja unverzichtbar, wo kulturelle Faktoren des politischen Umgangs mit Geschichte identifiziert, beschrieben und erklärt werden sollen, denn dieser Umgang ist kulturell gewissermaßen imprägniert. Bedenklich wird dieser Problemzugang allerdings, wenn aus einem kulturwissenschaftlichen Ansatz ein nur noch selbstbezüglicher „Kulturalismus“ entsteht und „das Reden über Geschichte, Gesellschaft und Politik nur mehr in terms of culture stattfindet“ (Kaschuba 1995: 14). Um dies zu vermeiden, müssen die klassischen politikwissenschaftlichen Ansätze die Grundlage der Reflexion bilden: die Frage nach dem Staat und politi-
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schen Akteuren, nach Macht, Gewalt und Herrschaft, nach politischen Institutionen und Entscheidungen ebenso wie nach sozioökonomischen Grundlagen. Dies beachtet, liegt jedoch damit eine wichtige Ergänzung der politisch-kulturellen und geschichtskulturellen Perspektiven vor. Kenntlich werden so insbesondere die Konstruktions- und Vermittlungsprozesse von Geschichtspolitik: die politische Konstruktion von Geschichte und kollektiven Identitäten, von auch historisch grundierten Legitimationen, die symbolische und narrative Inszenierung und Performanz von Vergangenheit. Der kulturwissenschaftliche Ansatz bildet somit eine Brücke von einem defizitären – weil an einem alten, vor-kulturalistischen Politikbegriff festhaltend – Verständnis politischen Umgangs mit Geschichte hin zu einem umfassenderen, besonders die Konstruktions- und Vermittlungsprozesse fokussierenden Begriff. Die vielleicht wichtigste Folge für das Konzept Geschichtspolitik besteht vor dem Hintergrund des Gesagten in einer dreifachen Sensibilisierung: einer Schärfung des Bewusstseins für die kategoriale Differenz zwischen gegenwärtiger Geschichtspolitik und Vergangenheit, für die prozessuale, von der jeweiligen Akteurs- und Machtkonstellation bedingten Konstruktion sinnstiftend-integrierender und legitimitätsspendender Geschichtsbilder, und für einen politischen Umgang mit Geschichte, dessen Beglaubigungsmittel besonders in der sprachlichen und symbolisch-politischen Vermittlung einer letztlich interessen- und machtfunktionalen historischen Narration liegen. Hier, in der Deutung von Vergangenheit zur Geschichte, liegt der Kern geschichtspolitischen Handelns. Deshalb ist die Analyse der politischen Funktionen von Geschichte auch der Schwerpunkt jeder Geschichtspolitologie. Literaturverzeichnis Aleksandrowicz, Dariusz et al. (2004): Vorwort: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. In: Heinz Dieter Kittsteiner (Hrsg.) (2004): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München, 7–23. Anderson, Benedict (1998): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. erw. Ausg. Berlin. Assmann, Aleida (2003): Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner und Gotthart Wunberg (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau, 27–47. Assmann, Aleida (2004): Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften. Mit einem nachfolgenden Briefwechsel. Hildesheim. Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek. Backhaus, Hildegard (2002): Judith Butlers Konzept der Performativität von Identität. In: Weimarer Beiträge 48, 41–60. Baldwin, Elaine et al. (2004): Introducing cultural studies. überarb. Aufl. Harlow. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. Biti, Vladimir (2001): Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe. Reinbek, 629–638.
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POLITISCHE ERINNERUNG. EINE AKTEURS- UND HANDLUNGSBEZOGENE PERSPEKTIVE AUF DEN ZUSAMMENHANG VON GEDÄCHTNIS, ERINNERUNG UND POLITIK Die dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegende Aufgabenstellung, jeweils eine bestimmte Theorie oder Theorienfamilie vorzustellen und deren Erklärungskraft für geschichtspolitische Phänomene zu erläutern, stellt die Kulturwissenschaftlerin vor ein grundlegendes Problem. Die seit dem Beginn der 1980er Jahre in verschiedenen Disziplinen entstandene kulturwissenschaftliche Neuorientierung lässt sich weder auf einen zentralen theoretischen Ansatz eingrenzen, noch verfügt sie über ein klar umgrenztes Arsenal an methodischen Ansätzen. Mehr noch: kulturwissenschaftliche Ansätze – verstanden weniger als eingrenzbarer Forschungsansatz, in dessen Zentrum die Untersuchung von Kultur als einem von anderen Lebensbereichen wie etwa Wirtschaft, Recht, Politik oder Religion abgrenzbaren Gegenstand steht, als vielmehr als neue Perspektive auf ein offenes und nicht eingegrenztes Feld an Themen und Gegenständen – artikulieren eine gewisse Skepsis gegenüber allzu intensiven Theoretisierungs- und Systematisierungsbestrebungen. Folgt man der neueren kulturwissenschaftlichen Entwicklung, scheint die Zeit der „großen Erzählungen“ und damit auch der abstrakten MetaTheorien endgültig passé. Das, was an den Kulturwissenschaften verschiedentlich als Erkenntnis hemmender Eklektizismus kritisiert wurde, erheben die Kulturwissenschaften zu ihrem Programm. Sie bedienen sich der unterschiedlichsten Methoden und Theorien, je nachdem, was das konkrete Vorhaben gerade verlangt. Das bedeutet freilich nicht, dass die Theorie den Kulturwissenschaften gänzlich abhanden gekommen wäre. Aber der Trend weist wohl doch eher in Richtung Theorien mittlerer Reichweite, mit denen der Anspruch verbunden ist, manches, aber eben bei weitem nicht alles erklären zu können. Dies trifft auch auf das Themenfeld Gedächtnis und Erinnerung zu, das sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem zentralen Paradigma der Kulturwissenschaften entwickelt hat. Einerseits ist Gedächtnis, wie Astrid Erll in ihrem Einführungsband Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen bemerkt, ein Thema, „das zusammenführt wie kein anderes“ (Erll 2005: 1). Die Altertums- und Religionswissenschaften, die Sozialwissenschaften und die Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, die Psychologie, Neurowissenschaft und die Medienwissenschaften, sie alle beteiligen sich an der Erforschung des Phänomens Gedächtnis. Andererseits ist mit dem Gedächtnisbegriff jedoch nicht nur eine zusammenführende, die interdisziplinäre Forschung ermöglichende Tendenz verbunden, sondern es lässt sich gleichzeitig auch eine zentrifugale Dynamik beobachten. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von unterschiedlichen Begriffen und Konzepten entstanden, die es nahe legt, Gedächtnisforschung als ein „nonpa-
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radigmatic, transdisciplinary, centerless enterprise“ (Olick/Robbins 1998: 106, zit. nach Erll 2005: 5) zu beschreiben. Jenseits sehr grundlegender Annahmen wie etwa der des konstruierten Charakters von Erinnerungen besteht kein übergreifendes Theorieprogramm, mit dem die Untersuchung des kollektiven Gedächtnisses und von Erinnerungskulturen grundsätzlich angegangen werden könnte. Der Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen kann daher nicht die Beschreibung eines Theorieprogramms sein, das es dann auf seine Erklärungskraft für geschichtspolitische Phänomene zu prüfen gilt. Ich werde einen dazu alternativen Ausgangspunkt wählen und zunächst danach fragen, welche Konzepte zur Untersuchung von Phänomenen im Schnittfeld von Politik auf der einen und Gedächtnis, Erinnerung, Vergangenheit oder Geschichte auf der anderen Seite zur Verfügung stehen. Dabei interessieren mich vor allem zwei Fragen: erstens die Frage, wo im politischen Feld in diesen Ansätzen Geschichte, Erinnerung und Vergangenheit ihren Ort finden. Und zweitens die Frage, welche Gegenstände in Studien zur Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik in den Blick genommen werden. Auf diese Weise stoße ich auf zwei Forschungslücken beziehungsweise Probleme, die die vorliegenden Ansätze nicht auszufüllen oder zu lösen vermögen. Mein im zweiten Teil präsentierter Vorschlag einer akteurs- und handlungsbezogenen Perspektive auf den Zusammenhang von Politik und Vergangenheitsdeutungen wird darauf abzielen, die Leerstellen, die die bisherigen Ansätze der Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik hinterlassen, zu füllen. In diesem Zusammenhang werde ich auf den möglichen Beitrag der theoretischen Ansätze im Themenfeld Gedächtnis und Erinnerung zur Untersuchung der Relevanz von Vergangenheitsbezügen im politischen Feld zurückkommen. VERGANGENHEITS-, GESCHICHTS- UND ERINNERUNGSPOLITIK: ANSÄTZE UND DEREN REICHWEITE Nimmt man das für die Kulturwissenschaften zentrale Postulat der Interdisziplinarität ernst, bedarf es Kategorien, die in den an dieser Perspektive interessierten und an deren Entwicklung beteiligten Disziplinen Relevanz besitzen und einen Beitrag zur Erforschung des jeweiligen disziplinären Zuständigkeitsbereichs liefern können. Gedächtnis und Erinnerung gehören zweifelsohne zu denjenigen Kategorien, die in der kulturwissenschaftlichen Forschung seit den 1980er Jahren besondere Beachtung fanden und sich als ergiebiger Ansatz erwiesen haben.1 Was 1
Die Literatur zum Themenbereich ist inzwischen nahezu unüberschaubar geworden. Sein besonderer Stellenwert in der gegenwärtigen Forschungslandschaft lässt sich unter anderem daran ersehen, dass inzwischen ein empfehlenswerter Einführungsband (Erll 2005) und ein allerdings nicht besonders zu empfehlendes interdisziplinäres Lexikon (Pethes/Ruchatz 2001) vorliegen. Dabei sind heute besonders zwei um 1920 entstandene Traditionsstränge von Bedeutung. Es handelt sich zum einen um Halbwachs’ (1985, 1991) soziologische Studien zum kollektiven Gedächtnis und Warburgs (2000) kulturhistorische Beschäftigung mit dem europäischen Bildgedächtnis. Allerdings fand das Phänomen des kollektiven Gedächtnisses bis in die 1980er Jahre kaum Beachtung. Erst zu diesem Zeitpunkt stieß das Thema erneut auf wis-
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für den Beitrag der einzelnen Disziplinen zu den Kulturwissenschaften generell gilt, nämlich dass die Aneignung von kulturwissenschaftlichen Schlüsselkategorien in den einzelnen Disziplinen „nicht synchron und nicht nach einem einheitlichen Muster“ (Appelsmeyer/Billmann-Mahecha 2001: 11) verläuft, trifft auch auf Forschungen zum kollektiven Gedächtnis zu. Diejenigen Disziplinen, die sich an der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung beteiligen, haben „je eigene Entwürfe einer ‚kulturwissenschaftlichen Orientierung‘ der Theoriebildung und Empirie ihres Fachgebietes“ entwickelt (ebd.). Hinzu kommt, dass sie über jeweils eigene Traditionen in der Erforschung von Kultur verfügen und jeweils eigene disziplinäre Kompetenzen in die Kulturwissenschaften einbringen. Fragt man vor diesem Hintergrund nach der Aneignung der Kategorie Gedächtnis in den Einzeldisziplinen, wird deutlich, dass diese in erster Linie in die Geschichts- und die Literaturwissenschaften Eingang gefunden hat. Dagegen wurde sie in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Politikwissenschaft bisher weit weniger rezipiert. Jan Assmann geht in seinem Nachwort zu Elena Espositos Studie Soziales Vergessen vielleicht zu weit, wenn er diesbezüglich von einer weitgehenden „Verweigerung“ der Sozialwissenschaften spricht (Assmann 2002: 400). Er macht jedoch auf eine wichtige Tendenz in den Sozialwissenschaften aufmerksam, wenn er diesen einen gewissen Hang zum „Präsentismus“ (ebd.) nachsagt, der sich in einem Desinteresse an Vergangenheit und an der vielschichtigen Komplexität kultureller Zeit manifestiere und damit auch ein geringes Interesse an den „vielfältigen Formen der Konstruktion von Vergangenheit“ (ebd.: 414) aufbringe, die im Mittelpunkt des kulturwissenschaftlichen Interesses am Phänomen des Gedächtnisses stehen. Auch wenn das Verdikt Assmanns angesichts der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft etwas hart erscheinen mag, regt es doch zum Nachdenken über die Frage an, ob die sicherlich im Vergleich zu den Geschichts- und Literaturwissenschaften geringere Aufnahme in die Sozialwissenschaften etwas mit dem traditionellen Zuständigkeitsbereich des sozialwissenschaftlichen Fächerspektrums zu tun haben könnte. Speziell für die Politikwissenschaft ergibt sich die Frage, ob sich Zusammenhänge zwischen dem Politischen und dem Gedächtnis überhaupt ausmachen lassen beziehungsweise ob Erinnerung im politischen Prozess überhaupt relevant wird. Der Ort des Gedächtnisses und der Erinnerung in der Politik Wie antworten vorliegende Studien zur Vergangenheits-, Erinnerungs- und Geschichtspolitik auf diese Frage? Welchen Ort weisen sie dem Gedächtnis und der Erinnerung im Spektrum des Politischen zu? senschaftliches Interesse. Internationalen Stellenwert haben Pierre Noras lieux de mémoire (1984–1992) erfahren. Die im deutschsprachigen Raum wohl meist rezipierte Theorie stammt von A. Assmann (1999a) und J. Assmann (1992). Wie noch deutlich werden wird, sind ihre Arbeiten auch für die vorliegende Studie von zentraler Bedeutung. Der Stellenwert der Gedächtniskategorie zeigt sich schließlich auch an der Existenz eines Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen (SFB 434). Beteiligt waren und sind circa 30 Hochschullehrerinnen und circa 70 Mitarbeiterinnen aus elf Disziplinen (Erll 2005: 34ff.).
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Die gängigste Antwort auf diese Frage scheint zu sein, den Zusammenhang von Politik und Vergangenheit in einem eigenständigen Politikfeld zu verorten. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise findet sich in Edgar Wolfrums Studie zur Geschichtspolitik der „alten“ Bundesrepublik. „Geschichtspolitik“ in seinem Verständnis untersucht „die Auseinandersetzung um Geschichte als politisches Ereignis“ (Wolfrum 1999: 19).2 Sie findet in einem eigenständigen „Handlungs- und Politikfeld“ statt, „auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen“ (ebd.: 25). Ein diesbezüglich ähnliches Konzept liegt Peter Reichels Studie Politik mit der Erinnerung (Reichel 1999) zugrunde. Reichel konzentriert sich in seiner Untersuchung auf Gedächtnisorte, das heißt materiale Artefakte des Erinnerns, sowie auf Gedenktage als mit Geschichte und Erinnerung verbundene rituelle Praxen und auf die in diesem Zusammenhang stehenden Diskurse. Im Zentrum steht die auf die Zeit des Nationalsozialismus Bezug nehmende „Memorialkultur“, die er in einem „gesamtstaatlich relevante[n], konfliktreiche[n] Politikfeld“ verortet (ebd.: 13). Ähnlich wie Wolfrum der Geschichtspolitik weist auch Reichel der Erinnerungspolitik ein eigenständiges Politikfeld zu, in welchem Akteure in öffentlichsymbolischen Handlungen und unter Zuhilfenahme und Verwendung von Symbolen, Ritualen und Artefakten Geschichts- und Erinnerungsbilder konstruieren, die wiederum der Identitätsbildung und -stabilisierung dienen. Wolfrum (1999: 32) grenzt die in seiner Studie relevanten öffentlich-symbolischen Handlungen von den auf Vergangenheit bezogenen „praktisch-politischen Maßnahmen“ ab, die Norbert Frei (1996) unter den Begriff Vergangenheitspolitik fasst. Während im Zentrum des Interesses vergangenheitspolitischer Forschung auf die Überwindung der Hinterlassenschaften vergangener Regime zielende justizielle, legislative und exekutive Entscheidungen und Maßnahmen stehen, seien Forschungen zur Geschichtspolitik an der Lücke interessiert, die Studien zur Vergangenheitspolitik nicht thematisierten: „Das Erkenntnisinteresse von Forschungen zur Geschichtspolitik richtet sich auf die öffentlichen Konstruktionen von Geschichts- und Identitätsbildern, die sich über Rituale und Diskurse vollziehen […], wohingegen gesetzgeberische und justizielle Handlungsoptionen lediglich über Politikfelder wie Bildungs-, Museums- oder Denkmalspolitik Beachtung finden.“ (ebd.)
Wolfrum führt an anderer Stelle aus, dass die beiden Forschungsansätze Vergangenheitspolitik und Geschichtspolitik „die zwei Seiten ein und derselben Medaille [bilden]: der umkämpften Vergangenheit.“ (Bock/Wolfrum 1999: 8f.) Es lässt sich unschwer erkennen, dass sich hinter dieser Unterscheidung zwischen praktisch-politischen Maßnahmen auf der einen und öffentlich-symbolischem Handeln auf der anderen Seite eine dichotome Vorstellung von der Welt des Politischen verbirgt, mit der meiner Ansicht nach ein erstes Problem verbunden ist. In dieser Konzeptualisierung schwingt die Trennung zwischen einem Bereich, in dem Poli2
Ich werde im Folgenden darauf verzichten, eine möglichst vollständige Übersicht über die Forschung zu vermitteln. Ich konzentriere mich auf diejenigen Ansätze, die entweder einen systematisch-theoretischen Beitrag zum hier relevanten Forschungsfeld leisten und/oder auf empirischer Basis neue Forschungsperspektiven eröffnet haben. Für eine ausführlichere Übersicht über das Forschungsfeld vgl. Kohlstruck (2004).
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tik durch verschiedene Maßnahmen hergestellt wird, und einem letztlich nur für die Darstellung des Hergestellten zuständigen Bereich des symbolischen Handelns mit. Damit aber ist die Gefahr verbunden, die politische Entscheidungssphäre als den „eigentlich“ politisch relevanten Bereich von dem der Aufführungspraktiken, der Darstellung von Politik abzusetzen. Dabei ist es sicherlich nicht Wolfrums und Reichels Absicht, ihren Forschungsgegenstand in diesem Sinne als bloßen „Zierrat“ und damit als verzichtbar missverstanden zu wissen. Führt man eine solche Differenzierung jedoch ein, bleibt man gewissermaßen immer in einer defensiven Position, wenn die Relevanz des Forschungsgegenstandes für die Politikwissenschaft begründet werden soll. Das Argument kann dann nur lauten, dass der „Zierrat“ eben, neben dem Bereich der „eigentlichen“ Politik, auch eine Rolle spiele. Die offene Flanke, die sich dadurch bietet, wird besonders deutlich, wenn man ein in der Politikwissenschaft nicht ohne Relevanz gebliebenes Argument betrachtet, dass das Symbolische in der Politik als bewusste Täuschung und bloße Inszenierung beschreibt, mit der politische Eliten die „eigentlichen“ und „wahren“ Entscheidungsprozesse verschleierten.3 Der Entwurf einer dazu alternativen Vorgehensweise kann nun nicht darin bestehen, die von Wolfrum explizit formulierte, aber auch in den Studien von Reichel und Frei implizit enthaltene und über den engeren Bereich der Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik hinausgehende Unterscheidung zwischen der Ebene der Herstellung und der der Darstellung von Politik gänzlich über Bord zu werfen.4 Eine Neuformulierung des Verhältnisses der beiden Ebenen von Politik scheint jedoch angeraten, um einerseits grundsätzlich die Annäherung zwischen Kultur- und Politikwissenschaft weiter vorantreiben zu können und andererseits – und dies betrifft speziell das hier im Zentrum des Interesses stehende Forschungsfeld – bisher vernachlässigte Wirkungen und Funktionen von Erinnerungen im politischen Handlungsfeld analytisch zu erfassen. Eine an dieser Stelle hilfreiche Anregung entstammt einem ganz anderen Kontext, nämlich den Untersuchungen von Barbara Stollberg-Rilinger (1997, 2001, 2004) zu politischen Verfahren in der Frühen Neuzeit. Stollberg-Rilinger 3
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Besonders einflussreich wurde diese These durch die Arbeiten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Murray Edelman (1976), der seit den ausgehenden 1950er Jahren die Bedeutung symbolischer Handlungen, öffentlicher Rituale und Aufführungen in der modernen Politik herausgearbeitet hat. Edelman trennt allerdings in seinem ideologiekritischen Ansatz die politische Entscheidungssphäre von den Aufführungspraktiken, und versteht letztere als bloßes Illusionstheater, das der Verschleierung der „eigentlichen“ Entscheidungen diene. Zur Kritik an dieser dichotomen Auffassung von Politik und Symbolik bei Edelman vgl. Dittmer (1977), Dörner (1995). Zur Einordnung und zur Wirkung des Werkes von Edelman sowie zu dessen Rezeption vgl. das Nachwort von Nullmeier (2005) in der im Campus-Verlag erschienenen Neuauflage von Politik als Ritual. Ebenso wenig soll behauptet werden, dass die Instrumentalisierung von Symbolen im politischen Handlungsraum empirisch nicht nachgewiesen werden könnte. Vielmehr möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Verschleierung der „eigentlichen“ (Entscheidungs-)Politik nicht die einzige und auch nicht die wesentliche Funktion des Symbolischen im politischen Handlungsraum ist. Den Versuch, symbolische Politik als spezifischen, instrumentalisierenden Modus von Politik zu reformulieren und in eine umfassende Theorie des Symbolischen in der Politik zu integrieren, unternimmt Göhler (2002).
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unterscheidet, diesbezüglich der in Studien zur Geschichts- und Erinnerungspolitik häufig anzutreffenden Differenzierung nicht unähnlich, im Anschluss an Luhmann zwischen „symbolisch-expressivem“ und „instrumentellem“ Handeln (u.a. Stollberg-Rilinger 2004: 497).5 Während instrumentelles Handeln einen Zweck verfolgt, stiftet symbolisches Handeln Sinn und erschöpft sich gerade deshalb nicht in der Erreichung eines bestimmten Zwecks (ebd.). Von zentraler Bedeutung ist – und in dieser Hinsicht geht Stollberg-Rilingers Unterscheidung über die in Studien zur Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik explizit formulierte beziehungsweise implizit vorhandene Dichotomie hinaus –, dass die Unterscheidung zwischen symbolisch-expressivem und instrumentellem Handeln gerade nicht auf die Klassifikation verschiedener Handlungstypen abzielt. Vielmehr enthält jede soziale und jede politische Handlung stets beide Dimensionen: „Die begriffliche Unterscheidung zwischen symbolischem und instrumentellem Handeln dient wohlgemerkt nicht der Klassifikation verschiedener Handlungen. Soziale Handlungen, von den Tischmanieren bis zum Gesetzgebungsakt, weisen vielmehr in der Regel beide Dimensionen auf, die symbolische und die instrumentelle, und es ist eine Frage der Perspektive, welche Dimension man wahrnimmt. So stellt sich beispielsweise ein politisches Entscheidungsgremium in einem anderen Licht dar, wenn man es nicht nur auf seine instrumentelle Funktion – eben die Herstellung bestimmter politischer Entscheidungen – hin untersucht, sondern auch seine symbolisch-expressiven Funktionen in Rechnung stellt – etwa die Abbildung seiner eigenen Entscheidungskompetenz, die Darstellung einer Hierarchie etc.“ (ebd.: 498)
Dass diese Gegenüberstellung bisher selten in Frage gestellt wurde, deutet auf ein über das Forschungsfeld der Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik hinausgehendes Problem hin und lässt sich mit Blick auf die Entwicklung der Kulturwissenschaften leicht erklären. Die traditionelle Politikwissenschaft wie auch die Politikgeschichte haben sich mit der Dimension des Symbolischen wenig befasst. Ihnen ging es, sehr verkürzt formuliert, um die Erforschung von Entscheidungen und deren Inhalten. Demgegenüber haben die Kulturwissenschaften ihren Schwerpunkt lange Zeit genau auf die von der Politikwissenschaft nicht bearbeitete Lücke gelegt und sich intensiv um die Erforschung der symbolischen Dimension bemüht. Die traditionellen, spezifischen Gegenstände der Politikwissenschaft und der politischen Geschichte wurden hingegen vernachlässigt. Angesichts der Beteuerungen von Seiten der Kulturwissenschaften, dass, wie dies beispielsweise Ute Daniel (2001: 8) für die Kulturgeschichte formulierte, kein Gegenstand vorstellbar sei, der nicht kulturwissenschaftlich analysierbar wäre, die Grenzen der Kulturgeschichte also „die Grenzen der Geschichtsschreibung überhaupt“ seien, muss diese Zurückhaltung der kulturwissenschaftlichen Erforschung auch traditioneller Gegenstände als Defizit erscheinen, für dessen Behebung in jüngster Zeit allerdings immer mehr Stimmen laut werden.6 5 6
An anderer Stelle spricht Stollberg-Rilinger (2001: 9) von „symbolisch-zeremoniellem“ und „technisch-instrumentellem“ Handeln. Deutlicher als in der Politikwissenschaft finden sich in der Politikgeschichte Forderungen nach einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung, die, mit Thomas Mergel gesprochen, mehr ist als eine Beschreibung von politischen Festen und Fahnen (Mergel 2002: 605). Vgl. für die Politikwissenschaft Schwelling (2001, 2004, 2005). Vgl. für die Politikgeschichte die programmatischen Plädoyers für eine Kulturgeschichte des Politischen von Mergel (2002) und
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Es finden sich, um auf das hier im Zentrum des Interesses stehende Forschungsfeld der Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik zurückzukommen, jüngst Versuche, das spezifisch Politische geschichtspolitischer Phänomene stärker zu betonen. Im Kontext ihrer Untersuchung der „politischen Geschichte“ (Leggewie/Meyer 2005: 10) des im Mai 2005 in Berlin der Öffentlichkeit übergebenen Denkmals für die ermordeten Juden Europas plädieren Claus Leggewie und Erik Meyer dafür, Geschichtspolitik analog zu anderen Politikfeldern und mit den Mitteln der klassischen Politikfeldanalyse zu untersuchen.7 Weniger als an ästhetischen Fragen der Denkmalsgestaltung und normativen Gesichtspunkten des Gedenkens sind Leggewie und Meyer an den „politischen Entscheidungen und Prozeduren“ (ebd.) interessiert, die zur Errichtung des Denkmals in seiner jetzigen Form geführt haben. An den bisherigen Studien im Forschungsfeld Geschichtsund Erinnerungspolitik kritisieren die Autoren die mangelnde „Erdung“ (ebd.), das Ausblenden der „politischen Entscheidungsprozesse, die Gedächtnisstrukturen und Erinnerungsleistungen mitbestimmen“ (ebd.): „Geschichtspolitische Initiativen erschöpfen sich […] nicht in der Inszenierung ‚symbolischer Politik‘ und politischen Bildungsveranstaltungen, sie schließen materiale Entscheidungen ein (Verwaltungshandeln und Gesetzgebung) sowie staatliche und zivilgesellschaftliche Mobilisierungskampagnen.“ (ebd.: 13)
Damit geht dieser Versuch einer Neuakzentuierung der Kategorie Geschichtspolitik insofern über bisherige Vorschläge hinaus, als geschichtspolitische Initiativen nicht nur unter symbolischen Gesichtspunkten, sondern auch in ihrer policy-Dimension untersucht werden. Die Autoren unterstreichen damit, dass Erinnerung „eingebettet ist in materiale, kollektiv verbindliche Entscheidungen, das heißt: in Prozesse der Verwaltung und Gesetzgebung, der Regulierung und Finanzierung.“ (ebd.: 18) Geschichtspolitik erfolgt dabei „in genau dem Sinne, wie Entscheidungen bezüglich der Volksgesundheit oder des Arbeitsmarktes Sozialpolitik heißen, auch wenn die symbolische Komponente dort (möglicherweise zu Unrecht!) nicht so stark hervorsticht.“ (ebd.) Folgt man dem angeführten Zitat, erhält man den Eindruck, dass Leggewie und Meyer das, was Bock und Wolfrum als „die zwei Seiten ein und derselben Medaille“ bezeichnen, in einen Ansatz zu integrieren versuchen. An anderer Stelle wird jedoch deutlich, dass diesem Konzept von Geschichtspolitik eine ähnlich di-
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Landwehr (2003) sowie die Replik von Nicklas (2003) auf Landwehr. Neben den schon angeführten, instruktiven Studien von Barbara Stollberg-Rilinger sind in diesem Zusammenhang die Beiträge von Reinhard Blänkner, insbesondere die von ihm vorgeschlagenen Kategorien „Historizität“, „Institutionalität“ und „Symbolizität“ wegweisend und weiterführend (u.a. Blänkner 2005). Hinzu kommen die Anstöße von Ute Frevert und Heinz-Gerhard Haupt zu einer „Neuen Politikgeschichte“ (vgl. Frevert 2002, Frevert/Haupt 2005). Einen weiteren gelungenen Versuch, kulturwissenschaftliche Perspektiven auf eine traditionelle politikwissenschaftliche Kategorie – das politische Ereignis – zu lenken, legt Andreas Daum mit seiner Studie zum Besuch des damaligen US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Jahr 1963 in Berlin vor. Daum gelingt es mit seiner Studie, die „lange geschmähte politische Ereignisgeschichte“ (Daum 2003: 9) methodisch und konzeptionell neu anzugehen. Dieser konzeptionelle Vorschlag wurde von Meyer (2002, 2003) ähnlich schon in früheren Arbeiten formuliert.
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chotome Vorstellung des Politischen zugrunde liegt wie den bereits vorgestellten Ansätzen. Die beiden Autoren unterscheiden zwischen zwei Varianten von Geschichtspolitik: Während die erste Version für die „politisch-instrumentelle Dimension“ steht und auf Aspekte der „Legitimation“, „Diskurshegemonie“, „Deutungshoheit“ und auf „Symbolische Politik“ abzielt und damit auf die politische Öffentlichkeit ausgerichtet ist, steht die zweite, im Zentrum der Studie stehende Variante von Geschichtspolitik für den in einem eigenständigen Politikfeld stattfindenden politisch-administrativen Prozess, der die Aspekte „Dezision“, „Implementation“, „Evaluation“ und „Integration“ mit einschließt und dessen Aufmerksamkeit sich auf die Gesamtheit der Akteure im Politikfeld Geschichtspolitik richtet (ebd.: 13). Abgesehen davon, dass die symbolische Dimension hier keinen Platz mehr findet, scheint dem Ansatz der Autoren ein eigentümlich reduziertes Verständnis von Symbolizität zugrunde zu liegen. Der in der Studie zumindest implizit deutlich werdende Symbolbegriff konzentriert sich auf die Dimension der Form, der Ästhetik und auf die Ebene des Diskurses. Folgt man dem Vorschlag von Stollberg-Rilinger sollte es aber besonders darum gehen, die symbolische Dimension nicht von der politisch-administrativen Ebene zu trennen, sondern vielmehr, um bei Leggewies und Meyers Fokus zu bleiben, sowohl die instrumentelle als auch die symbolische Dimension des politisch-administrativen Handelns in den Blick zu nehmen. So verdienstvoll der Vorstoß der Autoren sein mag, das spezifisch Politische im Feld der Geschichtspolitik deutlicher zu akzentuieren; in kulturwissenschaftlicher Perspektive greift das Konzept deshalb zu kurz, weil mit den klassischen Instrumenten der Policy-Analyse wiederum nur ein Aspekt und eine Funktion von Handlungen im politischen Prozess akzentuiert wird. Untersuchungsgegenstände in Studien zur Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik Versucht man die bestehenden Ansätze zur Untersuchung von Phänomenen der Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik in einem zweiten Durchgang hinsichtlich ihrer konkreten Untersuchungsgegenstände zu sichten, wird ein zweites Problem deutlich. Mit der Fokussierung auf Diskurse, die deutend auf Vergangenheit Bezug nehmen, auf materiale Artefakte des Erinnerns und Gedenkens wie etwa Mahnmale und Gedenkstätten unter ästhetischen sowie politischadministrativen Gesichtspunkten und auf politische Strategien, in deren Rahmen Hinterlassenschaften überwundener, diktatorischer Regime politisch-moralisch oder justiziell „bewältigt“ werden, konzentrieren sich die vorliegenden Studien auf intentionale Akte des Erinnerns und explizite Thematisierungen von Vergangenheit. Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik werden dabei – darauf wurde bereits hingewiesen – in einem eigenständigen Politikfeld verortet, in dem Vergangenheit in ästhetischen Formen und mittels pädagogischer Mittel dargestellt und über deren Bedeutung in Diskursen diskutiert wird, deren Hinterlassenschaften politisch-justiziell bewältigt oder politisch-moralisch aufgearbeitet werden und deren konkrete Form und Gestalt auch Ergebnis politisch-administrativer Prozesse ist. Die Wirkungen der Erinnerung in solchen Politikfeldern,
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deren primärer Inhalt nicht die Darstellung, Diskussion, Aufarbeitung oder Bewältigung von Vergangenheit ist, bleiben hingegen weitgehend unberücksichtigt. Werden diese nicht primär auf intentionale Formen des Erinnerns bezogenen Politikfelder in die Analyse einbezogen, erscheinen sie gewissermaßen als Phänomene zweiten Grades. Wem es gelingt, im Politikfeld Geschichtspolitik Deutungsmacht zu erlangen, der übt, so etwa Heinrich August Winkler (2004: 7), „mittelbar auch politischen Einfluß aus“. In Leggewies und Meyers bereits erwähnter Untersuchung des politisch-administrativen Prozesses, der schließlich zur Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas geführt hat, lautet die entsprechende Formel, dass Geschichtspolitik auf andere Politikfelder „durchschlage“ (Leggewie/Meyer 2005: 13). Ein Blick auf die Historiographie der Bundesrepublik, besonders auf die Behandlung der Frage nach der Rolle, die Thematisierungen von Vergangenheit gespielt haben, verdeutlicht aber, dass die Konzentration auf explizite Vergangenheitsbezüge zu einem Bild führen kann, dass sicherlich nicht falsch ist, aber eben doch nur einen unvollständigen, wenn nicht gar unzureichenden Eindruck der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse vermittelt. Die bis heute anzutreffende Formel von der Ära Adenauer als einer Zeit, in der „Verdrängen vor Verarbeiten und Vergessen vor Verantwortung“ (Bergem 2003: 81) stand, geht auf eine Forschungsrichtung zurück, die lange Zeit danach fragte, was gemessen am normativen Maßstab einer als gelungen einzustufenden „Aufarbeitung“ von Vergangenheit hätte erinnert werden müssen und eben nicht erinnert wurde.8 Der breite Konsens über die Auffassung, in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten sei die nationalsozialistische Vergangenheit weitgehend verdrängt und tabuisiert worden, konnte jedoch mittlerweile modifiziert werden, indem verstärkt seit Mitte der 1990er Jahre die Frage an die ersten Nachkriegsjahrzehnte leicht, aber nicht unwesentlich verändert wurde: Gefragt wurde nun nicht mehr danach, was erinnert hätte werden müssen, sondern was tatsächlich erinnert wurde. Robert Moeller (1996, 2000, 2001a, 2001b, 2001c), Jonathan Wiesen (1996), Elizabeth Heineman (1996), um nur einige der Autorinnen und Autoren zu nennen, deren Arbeiten in diesem Zusammenhang relevant sind, gelangten in ihren Studien zu dem Ergebnis, dass bereits die 1950er Jahre, was die Thematisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit angeht, sehr viel ereignisreicher und ambivalenter waren als dies die Rede vom Beschweigen und von der Verdrängung nahe legt. Wie Robert Moeller schreibt, bedeutete „the apparent failure of West Germans to pay the high psychic costs demanded by the Mitscherlichs“ nicht, „that they [the West Germans] fled headlong from the past or suffered from collective amnesia. There were many accounts of Germany’s ‚most recent history‘ that circulated in the 1950s“ (Moeller 1996: 112f.). Und er folgert: „remembering selectively was not the same as forgetting“ (ebd.: 113). Moeller kann zeigen, dass die Erinnerung an die Zeit zwischen 1933 und 1945 in den 1950er Jahren allgegenwärtig war. Es wurde erinnert, und dies geschah auf eine sehr selektive Weise. Im Mittelpunkt
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Vgl. dazu auch Frei (1996: 7-13), der die in diesem Zusammenhang relevante Literatur aufführt und diskutiert.
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der Erinnerungslandschaft standen die „deutschen Opfer“, insbesondere die Vertriebenen und die zum Teil bis 1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgehaltenen ehemaligen Soldaten der Wehrmacht. Die „Opfer der Deutschen“ hingegen fanden in den 1950er Jahren nur sehr selten Erwähnung.9 Der Ertrag dieser Herangehensweise ist darin zu sehen, dass auf diesem Weg ein sehr viel differenzierteres Bild der frühen Nachkriegszeit gezeichnet werden kann. Allerdings verbleiben auch diese Studien im Hinblick auf ihre Untersuchungsgegenstände noch weitgehend im Bereich der intentionalen Erinnerung und der expliziten Bezugnahme auf Vergangenheit. Es finden sich jedoch inzwischen einige neuere Ansätze, die sich zum Ziel gesetzt haben, diesen im Vergleich zu den erstgenannten Ansätzen bereits erweiterten Zugang um einen weiteren Aspekt zu bereichern. Alon Confino (2000), einer der in diesem Zusammenhang produktivsten und anregendsten Autoren, fragt nach den „Spuren“, die der Nationalsozialismus nach 1945 in einem auf den ersten Blick erinnerungsfreien Feld, nämlich dem Tourismus, hinterlassen hat. Confino interessiert sich zum einen für die in der Bundesrepublik sehr bald nach Beendigung des Krieges wiedereinsetzenden Bemühungen der Tourismusverbände, die Bundesrepublik als Reiseziel attraktiv zu machen, zum anderen für das Reisen als soziale und symbolische Praxis. Tourismus wird auf diese Weise unter dem Fokus einer „Kultur der Erinnerung“ (culture of remembrance) (ebd.: 92) in den Blick genommen, die Hinweise auf die „postwar values and beliefs concerning National Socialism“ (ebd.) enthält. Die Studien, die Confino vorgelegt hat (vgl. auch Confino/Koshar 2001; Confino/Fritzsche 2002), sind vor allem deshalb von Interesse, weil sie immer auch ein theoretisches Argument enthalten, das zwar nicht explizit auf den Zusammenhang von Politik, Erinnerung und Gedächtnis abzielt, aber auch auf diesen spezifischen Bereich übertragen werden kann. Sein Vorschlag in diesem Zusammenhang lautet, Gedächtnis und Erinnerung erstens dort aufzusuchen, wo es zunächst gerade nicht nahe zu liegen scheint, und, zweitens, den Fokus auf die sozialen und kulturellen Praktiken, also auf die Ebene der Handlungen zu lenken: „We should not look for traces of National Socialism only in artifacts and practices created intentionally to represent it, for this leads to a certain predictability. And we should not look for the memory of the Third Reich only in the visible sources, in social and political meeting points where memory is explicit and its meaning palpably manipulable. Rather, since some views about Nazism could not be made public, we should look for their expression in social practices and representations where they were not directly discernible but fairly unexpected. These kinds of sources, practices and representations may ultimately reveal more about attitudes and beliefs. “ (Confino 2000: 100)
Dabei geht es Confino nicht ausschließlich um die Frage, wie Spuren der Vergangenheit in sozialen Handlungen repräsentiert werden und Ausdruck finden. Eine hinsichtlich des im folgenden Abschnitt vorzustellenden akteurs- und handlungsbezogenen Zugangs zum Zusammenhang von Politik, Gedächtnis und Erinnerung wichtige Ergänzung des Aspekts der Repräsentation und des Ausdrucks von Vergangenheit in sozialen Handlungen liegt in der Frage, „how memory forms social 9
Die Unterscheidung zwischen „deutschen Opfern“ und „Opfern der Deutschen“ findet sich bei Moeller (u.a. 2001c).
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relations“ (Confino/Fritzsche 2002: 5). Um sich dieser Frage annähern zu können, so Confino und Fritzsche im Weiteren, sei es wichtig, „to understand the practical uses of the category ‚memory‘, the way it comes to structure perceptions, to inform thought, to construct identities, to determine policies, and to explain situations“ (ebd.). Betrachtet man diese hier nur sehr verkürzt beschriebene Entwicklung der Historiographie über die vielfältigen nach 1945 auffindbaren Spuren der nationalsozialistischen Diktatur unter erinnerungstheoretischen Gesichtspunkten, wird eine sukzessive Erweiterung der Perspektive deutlich: Während es zunächst darum ging, die Nachkriegszeit in den Begriffen Aufarbeitung versus Verdrängung zu beschreiben, wurde der Fokus seit den 1990er Jahren ausgeweitet auf die Frage, was nach 1945 genau erinnert wurde. Schließlich geht es in den neueren Ansätzen darum, die Spuren der Vergangenheit nicht nur in den offensichtlich erinnerungskodierten Feldern der Kommemoration, der NS-Prozesse, der Debatten um Deutungen von Teilaspekten des nationalsozialistischen Regimes oder in explizit auf die Zeit des Nationalsozialismus Bezug nehmenden kulturellen Artefakten wie etwa Memoiren, Filmen oder der Literatur aufzusuchen, sondern nach Spuren der Erinnerung und des Gedächtnisses auch in solchen Bereichen zu suchen, die nicht, zumindest nicht auf den ersten Blick, mit Gedenken, Mahnen oder insgesamt den Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu tun haben. Ein neuerer Trend der zeitgeschichtlichen Forschung sucht die Spuren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in der Nachkriegszeit demnach nicht mehr nur in Gegenständen, die offensichtlich mit dieser Vergangenheit beziehungsweise deren Bewältigung oder Kommemoration verbunden sind. Vielmehr sind die Arenen, in denen nach Spuren des Vergangenen gesucht wird, vielfältiger geworden; einbezogen werden inzwischen auch Felder, die zunächst wenig nahe liegend erscheinen. Diese Vorschläge zu neuen Wegen in der Erforschung der Nachwirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf die betroffenen Nachkriegsgesellschaften zielen nicht explizit auf den Zusammenhang von Gedächtnis und Politik ab. Dass aber die Betrachtung des politischen Handlungsfeldes unter dem Fokus des Gedächtnisses, der Erinnerung und der Vergangenheitsbezüge fruchtbar sein kann, zeigen einige neuere Studien, die die Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit jenseits intentionaler Erinnerungsakte hervorheben, indem sie, vielleicht nicht zufällig, die deutsche Außenpolitik nach der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges in den Blick nehmen. In die Auseinandersetzung über die ersten out-of-area-Einsätze der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien brachten die politischen Akteure die nationalsozialistische Vergangenheit als Argument in die Debatte ein, um damit, je nach politischer Position und nach Zeitpunkt, den Einsatz der Bundeswehr zu legitimieren oder um sich gegen einen solchen auszusprechen (vgl. Jeismann 2001; Schwab-Trapp 2002, 2003). Während mit der auf die Zeit des Nationalsozialismus Bezug nehmenden Formel „Nie wieder Krieg“ zunächst die militärische Selbstbeschränkung der Bundesrepublik in ihrer Geltung bestätigt wurde, brach dieser Konsens seit den Ereignissen von Srebenica im Jahr 1995 nach und nach auf, und der argumentati-
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ve Status der deutschen Vergangenheit änderte sich innerhalb weniger Wochen. Nun wurden mit der Formel „Nie wieder Auschwitz“ Argumente für die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg laut. Innerhalb kürzester Zeit habe sich, so Michael Schwab-Trapp (2003: 175), „die deutsche politische Kultur des Krieges“ verändert. Der Diskurs um die Legitimität militärischer Einsätze der Bundeswehr blieb jedoch durchweg geprägt vom Gebrauch der nationalsozialistischen Vergangenheit als politisches Argument. Allerdings verzichten diese Arbeiten entweder weitestgehend auf eine systematisch-theoretische Einordnung ihres Arguments (Jeismann 2001) oder sie verorten, wie Schwab-Trapp, ihren Ansatz jenseits des geschichts-, erinnerungs- und vergangenheitspolitischen Forschungsfeldes.10 Hier interessierende Hinweise systematisch-theoretischer Art lassen sich daraus deshalb nicht gewinnen, wenn auch grundsätzlich überzeugend gezeigt werden kann, dass Vergangenheitsbezüge in Politikfeldern jenseits intentionaler Erinnerungsformen Relevanz entfalten können. POLITISCHE ERINNERUNG: ELEMENTE EINER AKTEURS- UND HANDLUNGSBEZOGENEN PERSPEKTIVE AUF DEN ZUSAMMENHANG VON GEDÄCHTNIS, POLITISCHEM SELBSTVERSTÄNDNIS UND POLITISCHER LEGITIMITÄT Wie kann eine Forschungsstrategie aussehen, die über die vorgestellten Konzepte von Erinnerungs-, Geschichts- und Vergangenheitspolitik hinausführt und zur Weiterentwicklung des Verständnisses von Erinnerungen und deren politischem Gebrauch beiträgt? Die bisherige Forschung in diesem Bereich kann beträchtlich erweitert werden, wenn erstens ein Verständnis des Politischen zugrunde gelegt wird, das über die Dichotomie von symbolischem Handeln und symbolischen Formen auf der einen und instrumentellem Handeln auf der anderen Seite hinaus weist. Dazu wird es notwendig sein, die bisher getrennt behandelten Ebenen der Herstellung von Politik in praktisch-politischen Maßnahmen und der Darstellung der Inhalte in symbolischen Formen auf eine Weise zusammenzuführen, die über die bloße Addition der beiden Ebenen hinausgeht: In symbolischen Formen wird „eigentliche“ Politik nicht nur dargestellt, sondern sie sind selbst als elementare Formen des Politischen zu verstehen. Umgekehrt dienen praktisch-politische Maßnahmen der Politik nicht nur der Herbeiführung allgemein verbindlicher Entscheidungen, sondern sie enthalten darüber hinaus immer auch Sinn. Zweitens ist es für ein erweitertes Verständnis des Zusammenhangs von Gedächtnis und Politik notwendig, Phänomene der Repräsentation von Vergangenem nicht ausschließlich in einem eigenständigen Politikfeld zu verorten und damit in ihren nahe liegenden Formen aufzusuchen, sondern ebenso nach der Wirkung von Vergangenheit, Erinnerung und Gedächtnis in auf den ersten Blick „erinnerungs10 Schwab-Trapps methodisch-theoretisches Anliegen lässt sich im Bereich der Diskursanalyse verorten.
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fernen“ Politikfeldern zu fragen. Mit einer solchen Forschungsstrategie kann gezeigt werden, dass der Zusammenhang von Erinnerungen und Politik jenseits von Politikfeldern relevant ist, in denen Vergangenheit symbolisiert, diskutiert, bewältigt oder aufgearbeitet wird. Zudem ist damit die Absicht verbunden, den bisher wenig beachteten, vielfältigen Verschränkungen von expliziten Vergangenheitsbezügen und nicht-intentionalen Formen des Erinnerns auf die Spur zu kommen. Diese erweiterte Perspektive auf den Zusammenhang von Erinnerungen und Politik erfordert eine von den bisherigen Studien in diesem Feld abweichende Forschungsstrategie, die es ermöglicht, dem Gedächtnis in all jene Politikfelder zu folgen, in denen es Wirkung entfaltet. Ich werde im Folgenden einen Vorschlag formulieren, der im Gegensatz zu bisherigen Ansätzen nicht bei einzelnen Formen des Gedenkens, ausgewählten Diskursen über die Bedeutung vergangener Ereignisse und Epochen, oder bei Maßnahmen der Vergangenheitspolitik und -bewältigung ansetzt, sondern den Ausgangspunkt bei politischen Akteuren wählt, die deutend auf Vergangenheit Bezug nehmen und diese Deutungen wiederum handelnd in den politischen Prozess einbringen. Ich denke dabei an empirische Phänomene, in deren Zusammenhang Erinnerungen den Akteuren zugleich Antrieb und Maßstab ihres Handelns sind. Dazu bedarf es erstens der Formulierung eines Verständnisses von Politik, das für kulturwissenschaftliche Lesarten anschlussfähig ist. Zweitens wird die Formulierung einer Definition von Gedächtnis und Erinnerung notwendig, die umgekehrt die Spezifika des Politischen berücksichtigt und Anschluss an den Bereich der Politik gewährt. Benötigt werden demnach Definitionen und Kategorien, die gegenseitig anschlussfähig sind, damit auf integrierende, den interdisziplinären Austausch ermöglichende Forschungsfragen abzielen, jedoch gleichzeitig das spezifisch Politische nicht aus dem Blick verlieren. Es geht also um die Formulierung von, in den Worten der niederländischen Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal (2002), travelling concepts, die auf Wanderschaft geschickt werden, zwischen den Disziplinen hin- und herreisen, dabei den Erfordernissen und spezifischen Gegenständen der jeweiligen Disziplin angepasst und reformuliert zurückgeschickt werden. Ausgangspunkt: Akteure im politischen Handlungsfeld Dem Vorschlag, als Ausgangspunkt von Studien zum Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Politik Akteure im politischen Handlungsfeld zu wählen, muss eine Warnung vorausgeschickt werden, was die unmittelbaren Erfolgsaussichten dieser Vorgehensweise angeht. Während Studien zur Erinnerungs-, Geschichts- und Vergangenheitspolitik, die bei einzelnen Denk- oder Mahnmalen oder Diskursen ansetzen, der Erfolg des Unternehmens sozusagen garantiert ist, lässt sich dies für den hier vorgetragenen Vorschlag nicht a priori behaupten. In pluralistischen Gesellschaften wird es um die Ausgestaltung von Gedenkorten immer Auseinandersetzungen geben, in nicht-pluralistischen Gesellschaften interessiert genau die Kehrseite der Medaille – die Hegemonie des Gedenkens und die Unterdrückung der Diskurse. Auf Schlüsselereignisse der Geschichte wird, insbesondere an Jahrestagen, immer Bezug genommen werden – wenn nicht, ist die
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Frage von Interesse, warum eine solche Bezugnahme ausgeblieben ist.11 Der Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass mit einem Ergebnis gerechnet werden kann – es wird immer Akteure geben, die auf wichtige, zurückliegende Ereignisse in der Öffentlichkeit diskursiv oder mit anderen Mitteln Bezug nehmen, und wenn nicht, kann eine auffällig fehlende Thematisierung schließlich auch ein wichtiger Ertrag der Forschung sein. Wählt man als Ausgangspunkt der Forschung Akteure im politischen Handlungsfeld, ist diese Erfolgsgarantie nicht ohne Weiteres gegeben. Schließlich wird im politischen Prozess nicht permanent auf Vergangenes Bezug genommen. Die Gefahr, bei dieser Vorgehensweise gleichsam im Nebel zu stochern, kann allerdings verringert werden, wenn die Aufmerksamkeit auf Zeiten, Phasen oder Epochen gelenkt wird, die für die Bezugnahme auf Vergangenes deshalb prädestiniert sind, weil in ihnen grundlegende politische oder gesellschaftliche Wandlungsprozesse stattfinden, die wiederum ein verstärktes Bedürfnis nach Orientierung aufkommen lassen. Die auf den Zweiten Weltkrieg und den Untergang des „Dritten Reiches“ folgende Phase war sicherlich eine solche Zeit, nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa, die USA und den pazifischen Raum. Der Zweite Weltkrieg hinterließ Gesellschaften mit stark fragmentierten Erfahrungen, die zur Grundlage für eine Vielzahl divergierender Erzählungen über die Zeit des Krieges wurden, die zum Teil bis heute nachwirken. Auf Nachkriegsdeutschland bezogen hat Elizabeth Heineman diese Situation als „offenes Spielfeld“ – „something of an open playing field“ (Heineman 1996: 356) – charakterisiert, „a discursive space in which people developed diverse narratives of German experience that competed for a role in shaping a new national identity. Refugees and evacuees from the eastern portions of the old Reich, Christians, those who had been adversely affected by denazification, those who felt themselves to be victims of communism, veterans, former prisoners of war, women – all offered histories that claimed simultaneously to explain their unique situations and to represent, in some way, an experience that was characteristically German.“ (ebd.: 356f.)
Greift man als ein Beispiel mit dem Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen e.V. (VdH) einen der kollektiven Akteure aus der in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik entstehenden facettenreichen Verbandsund Organisationslandschaft heraus, mit der eine ebenso facettenreiche Erinnerungslandschaft verknüpft war, wird deutlich, worin der Ertrag eines akteurs- und handlungszentrierten Zugangs zum Zusammenhang von Politik, Gedächtnis und Erinnerung liegen kann. Dieser am 18. März 1950 gegründete Interessenverband ehemaliger Kriegsgefangener betrieb Vergangenheitspolitik im Sinne von Frei, indem er die Interessen seiner Mitglieder im Zusammenhang mit der unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik verhandelten Vorsorgungs- und Entschädigungsgesetzgebung in den politischen Prozess einbrachte. Im Zusammenhang mit dem VdH lässt sich aber auch von Erinnerungspolitik im Sinne von Reichel spre11 Die Wahl von Schlüsselereignissen der Geschichte als Ausgangspunkt von geschichtspolitischen Untersuchungen ist ein besonders auffälliges Merkmal des von Winkler (2004) herausgegebenen Sammelbandes.
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chen, da der Verband unter anderem rund 2.000 Mahnmale zum Gedenken an die noch in Kriegsgefangenschaft befindlichen ehemaligen Wehrmachtssoldaten errichtete, zwischen Anfang und Mitte der 1950er Jahre aufwändig inszenierte „Kriegsgefangenengedenkwochen“ veranstaltete und eine Wanderausstellung zum Thema Kriegsgefangenschaft initiierte, die zwischen 1951 und Mitte der 1960er Jahre in über 150 Städten der Bundesrepublik, teilweise auch im Ausland, zu sehen war und hohe Besucherzahlen erreichte. Auch Geschichtspolitik im Verständnis von Wolfrum wird im Zusammenhang mit dem VdH relevant, da sich der Verband seit 1955, als die Kriegsgefangenenproblematik zunehmend als erledigt gelten konnte, verstärkt an der Gestaltung des 17. Juni, dem Tag der deutschen Einheit beteiligte. Schließlich hat der Verband aber auch auf vielfältige Weise Vergangenheitsbezüge in solche Politikfelder eingebracht, die nicht explizit der Vergegenwärtigung des Vergangenen dienten. Europapolitik, Deutschlandpolitik und Bildungspolitik sind nur einige der Politikfelder, in denen der Verband sein spezifisches Gedächtnis – eine kanonisierte Version der jüngsten Vergangenheit, in der Erfahrungen und die korrespondierenden Erzählungen in Erinnerung transformiert wurde – als Argument gebrauchte.12 Einer über die bisherigen Ansätze im Forschungsfeld Erinnerungs-, Geschichts- und Vergangenheitspolitik hinausgehenden Vorgehensweise wird es nicht nur darum gehen, dem bisher vernachlässigten Aspekt der nicht-intentionalen Vergangenheitsbezüge nachzugehen, sondern die vielfältigen Verweisungen und Zusammenhänge, wie sie anhand des kurz angerissenen Beispieles des VdH verdeutlicht werden sollten, aufzudecken, um auf diesem Weg zu einem umfassenderen Verständnis des Funktionierens von Gedächtnis und Erinnerung im politischen Handlungsfeld zu gelangen. Politik aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, zielt eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Politische nicht auf Teilaspekte, sondern auf das Ganze der Politik. Die Pointe der Kulturwissenschaften besteht gerade nicht darin, „Kultur“ als denjenigen Ausschnitt der Wirklichkeit zu betrachten, in dem Fahnen geschwungen, Rituale vollzogen, Zeremonien abgehalten und Denkmäler errichtet werden. Vielmehr geht es dabei um eine spezifische Perspektive auf den jeweils interessierenden Gegenstand, die ihren Schwerpunkt auf „Bedeutungen, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen der zeitgenössischen Menschen“ (Daniel 2001: 17) richtet. Was „Sinn macht“ variiert nicht nur im historischen Verlauf, sondern muss empirisch jeweils neu eruiert werden. Kultur ist kein Substanzbegriff, und ebenso wenig kennen die Kulturwissenschaften andere essentialistische Definitionen. Dies gilt auch für die möglichen Definitionen von Politik, die man für eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Politische formulieren und nutzbar machen kann. In Hannah Arendts Werk 12 Die vielfältigen Aktivitäten des VdH können hier nur sehr verkürzt dargestellt werden. Vgl. dazu ausführlich Schwelling (2007).
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findet sich ein Begriff von Politik, der diesen Voraussetzungen genügt.13 Politik in ihrem Verständnis beruht „auf der Pluralität der Menschen“ (Arendt 2002: 15) und handelt „vom Zusammen- und Miteinander-sein der Verschiedenen“ (ebd.: 16; Hervorhebung im Original). Arendt zufolge existiert keine „eigentlich politische Substanz“ (ebd.: 17). Vielmehr entsteht Politik immer aufs Neue zwischen den Menschen und sie etabliert sich als „Bezug“ (ebd.). Arendts Politikverständnis unterscheidet sich damit grundlegend von technizistischen und dezisionistischen Politikbegriffen. Die Aufgabe der Politikwissenschaft, die sich aus Arendts Verständnis ableiten lässt, lautet, die „Zwischenräume“ in denen Politik entsteht, jeweils neu aufzusuchen. Nicht alle zwischenmenschlichen Handlungen sind jedoch politisch. Sie sind es nach Arendt nur dann, sofern sie die „res publica“, die „öffentlichen Angelegenheiten“ (ebd.: 26) betreffen. Diese öffentlichen Angelegenheiten lassen sich allerdings nicht unabhängig von konkreten Epochen und Kontexten definieren. Es existiert schlichtweg keine allgemeine, überzeitliche Definition des Politischen. Vielmehr sind ihre Grenzen historisch variabel und die Definitionen dessen, was Politik jeweils bedeutet und einschließt, sind zeitgebunden. Der Raum der öffentlichen Angelegenheiten sowie die am politischen Prozess beteiligten Akteure müssen im Forschungsprozess immer wieder aufs Neue bestimmt werden. Allerdings lässt sich der spezifisch kulturwissenschaftliche Blick auf das Politische, der, wie bereits ausgeführt wurde, nicht in einer Realitätsdoppelung von symbolischer Politik auf der einen und instrumenteller Politik auf der anderen Seite aufgeht, anhand von zwei Grundfunktionen des Handlungsraumes Politik – der Steuerung und der Integration – und ihren entsprechenden Leistungen – Ordnung und Orientierung – näher eingrenzen.14 Steuerung meint „alle Formen der zweckbestimmten Regulierung von Handlungsoptionen in einer politischen Einheit“ (Göhler 2002: 38), wobei Regulierung positiv durch Anreize und negativ durch Sanktionen erfolgen kann. Damit ist die Ordnungsleistung jeder Politik benannt. Integration erfolgt durch die symbolische Darstellung von Sinn. Sie gewährleistet, sofern sie gelingt, die Identifikation der Mitglieder der jeweiligen politischen Grundeinheit (Gemeinwesen, Verband et cetera) und bietet Orientierung. Das Vermessen des politischen Raumes anhand dieser beiden Grundfunktionen und ihrer entsprechenden Leistungen stellt sicher, dass politische Handlungen immer in ihren beiden Dimensionen – der Herstellung und der Darstellung – Berücksichtigung finden und zudem das Symbolische gerade nicht auf das Expressive reduziert wird.
13 Den Hinweis auf die entsprechenden Passagen des Denktagebuchs verdanke ich Reinhard Blänkner (vgl. dazu auch Blänkner 2005). Arendt führt diese Thematik an späterer Stelle, in Vita Activa, ausführlicher aus. Die entsprechende Passage findet sich wiederabgedruckt in den unter dem Titel Was ist Politik? herausgegebenen Fragmenten aus Arendts Nachlass (Arendt 2003: 9ff.). 14 Ich beziehe mich bei diesen Kategorien vor allem auf die Arbeiten von Göhler (2002), der innerhalb seiner Theorie politischer Institutionen einen Begriff von Symbolizität zu profilieren sucht, der die konstitutive Funktion des Symbolischen für politische Gemeinwesen und dessen Integrationsleistung hervorhebt.
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Mit Arendts Betonung der Entstehung von Politik in dem „Zwischen-den-Menschen“ (Arendt 2002: 17) ist ein zweites Argument verbunden, das sich für eine kulturwissenschaftlichen Perspektive auf Politik nutzen lässt und bei dem der hier vorgeschlagene Zugang zum Zusammenhang von Politik, Gedächtnis und Erinnerung seinen Ausgangspunkt nimmt. Arendt legt den Schwerpunkt in ihrer Definition des Politischen auf Akteure, die Politik durch ihr gemeinsames Handeln kommunikativ herstellen und das Politische dadurch erst entstehen lassen. An diese für konstruktivistische Perspektiven anschlussfähige Definition von Politik lässt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Erinnerung und Politik auf spezifische Weise einpassen. Die grundlegende Frage lautet dabei, wie Erinnerung in diesen Prozess der Entstehung des politischen Raumes mit seiner Ordnungs- und Orientierungsleistung eingreift und von Akteuren in Anschlag gebracht und genutzt wird, welche Wirkung also Erinnerungen auf die die öffentlichen Angelegenheiten betreffenden, gesamtgesellschaftlich relevanten Entscheidungen entfalten. Gedächtnis und Erinnerung im politischen Prozess Einem auf politische Akteure und deren Handlungen im politischen Raum ausgerichteter Begriff von Politik sollte eine Auffassung von Gedächtnis und Erinnerung zur Seite gestellt werden, die sich darin einpassen lässt, also ebenso wie der Politikbegriff akteurs- wie handlungstheoretisch ausformuliert und vor allem auf die Spezifika des politischen Handlungsfeldes ausgerichtet ist. Eine entsprechende Definition des Gedächtnisses und der Erinnerung sollte also die Kernprobleme des politischen Handlungsfeldes berücksichtigen und diese einbeziehen. Hier führen die von Jan und Aleida Assmann eingebrachten Kategorien des Gedächtnisses weiter. Ein Teilaspekt ihrer Forschungen zum kommunikativen, kollektiven und kulturellen Gedächtnis widmet sich dem Zusammenhang von Gedächtnis,15 kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung. Für einen politikwissenschaftlichen Zugang zum Gedächtnis werden dabei vor allem folgende Aspekte relevant: Erstens lassen sich wichtige Hinweise darüber, auf welcher Ebene der Zusammenhang von Gedächtnis und Politik am ehesten zu erwarten ist, aus der Unterscheidung zwischen kommunikativem, kollektivem und kulturellem Gedächtnis entnehmen, die Aleida Assmann (1999b: 35ff.) vornimmt. Das kommunikative Gedächtnis als Gedächtnis der Individuen – Assmann spricht auch vom „Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“ (ebd.: 37) – ist ein Generationengedächtnis, das mit seinen Trägern vergeht und „in einem Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen“ (ebd.: 36) 15 Gedächtnis wird dabei verstanden im Sinne eines „spezifischen Vergangenheitsbezugs“ (A. Assmann 2002: 42), der entsteht durch „jene partiellen Ausleuchtungen von Vergangenheit, wie sie Individuen oder eine Gruppe zur Konstruktion von Sinn, zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur Motivierung ihres Handelns brauchen“ (Assmann 1999a: 408).
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entsteht. Politisch relevant wird dieses Gedächtnis erst, wenn gewisse Vorkehrungen für seine Bestandserhaltung über die natürlichen Zeitgrenzen seines Verfalls hinweg getroffen werden. In einem solchen Fall der Institutionalisierung entsteht das kollektive Gedächtnis, das Assmann als eminent politisches Gedächtnis beschreibt. Es entsteht „in Verbindung mit der Entstehung eines politischen Kollektivs, einer Solidargemeinschaft“ (ebd.: 41), ist außengesteuert und zeichnet sich durch eine „starke Vereinheitlichung“, durch „inhaltlichen Minimalismus“ und „symbolischen Reduktionismus“ (ebd.: 42) aus. Das kollektive Gedächtnis ist deshalb ein politisches Gedächtnis, weil „aus der Stabilisierung einer bestimmten Erinnerung eine eindeutige Handlungsorientierung für die Zukunft resultiert“ (ebd.). Das kulturelle Gedächtnis ist als eine weitere Steigerungsform zu verstehen, die auch als Ergebnis der Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Gruppen mit ihrem jeweiligen kollektiven Gedächtnis verstanden werden kann. Während das kommunikative Gedächtnis auf der Mikro-Ebene der Individuen anzusiedeln wäre, lässt sich das kollektive Gedächtnis auf der intermediären Ebene verorten, auf der, zumindest in pluralistischen Gesellschaften, kollektive politische Akteure wie etwa Verbände, soziale Bewegungen oder andere Gruppen und Organisationen den Individuen die Teilhabe am politischen Prozess ermöglichen. Entsprechend wäre der Ort des kulturellen Gedächtnisses die Makro-Ebene. Das kulturelle Gedächtnis ist ein Langzeitgedächtnis, das die Ergebnisse der auf der Meso-Ebene stattfindenden Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen kollektiven Gedächtnissen in einem komplexen Überlieferungsbestand sichert. Der politische Zündstoff, so könnte man im Anschluss an Assmann formulieren, findet sich also auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses. Während das kulturelle Gedächtnis häufig die Rolle des nicht aktualisierten, vornehmlich aufbewahrenden Speichergedächtnisses einnimmt, ist das politisierte, kollektive Gedächtnis immer ein aktualisiertes Funktionsgedächtnis, dessen „vordringlichstes Anliegen“ (Assmann 1999a: 138) Legitimation ist. Legitimität bezeichnet zweitens denjenigen Aspekt, der für politikwissenschaftliche Untersuchungen des Gedächtnisses von besonderem Interesse ist.16 Dabei wird die Frage nach Legitimität auf verschiedenen Ebenen relevant. Zum einen dienen Vergangenheitsbezüge als Legitimitätsressource bei der Etablierung und Stabilisierung von politischen Gemeinschaften und im Zusammenhang mit der Profilierung kollektiver Identitäten. Hier lässt sich neben den Arbeiten von Jan und Aleida Assmann auch an institutionentheoretische Überlegungen anschließen. Institutionentheoretisch lassen sich politische Gemeinschaften als kollektive Akteure verstehen, die eigene Bilder des Selbst und der Welt hervorbringen, einen „Denkstil“ (Douglas 1991: 60ff.) und eine „Leitidee“ (Lepsius 1995) besitzen, „bewußtseinsfähig“ sind (Schluchter 1992) und von daher über eine „kollektive Identität“ verfügen. Darüber hinaus – darauf hat Jan Assmann (1992: 132) hingewiesen – besitzen soziale Gruppen ein Gedächtnis: „Gruppen stützen typischerweise […] das Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart auf Ereignisse in der Ver16 Vgl. dazu auch Kohlstruck (2004), der auf anderem argumentativem Weg zu dem Schluss kommt, dass „die Verbindung von Erinnerung und Legitimität“ (ebd.: 177) im Zentrum des politikwissenschaftlichen Interesses am Gedächtnis steht.
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gangenheit.“ Zu jedem Kollektiv gehöre, so Assmann weiter, „mehr oder weniger explizit, mehr oder weniger zentral“ die Frage: „Was dürfen wir nicht vergessen?“ (ebd.: 30). Wenn diese Frage zentral wird, wenn also soziale und politische Kollektive einen starken Bezug zur Vergangenheit aufweisen und ihre Identität im Wesentlichen über den Bezug zur Vergangenheit bestimmen, spricht Assmann im Anschluss an Nora von „Erinnerungsgemeinschaften“ (ebd.). Geht es einerseits also um die Frage, wie politische Akteure auf Vergangenheitsbezüge zurückgreifen, um die Gemeinschaft mit Legitimität auszustatten und sie dadurch zu stabilisieren und auf Dauer zu stellen, ist andererseits die Frage relevant, wie Erinnerung als Argument in der Interaktion zwischen verschiedenen politischen Akteuren eingesetzt wird. Auf dieser Ebene versuchen Akteure ihre politischen Interessen gerade dadurch zu legitimieren, dass sie diesen Vergangenheitsbezüge an die Seite stellen, Interessen also durch Verweise auf Vergangenes begründen. Dieser Gebrauch von Erinnerungen durch Akteure führt zu einem weiteren, im hier verhandelten Zusammenhang relevanten Effekt. Erinnerungen erhalten gerade dadurch Struktur und werden auf Dauer gestellt, indem sich kollektive Akteure ihrer bedienen, sich also ein Gedächtnis machen. Sobald Vorkehrungen zum Erhalt dieses Gedächtnisses getroffen werden, haben kollektive Akteure auch ein solches. Die von Mary Douglas (2001) gestellte Frage, „wie Institutionen denken“, lässt sich vor diesem Hintergrund reformulieren als Frage, unter welchen Bedingungen, aus welchen Gründen und mit welchem Effekt sich kollektive Akteure ein Gedächtnis machen und wann, warum und in welchen Formen sie im politischen Prozess zur Legitimierung ihrer Interessen auf Erinnerungen zurückgreifen. SCHLUSSFOLGERUNGEN Ich möchte zum Schluss auf den Ausgangspunkt meiner Ausführungen und damit auf die dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegende Frage nach dem Erklärungspotential verschiedener theoretischer Ansätze hinsichtlich geschichtspolitischer Phänomene zurückkommen. Welchen Beitrag kann die hier vorgeschlagene akteurs- und handlungsbezogene Perspektive zur Erforschung des Zusammenhangs von Gedächtnis, Erinnerung und Politik leisten? Der besondere Ertrag einer solchen Vorgehensweise ist darin zu sehen, dass sie ein umfassenderes Verständnis des Funktionierens von Gedächtnis und Erinnerung im politischen Handlungsfeld ermöglicht, als dies bisherige Ansätze zu leisten vermögen. Während Ansätze der Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik auf jeweils einzelne Aspekte des Verhältnisses von Gedächtnis und Politik fokussiert bleiben, ermöglicht der hier vorgeschlagene Ansatz einen Zugang, der alle drei Bereiche in den Blick nimmt und daher auch zu Aussagen über die Wechselbeziehungen und die Zusammenhänge zwischen Geschichts-, Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik gelangen kann. Darüber hinaus gelingt es mit der vorgeschlagenen Perspektive, den Blick auf den bisher weitgehend vernachlässigten Aspekt der Wirkung nicht-intentionaler Vergangenheitsbezüge zu lenken.
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Das von Bal stammende Bild der travelling concepts legt nahe, dass ein interdisziplinärer Prozess nicht nur in eine Richtung gedacht werden sollte. Bal denkt vielmehr an einen Dialog, der entsteht, wenn Begriffe und Konzepte auf Wanderschaft geschickt werden. Ein solcher kulturwissenschaftlicher Dialog zielt nun gerade nicht darauf ab, die Grenzen zwischen den Disziplinen zu negieren oder aufzuheben. Der besondere Reiz besteht in den jeweils besonderen, auf die Spezifika der Disziplinen zugeschnittenen Aneignungsformen der jeweils zur Verhandlung stehenden Problematik. Von daher sind es immer mehrere Perspektiven, die bei der Frage nach dem möglichen Ertrag eines kulturwissenschaftlichen Dialogs berücksichtigt werden sollten. Worin könnte demnach einerseits der spezifisch politikwissenschaftliche Beitrag zum Forschungsfeld Gedächtnis und Erinnerung liegen und inwiefern könnten andere, an Fragen des Gedächtnisses interessierte Disziplinen von einer politikwissenschaftlichen Aneignung dieses Themas profitieren? Welche Anregungen sind andererseits für die politikwissenschaftliche Forschung zu erwarten, wenn sie sich auf das kulturwissenschaftliche Spiel einlässt? Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten akteurs- und handlungszentrierten Perspektive auf den Zusammenhang von Politik, Gedächtnis und Erinnerung lässt sich einerseits festhalten, dass eine politikwissenschaftliche Aneignung kulturwissenschaftlicher Perspektiven dazu beitragen kann, die Aufmerksamkeit auf die Funktionen von Erinnungen im politischen Handlungsfeld zu lenken. Dieser Fokus könnte tatsächlich zu einer „Erdung“ der Gedächtnis-Forschung beitragen, die immer noch allzu häufig von frei flottierenden Erinnerungen ausgeht und Gedächtnis ohne Akteure, ohne Strategien, ohne Interessen und ohne Macht und Herrschaft denkt. Eine konsequent zu Ende gedachte kulturwissenschaftliche Perspektive, die das Spektrum relevanter Gegenstände nicht beschränkt, sondern als grundsätzlich offen denkt, kann andererseits die Politikwissenschaft dazu inspirieren, den Sinn der Politik nicht mit einem reduktionistischen und verengten Verständnis des Symbolischen gleichzusetzen, sondern nach diesem auch in den klassischen Feldern politikwissenschaftlicher Analyse zu suchen. Genauso wenig, wie sich das Symbolische in der Politik auf denjenigen Bereich beschränkt, in dem Fahnen geschwungen, Rituale vollzogen und Feste gefeiert werden, sind Gedächtnis und Erinnerung ausschließlich in einem eigenständigen Politikfeld relevant, in dem Vergangenes symbolisiert wird. Vielmehr liefern Vergangenheitsbezüge darüber hinaus und in einem viel grundlegenderen Sinn Maßstäbe und Antriebe für politisches Handeln. Literaturverzeichnis Appelsmeyer, Heide und Elfriede Billmann-Mahecha (2001): Kulturwissenschaftliche Analysen als prozeßorientierte Praxis. Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis. Weilerswist, 7–17. Arendt, Hannah (2002): Denktagebuch 1950 bis 1973. Erster Band. hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München. Arendt, Hannah (2003): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. hrsg. von Ursula Ludz. München, Zürich.
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„AUS DER GESCHICHTE LERNEN“. ZUR AKTUELLEN BEDEUTUNG EINER ALLTAGSMAXIME Neben wissenschaftlichen Theorien und Modellen politischen Handelns existieren lebensweltliche Formen von Wissen, die gesellschaftliche Entwicklungen und politisches Handeln beschreiben, legitimieren oder Forderungen begründen. Der Topos Aus der Geschichte lernen steht exemplarisch für diesen Typ eines praxisintegrierten Wissens. Die in ihm verdichteten historischen und lebensweltlichen Erfahrungen werden seit alters her für die Legitimation politischen Handelns genutzt. Im Folgenden wird zunächst an die Vorläuferformel Historia Magistra Vitae und deren Bedeutungswandel erinnert, um dann die Funktion des neuen Topos Aus der Geschichte lernen in öffentlichen Kommunikationen zu bestimmen. Diese Formel wird heute meistens in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen verwendet. Vier Bedeutungsvarianten des Topos werden innerhalb dieses Kontextes diskutiert. Als Subjekte des postulierten Geschichtslernens sind hier die Angehörigen der jüngeren Generation gemeint. Die Ausführungen stehen im Ganzen unter der Frage, welche Art des geschichtlichen Lernens zum Nationalsozialismus für die junge Generation in Deutschland heute als verbindlich gelten kann.1 Der Beitrag veranschaulicht, wie durch Einbeziehung verschiedener Forschungsansätze eine alltagsweltliche Wissensformel in ihrer historischen Entstehung, ihrer Verbreitung und Verwendung sowie ihren Bedeutungsmöglichkeiten rekonstruiert werden kann. Die Untersuchung des Topos und die Diskussion seiner impliziten Geltungsansprüche stützen sich auf Ergebnisse der Begriffsgeschichte, auf den Ansatz der sogenannten neuen Rhetorik und die Wissenssoziologie, auf moralpsychologische Forschungen und schließlich auf Überlegungen zur Zielbestimmung und Didaktik der historisch-politischen Bildungsarbeit. Das mit dem Topos Aus der Geschichte lernen verbundene Wissen lässt sich als ein gesellschaftliches „Breitenwissen“ oder „Allerweltswissen“ (Berger/Luckmann 1989: 16) in mehrfacher Hinsicht vom wissenschaftlichen Wissen unterscheiden. Das topologische Wissen erfasst die Wirklichkeit in einfachen, leicht fassbaren Strukturen. Seine Geltung stützt sich nicht auf systematisierte empirische Beobachtung oder konsistente Argumentation, sondern auf seine Alltagsplausibilität. Seine Etablierung verdankt es nicht der Diskussion in Spezialisten1
Andere Verwendungen und Bedeutungen eines geschichtlichen Lernens bleiben ausgeklammert. Dazu gehört die Frage, inwieweit und wie Kollektive überhaupt lernen (Miller 1986), inwieweit sich in der Bundesrepublik Deutschland Veränderungen in der politischen Kultur beobachten lassen, die als Lernprozesse beschrieben werden können (etwa: Söllner 1995; Bergmann 1997; Frei 2003) und die These, die entscheidenden Lehren aus dem Nationalsozialismus bestünden in der Konstitution des Rechtsstaates sowie seiner Wertschätzung im Rechtsbewusstsein des Volkes (Kriele 1983, 1994: 344).
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kreisen, sondern seiner Funktionalität in praktischen Zusammenhängen und – im Fall stehender Wendungen – überdies der Diffusion durch Medien in die Öffentlichkeit. Dieses gesellschaftliche Wissen ist dennoch nicht von den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit vollständig getrennt: Häufig sind es einzelne Thesen oder Gedankenfiguren, die ursprünglich Bestandteile wissenschaftlicher Diskussionen waren und über verschiedene Rezeptionsstufen zu Elementen eines Alltagswissen wurden; Antonio Gramsci hat in diesem Zusammenhang von „starren Ablagerungen“ eines Expertenwissens gesprochen (Gramsci 1967: 130). Topoi sind traditionell feste Bestandteile der öffentlichen Rede; heute gehören sie zum Repertoire der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation. Öffentliche Diskurse wollen nicht primär erkennen und verstehen, sie behandeln ihre Themen vielmehr unter dem Gesichtspunkt praktischer Eingriffs- und Handlungsmöglichkeiten. Dazu instrumentalisieren sie wissenschaftlich generiertes Wissen und dessen Argumentationsfiguren für ihre praktischen Zwecke (Neidhardt 1994). Neben biographischen Orientierungszwecken und komplexitätsreduzierten Geschichts- und Gesellschaftsbildern gehören vor allem die Legitimation sozialer Praxen nach außen und ihre Begründung für die Akteure selbst zu den wichtigsten Funktionen des Breitenwissens. In den vielfältigen Manifestationen dieses PraxisWissens spielen festgefügte Gedanken- und Vorstellungsfiguren eine wichtige Rolle. Einmal etabliert, können sie für lange Zeit zu dem gesellschaftlichen Wissensvorrat gehören, auf den Gesellschaftsmitglieder im Allgemeinen oder die Angehörigen von bestimmten Diskursgemeinschaften zurückgreifen. Einige solcher Mentalfiguren erreichen in der öffentlichen Kommunikation den Status von Topoi; das bedeutet, dass ein in sich bestimmter Sinngehalt zusätzlich zu der inhaltlichen Fixiertheit auch in seiner sprachlichen Gestalt in lediglich einer (oder sehr wenigen) festen sprachlichen Formen kommuniziert wird (Knoblauch 2001).2 In den Topoi der öffentlichen Rede dokumentieren sich hegemoniale Problemsichten und implizite Annahmen über Ursachen und Folgen, über den Grad an gesellschaftlichen Gefahren oder mögliche Interventionen. Sie enthalten also Erklärungen, Bewertungen und manchmal auch Interventionshinweise. Damit kondensiert sich in Topoi so etwas wie die gesellschaftliche Theorie zu einem Thema, Gegenstand oder Problem – allerdings nicht als wissenschaftliche Theorie, sondern als Alltagstheorie. Diese Art von Praxistheorie erhebt keinen Erklärungsanspruch wissenschaftlicher Art. Topoi sind die Plausibilitätsknoten im Netz der Diskurse, sie stellen die sicheren Orte in strittigen Themenlandschaften dar und bieten als solche den wissenschaftlichen Beobachtern gutes Material für die Analyse dessen, was in Teilen oder in einer ganzen Gesellschaft als „taken for granted“ gilt (Berger/Luckmann 1989). Die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Toposforschung hat sich seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren diesen Königs2
Seit Jahren gehören zwei Topoi zum festen Arsenal der öffentlichen Diskussion um den Rechtsextremismus: Der Rechtsextremismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft und Der manifeste Rechtsextremismus ist nur die Spitze des Eisbergs. Diese stehenden Wendungen sind Fälle rhetorisch gestalteter öffentlicher Kommunikation, aber keine Aussagen mit wissenschaftlichem Geltungsanspruch (vgl. zum Unterschied: Perelman 1980; Schumann 1981; Knape 2000).
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weg zum gesellschaftlichen Wissen, zu dem, was gesagt werden kann und gesagt werden darf, häufig nutzbar gemacht (Popitz et al. 1957; Negt 1971; Bornscheuer 1976; Knoblauch 2000). Die Topik ist seit der Antike Teil der Rhetorik, also der Kunstlehre von der erfolgreichen Rede. Heute wird vieles unter dem Begriff des Topos subsumiert. Dazu gehören „ontologische Kategorien, semantische Relationen, loci communes, gesellschaftlich konventionalisierte Grundbegriffe und Überzeugungen, bildliche Vorstellungen, Inventare von Exempla und Sentenzen [und] rekurrente Argumentationsschemata“ (Spillner 1981: 256). Für die Zwecke des vorliegenden Textes wird davon ausgegangen, dass normative Topoi gesellschaftlich geltende Wertideen formulieren und legitime Gesichtspunkte sind, unter denen „man einen strittigen Sachverhalt betrachten kann“ (Herbig 1993: 587). HISTORIA MAGISTRA VITAE Die hier behandelte Formel hat das Erbe des sehr viel älteren, auf Cicero zurückgehenden Topos Historia Magistra Vitae angetreten. Die heute gebräuchliche Forderung, aus der Geschichte zu lernen, ist sprachlich und inhaltlich aber keineswegs identisch mit dem alten Wort von der Geschichte als der Lehrmeisterin des Lebens. Der neue Topos rückt vielmehr den Prozess des Lernens und damit mittelbar auch ein Subjekt des Lernens, das aktiv lernt, in den Blick. Damit entspricht er der modernen Selbstwahrnehmung von Subjektivität. Demgegenüber konfrontiert die traditionelle Version mit der Autorität der Geschichte, bekanntlich der „besten Lehrmeisterin mit den unaufmerksamsten Schülern“ (Kocka 2005: 71). Das Pendant zu diesem wirkmächtigen Modell ist die These Historia non docet (vgl. Müller/Teich 2005). Reinhart Koselleck (1984) zeigt, wie sich der aus der Antike stammende Topos unter dem Einfluss der neuzeitlichen Geschichtsauffassung „aufgelöst“ habe. Von der Antike, namentlich von Cicero bis ins 18. Jahrhundert hinein, ging man davon aus, dass die vergangene Geschichte „sich zu wiederholbaren Beweismitteln moralischer, theologischer, juristischer oder politischer Lehren“ eigne (ebd.: 40). Dem lag die Auffassung zugrunde, sowohl die menschliche Natur wie auch der äußere Ablauf des sozialen Lebens ändere sich nicht substantiell. Für die kreisförmig vorgestellte Geschichtszeit und die konstante Anthropologie konnte das Vergangene als ein Set von Beispielen betrachtet werden, wie man dieses oder jenes auszuführen habe. Diese Bedeutung des Topos hat sich mit und durch die Aufklärung verändert: Einmal spielt hier ein neues Verständnis des Verhältnisses von Historie und Geschichte eine wichtige Rolle. Im deutschen Sprachraum gewinnt Geschichte, also das Geschehen, Bedeutung gegenüber der Historie, also dem Bericht. Der Topos wurde in seinem alten Bedeutungsgehalt ausgehöhlt, indem nun die Geschichte, nicht mehr die Historia zur Lehrmeisterin wurde. Geschichte wurde selbst zu einem Subjekt, indem sich sprachlich zwischen 1760 und 1780 der Kollektivsingular durchsetzte und indem sich begrifflich die Vorstellung etablierte, es gebe eine Geschichte über den Geschichten. Dies hat zur Schwächung der Auffassung von der Historia als Sammlung von einzelnen Lehrbuchbeispielen geführt.
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Mit dem Begriff der Geschichtsphilosophie und der Idee eines geschichtlichen Fortschritts verliert sich vollends die Idee der Modellhaftigkeit; in den Blick rückte stattdessen die Einmaligkeit geschichtlicher Abläufe. Sobald mit der Kategorie des Fortschritts gearbeitet wird, geht die „je einzelne Belehrung“ durch die Historia „in der pädagogischen Gesamtveranstaltung auf. Die List der Vernunft verbietet, daß der Mensch direkt aus der Geschichte lerne, sie zwingt ihn indirekt zu seinem Glück.“ (ebd.: 58) Die damit verbundene „zeitliche Singularität der Geschichte“ entzieht dem Topos die alte Bedeutung. Zudem entsteht mit der Aufklärung die Vorstellung von der Machbarkeit der Geschichte, die die Ansprüche der alten Historie entthront. Aus der Vergangenheit kann man nichts lernen, der Fokus richtet sich auf die Planbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukunft. In der sprachlichen Singularisierung der Geschichte, hinter der Verzeitlichung und der Vorstellung ihrer Herstellbarkeit dokumentiert sich der für die Neuzeit charakteristische Erfahrungswandel. „Nicht mehr aus der Vergangenheit, nur aus der selbst zu schaffenden Zukunft läßt sich Rat erhoffen.“ (ebd.: 62) Obwohl sich die ursprüngliche Bedeutung des Topos mit dem Aufkommen des historischen Bewusstseins, spätestens mit dem Historismus auflöst, lebt die Vorstellung, man könne und solle aus der vergangenen Geschichte lernen jenseits einer plakativen Toposverwendung fort. Auch ohne ausdrücklichen Rückgriff auf die Maxime hat die vergangene Geschichte für die Kontingenzbewältigung der Moderne einen hohen funktionalen Stellenwert. „Durch den Rückgriff auf das Wissen über die Vergangenheit, durch Lehren, die man aus ihr ziehen kann, wird der Übergang zur Zukunft geebnet und als ein positiv beeinflußbarer, wenngleich nicht völlig planbarer Prozeß denkbar.“ (Meseth 2005: 37) Selbst bei Leopold von Ranke, der in seinen programmatischen Texten das Konzept von Geschichtslehren weit von sich wies, gilt in den praktisch orientierten Schriften eine handlungsorientierte Rückbindung an die Vergangenheit weiter (Koselleck 1984: 55; vgl. Faber 1975: 267). Die heutige Verwendung des Topos führt die doppelte Tradition fort: Während man sich wissenschaftsintern vom Lernen aus der Geschichte verabschiedet hat – „Geschichte als ‚Magistra vitae‘ wird nicht mehr geglaubt“ (von Beyme 2006: 39) – hält man in der öffentlichen Memorialkultur daran fest. Für die Avantgardisten des historischen Denkens besteht kein Zweifel: „Die Vorstellung, man könne ‚aus der Geschichte lernen‘, hat heute jegliche Überzeugungskraft verloren, und es ist an der Zeit, daß zumindest professionelle Historiker ernsthaft auf diese Situation reagieren.“ (Gumbrecht 1997: 51; vgl. Burger 2004). Doch auch frühere und weniger konstruktivistisch orientierte Historiker haben sich gegen eine Wissenschaftsgültigkeit des alten Topos verwahrt. Golo Mann hatte sich den Topos 1952 vorgenommen und unter der Überschrift „Wie man nicht aus der Geschichte lernen soll“ eine Interpretation vorgelegt, die trotz ihres zentralen Beispiels zeitgeschichtlich neutral ist. Mann hatte Anfang der 1950er Jahre die angelsächsische politische Lehre aus dem Nationalsozialismus vor Augen, die er als No appeasement zusammenfasst. Mann beschäftigt sich nun mit denjenigen, die diese historische Erfahrung des Scheiterns einer Nachgiebigkeit unter dem Motto No appeasement für eine aktuell gültige Maxime der Politik in der Nachkriegszeit
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halten und sie – legitimiert durch die Vergangenheit – übertragen wollen etwa auf die Entscheidung über die außenpolitische Anerkennung der damals erst kurz zurückliegenden kommunistischen Revolution in China. Natürlich, so sein Argument, kann man gegen die Kritik einer Appeasement-Politik im Allgemeinen nichts einwenden, wenn man damit nicht mehr meint als eine „Politik erfolgloser Konzessionen“, – „ohne aber durch eine Tautologie an praktischer Weisheit gewonnen zu haben“ (Mann 1961: 166). Die neuralgische Frage der Applikation einer historisch gewonnenen Einsicht sei stets, ob die aktuelle Situation tatsächlich dem historischen Referenzereignis entspricht. In aller Regel und aller Erfahrung nach seien zwei geschichtliche Situationen nicht identisch, so dass sich aus ihrer Parallelisierung nichts gewinnen lasse. Nicht aus der Übertragung ebenso abstrakter wie richtiger Allgemeinplätze heraus sei zu entscheiden, sondern in Ansehung des historisch konkreten Einzelfalls. Mann resümiert seine Darstellung mit einer historistischen Einsicht: „Geschichte, die uns das Bleibende, das sich ähnlich Wiederholende lehrt, lehrt uns den Unterschied und das Einzigartige. Sie lehrt uns das Überraschende, Unvorhersagbare: Bescheidenheit und Resignation.“ (Mann 1961: 167). Als Lehre aus der Geschichte seien deshalb keine überzeitlich gültigen politischen Handlungsanweisungen zu extrahieren, sondern lediglich Tugenden des Historikers wie methodische Perspektiven in der Betrachtung von Geschichte zu gewinnen. EINE LEGITIME FORDERUNG Welche Funktion und welche Bedeutungen hat nun der Topos Aus der Geschichte Lernen heute in Deutschland? Der Themenbereich, in dem der Topos gegenwärtig am meisten verwendet wird, ist der Umgang mit dem historischen Nationalsozialismus.3 Während das Lernen aus der Geschichte kein Argument im geschichtswissenschaftlichen Diskurs ist, spielt in der öffentlich kommunizierten Geschichte und in der öffentlichen Kommunikation über Geschichte die Vorstellung eines Geschichtslernens ungebrochen eine wichtige Rolle.4 In der auf den Nationalsozialismus bezogenen Erinnerungskultur mit ihrem pädagogisch-politischen Zuschnitt (Meseth 2005) behauptet die Maxime seit Jahren ihren festen Platz (Bub-
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In der Geschichte der NS-Vergangenheitsbewältigung finden sich als weitere Beispiele etwa die semantischen Stereotypen von den Schatten der Vergangenheit oder die Forderung Niemals vergessen! (König 1993, Burger 2002, 2004). Zwei weitere Formeln dieser Tradition hat Reemtsma (2006) kritisch in Erinnerung gerufen: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung und Wer sich nicht erinnert, ist verurteilt, seine Geschichte zu wiederholen. Die Frage „Glauben Sie, daß man aus der Geschichte lernen kann, daß man beispielsweise bestimmte Fehler aus den Erfahrungen heraus nicht mehr macht, oder glauben Sie das nicht?“ beantworteten im Mai 2001 67 % der Befragten mit „Man kann lernen“ (Noelle-Neumann/ Köcher 2002: 540).
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ner 2000; anders: Kocka 2005).5 Als Daniel Jonah Goldhagen 1997 den vom Förderverein der Blätter für deutsche und internationale Politik verliehenen Demokratiepreis erhielt, erschienen etwa die zu diesem Anlass gehaltenen Reden in einem Bändchen mit dem Titel „Aus der Geschichte lernen“ (Bredthauer/Heinrich 1997). Während des Krieges im Kosovo diente der Verweis auf die aus der deutschen NS-Geschichte gezogenen „Lehren“ zur Kritik wie zur Begründung der Beteiligung Deutschlands an der Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien.6 Im Kontext der im April 2002 ausgetragenen Diskussion über das deutschisraelische Verhältnis formulierte der FAZ-Redakteur Patrick Bahners (2002) seine Forderung nach einer absoluten Solidarität Deutschlands mit Israel unter der Überschrift „Die Kritik an Israel verrät, was die Deutschen aus der Geschichte gelernt haben“. Und der Historiker Heinrich August Winkler überschrieb seinen im März 2004 gehaltenen Vortrag anlässlich des 85. Geburtstags von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Titel „Aus der Geschichte gelernt? Zum Verhältnis von Historie und Politik in Deutschland nach 1945“. In der Erklärung des Komitees für Grundrechte und Demokratie, einer linksorientierten zivilgesellschaftlichen Vereinigung, zum 8. Mai 2005 heißt es: „Die Lehre ‚Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg!‘ ist eine Einheit. Wer diese Forderungen gegeneinander ausspielt, hat aus der Geschichte nichts gelernt.“ (Komitee 2005)7 Die Funktion des Topos im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erschließt sich dabei exemplarisch im Vergleich zweier Formulierungen, die im Abstand von 30 Jahren entstanden sind. Bundespräsident Walter Scheel hatte für seine Rede zum 30. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1975 das Lernen aus der Geschichte als Motiv gewählt. Er blickte auf einen gelungenen Lernprozess zurück: „Wir haben unsere Lektion gelernt und damit unsere Pflicht gegenüber der Geschichte erfüllt.“ (Scheel 1975: 242). Als am 10. April 2005 in Weimar die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald stattfanden, interpretierte auch Bundeskanzler Gerhard Schröder das Lernen aus der Geschichte: „Vergangenheit können wir weder ungeschehen machen noch wirklich bewältigen. Aber aus der Geschichte, aus der Zeit der tiefsten Schande unseres Landes, können wir wohl lernen: Wir, die Nachgeborenen, die Vertreter eines anderen, eines demokratischen 5
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Weitere Beispiele: Nickolai/Scheiwe (1995); Brinkmann (2000); Schwendemann (2003, 2004); Grillmeyer/Ackermann (2002); www.lernen-aus-der-geschichte.de; das Abgeordnetenhaus von Berlin führte anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus im Januar 2007 ein Jugendforum denk!mal ‘07 durch. Der Präsident des Berliner Parlaments rief dazu in einem Informationsblatt mit den Worten auf „Vergangenheit anschaulich machen, sich erinnern. Für Demokratie und Zukunft aus der Geschichte lernen. Das ist denk!mal ‘07.“ (zitiert nach dem Werbefaltblatt) Vgl. etwa den Offenen Brief von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen und anderen Überlebenden des Holocaust in der Frankfurter Rundschau vom 23.4.1999. Der Topos wird auch auf der extrem rechten Seite des politischen Spektrums verwendet. Der Buchdienst des Verlages Nation Europa setzt in einem seiner Prospekte (November 2006) die Überschrift Aus der Geschichte lernen über Buchangebote, die die NS-Vergangenheitsbewältigung aus rechtsradikaler Sicht darstellen. In die gleiche Richtung weisen Titel wie Schlee (1997).
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Deutschlands, wir wollen und wir werden nicht zulassen, dass Unrecht und Gewalt, dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land jemals wieder eine Chance bekommen. Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus (…) ist Teil unserer nationalen Identität geworden. Daraus folgt eine bleibende moralische und politische Verpflichtung.“ (Schröder 2005)8 Während der Topos in den 1970er Jahren in retrospektivem Sinn verwendet wurde und die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus von hegemonialen Kräften als ein mehr oder weniger abgeschlossenes Projekt behandelt wurde, stellte sich dies 30 Jahre später anders dar. Das Zitat des damaligen Bundespräsidenten stellt das Dokument eines zufriedenen Rückblicks dar: Die Bundesrepublik hat ihre Lektion gelernt, sie hat eine rechtsstaatlich-demokratische Verfassung und ist durch die Liberalisierung der Mentalitäten auch hinsichtlich ihrer politischen Kultur ein freiheitliches Gemeinwesen geworden. Der Stolz einer neuen Es ist erreicht-Haltung wird in dieser ersten Variante zum Inhalt eines positiven nationalen Selbstgefühls. Dieser Stolz bezieht sich nicht auf einen freiheitlichen Akt oder ein anderes singuläres historisches Ereignis, sondern gewinnt sein Selbstbewusstsein aus dem erfolgreich durchlaufenen Prozess der Vergangenheitsbewältigung im Ganzen – einschließlich der politisch und intergenerationell ausgetragenen Konflikte. Den Übergang zwischen dem Rückblick auf Erreichtes und dem Postulat einer moralischen Dauerbewährung markiert die Weizsäcker-Rede von 1985. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Bergem hat für die gegenwärtig dominante Form dieses Geschichtslernens das neue Wort der „Vergangenwärtigung“ geprägt: Nun „geht es (…) um die Vergegenwärtigung einer unabgeschlossenen Vergangenheit mit Bezug zur Gegenwart, um die Appräsentation des Imperfekts, nicht des Präteritums“ (Bergem 2003: 96). Anders gesagt: Die Vergangenheit wird nicht als abgeschlossene, auch nicht als eine abschließbare konzipiert, sie soll als dauerhaft relevant erinnert werden. Ein weiterer Unterschied lässt sich hinsichtlich der Adressaten beobachten. Scheel hatte das politische Gemeinwesen als Handlungssubjekt und damit primär den Staat als politische Organisation der Gesellschaft im Blick. Hier dominierte die traditionelle Sicht auf die Makroebene des Politischen. Schröder hingegen appelliert in seiner Rede an die heute lebenden Individuen, die neben den staatlichen Institutionen als verantwortungsvoll handelnde Subjekte angesprochen werden. In diesen Erweiterungen der Perspektiven spiegelt sich ein verändertes Verständnis des Politischen, vor allem verliert die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat an Relevanz. Dennoch bearbeiten beide Reden das gleiche Problem: Sie stellen sich der Selbst- und Fremdzuschreibung einer nationalen Schuld und politischen Verant8
Ähnlich hatten der Präsident des Landtages Brandenburg, der Vorsitzende des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Landesverband Brandenburg) sowie der Landrat des betroffenen Landkreises Dahme-Spreewald im Oktober 2005 zu einer Gedenkfeier anlässlich des Volkstrauertages auf dem Waldfriedhof in Halbe aufgerufen. In ihrem Schreiben heißt es: „Erinnerung bedeutet für die heute lebenden Generationen, aus der Vergangenheit zu lernen und Verantwortung für die Gestaltung einer friedlichen Gegenwart und Zukunft zu übernehmen.“ (Schreiben vom 27.10.2005)
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wortung, die Folgen der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und des Mordes an den europäischen Juden sind. Die Bundesrepublik übernimmt als politisches Subjekt und als Nachfolgestaat die politische Haftung für die vom nationalsozialistischen Deutschland verursachten Verbrechen. Forderungen nach Anerkennung dieser Urheberschaft sowie finanziellen Kompensationen werden an die Adresse der politischen Gemeinschaft gerichtet. Gegenüber der dritten und allen späteren Generationen nach den NS-Verbrechen werden keine Schuldvorwürfe, es werden allerdings Erwartungen einer besonderen Verantwortung formuliert. In beiden Reden stellt die Maxime des Lernens aus der Geschichte einen letzten unhinterfragten Wert dar. Von anderen Fällen der Wertekommunikation unterscheidet sich die Verwendung des Topos durch die kristallisierte sprachliche Form. Insofern gelten auch hier die Beobachtungen von Luhmann (1997: 340–344 und 797–800): „Werte werden in der Kommunikation vorausgesetzt, auch mitkommuniziert, aber nicht der Kommunikation ausgesetzt. Sie werden nur als Prämissen, nicht als Behauptungen aktiviert.“ Beide Reden spiegeln auch die relative inhaltliche Offenheit normativer Topoi. Sie markieren einen funktionellen Orientierungspunkt oder gedanklichen Leitfaden, „der seine Wirkung erst im Konkreten entfalten und seine Tauglichkeit unter Beweis stellen kann“ (Ottmers/Klotz 2007: 91). Diese relative Offenheit ist eine Voraussetzung für die zeitliche Kontinuität der Toposverwendung in einschlägigen Diskursen: Auf identische Topoi kann man sich für inhaltlich unterschiedlich ausgerichtete Vorhaben berufen. Sie stellen einen Rahmen dar, sie eröffnen einen Vorstellungs- und Argumentationsraum, ohne ihn zu determinieren. Diese gegenüber älteren Kollektivschuldzuschreibungen abgemildert wirkenden und in einer säkularen Sprache formulierten Verpflichtungen sind gleichwohl schwer zu konkretisieren. Worin soll für Angehörige der „vierten Generation“, deren Großeltern bereits zu jung waren, um im NS-System schuldhaft zu handeln, eine besondere, also eine von den Angehörigen anderer Nationen unterscheidbare Verantwortung bestehen? Und wie kann diese Verantwortungszuschreibung für die Adressaten plausibel begründet werden? Auch für den Topos des Geschichtslernens lassen sich vergleichbare Probleme benennen: Was soll von jungen Leuten heute aus der NS-Geschichte gelernt werden? Gibt es Lernziele, die spezifisch mit der Geschichte des Nationalsozialismus verknüpft werden können, gibt es etwas, was exklusiv anhand der Befassung mit den NS-Verbrechen gelernt werden kann? WAS KANN ES HEUTE BEDEUTEN, AUS DER NS-GESCHICHTE ZU LERNEN? Die mangelnde Eindeutigkeit von topischen Wendungen lässt es sinnvoll erscheinen, die mit dem Topos in den aktuellen Diskursen verknüpften Bedeutungen dadurch zu klären, dass zunächst ausgeschlossen wird, was mit der Forderung des Lernens aus der Geschichte im Kontext der NS-Vergangenheitsbewältigung heute nicht gemeint ist. Aus der Geschichte lernen meint etwas anderes als das Lernen über Geschichte oder von Geschichte und auch etwas anderes als die biographi-
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sche Reflexion der Bedeutung erlebter Zeitgeschichte. Es geht der Forderung des Lernens aus der Geschichte auch nicht um allgemeine Einsichten in die Eigenart gesellschaftlicher Prozesse, wie man sie aus der Befassung mit anderen Phasen der Vergangenheit auch gewinnen könnte.9 Zu solchen generellen Einsichten in die Struktur von Gegenwart und Geschichte gehört etwa, „daß politisch-gesellschaftliche Situationen immer in einem gewissen Maße offen sind, daß Traditionen immer zugleich wirksam und veränderbar sind, daß Handlungsentwürfe nie in reiner Form und allein mit den von den Akteuren gewünschten Folgen ins Werk gesetzt werden können. Dazu gehört vor allem ein Relativismus, der sich aus dem Zwang ergibt, Handlungszusammenhänge aus der Perspektive verschiedener beteiligter Akteure zu betrachten.“ (Kandel/Meyer 1987: 21)10 Drittens schließlich kann es im Hinblick auf die dritte und alle folgenden Generationen nach dem Nationalsozialismus auch nicht mehr um biographische Lernprozesse gehen, die in der Reflektion einer persönlichen Verstrickung in das NS-System ihren Ausgangspunkt und Gegenstand haben.11 Ein prominentes Beispiel für eine Adaption des Topos für diesen historischen Spezialfall eines persönlichen Lernens aus der politischen Geschichte hat Jürgen Habermas formuliert. Seine Interpretation des Topos in der ersten Person Singular besagt, dass man aus der großen Geschichte nicht nur dann lernen kann, „wenn sie uns etwas Positives, etwas der Nachahmung Wertes zu sagen hat“ (Habermas 1994: 187), Geschichte ist für seine Biographie vielmehr das Feld gewesen, auf dem Erwartungen enttäuscht worden sind. Das Jahr 1945 war für ihn mit einer kathartischen Erfahrung verbunden, die das „Scheitern einer kulturell hochentwickelten Bevölkerung offenbar“ gemacht hat (ebd.: 188). Die Verbrechen des Nationalsozialismus haben persönliche wie soziale Erwartungen enttäuscht. Individuen, die bereit sind, negative Erfahrungen zu machen und als historische Begebenheit auf ihre kollektiv verankerten Erwartungen zu beziehen statt sie zu ignorieren oder umzudeuten, können aus derart negativ konnotierter Geschichte lernen. Historia Magistra Vitae bedeutet für Habermas die Erfahrung einer Enttäuschung und in der Folge die biographisch beglaubigte Evidenz, wie wir es nicht machen sollen.12 9
Hier ist von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die Rede. Das schließt nicht aus, dass auch bei der Thematisierung anderer Diktatur- und Verbrechenserfahrungen der Vergangenheit Motiv und Topos eines Lernens aus der Geschichte eine ähnliche Rolle spielen können. 10 Poetisch formuliert findet sich dieser Typ von Geschichtsweisheit bei Norbert Elias (1987: 95): „Aus Plänen wachsend, aber ungeplant/ Bewegt von Zwecken, aber ohne Zweck.“ 11 Die beiden üblichen Generationskonzepte, nämlich einmal politische Generation im Anschluss an Karl Mannheim und dann das Kohortenkonzept können für die Nachgeschichte des Nationalsozialismus nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn sie auf die moralische Hypothek der Schuld- oder Verantwortungsfrage als dem kontinuierlichen Bezugsproblem der NSVergangenheitsbewältigung bezogen werden (vgl. Bude 1992; Müller 1994). Ein Modell der kulturempirisch gehaltvollen Generationeneinteilung bei Kohlstruck (1997). 12 Reemtsma (2001) hat im Hinblick auf tiefgreifende biographische Neuanfänge die Frage gestellt, inwieweit man hier zu Recht von einem Lernen spricht. Dem Sprachsinn angemessener wäre die Rede von einer „Läuterung“ oder „Umkehr“ (Kielmansegg 1999). Diese Frage wird hier nicht weiter diskutiert, da der Typ biographischen Lernens im Hinblick auf den NS heute an Bedeutung verloren hat.
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Weder die Aneignung von historischem Wissen, noch die Einsicht in allerlei Invarianten der Geschichte oder die Reflexion von biographischen Erfahrungen der NS-Zeit können nun aber für die heutigen jüngeren Generationen eine befriedigende Konkretisierung der Aufforderung sein, hinsichtlich des Nationalsozialismus aus der Geschichte zu lernen. Im Folgenden werden vier Möglichkeiten vorgestellt und diskutiert, die – bezogen auf die Befassung mit dem Nationalsozialismus – heute mit dem Topos des Geschichtslernens verbunden werden. Sie werden unter der für die historisch-politische Bildungsarbeit relevanten Frage behandelt, inwieweit sie an die NS-Erfahrung spezifisch anknüpfen und inwieweit sie als praktikable und obligatorische Konzepte in Schule und außerschulischer Bildungsarbeit gelten können. MENSCHENRECHTSBILDUNG Unter dem den Topos variierenden Titel „Aus Katastrophen lernen?“ oder „Aus der Katastrophe lernen?“ erklärt etwa Micha Brumlik programmatisch, es werde in Zukunft darauf ankommen, „auf und aus der Erziehung über Auschwitz eine Bildung zu den Menschenrechten zu entwickeln“ (Brumlik 2004: 27). Inwieweit kann die Befassung mit dem Nationalsozialismus einen Beitrag zur Menschenrechtsbildung oder zur Ausbildung von moralisch universellen Orientierungen leisten? Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO steht in einem historischen Zusammenhang mit den Naziverbrechen, sie ist eine Antwort auf den Mord an den europäischen Juden. Die Behandlung des historischen Kontextes der Kodifizierung der Menschenrechte als Völkergewohnheitsrecht beziehungsweise ihre Übernahme in das Recht von Nationalstaaten gehört deshalb zur Menschenrechtsbildung. Schließlich war ihre Etablierung als geltendes Recht von individuellen Personen und ihre Durchsetzung von den damaligen politischen Kräfteverhältnissen abhängig. Doch eine solche Erklärung des Zustandekommens ihrer rechtlichen Geltung ist zu unterscheiden von der Begründung ihrer Richtigkeit. Die Richtigkeit kann nicht damit begründet werden, dass Menschenrechte immer wieder verletzt worden sind. Für eine Begründung von Menschenrechten spielen axiomatische und übergesetzliche Ideen – wie etwa die Norm der Gleichheit aller Personen oder der in anderer Weise formulierte absolute Wert des einzelnen Menschen eine Rolle (vgl. Köhler 1999). Das abstrakte Reden über Menschenrechte muss in pädagogischen Kontexten sicher ergänzt werden um konkrete Beispiele von systematischen Menschenrechtsverletzungen (Lenhart 2003). Erst Beispiele einer systematischen Negation von grundlegenden Freiheits-, Schutz- und Teilhaberechten lassen deren Bedeutung erfahrbar werden. Hier können neben aktuellen Fällen auch die Verbrechen des 20. Jahrhunderts, darunter die Verbrechen an den Juden behandelt werden (Kaiser 2002). Ein exklusiver Beitrag der Befassung mit dem Nationalsozialismus lässt sich indes für die Menschenrechtsbildung nicht erkennen. Die NS-Verbrechen sind zur Signatur des 20. Jahrhunderts geworden – doch für eine normative Begründung der Menschenrechte sind sie nicht konstitutiv. Im Zusammen-
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hang mit der historischen Erklärung der Etablierung der Menschenrechte als geltendem Recht, beim Lernen von Geschichte also, haben sie zentrale Bedeutung. MORALISCHES LERNEN Mit der Forderung nach Menschenrechtsbildung verbunden ist das Ziel des moralischen Lernens, genauer die Ausbildung von moralischen Orientierungen, die mit einer universalistischen Minimalmoral vereinbar sind. Der Kern einer solchen Minimalmoral besteht in der negativen Pflicht, andere nicht direkt zu schädigen; zum zweiten gehört zu dieser moralischen Kompetenz die Fähigkeit der unparteiischen Beurteilung (Nunner-Winkler 1992). Im Hinblick auf ein Lernen aus der Geschichte stellt sich die Frage, ob für Prozesse des moralischen Lernens die Behandlung der NS-Vergangenheit einen exklusiven, also einen nicht substituierbaren Beitrag leistet. Dies würde bedeuten, dass sie für die Ausbildung sowohl einer Kenntnis der moralischen Regeln wie für die Entwicklung einer moralischen Motivation, also der handlungsrelevanten Kraft, tatsächlich unersetzlich wären. Die intuitive Annahme, dass Lehren der Geschichte weder für die kognitive Dimension der Regelkenntnis noch für die motivationale Dimension einen exklusiven Beitrag leisten, wird von den Forschungen zur Moralentwicklung bestätigt (vgl. Nunner-Winkler et al. 2006: 27–43). Moralisches Wissen wird durch unterschiedliche Lernmechanismen und zu verschiedenen biographischen Zeitpunkten erworben. Kleine Kinder kennen schon im Alter von vier bis fünf Jahren Normen und verstehen kategorische Sollsätze. Sie erwerben dieses Wissen aufgrund ausdrücklicher Belehrung durch die Eltern, aufgrund eigener sozialer Erfahrungen im Aushandeln von Konflikten mit anderen Kindern und Erwachsenen. Drittens, und dies wird in den einschlägigen Forschungen als die wichtigste Quelle betrachtet: Sie entnehmen es den Alltagspraktiken ihrer Erfahrungsumwelt und den impliziten moralischen Bewertungen, wie sie im alltäglichen Sprachgebrauch enthalten sind. Zu den bereits beim Kleinkind ablaufenden Aneignungsprozessen der Kenntnis moralischer Regeln kommen später Anwendungskompetenzen, die höhere sozialkognitive Fähigkeiten voraussetzen. Ähnlich früh, nämlich in der mittleren Kindheit, stabilisiert sich die moralische Motivation. Dabei gilt das innerfamiliäre Erfahrungslernen als entscheidender Lernmechanismus. Später werden diese Erfahrungen durch die Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen und mit den im sozialen Umfeld gültigen Normen ergänzt. Die Adoleszenz stellt in diesem Prozess eine eigenständige Entwicklungsphase dar. „Die Heranwachsenden können zu früh aufgebauten inhaltlichen Orientierungen und Haltungen in eine reflexive Distanz treten und Stellung beziehen, sie also willentlich bejahen oder zurückweisen.“ (ebd.: 43). Sowohl die Kenntnis moralischer Regeln wie die moralische Motivation sind eng mit der frühkindlichen Erfahrung verbunden. Die in dieser Phase gebildeten Kenntnisse und Motivstrukturen können dann in der Adoleszenz Gegenstand einer Bewertung werden. Die meisten Menschen halten an den in dieser Lebensphase ratifizierten
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moralischen Orientierungen lebenslang fest – unabhängig von ihrer eigenen sozialen Lage und den jeweiligen Konjunkturen des Zeitgeistes (ebd.: 215). Aus dieser Skizze zu entwicklungspsychologischen Zeiträumen und zur Binnenstruktur von moralischen Lernprozessen geht hervor, dass die Auseinandersetzung mit historischen Verbrechen für Heranwachsende bei der bewussten Annahme beziehungsweise Ablehnung des bis dahin erworbenen moralischen Urteilsund Handlungsvermögens eine Rolle spielen können. Zugleich ist damit aber auch gezeigt, dass für den gedankenexperimentellen Umgang von jungen Leuten mit Verstößen gegen moralische Normen und dem Umgang mit moralischen Dilemmata in gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen prinzipiell alle Ereignisse und historischen Phasen in Frage kommen, in denen in systematischer Weise Menschenrechte verletzt werden. So scheint weder für eine inhaltlich ausgerichtete Menschenrechtsbildung noch für die Ausprägung einer universalistischen moralischen Orientierung ein Rekurs auf die Lehren der Geschichte im Allgemeinen noch die des Nationalsozialismus im Besonderen unverzichtbar zu sein. In der Gegenwart lassen sich viele – in sich abgestufte – Menschenrechtsverletzungen beobachten, die einerseits als Exempel für moralisches Urteilen dienen können, andererseits auch – in Maßen – die Möglichkeit bieten, sich aktiv für bedrohte Personen oder für menschenrechtskonforme Handlungsweisen in Politik und Gesellschaft zu engagieren. Aus Sicht der politischen Bildungsarbeit sind damit mehr Optionen verbunden als mit der Behandlung von vergangenem Unrecht; ein handlungsaktivierendes Lernen kann zum Eingreifen in heutige Menschenrechtsverletzungen führen und unter Umständen daran mitwirken, Unrecht zu verhindern. Dies ist für die abgeschlossenen Phasen der Geschichte ausgeschlossen; hier können keine Menschenrechtsverletzungen verhindert werden, es bleibt die wichtige Aufgabe, an die Opfer zu erinnern und Überlebende zu unterstützen. NATIONALE SELBSTIDENTIFIKATION Mit den bislang skizzierten Dimensionen eines Lernens aus der Geschichte ist das Spektrum der Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Neben den beiden skizzierten Interpretationen, bestimmte Inhalte aus der Geschichte in besonders eindringlicher Weise zu lernen, wird mit dem Topos Aus der Geschichte lernen die These verbunden, die in Deutschland lebenden jungen Generationen hätten besondere Gründe, aus der Geschichte zu lernen. Dieses Postulat spricht die junge Generation als Angehörige der deutschen Nation an. Sowohl der von Bundespräsident Scheel 1975 repräsentierte Rückblick auf die gelernten Lektionen wie die von Bundeskanzler Schröder 30 Jahre später formulierte Verpflichtung zu einem permanenten Lernen stimmen darin überein, dass hier nationale Identitätsgefühle der Lernenden angesprochen werden. Aus der Zugehörigkeit zur deutschen Nation erwächst eine Verpflichtung, sich dieser Phase der nationalen Geschichte beziehungsweise ihrer späteren Bewältigung in besonderer Weise zu widmen. Auch in der Gegenrichtung ergibt sich ein Sinn: Wer sich aufgrund seiner Nationalität mit den NS-Verbrechen beschäftigt, bekräftigt
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damit die Zugehörigkeit. Die Geschichte der Nation ist die Klammer, die die heutigen jungen Generationen mit der Zeit vor 1945 verbindet.13 Bergem (2003) hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass in unseren Tagen die Muster einer nationalen Identitätskonstruktion durchaus nicht mehr nur dem traditionellen – und wenn man so will „männlichen“ Muster – eines affirmativ-heroischen Vergangenheitsbezuges folgen. Diesem Grundmuster entspricht die staatsoffizielle Feier historischer Triumphe, also die Erinnerung an gelungene Revolutionen, gestürzte Tyrannen und andere Emanzipationsakte. Gegenüber diesem Triumphmodell einer historisch angelegten nationalen Identität kann heute der Bedeutungszuwachs eines emotionalen, „weiblichen“, Modells beobachtet werden. Trauer zählt heute mehr als Triumphe. Die „Gründungsverbrechen ihrer eigenen Geschichte“ (Dubiel 1999: 180) sind es, die heute stärker in Szene gesetzt werden; nationale Identität wird über die Erinnerung an die Verbrechen wie über das eigene Schuldeingeständnis konstruiert.14 Diese dritte Deutungsmöglichkeit des Topos ist mit grundsätzlichen und mit pragmatischen Problemen konfrontiert. Zu den grundsätzlichen Fragen, die mit einer nationalidentifikatorischen Zuordnung der Lernenden verbunden ist, gehört die Perpetuierung der Täter-Opfer-Unterscheidung. Während die Sieger-Besiegten-Konstellation, also das militärische Erbe des Zweiten Weltkriegs, in den vergangenen Jahren allmählich an Bedeutung zu verlieren scheint, wird hinsichtlich der NS-Verbrechen mit einem Denken in nationalen Kategorien die moralische Unterscheidung zwischen den Deutschen als Tätern und ihren Opfern fortgeführt. Heute wird nicht mehr von einer Schuld gesprochen, sondern von Verantwortung. Doch zum einen wird auch diese moralische Verpflichtung nicht konkretisiert und ist damit ideologisch und moralisierend aufladbar (vgl. Assis 2006) und zum anderen bleibt es – ungeachtet der modernisierten Wortwahl, die von Schuld auf Verantwortung umgestellt wurde – bei der Zuschreibung einer besonderen moralischen Verpflichtung aufgrund der historisch begründeten Zugehörigkeit zur „Täternation“. Es bleibt die Frage, wie die Tradierung dieser Täter-OpferUnterscheidung im Hinblick auf die jungen Generationen begründet werden kann, anders gesagt: Welcher zustimmungswürdige Sinn kann sich mit einem „Einfrieren“ moralisch bedeutsamer historischer Akteurskonstellationen verbinden? Paul Valéry hat – unabhängig von Fragen der deutschen NS-Vergangenheitsbewältigung – auf die Problematik von emotional mobilisierbaren Gehalten im kulturellen Gedächtnis hingewiesen. Das Elaborat der Geschichte, so Valéry, „bringt die Völker ins Träumen, versetzt sie in Rausch, gaukelt ihnen eine Vergangenheit vor,
13 Für die Kritiker des Nationskonzepts stellt die nationale Dimension kollektiver Identität ein Problem dar (vgl. Hormel/ Scherr 2004: 16 und 245–249). Mit der generellen Skepsis „gegenüber nationalen Identitätskonstruktionen und Identifikationen“ (ebd.: 246) geht solchen Positionen allerdings auch eine Begründung verloren, warum man speziell in Deutschland aus der NS-Geschichte etwas lernen könne und zu lernen habe: Wenn man sich als eine Nation darstellt, die keine sein will, kann man in der ersten Person Plural nicht konsistent über ein Lernen aus der NS-Geschichte sprechen (Meier 1991). Vgl. zu den Widersprüchen dieses Typs von Argumentation die Hinweise bei Albrecht (2003: 186f.). 14 Vgl. dazu den Beitrag von Horst-Alfred Heinrich in diesem Band.
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übersteigert ihre Reflexe, hält ihre alten Wunden am Schwären, stört sie in ihrer Ruhe auf, treibt sie zu Größenwahn oder auch zu Verfolgungswahn und macht, daß die Nationen verbittert, auftrumpfend, unausstehlich und eitel werden“ (Valéry 1995: 173; vgl. Burger 2004: 123f.). Neben solchen grundsätzlichen Aspekten können pragmatische Gesichtspunkte angeführt werden, die den nationalidentifikatorisch motivierten Sinn eines Lernens aus der Geschichte problematisch erscheinen lassen. „Die Identität einer Person ist immer plural.“ (Bergem 2003: 83) Identitäten bilden sich innerhalb verschiedener Referenzrahmen aus, zu denen politisch und territorial Region, Nation und Europa gehören und die mit anderen Zuordnungen wie Wertehierarchien, Milieu oder Generation kombiniert werden können. Im Vergleich mit früheren Phasen der Geschichte stellt die nationale Selbstidentifikation heute für die meisten lediglich eine unter mehreren Optionen dar. Die Amalgamierung des Lernens über die Geschichte mit der moralischen Hypothek von Schuld oder Verantwortung führt – gerade bei jungen Leuten – eher zu einer Ablehnung der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Sofern sich an ein solchermaßen angelegtes Lernen aus der Geschichte nationalidentifikatorische Angebote anschließen, dürften sie wohl bei der jüngeren Generation in den meisten Fällen keinen Erfolg haben. EINGEDENKEN DER OPFER Neben den bisher behandelten Möglichkeiten einer moralbildenden, einer die Menschenrechte bekräftigenden und einer nationalidentifikatorischen Bedeutung des Lernens aus der Geschichte wird eine vierte Variante diskutiert. Die „anamnetische Solidarität“ kann nur in einem weiten Sinn als ein kognitives oder moralisches Lernen aus der Geschichte bezeichnet werden. Im Mittelpunkt steht bei diesem Konzept weniger eine direkte Wissenserweiterung oder eine Erhöhung moralischer Kompetenz, die auf dem Wege einer Befassung mit den NS-Verbrechen erfolgt (vgl. Meseth 2005: 46ff.). Im Zentrum steht die Idee eines Gedenkens der Opfer um ihrer selbst willen. Ihrer soll gedacht werden als Ermordeter, die in systematischen Unrechtsakten um ihr Leben gebracht wurden. Am stärksten hat Micha Brumlik diese Idee in die pädagogischen und politischen Diskussionen der vergangenen Jahre eingebracht.15 „Das Eingedenken an die Abgeschiedenen, an die Opfer des historischen Prozesses erhält diese (…) selbst in gewisser Weise im Leben. Solches Gedenken ist zweckfrei, ist sich selbst Grund genug und nicht interessiert, nur deshalb zu erinnern oder zu trauern, damit sich in Zukunft ein weiteres Auschwitz nicht mehr ereigne.“ (Brumlik 1992: 209f.) Brumlik greift in der Darstellung der Idee eines solchen Eingedenkens auf die theologischen Impulse Walter Benjamins zurück, wie sie von Helmut Peukert Ende der 1970er Jahre interpretiert worden sind (Brumlik 1990; Peukert 1978: 300–310). „Anamnetische Solidarität“ beinhaltet zunächst kein pädagogisches oder politisches Handlungskonzept, sondern nimmt den Impuls einer „histori15 Die Idee eines zweckfreien Gedenkens wird auch außerhalb der pädagogischen Literatur formuliert. Reinhold Boschki (2000) interpretiert das Werk Eli Wiesels in diesem Sinne.
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schen Gerechtigkeit“ auf. Nicht die damaligen Täter und nicht der Lauf der Geschichte sollen diesem moralischen Gefühl zufolge das letzte Wort behalten dürfen. Im heutigen Gedenken an die Individualität der Opfer vollziehe sich auf eine spirituelle Weise der Einspruch gegen das historische Unrecht. „Das Eingedenken zu erlernen, heißt aber, die Opfer um ihrer selbst willen zu ehren, sie bei ihrem Namen zu nennen, sich ganz auf die Vergangenheit zu beschränken und die Zukunft aus den Augen zu verlieren.“ (Brumlik 1995: 17) Maßgeblich wird hier eine Interpretation von Geschichte und Gedächtnis, die davon ausgeht, dass Geschichte als historia rerum gestarum eine Auswahl aus der Vergangenheit trifft und mit dieser besonderen Aufmerksamkeit eine ethische Aufwertung der erinnerten Personen, Ereignisse, Strukturen und Prozesse leistet. Wer in die Geschichte eingeht, wer erinnert wird erhält Achtung und Legitimität zuerkannt. Vor dem Hintergrund dieser Verbindung von „Geschichte“ und „Achtung“ wird diejenige Geschichtsschreibung kritisch betrachtet, in der die Opfer eine nur untergeordnete Rolle spielen. Dies sei gleichbedeutend mit einem Defizit an Respekt. Die Forderung nach einem Eingedenken, das seinen Sinn in sich selbst trägt und keinem Zweck außerhalb seiner selbst untergeordnet wird, repräsentiert hingegen die Opfer und ist damit zugleich kritisch gegen einen „Geschichtsdarwinismus“, gegen eine Geschichte der Sieger (Metz 1972: 350). „Anamnetische Solidarität“ scheint auf den ersten Blick wenig mit einem Lernen aus der Geschichte zu tun zu haben. Dies gilt umso mehr, wenn man Liturgie und Ritual als die Formen in Betracht zieht, in denen sich ein institutionalisiertes öffentliches Gedenken zu manifestieren hätte. Solche festgefügten Abläufe mag ein modernes, aufgeklärtes und individualisiertes Bewusstsein als heteronome Zumutungen empfinden. Die Idee des Eingedenkens wird hier gleichwohl als eine eigenständige Interpretation des normativen Topos vom Lernen aus der Geschichte aufgeführt. Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass sich die verschiedenen Interpretationsvarianten des Topos analytisch unterscheiden lassen, dass sich aber in öffentlichen Diskursen oder der Selbstreflexion der Praxis historischer Bildung die Motive mischen oder überlagern. Gerade die Impulse historischer Gerechtigkeit sind oft wirksam, ohne deshalb auch schon in aller Klarheit formuliert zu werden oder den Akteuren als solche vor Augen zu stehen. Manifeste Äußerungen gelten oft einem Lernen aus der Geschichte, einem vermeintlich ausschließlich zweck- und nutzenorientierten Vorhaben, während die latent spürbaren Motive einer darüber hinausgehenden „Ethik der Erinnerung“ entstammen können (vgl. Kühberger/Sedmak 2005). Die Gründe für eine derart maskierte Präsenz liegen in dem höheren Prestige des technisch-herstellenden Handelns gegenüber einer selbstzweckhaften Praxis, die überdies symbolisch-spiritueller Natur ist (vgl. Angehrn 1985: 84). Diese letzte Variante eines moralisch qualifizierten Erinnerns hat strukturell eine gewisse Verwandtschaft zum nationalidentifikatorisch angelegten Lernen aus der Geschichte. Hier wie dort handelt es sich – anders als bei den ersten beiden Varianten – um spezifische Bezugnahmen auf die NS-Verbrechen beziehungsweise deren Opfer. Die beiden letztgenannten Interpretationsmöglichkeiten des Topos können als partikularistische und als universalistische Variante eines Vergangen-
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heitsbezuges verstanden werden, die – anders als die beiden ersten vorgestellten Möglichkeiten – in einem spezifischen und direkten Verhältnis zur NS-Vergangenheit stehen. Die national motivierte Befassung mit den deutschen Verbrechen bezieht sich dabei auf die Täterseite und begründet die Forderung nach einem besonderen Verhältnis zur Geschichte mit der heutigen Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Das anamnetische Gedenken gilt demgegenüber den Opfern der NS-Verbrechen. Der moralische Gehalt dieser Erinnerung, ihr Einspruch gegen das Vergessen, ist nicht daran gebunden, dass sie in Deutschland oder von Deutschen vollzogen wird. Beide Varianten weisen indes hohe Zugangsvoraussetzungen auf, die es problematisch erscheinen lassen, sie heute gegenüber den jungen Generationen zu Pflichtaufgaben zu erklären: Weder versteht sich heute für alle die Zugehörigkeit zur deutschen Nation als hochrelevante Identitätsdimension noch kann Gedenken als solches überhaupt obligatorisch gemacht werden. Für diese beiden Varianten kann geworben werden, es können öffentliche Formen und Institutionen zur Verfügung gestellt werden, die eine entsprechende kollektive Praxis anleiten – eine Verpflichtung jedoch scheint illegitim und darüber hinaus in hohem Maße kontraproduktiv zu sein. RESÜMEE Die Verwendung des Topos vom Lernen aus der Geschichte hat im Vergleich mit dem alten Historia Magistra Vitae eine bedeutende Verengung erfahren. Lernen aus der Geschichte ist heute in Deutschland keine Funktion der Geschichte im Allgemeinen oder im Ganzen, sondern eine Maxime für den Umgang mit historischen Verbrechen, insbesondere mit den NS-Verbrechen. Als Topos der öffentlichen Rede fungiert diese Maxime als unstrittiger, aber als mehrfach ausdeutbarer Wert. Die Betrachtung von vier Deutungsmöglichkeiten kommt zu folgendem Ergebnis. Sowohl in den Lernprozessen von universellen moralischen Orientierungen wie für die Menschenrechtsbildung ist ein Bezug auf die NS-Geschichte als Beispiel für systematische Verletzungen von Menschenrechten sowie zur historischen Erklärung der Durchsetzung der rechtlich relevanten Erklärung von Menschenrechten in den Vereinten Nationen sinnvoll. Ein unverzichtbarer Beitrag für das moralische Lernen ist damit nicht verbunden. Das dritte Modell steht demgegenüber in einem spezifischen Verhältnis zur NS-Zeit. Die Bereitschaft, sich individuell eine Verantwortung für die deutsche Nation und ihre Geschichte zuschreiben zu lassen setzt eine nationale Selbstidentifikation voraus, die sowohl das NS-Regime mit seinen Verbrechen wie die heutige Gesellschaft in Deutschland umgreift. Als Konsequenz einer individuellen nationalen Selbstidentifikation muss man sich tatsächlich in besonderer Weise mit dem Nationalsozialismus befassen, er ist ein integrales Element der deutschen Nationalgeschichte. Umgekehrt kann auch durch die Beschäftigung mit den NS-Verbrechen eine nationale Selbstzurechnung hervorgerufen oder verstärkt werden. Dieses Modell perpetuiert indes eine moralisch aufgeladene Unterscheidung, die auf die historische Täter-OpferKonstellation zurückgeht. Eine freiwillige individuelle Zuordnung zur „Täterna-
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tion“ scheint unproblematisch; Forderungen, die von außen in dieser Richtung erfolgen, müssen eine Antwort auf die Frage geben, welchen Sinn die Perpetuierung einer historischen Täter-Opfer-Konstellation hat. Hinzu kommen Probleme einer praktischen Durchsetzung solcher Zuschreibungen. Das vierte Modell formuliert gleichfalls ein spezifisches Verhältnis zur NSZeit, indem es bei den Opfern der NS-Verbrechen ansetzt. Es ist insofern weniger der Erinnerungspolitik und der nutzenorientierten Gegenwartskultur als vielmehr religiösen Impulsen verpflichtet. Diese anspruchsvolle moralisch-spirituelle Ausrichtung stellt in der weithin areligiösen Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik eine hohe Zugangshürde dar. Für das aktuelle Verhältnis der jüngeren Generationen zu den NS-Verbrechen scheinen im heterogenen Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland schließlich nur eine Pflicht- und zwei freiwillige Optionen zu bleiben: Obligatorisch gefordert werden kann lediglich ein Lernen von Geschichte. Der Nationalsozialismus ist Teil der deutschen Nationalgeschichte. Im Sinne einer Inlandskompetenz muss jeder Grundzüge dieser Geschichte kennen, der dauerhaft in Deutschland lebt. Mit einem Lernen aus der Geschichte können sich ergänzende Angebote verbinden. Eine freiwillige Selbstzurechnung zur „Täternation“ ist dabei die Voraussetzung für die Zuschreibung einer besonderen Verantwortung für das Erbe der Vergangenheit oder für die Fortsetzung von Menschenrechtstraditionen in Gegenwart und Zukunft. Mit der Idee einer „anamnetischen Solidarität“ verbindet sich ein Gedenken der Opfer, das sie vor dem Vergessen bewahrt. Literaturverzeichnis Albrecht, Clemens (2003): Politische Erziehung nach Auschwitz – aber welche? Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno. In: Hans Erler (Hrsg.): Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen. Frankfurt am Main, 177–188. Angehrn, Emil (1985): Geschichte und Identität. Berlin. Assis, Arthur (2006): Tagungsbericht: Was heißt historische Verantwortung? Tagung des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen vom 20.02.2006–22.02.2006. http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1133 [letzter Aufruf: 27.5.2006]. Bahners, Patrick (2002): Was würde man denn selber tun? Die Kritik an Israel verrät, was die Deutschen aus der Geschichte gelernt haben. In: FAZ, Nr. 90, vom 18.4.2002, 43. Bergem, Wolfgang (2003): Barbarei als Sinnstiftung? Das NS-Regime in Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur der Bundesrepublik. In: ders. (Hrsg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs. Opladen, 81–104. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (1989): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1966). Frankfurt am Main. Bergmann, Werner (1997): Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989. Frankfurt am Main. Beyme, Klaus von (2006): Die antagonistische Partnerschaft. Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft. In: Jürgen Osterhammel et al. (Hrsg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte. Göttingen, 33–44. Bornscheuer, Lothar (1976): Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt am Main.
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Soziale Topik
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Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck
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AUTORENVERZEICHNIS
PD Dr. Mark Arenhövel, DAAD-Gastprofessor an der St. Kliment Ohridski Universität in Sofia und Akademischer Direktor des dortigen Zentrums für Deutschland- und Europastudien, zugleich Privatdozent an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsgebiete: Transformationstheorie, Politische Theorie, Erinnerungspolitik und Internationale Beziehungen. Ausgewählte Publikationen: Globales Regieren. Neubeschreibungen der Demokratie in der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 2003; Demokratie und Erinnerung. Der Blick zurück auf Diktatur und Menschenrechtsverbrechen, Frankfurt am Main 2000; in Kürze erscheint: Metamorphosen der Souveränität, (Frankfurt am Main 2008). Dr. Claudia Fröhlich, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Sprecherin des Arbeitskreises Politik und Geschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Forschungsgebiete: Rezeption von Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, Juristische Aufklärung des NS-Systems seit 1945, Deutungen von Vergangenheit und Demokratisierungsprozesse (unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Justiz und der Medien). Ausgewählte Publikationen: „Wider die Tabuisierung des Ungehorsams“. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Frankfurt am Main 2006; Der Braunschweiger Remer-Prozess 1952. Zum Umgang mit dem Widerstand gegen den NS-Staat in der frühen Bundesrepublik, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.), Schuldig. NSVerbrechen vor deutschen Gerichten, Bremen 2005, S. 17–28; in Kürze erscheint: Vergesst Habermas nicht! DIE ZEIT im Historikerstreit, in: Christian Haase und Axel Schildt (Hrsg.), DIE ZEIT und die Bonner Republik, (Göttingen 2008). PD Dr. Horst-Alfred Heinrich, Privatdozent an der Universität Stuttgart, derzeit Vertretungsprofessur für Empirische Sozialwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Sprecher des Arbeitskreises Politik und Geschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Forschungsgebiete: Politische Soziologie (nationale Identität), Geschichtspolitik, Diktaturtheorie. Ausgewählte Publikationen: Franquismus in Spanien, in: Mario Petri, Ulrich Schnier und Jürgen Bellers (Hrsg.), Handbuch der transitorischen Systeme, Diktaturen und autoritären Regime der Gegenwart, Münster 2006, S. 43–53; Who perceives the collective past and how? Are refusals on open-ended questions substantial answers?, in: Quality & Quantity 39, 2005, S. 559–579; Shadings of regret: Germany and the United States, in: Kendall R. Philipps (Hrsg.), Framing public memory, Tuscaloosa 2004, S. 115–145 (zusammen mit Barry Schwartz). Dr. Michael Kohlstruck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arbeitsstelle Jugendgewalt und Rechtsextremismus am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Forschungsgebiete: Politische Soziologie (Rechtsextremismus), Jugendforschung, Zeitgeschichte und politische Kultur. Ausgewählte Publikationen: „Die Treue ist das Mark der Ehre“, in: Wolfram Hülsemann, Michael Kohlstruck und Dirk Wilking (Hrsg.), Demos – Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung. Einblicke II. Ein Werkstattbuch, Potsdam 2007, S. 55–77 (zusammen mit Daniel Krüger); Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006 (herausgegeben zusammen mit Andreas Klärner); in Kürze erscheint: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Graduelle oder qualitative Unterschiede?, in: Richard Faber und Frank Unger (Hrsg.), Populismus in Geschichte und Gegenwart, (Würzburg 2008).
Autorenverzeichnis Dr. Johannes Marx, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft, Abt. Systemanalyse und Systemvergleich/Wirtschaft und Gesellschaft, der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsgebiete: Regieren in internationalen Institutionen, methodologische Probleme der Sozial- und Kulturwissenschaften, Handlungs- und Entscheidungstheorien. Ausgewählte Publikationen: Neue Politische Ökonomie in der Geschichte/ New Political Economy in History, Special Issue Historical Social Research/ Zeitschrift für Historische Sozialforschung 32 (4), 2007, (herausgegeben zusammen mit Andreas Frings); Vielfalt oder Einheit in den Theorien der Internationalen Beziehungen. Eine systematische Rekonstruktion, Integration und Bewertung, BadenBaden 2006; Wenn Diskurse baden gehen. Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16 (4), 2005, S. 81–105 (zusammen mit Andreas Frings). Dr. Harald Schmid, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg, Dozent in der politischen Erwachsenenbildung, Sprecher des Arbeitskreises Politik und Geschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Forschungsgebiete: politische Kultur und politisches System Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Aufarbeitung staatskrimineller Vergangenheiten. Ausgewählte Publikationen: Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität, Würzburg 2007 (herausgegeben zusammen mit Justyna Krzymianowska); Von der Katastrophe zum Stolperstein. Hamburg und der Nationalsozialismus nach 1945, Hamburg 2005 (zusammen mit Peter Reichel); Antifaschismus und Judenverfolgung. Die „Reichskristallnacht“ als politischer Gedenktag in der DDR, Göttingen 2004. PD Dr. Birgit Schwelling, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Forschungsgebiete: Erinnerungskulturen im 20. Jahrhundert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Politik. Ausgewählte Publikationen: Zeitgeschichte zwischen Erinnerung und Politik. Die Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte, der Verband der Heimkehrer und die Bundesregierung, 1957–1975, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2), 2008; Die Außenpolitik der Bundesrepublik und die deutsche Vergangenheit, in: Siegmar Schmidt u.a. (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Wiesbaden 2007, S. 101–111; Kulturwissenschaftliche Traditionslinien in der Politikiwssenschaft. Eric Voegelin revisited, in: Zeitschrift für Politik 52 (1), 2005, S. 3–24.
Seit etwa 20 Jahren ist der Begriff der Geschichtspolitik in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion. Geschichte als erinnerte Vergangenheit ist danach eine von Interessen abhängige Konstruktion. Doch nach welchen Prinzipien wird Geschichte konstruiert? Wer hat unter welchen Bedingungen aus welchen Gründen eine Deutungshoheit über vergangene Zeiten? Welche Legitimations-, welche Delegitimationsinteressen bestehen, die durch den Verweis auf Geschichte gestützt werden sollen?
Bislang sind geschichtspolitische Analysen eine Domäne der Historiographie. Der vorliegende Sammelband beleuchtet geschichtspolitische Vorgänge nun aus einer explizit politikwissenschaftlichen Perspektive. Die Beiträge erklären die Politik mit der Vergangenheit vor dem Hintergrund allgemeiner sozialwissenschaftlicher Theorien und greifen für ihre Analyse auf kulturwissenschaftliche Ansätze, die Systemtheorie, den RationalChoice-Ansatz oder die Theorie sozialer Identität zurück.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-09183-1