Gewalt und Unmaking in Lucans Bellum Civile: Textanalysen aus narratologischer, wirkungsästhetischer und gewaltsoziologischer Perspektiven) 9004379444, 9789004379442

In Gewalt und Unmaking in Lucans Bellum Civile entwickelt Hans-Peter Nill einen theoretischen Zugang zu zentralen Gewalt

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German Pages 403 [412] Year 2018

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Table of contents :
‎Inhalt
‎Danksagung
‎Kapitel 1. Einleitung
‎1.1. Voraussetzungen und Ziele
‎1.1.1. Lucanische Gewalt – Einführung und Überblick
‎1.1.2. Einordnung in die jüngere Lucan-Forschung
‎1.1.3. Aufbau der Studie
‎1.2. Vorgehensweise und Methoden
‎1.2.1. Gewalt und Soziologie
‎1.2.2. Gewalt und Literatur
‎1.2.3. Gewalt und Unmaking
‎Kapitel 2. Ästhetik und Zerstückelung: Marius Gratidianus
‎2.1. Text und Übersetzung: Lucan. 2.173–193a
‎2.2. Kontext, Inhalt, Aufbau
‎2.3. Forschungsstand
‎2.4. Interpretation
‎2.4.1. Gewaltkonstellation
‎2.4.2. Körper
‎2.4.3. Dehumanisierung
‎2.4.4. Ästhetik und Erzählung
‎2.4.5. Fazit
‎Kapitel 3. Verdichtung: Massensterben und Tiberflut
‎3.1. Text und Übersetzung: Lucan. 2.193b–220
‎3.2. Kontext, Inhalt, Aufbau
‎3.3. Forschungsstand
‎3.4. Interpretation
‎3.4.1. Gewaltkonstellation
‎3.4.2. Erzählmodus
‎3.4.3. Zeit
‎3.4.4. Erzählraum
‎3.4.5. Fazit
‎Kapitel 4. Tension: Die Seeschlacht vor Massilia
‎4.1. Text und Übersetzung: Lucan. 3.583–646
‎4.2. Kontext, Inhalt, Aufbau
‎4.3. Forschungsstand
‎4.4. Interpretation
‎4.4.1. Catus (Lucan. 3.583–591)
‎4.4.2. Telo (Lucan. 3.592–599)
‎4.4.3. Gyareus (Lucan. 3.599–602)
‎4.4.4. Zwilling (Lucan. 3.603–633a)
‎4.4.5. Lycidas (Lucan. 3.633b–646)
‎4.4.6. Fazit
‎Kapitel 5. Suspense: Hercules vs. Antaeus
‎5.1. Text und Übersetzung: Lucan. 4.593–653
‎5.2. Kontext, Inhalt, Aufbau
‎5.3. Forschungsstand
‎5.4. Interpretation
‎5.4.1. Gewaltkonstellation
‎5.4.2. Erzählraum
‎5.4.3. Körper
‎5.4.4. Suspense
‎5.4.5. Fazit
‎Kapitel 6. Exzess: Pharsalus
‎6.1. Text und Übersetzung: Lucan. 7.617–631
‎6.2. Kontext, Inhalt, Aufbau
‎6.3. Forschungsstand
‎6.4. Interpretation
‎6.4.1. Gewaltkonstellation
‎6.4.2. Körper und Verwundung
‎6.4.3. Erzählung des Exzesses vs. Exzess der Erzählung
‎6.4.4. Fazit
‎Kapitel 7. Schluss: Narrative Gewalt als Unmaking
‎Appendix: Aktanten narrativer Gewalt
‎Kürzel
‎Literaturverzeichnis
‎1. Abkürzungen
‎2. Textausgaben, Kommentare, Übersetzungen
‎2.1. Lucan
‎2.2. Andere Werke
‎3. Sekundärliteratur
‎Figuren- und Namensverzeichnis
‎Verzeichnis gewalt-, kultur- und literaturtheoretischer Begriffe
‎Stellenverzeichnis
‎Lucan
‎Andere Werke
‎Griechische Werke
‎Römische Werke
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Gewalt und Unmaking in Lucans Bellum Civile: Textanalysen aus narratologischer, wirkungsästhetischer und gewaltsoziologischer Perspektiven)
 9004379444, 9789004379442

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Gewalt und Unmaking in Lucans Bellum Civile

Amsterdam Studies in Classical Philology Series Editors Irene J.F. de Jong Caroline H.M. Kroon

Editorial Board Rutger J. Allan Mark A.J. Heerink

volume 27

The titles published in this series are listed at brill.com/ascp

Gewalt und Unmaking in Lucans Bellum Civile Textanalysen aus narratologischer, wirkungsästhetischer und gewaltsoziologischer Perspektive

von

Hans-Peter Nill

LEIDEN | BOSTON

The Library of Congress Cataloging-in-Publication Data is available online at http://catalog.loc.gov

Typeface for the Latin, Greek, and Cyrillic scripts: “Brill”. See and download: brill.com/brill‑typeface. ISSN 1380-6068 ISBN 978-90-04-37944-2 (hardback) ISBN 978-90-04-37945-9 (e-book) Copyright 2018 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Hes & De Graaf, Brill Nijhoff, Brill Rodopi, Brill Sense and Hotei Publishing. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill NV provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, MA 01923, USA. Fees are subject to change. This book is printed on acid-free paper and produced in a sustainable manner.

Inhalt Danksagung

vii

1 Einleitung 1 1.1 Voraussetzungen und Ziele 1 1.1.1 Lucanische Gewalt – Einführung und Überblick 1 1.1.2 Einordnung in die jüngere Lucan-Forschung 11 1.1.3 Aufbau der Studie 29 1.2 Vorgehensweise und Methoden 30 1.2.1 Gewalt und Soziologie 30 1.2.2 Gewalt und Literatur 47 1.2.3 Gewalt und Unmaking 83 2 Ästhetik und Zerstückelung: Marius Gratidianus 87 2.1 Text und Übersetzung: Lucan. 2.173–193a 87 2.2 Kontext, Inhalt, Aufbau 88 2.3 Forschungsstand 90 2.4 Interpretation 95 2.4.1 Gewaltkonstellation 96 2.4.2 Körper 104 2.4.3 Dehumanisierung 113 2.4.4 Ästhetik und Erzählung 115 2.4.5 Fazit 121 3 Verdichtung: Massensterben und Tiberflut 123 3.1 Text und Übersetzung: Lucan. 2.193b–220 123 3.2 Kontext, Inhalt, Aufbau 124 3.3 Forschungsstand 125 3.4 Interpretation 132 3.4.1 Gewaltkonstellation 133 3.4.2 Erzählmodus 136 3.4.3 Zeit 139 3.4.4 Erzählraum 141 3.4.5 Fazit 152 4 Tension: Die Seeschlacht vor Massilia 154 4.1 Text und Übersetzung: Lucan. 3.583–646 4.2 Kontext, Inhalt, Aufbau 158

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inhalt

4.3 Forschungsstand 160 4.4 Interpretation 163 4.4.1 Catus (Lucan. 3.583–591) 164 4.4.2 Telo (Lucan. 3.592–599) 180 4.4.3 Gyareus (Lucan. 3.599–602) 188 4.4.4 Zwilling (Lucan. 3.603–633a) 196 4.4.5 Lycidas (Lucan. 3.633b–646) 236 4.4.6 Fazit 255 5 Suspense: Hercules vs. Antaeus 257 5.1 Text und Übersetzung: Lucan. 4.593–653 5.2 Kontext, Inhalt, Aufbau 260 5.3 Forschungsstand 261 5.4 Interpretation 266 5.4.1 Gewaltkonstellation 268 5.4.2 Erzählraum 280 5.4.3 Körper 284 5.4.4 Suspense 290 5.4.5 Fazit 303

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6 Exzess: Pharsalus 304 6.1 Text und Übersetzung: Lucan. 7.617–631 304 6.2 Kontext, Inhalt, Aufbau 305 6.3 Forschungsstand 306 6.4 Interpretation 310 6.4.1 Gewaltkonstellation 311 6.4.2 Körper und Verwundung 314 6.4.3 Erzählung des Exzesses vs. Exzess der Erzählung 6.4.4 Fazit 335

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7 Schluss: Narrative Gewalt als Unmaking 337 Appendix: Aktanten narrativer Gewalt 351 Literaturverzeichnis 353 Figuren- und Namensverzeichnis 389 Verzeichnis gewalt-, kultur- und literaturtheoretischer Begriffe Stellenverzeichnis 394

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Danksagung Die vorliegende Arbeit wäre nicht ohne die vielfältige Unterstützung meiner Betreuer, Kollegen und Kolleginnen, Freunde und Familie zustandegekommen. Daher möchte ich meinen innigsten Dank an folgende Personen und Institutionen richten: Herr Prof. Dr. Kirstein stand mir über die letzten Jahre stets hilfsbereit und mit großer Begeisterung zur Seite. Nicht nur aufgrund seines breitgefächerten fachlich-methodischen Wissens, sondern auch wegen seines hochmotivierenden und freundschaftlichen Einsatzes war er ein idealer Doktorvater. Meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Mischa Meier danke ich für konstruktives Feedback und unschätzbar wertvolle akademische Förderung. Besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. David Konstan sowohl für die Anfertigung des Drittgutachtens als auch für intellektuell bereichernde Diskussionen. Ein elementarer Baustein zur Umsetzung des Projektes war zudem das zweijährige Stipendium der Landesgraduiertenförderung durch die Universität Tübingen. Dabei möchte ich besonders Frau Prof. Dr. Irmgard Männlein-Robert für ihr beherztes Engagement danken sowie auch für die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes. Für anregenden Austausch in angenehmster und zugleich produktiver Arbeitsatmosphäre bin ich meinen Kollegen und Kolleginnen der Tübinger Working Group Narrative Dynamics in Latin Literature dankbar: Dr. Andreas Abele, Simon Grund, Aurelia Gumz, Elisabeth Schedel und Julian Wagner. Sie, aber auch Ulrike Falkenstein, Sandra Fedowitz, Christine Hecht und Alexandra Kailbach-Mehl haben sich für die redaktionelle Überprüfung meiner Manuskripte bereit erklärt. Ebenso geht mein Dank an Katrin Ganzenberg für liebevollen Rückhalt während der Promotion. Auch durch ihren offenen Geist und scharfen Verstand war und ist sie eine unentbehrliche Gesprächspartnerin und Stütze in meinem Leben. Meine Eltern, Gisela und Siegfried Nill, haben dieses Werk in all seinen Phasen mit jeder möglichen Unterstützung bedacht. Ohne ihre Hilfe wäre dessen Beginn und Vollendung nicht möglich gewesen. Daher widme ich ihnen dieses Buch. Den Herausgeberinnen Prof. Dr. Irene J.F. de Jong und Prof. Dr. Caroline H.M. Kroon danke ich für die Aufnahme meiner überarbeiteten Dissertation in die Reihe Amsterdam Studies in Classical Philology. Für die freundliche editorische Betreuung bedanke ich mich bei Giulia Moriconi und Kim Fiona Plas.

kapitel 1

Einleitung 1.1

Voraussetzungen und Ziele

1.1.1

Lucanische Gewalt – Einführung und Überblick

Impendisse pudet lacrimas in funere mundi mortibus innumeris, ac singula fata sequentem quaerere letiferum per cuius viscera vulnus 620 exierit, quis fusa solo vitalia calcet, ore quis adverso demissum faucibus ensem expulerit moriens anima, quis corruat ictus, quis steterit dum membra cadunt, qui pectore tela transmittant aut quos campis affixerit hasta, 625 quis cruor emissis perruperit aera venis inque hostis cadat arma sui, quis pectora fratris caedat et, ut notum possit spoliare cadaver, abscisum longe mittat caput, ora parentis quis laceret nimiaque probet spectantibus ira 630 quem iugulat non esse patrem. mors nulla querella digna sua est, nullosque hominum lugere vacamus. Lucan. 7.617–631

Beim Untergang der Welt schämt man sich, Tränen für unzählige Tode zu vergießen und, während man einzelne Schicksale verfolgt, zu fragen, durch wessen Eingeweide eine tödliche Wunde hervordrang; wer auf seine inneren Organe (620) trat, die auf den Boden geglitten waren; wer, dem Feinde zugewandt, das in seinen Rachen versenkte Schwert mit seinem letzten Lebenshauch sterbend ausstieß; wer getroffen zusammenbrach; wer stehenblieb, während seine Glieder zu Boden fielen; wer die Geschosse durch die Brust dringen ließ oder wen die Lanze auf das Schlachtfeld heftete; (625) wessen Blut sich aus offenen Adern mit Gewalt einen Weg durch die Luft bahnte und auf die Rüstung des Feindes ergoss; wer die Brust seines Bruders durchbohrte und, um den ihm bekannten Leichnam plündern zu können, das abgetrennte Haupt weithin fortwarf; wer das Gesicht seines Erzeugers verstümmelte und durch allzu großen Zorn denen, die dies mitansahen, glaubhaft machen wollte, dass derje-

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi:10.1163/9789004379459_002

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kapitel 1

nige, dem er die Kehle abschnitt, (630) nicht sein Vater sei. Kein Tod ist einer eigenen Klage wert, und es obliegt uns nicht auch nur einen der Männer zu betrauern.1 Extreme Gewaltdarstellungen wie etwa die Pharsalus-Schlacht nehmen in Lucans Werk De Bello Civili einen auffällig breiten Raum ein. Man kann sogar sagen, dass kein epischer Dichter vor Lucan Gewaltszenen so intensiv und repetitiv eingesetzt und neu inszeniert hat.2 Beim modernen Rezipienten rufen sie ein insgesamt breites Spektrum an Reaktionen hervor, die von Grauen und Ekel über Befremden bis hin zu Amusement reichen, und sich zum Teil auch in der Forschung widerspiegeln. Mit Blick auf die Sterbeszenen des dritten Buches bemerkt etwa Martin Zimmermann: „Die Tode wirken freilich irreal und von der Wirklichkeit, in der die Leser lebten, getrennt. […] Die Lektüre dieser Verse“, so Zimmermann bezüglich der Beschreibung der verwesenden Leichenberge, die die Pharsalus-Schlacht hinterlässt (Lucan. 7.786ff.), „ist selbst für einen Leser, der mit antiken Gewaltbildern vertraut ist, schier unerträglich.“3 Shadi Bartsch hingegen sieht sich während der Lektüre bisweilen an die britische Komikergruppe ‚Monty Python‘ erinnert: „Recall, for example, the MontyPythonesque fate of the Massilian who has one hand chopped off while grasping an enemy ship.“4 Unter dem Eindruck allgemeiner Irritation erhebt sich häufig die Frage nach Ursache und Zweck solcher Darstellungen, woraus in der Vergangenheit eine bunte Fülle möglicher Antworten hervorging. Ein prominenter Erklärungsversuch geht auf Manfred Fuhrmann zurück, der die narrative Gestaltung expliziter Gewalt als Produkt des Zeitgeistes und der literarischkünstlerischen Tendenzen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts ansieht.5 In direkter Anknüpfung betrachtet Dirk Rohmann die übersteigert wirkende Schilderung grausiger Todesarten im Kontext der historischen, politischen und kulturellen Umstände der frühen Kaiserzeit und richtet dabei den Blick auf das

1 Alle lateinisch-deutschen Übersetzungen der vorliegenden Studie wurden, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser angefertigt. 2 Vgl. Fuhrmann 1968: 31–57; Most (1992: 398) zeigt im statistischen Vergleich mit Homer, Vergil, Silius Italicus und Statius, dass kein anderer Epiker in seinem Werk einen so hohen Anteil an geschilderten Amputationen aufweist wie Lucan, sodass er zu dem Schluss kommt (399): „[…] evidently amputations have become so frequent in the Bellum Civile that they have lost some of their exceptional impact and, by their very drastic quality, can come to stand for injuries in general.“ 3 Zimmermann 2013: 354–355. 4 Bartsch 1997: 37; dabei beruft sie sich insbesondere auf Johnson (1987: 56) und dessen Ansatz des „comic-ugly“. 5 Fuhrmann 1968: 41–57.

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Amphitheater.6 Zudem hält er, trotz einer generellen Distanzierung vom spekulativen Zusammenhang zwischen den Arenaspielen und Literatur, dennoch einen derartigen Einfluss auf Lucans Darstellungsweise für plausibel.7 Bartsch hingegen sieht in der Fragmentierung der Körper einen Ausdruck für die Auflösung staatlicher Strukturen und normativer Werte.8 Nach Ulrich Gotter erfüllen die Gewaltszenen die Funktion, im Rezipienten ein Gefühl des Mitleidens zu generieren.9 Die vorliegende Studie wählt einen anderen Zugang zum Text. Sie versucht eher nach dem phänomenologischen ‚Wie?‘ der narrativen Repräsentation der Gewalt zu fragen als nach dem ‚Warum?‘, nicht zuletzt, weil Letzteres eine Rekonstruktion der Werk- oder Autorintention implizieren würde. Sie wählt ihren methodischen Zugang über die fachlichen Grenzen der Philologie hinaus und orientiert sich an jüngeren Tendenzen der soziologischen Gewaltforschung, deren Ziel ebenfalls darin besteht nach den Modalitäten der Gewalt zu fragen. Mit den Worten des Soziologen Trutz von Trotha: „Der Schlüssel zur Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden. Das ist der erste und wichtigste Grundsatz einer genuinen Gewaltanalyse.“10 Es soll aber nicht beabsichtigt werden, für die Analyse der Gewaltszenen im Bellum Civile einen ‚golden key‘ auszuarbeiten, um diese in irgendeiner Weise ‚vollständig‘ erfassen zu können. Vielmehr trägt die Untersuchung einen bewusst experimentellen Charakter und ist daher als eine Art ‚Probebohrung‘ anzusehen. Es geht um den Versuch, soziologische Ansätze als Hilfsmittel für die Arbeit am literarischen Text heranzuziehen, um den Blick für das ‚fassungslose‘ Phä6

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Rohmann (2006: 8): „Wiederum kann die Gewalt bei Lucan mit institutionellen Änderungen in Zusammenhang gebracht werden: Angesichts der Zunahme des erlebten Grauens in Epik, Tragödie und Philosophie, nicht zuletzt auch im Amphitheater, musste Kritik an der Gewalt notwendig in der Art und Weise, die Lucan wählte, artikuliert werden. […] Nach dieser Interpretation ist Lucan der wichtigste, ja der einzige Kritiker der medialisierten Gewalt seiner Zeit […].“ Rohmann 2006: 202. Bartsch (1997: 17): „[…] it should be clear that the wholeness of the body is rudely and graphically violated as a principal casuality of civil war. The scope of this violation of boundaries extends outward to the universe as it extends inward to the body; microcosm and macrocosm reflect the dissolution of all normative limits“; vgl. Masters (1992: 42): „Every pattern of death imitates in some way Lucan’s civil-war imagery“; im Kontext der Verstümmelung des Marius Gratidianus (2.173–193) s. Dinter (2012: 47): „his [Marius’] total dismemberment stands in for the dissection of the Roman body in the future civil war and thus prefigures the downfall of the Roman Republic“. Gotter (2011: 60): „Das Pathos, das Mit-Leiden, das sein Blick auf die grausig Verstümmelten und Verreckenden repetitiv erweckt, ist nur im Biotop eines Bürgerkriegs wirklich funktional.“ Trotha 1997a: 20.

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kapitel 1

nomen der Gewalt zu schärfen. Dabei gilt zu beachten, dass es sich bei Lucans Epos um ein literarisches Werk, und damit nicht um die Darstellung realer, sondern fiktiver Gewalt in einem fiktionalen Text handelt.11 Lucan erzählt von Gewalt, die im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius tatsächlich zur Anwendung kam, bringt sie jedoch durch sprachliche und narrative Gestaltung davon abweichend zum Ausdruck.12 Daher sind bei der Durchführung der Arbeit erzähl- und literaturtheoretische Methoden und Modelle von zentraler Bedeutung.13 Erstens lässt sich das ‚Wie?‘ der Gewaltszenen, d.h. deren narrative Struktur, anhand erzähltheoretischer Beschreibungskategorien systematisch aufarbeiten. Zweitens geht es auch um die Darlegung dynamischer, strukturauflösender Prozesse. Ein ‚antichronischer‘ Zeitverlauf etwa lässt sich anhand narratologischer Kategorien wie Erzählzeit, erzählter Zeit, Fokalisierung etc. aufzeigen und in direktem Anschluss im Spiegel der von Wolfgang Sofsky theoretisch ausgearbeiteten Gewaltzeit analysieren.14 Dies weist wiederum eine hohe Affinität zu ästhetischen Kategorien wie etwa Plötzlichkeit auf.15 Das Verhältnis zwischen Gewalt und Ästhetik (nicht im philosophischen, sondern literaturtheoretischen Sinne) erhält somit besondere Bedeutung, schließlich ist Gewalt „ein genuiner Bestandteil ästhetischer Produktion“.16 Das besondere Interesse dieser Arbeit liegt auf Gewalt als selbstreferentielles Phänomen, ihren Einzelheiten und ihrer Prozesshaftigkeit und nicht auf irgendwelchen Motiven, die ihr vorgelagert sind. Dieser Aspekt soll eingehend in die Textanalyse mit einfließen, da er nicht nur zum beschreibenden Charakter der Erzähltheorie, sondern auch zur skizzierten soziologischen Gewaltforschung bemerkenswerte Kongruenz aufweist: Umkehrung und Aufhebung der Zweckstrukturen zeigen die Grenzen des Rationalitätsmodells. Beharrt man weiterhin auf dieser Vorstellung,

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Zu den Begriffen fiktional und fiktiv s. Schmid (2008: 26): „Ein Roman ist fiktional, seine dargestellte Welt ist fiktiv“; vgl. Zipfel 2001; Gorman 2008; Barsch 2013; zur Grenzziehung zwischen ‚fiction‘ und ‚non-fiction‘ s. Lamarque 2014. Dies wird verstärkt durch Lucans Anknüpfung an entsprechende Topoi und Motive, die beim gebildeten Leser weitere Konnotationen und Schlussfolgerungen hervorrufen. Die Grenze zwischen literatur- und kulturwissenschaftlichen Modellen ist hierbei fließend, wie sich später zeigen wird. Genette 2010: 53–73; Sofsky 1997. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, ob die vornehmlich deskriptive Erzähltheorie zu einer Interpretation herangezogen werden kann, s. Kindt/Müller 2003. Vgl. Bohrer 1998b. Wertheimer 2006: 19.

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erhält man ein ganz einseitiges Bild realer Gewalttätigkeit. Aus der Tatsache, dass viele Taten mit Bedacht verübt werden, folgt mitnichten, dass sie irgendein Ziel hätten. Zwar lassen sich aus der Ferne immer irgendwelche Zwecke oder Funktionen zuschreiben. Was die Aktivitäten aber wirklich lenkt, hat damit häufig wenig zu tun. Als ob es für alles menschliche Verhalten einen zureichenden Grund, einen teleologischen Sinn geben müsse, der das bloße Tun transzendiert. Absolute Gewalt genügt sich selbst. Daher verfehlt der instrumentelle Begriff der Gewalt von vornherein jenen Schwellenpunkt, an dem Gewalt in Grausamkeit umschlägt. Und er übersieht alle Vorgänge, die nicht von Kalkülen gesteuert werden, weil sie nämlich selbst die Kalkulationen steuern.17 Komplementär zum soziologisch-erzähltheoretisch-ästhetischen Ansatz wird das Bellum Civile vor dem Horizont postmodernen bzw. poststrukturalistischen Kunstwollens analysiert. Das Fragmentarische, Offenheit, Ambivalenz, Möglichkeit und Pluralität bilden Leitmotive, die sich im dekonstruierenden Prozess des Unmaking, einem wesentlichen Charakteristikum Lucanischer Gewalt, verdichten.18 Es wird also zugrunde gelegt, dass Gesichtspunkte und Erkenntnisse, die durch die Postmoderne-Diskussion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in das moderne Bewusstsein gedrungen sind, auch einen neuen Zugang zu älteren Texten ermöglichen und das interdisziplinäre Möglichkeitsspektrum erweitern. Mit der zunächst skizzenhaften Begründung für den hier vorliegenden Ansatz und der Erweiterung der methodischen Bandbreite durch einerseits soziologische und kulturwissenschaftliche sowie andererseits erzähl- und literaturtheoretischer Kategorien stellt sich die Arbeit zugleich in eine Line mit jüngeren Tendenzen der Lucan-Forschung. Sie ist damit in der Tradition der ‚kontextualisierten‘, leserorientierten Lektüre zu verorten, wie sie Sylvie Franchet d’Espèrey formuliert: Le seconde [nombreuse orientation de la critique contemporaine] consiste à mettre l’accent sur la lecture, à envisager les choses du point de vue du lecteur, et non plus du point de vue du créateur.19

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Sofsky 1996: 53. Zum Begriff der Postmoderne s.u. 80–83, sowie z.B. Lyotard 1994; Zima 2001b; Welsch 2002; Bauman 2005; der Begriff des Unmaking wird in Abschnitt 1.2.3. näher erläutert. Franchet d’Espèrey 2010: 14. Ihr Begriff der Kontextualisierung zielt nicht auf den Ursprung und das Entstehen von Literatur in ihrem zeithistorischen Kontext, wie etwa von

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kapitel 1

Das Ziel dieser Art von Lektüre liegt also darin, das sowohl zeitübergreifende, universale Thema der Gewalt als auch zugleich dessen stete Aktualisierung durch Literatur, Gesellschaft und Kultur aufzuzeigen.20 Unsere heutige Auseinandersetzung mit Gewalt gibt uns damit Werkzeuge in die Hand, literarische Gewalt in älteren Texten aus einer anderen ertragreichen Perspektive beschreibbar zu machen.21 Auf diese Weise soll dem in der Lucan-Forschung nach wie vor substanziellen Postulat der Methodenreflexion nachgegangen werden, um dem „Leerlauf einiger Ansätze“ weiter entgegenzuwirken.22 Vor diesem Hintergrund setzt sich die vorliegende Arbeit folgende Ziele: Einzelne ausgewählte Gewaltdarstellungen in Lucans Bellum Civile sollen systematisch und umfassend analysiert werden. Die Untersuchung unternimmt den Versuch eines Perspektivenwechsels weg von der Frage nach den Gründen und Autorintentionen hin zu den Formen und Modalitäten der narrativ vermittelten Gewalt. Auf diese Weise soll ein möglichst hochauflösendes Bild der Lucanischen Gewalt entwickelt werden und überkommene Meinungen bezüglich vermeintlich ‚typischer‘ Gewaltszenen, die als repräsentativ für alle übrigen herangezogen wurden, sollen im Zuge der Studie widerlegt werden. Denn die Untersuchung einer Partie, wie etwa der Scaeva-Erzählung (Lucan. 6.169–249), die in der Forschung zu einiger Berühmtheit gelangte,23 ist keinesfalls als diskursdo-

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Lamarque (2009: 78–81) erläutert, sondern in verkehrter Blickrichtung auf den Kontext des ‚modernen‘ Lesers heutiger Zeit. Vgl. Franchet d’Espèrey (2010: 16): „L’intérêt de ce type de lecture ‘contextualisée’ est de mettre en évidence à la fois de thèmes universels et leur actualisation constante.“ Vgl. Franchet d’Espèrey (2010: 16): „[…] la perception de la violence d’ auhourd’ hui donne des instruments pour la lecture de la violence d’autrefois.“ Vgl. Walde (2005a: VIII): „Im Falle des Lucanischen Epos werden die Referenzen der Deutung häufig ohne tiefere Methodenreflexion von außen herangetragen: […]. Wenn es auch töricht wäre zu leugnen, dass diese Aspekte in der Lucan-Forschung eine große Rolle spielen müssen, ist nun doch ein Punkt erreicht, an denen der Leerlauf einiger Ansätze manifest geworden ist. Es kann nicht länger befriedigen, dass die Lucan-Forschung in vielfacher Hinsicht nur als eine Variable der entsprechenden Positionen der Vergil-Forschung (Augustan reception contra pro-augusteische Huldigung) auftritt, ja dass durch die strikten Interpretationsprämissen eine Lucan-Forschung eigenen Rechts kaum zu existieren scheint“; s. auch XVII: „Da subjektive Lesungen unvermeidlich sind, ist eine ständige Methodenreflexion nötig. […] Dafür votiere ich für eine durch Methodenreflexion zu Wege gebrachte Optimierung der entsprechenden Argumente. Bei allen Zugangsweisen sollten diese nach ihren methodischen Voraussetzungen hin offengelegt werden, damit den Rezipienten die Tragweite der Interpretation ohne weiteres klar ist.“ Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sich innerhalb des letzten Jahrzehnts eine „Lucan-Forschung eigenen Rechts“ hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte zumindest teilweise etabliert hat, wie etwa an den Beiträgen von Walde (2005b), Hömke/Reitz (2010), Devillers/Franchet d’Espèrey (2010), Dinter (2012) und Ambühl (2015) nachzuvollziehen ist. Vgl. Metger 1957: 165–177; Rutz 1960; Marti 1966; Conte 1974; Ahl 1976: 117–121; Saylor 1978;

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minierend anzusehen. Ein solches Vorgehen übersieht den polyphonen Charakter der im Epos geschilderten Gewalt. Anhand soziologischer, erzähl- und literaturtheoretischer Methoden eröffnen sich Perspektiven, die es zum einen ermöglichen, den Blick auf die narrativen Strukturen Lucanischer Gewaltdarstellungen weiter zu schärfen. Zum anderen lassen sich durch den interdisziplinären Zugang zum Text dynamische und strukturauflösende Tendenzen sichtbar machen. Diese beschränken sich nicht nur auf das wechselseitige Bedingungsverhältnis der Gewalt auf fabula- und story-Ebene, sondern bilden sich über den Text hinaus im ästhetischen Prozess der Lektüre ab. Es gilt, die Gleichzeitigkeit von Struktur und Auflösung, die im Begriff des Unmaking zum Ausdruck kommt, als konstitutives Merkmal Lucanischer Gewalt nachzuweisen. So versucht die vorliegende Arbeit in ihrer philologischen und zugleich interdisziplinären Ausrichtung der Komplexität der Lucanischen Gewalt gerecht zu werden und zudem einen Beitrag zur allgemeinen, fächerübergreifenden Gewaltforschung zu leisten – natürlich in dem Bewusstsein, dass es sich bei dem untersuchten Gegenstand um ein literarisches Kunstwerk handelt. Welcher Gewaltbegriff liegt der folgenden Untersuchung zugrunde? So unmöglich es ist, das breite Spektrum der narrativen Vermittlung von Gewalt im Bellum Civile anhand einer einzelnen Szene aufzuzeigen, so aussichtslos scheint der Versuch einen allgemeinen Konsens darüber herbeizuführen, was genau unter ‚Gewalt‘ zu verstehen ist. Insbesondere im deutschen Sprachraum hängt dies mit der semantischen Unschärfe zusammen, die dem Begriff aufgrund seiner etymologischen Herkunft inhärent ist. Denn dieser leitet sich von jeweils zwei lateinischen Begriffspaaren ab: einerseits von violentia bzw. vis, andererseits von potentia bzw. potestas.24 Diese Unterscheidung wird dagegen im englischen oder französischen Sprachgebrauch klar ersichtlich, der die Begriffe violence und power bzw. pouvoir kennt.25 Aus dem Blickwinkel der

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Johnson 1987: 57–60; Lucifora 1991b; Schlonski 1995: 68–98; Leigh 1997: 158–190; Gorman 2001: 277–279; Sklenář 2003: 45–58 u. 149–151; Reitz 2006: 93–96; D’Alessandro-Behr 2007: 45–53; Henderson 2010: 440–446 u. 482–484; Hömke 2010; Utard 2011; Fratantuono 2012: 226–231; Hömke 2012: 34–83. Zum Gewaltbegriff vgl. Faber, Karl Georg/Meier, Christian/Ilting, Karl-Heinz (1982): Macht, Gewalt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart: Klett-Cotta. 817–935; Hofmann 1985; Busse (1991) untersucht insbesondere die Definition des Gewaltbegriffs in deutschen Wörterbüchern; s. außerdem Corbineau-Hoffmann/Nicklas 2000; Imbusch 2005: 26; Knape (2006: 59–61) betrachtet die Bedeutungsdimensionen Macht, Zwang, Notwendigkeit, Gewalt (im Sinne von violence), Aggression, Beeinflussung und Manipulation. Zur Begriffserklärung s. Christ/Gudehus (2013: 4): „Ersteres fokussiert auf die Handlung, eine in konkreten Situationen von Akteuren ausgeübte Tat, die physisch oder psychisch schädigt. Die von der Handlung (potenziell) Betroffenen möchten sie vermeiden, darin liegt ihr zwingender Charakter. Denn um sich in Macht zu transformieren, muss sie

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Moderne schöpft sich diese Differenz vornehmlich aus der Bestimmung von Legitimität und Illegitimität der Gewalt und führt zur Aushandlung des Bedingungsverhältnisses zwischen Gewalt und Macht.26 Heutige (bzw. moderne) Vorstellungen von legitimer bzw. illegitimer Gewalt dürfen jedoch keinesfalls unvoreingenommen auf das antike römische (oder griechische) Verständnis übertragen werden.27 Die negative Wertung des deutschen Wortes ‚Gewalt‘ entspricht im Lateinischen am ehesten dem Begriff violentia.28 Dagegen ist das im physischen Kontext von körperlicher Gewalt, Kraft, sexueller Gewalt, Rechtsprechung, politischer Handlung und Krieg gebrauchte vis sowohl negativ als auch neutral und positiv konnotiert.29 Für die Legitimation von Gewalt war es im republikanischen und kaiserzeitlichen Rom nicht relevant, von welcher Art oder Intensität diese war, sondern vielmehr wer wem Gewalt angetan hat. Die Wahrnehmung illegitimer Gewalt wurde damit weniger von allgemeinen moralischen Vorstellungen bestimmt, sondern ergab sich aus der konkreten

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nicht realisiert werden – die bloße Drohung genügt. Womit die Brücke zu pouvoir/power geschlagen wäre; die Staatsgewalt als Staatsmacht lebt von dieser Potenzialität.“ Einen erhellenden Überblick über die Diskussion, in welcher Relation Gewalt und Macht zueinander stehen, liefert Imbusch (2005: 27, Anm. 9): „Mit dem Wort Gewalt lassen sich also zwei verschiedene Sachverhalte bezeichnen, die allerdings in ihrem Kern wiederum nicht so verschieden sind, dass sie nicht erneut ineinander übergehen könnten. Die Verbindungen, die zwischen Macht und Gewalt bestehen, werden von einzelnen Autoren unterschiedlich eingeschätzt. Mehrheitlich scheint mir die Meinung vorzuherrschen, dass Gewalt sich dem Oberbegriff Macht subsumieren ließe. Popitz (1992) fasst z.B. Gewalt als eine Form und ein Phänomen der Macht auf, die direkteste Aktion von Macht ist die blanke Aktionsmacht, die ihrerseits wieder als Verletzungsmacht gefasst wird. Auch für Sofsky (1993b) stellt Gewalt eine Form der Machtausübung dar, absolute Gewalt ist für ihn die höchste Inkarnation dieser Macht. Canetti (1980: 333) ordnet Macht und Gewalt auf einem Kontinuum an. Gewalt sei zwar erzwungener und unmittelbarer als Macht, letztere aber auf ihren tieferen und animalischeren Stufen als Gewalt zu bezeichnen. Auch in etymologischer Hinsicht scheint einiges dafür zu sprechen, einen engen Nexus von Macht und Gewalt anzunehmen (Faber/Ilting/Meier 1982). Hannah Arendt (1970) hat dagegen Macht und Gewalt als Gegensätze gesehen. Für sie gibt es zwischen Macht und Gewalt weder quantitative noch qualitative Übergänge. Deshalb lässt sich für sie weder die Macht aus der Gewalt noch die Gewalt aus der Macht ableiten. Gewalt hat für sie immer instrumentellen, auf Mittel und Werkzeuge gegründeten Charakter. Macht dagegen beruht für Arendt dagegen auf Kommunikation, Anerkennung und Konsens, sie emergiert sozusagen im Modus der Verständigung zwischen Subjekten“; zur gesellschaftlichen Aushandlung von Legitimation der Gewalt s. Bauman 2000. S. hierzu insbesondere Rohmann 2006: 18–54. OLD, s.v. ‚violentia (1)‘, 2068. Zur negativen Konnotation s. OLD, s.v. ‚vis‘ (1–6; 9–10); zur neutralen und positiven OLD, s.v. ‚vis‘ (7; 11–15), wozu auch nahezu alle Pluralformen hinzugenommen werden können (20–28); vgl. Rohmann 2006: 24.

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sozialen und politischen Konstellation.30 Daher ist Gewalt im Bürgerkrieg, in dem sich Römer und Römer, Schwiegerväter und Schwiegersöhne, Väter und Söhne gegenüberstehen, aus antiker Sicht immer als illegitim anzusehen. Dies kommt in der eingangs geschilderten Partie etwa dadurch zum Ausdruck, dass bereits erschlagene Brüder enthauptet werden, um ihren ‚anonymisierten‘ Leichnam plündern zu können (626–628a). In die gleiche Richtung zielt die Verstümmelung des väterlichen Antlitzes um die letzten Spuren familiärer und sozialer Bindung unter den Blicken der Kampfesgefährten zu verwischen (628b–630).31 In der modernen Gewaltforschung werden je nach perspektivischer Ausrichtung, sei sie politisch, ideologisch oder sozial, zahlreiche qualitative Differenzierungen vorgenommen. So stößt man in der Literatur auf direkte und indirekte Gewalt, physische, psychische, aber auch strukturelle, kulturelle und symbolische Gewalt, kommunikative Gewalt, Gewalt gegen Sachen, Naturgewalt etc.32 Heinrich Popitz weist schließlich auf das Problem hin, dass ein

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Vgl. Rohmann (2006: 25–26): „Nicht welche Art von Gewalt eine bestimmte Person ausübte, war demnach entscheidend, sondern wer sie ausübte. […] Der Vorwurf der Grausamkeit war nicht moralisch, sondern vornehmlich politisch oder sozial motiviert“; zur ambivalenten Darstellung von Gewalt, die sich als signifikant destruktives Element in ordnungsstiftende ‚legitime‘ Diskurse einschreibt, s. Zimmermann 2009b. Zur Darstellung des Bürgerkriegs als Verbrechen (scelus) s. Lucan. 1.2: iusque sceleri datum; vgl. 2.61; 2.49; 4.26 etc.; insbesondere in der Scaeva-Episode wird auf die Illegitimität der Gewalt hingewiesen, die mit der Umwertung von virtus einherzugehen scheint: pronus ad omne nefas et nesciret in armis | quam magnum virtus crimen civilibus esset (6.147–148); dass beide Bürgerkriegsparteien sich an der illegitimen Ausübung von Gewalt beteiligt haben, zeigt sich gleich zu Beginn des Epos in 1.5–6: certatum … in commune nefas. Auf die physische Gewalt, deren Grenzen zur psychischen oft fließend ist, wird in Abschnitt 1.2.1. ‚Gewalt und Soziologie‘ näher eingegangen. Den Begriff der ‚strukturellen Gewalt‘ prägte Johan Galtung (1969, 1971, 1975) in seinen kritischen Untersuchungen zur Friedensforschung. Strukturelle Gewalt kann als Gegenbegriff zur enger gefassten physischen Gewalt gesehen werden: „Die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen […] Um das Wort Gewalt nicht zu sehr zu strapazieren, werden wir die Bedingung der strukturellen Gewalt zuweilen als soziale Ungerechtigkeit bezeichnen“ (1971: 62). Etwa 20 Jahre später erweiterte er seine Theorie und entwickelte den Begriff der ‚kulturellen Gewalt‘, die, so Galtung, das Ziel verfolgt direkte und strukturelle Gewalt als unrechtmäßig zu charakterisieren (Galtung 1990). Hieran knüpft Bourdieu mit seinem Konzept der ‚symbolischen Gewalt‘ (Bourdieu/Passeron 1973). Deren Funktion sei es, in Sprache und Symbolsysteme eingetaktete Gewalt zu verschleiern und unkenntlich zu machen, sodass diese einer kritischen Hinterfragung möglichst entzogen wird. In ähnlicher Weise verweist Spivak (1988: 302), eine Theoretikerin des Postkolonialismus, mit dem von ihr geprägten Begriff der ‚epistemischen Gewalt‘ auf herrschaftskonsolidierende Wissensstrukturen; Butler (1990: xix–xx) deckt mit ihrer Abhandlung über ‚normative Gewalt‘ Normen auf, mittels derer

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derart weit gefasster Begriff zu einer erschwerten Tauglichkeit für die wissenschaftliche Gewaltanalyse führt. Daher stellte er diesem einen eigenen, in der Forschung heute weithin akzeptierten Ansatz gegenüber: Wir wollen den Begriff der Macht nicht dehnen und zerren, wie es üblich geworden ist. Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt […].33 Eine solch „entmaterialisierte“34 Sicht auf die Gewalt scheint die in Lucans Bellum Civile dargestellte Gewalt wohl nur schwer erfassen zu können, da der narrative Fokus gerade auf die Verletzung des Körpers gerichtet ist, wie fast schon paradigmatisch in den eingangs zitierten Versen zu erkennen (s.o.). Die folgende Untersuchung legt damit prinzipiell einen an Popitz’ orientierten Begriff der physischen Gewalt zugrunde, dessen Kategorien das methodische Vorgehen der soziologischen ‚Gewaltinnovateure‘ den Weg bereiteten.35 Die Darstellung des Körpers ist dabei als zentraler Bestandteil der Gewaltszenen anzusehen, ebenso wie die Aspekte Verletzungsoffenheit und Verletzungsmächtigkeit. Die Figuren in Lucans Werk sind grundsätzlich – und bisweilen in übersteigertem Maße – verletzbar und zugleich in der Lage, sich die Verletzbarkeit ihrer Gegner nutzbar zu machen. Gerade die Berücksichtigung der Verletzungsoffenheit ist für die Untersuchung wesentlich, da der Erzähler häufig die Perspektive des Gewalterleidens in den Vordergrund rückt. Zudem wird im Folgenden von einer absichtsvollen Aktion ausgegangen, die sich durch die Kategorien zielgerichtet und nicht zielgerichtet weiter auffächern lässt. Komplementär hierzu kann Gewalt sowohl aktiv als auch passiv erlitten werden. Erst der Blick auf den Prozess körperlicher Verwundung sowie auf die Figuration eines Kampfes hebt häufig die Eigendynamik der Gewalt in das Bewusstsein des Lesers. In der zitierten Lucan-Episode lässt sich etwa an der Enthauptung des Bruders sowie auch der Verstümmelung des Vaters (626–630) belegen,

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festgelegt wird, wer sich in den öffentlich-gesellschaftlichen Diskurs einbringen kann und wer nicht; Knape (2006) geht näher auf den Aspekt Gewalt in der Kommunikation ein. Popitz 1992: 48. Christ/Gudehus (2013: 2) bezeichnen seinen Beitrag als „Klassiker der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung“. Zum Einwand der „Vergeistigung“ und „Entmaterialisierung des Gewaltbegriffs“ s. Nedelmann 1997: 61; speziell zu Galtungs Gewaltbegriff vgl. Baberowski (2008: 9): „Vor allem aber spricht das Konzept Johan Galtungs überhaupt nicht von der Gewalt. Denn wo Gewalt ausgeübt wird, gibt es Täter und Opfer. Die strukturelle Gewalt dagegen ist eine Variante sozialer Ungleichheit, die keinen Täter kennt. Deshalb sollte, wer soziale Ungleichheit beklagt, nicht von Gewalt sprechen.“ Vgl. Nedelmann 1997: 61–72.

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dass eine präzise Analyse der Gewaltkonstellation dazu beiträgt, die überkommene Täter-Opfer-Dichotomie zu überwinden, und ‚das Dritte‘ – in diesem Fall die Zuschauer (spectantibus, 629) – in die Analyse miteinzubeziehen.36 Anhand dieser Systematisierung lassen sich Eigendynamik und Entgrenzung besser beschreibbar machen, mit den Worten Sofskys: „Der Exzess absoluter Gewalt ist keine Verfallsform des Kampfes, er ist in seiner Struktur selbst angelegt.“37 Im Bellum Civile ist eine dynamische Wechselwirkung jedoch nicht nur in interpersonaler Dimension zwischen den einzelnen Gewaltakteuren zu beobachten, sondern ganz besonders auch zwischen der narrativ vermittelten Gewalt und dem Erzählraum. Wie sich zeigen wird, übernimmt dieser keinesfalls die Funktion eines statischen Schauplatzes, vielmehr wird durch dessen narrative Gestaltung die fiktive Gewalt für den Leser häufig erst realisierbar. Lucanische Gewalt ist als Grenzphänomen anzusehen. Sie vollzieht sich in zahlreichen Fällen bei der Überschreitung einer topographischen, topologischen oder semantischen Grenze. Entgrenzung der Gewalt geht häufig mit der Entgrenzung durch Gewalt einher. Man denke an den Soldaten, der durch Desintegration der ‚Körpergrenze‘ in seine eigenen Eingeweide tritt (quis fusa solo vitalia calcet, 620). Zusammenfassend lässt sich sagen: Bei der Analyse ausgewählter Szenen, in denen körperliche Gewalt dargestellt wird, sind – durch das Brennglas soziologischer, erzähl- und literaturtheoretischer Ansätze – Körper, Verwundung, Gewaltkonstellation, Erzählraum, Grenze sowie Zeit zentrale Begriffe. 1.1.2 Einordnung in die jüngere Lucan-Forschung Nimmt man die postmodern-fragmentarisch anmutende narrative Struktur des Bellum Civile als Ausgangspunkt, ist es nicht verwunderlich, dass ganz überwiegend Publikationen erscheinen, die sich mit Teilaspekten und Teilpartien des Werkes beschäftigen. Im Vergleich zu anderen Epikern der lateinischen Literatur wie Vergil oder Ovid gibt es daher verhältnismäßig wenige monographische Interpretationen zum Werkganzen.38 Dies gilt besonders für das Thema Gewalt. Im Folgenden soll zunächst (1) ein allgemeiner Überblick über die ‚jüngere‘ Lucan-Forschung, d.h. mit dem Hauptfokus auf die letzten 30

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‚Das Dritte‘ bei Gewalthandlungen geht auf den Soziologen und Konfliktforscher Georg Simmel (1908 [1968]) zurück; zur Rolle des Zuschauers in Gewalthandlungen vgl. Sofsky 1996: 101–118; weiter unten wird das Dritte als particeps der Gewalt weiter aufgefächert und für die konkrete Textanalyse adaptierfähig gemacht. Sofsky 1996: 142. Vgl. Walde 2005a: XV–XVI.

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Jahre, gewonnen werden. (2) Daraufhin wird genauer auf Beiträge eingegangen, die Lucans Gewaltdarstellungen zum Gegenstand haben. (3) Schließlich ist die vorliegende Arbeit in der skizzierten Forschungslandschaft zu verorten sowie Ansatz und Vorgehensweise daraus abzuleiten. (1) Fünf Themenbereiche lassen sich in der jüngeren Lucan-Forschung identifizieren: (a) die philosophische Orientierung, (b) die politische Deutung, (c) das Werk in der literarischen Tradition, (d) die narrative Repräsentation und schließlich (e) die Rezeption in Antike und Neuzeit.39 (a) Nachdem die Frage nach der philosophischen Ausrichtung Lucans und des Bellum Civile insbesondere in den Sechziger und Siebziger Jahren ein zentrales Thema darstellte,40 häufen sich in jüngerer Zeit erneut Beiträge, die das Verhältnis des Bürgerkriegsepos zum Stoizismus der Kaiserzeit zum Gegenstand haben. So gelangt Robert Sklenář in seiner Untersuchung zum terminologischen Gebrauch von virtus zu dem Ergebnis, das Epos wende sich von stoischer Ethik und Kosmologie ab und sei vielmehr auf Nihilismus und Negation gegründet.41 Julia Wildberger hingegen sieht die im Werk aufzufindenden Stoizismen als „Mittel der Verfremdung“, deren Wirkung sich nicht auf philosophischer Ebene aus der Gleichzeitigkeit von Affirmation und Negation entfaltet,42 sondern auf rein poetischer.43 Claudia Wiener deutet die Durchdringung des Bellum Civile (und der Tragödien Senecas) mit stoischen Grundfragen eher als Ausdruck moralischer Lehrhaftigkeit. Der Rezipient, so Wiener, habe im Spannungsfeld zwischen Entscheidungsfreiheit und Determinismus die Aufgabe, die jeweiligen Verhaltensweisen der fiktiven Figuren zu bewerten und müsse aus seinen Urteilen die Konsequenzen in eigener Verantwortung für sich selbst ziehen.44 Francesca D’Alessandro-Behrs Beitrag weist in eine ähnliche

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Einen hervorragenden Überblick zur älteren Lucan-Forschung bietet Braund (2010); zum Forschungsstand von 1943 bis 1983 vgl. Rutz 1964 u. 1984. Für einen Forschungsüberblick zum Thema ‚Lucan und stoische Doktrin‘, der von Berthe Marti (1945) über Otto Steen Due (1970) bis hin zu Jan Radicke (2004) reicht, s. Wiener 2006: 5–11. Sklenář 2003; allerdings distanziert er sich von den stärker dekonstruierenden Beiträgen Johnsons (1987), Hendersons (1987), Masters’ (1992) und Bartschs (1997): „[…] it is possible to describe chaos without being chaotic, to document with clinical precision the absence of logic.“ (Sklenář 2003: 2); zu Nietzsches Formel der „Umwertung aller Werte“ bei Lucan s. Schmitz 2007. Vgl. Sklenář (2003: 152): „When we cannot escape Lucan’s perversely affirmative utterances, we take him to affirm something in the face of nihilism, unwilling as we are to accept the positive affirmation of nihilism itself.“ Wildberger 2005. Wiener 2006: 17.

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rezeptionsästhetische Richtung. Mit Blick auf den Einsatz von Apostrophen sieht sie in der narrativen Abhandlung stoischer Problemstellungen ein didaktisches Instrumentarium zur Lenkung des Lesers.45 (b) Die politische Deutung des Bellum Civile: Insbesondere infolge der Arbeiten von Ahl und Narducci hatte die Ansicht, Lucans Werk übe harsche Kritik an der Figur Caesars und sei daher auf Seiten des Republikanismus zu verorten, als Communis Opinio lange Zeit Bestand.46 Demnach sind Pompeius und Cato als Vertreter der Republik und als moralische Instanzen in einem positiven Licht gezeichnet. Zwar vertreten in jüngerer Zeit zahlreiche Interpreten diesen Standpunkt,47 doch erfährt diese Sichtweise nach berechtigter Kritik eine Relativierung.48 So sieht Galimberti Biffino sowohl Caesar als auch Pompeius – und mit Einschränkung sogar Cato – als Antihelden des Epos.49 Tipping verweist auf die ambivalente Darstellung Catos, der als potentiell epischer Held nicht in der Lage sei, die Republik wiederherzustellen und so als Opfer beständiger Ironie angesehen werden müsse.50 Auch Seo widmet sich der wohl umstrittensten Figur des Bellum Civile und sieht sie in philosophischer wie auch politischer Hinsicht als unzulänglich an.51 Caterine versucht unter anderem, eine ambiva45 46

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D’Alessandro-Behr 2007. Ahl 1976; Narducci 1979; vgl. Brisset 1964; Pavan 1970; Bartsch 1997: 131–149. Allerdings wies bereits Marti (1945: 353–354) darauf hin, es sei unwahrscheinlich, dass Lucan einen zentralen Helden hervorheben wollte: „[…] if this had been his intention, his readers would have been aware of it and there would not be such a multiplicity of eligible candidates to choose from.“ Biffi 2000; Narducci 2001, 2002; Raschle 2001; Manzano Ventura 2004; Radicke 2004: 106– 140; Wick 2004; Wussow 2004; D’Alessandro-Behr 2007; Stover 2008; Cogitore 2010; La Fico Guzzo 2010; Marks 2010; Tzounakas 2013. O’Hara (2007: 139) etwa zur Festlegung auf eine politische Tendenz: „To make Lucan a Republican and Pompeian, and his poem a Republican poem with Pompey and then Cato as the heroes to be emulated, is to simplify a complex poem on the basis of exiguous biographical evidence“; damit steht er in einer Linie mit Johnson (1987), Henderson (1987), Masters (1992) und Leigh (1997); vgl. Chen (2012: 3): „In short, both pro- and antiCaesarian perspectives need to be considered if one is to do full justice to Lucan’s poem“; zur vielschichtigen Darstellung der Figuren im Bellum Civile s. außerdem Walde 2003: 148; 2006; Maes 2009; Tracy 2014; Blaschka 2015; Ambühl (2015: 23) greift für ihre Argumentation auf Müllers (1991) Interfigurality zurück: „Gerade im Bereich der ‚Interfiguralität‘, der Assoziation von Lucans Protagonisten mit literarischen Vorgängern, verkennt eine allzu schematische Interpretation die Komplexität der intertextuellen Bezüge, die keine durchgängigen Identifikationsmuster zulassen, sondern sich im Gegenteil überkreuzen und durch gegenläufige Assoziationen unterlaufen werden.“ Galimberti Biffino 2002a, 2002b. Tipping (2011: 223) kommt damit zu dem Ergebnis: „Reassertion of Cato’s status as the outstanding hero of the De bello civili remains deeply problematic.“ Seo (2011: 199): „[…] Lucan simultaneously raises the expectation of Stoic perfection, only

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lente Cato-Deutung auf die Autorintention Lucans zurückzuführen.52 Mit Blick auf ein Akrostichon in Buch 2 stellt Kersten unter Berücksichtigung von Vergils Georgica und Aeneis die These auf, dass Pompeius als traditionell epischer Held ernsthaft in Frage gestellt wird.53 Schließlich arbeitet Kimmerle anhand des erzähltheoretischen Modells des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ überzeugend narrative Inkonsistenzen heraus, die gegen eine prinzipatskritische Lesart des Werkes sprechen.54 (c) Infolge der zu großen Teilen festgefahrenen Diskussion über die ideologische, philosophische und/oder politische Tendenz des Bellum Civile wurde umso dringender die Notwendigkeit erkannt, das Epos weniger auf Grundlage einer vermuteten Autorintention oder biographischer und historisch-zeitgenössischer Umstände zu beurteilen als vielmehr das Werk als sprachlichliterarisches Ganzes in den Blick zu nehmen und folglich im Spiegel der literarischen Tradition und Gattungen zu analysieren.55 Den entscheidenden Impuls hierfür gaben insbesondere Tagungen, aus denen Sammelbände mit jeweils großer thematischer Spannweite hervorgingen. Zunächst sind die beiden Sammelbände Interpretare Lucano (Esposito/Nicastri) und Lucano e la tradizione dell’epica latina (Esposito/Ariemma) zu nennen.56 Daran anschließend fand in Basel der internationale Lucan-Kongress statt, der als Grundlage für die von Walde herausgegebene Aufsatzsammlung Lucan im 21. Jahrhundert diente.57 Fünf Jahre später erschien Lucan’s Bellum civile. Between Epic Tradition and Aesthetic Innovation auf Basis der 2007 in Rostock abgehaltenen Tagung unter der Leitung von Hömke und Reitz.58 Nur ein Jahr später wurde in Bordeaux die internationale Tagung Lucain en débat: rhétorique, poétique et histoire von Devillers und Franchet d’Espèrey veranstaltet, deren Schwerpunkt jedoch nicht nur auf dem literarischen, sondern wieder stärker auf dem zeitgenössischen historischen und ideologischen Kontext lag.59 Letture e lettori di Lucano war schließlich der Titel des im Jahr 2012 durchgeführten Kolloquiums in Fis-

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to reveal all too acutely how Cato displays un-Stoic anger, immoderation, and ultimately, disharmony with the plan of a malignant universe. Lucan’s Cato therefore represents the inadequacy of ideals, both philosophical and political.“ Caterine 2015. Kersten 2013. Zu Lucans Rezeption der Georgica im Lichte eines ‚metapoetischen Realismus‘ s. auch Kersten 2018. Kimmerle 2015. Vgl. Anm. 22. Esposito/Nicastri 1999; Esposito/Ariemma 2004. Walde 2005b. Hömke/Reitz 2010. Devillers/Franchet d’Espèrery 2010.

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ciano. Unter der Leitung von Esposito und Walde waren narrative Strategien, Intertextualität und auch die Rezeption des Bellum Civile zentrale Aspekte, wie dem Tagungsband zu entnehmen ist.60 Während Lucans Werk lange Zeit hauptsächlich als anti-vergilisches Epos gelesen wurde,61 wird aktuell der Versuch unternommen, das Spektrum literarischer Einflüsse unter Bezugnahme zu anderen Autoren und Gattungen weiter auszudehnen.62 Dass Ovids Metamorphosen im Bellum Civile ein bemerkenswertes Echo finden, wies Esposito wohl am eindrücklichsten nach, und auch im 21. Jahrhundert wird die Diskussion um weitere Beiträge bereichert,63 sodass vielleicht schon von einem „Paradigmenwechsel“ ausgegangen werden kann, „in dem Vergils Aeneis langsam durch Ovids Metamorphosen als Mastertext abgelöst wird […].“64 Zudem häufen sich Beiträge, in denen elegische Momente bei Lucan herausgearbeitet werden. Caston etwa analysiert weibliche Charaktere des Bellum Civile vor dem Hintergrund des vierten Buches von Properz.65 Matthews untersucht das fünfte Buch des Bellum Civile auf Einflüsse aus der Liebesdichtung, während McCune auf Lucans Anspielungen des für die Elegie wesentlichen Motivs der militia amoris eingeht.66 Wohl im Zuge einer theoretischen Elaboration des Intertextualitätsbegriffs konnten insbesondere seit 2013 weitere ‚gattungsferne‘ Werke wie etwa von Sallust, Lukrez, Horaz, Caesar, Vergil (Georgica), Cicero oder jüngst Claudian gewinnbringend in den wissenschaftlichen Diskurs miteinbezogen werden.67 Ambühl schließt die For60 61

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Esposito/Walde 2015. Der Ausdruck des ‚Gegen-Virgil‘ fällt wohl zum ersten Mal bei Andreas Thierfelders Leipziger Probevorlesung 1934; s. Thierfelder (1934): Der Dichter Lucan, Archiv für Kulturgeschichte 25, 1–20 = Thierfelder (1970: 63–64): „So ist hier eine Art Gegen-Virgil auch aufs Ganze gesehen entstanden. Dem Romanam condere gentem des Mantuaners entspricht Lucans so oft variiertes Roma perit (7, 634) […].“ Casali (2011) bereitet diese monolithisch anmutende Gegenüberstellung kritisch auf; s. auch Kersten 2015. Zu den epischen Charakteristika des Bellum Civile s. Syndikus 1958; Piacentini 1963; Morford 1967; Schönberger 1968; Lebek 1976; Rutz 1989; Radicke 2004; Alexis 2011; Reed 2011; kritisch hierzu Stoffel 2015; für einen globalen Überblick zu den epischen Bauformen Lucans s. Ambühl 2015: 21–22, Anm. 41. Esposito 1987b, 1994: 87–164; vgl. Tarrant 2002; Wheeler 2002; Keith 2011; Watkins 2012. Walde 2005a: X. Caston 2011; vgl. zum Thema Engendering im lateinischen Epos Keith 2000 sowie zu Schmerz und Klagen weiblicher Figuren im Bellum Civile Keith 2008 u. Sannicandro 2010. Diese wichtigen Beiträge revidieren das überkommene negative Bild weiblicher Figuren bei Lucan, das etwa von Bruère (1951: 221) geprägt wurde: „The women in Lucan’s Bellum civile are, with two exceptions, unsubstantial or grotesque“. Matthews 2011; McCune 2013–2014. Gärtner 2009; Earnshaw 2013; Groß 2013; Zissos 2013; Kersten 2014; Galli 2015; Berlincourt/Galli Milić/Nelis 2016; Kersten 2018.

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schungslücke der Rezeption von griechischer Literatur durch Lucan. Dabei beleuchtet sie die Einflüsse der attischen Tragödie sowie der hellenistischen Dichtung.68 (d) Die neuere Lucan-Forschung brachte Beiträge hervor, die sowohl die sprachliche Gestaltung als auch erzähltheoretische Aspekte aufzeigen, die hier unter die Kategorie der narrativen Repräsentation zusammengefasst werden.69 Seit Masters’ weithin beachteter These der fractured voice wurde vornehmlich der Erzähler des Bellum Civile zum Gegenstand erzähltechnischer bzw. theoretischer Untersuchungen gemacht, wobei dessen ‚subjektive‘ Färbung das wesentliche Charakteristikum darstellt.70 Schlonski knüpft direkt an Masters Studie an und unternimmt den Versuch, den Erzählerstandort, also das raumzeitliche Verhältnis des Erzählers zu den fiktiven Figuren und ihrer Handlungen (auch verstanden als point of view), mithilfe ‚moderner‘ erzähltheoretischer Kategorien differenzierter zu erfassen.71 Narducci blickt auf Lucans erzählende Instanz – getreu seiner Untersuchungen von 1979 und 1999 – durch die Linse der Aeneis. Dabei stellt er in antithetischer Weise den Unwillen und die Aufdringlichkeit des Lucanischen Erzählers heraus.72 Nickau fächert die von Masters im psychologischen Sinne etwas vagen ‚Diagnose‘ einer „schizophrenia“ weiter auf und begreift diese anhand vielfältiger Belege vielmehr als „Stimme eines pluralistischen Wir“.73 Effe beleuchtet das Thema ‚auktoriale Narrativik‘ weiter im Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objek-

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Ambühl 2015. Ambühl (2015: 13, Anm. 22) bemerkt, dass diese Gesichtspunkte in der Vergangenheit häufig unter dem Begriff des für Lucan als typisch empfundenen ‚rhetorischen Stils‘ thematisiert wurden und verweist hierbei auf Walde (2003) u. Narducci (2007: 387–395). Der Schwerpunkt des hier dargestellten Überblicks liegt auf erzähltheoretisch orientierten Arbeiten. Zu Lucans Gebrauch des Ablativus absolutus s. Lucifora 1991a; zu Lucans Tempusgebrauch Schwartz 2002. Vgl. Masters (1992: 88): „[…] not only do the speeches show through their parallelism an embarrassing disagreement between Pompeian and Pompeian, and a frightening agreement between Pompeian and Caesarian, but also the connecting narrative evinces an inexplicable disparity of ‚authorial point of view‘. And the effect of these active contradictions is, quite simply, to fracture the solidarity of the narrating voice“; s. auch Feeney 1991: 250–312, bes. 282; Masters 1994. Schlonski 1995; zudem legt er den Fokus auf die illusorische Erzeugung von Mitfühlen und Miterleben. Narducci 2002: 88–106; Anzinger (2007: 108–156) geht auf den Aspekt des Verschweigens bzw. Verschweigen-Wollens in ihrer monographischen Untersuchung ausführlich ein; vgl. Henderson (2010: 453): „this narrator loathes the progress of his story of Caesarian triumph, loves mora, delay, obstruction, diversion“ (= Henderson 1987). Nickau 2003: 498.

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tivität.74 Radicke dagegen spannt den Bogen wieder zurück zur Rhetorisierung des Erzählers, um den Blick schließlich über die hauptsächlich zwischen 1947 und 1966 aufgeflammte Diskussion des Nero-Lobes auf die Autorintention und politische Ausrichtung des Werkes zu richten.75 In der vergleichenden Analyse zu Erzählperspektive und Theologie bei Lucan und Vergil erweitert Erler das Spektrum des Erzählers um den Aspekt der Unwissenheit.76 Wiener nimmt den Erzähler als Zuschauer im Welttheater wahr.77 Groß’ intertextuell angelegte Studie setzt unmittelbar an Effes Arbeit an. Er sieht bei Lucan „die Subjektivierung der Erzählhaltung […] an ihrem Höhepunkt angekommen“78 und beobachtet eine ‚Lyrisierung‘ des Bellum Civile, ähnlich wie Albrecht in Bezug auf die Aeneis.79 Zudem kommt er im Zuge seiner Untersuchung auf die Darstellung des umstrittenen Proöms und die politische Tendenz des Werks zu sprechen, die mit der Funktion des Erzählers letztendlich eng verwoben sei.80 Ludwig widmet sich zum ersten Mal ausführlich der erzähltheoretischen Kategorie der Fokalisierung bei Lucan und weist dabei sehr differenziert nach, dass – abgesehen von den direkten Reden der Figuren – Nullfokalisierung durch den auktorialen Erzähler vorliegt.81 Theoretisch fundiert ist schließlich auch Kimmerles Analyse des Bürgerkriegsepos unter dem Gesichtspunkt des unzuverlässigen Erzählers (s.o.). Sie arbeitet narrative Inkonsistenzen auf unterschiedlichen Ebenen heraus und bietet damit einen exakten Einblick in die narrative Struktur des Textes, den sie letztlich historisch auswertet.82 74 75 76 77

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Effe 2004: 61–72. Radicke 2004: 511–521; vgl. zu den laudes Neronis die Beiträge bei Rutz 1970: 283–354; jüngste Untersuchungen zu diesem Thema: Nelis 2011; Canobbio 2013; Esposito 2013. Erler 2012. Wiener (2006: 273): „Lucan präsentiert das Geschehen explizit als Schauspiel. Die Thematik des Zusehens, Gesehen-werdens und Mitleidens ist mit einer leitmotivischen Schauspiel- und Arenametaphorik hervorgehoben. Nicht nur die Protagonisten werden als Akteure im Schauspiel oder (noch öfter) in der Arena vorgeführt […], vor allem die im Kampf Sterbenden wissen sich selbst beobachtet wie Gladiatoren oder Beteiligte an einer Naumachie“; vgl. Leigh 1997. Groß 2013: 43. Albrecht 1970: 290; zur hohen Emotionalität des Erzählers bei seinen politischen Äußerungen s. auch Bartsch 2011. Das Mittel der Apostrophe ist im Kontext von Erzähler und politischer Tendenz ebenfalls von großer Bedeutung, vgl. den bereits erwähnten Titel von D’Alessandro-Behr 2007; Asso 2008; Bartsch 2012; neben den Aspekten ‚Gleichnis‘ und ‚Personifizierung‘ auch Blaschka 2014; Ein verwandtes Forschungsfeld stellen zudem die direkten Reden im Bellum Civile dar: zum ersten Mal wohl von Tasler (1971) untersucht, gefolgt von Schmitt (1995) und Helzle (1996). Ludwig 2014. Kimmerle 2015.

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(e) Die Rezeption des Bellum Civile rückte vor allem in den letzten knapp 15 Jahren in den Fokus des Forschungsinteresses. Mit der Untersuchung der Überlieferung ‚Lucanischer Scholien‘ markiert erneut eine Aufsatzsammlung Paolo Espositos den Anfang eines wissenschaftlichen Trends.83 Eine hervorgehobene Position innerhalb dieses Feldes nimmt der von Walde herausgegebene Band zum Spektrum der Rezeption von der Antike bis ins 19. Jahrhundert ein, das von Prudentius’ Gewaltdarstellungen bis hin zum Werk Friedrich Nietzsches reicht.84 Zudem trägt Asso als Herausgeber des Brill’s Companion to Lucan sieben Beiträge zur Rezeption zusammen, deren Rahmen unter anderem Statius’ Silvae, Dantes Commedia Divina und Joseph Addisons Cato umfasst.85 Monographische Beiträge liefern beispielsweise Paleit, der den Zeitraum von 1580 bis 1650 aufgrund der enormen Wirkung Lucans auf die zeitgenössischen Schriftsteller in England als ‚age of Lucan‘ bezeichnet, sowie auch jüngst Rossdal, deren Analyse die Antikerezeption in Fanfiction zum Gegenstand hat.86 (2) Im Anschluss an den allgemeinen Forschungsüberblick soll nun das wissenschaftliche Betätigungsfeld der Lucanischen Gewalt näher beleuchtet werden. Dies erfolgt jedoch nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit, da später die nachfolgenden Interpretationskapitel unter expliziter Bezugnahme auf die jeweils relevanten Beiträge eingeführt werden. Nach einer kurzen Erläuterung (a) über die jüngere Entwicklung des Gegenstandes Gewalt in verschiedenen Medien des Altertums ist (b) auf das Problem der historischen Auswertung der im Bellum Civile dargestellten Gewalt einzugehen. (c) Anschließend werden Arbeiten angeführt, die Lucans Gewaltszenen in einen intertextuellen Kontext stellen. (d) Schließlich folgt ein Überblick über Interpretationen einzelner Episoden und Beiträge, welche größtenteils die geschilderte Gewalt in Beziehung zur narrativen Repräsentation setzen. (a) Infolge des in der Wissenschaft seit den 1970er Jahren allgemein gestiegenen Interesses an Gewalt steht seit Beginn des 21. Jahrhunderts das Thema ‚Gewalt und Krieg in Kunst und Literatur der Antike‘ im Fokus zahlreicher Untersuchungen.87 Wie Ambühl bemerkt, werden vornehmlich zwei histori83 84 85 86 87

Esposito 2004. Walde 2009; für eine ausführliche Auflistung ausgewählter Literatur zur Lucan-Rezeption (bis 2007) s. den Beitrag von Finiello (2009: 505–548). Asso 2011: 435–549; zu Lucans Rezeption durch Dante s. den Forschungsüberblick von Schnapp 1997, sowie auch den Beitrag von Walde 2010. Paleit 2013; Rossdal 2015. Der fächerübergreifende ‚Boom‘ der Auseinandersetzung mit Gewalt lässt sich aufgrund seiner nicht mehr überschaubaren Masse an Publikationen lediglich in Auswahl dokumentieren. Vor allem der im Allgemeinen als Konflikt empfundene Zusammenhang von Gewalt und Moderne steht häufig als Leitfrage am Anfang der Studien: s. beispielsweise

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sche Zeiträume in den Blick genommen: einerseits Griechenland und Athen im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., andererseits das Ende der römischen Republik bis zu Prinzipat und früher Kaiserzeit.88 Hierbei lässt sich eine dreigliedrige Unterteilung erkennen: zunächst Sammelbände, die den Bogen vom Altertum bis heute spannen und somit ein breites Spektrum abdecken.89 Die Repräsentation der Gewalt in griechischer Archaik und Klassik stellt ebenfalls zahlreiche Beiträge.90 In allgemeinerem Hinblick stellt schließlich Gewalt in Kunst und Literatur einen inzwischen prominenten Untersuchungsgegenstand dar, wie sich an der Häufung entsprechender Publikationen innerhalb der letzten 15 Jahre nachweisen lässt.91 (b) Aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit erweist sich eine Untersuchung des Bellum Civile als historische Quelle von vornherein als schwierig: Möchte man als Historiker das Bellum Civile als Quelle für seine Entstehungszeit, den Prinzipat Neros, oder für die so viel diskutierte Frage nach dem ‚Ende‘ der Republik, für Erkenntnisse über Pompeius, Cato, Caesar oder Kleopatra heranziehen, stößt man auf eine Vielzahl von Problemen. […] Bedingt durch den fachspezifischen Blickwinkel verdrängt die

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Arendt 1970; Benjamin 1971; Girard 1972; Weber 1976; Brückner 1979; Elias 1981; Scarry 1985; Schöpf 1985; Popitz 1992; Hugger/Stadler/Bonfadelli 1995; Lindenberger 1995; Seppmann 1995; Gay 1996; Miller 1996; Sofsky 1996; Wimmer 1996; Trotha 1997b; Breuninger/Sieferle 1998; Gloy/Januschek 1998; Neckel/Schwab-Trapp 1999; Reemtsma 2000; Münkler 2002; Heitmeyer/Soeffner 2004; Bauman 2005; Imbusch 2005; Mann 2005; Kalybas 2006; Wieviorka 2006; Collins 2008; Reemtsma 2008b; Schlichte 2009; Baberowski 2010; Bierl 2010; Baberowski 2015; Münkler 2015; Staudigl 2015. Ambühl 2015: 41. Zur medialen Präsentation des Massakers s. Nauroy 2004; Dietrich/Müller-Koch (2006) tragen Beiträge zu Ethik und Ästhetik der Gewalt zusammen; zu Krieg und Kultur s. Feichtinger/Seng 2007; der Sammelband von Formisano/Böhme (2011) blickt auf den Umgang mit Krieg aus historischer und philosophischer Sicht sowie der Kunst und Wissenschaft. Nicht unerwähnt bleiben darf der vergleichsweise ‚frühe‘ Sammelband von Gendolla (1990) bezüglich Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien. Zu Bildsprache, sozialen Räumen, Darstellung von Siegern und Besiegten, Geschlechterrollen und Rezeption der Gewalt vgl. Fischer/Moraw 2005; Seidensticker/Vöhler (2006) beleuchten zur Gewalt die Aspekte Geschichte, Mythos und Kult, Literatur und Bildende Kunst; Recke (2002) nähert sich dem Bild von Gewalt und Leid im Athen des 6. und 5. Jhs.v. Chr.; im selben Zeitraum betrachtet Muth (2008) das Phänomen der medialen Gewalt; zu Gewalt und dem ‚neuen Menschen‘ in der griechischen Klassik s. Walde-Psenner 2009; Gewalt in der griechischen Archaik nimmt Herrmann (2014) in den Blick. Hölscher 2003; Bertrand 2005; Chaniotis 2005; Dillon/Welch 2006; Drake 2006; Raina 2006; Rohmann 2006; Styka 2006; Urso 2006; Edwards 2007; Wees und Beston 2009; Zimmermann 2009b u. 2013.

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moderne historische Forschung oft das Bellum Civile als Quelle oder übergeht die mit ihm verbundene Deutungsproblematik.92 Dies lässt sich auch für die im Werk repräsentierte Gewalt feststellen. Dennoch bieten etwa Lintotts Untersuchungen wichtige Einblicke in Lucans Umgang mit dem historischen Material. So zieht er beispielsweise bei der Lektüre der Folterszene des Marius Gratidianus (Lucan. 2.173–193a) Rückschlüsse auf das Relikt des ehemals verbreiteten Rituals des Menschenopfers,93 zum anderen befasst er sich mit militärgeschichtlichen Aspekten der Bücher 4 bis 6, wobei er Lucan eine gewisse Treue gegenüber den (uns soweit fassbaren) historischen Begebenheiten zuschreibt.94 Auch finden sich historische Beiträge, die das Bürgerkriegsepos zumindest teilweise zur Untersuchung der Schlacht von Pharsalus herangezogen haben, sowie zur Schlacht von Massilia.95 Neben den älteren historischen Analysen zur Lucanischen Gewalt sind auch neuere Arbeiten zu erwähnen, die versuchen, über die mediale Verständigung körperlicher Gewalt Folgerungen über die römische Gesellschaft und Kultur zu schließen. Rohmann stellt den Versuch an, über Lucans literarischen Umgang mit Gewalt, Krieg und Tod Erkenntnisse über die zeitgenössische verschärfte Strafpraxis, Gladiatorenspiele und Alltagskriminalität zu gewinnen.96 Gotter beleuchtet unter anderem die Gewalt bei Lucan im zeitgenössischen politischen Kontext und sieht als Angelpunkt seiner Studie „die unauflösliche Verbindung zwischen Bürgerkrieg und politischem System der römischen Kaiserzeit“.97 Seine Ergebnisse weisen in eine ähnliche Richtung wie die Rohmanns, indem er die extremen Gewaltdarstellungen als wesentlichen Faktor für die Viktimisierung des römischen Adels gegenüber dem Kaiser annimmt.98

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Kimmerle 2015: 13; zur historischen Lucanforschung allgemein s. ebendort: 13–19; allerdings ist auf die historischen Beiträge hinzuweisen, die Devillers und Franchet d’ Espèrey (2010) in ihrem Sammelband zusammentragen: Bartsch, Shadi: Lucan and Historical Bias, 21–32; Bureau, Bruno: Lucanus […] uidetur historiam composuisse, non poema. Lucain, l’histoire et la mémoire poétique, 77–87; Ripoll, François: L’ enigme du prologue et le sens de l’Histoire dans le Bellum Ciuile: une hypothèse interprétative, 149–158; sowie das gesamte dritte Kapitel Aspects historiques et symboliques, 227–326. Lintott 1968: 40; vgl. die Abschnitte 2.3 u. 2.4.3. Lintott 1971. Zur Schlacht von Pharsalus vgl. Lucas 1919–1921; Postgate 1922; Wuensch 1930: 1–32; Paschoud 1981; Jordan 2001; zur historischen Forschung der Schlacht von Massilia s. Abschnitt 4.3 im Kapitel ‚Die Seeschlacht vor Massilia‘. Rohmann 2006: 144–203. Gotter 2011: 63. Gotter 2011: 67.

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(c) Da der Schwerpunkt der vorliegenden Studie auf der narrativen Repräsentation Lucanischer Gewalt liegt, sind verstärkt solche Untersuchungen von Bedeutung, die das Thema aus philologischer und literaturwissenschaftlicher Sicht beleuchten. Von besonderem Interesse ist dabei der Aspekt der Intertextualität.99 Lucans Gewaltszenen wurden hauptsächlich komparatistischen Analysen unterzogen und mit den Kriegs- und Todesdarstellungen literarischer Vorgänger verglichen. Ein Großteil der Arbeiten zog vornehmlich die Werke Homers, Vergils, Ovids und die Tragödien Senecas stark in den Vordergrund. Zudem konnten jüngst auch Einflüsse aus der attischen Tragödie sowie der hellenistischen Dichtung nachgewiesen werden.100 Als wesentliches Charak-

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Die vorliegende Arbeit orientiert sich an der ontologischen Ausrichtung des Intertextualitätsbegriffs, der sich von der Annahme einer auktorialen Intentionalität und eines autonomen Status’ des Werks distanziert; vgl. Bauer 2013. Erbig (1931) untersucht Topoi in den Schlachtbeschreibungen römischer Poesie und nimmt dabei die Werke von Ennius, Vergil, Ovid, Lucan, Valerius Flaccus, Statius, Claudian und die Ilias Latina in den Blick; Miniconi (1951) beschreibt Kampf- und Kriegsdarstellungen sowohl der griechischen als auch römischen Epik. Das breite Spektrum reicht hierbei von Homer über Hesiod und Herodot bis hin zu Vergil, Lucan, Statius und Claudian; Metger (1957) nimmt in seiner richtungsweisenden Arbeit Lucans Bellum Civile als Ausgangspunkt und vergleicht die Gewaltszenen der Schlachten bei Massilia und Ilerda mit Kampfbeschreibungen bei Homer, Vergil und Ovid; zur Funktion grausiger und ekelhafter Motive stellt Fuhrmann (1968) Ergebnisse zu Vergils Aeneis, Ovids Metamorphosen, Senecas Tragödien, Lucans Bellum Civile, Statius’ Thebais und Silius Italicus’Punica zusammen; Oliver (1972) erweitert das Spektrum und zieht zu seiner vergleichenden Analyse der massilischen Seeschlacht Caesars De bello civili heran; Raabes Analyse (1974) hebt sich durch ihren strukturalistischen Ansatz stark von den übrigen Untersuchungen ab. Raabe wählt einen streng systematischen Zugang und versucht, Kampfszenen bei Vergil, aber auch Homer, Apollonios von Rhodos, Lucan, Valerius Flaccus, Statius, Silius Italicus und schließlich Corippus mithilfe verschiedener ‚Sinnstrukturelemente‘ möglichst präzise zu kategorisieren; Esposito (1987a und 1994: 87–133) rückt Lucans narrative Technik bei Gewaltdarstellungen in das Zentrum und arbeitet Bezüge zunächst zu Vergil und schließlich zu Ovid heraus; Most (1992) konzentriert sich in seinem wichtigen Beitrag auf die Darstellung von Zerstückelungen und Verstümmelungen bei Seneca und Lucan. Zugleich hebt er in einer statistischen Erhebung hervor, dass bei Lucan am häufigsten Amputationen geschildert werden (397–400). Besonders erhellend ist die Auflistung des prozentualen Anteils von geschilderten Schnitten, Amputationen, Stichen und Verwundungen durch stumpfe Gegenstände bei Homer, Vergil, Lucan, Silius Italicus und Statius (398); mit Formen und Funktionen von Aristien im Epos beschäftigt sich Foucher (1997). Anhand von Hom. Il. 5.1–296, Verg. Aen. 9.691–777, Lucan. 6.118–262 und Sil. 2.89–147 argumentiert er für eine Weiterentwicklung der Gattung; Foucher (2000: 358–383) kommt zudem teilweise auf Lucans Einfluss auf historiographische Schlachtbeschreibungen zu sprechen; Franchet d’Espèrey (2004) behandelt das homerische Motiv des Massakers bei Vergil, Lucan und Statius; Davison (2009: 76–177) richtet sein Augenmerk auf die Verletzung physischer und sozialer Grenzen bei Lucan und setzt sie ins Verhältnis zu Petronius;

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teristikum springt hierbei die hyperbolische Ausgestaltung und Überbietung ins Auge – sowohl in qualitativer, d.h. motivisch und erzähltechnisch, als auch in quantitativer Hinsicht.101 (d) Wozu also eine weitere Untersuchung zu Gewalt in Lucans Bellum Civile? Für eine befriedigende Antwort muss das Folgende sinnvoll in die diesbezügliche Forschungsgeschichte integriert werden. Hierfür ist auf die am intensivsten bearbeiteten Themenfelder sowie auch auf einzelne Beiträge näher einzugehen, die Lucans Darstellung von Gewalt, Tod, Krieg und daran angrenzende Aspekte zum einen als eigenständiges Motiv, zum anderen – mit Blick auf das Werkganze – als selbstreflexives Moment der Erzählung zum Gegenstand haben. Es sei noch einmal daran erinnert, dass an dieser Stelle lediglich die wichtigsten Tendenzen aufgezeigt werden, da im weiteren Verlauf dieser Arbeit den zu untersuchenden Partien eine differenzierte Darlegung der jeweiligen Forschungslage vorangestellt ist. In einem breiten Spektrum beziehen sich die Beiträge zur Lucanischen Gewalt auf die erzählerische Vermittlung sowohl individueller Gewalt-, Kampfoder Sterbeszenen als auch auf die kollektiver Kämpfe und Schlachten. Besondere Aufmerksamkeit wurde den Sterbeszenen berühmter Führungspersönlichkeiten gewidmet.102 Der gemeinsam begangene Selbstmord des Caesarianers C. Vulteius Capito und seiner Mannschaft, die bei ihrem Fluchtversuch in der adriatischen Küste durch Fangnetze zurückgehalten und sich schließlich von den feindlichen Soldaten umzingelt finden (4.474–581), wurde unter Gesichtspunkten ‚Stoizismus‘, ‚Paradoxie‘ sowie anhand filmtheoretischer Zugänge analysiert, wobei eine eindeutige Identifikation des Lesers mit den Figu-

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Dinter (2010) geht in seinem komparatistisch-intertextuell ausgerichteten Beitrag auf den Automatismus abgehackter Glieder und Häupter ein. Dabei nimmt er in weiterem Rahmen Homer, Lukrez und Vergil in den Blick. Näher beschäftigt er sich mit Ovids PhilomelaErzählung und Lucans Passagen über Medusa, Marius Gratidianus, die Seeschlacht von Massilia und Pompeius’ Enthauptung; Alexis (2011) arbeitet mit Blick auf Lucans Gewaltdarstellungen in den Büchern 2, 3, 4 und 7 Parallelen zu Homer, Ennius, Vergil und Ovid heraus; Watkins (2012) untersucht die vielfältigen Todesszenen der Seeschlacht vor allem in Bezug auf Ovid (61–70); zudem betrachtet sie die Schiffbruch-Darstellungen im Lichte von Lukrez und Vergil (72–78); schließlich verweist Ambühl (2015) auf das intertextuelle Spiel der Pharsalus-Schlacht bei Lucan mit den thebanischen Tragödien, wobei sie auch auf die massilische Seeschlacht eingeht (229–258). Ergänzend dazu arbeitet sie literarische Bezüge zwischen der Rede des alten Greises, in der dieser an den vorangegangenen Bürgerkrieg zwischen Marius und Sulla erinnert, und der Iliupersis heraus (304–336). Einen konzisen Überblick zu Lucans Gestus der Überbietung – nicht nur in Bezug auf Gewalt – bietet Ambühl 2015: 4–6 (inklusive bibliographischen Angaben in Anm. 6). Zur bereits erwähnten Scaeva-Episode s. Anm. 23.

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ren des Epos infrage gestellt wird.103 Curios misslungene Militäraktion in Africa als auch sein Selbstmord (4.581–824) gelten insbesondere als Paradigma für Roms Untergang.104 Als eine der zentralen Partien innerhalb des Werkganzen steht Pompeius’ Enthauptung und Bestattung (8.560–872) ganz besonders im Fokus der Gewaltanalysen. Zahlreiche Beiträge richten ihr Augenmerk vor allem auf das Bildfeld der ‚kopflosen‘ römischen Republik und die bemerkenswerte Nähe zum Motiv der enthaupteten Medusa.105

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Bayet (1953: 70–88) blickt auf die Partie aus der Perspektive von devotio und furor und spricht sich gegen eine philosophische Lesart aus; vgl. Longi 1955; König 1957: 57–71; Nehrkorn 1960: 121–132; Rutz (1960: 466–468) sieht das Motiv des amor mortis nicht nur bei Scaeva, sondern auch bei Vulteius als wesentlichen Bestandteil an; Ahl (1976: 117–121) konstatiert im Hinblick auf Vulteius’virtus „a somewhat perverse Stoic concept of the relationship between death and freedom“ (120), und argumentiert für einen Zusammenhang zwischen dieser und der Partie des Scaeva; Saylor (1990) konzentriert sich auf die metaphorische Bedeutung von Licht und Dunkelheit in der Episode und untersucht, inwiefern diese Rückschlüsse auf den Selbstmord zulassen; Espositos Analyse (2001) stellt die Aspekte ‚Paradox‘ und ‚Beispielhaftigkeit‘ in den Vordergrund, und blickt dabei auf die Begriffe virtus, furor und nefas; Eldred (2002) wählt für ihre Untersuchung einen filmtheoretischen Ansatz, um den stark visuellen Charakter der Szene beschreibbar zu machen; s. auch Edwards 2007: 12–13, 43–44, 67; Asso 2010: 189–212; Dinter 2012: 127–131; einen traditionelleren Zugang unter intertextuellen Aspekten (mit Bezug zu Ovid) weist schließlich Watkins Beitrag (2012: 78–84) auf. Schrempp (1964: 71–74) beleuchtet die Episode im Kontext von narrativen Rückverweisen; eine allgemeiner gefasste Untersuchung unternimmt Ahl (1976: 88–107), der mit Blick auf Hercules’ und Scipios Erfolge in Africa das Scheitern des Caesarianers als exemplarisch für das Bellum Civile deutet: „In the Pharsalia Rome’s greatness, like Scipio’s camp, belongs to the past, and there could be no more poignant reminder of this than the venal Curio himself.“ (97); Saylor (1982) identifiziert die Figuren Curio und Juba mit dem Riesen Antaeus. Dabei hebt er die Bedeutung des Stehens im Kampf hervor; Esposito (2000) arbeitet insbesondere Unterschiede zu Caesars Darstellung heraus (bell. civ. 2.42.3–4); zu Curios audacia s. Watkins 2012: 104–120. Zum Kampf zwischen Antaeus und Hercules, deren Erzählung in die Curio-Partie integriert ist, s. Kapitel 5. In seiner erzähltechnischen Analyse der Zeitordnung legt Schrempp (1964: 9–14 u. 15– 18) die unterschiedlichen Vorgriffe und Rückverweise auf Pompeius’ Enthauptung dar; ähnlich auch Narducci 1973; Fantham (1992: 110) arbeitet Parallelen zwischen den Darstellungen von Pompeius’ und Medusas Kopf heraus; s. auch die im selben Sammelband befindlichen Beiträge von Esposito 1996 und Scarcia 1996; zum wiederholten Aufgreifen der bildersprachlichen Enthauptung von Pompeius und Rom s. Bartsch 1997: 16, Anm. 13. Zudem bemerkt sie, dass Pompeius’ Tod als Selbstmord zu verstehen sei, da dieser als ‚Kopf‘ Roms von einem seiner Glieder, d.h. eines römischen Soldaten, ermordet wird (24, Anm. 36); s. Narducci (2002: 111–116) noch einmal zum truncus, sowie auch 331–335 zum Verhältnis von Tod und Ruhm in der Pompeius-Episode; Malamuds Beitrag (2003) knüpft an die Ergebnisse Fanthams an und stellt eine vergleichende Analyse von Pompeius’ Haupt mit dem von Medusa an; s. auch Erasmo 2005; Dinter 2010: 189–190; Fratantuono 2012: 335–339.

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Man könnte sagen, dass die fragmentarische Forschungslandschaft die Zerteilung der Körper abbildet. Arbeiten zu den geschilderten Schlachten insgesamt sind daher vergleichsweise wenig zu finden. Diesbezügliche Beiträge beschäftigen sich hauptsächlich mit den Schlachten von Massilia (3.509–762), Ilerda (4.1–401) und Pharsalus (7.214–864).106 Szenenübergreifende Aspekte und Charakteristika wurden großenteils metanarrativ, also im Hinblick auf die Erzählung selbst herausgearbeitet und gedeutet. Die Gewalt muss im Verhältnis zur narrativen Repräsentation gesehen werden. Als Anknüpfungspunkt dient hierbei insbesondere die Darstellung des Körpers. Damit verbundene Vorstellungen und Assoziationen rücken in den Fokus der Untersuchungen.107 Dem Motiv der Verstümmelung, Zerstückelung und Fragmentierung wird in der Forschung zentrale Bedeutung beigemessen (s.u. die Abschnitte zur jeweiligen Forschungsgeschichte).108 Zum einen konnte nachgewiesen werden, dass mit diesem meist der Verlust der Identität der jeweiligen Gewalterleidenden einhergeht und dem Leser vermittelt wird.109 In diesem Kontext ist auch auf Beiträge hinzuweisen, die sich mit Lucans Gebrauch des Begriffs cadaver auseinandersetzen.110 Zum anderen stellt inzwischen das Themengebiet ‚Textkörper‘ bzw. ‚Körperlichkeit der Erzählung‘ eines der am intensivsten untersuchten Felder im Kontext Lucanischer Gewalt dar. Demnach korrespondiert mit der Fragmentierung der Körper innerhalb der erzählten Welt die Art und Weise

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Zu Massilia s. beispielsweise Metger 1957: 3–76; Opelt 1957; Fuhrmann 1968: 50–55; Rowland 1969; Hunink 1992: 202–266; Masters 1992: 11–42; Fratantuono 2012: 117–130; Jolivet 2013; Ambühl 2015: 256–258; für weitere Literatur vgl. Kapitel 4 ‚Tension: Seeschlacht vor Massilia‘; zu Ilerda s. vor allem Metger 1957: 77–189; Saylor 1986; Masters 1992: 43–90; Leigh 1997: 41–76; Fratantuono 2012: 131–154; Esposito 2003 u. 2009; Asso 2010: 100–188; für die Schlacht von Pharsalus s. Wuensch 1930: 1–32; Rutz 1950: 65–86; Schrempp 1964: 6–9, 15–17; Gagliardi 1975; Esposito 1987a: 113–117; Leigh 1997: 77–157; Bartolomé Gómez 2006; Fratantuono 2012: 280–310; Ambühl 2015: 239–256. Zum antiken Körperkonzept allgemein vgl. die Sammelbände von Montserrat 1998; Wyke 1998; Porter 1999. Zu Lucans Darstellung des truncus s. etwa Narducci 1973: 111–115; Moretti 1985; Bartsch 1997: 16, Anm. 13. Mit Blick auf die stoische Auffassung der Seele denkt Most (1992: 436) darüber nach, ab welcher Phase der Verstümmelung „the loss of personal identity of that body’s owner“ eintritt; ähnlich betrachtet Quint (1993: 146) den Identitätsverlust als „final effect“ fast jeder Gewaltszene bei Lucan; eine bemerkenswerte Beobachtung macht Hardie (1993: 4), der in Anspielung auf Senecas Thyestes bisweilen eine metaphorische Füllung des einen Körpers mit einem anderen feststellt; zu richtungsweisenden und wichtigen Ergebnissen kommt schließlich Bartsch (1997: 10–47) in ihrem Kapitel mit dem einschlägigen Titel The Subject under Siege; vgl. Davison 2009: 76–109; mit dem Verlust der Augen und damit der Fähigkeit der sozialen Interaktion bei Lucan befasst sich Franzen 2011. Insbesondere Vernant 1982; Esposito 1987a: 111–112; Calonne 2010.

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der sprachlichen und erzählerischen Vermittlung. Auflösung und Zerteilung von Syntax und narrativen Strukturen wurden damit als wesentliche Charakteristika des Bellum Civile nachgewiesen.111 Eng verbunden mit dem vielschichtigen Komplex der Gewalt auf inhaltlicher und sprachlich-narrativer Ebene ist das Leitmotiv des Selbstmordes. Lucans Bürgerkriegsepos, so die Communis Opinio, ist vor der Matrix der individuellen als auch kollektiven Selbstzerstörung zu lesen. Eine Unterscheidung in Täter und Opfer sei damit nicht mehr möglich.112 Fließende Übergänge spiegeln sich allerdings auch in anderen Kontexten der Erzählung wider, sodass Gewalt unter dem Aspekt der Grenze weiter aufgefächert werden konnte. Deren Überschreitung konnte insbesondere in Bezug auf die Körpergrenze,

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Syndikus 1958: 24–29; Conte (1968: 234) zum Entsprechungsverhältnis von asyndetischen Sätzen zur Abtrennung menschlicher Glieder in 2.67–233; Hendersons dekonstruierende Analyse (1987 = 2010) ist wohl als eine der einflussreichsten Untersuchungen zur ‚Verlegung‘ von Bürgerkrieg, Kampf und Zerstückelung auf die Ebene des sprachlichen Ausdrucks; s. Fantham (1992: 102, ad 2.119–122) exemplarisch zum Gebrauch des Hyperbaton; einen bemerkenswerten Beitrag zur Metapoetik des Bürgerkriegs liefert Masters 1992; zum Verhältnis Text – Körper s. auch Most 1992; insbesondere Quint (1993: 147) zum Zusammenbruch historischer Kohärenz ausgedrückt durch körperliche und narrative Fragmentierung im Bellum Civile: „To portray history from the perspective of the lost republican cause and to counter the unifying historical fictions and narratives of imperial ideology, both bodies and poems must fall into pieces“; in Anlehnung an Hübners Überlegungen zur Hypallage bei Lucan (1972) deutet Bartsch (1997: 20–24) die „inversion of subject-object relations“ (23) als Ausdruck für das Paradoxon des Bürgerkrieges auf syntaktischer Ebene; Dinter (2005, 2010 und 2012) knüpft an Bartschs ‚Körper-Analysen‘ an und nimmt weitere Differenzierungen der Körperlichkeit des Bellum Civile vor. So unterteilt er dessen ‚epic body‘ in 1. ‚the cosmic body‘, 2. ‚the Roman state body‘, 3. ‚the military corps‘, 4. ‚the human body‘ und 5. ‚the textual body‘ (2005); zudem belegt er unter anderem Lucans Spiel mit ambivalenter Körpersemantik (2010: 187–189). Ferner sind seiner Argumentation zufolge die Aspekte fama, Sentenzen und Wiederholungen im Spiegel der Körperlichkeit zu betrachten (2012); zur Desintegration des politischen Körpers bei Lucan vgl. Walters 2011, sowie 2013 zu Körper und ‚Sinnlichkeit‘ des Textes; s. Dangel 2012 zum Konflikt der unentscheidbaren Gewalt und Rhetorik der Niederlage. Crane (1984) befasst sich ausführlich mit Leitmotiv des Selbstmordes bei Lucan; Saylor (1982: 176) behandelt Andeutung von Suizid in den Partien zu Massilia und Dyrrachium; zu Caesars Ankündigung seines Selbstmordes in 7.310 vgl. Schievenin 1987; Masters (1992: 42) kommt auf Sterbeszenen zu sprechen, die den Anschein eines Selbstmordes erwecken; s. generell auch Martindale (1993: 480); Bartsch (1997: 24–25 u. passim) sieht die Selbstzerfleischung im Bellum Civile als Ausdruck der syntaktischen Umkehrung von Subjekt und Objekt; Hill (2004: 213–237) nimmt das Verhältnis von Suizid und Selbst in den Blick; Davison (2009: 178–206) betrachtet gegen sich selbst gerichtete Gewalt als Verletzung physischer Grenzen; allgemeiner zu Lucans suicidal imagery Roche 2009: 104; Watkins 2012: 63.

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aber auch auf das Genre des Epos bezogen werden.113 Im Zusammenhang mit den für den modernen Leser häufig als hyperbolisch und teils auch komisch empfundenen Gewaltdarstellungen ist Bachtins Ausarbeitung der Groteske nutzbar gemacht worden. Auf diesem Weg wurde den grausam wirkenden Szenen sogar ein gewisses Maß an schwarzem Humor und Ironie zugesprochen.114 Dolor als gewaltbedingte Emotion und als Empfinden von körperlichem Schmerz findet nach Rutz’ älterer Untersuchung in den letzten Jahren wieder verstärkt Beachtung.115 Ebenso trugen Abhandlungen über Nichtbeschreibungen, Schweigen und unterdrückte Klagen einen wichtigen Teil zum Verständnis der Gewalt im Bellum Civile bei.116 In der Diskussion um mögliche

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Masters (1992: 1–10) identifiziert Caesar als paradigmatische Figur der Grenzüberschreitung, sei sie geographischer (bezüglich der Durchquerung des Rubicon) oder literarischtraditioneller Art mit Blick auf die Gattung des Epos: „Mora itself is a boundary that Caesar is trying to break through: Lucan’s account sets up a series of narrative devices that obstruct Caesar’s progress, that impose boundaries he must cross.“ (3) Masters zieht später den Schluss: „The new poet standing at the end of a tradition must be a Caesar“ (10); Bartsch (1997: 17–47) knüpft in ihrer methodisch fundierten Analyse der (Körper-)Grenze an Kristevas Konzept des Abjekts an, um die Durchlässigkeit und das Verschwimmen körperlicher wie normativer Grenzen beschreibbar zu machen: „The scope of this violation of boundaries extends outward to the universe as it extends inward to the body; microcosm and macrocosm reflect the dissolution of all normative limits“ (17); s. insbesondere 47 für eine gute Zusammenfassung ihrer Argumentation; Hömke (2010) legt in Anlehnung an Lessings Essay ‚Wie die Alten den Tod gebildet‘ dar, dass bei Lucan das Sterben als eigenständige ästhetische Phase verstanden werden muss, und fasst das Phänomen der Grenze vielmehr als Grenzbereich auf bzw. als „independent, artificiallyexpanded special condition of human existence.“ (100). Lucan entwickle eine „Ästhetik des Schreckens“: „He expands the moment between life and death to an interval of its own, gives dying its own […] state and subdivides it into different phases, which he in turn individually makes into an issue“ (101); zur Inszenierung einer ‚Todeszone‘ s. Hömke 2012; insbesondere anhand des Medusa-Exkurses und der Schlangenpassage zeigt sie die Entgrenzung zwischen Ober- und Unterwelt, Leben und Tod sowie Mythos und Historie auf; zur Gewalt als Motiv der Überschreitung gattungstechnischer Grenzen s. beispielsweise Quint 1993; Gorman (2001) zur Dekonstruktion der Aristie; vgl. Eldred 2002; Papaioannou (2005) untersucht die Enthauptung der Medusa im Kontext der epischen Gattung und ihrer Transformation; s. auch Davison 2009: 110–141; generell zu Medusas Enthauptung bei Lucan s. Estèves 2010. Sell 1984; maßgeblich zu schwarzem Humor und dem Aspekt des ‚comic-ugly‘ Johnson 1987; D’Alessandro-Behr 2000. Rutz 1950: 116–127; Tschiedel 2008; Sannicandro 2010 u. 2011. Generell zu Schmerz aus literarischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive s. vor allem Scarry 1985 und Hermann 2000. Zwierlein (1990) nimmt unterdrückte Klagen beim Tod des Pompeius (7.43) in Augenschein; Anzinger (2007: 108–155) analysiert Partien, in denen das Schweigen einen wesentlichen Gesichtspunkt darstellt. Zum Unsäglichen und dem Verhältnis von nefanda und

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Erklärungen für die brutal und häufig ‚hyperrealistisch‘ wirkende Beschreibung abgetrennter Glieder, herausquellender Eingeweide und unvermittelt heftiger Blutströme wurde als ‚äußerer‘ Grund das im ersten nachchristlichen Jahrhundert verstärkte Abhalten von Gladiatiorenspielen in Betracht gezogen. Abgesehen von dieser grundsätzlich spekulativen Annahme lassen sich in Lucans Text Anspielungen auf die Kämpfe in der Arena beobachten.117 (3) Die vorliegende Arbeit ist darum bemüht, sich der Dichotomie der modernen Lucanforschung in eine ‚pessimistische‘ und ‚optimistische‘ Lesart des Bellum Civile zu entziehen. Vielmehr setzt sie sich als Prämisse, in Anknüpfung an die vorangegangenen Forschungsbeiträge weitere Zugänge zum Werk zu erschließen, die durch bisherige Analysen und methodische Ansätze überhaupt erst ins Sichtfeld gerückt sind. Dies geschieht auch unter dem Eindruck zeitgenössischer Strömungen und Befindlichkeiten wie etwa der Postmoderne, deren Vertreter nachdrücklich hervorgehoben haben, dass kein literarisches Werk jemals zu Ende gelesen ist und damit als abgeschlossen oder ausgeschöpft betrachtet werden kann (s.u. Anm. 325 auf S. 83). Wie oben angekündigt, wird der Fokus der Untersuchung von der Frage nach dem ‚Warum?‘ auf die des ‚Wie?‘ der dargestellten Gewalt verschoben. Zudem soll das breite Spektrum der Lucanischen Gewalt weiter ausgeleuchtet werden. Dieses Vorhaben erfordert eine methodische Unterfütterung, die unterschiedliche Modelle und Herangehensweisen miteinander verknüpft. So lässt sich unter Berücksichtigung soziologischer Studien zur Triangularität von Gewalt (s.u. Abschnitt 1.2.2) auch im Bellum Civile nachweisen, dass nicht nur Täter und Opfer, sondern auch eine variable dritte Gewaltinstanz (Zuschauer, Befehlshaber etc.) wesentlich zur Dynamik der jeweiligen Szenen beitragen kann. Die häufig konstatierte fließende Grenze zwischen Täter und Opfer ist also anhand einer expliziten Analyse der Gewaltkonstellationen einer weiteren Differenzierung zu unterziehen. Insbesondere hier zeigt sich, dass soziologi-

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non fanda s. insbesondere 146–154; Wick (2010) befasst sich mit demonstrativen Nichtbeschreibungen etwa von Wunden. Maßgeblich hierfür ist Ahls Untersuchung des vierten Buches (1976: 82–115); Most (1992: 400–408) verweist ebenfalls auf Bezüge zur Arena und den venationes. Allerdings: „[…] animal hunts and gladiatorial shows seem too broad and undifferentiated a context for the particular literary interest in dismemberment during the Neronian period […]“ (402); Rohmann (2006: 172–186) sieht den Zusammenhang zwischen real erlebter Gewalt in der Arena und den Darstellungen in der Literatur skeptisch. Abschließend hält er fest (202): „Die Arena dürfte allenfalls insoweit Einfluss auf die Literatur gehabt haben, als ein Schriftsteller wie Lucan Gewaltszenen in seiner Produktion im Vergleich zu jener eingehend unproblematisch empfundenen Gewalt exaggerieren musste, um die Gewalt des Bürgerkriegs schockierend erscheinen zu lassen.“

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sche Ansätze mithilfe erzähltheoretischer Analysekriterien für Lucans Bürgerkriegsepos fruchtbar gemacht werden können. Aufbauend auf Untersuchungen zum schwer greifbaren, gar als ‚schizophren‘ bezeichneten Erzähler sowie zu dessen Fokalisierung der fiktiven Erzählwelt nimmt die vorliegende Arbeit den Rezipienten verstärkt in den Blick. Inwiefern wird dieser in die narrativ vermittelte Gewalt einbezogen? Welche Erzählstrukturen lenken und beeinflussen die Realisierung von Verstümmelungen, Blutvergießen und Massenmorden? In diesem Rahmen soll offengelegt werden, inwiefern weniger brutale Gewaltszenen auf den Leser dennoch extrem und grausam wirken. Von zentraler Bedeutung ist auch die narrative Gestaltung der Zeit. Das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit, d.h. Dehnung, Raffung sowie Zeitdeckung, ist als wesentlicher Faktor bei der Gewaltanalyse zu berücksichtigen. Ein zentrales Desiderat stellt die Analyse des Erzählraums dar. Zwar existieren hierzu thematisch verwandte Untersuchungen, jedoch wird der Raum nicht so sehr in seiner dynamischen Wechselwirkung mit konkreten Gewalthandlungen beleuchtet, sondern im Hinblick auf Landschaft in ihrer den Bürgerkrieg charakterisierenden Funktion.118 Die Teilung in die drei phänomenologischen Teilräume der Anschauung, Aktion und Stimmung ermöglicht eine differenzierte Beschreibung des erzählten Raums. Es wird sich zeigen, dass dieser als konstituierender Bestandteil der Gewalt anzusehen ist. Als primär räumliche Kategorie gerät dabei ebenfalls die Grenze ins Sichtfeld, deren Analyse sich bereits Masters und Bartsch gewidmet haben (s.o.). Die Grenze lässt sich jedoch nicht nur mittels Kristevas Konzept des Abjektes methodisch zugänglich machen,119 sondern als topographisches, topologisches und semantisches Phänomen insbesondere auch durch Lotmans Konzept der unscharfen Grenzzone, die zwischen zwei ‚Semiosphären‘ zugleich konstituierend und desintegrierend wirkt. Lucanische Gewalt ist somit als ambivalentes ‚Grenzphänomen‘ aufzufassen. Ausgehend von den Studien, die das Entsprechungsverhältnis zwischen Gewalt und Erzählung im Spiegel der Fragmentierung und Auflösung thematisieren, unternimmt die vorliegende Arbeit zudem den Versuch, weitere Berührungspunkte zwischen Gewalt auf fabula- und story-Ebene herauszuarbeiten, wie z.B. Autoreferentialität, Obstruktion, Gewaltzeit, Bewegungsdynamik und Verdichtung. Erzähltheoretischer Dreh- und Angelpunkt ist hierbei das in der Struktur des Textes angelegte Spannungsfeld zwischen Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung. In der ästhetischen Auseinandersetzung mit der nar-

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Jüngst hierzu: Myers 2011; Papaioannou 2012; Barrière 2013; McCutcheon 2013; Bexley 2014; Ambühl 2015. Zur Erläuterung des Abjektes nach Kristeva s. Anm. 75.

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rativen Gewalt wird der Leser stets auf den fiktionalen Status der Erzählung aufmerksam gemacht, woraus sich der eigendynamische Prozess des Unmaking entfaltet. 1.1.3 Aufbau der Studie An den ersten Teil der Einleitung, der die allgemeinen Voraussetzungen und Ziele der Studie in einem einführenden Überblick über Lucanische Gewalt zusammengetragen sowie auch eine Einordnung der Arbeit in die jüngere Lucanforschung vorgenommen hat, schließt sich im Folgenden die präzisierende Darstellung der gewählten Vorgehensweise und Methoden (Abschnitt 1.2). In drei Schritten – ausgehend vom Allgemeinen zum Spezifischen – wird der Blick von realer Gewalt immer enger auf die charakteristischen Merkmale der im Bellum Civile literarisch verarbeiteten Gewalt gelenkt. Zunächst ist der Fokus auf die grundlegenden Züge gewaltsoziologischer Forschung zu richten, wobei insbesondere die Befunde der sogenannten ‚Gewaltinnovateure‘ in ihrer Bedeutung für die vorliegende literaturwissenschaftlich orientierte Arbeit darzulegen sind (Abschnitt 1.2.1). Die Ergebnisse leiten über zum Themenkomplex ‚Gewalt und Literatur‘. Mit der Vorstellung und Diskussion erzähltheoretischer Kategorien und literaturtheoretischer Modelle sollen methodische Voraussetzungen begründet und vertieft werden, um das amorphe Phänomen der Lucanischen Gewalt zu analysieren (Abschnitt 1.2.2). Im letzten Abschnitt der Einleitung werden schließlich die bis dahin entwickelten Leitgedanken vor einer Matrix dekonstruktiver Befindlichkeiten zusammengeführt und zu einer Theorie des Bedingungsverhältnisses zwischen Gewalt und Unmaking ausgearbeitet (Abschnitt 1.2.3). Die interpretatorische Umsetzung der methodischen Prämissen erfolgt anschließend in einem sechs Kapitel umfassenden Hauptteil. In den Aspekten ‚Ästhetik und Zerstückelung‘, ‚Verdichtung‘, ‚Tension‘, ‚Suspense‘ und ‚Exzess‘, die den einzelnen Kapiteln jeweils als Leitgedanken vorangestellt sind, kristallisiert sich das Phänomen Gewalt/Unmaking auf unterschiedliche Weise. Das zweite Kapitel nimmt die in Buch 2 inszenierte Folter des Marius Gratidianus in den Blick und zeigt auf, wie anhand der geschilderten Zerstückelung und Verstümmelung der Sinnesorgane – insbesondere der Zunge und Augen – die Selbstreferentialität der Gewalt in besonderem Maße auf deren narrative Repräsentation zurückstrahlt und auch den Rezipienten in den ‚Bannkreis‘ Lucanischer Gewalt miteinbezieht. Kapitel 3 beschreibt die sowohl räumlich als auch semantisch entgrenzende Wirkung narrativ vermittelter Gewalt in der entgegengesetzten Richtung. Es wird überprüft, inwiefern sich Verdichtung und Entgrenzung in den Motiven der Massenhinrichtung, Leichenberge und Tiberflut äußert. Der Schwerpunkt liegt hierbei im Gegensatz zur unmittel-

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bar zuvor geschilderten Partie auf der Darstellung des Erzählraums. Das vierte Kapitel untersucht die ersten fünf individuellen Sterbeszenen der in Buch 3 angesiedelten Seeschlacht vor Massilia. Für jede der Partien ist tension von zentraler Bedeutung. Wie sich zeigen wird, korrespondiert Gewalt mit einem Spannungsverhältnis zwischen binären Oppositionen, das sich jeweils im Prozess der Auflösung konstituiert. Als wesentliches Merkmal rückt hier vor allem Illusionsdurchbrechung in den Vordergrund. Der Ringkampf zwischen Hercules und Antaeus in Buch 4 ist Gegenstand des fünften Kapitels. Vordergründig als Aristie eines mythischen Helden angelegt, hebt sich diese Partie deutlich von den übrigen exemplarisch herangezogenen Textstellen ab. Gewalt zeigt sich entgegen der bis dahin zu erkennenden Tendenz weniger im Erleiden als im Angriff. Spannung resultiert dabei nicht nur aus dem auf zwei Gegensätzen basierenden tension, sondern vor allem auf Ebene der narrativen Vermittlung in Form von suspense.120 Kapitel 6 schließlich befasst sich mit der PharsalusSchlacht im siebten Buch, wo die selbstzerstörerische Grausamkeit des Bürgerkrieges in Bruder- und Vatermord gipfelt. Im Zentrum der Analyse steht der Exzess – einerseits als Motiv, andererseits als narratives Gestaltungsprinzip. Insbesondere in der Empfindung von Scham und das Gefühl innerer Zerrissenheit spiegelt sich die paradoxe Eigendynamik des Unmaking wider. Die Auswahl der Gewaltszenen macht deutlich, dass die vorliegende Arbeit sich zum einen am chronologischen Verlauf des Bellum Civile orientiert, um einer allzu fragmentierenden Darstellung des Werkganzen entgegenzuwirken, und zum anderen solche Partien in den Vordergrund rückt, denen in der Forschung bisher eher weniger Raum gegeben wurde. Im Bemühen, das bemerkenswert breite Spektrum Lucanischer Gewalt abzubilden, wurde bewusst von der Analyse ‚prominenter‘, da vermeintlich paradigmatischer Gewaltdarstellungen wie etwa Scaevas Kampf gegen die feindlichen Heerscharen, Vulteius’ Freitod oder Pompeius’ Enthauptung abgesehen.

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Vorgehensweise und Methoden

1.2.1 Gewalt und Soziologie Auf die Interviewfrage, wie die Literatur dem Soziologen beim Verständnis der heutigen Welt helfe, antwortete Zygmunt Bauman:

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Zur Definition und Unterscheidung von tension und suspense, die im Deutschen weniger differenziert unter den Begriff ‚Spannung‘ gefasst werden, s. Anm. 3 auf S. 159.

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Soziologie und Literatur grasen auf derselben Weide und ernähren sich von der gleichen Nahrung, das heißt vom menschlichen Erleben der von Menschen konstruierten Welt. Sie unterscheiden sich aber deutlich durch die Bearbeitung dieses Stoffes. Während die Soziologie versucht, das Leben auf eine Sammlung von Regeln zu reduzieren, demonstriert die Literatur die Vergeblichkeit dieser Absicht.121 Die gemeinsame Schnittmenge, die Erfahrung, dass sowohl in der Soziologie als auch in der Literatur Wahrnehmungen und Erfahrungen einer menschengemachten Welt verarbeitet werden, lässt in umgekehrter Richtung folgende These zu: mithilfe soziologischer Erkenntnisse und Theorien kann ein fruchtbarer Zugang zu literarischen Werken geschaffen werden. Trotz der erwähnten Vergeblichkeit jedes Versuchs, Literatur anhand reduzierender Modelle vollständig zu analysieren, gibt die soziologische Gewaltforschung insbesondere im Hinblick auf Gewaltdarstellungen in Lucans Bellum Civile geeignete Beschreibungskategorien in die Hand des Literaturwissenschaftlers. Die folgende Darstellung gliedert sich in drei Teile. (1) Der erste zeichnet zunächst die Grundzüge der soziologischen Auseinandersetzung mit Gewalt nach und schafft die Voraussetzungen für das Verständnis der Forschungstendenzen, die sich Ende des 20. Jahrhunderts abzeichneten. (2) Teil 2 erläutert anschließend die neuere Gewaltforschung und richtet den Blick vor allem auf die Arbeiten der sogenannten ‚Gewaltinnovateure‘, die für die vorliegende Studie als methodische Grundlage herangezogen werden. (3) Im letzten Teil werden die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Anwendung auf die Analyse von Lucans Gewaltdarstellungen geprüft. (1) ‚Gewalt‘ wird heute, vor allem in öffentlichen Diskursen, nicht als wertfreier Begriff aufgefasst, sondern bringt eine primär negative Wertung zum Ausdruck.122 Im allgemeinen Bewusstsein besitzt Gewalt das Potential das Gefüge der sozialen Interaktion und Gesellschaft einzureißen. Sie wird daher als Problem verstanden, das es zu beseitigen oder von vornherein zu vermeiden gilt. Moderne Gesellschaften, die von Liberalismus, Aufklärung und Nationalstaatlichkeit geprägt sind, reklamieren Gewaltlosigkeit als prägnantes Alleinstellungsmerkmal für sich:

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Bauman, Zygmunt, in: Hudzik, Agnieszka (2011): Europa ist ein Sprachgewirr, in: ZEIT ONLINE 2011, 23.09.2011 (2011–2009). Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/kultur/ literatur/2011‑09/zygmunt‑bauman‑interview (zuletzt geprüft am 09.02.2016); zum soziologischen Interesse an Literatur s. auch Kuzmics/Mozetič 2003. Zur Etymologie des Gewaltbegriffs s.o. S. 7.

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So wird mit der fortschreitenden Entwicklung moderner Gesellschaften Gewalt zunehmend unselbstverständlich: Zum einen wird sie diskursiv ausgegrenzt und skandalisiert, zum anderen verliert sie als konkrete Erfahrung an Bedeutung, jedenfalls, was die Lebensrealität der gesellschaftlichen Eliten betrifft. So konsolidiert sich ab dem 19. Jahrhundert die Vorstellung, Gewaltlosigkeit sei ein kennzeichnendes Merkmal moderner Gesellschaften – mit der Konsequenz, dass die Gewalt im Nachdenken über die Moderne selbst keinen Ort hat.123 Die ‚diskursive Ausgrenzung‘ der Gewalt spiegelt sich auch in der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema wider. Die Sozialwissenschaft ist in ihrem Ursprung so eng mit dem Selbstverständnis der Moderne verwoben, dass eine kritische Reflexion über deren eigene Beschaffenheit teils ausgeblendet wurde. Daher blieben im Bemühen um die Einschränkung von Gewalt wesentliche Aspekte unbeachtet, sodass weniger dem Phänomen der Gewalt selbst als vielmehr ihrer Eruierung Grenzen gesetzt wurden. Reemtsma geht explizit auf dieses Problem ein und kristallisiert dabei drei Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem als ‚unmodern‘ empfundenen Phänomen heraus: erstens ‚Temporalisierung‘, zweitens ‚Spatialisierung‘ und drittens ‚Verrätselung der Gewalt‘.124 Die frühen ‚Klassiker‘ der Soziologie widmen sich weder der Beschreibung physischer Gewalt noch entwickeln sie genuine Gewaltanalysen. Stattdessen wird Gewalt im thematisch übergeordneten Kontext gesellschaftlich-politischer Strukturen bewertet und beurteilt. Dies betrifft insbesondere die Arbeiten von Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber.125 Durkheim betrachtet Gewalt im Spiegel staatlicher Bestrafung und Disziplinarisierung. Legitimität der Gewalt stellt ein zentrales Moment dar, wenn er das Verhältnis zwischen „mechanischer Solidarität“ und Strafrecht, „organischer Solidarität“ sowie „kooperativem Recht“ erläutert und diskutiert.126 Seine theoretischen Ausführungen lassen dabei den modernen ‚Wunschgedanken‘ anklingen, Gewalt werde 123

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Koloma Beck/Schlichte 2014: 28; für einen Überblick über die ideengeschichtliche Entwicklung der Moderne im Kontext der Gewalt s. dies.: 22–35, 47–105. Zu dem Verhältnis Gewalt – Moderne in der historiographischen Forschung vgl. Baberowski (2008: 5): „Wer im dauerhaften Kriegszustand lebt, wird die Frage nach den Ursachen der Gewalt möglicherweise für überflüssig halten; wer hingegen nur den Frieden kennt, braucht eine Begründung für die Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun. Man könnte auch sagen, dass Historiker Gewalt gewöhnlich als abweichendes Verhalten klassifizieren.“ Vgl. Reemtsma 2008a: 46–47. Durkheim 1977 (1930/1893), 1973 (1963/1902–1903); Simmel 1968 (1908); Weber 1976. Vgl. Durkheim 1977 (1930/1893); dennoch hatten seine Beobachtungen zu Gewalt als

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im steten Prozess von Aufklärung und Wissenschaft innerhalb florierender Industriegesellschaften immer weiter abnehmen. Trutz von Trotha nimmt Durkheims Spuren selbst in den Studien von Elias und Foucault noch wahr, trotz ihrer Fokussierung auf die Gewalt als zentralem Untersuchungsgegenstand.127 Von der Annahme der sukzessiven Gewalteindämmung durch das Programm der Moderne nimmt die Tendenz der soziologischen Forschung, nach den Ursachen und Wirkungen der Gewalt zu fragen, ihren Anfang. Ähnlich nähert sich Simmel dem Phänomen der Gewalt in sozialontologischer Blickrichtung. Obwohl er mit seiner Analyse des ‚Dritten‘ einen wichtigen Impuls für die Gewaltforschung der 90er Jahre geschaffen hat, fasst er den Begriff ‚Gewalt‘ in der Bedeutung ‚Herrschaft‘ auf.128 Die Auffassung des Staates als ‚Administrationsapparat der Gewalt‘ geht schließlich auf Max Weber zurück. In seinen weitreichenden Untersuchungen sieht er den ‚rationalen Staat‘ durch das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit begründet: Der Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: das Gebiet, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.129 Zudem sieht Weber auch die Politik in unauflöslichem Zusammenhang mit Gewalt: „Alle politischen Gebilde sind Gewaltgebilde.“130 Damit avancierte sein Werk zum Hauptreferenzpunkt für eine beinahe unüberschaubare Anzahl von Studien, die das Thema ‚Gewalt und soziale Ordnung‘ zum Gegenstand haben.131

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Selbstbestätigung eigener Überlegenheit (1973) inspirierende Wirkung auf die Überlegungen der sogenannten ‚Gewaltinnovateure‘, vgl. Trotha 1997a: 11, Anm. 3. Trotha 1997a: 11; vgl. Elias 1969, 1981 u. 1985; zur ‚Geburt des Gefängnisses‘ s. Foucault 1977. Simmel 1968; s.u. für eine genauere Betrachtung des ‚Dritten‘ innerhalb der Gewaltkonstellation. Weber 1976: 822. Weber 1976: 520. Relativierend hierzu Weber (1976: 822): „Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates: – davon ist keine Rede –, wohl aber: das ihm spezifische.“ Zwar wurde gegen Weber bisweilen der Vorwurf der „Gewaltfixierung“ hervorgebracht (vgl. Heller 1983: 203), Webers Staatstheorie reicht jedoch weit über die gesellschaftliche ‚Verteilung‘ von Gewalt hinaus, vgl. beispielsweise Käsler 2003; Heins 2004; Ay/Borchardt 2006. Karl Marx (1965 [1929/1867]) dagegen zweifelt die staatlich legitimierte Herrschaft bzw. die Herrschaft des bürgerlichen Staates an. Bei ihm kommt die negative Konnotation von Gewalt sehr deutlich zum Ausdruck, wenn er Gewalt etwa in einer Reihe mit „Eroberung, Unterjochung Raubmord“ nennt (369) oder auf die gegnerischen politischen Strömungen

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kapitel 1

In den 1960er und 1970er Jahren zeichnete sich in Anknüpfung an Talcott Parsons’ Frage nach den ‚Ursachen und Formen der Aggressivität in der Sozialstruktur westlicher Industriegesellschaften‘ eine begriffliche Ausweitung von Gewalt ab.132 Die prominentesten Ansätze stellen die bereits erwähnten Untersuchungen Johan Galtungs zur ‚strukturellen‘ bzw. ‚kulturellen‘ und Bourdieus zur ‚symbolischen‘ Gewalt dar.133 Ende der 80er und Anfang 90er Jahre stieß die vorgenommene Dehnung des Gewaltverständnisses insbesondere in den Beiträgen von Neidhardt und Popitz auf Kritik.134 Denn, so lautet der Einwand, „struktur-funktionale und symbolisch-interaktionistische Theorien“ zielten durch die verstärkte Konzentration auf Bedingungen und Rahmenverhältnisse von Gewalt lediglich auf deren Kontrolle und Prävention, ohne Gewalt als körperliche Verletzung systematisch zu analysieren.135 Diese ‚struktur-funktionale‘ Linie wird in den 90er Jahren größtenteils fortgeführt. Die Intentionen und methodische Ausrichtung der zahlreichen ‚Gewaltberichte‘, die häufig im Auftrag politischer Institutionen angefertigt wurden, spiegeln sich eindrücklich in den einschlägigen Titeln wider, die Schlagwörter wie ‚Prävention‘, ‚Kontrolle‘ ‚Dilemma‘ und ‚Schattenseiten‘ der Gewalt in sich tragen.136

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zu sprechen kommt (passim). In der Tradition Marx’ steht jedoch nicht nur die Kritik an Gewalt, sondern auch die Kritik der Gewalt. Hier ist vor allem George Sorel (1969 [1908]) zu nennen mit seinem Beitrag zur ‚Apologie der Gewalt‘, die u. a. von Frantz Fanon (1969), Walter Benjamin (1971) und Jean-Paul Sartre (im Vorwort zu Fanons Abhandlung, 7–26) aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Von soziologischen Untersuchungen kann hier jedoch keineswegs die Rede sein. Einen Gegenentwurf zu Webers Verständnis von Macht und Gewalt entwickelt Arendt 1970. Sie sieht in der Anwendung von Gewalt die Abwesenheit von Macht. Parsons 1964. Galtung 1969; 1975; 1990; Bourdieu/Passeron 1973; vgl. Anm. 32. Für einen kurzen Überblick über die Trends in der soziologischen Gewaltforschung von 1960 bis in die 90er Jahre s. Imbusch 2000: 24–26. Neidhardt 1986; Popitz 1992 (vgl. Anm. 34 auf S. 10); ein weiterer Wendepunkt wurde sicherlich auch durch Zygmunt Baumans Untersuchung markiert, die das ambivalente Verhältnis zwischen Moderne und Holocaust ins Zentrum rückt (Bauman 1989). Ausgangspunkt hierfür ist die Tatsache, dass Krieg, Gewaltkonflikte und Völkermorde häufig als eine Art ‚Rückfall in die Barbarei‘ interpretiert wurden – gemäß der Bewältigungsstrategie der ‚Temporalisierung‘ (s.o.). Trotha 1997a: 14; zudem verweist Trotha (14–16) auf frühere Arbeiten, die den einsetzenden Paradigmenwechsel in der Gewaltforschung zumindest in Teilen mit vorbereitet haben wie beispielsweise Elias 1969 (mit der Bemerkung, dass hier dennoch die Kontrolle der Gewalt im Zentrum steht); Canetti 1972: 23–38; Foucault 1976 u. 1977; Canetti 1980; Tilly 1985; Giddens 1987: 166–183. S. beispielsweise Schwind, Hans-Dieter/Baumann, Jürgen (Hgg.) (1990): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungs-

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Eine grundlegende Neuorientierung der empirischen und theoretischen Gewaltforschung leitete 1992 Popitz’ Untersuchung „Phänomene der Macht“ ein.137 Sie knüpft an Webers herrschaftssoziologischen Ansatz an und fasst diese in einen anthropologischen Rahmen. Macht stellt für ihn etwas dar, „was der Mensch vermag: das Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen.“138 Als unmittelbarste, direkteste Variante der Macht definiert er die ‚Aktionsmacht‘. Sie befähigt jeden einzelnen Menschen sein Gegenüber jederzeit zu schädigen oder selbst jederzeit Schaden zu erleiden. Anhand der Kategorien ‚Verletzungsmächtigkeit‘ und ‚Verletzungsoffenheit‘ leitet er seine Theorie der sozialen Ordnungsbildung ab.139 Wie weiter oben bereits erwähnt, versteht Popitz absichtliche, physische Gewalt nicht als ‚bindende Macht‘ mit dem Zweck der sozialen Hierarchisierung, sondern auch als ‚bloße Aktionsmacht‘, die ihren Sinn alleine im Prozess der Ausführung hat.140 In der Konsequenz lenkt er die Aufmerksamkeit zum einen auf den Aspekt der Entgrenzung, und zum anderen der Körperlichkeit von Gewalt.141 Damit hebt er sich von den Analysen Durkheims, Webers und Simmels grundsätzlich ab und erarbeitet einen

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kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Berlin; Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (1994): Das Gewalt-Dilemma. Gesellschaftliche Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt und Rechtsextremismus, Frankfurt am Main; Heitmeyer, Wilhelm/Collmann, Birgit/Conrads, Jutta/Matuschek, Ingo/Kraul, Dietmar/Kühne, Wolfgang/Möller, Renate/Ulbrich-Herrmann, Matthias (1995): Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, Weinheim, München; Reiss, Jr., Albert J./Roth, Jeffrey A. (Hgg.) (1993): Understanding and Preventing Violence, Washington D.C.; Reiss, Jr., Albert J./Miczek, Klaus A./Roth, Jeffrey A. (Hgg.) (1994): Understanding and Preventing Violence: Biobehavioral Influences, Bd. 2, Washington D.C.; Reiss, Jr., Albert J./Roth, Jeffrey A. (Hgg.) (1994): Understanding and Preventing Violence: Social Influences, Bd. 3, Washington D.C.; Reiss, Jr., Albert J./Roth, Jeffrey A. (Hgg.) (1994): Understanding and Preventing Violence: Consequences and Control, Bd. 4, Washington D.C.; Eron, Leonard D./Gentry, Jacquelyn H./Schlegel, Peggy (Hgg.) (1994): Reason to Hope: A Psychosocial Perspective on Violence and Youth, Washington D.C.; Levine, Felice J./Rosich, Katherine J. (Hgg.) (1996): Social Causes of Violence. Crafting a Science Agenda, Washington D.C.; vgl. Trotha 1997a: 17, Anm. 13. Popitz 1992. Popitz 1992: 21. Popitz (1992: 44): „Verletzungsmächtigkeit, Verletzungsoffenheit bestimmen wesentlich mit, was wir in einem fundamentalen Sinne ‚Vergesellschaftung‘ nennen. Die Sorge, Furcht, Angst voreinander ist als ein Modus der Vergesellschaftetseins niemals ganz wegzudenken. Zusammenleben heißt stets auch sich fürchten und sich schützen.“ Popitz 1992: 48; Aktionsmacht kann jedoch auch auf psychischer Ebene ausgeübt werden, sowie auch auf der des sozialen Status oder des materiellen Inventars, vgl. Popitz 1992: 44. Zu Popitz’ Gewaltbegriff, auf den sich auch die vorliegende Arbeit stützt, vgl. S. 9.

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Gewaltbegriff, den sich die darauffolgenden Arbeiten der sogenannten ‚Gewaltinnovateure‘ Sofsky, Trotha Nedelmann und Neckel/Schwab-Trapp nutzbar machten. (2) Die Strömung der ‚Gewaltinnovateure‘, die sich parallel zu bisherigen Ursachenanalysen der Gewalt entwickelte, etablierte sich hauptsächlich im deutschsprachigen Raum. Als Pioniere gelten Wolfgang Sofsky und Trutz von Trotha, die mit ihren programmatischen Vorgaben weitere Forschungsbeiträge maßgeblich beeinflussten und eine lebhafte Grundsatzdebatte über die soziologische Auseinandersetzung mit Gewalt in Gang setzten. Insbesondere Brigitta Nedelmann trägt – teils in polemisierender Weise – acht als kontroverse Punkte formulierte Vorwürfe an die konventionelle Gewaltsoziologie zusammen, die anhand traditioneller soziologischer Methoden das amorphe Phänomen der Gewalt greifbar machen will:142 1. „Ignorieren“ von versus „Konzentrieren“ auf Körperlichkeit 2. „Subjektiv gemeinter Sinn“ versus „Sinnlosigkeit“ 3. „Fremddynamik“ versus „Eigendynamik“ 4. Täterzentrierung versus Figurationsanalyse 5. Begrenzungs- versus Entgrenzungsthese 6. „Business as usual“ versus „dichte Beschreibung“ 7. Eindeutigkeit versus Ambivalenz von Gewalt 8. „Kameralistische“ versus „Betroffenheits“-Forschung Im Folgenden sollen die Punkte exemplarisch in Beziehung zu Lucans Gewaltdarstellungen gestellt werden, mit Ausnahme von Punkt 6 und 8, da diese fachspezifische Probleme der soziologischen Methodenbildung ansprechen.143 Punkt 1: Nedelmann weist darauf hin, dass der erste Aspekt „Ignorieren“ von versus „Konzentrieren“ auf Körperlichkeit bei den konkreten Analysen der von ihr als ‚Mainstreamer‘ bezeichneten Gewaltsoziologen keine angemessene Berücksichtigung finde. Infolge normativer Prämissen – d. h. die Auffassung nicht-staatliche Gewalt sei ein ordnungsgefährdendes Problem – gerät die „Leiblichkeit der Gewalttäter und -opfer“ aus dem Blickfeld zugunsten einer Untersuchung vorgelagerter Faktoren und Kausalitäten. Stattdessen sei „genau zu beobachten, wie Körperverletzungen zugefügt werden und wie Opfer körperlich leiden.“144 Dieses Vorgehen ermöglicht weitere Schlussfolgerungen

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Nedelmann 1997: 62–72. Die folgende Darstellung orientiert sich an Nedelmanns Argumentation, die allerdings nicht ohne Kritik blieb, worauf später genauer einzugehen ist (s. u. S. 45). Nedelmann 1997: 63; vgl. Sofsky (1996: 178): „Will man Praxis und Verlauf des Massakers verstehen, muss man daher das Augenmerk darauf richten, wie es verübt wird, und nicht, wozu es verübt wird.“ Trotha (1997a: 26) führt weiter aus: „Gewalt ist körperlicher Einsatz,

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bezüglich der Dynamik und Prozesshaftigkeit von Gewalthandlungen. Aus dem heutigen Blickwinkel liegt das besondere Verdienst des neuen soziologischen Ansatzes darin, dass – obwohl etwa zur selben Zeit erste entsprechende Analysen publiziert wurden – Körper und Körperlichkeit in die Sozialwissenschaften verstärkt Eingang fand und zunehmend systematisch erfasst wurde.145 Zugleich rückte das Thema physischer Schmerz als essentieller Bestandteil einer auf den Körper fokussierten Gewaltforschung ins Zentrum des Interesses.146 Die von Sofsky und Trotha ausgearbeiteten ‚Schmerz-Spezifika‘ Verleiblichung, Vereinsamung, Verzweiflung und Gewaltzeit weisen für die vorliegende Arbeit ein besonders hohes Anschlusspotential auf. Auch wenn der Umgang mit Schmerz unterschiedlichen kulturellen wie individuellen Rahmenbedingungen unterliegt, bleibt die Grundannahme bestehen, dass dem Menschen durch die sinnliche Empfindung von Schmerz seine eigene Leiblichkeit und Kreatürlichkeit ins Bewusstsein gerufen wird. Zu diesem Prozess der Verleiblichung bemerkt Trotha: Wir erfahren uns im Schmerz als Wesen, die von einem Körper bestimmt sind, der mit wachsenden Schmerzen sich zunehmend unserer Steuerbarkeit entzieht und im äußersten Fall wie in der Folter völlig von der Außenwelt bestimmt ist.147

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ist physisches Verletzen und körperliches Leid – das ist der unverzichtbare Referenzpunkt aller Gewaltanalyse.“ Vgl. die etwa zeitgleichen Publikationen von Frank 1991 u. Shilling 1993. Für neuere Beiträge zur Körpersoziologie s. Jäger 2004; Schroer 2005; Gugutzer 2006; Keller/Meuser 2011; als Vorläufer der soziologisch-anthropologischen Beschäftigung mit dem Körper muss an dieser Stelle auch auf Helmuth Plessner (1928) und seine Ausarbeitung der ‚exzentrischen Positionalität‘ menschlicher Organisationsform, kurz: die Differenzierung von Körper und Leib, hingewiesen werden. Der phänomenologische Ansatz der ‚Gewaltinnovateure‘ beruft sich vielmehr auf Plessners anthropologische, körperspezifische ‚Phänomenologie‘ als auf die philosophische Phänomenologie Husserls. Vgl. Trotha (1997a: 28): „Auf der Seite des Opfers ist die Körperlichkeit der Gewalt die primäre Erfahrung, die, die alles andere in den Schatten stellt. Im Zentrum steht dabei der Schmerz, der darauf aufmerksam macht, dass die Soziologie der Gewalt mit der Soziologie des Schmerzes verknüpft ist – ein nicht weniger unbeachtetes und unverstandenes Gebiet der Soziologie, ohne das die Soziologie der Gewalt jedoch gänzlich unvollständig ist“; zum Körper im Schmerz s. die grundlegende Arbeit von Scarry 1985. Trotha 1997a: 28; vgl. Sofsky (1996: 74 u. 94): „Nirgendwo ist der Mensch mehr Kreatur als im Zustand unerträglicher Schmerzen. […] Im Schmerz ist der Mensch ganz Leib, nichts sonst. Die Kontrolle über den Körper ist dahin. Er ist kein Werkzeug des Handelns mehr. Der Schmerz entmachtet die Person. […] Der Gefolterte“, so Sofsky weiter auf S. 94, „erlebt seinen Körper nicht mehr als Quelle eigener Kraft oder als Bollwerk des Widerstandes. In der Raserei des Schmerzes wird ihm der eigene Leib selbst zum Feind. Es ist sein Leib, der

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Die Erfahrung unerträglichen Schmerzes ist zugleich „ein Zerbrechen des leiblichen Selbstbezugs“, da der Körper, so Sofsky weiter, „nicht ein Teil des Menschen, sondern dessen konstitutionelles Zentrum“ ist.148 Der Mensch gerät damit in ein distanziertes Verhältnis zu seinem eigenen Körper, der allein vom Schmerz beherrscht wird. Diese Distanz entwickelt sich nicht nur in Bezug auf die subjektive ‚Innenwelt‘ des Menschen, sondern auch auf seine soziale Außenwelt. Die Sprachlosigkeit des Schmerzes, die Unmöglichkeit seiner Kommunikation zieht eine kategorische Vereinsamung nach sich. Der Schmerzen erleidende Mensch ist von seinen Mitmenschen isoliert und kann seine Qual nicht teilen.149 Dies trifft ebenso auf das Sterben und den Tod zu. Hoffnungsund Ausweglosigkeit führen schließlich zur Verzweiflung des Opfers: „Es ist die Verzweiflung am eigenen Körper, der zum Leib wird. Es ist die Verzweiflung körperlicher Ohnmacht.“150 Die Zerrüttung der Subjektivität, des eigenen Selbst ist auch Resultat ‚verzerrt‘ wahrgenommener Zeitstrukturen innerhalb der Schmerzerfahrung. Mit Blick auf das Erleiden von Gewalt prägte Sofsky daher den Begriff der Gewaltzeit: Das Leiden hat seine eigene Zeit. Dies gilt für die körperlichen Empfindungen, den Rhythmus des Schmerzes, ebenso wie für die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen. Gewaltzeit meint auch die innere Zeit des Menschen. Das Widerfahrnis schlägt durch auf die Zeitstruktur des Bewusstseins, auf das Verhältnis von Erinnerung, Wahrnehmung und Erwartung, von Retention und Perzeption.151 Zukunft und Vergangenheit haben im Schockzustand der Gewaltzeit keine Geltung. Der objektiv-chronologische Verlauf der Zeit ist außer Kraft gesetzt. In der

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ihm die Qual bereitet und dem er nicht entkommen kann, so sehr er die Zähne zusammenbeißt, so sehr er die verbliebene Willenskraft mobilisiert. Der Todfeind ist in ihm selbst.“ Sofsky 1996: 76 u. 66. Vgl. Scarry 1985: 3–11; Sofsky (1996: 78–79): „Der Schmerz schließt den Menschen in sich ein. Er kann zwar ausgedrückt, aber nicht dargestellt oder mitgeteilt werden. Er widersetzt sich der Kommunikation. […] Der Schrei sagt nichts, er ist nicht beredt“; s. auch Sofsky 1996: 95–97; ergänzend dazu Trotha (1997: 29): „Schmerz entzieht sich der Empathie. Der Zuschauer des Schmerzes mag den Schmerz zwar als groß oder klein, der Leidende mag ihn als fürchterlich, stechend, beißend oder durchdringend bezeichnen. Aber unser Vokabular ist bemerkenswert kärglich. Das gilt besonders für Zuschauer. Unsere reduzierte Beobachtersprache für den Schmerz ist Folge des Umstandes, dass wir keinen Zugang zum Schmerz haben.“ Trotha 1997a: 30. Sofsky 1997: 104.

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Gewalt und im Schmerz zieht sich die Wahrnehmung der Welt auf den Augenblick zusammen. Dieser ist jedoch nicht lediglich als verbindender Intervall zwischen dem ‚Davor‘ und ‚Danach‘ zu verstehen, sondern als aus dem messbaren Fluss der Zeit herausgefallener Schockzustand. Sofsky wählt hierfür den Begriff der ‚Plötzlichkeit‘: Plötzlichkeit ist ein phänomenaler Modus eigener Art. Der Augenblick ist kategorial nicht zu verwechseln mit dem Jetzt, jenem Grenzpunkt, der Vergangenheit und Zukunft verknüpft und dessen stetiges Voranschreiten die Kontinuität der Zeit sichert. Im Jetzt endet das, was war, und es beginnt, was kommen wird. Das Plötzliche dagegen fügt sich dem Fortschritt der Zeit nicht ein, es zerstört ihn vielmehr. Das Jetzt ist in der Zeit, der Augenblick des Plötzlichen ist außerhalb der Zeit.152 Damit ist für den Gewalt erleidenden Menschen eine Verortung innerhalb standardisierter Zeitstrukturen nicht mehr möglich. Dies tritt verstärkend zum durch physische Gewalt bedingten Bruch des eigenen Selbstbezugs hinzu. Die (außer-)zeitliche Dimension muss daher in unmittelbarer Verbindung mit den sozialen Strukturen gesehen werden. Gewalt dissoziiert und atomisiert. […] Die Zerstörung des Zeitsinns ist eine zentrale Wirkung akuter Gewalt. Sie hat die vollständige Desubjektivierung zur Folge. Das Widerfahrnis der Gewalt ist von absoluter Präsenz. Sie komprimiert die Zeit zur Jetztzeit ohne Horizont, zum Augenblick außerhalb der Zeit. Das Opfer ist außerstande, das Widerfahrnis im Lichte der Vergangenheit oder Zukunft einzuordnen und dadurch Distanz zu gewinnen. Es kann sich nicht mehr zur Situation verhalten, und deshalb kann es sich auch nicht mehr zu sich und zu anderen verhalten. Noch vor dem Tod wirft die Gewalt den Menschen in eine Zeit jenseits der sozialen Welt.153 Zudem ist der phänomenologische Zustand „absoluter Präsenz“ wesentlich durch Dehnbarkeit und Extensität der Dauer gekennzeichnet. Im Moment „der Lähmung, der punktuellen Erstarrung“ erfährt der Betroffene eine Intensivierung des schmerzhaften Widerfahrnisses. Seine Verlassenheit steigert sich 152 153

Sofsky 1997: 106. Zur theoretischen Ausarbeitung von Augenblick und Plötzlichkeit vgl. Theunissen 1971; Thomsen/Holländer 1984; Bohrer 1994; Sommer 1996; Bohrer 1998b. Sofsky 1997: 120; zum ‚absoluten Präsens‘ als ästhetische Kategorie s.u. Abschnitt 1.2.2, Punkt 7a.

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ins für ihn scheinbar Unendliche.154 Für Außenstehende jedoch, wie etwa den Täter oder Zuschauer, ist die Wahrnehmung der Zeit eine andere. Aufgrund von Sprachlosigkeit und mangelnder Nachfühlbarkeit des Schmerzes sind sie der existenziellen, kreatürlichen Grenzerfahrung entbunden.155 Damit ist Gewaltzeit kein interpersonales Phänomen, sondern hinsichtlich der jeweiligen Gewaltteilnehmer vielmehr als ‚ungleichzeitige‘ Erfahrung aufzufassen: Gewaltzeit ist keine gemeinsame Zeit. Was dem Beobachter, der aus dritter Perspektive das Geschehen untersucht, als einheitliche Zeitform erscheint, ist in Wahrheit ein radikaler Antagonismus. Der sozialen Asymmetrie der Gewalt entspricht die Asymmetrie der Zeit. […] Zwischen Täter und Opfer besteht eine Kluft, die sich tiefer kaum denken lässt. Dennoch bedingen Tatzeit und Leidenszeit einander, nicht im Sinne sozialer Reziprozität, sondern gleichsam mechanischer Kausalität. Plötzlichkeit bewirkt Entsetzen und Panik, der Überfall erzeugt Angst und Ohnmacht.156 Sofskys mikroskopische Analyse von Gewalt-Erleiden und Getötet-Werden lässt sich, wie sich später zeigen wird (s. z.B. Abschnitt 4.4.5 ‚Lycidas‘), in bemerkenswerter Weise mit Hilfe erzähltheoretischer Beschreibungskategorien wie etwa ‚Zeit‘ und ‚Fokalisierung‘ für die Textanalyse der Gewaltdarstellungen in Lucans Bellum Civile nutzbar machen. Doch auch die sieben verbleibenden Errungenschaften der sogenannten soziologischen ‚Gewaltinnovateure‘ stellen für die vorliegende Studie elementare Anknüpfungspunkte bereit. Zu Punkt 2: „Subjektiv gemeinter Sinn“ versus „Sinnlosigkeit“. Selbstreflexive Gewalt, d.h. Gewalt, die ihren ‚Sinn‘ in ihrer bloßen Ausübung und Prozesshaftigkeit trägt, wird von Popitz als „bloße Aktionsmacht“ bezeichnet und als eigenständiges Analyseobjekt in den sozialwissenschaftlichen Diskurs einge-

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Sofsky 1997: 106; vgl. Sofsky (1996: 75–76): „Die Augenblicke des Glücks vergehen, der Schmerz aber hat die Fähigkeit zur Dauer. Er setzt sich fest, dehnt sich aus, steigert sich. Nach dem ersten Schlag hält er Leib und Bewusstsein besetzt. Stetig strömt er dahin, unterbrochen nur von Momenten des Aufflackerns. Unerbittlich ist seine Zeit. Sie hat kein Ende. […] Der Jetztpunkt des Schocks zerdehnt sich zu reiner Dauer.“ Vgl. Christ/Gudehus (2013: 1): „Zusätzlich stellt die Erforschung von Gewalt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur vor begriffliche oder methodologische Herausforderungen, sondern führt auch an eine Grenze intersubjektiven Verstehens. […] Erfahrene Gewalt macht einsam, sie isoliert und wirft die Betroffenen zurück auf sich selbst. Sie setzt dem Glauben an die Möglichkeit zwischenmenschlicher Verständigung eine definitive Grenze.“ Sofsky 1997: 119–120.

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führt (s.o.). Er vertritt die Position, Gewalt komme vollkommen ohne Motiv aus und könne „nüchtern und illusionslos vollzogen werden“ ebenso wie „spielerisch-neugierig, gedankenlos-gelangweilt, beflissen-verbohrt“.157 Im Gegensatz zur „bindenden Aktionsmacht“, die auf eine Erlangung der Macht mittels Gewaltanwendung zielt, wurde ‚sinnlose‘ Gewalt bei traditionellen gewaltsoziologischen Untersuchungen zum Teil bewusst, wie etwa bei Simmel, ausgeklammert.158 Denn Gewalt, die in der modernen Gesellschaft allgemein einen Verstoß gegen die soziale Ordnung darstellt und damit als Problem und Ausnahmeerscheinung gewertet wird, sucht schließlich einen sinnhaften Anlass. Die Suche nach dem Motiv hatte zur Folge, dass der Schwerpunkt traditioneller soziologischer Untersuchungen stets auf der Perspektive des Täters lag und nie auf der des Gewalt Erleidenden. Damit wurde der Erkenntniswert dieser Analyse mindestens halbiert (s.u. zur Gewaltaktantenanalyse). Besonders reizvoll für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt ist Nedelmanns Bemerkung, dass Gewalt hinsichtlich ihrer Selbstbezüglichkeit „als Kunst, als l’art pour l’art, und Gewaltausübung als körperliche Kunstfertigkeit zu begreifen“ sei.159 Die Ausführungen zur Sinnlosigkeit der Gewalt weisen gemeinsame Schnittmengen mit der Lucanforschung auf. Für eine Analyse der Gewaltdarstellungen Lucans ist es zielführend, seinen Blick weg vom Sinn der Gewalt(-darstellungen), hin zu einer prinzipiellen Öffnung für den Aspekt des l’ art pour l’art zu wenden, ohne einer einseitigen Betrachtung aus dem Blickwinkel des etwa von Sklenář konstatierten Nihilismus anheim zu fallen (s.o.). Als exemplarisch für den Aspekt der Sinnlosigkeit lässt sich etwa die Folterszene des Marius Gratidianus (Lucan. 2.173–193a) anführen (s. Kapitel 2). Punkt 3: „Fremddynamik“ versus „Eigendynamik“. Zwischen den Aspekten ‚Sinnlosigkeit‘ und ‚Eigendynamik‘ von Gewalt besteht ein fließender Übergang. Die traditionelle Gewaltforschung richtet ihr Augenmerk größtenteils nicht nur auf kausale, sondern auch auf finale Beweggründe für Gewalthandlungen. Es bestehe demnach eine Vielfalt von Herleitungen, sodass von einer sozialen „Makrokonstellation“ der Gewalt ausgegangen wird. Vor allem biographische Faktoren der Täter wie Familie, Erziehung, Bildung, Drogenkonsum, Mediennutzung etc. spielen hierbei eine übergeordnete Rolle.160 Da diese

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Popitz 1992: 48–49. Simmel 1968: 194; vgl. Trotha 1997a: 12. Nedelmann 1997: 64. Vgl. beispielsweise Alber, Jens (1995): Zur Erklärung von Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, in: Mochmann, Ekkehard/Gerhardt, Ute (Hgg.) (1995): Gewalt in Deutschland. Soziale Befunde und Deutungslinien, München, 39–77; Fuchs, Marek/Heitmeyer, Wilhelm/Müller, Joachim (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe,

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Gesichtspunkte eher die Fremddynamik der Gewalt beleuchten und somit außerhalb der Gewalt an sich angesiedelt sind, wenden sich die Vertreter einer genuinen Gewaltanalyse davon ab. Vielmehr sind sie der Ansicht, dass Ursachen, Motive, Intentionen etc. innerhalb eines Kampfes einer eigendynamischen Entwicklung unterliegen, die sich erst im Vollzug der Gewalt ergibt. So werde die „Eigendynamik zum Wesensmerkmal von Gewalt schlechthin“.161 Mit Sofskys Worten: „Was treibt den Kampf an und wie kommt er zum Ende? Diese Fragen zielen auf die Dynamik des Kampfes, nicht auf seinen Grund. Denn der Kampf ist eine Gewaltform sui generis, die ihren eigenen Gesetzen folgt.“162 Dass auch im Bellum Civile narrative Gewalt durch ihre Eigendynamik charakterisiert ist, lässt sich insbesondere am Zweikampf zwischen Hercules und dem Riesen Antaeus beobachten (Lucan. 4.591–660). Es wird sich zeigen, dass dieses Kriterium auch eine narrative Funktion erfüllt, und zwar insofern, als seine literarische Gestaltung zur Erzeugung von Spannung beiträgt (s. Kapitel 5). Punkt 4: Täterzentrierung versus Figurationsanalyse. Eine der wichtigsten grundlegenden Neuerungen der ‚innovativen‘ Gewaltsoziologen betrifft die Forderung nach einer weiterreichenden Figurationsanalyse anstelle der häufig angeführten Konzentration auf den Täter. Die Differenzierung des Täterbegriffs wie etwa durch Heitmeyer und Müller ist als weiterer Beleg für dieses Phänomen heranzuziehen. So bevorzugen sie für jugendliche Gewalttäter die Bezeichnung „an Gewalt beteiligte Jugendliche“, um im Bemühen um Gewaltprävention moralische Verurteilungen zu vermeiden.163 Zudem weist Nedelmann darauf hin, dass Gewaltkommissionen sich auf eine Ausarbeitung von Tätermerkmalen spezialisieren, während entsprechende Opfermerkmale keinerlei Berücksichtigung finden.164 Die neuere Gewaltforschung beabsichtigt keine völlige Verkehrung des bisherigen Ansatzes, sodass nicht nur das Opfer in den Blick genommen wird, sondern vielmehr eine Figurationsanalyse, die das Zusammenspiel aller beteiligten ‚Gewalt-Protagonisten‘ näher beleuchtet. Demnach spielt sich Gewalt immer in einer Dreierkonstellation ab. Im Rückgriff auf Simmels Grundüberlegungen zum ‚Dritten‘, das für seine Theorie der

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soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen, hg. vom Bundesministerium der Justiz, Bonn; Heitmeyer, Wilhelm et al. (1995): Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, München; Lamnek, Siegfried/Luedtke, Jens (1996): Schule und Gewalt. Realität und Wahrnehmung eines sozialen Phänomens, Opladen. Nedelmann 1997: 66. Sofsky 1996: 138. Heitmeyer/Müller 1995: 16. Nedelmann 1997: 66; vgl. Schwind/Baumann 1990 Bd. 1: 57.

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‚Vergesellschaftung‘ von Gruppen durch soziale Wechselwirkungen von zentraler Bedeutung ist, wird die bis dahin in der Gewaltsoziologie geltende TäterOpfer-Dichotomie durch eine zusätzliche Instanz aufgebrochen.165 Dabei vertritt ‚das Dritte‘ nicht notwendig eine Person, wie etwa den Zuschauer oder Schiedsrichter, sondern manifestiert sich auch in abstrakten übergeordneten Instanzen wie z. B. der Gesellschaft, Werte, Gesetze, Institutionen etc.166 Es können auch mehrere Dritte in der Gewalthandlung involviert sein, denn wie bei Simmel „geht es nicht um graduelle Komplexitätssteigerungen durch Quantität, sondern um einen qualitativen Sprung durch den Eintritt des Dritten.“167 Bereits „eine Geste, eine Art des Zuhörens, die Stimmung, die von einem Menschen ausgeht“,168 befähigt das Dritte, wesentlich auf die triadische Gewaltkonstellation und damit auf das ‚Wie?‘ der Gewalt selbst Einfluss zu nehmen. Anhand dieses Modells lässt sich die Wechselwirkung der jeweiligen Instanzen deutlich präziser beschreiben sowie folglich auch die eigendynamischen Prozesse der Gewalt (s.o.). Dieser systematische Zugang sensibilisiert zudem die soziologische Gewaltforschung für in sich wandelbare und ineinander übergehende Täter-, Opfer- und Zuschauerrollen.169 Für die vorliegende Arbeit stellt die triadische Gewaltkonstellation einen elementaren Bestandteil dar, von der aus die tiefergehende Analyse der Lucanischen Gewalt ihren Fortgang nehmen wird. Da eine differenzierende Untersuchung der einzelnen Gewaltinstanzen im Bellum Civile bisher nicht explizit erfolgt ist, stellt sie für die Arbeit einen ganz zentralen Punkt dar. Anhand dieses methodischen Vorge165

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Simmel 1968; vgl. Bedorf (2003: 146): „Mit dem Dritten wird die in der Wechselwirkung bereits angelegte Sozialisierungstendenz zwischen Individuen erst zum Grundstein der Vergesellschaftung. Erst die Gruppe, die ihre Existenz mit dem Dritten beginnt, ist die Gesellschaft in nuce. Dabei sind die internen Beziehungen in der Gruppe komplex und variabel“; vgl. Imbusch (2000: 31): „In der Gewaltanalyse selbst muss zudem jegliche simple Täter-Opfer-Dichotomie überwunden werden. Nimmt man Gewalt als komplexes Interaktionsgeschehen ernst, dann kommen immer auch Dritte ins Spiel, die andere Personen, Gruppen oder auch Institutionen sein können, welche die Interaktions- und Wahrnehmungsprozesse zwischen Tätern und Opfern dadurch verändern, dass sie sich neutral, intervenierend oder legitimierend auf das Procedere der Gewalt beziehen“; mit Dreierkonstellationen der Gewalt befasst sich auch Girard 1978 u. 1982; vgl. hierzu Palaver 2003. Vgl. Simmel 1968: 152. Bedorf 2003: 128; vgl. Simmel (1968: 70): „Dass Verhältnisse zu zweien überhaupt als solche spezifische Züge haben, zeigt nicht nur die Tatsache, dass der Zutritt eines dritten sie ganz abändert, sondern mehr noch die vielfach beobachtete: dass die weitere Ausdehnung auf vier oder mehrere das Wesen der Vereinigung keineswegs noch entsprechend weiter modifiziert.“ Simmel 1968: 78. Nedelmann 1995: 12–14.

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hens soll die deutlich spürbare Tendenz, Lucans Gewaltszenen liege gemäß der Bürgerkriegsthematik grundsätzlich eine Art ‚suizidaler Vermengung von Täter- und Opferrolle‘ zugrunde, kritisch hinterfragt werden. So soll ein präzises Bild der Gewaltdarstellungen gewonnen werden, das den polyphonen Charakter des Bellum Civile widerspiegelt. Das soziologische Modell der Dreigliedrigkeit erfährt für die Zwecke der vorliegenden Studie zum einen durch Greimas’ Aktantenmodell, und zum anderen durch die Entwicklung einer eigenen Terminologie eine erzähltheoretisch-methodische Erweiterung (s.u. Abschnitt 1.2.2). Punkt 5: Begrenzungs- versus Entgrenzungsthese: Die Entgrenzungsthese lässt eine große Nähe zum Aspekt der Eigendynamik der Gewalt erkennen und ist gewissermaßen als dessen konsequente Fortführung anzusehen. Denn aufgrund eigendynamischer Prozesse im Vollzug der Gewalt ist eine potentielle Steigerung bis zu absoluten Eskalation möglich. Der Gedanke blieb bei den sogenannten ‚Mainstreamern‘ eher unbeachtet aufgrund des angestrebten Ziels, Gewalt in der Gesellschaft auf ein Minimum zu reduzieren.170 Auch hier ist Sofsky ein Referenzpunkt, weil er das Potential des Gewaltexzesses in der strukturellen Veranlagung des Kampfes verortet.171 Gemeinsame Schnittmengen zum Bellum Civile sind besonders in den Episoden evident, in denen Gewalt aufgrund extremer Verwundungen und unerwarteter Brutalität als ‚hyperbolisch‘ wahrgenommen wird. Die Kategorie der Entgrenzung scheint hierbei ein geeignetes Beschreibungsmoment zu liefern, das zudem mit Jurij M. Lotmans Verständnis der Grenzüberschreitung ergänzt werden kann (s.u. Abschnitt 1.2.2). Punkt 7: Eindeutigkeit versus Ambivalenz von Gewalt. Mit der Forderung nach einer Öffnung der Gewaltsoziologie für die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit von Gewalt geht zugleich eine Kritik am ‚herkömmlichen‘ Umgang mit ihr einher. Die Vertreter der neueren Gewaltforschung konstatieren eine „normative Vereinseitigung“, wenn soziologische Studien bereits im Titel Gewalt als „Schattenseiten“ der Gesellschaft charakterisieren.172 Aufgrund solch normativer Grundannahmen wird Gewalt als ‚böses‘, die soziale Ordnung gefährdendes Phänomen wahrgenommen, wodurch eine Anerkennung ihres destruktiven und produktiven Potentials von vornherein verneint wird. Eine von Wertur-

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Nedelmann 1997: 67. Sofsky (1996: 142): „Der Exzess absoluter Gewalt ist keine Verfallsform des Kampfes, er ist in seiner Struktur selbst angelegt.“ Vgl. etwa Heitmeyer 1995; eine bemerkenswerte Parallele findet sich bei der Untersuchung von Zimmermann (2013), wo Gewalt als „dunkle Seite der Antike“ ausgelegt wird.

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teilen freie Analyse der Gewalt ist in der Lage, Emotionen wie „Angstlust“173 überhaupt wahrzunehmen, oder zu akzeptieren, dass „Rationalität und Affektivität, Habitualisierung und Kreativität, Verstand und Leidenschaft, Kälte der Berechnung und Blutrausch in ein und dieselbe Tat eingehen.“174 Damit soll jedoch keinesfalls zum Ausdruck gebracht werden, Gewalt sei „normativ beliebig“ oder „wertfrei“.175 Auch in der Lucanforschung ist Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der Gewalt ein prominentes Thema, das insbesondere in der Scaeva-Episode (Lucan. 6.169–249) ausgehandelt wird. Werner Rutz’ Untersuchung des amor mortis in dieser und weiteren Gewaltszenen scheint hierfür paradigmatisch.176 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Strömung der ‚Gewaltphänomenologen‘ wichtige Impulse für die soziologische Gewaltforschung gesetzt hat. Zum einen nahm sie bemerkenswerten Einfluss auf zahlreiche Gewaltanalysen und -theorien,177 zum anderen löste sie durch scharfe Grundsatzdebatten eine „Art kritische Introspektion“ der Soziologie aus hinsichtlich der schwierigen, amorphen Beschaffenheit von Gewalt.178 Dennoch wird sie als „eigenständiges akademisches Forschungsfeld“ nicht anerkannt, da sie stark mit individuellen Persönlichkeiten der sozialen Wissenschaft verhaftet und auf den deutschsprachigen Raum beschränkt blieb.179 Zudem geriet sie in den Folgejahren immer stärker in Kritik und erfuhr eine nicht unwesentliche Relativierung wie etwa durch Peter Imbuschs Beitrag zum Stand der soziologischen Gewaltforschung oder Jan-Philipp Reemtsmas kritische Gedanken zur ‚Natur der Gewalt als Problem der Soziologie‘.180 So wird vor allem Nedelmanns monolithische Gegenüberstellung von ‚Mainstreamern‘ und ‚Gewaltinnovateuren‘ zu Recht angefochten, da es sich bei beiden jeweils um deutlich heterogene soziologische ‚Parteien‘ handelt.181 Letztendlich stellte sich die Frage, ob durch den Ansatz der 173 174 175 176 177 178 179 180 181

Den Begriff der ‚Angstlust‘ prägte Münkler (1996) maßgeblich mit. Nedelmann 1997: 70. Vgl. Koloma Beck/Schlichte 2014: 108. Vgl. Rutz 1960; s. auch Anm. 23. S. beispielsweise Collins 2008; Reemtsma 2008b, Schlichte 2009; Inhetveen 2010; Koloma Beck 2012. Vgl. Imbusch 2000: 29. Koloma Beck/Schlichte 2014: 123. Vgl. Imbusch 2000; Reemtsma 2008a. Imbusch (2000: 28, 30) scheint diese „idealtypische(n) Entgegensetzung von herkömmlicher Gewaltforschung und neuer Gewaltforschung […] eine falsche Entgegensetzung zu sein, da man beide Aspekte auch unter Komplementaritätsgesichtspunkten betrachten könnte.“ Später führt er zunehmend kritisch aus (34): „Die sich aus den vorangegangenen Abschnitten vordergründig vielleicht aufdrängende Differenzierung der Gewaltforschung in ‚Innovateure‘ und ‚mainstreamer‘ ist ebenfalls nicht unproblematisch, sind doch beide

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mikroskopischen Beschreibung von Gewalterleiden nicht viel eher Grauen und Erschaudern beim Leser hervorgerufen werde als tatsächlich zu einem ‚besseren‘ Verständnis des Phänomens beizutragen.182 (3) Auch wenn im soziologischen Diskurs der Erkenntnisgewinn der Gewaltphänomenologen nicht unerheblich in Frage gestellt wurde und wird, bietet der ‚innovative‘ Ansatz, wie bereits mehrfach angedeutet wurde, für literaturwissenschaftliche Analysen bemerkenswerte Anknüpfungspunkte. Besonders bemerkenswert ist hierbei Nedelmanns Feststellung, die beinahe schon als ‚Empfehlung‘ für eine philologische Auseinandersetzung mit Gewalt gelesen werden kann: Die Art und Weise der Gewalthandlung sei das eigentliche Analyseobjekt, denn wie gemordet, gefoltert, gequält, überfallen usw. werde, könne als ‚Text‘ verstanden werden, der nach genauer Lektüre Rückschlüsse über die Gewaltdynamik selbst erlaube. Diese Empfehlung einer auf den leidenden Körper bezogenen ‚Textinterpretation‘ wenden die neueren Gewaltforscher insbesondere bei extremer, destruktiver Gewalt an.183 Insbesondere die Umorientierung von der Ursachenforschung hin zur Frage nach den Prozessen und Modalitäten der Gewalt an sich stellt das methodische Grundgerüst für die vorliegende Studie dar. Hierfür ist der Fokus explizit auf die narrative Gestaltung von Körper und physischer Verletzung zu richten. Welche narrativen Strategien lassen sich etwa beobachten, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf den verletzten Körper zu lenken und damit eine Intensivierung der Leserwirkung zu erzeugen? In diesem Kontext ist zu prüfen, ob und wie Gewaltzeit als Beschreibungskategorie literarischer Untersuchungen fruchtbar gemacht werden kann. Zudem kann eine ‚genuine Gewaltanalyse‘ der Kampfund Sterbeszenen im Bellum Civile nur unter Berücksichtigung der Dreierkonstellation von Gewalt, d.h. Täter und Opfer und Dritte erfolgen. Dies ist ein

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Gruppen keineswegs so homogen, wie die stilisierte Gegenüberstellung vermuten lässt. Inzwischen kritisiert nämlich nicht nur ein Teil der ‚Innovateure‘ (etwa Birgitta Nedelmann und Trutz von Trotha) ihre eigene Avantgarde (Wolfgang Sofsky) kräftig, [s. dort Anm. 24] sondern auch der ‚mainstream‘ wurde nur aufgrund ungenügender Differenzierung der ‚Innovateure‘ zu jener scheinbar homogenen Restkategorie, die er in Wirklichkeit nie war“; an dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Nedelmann in ihrer kontrastiven Darstellung die Terminologie von Mutschke und Renner (1995) aufgreift und pauschalisiert. Imbusch 2000: 37; s. ebenso Welzer 1994; Koloma Beck/Schlichte 2014: 129. Nedelmann 1997: 63. Dieser Aspekt stellt zudem einen zentralen Anknüpfungspunkt für die Eigendynamik des Unmaking Lucanischer Gewalt dar, worauf in Abschnitt 1.2.3 näher einzugehen ist.

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ganz zentrales Anliegen dieser Arbeit. Mit den ‚Scheuklappen‘ einer reinen Täter-Opfer-Dichotomie würde die Analyse Lucanischer Gewalt zu kurz greifen, da schließlich davon abhängige, grundwesentliche Aspekte wie Eigendynamik und Entgrenzung aus dem Sichtfeld gerieten. Dem Charakteristikum der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit Lucanischer Gewalt, das bereits in zahlreichen Beiträgen näher beleuchtet wurde (s.o.), kann anhand der hier geschilderten soziologisch geprägten Rahmung ein noch schärferes Profil verliehen werden. Es wird schließlich zu fragen sein, inwiefern die narrative Gewalt als selbstbezüglich und um ihrer selbst willen verstanden werden kann, ganz im Sinne des l’art pour l’art-Prinzips. Dieser Aspekt markiert, wie sich zeigen wird, den eigendynamischen Prozess des Unmaking, welcher sich im ästhetischen Prozess der Lektüre entfaltet. Um auf die zu Beginn des Abschnitts ‚Gewalt und Soziologie‘ vorausgeschickte These zurückzukommen, anhand soziologischer Kategorien lasse sich ein neuer Zugang zu Literatur schaffen: die Gewaltdarstellungen in Lucans Bellum Civile sind sicherlich – ebenso wie das Werkganze – viel zu komplex und vielschichtig, als dass man sie mit einer „Sammlung von Regeln“ vollkommen erfassen könnte. Allerdings bieten die Grundüberlegungen Sofskys, Trothas und Nedelmanns wichtige Impulse, die eine ‚innovative‘ und differenziertere Analyse der Lucanischen Gewalt ermöglichen. Da es jedoch nicht um eine Auseinandersetzung mit realer, sondern fiktionalisierter, narrativ verarbeiteter Gewalt geht, müssen die aus der Gewaltsoziologie gewonnenen Erkenntnisse im Spiegel philologischer und erzähltheoretischer Beschreibungsmechanismen auf den Text angewandt werden. 1.2.2 Gewalt und Literatur Nicht nur die ‚besondere Konstellation‘ Vertrauen und Gewalt ist von einer ambivalenten Dynamik geprägt,184 sondern auch Vertrauen und Literatur. Christoph Bode bemerkt in seiner Studie zu Ambiguität: „Jedes Lesen beginnt mit einem Vertrauensvorschuss des Lesers an den Autor, den Text: Arglos wird vorausgesetzt, dass das, was da ‚steht‘, ‚Sinn macht‘ – eine, wie jeder sperrige, schwierige, literarische Text zeigt, naive, doppelte Illusion, die, bald zerstäubt, leicht Enttäuschung, gar Wut nach sich ziehen kann: Denn was da ‚steht‘, ist noch gar nicht ausgemacht, viel eher im Flusse, und der Text allein ‚macht‘ gar nichts, wenn der Leser nichts tut.185 184 185

Reemtsma 2008b. Bode 1988: 123.

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Lucans literarische Gewalt ist ein amorphes Phänomen. Hierin zeigt sich eine bemerkenswerte Entsprechung zu realer Gewalt. Ihre Analyse erfordert, ähnlich wie in der soziologischen Gewaltforschung, einen Methodenpluralismus, der sowohl statische als auch dynamische sowie in sich geschlossene und zugleich offene Komponenten und Mechanismen miteinbezieht.186 Die methodischen Ansätze schließen sich nicht etwa aus, sondern stehen vielmehr in dialektischer Beziehung zueinander, gleichsam in einem beweglichen Wechselspiel, das von „Grenz- und Übergangsdynamiken“ geprägt ist.187 In der literaturtheoretischen Landschaft ist die vorliegende Arbeit auf der fließenden Grenze zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus zu verorten. Für eine möglichst umfassende Analyse der Lucanischen Gewalt ist die bewusste Vermeidung einer literaturtheoretischen Fixierung, oder positiv formuliert: ein Oszillieren zwischen den genannten ‚Sphären‘ in besonderem Maße adäquat, wenn nicht sogar erforderlich. Die bloße Anwendung klassisch-strukturalistischer Modelle, die eine rein formalistische Darstellung statischer Textstrukturen und -merkmale vorsehen, kann ebenso wenig ausreichen wie eine rein poststrukturalistische Vorgehensweise, die zur Untersuchung eines narrativen Textes von festen Begriffen und Kategorien Abstand nimmt.188 Stattdessen erweitert die Arbeit strukturalistische Ansätze wie etwa Aktanten, Raum und Zeit durch dynamische, offene Faktoren, und nimmt zugleich die Rezeption des Textes

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Vgl. Nedelmann (1997: 81): „Das von den ‚Mainstreamern‘ eingeschlagene umgekehrte Verfahren, das Gewaltphänomen den verfügbaren Methoden anzupassen […], führt zu der geschilderten Verengung in der Behandlung von Gewaltphänomenen. Da es zahlreiche Problemstellungen gibt, die sinnvollerweise mit dem Phänomen der Gewalt verknüpft werden können, wird man auch zahlreiche Methoden und Methodenkombinationen zulassen müssen, um diese Probleme zu behandeln. Die künftige Gewaltforschung sollte sich weder durch die Art der mit dem Gewaltphänomen verbundenen Problemstellung noch durch die Art der methodischen Behandlung dogmatisch verengen, sondern umgekehrt öffnen.“ Koschorke 2013: 128. Zudem bleibt zu bedenken, dass poststrukturalistische Ansätze durch den negativen Verweis auf Strukturen und Dichotomien, die es aufzulösen gilt, stets an die Denkweise des Strukturalismus anknüpft; vgl. Koschorke (2013: 117): „Indessen teilen alle diese Ansätze [gemeint ist unter anderem die Sensibilisierung für Andersheit durch Dekonstruktion] das Problem, dass die Umwertung innerhalb von Dichotomien dem dichotomischen Schema als solchem niemals vollständig entkommt. (Man stößt hier auf das strukturalistische Erbe, das der Poststrukturalismus im Namen trägt und nicht zu überwinden vermag.) Wer von Identität auf Alterität umstellt, bleibt, und es sei in einer begrifflich noch so kunstfertigen Weise, im Bannkreis einer negativen Fixierung auf Identität.“ S. auch Münker/Roesler (2000: 25) zu Foucaults poststrukturalistischem Ansatz in Wahnsinn und Gesellschaft.

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in den Blick, wobei insbesondere die Aspekte Illusionsbildung und -durchbrechung, Wirkungsästhetik und Spannung beleuchtet werden.189 Der folgende Abschnitt erläutert und diskutiert erzähltheoretische Begriffe, Beschreibungsmechanismen und Modelle, die für die Analyse der Lucanischen Gewalt herangezogen werden.190 Die Darstellung gliedert sich in acht Schritte, wobei ihr Verlauf entlang des Spannungsverhältnisses von Struktur und Auflösung führt. (1) Zunächst ist zu klären, welcher Begriff von Erzählung der Analyse zugrunde gelegt wird. Von zentraler Bedeutung ist hier einerseits der Aspekt der Kommunikation, andererseits die dreigliedrige Struktur, die eine Einteilung in fabula, story und text vorsieht. Der strukturalistische Ansatz dient als methodischer Ausgangspunkt, um später auch poststrukturalistische Momente der Erzählung präziser aufzeigen zu können. (2) Anschließend wird in Anknüpfung an Greimas’ literaturtheoretisches Aktantenmodell und der oben erläuterten Forderungen der soziologischen ‚Gewaltinnovateure‘ ein dynamisches Beschreibungsmodell der Aktanten narrativer Gewalt entwickelt und diskutiert. Diese eher strukturalistisch geprägte ‚Bestandsaufnahme‘ ist fester Bestandteil jeder Einzelanalyse und dient als individuelles Fundament für eine weitere Analyse der jeweiligen Gewaltdarstellungen. (3) Ein wesentlicher zu berücksichtigender Aspekt ist der Erzählraum. Dieser Abschnitt gliedert sich in zwei Teile. Der erste fragt nach der phänomenologischen Beschaffenheit des dynamisch gedachten Raums, der zweite befasst sich mit Jurij M. Lotmans spezifischem Begriff der offenen Grenze, dessen ambivalente Wirkung zwischen Strukturverdichtung und -auflösung einen besonderen Mehr-

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Den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus markiert bei Barthes etwa seine Entwicklung weg vom Text als geschlossenes System hin zu einem prinzipiell offenen Prozess, s. Barthes (1976: 255): „Nicht versuchen, eine tiefe, letzte Struktur des Textes aufzustellen […], und ebensowenig das Paradigma eines jeden Codes wiederherstellen; multiple Strukturen in ihrer Fluchtlinie ins Auge fassen […]; die Strukturation der Struktur vorziehen […]; das Ineinandergreifen der Codes suchen und nicht den Aufbauplan des Werkes […]“; zum Begriff der écriture, der zunehmend den der Struktur ablöst, s. Barthes 1988: 12; vgl. Münker/Roesler 2000: 22–23; Geisenhanslüke 2013: 83. Dass es sich bei der Grenze zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus um eine fließende, diffuse Kontaktzone handelt, lässt sich auch beispielsweise an Genettes Begriff des Palimpsest erkennen, auf den er im Kontext seiner Studie zu Prousts À la recherche du temps perdu zurückgreift (Genette 1966: 67): „Comme l’écriture proustienne, l’ œvre de Proust est un plimpseste où se confondent et s’enchevêtrent plusiers figures et plusiers sens, toujours présents tous à la fois, et qui ne se laissent déchiffrer que tous ensemble, dans leur inextricable totalité.“ Ausgenommen ist an dieser Stelle das Theorem der Spannung. Dessen systematische Auffächerung wird exemplarisch am Ringkampf zwischen Antaeus und Hercules (Lucan. 4.593–653) vorgenommen (s. Abschnitt 5.4.4).

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wert für die Untersuchung der Lucanischen Gewalt verspricht. (4) In engem Zusammenhang mit Raum und Grenzüberschreitung steht zudem die narrative Gestaltung von Zeit. Mit den erzähltheoretischen Kategorien von Ordnung, Dauer und Frequenz lassen sich nicht nur das Phänomen der Gewaltzeit, sondern auch die Erzeugung von Illusion (bzw. ihrer Durchbrechung) oder Spannung am Text konkret herausarbeiten. (5) Der von Genette geprägte Begriff der Fokalisierung unterliegt hier zwar keiner spezifischen erzähltheoretischen ‚Modifizierung‘, soll jedoch – hinsichtlich der schier unüberblickbaren Heterogenität narratologischer Begriffe und Kategorien – nicht als vermeintlich ‚selbsterklärende‘ Kategorie angeführt werden. (6) Im Rückgriff auf die narrativen Grundkonstanten Aktanten, Raum, Zeit und Fokalisierung setzt sich die Darstellung nun mit deutlich strukturoffenen, leserorientierten Aspekten auseinander, wie etwa Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung. Insbesondere narrative Elemente, die den Eindruck von Illusion stören, sind – allerdings nicht ausschließlich – als konstituierende Merkmale Lucanischer Gewalt anzusehen. Anhand der von Werner Wolf ausgearbeiteten Prinzipien zur Erzeugung oder Durchbrechung illusionistischer Wirkung lassen sich Äußerungen (zuweilen auch Vorwürfe), die Gewaltszenen des Bellum Civile seien ‚unrealistisch‘ und ‚hyperbolisch‘ gestaltet, auf ein methodisches Fundament stellen, das eine systematische und werturteilsfreie Differenzierung ermöglicht. (7) Das ‚Wie?‘ der narrativen Gewalt steht in unauflöslichem Zusammenhang mit Fragen der Ästhetik. Der Fokus liegt dabei auf drei Kriterien: der sinnlichen Wahrnehmung, der Selbstreferentialität und der Leserwirkung im Sinne Wolfgang Isers. Betrachtet man Lucans Gewaltszenen durch diesen Schliff der literaturästhetischen Linse, zeigen sich zum einen deutliche Anknüpfungspunkte an die soziologische Gewaltforschung, zum anderen wird im Prozess der Lektüre die „spielerische Kollaboration mit Bedeutungsherstellung“ vor Augen geführt.191 Dem Leser wird bewusst, dass er die narrative Gewalt nicht nur sieht, sondern vielmehr realisiert. (8) Die Auffassung, dass ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ aus der Offenheit und Unschärfe der Sprache resultieren, spiegelt schließlich eine genuin poststrukturalistische Denkweise wider. Die Erläuterung der Begriffe Poststrukturalismus und Postmoderne stellt den letzten Unterpunkt des Abschnitts ‚Gewalt und Literatur‘ dar. Dies scheint nicht nur wegen der Unschärfe der Termini selbst erforderlich, sondern auch wegen des spezifischen Charakters von Lucans Gewaltszenen, die sich im Spannungsfeld des Unmaking, d.h. im Spannungsfeld zwischen Struktur und Auflösung bewegen.

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Bode 1988: 68.

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abb. 1

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Kommunikationsmodell in elaborierter Version nach Wenzel 2004a: 12

(1) Welches Verständnis von Erzählung liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde? Die Untersuchung kombiniert zwei strukturell unterschiedliche Modelle, die jedoch eine hohe Kompatibilität aufweisen: Zum einen greift sie auf ein binär ausgerichtetes Kommunikationsmodell zurück, andererseits auf ein dreigliedriges Erzähltextmodell.192 Ersteres stellt eine Erweiterung der Basisausführung dar, das die ‚Kommunikationssituation‘ der Erzählung sowohl außerhalb des Textes zwischen Autor und Leser als auch innerhalb zwischen Erzähler und fiktivem Adressaten sowie den handelnden Figuren abbildet (s. Abb. 1).193 In der erweiterten Variante werden zusätzliche Instanzen berücksichtigt, die allerdings nicht mehr als kommunizierende im strengen Sinne angesehen werden. Auf textexterner Ebene kommen der Autor als historische Person (A1) sowie auch der Leser als historische Person (L1) hinzu. Losgelöst von diesen werden der Autor als Textproduzent (A2) sowie der Leser als Textrezipient (L2) betrachtet, da historische Umstände wie Erfahrungen oder Meinungen der Personen auf ihre Rolle als Textproduzent bzw. -rezipient zwar Einfluss haben

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Einen guten Überblick bietet Wenzel 2004a. Vgl. Jahn/Nünning 1993: 24; Nünning 1995: 313–314; Nünning 1997b: 325.

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können, dies aber nicht zwingend ist. Zudem finden auf textinterner Ebene der implizite Autor (A3) sowie der implizite Leser (L3) Berücksichtigung. Der von Wayne Booth in die Narratologie eingeführte und umstrittene Begriff des impliziten Autors übernimmt in der vorliegenden Analyse der Lucanischen Gewalt keine Funktion.194 Umso stärker wird der Fokus jedoch auf den von Wolfgang Iser geprägten Begriff des impliziten Lesers gerückt, der an späterer Stelle genauer beleuchtet wird (s.u. den Punkt ‚Ästhetik‘).195 Schließlich wird der Instanz des Erzählers (Er) der Fokalisierer (Fo) zur Seite gestellt (s. u. den Punkt ‚Fokalisierung‘). Während der Erzähler den Text ‚spricht‘, ist der Fokalisierer – der ebenso wie der Erzähler nicht nur menschliche, sondern auch eine nicht-anthropomorphe Gestalt annehmen kann – die das Erzählte wahrnehmende und evtl. beurteilende Instanz, aus dessen Perspektive der Leser den Text rezipiert. Zwar trägt das erweiterte Kommunikationsmodell erheblich zur Sensibilisierung für die einzelnen funktionalen Elemente innerhalb der Textbzw. Erzählstruktur bei, jedoch geht es mit einem gewissen Systemzwang einher, sodass es aufgrund seiner binären Ausrichtung nicht ohne Probleme auskommt. Die durchaus berechtigte Kritik am Modell umfasst zwei Aspekte: Zum einen findet Kommunikation nur unter der Prämisse statt, dass zwei Instanzen miteinander kommunizieren. Allerdings ist in Zweifel zu ziehen, ob tatsächlich der historische bzw. implizite Autor mit dem historischen bzw. impliziten Leser kommuniziert. Zumal der implizite Autor und der implizite Leser nicht einmal als Personen zu verstehen sind.196 Zum anderen zeigt sich bei der konkreten Textanalyse, dass eine trennscharfe Grenzziehung zwischen den Kategorien, wie z.B. zwischen Erzähler und Fokalisierer, nicht immer möglich ist. Denn auch der Erzähler ist in der Lage, das Erzählte zu fokalisieren.197 Eine Möglichkeit diese systembedingte Schwäche zu umgehen, besteht darin, die zweigliedrige Struktur des Kommunikationsmodells in ein dreigliedriges Erzähltextmodell zu überführen. Die vorliegende Arbeit orientiert sich in ihrer methodischen Ausrichtung an Mieke Bals Terminologie, die von Irene de Jong in die Klassische Philologie eingeführt worden ist.198 Im Rückgriff auf das dreigliedrige Modell des französischen Erzähltheoretikers und Struk-

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Vgl. Booth 1961. Vgl. Iser 1976. Zur Diskussion um das Konzept des impliziten Autors vgl. beispielsweise Chatman 1990: 74–89; Diengott 1993; Nünning 1997a; Kindt/Müller 1999; Richardson 2011. Vgl. Bal 1981: 43–44; Wenzel 2004a: 14. De Jong 2014: 37–39.

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turalisten Gérard Genette definiert Bal drei Ebenen der Erzählung: fabula, story und text.199 Fabula (bei Genette: histoire) bezeichnet dabei die fiktive Erzählwelt, in der sich das Geschehen ereignet, welches aus einer chronologischen oder kausalen Aneinanderreihung von Ereignissen besteht.200 Die fabula ist demnach das ‚Was?‘ der Erzählung, im Sinne von Martínez und Scheffel die ‚Geschichte‘.201 Sie wird durch die story (Genette: récit), also das ‚Wie?‘ der Erzählung dargestellt. Die story ist insbesondere durch die narrative Gestaltung der Zeit, d.h. der Ordnung, Dauer und Frequenz, gekennzeichnet sowie durch den Modus, der die Distanz und Fokalisierung umfasst, und die ‚Stimme‘.202 Schließlich ist mit der Ebene des text (Genette: narration) der Akt des Erzählens gemeint, „sowie ferner die reale und fiktive Kommunikationssituation, in der dieser Erzählakt stattfindet.“203 Alle drei Ebenen stehen somit in dynamischer Verbindung miteinander. Wie Wenzel richtig bemerkt, liegt der Vorteil des dreigliedrigen Erzähltextmodells in der Loslösung der Kategorien von systemischen Zwängen. Die hierarchische Struktur und die damit verbundene fest fixierte Zuweisung der funktionalen Kategorien wird aufgehoben zugunsten der ambivalenten Beschaffenheit von Autor, Leser, Erzähler etc. Schließlich kann etwa eine Figur sowohl der fabula als auch

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200 201 202

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Vgl. Bal 1985: 5–10; Genette (2010: 12. u. 1181–184.) nahm als Erster eine Aufspaltung der Erzählung in die Ebenen histoire, récit und narration vor, und erweiterte damit die Zweiteilung Tzvetan Todorovs. Dessen Modell nimmt lediglich die beiden Ebenen histoire und discours in den Blick, ein Vorschlag, dessen Wurzeln bis zu den Vertretern des Russischen Formalismus reichen. Überblickshaft hierzu s. Martínez/Scheffel 2012: 22–26. Bal fasst Genettes narratologische termini technici nicht nur der Bezeichnung nach, sondern auch hinsichtlich ihres Sinns teils weiter oder enger. Grundsätzlich bleibt zu bemerken, dass letztlich keine vollkommen trennscharfe Abgrenzung zwischen den jeweiligen Erzählebenen vorgenommen werden kann. Bal (1985: 5): „A fabula is a series of logically and chronologically related events, that are caused or experienced by actors.“ Martínez/Scheffel 2012: 27; vgl. de Jong (2014: 38): „The fabula does not exist in and of itself but is a reconstruction by the narratees.“ Bal (1985: 5 u. 6): „A story is a fabula that is presented in a certain manner. […] This distinction is based upon difference between the sequence of events and the way in which these events are presented. That difference lies not only in the language used“; s. auch de Jong (2014: 38): „The story he [the narrator] tells contains his version or focalization of a series of events that are either supposed to have taken place (the ‘suspension of disbelief’ characteristic of fiction) or that really have taken place (historiographical or biographical narratives) and that together form the fabula.“ Wenzel 2004a: 19; vgl. Bal (1985: 5): „[…] a text is a finite, structured whole composed of language signs. The finite ensemble of signs does not mean that the text itself is finite, for its meanings, effects, functions, and background are not. It only means that there is a first and a last word to be identified.“

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der story angehören, indem durch sie das Geschehen fokalisiert wird. Oder der Erzähler greift als Figur in die fabula ein etc. Für die Analyse der Lucanischen Gewalt ist die Differenzierung der Erzählung in fabula, story und text von zentraler Bedeutung. Denn häufig kommt das Unmaking der narrativen Gewalt sowohl auf fabula- als auch auf story-Ebene zur Wirkung. So lassen sich Entsprechungsverhältnisse in deutlich differenzierterer Weise beschreibbar machen. Die Kombination beider Modelle bringt für die vorliegende Analyse einen doppelten Nutzen: zum einen liefert sie systematische Beschreibungskategorien, um für die besonders relevanten Funktionen der Textstruktur – impliziter Leser, Erzähler, Fokalisierer etc. – zu sensibilisieren, zum anderen ermöglicht sie einen flexiblen und dynamischen Umgang mit diesen, ohne strukturellen Einschränkungen unterworfen zu sein. (2) Einen zentralen Bestandteil der Arbeit stellt die Entwicklung eines Modells dar, auf dessen methodischen Fundament eine präzise Analyse der Lucanischen Gewalt ermöglicht wird. Das Modell der Aktanten narrativer Gewalt unternimmt den Versuch, soziologische und narratologische Beschreibungsmechanismen zu kombinieren. Dabei ist zum einen der Triangularität von Gewaltszenarien Rechnung zu tragen – eine der wesentlichen Forderungen der soziologischen ‚Gewaltinnovateure‘ (s.o. ‚Gewalt und Soziologie‘). Zum anderen ist zu betonen, dass es sich bei den Gewaltdarstellungen im Bellum Civile nicht um reale, sondern erzählte, fiktionalisierte Gewalt handelt. Daher ist der Rückgriff auf das erzähltheoretische Aktantenmodell des Semiotikers und Strukturalisten Algirdas J. Greimas geeignet, die weiter oben aufgeführten Kategorien der soziologischen Gewaltforschung für die konkrete Arbeit an Lucans Text anschlussfähig zu machen.204 Von zentraler Bedeutung ist hier die Verknüpfung der Figuren mit der Handlung. Auch die Aktanten der Gewalt stehen insofern in Verbindung mit der Handlung, als Gewalt in der Erzählung eine radikale Zustandsveränderung herbeiführt und somit eine grundlegende Voraussetzung für narrative Ereignishaftigkeit erfüllt.205 Der ‚Aktant‘ unterscheidet sich insofern von ‚Figur‘ und ‚Akteur‘, als er ein unveränderliches funktionales Element der narrativen Struktur darstellt und somit der Tiefendimension der Erzählung zuzuordnen ist, während letztere variabel und Bestandteile der Textoberfläche sind.206 Greimas unterscheidet sechs Kategorien von Aktanten, die er zu drei Oppositionspaaren anordnet:

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Vgl. Greimas 1971: 157–178. Zum ‚Ereignis‘ s. insbesondere Schmid 2003, 2008 und 2017. Vgl. Herman 2005; Fotis 2013.

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Subjekt – Objekt, Adressat – Adressant, Opponent – Adjuvant.207 Das Subjekt, meist der Held einer Erzählung, begehrt das Objekt. Das Objekt kann eine konkrete Person (z.B. der oder die Geliebte) oder auch ein abstraktes Gut (Liebe, Glück etc.) sein. Für den Adressaten, der meist mit dem Subjekt übereinstimmt, ist das Objekt vorgesehen. Der Adressant verfügt über eine gewisse Entscheidungsgewalt und ermöglicht dem Adressaten/Subjekt die Erlangung des Objekts. Der Adressant ist bei Greimas im Vergleich zu den anderen Aktanten eine etwas ‚unscharfe‘ Kategorie. Er kann sowohl als ‚Schiedsrichter‘ als auch als ‚Auftraggeber‘ fungieren, z.B. als Vater oder König.208 Bal verweist jedoch darauf, dass es sich ebenso um eine abstrakte Instanz handeln könne, wie etwa die Gesellschaft, und bevorzugt daher den Terminus ‚Macht‘ (power).209 Der Opponent will das Subjekt an der Erlangung des Objekts hindern, während der Adjuvant direkt in das Geschehen eingreift, um dem Subjekt helfend beiseite zu stehen.210 Greimas’ Aktantenmodell beinhaltet zudem folgende drei Aspekte, die explizit offenzulegen sind. Erstens: mit Blick auf das Objekt wird deutlich, dass das Modell teleologisch ausgerichtet ist.211 Zweitens: es besteht die Möglichkeit, dass eine Figur zwei Aktanten verkörpert, wie am Beispiel der Verschmelzung von Subjekt und Adressat angedeutet.212 Drittens: es müssen nicht zwingend alle Aktanten gegeben sein.213 Für die Synthese der soziologischen und narratologischen Vorlage zu einem gewaltaktantiellen Modell werden drei Veränderungen vorgenommen:

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Greimas 1971: 161–165; s. auch Bal 1985: 26–31. Hierbei beruft sich Greimas (1971: 163) auf die Ausführungen von Étienne Souriau (1950) und Vladimir Propp (1972 [1928]). Bal (1985: 28): „The power is in many cases not a person but an abstraction: e.g. society, fate, time, human-centredness, cleverness.“ Im Unterschied zum Adjuvant kommt dem Adressant eine indirekte Funktion zu, für eine Gegenüberstellung der beiden Aktanten s. Bal 1985: 31. Vgl. Bal (1985: 26): „As mentioned earlier, the model starts from a teleological relation between the elements of the story: the actors have an intention: they aspire towards an aim. […] An actant is a class of actors that shares a certain characteristic quality. That shared characteristic is related to the teleology of the fabula as a whole. An actant is therefore a class of actors whose members have an identical relation to the aspects of telos which constitutes the principle of the fabula.“ Greimas (1971: 169) prägt hierbei den Begriff des „Archi-Aktanten“; Bal (1985: 28) spricht von „numerical inequality“. Diesem Punkt steht Greimas (1971: 170) jedoch kritisch gegenüber: „Theoretische Überlegungen erlauben eine solche Möglichkeit nur mit viel Skepsis ins Auge zu fassen“; Bal (1985: 28–29) schließt die Abwesenheit eines Aktanten in der fabula prinzipiell aus: „In principle all actants are represented in each fabula: without actants no relations, without relations no process, without process no fabula.“

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Aktanten narrativer Gewalt

(a) Zunächst liegt eine Modifikation der Terminologie vor. Erster Gewaltaktant (GA) ist das agens (GA1), welches die Gewalt ausübende Instanz beschreibt. Der Gewalt erleidende Aktant wird als patiens (GA2) bezeichnet. Häufig lässt sich bei Lucan – entsprechend den Ausführungen der soziologischen ‚Gewaltinnovateure‘ – auch das ‚Dritte‘ beobachten, das an der Gewalthandlung direkt oder indirekt teilnimmt bzw. diese beeinflusst. Das Dritte ist mit dem Terminus particeps (GA3) belegt. Dieser erfordert jedoch eine weitere Differenzierung: Um dem offenen Charakter des Dritten gerecht zu werden, ist das particeps in drei Unterkategorien gegliedert: adiuvans (GA31), opponens (GA32) und arbiter (GA33). Die beiden ersten nehmen insbesondere direkt und aktiv an der Gewalthandlung teil. Während das adiuvans als gewaltförderlich anzusehen ist (beispielsweise Mitstreiter des agens), stellt sich das opponens der Gewalthandlung in den Weg (z.B. Gefährten des patiens). Im Gegensatz zu diesen beiden Gewaltaktanten beeinflusst der arbiter das Geschehen meist indirekt und passiv. Er vereint schließlich drei Funktionen: erstens Macht bzw. Gebieter (GA33a), zweitens Schiedsrichter (GA33b) und drittens Zeuge (GA33c). Die Macht oder der Gebieter gibt beispielsweise als imperator den Befehl zum Angriff. Der Schiedsrichter prüft etwa, ob sich seine Soldaten im Kampf bewähren und ob die Tat seiner Vorstellung nach ausgeführt wird. Der Zeuge sieht möglicherweise einem Folterakt zu. Es ist durchaus möglich, dass er dem patiens daraufhin zu Hilfe eilt, wodurch er schließlich zum opponens (GA32) wird. Die geschilderte ‚Umetikettierung‘ erfüllt grundsätzlich einen doppelten Zweck. Zum einen soll dadurch eine möglichst hohe terminologische Präzision gewährleistet und zum anderen das durch den alltäglichen Sprachgebrauch bedingte ‚Durchscheinen‘ (moderner) moralischer Urteile vermieden werden. Entsprechende Ansätze in der Soziologie finden sich z. B. bei der Täterdifferen-

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zierung,214 jedoch offenbaren sich terminologische Ungenauigkeiten in Bezug auf das patiens, welches auch bei den sogenannten ‚Innovateuren‘ stets als ‚Opfer‘ bezeichnet wird. Dies mag eventuell der Forderung nach einer sozialwissenschaftlichen „Betroffenheitsforschung“ geschuldet sein,215 doch wird dabei außer Acht gelassen, dass das patiens sich für seine Mitstreiter auch aktiv ‚opfern‘ kann, was eine völlig andere Gewaltsituation darstellt als das bloße, ungewollte Erleiden einer körperlichen Verletzung. Auch wird – in Anbetracht einer möglichen ‚Verwischung‘ unterschiedlicher Beschreibungsebenen – auf eine zu enge Anlehnung an die greimas’sche Terminologie, wie etwa ‚Subjekt der Gewalt‘ und ‚Objekt der Gewalt‘, verzichtet. Denn auf syntaktischer Ebene tritt nicht nur das agens, sondern sehr häufig auch das patiens als Subjekt in Erscheinung (s. etwa Lucan. 3.603–633a).216 Eine besondere Funktion kommt dem Terminus arbiter zu. Dieser weist aufgrund seiner Etymologie eine hohe Kompatibilität mit den methodischen Vorgaben Greimas’ (Adressant bzw. Schiedsrichter und Auftraggeber), Bals (Macht) und Sofskys (Zuschauer) auf und ist damit geeignet, heterogene Beschreibungskategorien unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen effektiv zusammenzuführen.217 (b) Die zweite Veränderung gegenüber Greimas’ aktantiellem Modell korrespondiert mit der modifizierten Terminologie: die Überführung der binären Ausrichtung in eine dreigliedrige Struktur. Statt der Gegenüberstellung dreier Oppositionspaare (Subjekt – Objekt, Adressat – Adressant, Opponent – Adjuvant) geht das vorliegende Modell der Gewaltaktanten, wie eben erläutert, von einer prinzipiellen Einteilung in agens – patiens – particeps aus. Dadurch wird insbesondere der Instanz des ‚Dritten‘ Rechnung getragen, das in ein dynamisches Verhältnis mit der Gewalthandlung tritt. Zudem lässt sich nicht nur die Bildung von Oppositionspaaren, sondern vor allem auch von Korrespondenzpaaren näher beleuchten, wie etwa bei Hercules’ Kampf gegen Antaeus und dessen Mutter Tellus (Lucan. 4.591–660). Es wird sich zeigen, dass solch ‚asymmetrische‘ Konstellationen wesentlich zur Erzeugung von Spannung beitragen (s. Abschnitt 5.4.4). (c) Zur dritten Veränderung: Im Gegensatz zu Greimas’ Modell zielt das analytische Interesse des vorliegenden Modells nicht primär auf die Abbildung teleologischer Verhältnisse, sondern auf den narrativ dargestellten Akt der

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Vgl. Anm. 163 auf S. 42. Nedelmann 1997: 70–72. Eine prinzipielle Nähe zu Greimas’ Terminologie ist dennoch beabsichtigt, wie sich insbesondere an den Aktanten adiuvans (‚Adjuvant‘) und opponens (‚Opponent‘) erkennen lässt. Vgl. ThLL s.v. ‚arbiter‘, 2.0.404.19–407.77.

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Gewalt selbst. Ähnlich wie die soziologischen Gewaltphänomenologen Sofsky, Trotha und Nedelmann aufgezeigt haben, unterliegt auch die Lucanische Gewalt in ihrem (narrativen) Prozess einer dynamischen Entwicklung. Die Abkehr von vorgelagerten Motiven und Absichten – und damit zugleich vom ursprünglichen Adressaten – ist insbesondere in der ersten zu untersuchenden Partie nachzuvollziehen, in der Marius Gratidianus letztendlich ohne legitimatorische Grundlage grausam in Stücke geschnitten wird (Lucan. 2.173–193a). Nicht das ‚Warum?‘ bzw. das ‚Wofür?‘, sondern das phänomenologische ‚Wie?‘ der narrativen Gewalt steht im Zentrum der Analyse sowie die dynamischen Wechselwirkungen zwischen den Gewaltaktanten. Als Konsequenz der potentiell offenen Prozesshaftigkeit kann auch eine Änderung der Gewaltkonfiguration innerhalb einer Gewalthandlung eintreten, indem beispielsweise ein Zeuge (GA33c) zum opponens (GA32) oder der agens (GA1) zum patiens (GA2) wird, wenn der Kampf eine Wende erfährt. Zudem dürfen die einzelnen Aktanten nicht als trennscharfe Kategorien verstanden werden. Wie im aktantiellen Modell von Greimas selbst sind auch bei der Bestimmung der Gewaltaktanten Mehrfachbelegungen denkbar. So ist beispielsweise im Falle eines Suizids der agens (GA1) gleichzeitig als patiens (GA2) zu klassifizieren. Schließlich müssen in der narrativen Repräsentation auch nicht immer alle Gewaltaktanten dargestellt werden, wofür gerade die für das Bellum Civile typische Nichterwähnung des agens anzuführen ist. Als letzter Gesichtspunkt der Aktantenanalyse soll schließlich die analytische Erfassung der Relationen zwischen den jeweiligen Aktanten bzw. ihre Einzelaktionen innerhalb der Gewaltdarstellung dargelegt werden. Diese werden anhand der folgenden festgelegten Beschreibungskategorien schematisch dokumentiert und dem lateinischen Text in synoptischer Form beigefügt:218 AG: Schilderung einer allgemeinen Gewalthandlung CH1, 2, 3: Charakterisierung eines Gewaltaktanten (GA1, GA2, GA3) GA1, 2, 3: agens, patiens, particeps GA31, 2, 3: adiuvans, opponens, arbiter GA33a, GA33b, GA33c: Macht/Gebieter, Schiedsrichter, Zeuge GE(a): Schilderung des aktiven Erleidens von Gewalt GE(p): Schilderung des passiven Erleidens von Gewalt

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Diese systematische Vorgehensweise orientiert sich in methodischer und terminologischer Hinsicht an der Untersuchung Raabes (1974), der anhand ausgearbeiteter „Sinnstrukturelemente“ Vergils Gewaltdarstellungen mit denen von Lucan, Statius, Silius Italicus u.a. vergleicht.

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GP(d):

Schilderung der direkten Partizipation an der Gewalthandlung durch einen particeps GP(ind): Schilderung der indirekten Partizipation an der Gewalthandlung durch einen particeps GT(n): Schilderung einer nicht zielgerichteten Gewalttat GT(z): Schilderung einer zielgerichteten Gewalttat IP1, 2, 3: Schilderung der Innenperspektive eines Gewaltaktanten (GA1, GA2, GA3) O: Obstruktion ST: Schilderung des Sterbeprozesses im engsten Sinne V(a): Schilderung einer Wunde bzw. Verwundung (allgemein) V(d): Schilderung einer Wunde bzw. Verwundung (detailliert, z. B. eines bestimmten Körperteils) W: Erwähnung der Waffe WW: Schilderung der Waffenwirkung X: Vorszenenelement Y: Schlussszenenelement Diese strukturalistische Vorgehensweise verfolgt keineswegs das Ziel einer vollständigen Erfassung aller dargestellten Gewaltsituationen. Ebenso wenig wird der Anspruch auf gänzliche Konsistenz erhoben. Sie ist vielmehr als grundlegende, schematische Bestandsaufnahme gedacht, die die wesentlichen Merkmale der jeweiligen Gewaltdarstellung sichtbar machen soll. Diese Merkmale werden anschließend im Zuge einer tiefergehenden Textanalyse bzw. Interpretation noch differenzierter aufgefächert. Der analytische Mehrwert einer Verknüpfung soziologischer und narratologischer Beschreibungsmechanismen zu einem Modell der Aktanten narrativer Gewalt liegt darin, dass dieses in der Lage ist, das Entsprechungsverhältnis von Gewaltstrukturen einerseits und narrativer Strukturen andererseits beschreibbar zu machen. (3) Dynamische Wechselwirkungen lassen sich nicht nur zwischen den jeweiligen Gewaltaktanten beobachten, sondern auch mit dem sie umgebenden Erzählraum. Dieser darf nicht als eine von der narrativen Gewalt losgelöste ‚Hintergrundfolie‘ verstanden werden.219 Ginge man von einer objektiven Be219

Die Entwicklung eines dynamischen Raumkonzeptes nahm insbesondere seit den 1980er Jahren im Zuge des spatial turn Fahrt auf und lieferte in den Literatur- und Kulturwissenschaften entscheidende Impulse für den Loslösungsprozess vom statischen, objektiven Raumverständnis (s. etwa Foucault 1980). Für die latinistische Perspektive ist Kirsteins (2015a: 213–217) allgemeiner Überblick zur Raumnarratologie von Interesse, in deren Licht

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schaffenheit eines „leeren, eigenschaftslosen Behältnisraumes“ aus,220 der mit den Figuren und Handlung lediglich ‚gefüllt‘ würde, geriete ein für die Untersuchung der Lucanischen Gewalt konstituierender Faktor aus dem Sichtfeld. Schließlich schafft der Erzählraum anhand seiner Struktur Rahmenbedingungen, die das Ausführen und Erleiden von Gewalt in der fabula überhaupt erst ermöglichen oder verhindern. Ein ‚statisches‘ Verständnis des Erzählraums lässt zudem außer Acht, dass dieser durch unterschiedliche Figuren bzw. Instanzen überhaupt erst fokalisiert wird. Durch die Brille der Fokalisierung rezipiert der Leser keinen ‚objektiven‘, sondern einen phänomenologischen, subjektiv wahrgenommenen Raum, der überhaupt erst durch die narrative Repräsentation auf Ebene der story erzeugt wird und somit als ‚relational‘ zu betrachten ist (vgl. beispielsweise Terra in Lucan. 4.593–653).221 In der vorliegenden Arbeit erfolgt ein methodischer Zugang zum Erzählraum über Elisabeth Strökers philosophischen Ansatz, der in adaptierter Form durch Gerhard Hoffmanns Studie zum englischen und amerikanischen Roman Einzug in die moderne Literaturwissenschaft gefunden hat.222 Es handelt sich um ein dreigliedriges Raummodell, das eine Differenzierung in die phänomenologischen Teilaspekte gestimmter Raum, Aktionsraum und Anschauungsraum vornimmt.223 Fluchtpunkt der drei Teilräume ist das jeweilige Subjekt, das sich im Erzählraum befindet und diesen fokalisiert. Alle drei Wahrneh-

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er Ovids Metamorphosen beleuchtet. Für eine grundlegende Ausarbeitung einer Narratologie des Raumes s. Dennerlein 2009; zum spatial turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften s. Bachmann-Medick 2010: 284–328; vgl. Schroer 2006 für Raumkonzepte in Philosophie und Physik allgemein. Koschorke 2013: 111. Vgl. Koschorke (2013: 112–113): „Raum ist hier nicht mehr als abstrakte und gleichförmige Ausgedehntheit gedacht, die mit den Körpern, die sie enthält, keine andere Beziehung eingeht, als ihnen ihre Position in einem von jedem beliebigen Punkt aus zu errichtenden Koordinatenkreuz zuzuweisen. Er verliert den Charakter einer a priori gesetzten Wahrnehmungsbedingung, in die – wie in den Tiefenraum der Zentralperspektive – dinghafte Objekte nachträglich hineinversetzt scheinen“; Schroer (2010: 193): „Nach diesem Raumverständnis lassen sich Raum und wie immer gearteter Inhalt des Raums nicht voneinander trennen. Raum und körperliche Objekte sind vielmehr untrennbar aufeinander bezogen. Liegt beim Container-Modell die Betonung auf der Zurichtung der Körper durch Raumeinflüsse, so betont das relationale Konzept des Raumes gerade umgekehrt die kreativen Anteile der Individuen mittels ihrer Körper bei der Konstitution räumlicher Strukturen.“ Vgl. Ströker 1965 und Hoffmann 1978; Haupt (2004: 72, Abb. 4A) fasst die verschiedenen Wahrnehmungsformen des Raums in ein graphisches Modell zusammen. Entsprechend der strukturalen Anlage triangulärer Konzepte sind die Grenzen zwischen den Teilräumen nicht trennscharf, sondern fließend, sodass Mehrdeutigkeiten durchaus als systemimmanent anzusehen sind. Vgl. beispielsweise Stanzels (1955) dreigliedri-

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mungsformen ergeben zusammen die Summe, die den räumlichen Gesamteindruck des Subjekts generiert. In der narrativen Repräsentation müssen die Teilräume allerdings nicht gleich gewichtet sein, sondern können unterschiedlich starken Akzentuierungen unterliegen.224 Der gestimmte Raum ist insbesondere von einer bestimmten Atmosphäre oder Stimmung geprägt.225 Sowohl innere Befindlichkeiten, wie beispielsweise Emotionen und die psychische Verfassung des Subjekts, als auch äußere Umstände stellen wesentliche Faktoren dar. So kann ein und derselbe Raum – Haupt führt das Beispiel einer Kirche an – je nach Situation und Anlass, sei es eine Hochzeit, sei es ein Trauergottesdienst, beim empfindenden Subjekt eine andere Grundstimmung erzeugen.226 Die Stimmung wiederum nimmt erheblichen Einfluss auf die subjektive Wahrnehmung des Raums. Der Aktionsraum tritt durch das handelnde Subjekt in den Vordergrund.227 Er ermöglicht oder verhindert die Handlungen des Subjekts. Zugleich kann er selbst durch dessen Handlungen modifiziert werden. Der Radius des Subjekts im Aktionsraum ist eingeschränkt, sodass es sich durch diesen bewegen muss, um zu entfernt liegenden räumlichen Strukturen gelangen zu können. Im Aktionsraum vollziehen sich also eher einfache Figurenhandlungen, wie z.B. das Zurücklegen einer Distanz. Daher ist dessen narrative Darstellung meist sehr lückenhaft. Nichtsdestotrotz kann auch die gezielte Nichterwähnung von Wegestrukturen eine intensive Wirkung auf den Leser haben. So wird möglicherweise durch jähe, übergangslose Ortswechsel des Subjekts der Eindruck von Rapidität und Orientierungslosigkeit erweckt – eine narrative Strategie, die sich auch für hektische, unübersichtliche Schlachtdarstellungen eignet.228 Die narrative Vermittlung hoher Bewegungsdynamik erfolgt jedoch nicht nur anhand von Figuren, sondern auch von unbelebten Objekten wie Distanzwaffen.229 Eine beson-

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ges Modell typischer Erzählsituationen im englischen Roman oder oben das Modell der Aktanten narrativer Gewalt. Haupt 2004: 72–73. Hoffmann 1978: 55–79. Haupt 2004: 70. Hoffmann 1978: 79–92. Dieses narrative Vorgehen wird auch Snapshot-Technik genannt, s. Fondermann 2008: 65– 67; Sofsky (1996: 37) bemerkt zur Interdependenz von Raum und Zeit: „Eng verbunden mit der Überwindung des Raums ist die Beschleunigung der Zeit. Geschwindigkeit ist selbst eine Waffe.“ Vgl. Sofsky (1996: 35): „Obgleich der Agent der Gewalt in immer weitere Ferne rückt, ist seine Waffe eine hautnahe Gefahr. Sie wird zum Geschoss, zum Projektil. Sie schleudert die Gewalt durch den Raum und befreit sie von der Fixierung an den Ort. So weit die ballistische Kurve reicht, so weit reicht das Territorium der Gewalt.“

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dere Dynamisierung des Aktionsraums lässt sich beobachten, wenn der Raum selbst zur Waffe wird.230 Im Anschauungsraum kommt der visuellen Wahrnehmung die vorrangige Funktion zu.231 Im Spannungsfeld von Sehen und Gesehen-Werden konstituieren sich die Bestandteile des Anschauungsraums. Dieser scheint von allen drei Teilräumen der objektivste, da dessen Elemente nicht nur für das Subjekt, sondern auch für andere Figuren sichtbar sind. Dennoch bleibt zu bedenken, dass das Gesehene vom jeweiligen Standort im Erzählraum abhängt und damit aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen wird.232 In einer Erzählung werden dem Leser häufig erst durch die Darstellung des Anschauungsraums räumliche Grundstrukturen vermittelt, wovon ausgehend die Integration weiterer Raumaspekte möglich ist, wie etwa die Erzeugung einer Stimmung durch das Gesehene. Man denke beispielsweise an die bedrohlich wirkende Verdunkelung des Himmels durch einen gewaltigen Pfeilhagel. Grundsätzlich gilt: Je ausführlicher der Anschauungsraum präsentiert wird, desto höher ist der Realitätseffekt.233 Auf diesen Aspekt richtet sich das analytische Interesse insbesondere bei der als ‚unrealistisch‘ oder teils sogar ‚hyperrealistisch‘ empfundenen Darstellung Lucanischer Gewalt. Die dynamische Beschaffenheit des Erzählraums kommt also insgesamt auf diversen Ebenen zum Ausdruck. Zum einen im Wechselverhältnis von Raum und Subjekt, ebenso zwischen zwei oder auch allen drei phänomenologischen Teilräumen. Denkbar ist zudem die Darstellung einer „Polyphonie der Räume“, d.h. die parallele Schilderung unterschiedlicher Raumwahrnehmungen durch unterschiedliche Figuren.234 Von zentraler Bedeutung für eine narrative Analyse ist schließlich Robert Kirsteins Bemerkung, die Akzentuierung des Erzählraums erfolge

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Vgl. Lucan. 3.694–696: […] utuntur pelago: saevus complectitur hostem | hostis, et inplicitis gaudent subsidere membris | mergentesque mori. Hoffmann 1978: 92–108. Haupt 2004: 71. Zum effet de réel vgl. Barthes 1982 u. 1984; hinsichtlich der ornamentalen Funktion von Erzählraumen bemerkt de Jong (2014: 123): „A variant is the idea that detailed descriptions may serve to increase the reality effect of a story“; sie führt zudem weitere Raumfunktionen an, die zur Analyse der narrativen Gewalt teils herangezogen werden (122–129): die thematische Funktion, der Raum als Spiegel, sowie die symbolische, charakterisierende, psychologisierende Funktion als auch die Personifikation – die wohl ultimative Dynamisierung des Erzählraums. Zur Schwierigkeit des „Pauschalterminus“ des Realismus s. Reckwitz 2013. Lotman 1993: 328–329.

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durch unterschiedliche Ausdrucksmittel. So lassen sich in Darstellungen, in denen die Handlung im Vordergrund steht […], eine erhöhte Dichte von Verben wie z.B. Bewegungsverben beobachten, während im Anschauungsraum […] Verben der sinnlichen Wahrnehmung und Eigenschaftswörter vorherrschen, im Gestimmten Raum […] wiederum solche Wörter und Begriffe, die in einer symbolischen Beziehung zu Handlung und Figuren stehen.235 Ein mit der Raumaufteilung eng verwobener Aspekt ist schließlich die Grenze. Anhand dieser etablieren sich dynamische Relationen im Erzählraum – zusätzlich zu den oben erläuterten. Dabei weist die Grenze eine doppelte strukturale Funktion auf: einerseits trennt sie Teile des Raums, andererseits stellt sie diese einander in Beziehung.236 Insbesondere im Kontext der Lucanischen Gewalt lässt die Grenze eine sowohl bedeutungsstiftende als auch -auflösende Wirkung erkennen. Für die Analyse der narrativen Gewalt als prinzipiell grenzüberschreitende Handlung soll daher auf das offene und fluide Grenzmodell zurückgegriffen werden, das innerhalb des Zeitraums von 1964 bis 1984 von Jurij M. Lotman, einem vor allem in den neueren Philologien einflussreichen Literatur- und Kulturtheoretiker, entwickelt und rekonzeptualisiert wurde.237 In seinen frühen noch stärker strukturalistisch geprägten Arbeiten betrachtet Lotman den Erzählraum in enger Verbindung mit der erzählten Handlung. Dabei legt er den Fokus auf die Überschreitung einer klassifikato-

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Kirstein 2015a: 219; eine exemplarische Anwendung des triadischen Raummodells auf Ovids Metamorphosen findet sich ebenda; in Bezug auf Friedrich Hölderlins Lucan-Übersetzung s. auch Nill 2015. Im Hinblick auf ihre Doppelstruktur bemerkte bereits Simmel (1968: 467), die Grenze sei „nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“ Lotmans Werk ist in besonderem Maße von einer Überlagerung narratologischer und kultursemiotischer Perspektiven geprägt, vgl. Frank (2012a: 219): „Lotmans Erzähltheorie ist eine Kulturtheorie, die in narrativen Strukturen Kulturmodelle erkennt, und umgekehrt ist seine Kulturtheorie eine Text-, Erzähl- und Übersetzungstheorie. Lediglich der Hauptakzent wird zwischen den einzelnen Studien verschoben“; zur Rezeption von Lotmans Theorien in literaturwissenschaftlichen Studien s. beispielsweise Sachsse, Rolf (2008): Pentagramm hinter deutscher Maschinenpistole unter Russisch Brot. Zur Semiosphäre der Erinnerung an die Rote Armee Fraktion, in: Der ‚Deutsche Herbst‘ und die RAF in Politik, Medien und Kunst, Bielefeld, 131–140; Preiwuss, Kerstin (2012): Ortsnamen in Zeit, Raum und Kultur. Die Städte Allenstein/Olsztyn und Breslau/Wrocław, Berlin; Lozoviuk, Petr (2012): Grenzland als Lebenswelt. Grenzkonstruktionen, Grenzwahrnehmungen und Grenzdiskurse in sächsisch-tschechischer Perspektive, Leipzig; Breithaupt, Dominik (2013): Semiosphäre und Hybridität in Andrzej Stasiuks ‚Unterwegs nach Babadag‘, Saarbrücken.

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rischen Grenze durch einen Helden.238 Der Prozess des Hinüberwechselns von dem einen in einen anderen (semantischen) Raum konstituiert die Handlung einer Erzählung und wird von Lotman als ‚Ereignis‘ oder ‚Sujet‘ bezeichnet.239 Damit erarbeitet er einen Beschreibungsmechanismus, der weniger die narrative Mikroebene, als vielmehr die „globale Struktur der Handlung“ ins Auge fasst.240 Grundlegend für das Modell ist die Kopplung aneinander angrenzender Räume an Wertoppositionen. Erzählräume verfügen nach Lotman über drei Dimensionen: eine topographische, eine topologische und eine semantische. So ergeben sich bei der Analyse des Erzählraums drei binäre Oppositionspaare. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: das topographische Oppositionspaar ‚Stadt‘ – ‚Land‘ geht mit dem topologischen und semantischen Kontrast ‚innen‘ – ‚außen‘ und ‚künstlich‘ – ‚natürlich‘ einher. Räumliche Gegenbegriffe und ihre semantische Codierung markieren somit das Ordnungsprinzip von Kunst und literarischen Texten.241 Während die lediglich auf den Helden beschränkte Durchlässigkeit der Grenze für die vorliegende Untersuchung der narrativen Gewalt im Bellum Civile in den Hintergrund rückt, stellt Lotmans ‚Dreidimensionalität‘ des Erzählraums ein nützliches Analysewerkzeug dar. Zusätzlich zu Lotmans früherem Modell erweist sich seine Rekonzeptualisierung der Grenze in späteren Jahren als besonders anschlussfähig. Ging er zunächst von der Grenze als einer klar definierten und statischen Trennlinie aus, so legte er später seinen Ausführungen zur Semiosphäre die Idee eines dynamisch wirkenden Grenzbereiches zugrunde.242 Anhand seines offenen und veränderlichen Modells der Semiosphäre unternimmt Lotman den 238

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Lotman 1993 [1964]; einen guten Überblick über Lotmans frühes Modell zu Handlung und Grenzüberschreitung bieten jeweils die Einführungen von Busse 2004 und Martínez/Scheffel 2012: 156–160. Vgl. Lotman (1993: 332): „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenzen eines semantischen Feldes“; „Aus dem Gesagten folgt,“ so Lotman weiter (341), „dass unentbehrliche Elemente jedes Sujets sind: 1. ein bestimmtes semantisches Feld [also die fabula], das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall (ein Sujet-Text spricht immer von dem vorliegenden Fall) für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. der Held als Handlungsträger.“ Martínez/Scheffel 2012: 156. Vgl. Lotman 1993: 311–329; Busse 2004: 41–42. Lotman 1990 [1984]; s. auch Lotman 2010: 163–292; Christa Ebert (2002: 66) spricht von einer „Verlagerung des Interesses von der Struktur auf die Bewegung, von der Statik auf die Dynamik“; zur Offenheit des Modells s. auch Frank (2012a: 231): „Die konzeptuellen Begrenzungen der Lotman’schen Raummodelle sind allerdings kein grundsätzliches Argument gegen ihre Verwendung. Die Tatsache, dass sie von Lotman selbst kontinuierlich weiterentwickelt wurden, legt nahe, sie als offene Modelle zu verstehen, deren korrigierende Modifikation ganz im Sinne des Urhebers ist“; für weitere Ausführungen zu

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Versuch, den semiotischen Raum in seiner gesamten Komplexität zu erfassen.243 Charakterisiert ist die Semiosphäre, d.h. „die umgrenzte Sprach- und Zeichenwelt“ einer Kultur,244 durch drei wesentliche Faktoren: 1. sie ist in ihrem Innern selbst von zahlreichen Grenzen durchzogen, 2. sie weist zwischen Zentrum und Peripherie eine unterschiedliche semantische Dichte auf, wobei ihre „Organisation“ von innen nach außen „zunehmend amorpher“ wird, und 3. handelt es sich bei ihrer Außengrenze um eine für alle Einflüsse durchlässige Grenzzone. 245 Während nach Lotmans früherem Modell eine Figur entweder diesseits oder jenseits der Grenzlinie verortet werden konnte, ist sie nun in der Lage, sich auf der Grenze, bzw. Grenzzone zu bewegen.246 Wie weiter oben angedeutet, übernimmt die Grenze am Rand der Semiosphäre bzw. im Zwischenraum zweier Semiosphären zugleich eine ambivalente, d. h. eine trennende und verbindende Funktion. Dort lässt sich eine Verdichtung von Zeichenprozessen beobachten: Die Brennpunkte der semiotisierenden Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie.247 Die Grenze kann somit als semantisch heiße ‚Kontaktzone‘ aufgefasst werden. In diesem Bereich „krisenhaft inkalkulabler Übergangszonen“ gehen beide Semiosphären ein dynamisches wechselseitiges Verhältnis ein.248 Bei der Grenzüberschreitung bzw. auf der Grenze selbst werden dichotomische Strukturen, wie etwa zwei kontrastive Teilräume, aufgelöst und miteinander verschmolzen bzw. semantisch überlagert. Obgleich der Semiosphärenbegriff bei Lotman primär zur Beschreibung kulturtheoretischer Phänomene dient,249 ist

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Lotmans Semiosphäre bzw. diffuser Grenze s. Portis-Winner 1998; Andrews 2003; Mahler 2004; Ruhe 2004; Mandelker 2006; Machado 2011; Frank 2012b. Mit seinem ambitionierten Anspruch orientiert sich Lotman an Vladimir Vernadskijs Konzept der Biosphäre (Lotman 2010: 165–166); gegenüber dem Begriff der Semiosphäre bevorzugt Koschorke (2013: 119–120) den Terminus ‚kulturelle Felder‘. Koschorke 2013: 119. Lotman 1990 (1984): 138 u. 292–294. S. auch Fluderniks (1999: 99) Ausführungen zu Grenzgängern und Grenzzonen. Lotman 2010: 182. Koschorke 2013: 114; ebenda 115: „Von diesem diskontinuierenden und chaotisierenden Potential der Liminalität zehren noch all die neueren Begriffe, die sich auf den Zwischenraum, das Dritte, in postkolonialer Diktion auf den third space in und jenseits territorialisierter Ordnungen beziehen“; zum ‚postmodernen Raum‘ vgl. etwa Bhabha 2011: 333. Als paradigmatisch kann auch Koschorkes Weiterentwicklung der Semiosphäre zu kulturellen Feldern angesehen werden, die ihm zur Etablierung einer ‚kulturwissenschaftlichen

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das damit korrespondierende Konzept von Grenze auch für literaturwissenschaftliche Studien von Bedeutung. Insbesondere für eine Analyse der narrativen Gewalt, die auch räumliche Kontexte miteinbezieht, dient es als theoretisches Instrumentarium, um die Transformation semantischer Codesysteme, sprachlicher Zeichen und narrativer Elemente im Prozess des Unmaking, d. h. des „Ineinandergreifen[s] strukturierender und entstrukturierender Tendenzen“250 beschreibbar zu machen. Somit lässt sich z. B. bei der Schilderung einer klaffenden Wunde aufzeigen, dass explizite topologische und semantische Zuordnungen wie ‚innen – außen‘ und ‚Leben – Tod‘ auf narrativer Ebene nicht mehr eindeutig und differenziert zum Ausdruck kommen, sondern vielmehr als verdichteter Synkretismus vermittelt werden (s. Abschnitt 4.4.1).251 Gewalthandlungen, die sich im Bellum Civile mit einer Grenzüberschreitung decken, lassen eine deutliche Steigerung der Intensität erkennen. Lucans Gewaltdarstellungen weisen hinsichtlich ihres dynamischen Wechselspiels mit dem Erzählraum und der Grenze also hochkomplexe, ja fast schon rhizomatische Strukturen auf, die es freizulegen gilt.252 (4) Zu den Grundsäulen jeder Erzählung gehört neben den Aktanten und dem Erzählraum auch die Zeit. Während die Analyse der Gewaltaktanten, des Raums und der Grenze methodisch auf komplexeren Theorien und Modellen beruht, geht sie hinsichtlich ihres zugrunde gelegten Zeitbegriffs von einem weniger spezifischen Verständnis aus. Sie orientiert sich methodisch an Genettes systematischer Differenzierung in Ordnung, Dauer und Frequenz.253 Da diese inzwischen in unzähligen literaturwissenschaftlichen Arbeiten sowohl der älteren als auch neueren Philologien dem Standardrepertoire angehören, sollen im Folgenden lediglich die Kategorien umrissen werden, von der sich die vorliegende Arbeit den größten Nutzen verspricht. Im Hinblick auf die Ordnung stellen beispielsweise Prolepsen wesentliche narrative Elemente dar,

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Narratologie‘ dient: „In dieser Pufferzone der kulturellen Peripherie, […], werden die den Binnenraum beherrschenden Strukturen fluide und wandelbar, während umgekehrt das Fremde durch ‚Semiotisierung‘, das heißt durch seine Übertragung in systemimmanent prozessierbare Zeichen, zu innerkultureller Geltung gelangt“ (Koschorke 2013: 120–121). Koschorke 2013: 119. Koschorke (2013: 128–129): „In den Modellszenarien, die sich daraus ergeben, stellen Bedeutungsfixierung und Unschärfe, Ordnung und Unordnung, Integration und Desintegration keine strikten Gegensätze dar, sondern sind Komponenten eines beweglichen Wechselspiels.“ Zum Rhizom als postmoderne bzw. poststrukturalistische Raummetapher, die weder Zentrum noch Peripherie kennt und somit nicht hierarchisch, sondern in ihrer ‚Vielheit‘ scheinbar chaotisch organisiert ist, s. Deleuze/Guattari 1977. Genette 2010: 17–102; für eine kürzere Fassung s. Genette 2002.

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da sie den Leser auf konkrete Darstellungen von Körperverletzungen vorbereiten und diese bereits ‚vorfühlen‘ lassen. Als spezifische Form rückt häufig die Unterkategorie des ‚Vorhaltes‘ bzw. ‚Keims‘ (germe) in den Fokus, da er die Szene atmosphärisch auflädt. Er birgt das Potential, die Erwartungen des Lesers auf das folgende Geschehen auszurichten. Der Einsatz erfolgt implizit, sodass der Keim meist erst im späteren Verlauf der Lektüre zur vollen Wirkung gelangt.254 Von hohem Interesse für die Untersuchung der Lucanischen Gewalt ist zudem das Verhältnis von Erzählzeit (auf story-Ebene) und erzählter Zeit (auf fabula-Ebene), das unter dem Aspekt der Dauer zugeordnet ist. Der Einsatz von Ellipse, Zeitraffung, -deckung, -dehnung und Pause ist von großer Bedeutung für Gewaltdarstellungen, die hauptsächlich aus der subjektiv gefärbten Perspektive des patiens erfolgen.255 Anhand des narratologischen Beschreibungsinventars wird die Adaption soziologisch erfasster Gewaltphänomene ermöglicht, wie z.B. die von Sofsky beschriebene Gewaltzeit.256 So lässt sich etwa anhand der Zeitdehnung nicht nur der oben erläuterte Moment der Lähmung bzw. Erstarrung für eine interpretatorische Auslegung zugänglich machen, sondern es gelingt auch poststrukturalistisch-postmodern anmutende, „antichronische“ Phänomene wie das Zusammenfließen unterschiedlicher Zeitstrukturen herauszuarbeiten.257 Es ist bemerkenswert, dass die Auflösung narrativer Zeitstrukturen häufig mit der Überschreitung räumlicher und semantischer Grenzen korrespondiert (s. o.). Ebenso hat die Gestaltung der Zeit maßgeblichen Einfluss auf die Erzeugung von Spannung oder die Darstellung Gewalt obstruierender Figurenhandlungen (s. Kapitel 5). Liegt der narrative Fokus in deutlich gesteigertem Maße auf dem Aspekt der Zeit, kann dies zur Folge haben, dass andere die Erzählung konstituierende Größen wie Handlung, Raum oder Figuren in den Hintergrund rücken, sodass eine illusionsdurchbrechende Wirkung erzeugt wird (s.u. Punkt 6). (5) Ebenso wie die narrative Analyse der Zeit gehört inzwischen der Aspekt der Fokalisierung zum festen Inventar der philologischen Auseinandersetzung

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Genette 2010: 46; ergänzend dazu Barthes (1966: 7): „L’âme de toute fonction, c’est, si l’on peut dire, son germe ce qui lui permet d’ensemencer le récit d’ un élément qui mûrira plus tard […]“; in Bezug auf das Bellum Civile vgl. etwa Lucan. 2.173–193, wo der Gebrauch von sanguine (173) den Leser auf die ‚Realisierung‘ der blutigen Zerstückelung einstimmt, s. Abschnitt 2.4.2; zur Wirkungsästhetik s.u. Punkt 7. Für eine kompakte graphische Darstellung der unterschiedlichen Verhältnisse von Erzählzeit und erzählter Zeit s. Marsden 2004: 99, Abb. 5.B. Deren Fiktionalisierung ist zudem von der Fokalisierungssituation der jeweiligen erzählten Partie abhängig. Zum Begriff der „Antichronie“ s. Richardson 2002: 57.

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mit antiken Texten. Und ebenso wie bei der Untersuchung der Zeit greift die vorliegende Arbeit auf Genettes Terminologie der Fokalisierung zurück.258 Lucans Bellum Civile wurde hinsichtlich der genette’schen Fragen ‚Wer sieht?‘ und ‚Wer spricht?‘ bereits eingehend untersucht, wenn auch nicht immer in direkter Anknüpfung an seine systematische Vorgehensweise (s. Abschnitt 1.1.2).259 Die im Bellum Civile meist offene Erzählsituation (‚fractured voice‘, ‚pluralistisches Wir‘ etc.) hängt unmittelbar mit dem Aspekt der Fokalisierung zusammen, daher muss auch eine Analyse der narrativen Gewalt – will sie deren phänomenologische Befindlichkeit näher beleuchten – diesen Gesichtspunkt in den Blick nehmen.260 Insbesondere Genettes Kategorie der Nullfokalisierung scheint geeignet, einerseits den vermeintlich ‚objektiven‘ Charakter der geschilderten Gewalt und andererseits die synchrone Darstellung unterschiedlicher ‚Innenperspektiven‘ zu beschreiben (s. beispielsweise Abschnitt 4.4.5 zur Lycidas-Episode).261 Ein solches Vorgehen entspricht zum einen den erläuterten soziologischen Ergebnissen zur Wahrnehmung von Gewalt, zum anderen lässt sich eine Verschmelzung der Fokalisierungsinstanzen häufig erst im Prozess der Grenzüberschreitung nachweisen. Schließlich resultieren aus einer solchen narrativen ‚Unzuverlässigkeit‘ bzw. ‚Offenheit‘ bisweilen ambivalente Leerstellen, die vom (impliziten) Leser zu füllen und, wie sich zeigen wird, als wesentlich für die Lucanische Gewalt anzusehen sind.262

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Genette 2010: 103–176. Die umfassendste Studie zur Fokalisierung unternimmt Ludwig 2014. Dass die Fokalisierung der narrativen Repräsentation von Raum und Zeit direkt ‚eingetaktet‘ ist, wurde bereits mehrfach erwähnt. Vgl. Strasen (2004: 120–121): „Leicht verkürzt dargestellt, weiß der Erzähler bei Nullfokalisierung mehr als jede der Figuren, […]. Dabei umfasst die Nullfokalisierung zwei eigentlich recht unterschiedliche Phänomene. Einerseits handelt es sich hier um die gottähnliche Perspektive des klassischen allwissenden Erzählers, der häufig in auktorialen Erzählungen auftaucht. Diese Perspektive ist so breit, dass sie im Grunde gar nicht mehr als bestimmte Perspektive auszumachen ist – daher der Ausdruck ‚Nullfokalisierung‘. Andererseits kann ein Erzähler auch mehr wissen als jede einzelne der von ihm beschriebenen Figuren, wenn er das Wissen mehrerer Figuren einfach addiert. Wenn er also zunächst beschreibt, was die eine Person denkt, weiß, fühlt und sieht, und dann ebenso mit einer anderen Figur so verfährt und so fort, ergibt sich im Grunde einfach eine Reihung von internen Fokalisierungen, also eine variable Fokalisierung. Ab einer kritischen Grenze, die natürlich nicht präzise zu benennen ist, ergibt dies in der Summe nach Genette aber auch den Effekt, dass eine eindeutige Perspektive nicht mehr vorhanden ist, so dass er auch solche Phänomene unter dem Begriff der Nullfokalisierung subsumiert.“ Zum ‚unzuverlässigen Erzählen‘ im Allgemeinen s. Martínez/Scheffel 2012: 99–110; in Bezug auf Lucan: Kimmerle 2015.

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Bevor im Folgenden auf stärker systemoffene, dynamische und leserorientierte Aspekte eingegangen wird, ein kurzes Zwischenfazit: Ein methodisch fundierter Zugang zur narrativen Gewalt kann nur erfolgen, wenn man die strukturalistisch geprägten Analysekriterien Gewaltaktanten, Erzählraum, Zeit und Fokalisierung nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern gewissermaßen als komplementäre ‚Folien‘ bzw. ‚Filter‘, die nacheinander über den Text geführt werden und so in ihrem dynamischen Wechselverhältnis ein möglichst differenziertes Gesamtbild ergeben. Dieses Vorgehen will und kann keinen Anspruch auf die vollständige analytische Auswertung Lucanischer Gewaltdarstellungen erheben, sondern ist vielmehr ein Versuch, ein möglichst präzises Annäherungsverfahren zu entwerfen, das zugleich der offenen, beweglichen und wandelbaren Struktur narrativer Gewalt Rechnung trägt. (6) Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung. Auf die Frage, „welche Elemente einer Geschichte besonderen Erklärungsbedarf auf sich ziehen“, bemerkt Albrecht Koschorke: Die am nächsten liegende Antwort lautet, dass es Abweichungen von Normalitätserwartungen sind, die erzählerisches Interesse wecken, und dass sich das Interesse auf die möglichen Gründe der Abweichung richtet.263 Zu solchen Elementen können zweifellos die Gewaltdarstellungen im Bellum Civile gezählt werden. Ihr erhebliches ‚Irritationspotential‘ spiegelt sich in zahlreichen Werturteilen wie ‚unrealistisch‘, ‚hyperrealistisch‘, ‚hyperbolisch‘, ‚absurd‘ oder gar ‚Monty-Pythonesque‘ wider. Als mögliche Gründe für Lucans narrative Repräsentation der Gewalt wurden Bürgerkriegsthematik, zeitgenössischer Geschmack oder auch Erzeugung von Mitleid etc. angeführt (s.o. Abschnitt 1.1.2).264 Die vorliegende Untersuchung unternimmt hingegen den Versuch, den ‚Abweichungscharakter‘ der Lucanischen Gewalt anhand der von Werner Wolf entwickelten Kategorien der Illusionsbildung bzw. Illusionsdurchbrechung zu systematisieren. Hieraus ergeben sich Fragen wie beispielsweise: „Inwiefern wirken Lucans Gewaltdarstellungen ‚un- bzw. hyperrealistisch‘?“, oder: „Durch welche ästhetischen und narrativen Mittel wird in den

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Koschorke 2013: 77. Solch kritische Äußerungen bezeugen meist eine mimetische Auffassung von Literatur, wie sie bekanntermaßen bereits von Aristoteles postuliert wird (vgl. Aristot. poet. 1448b). Eine problematisierende Abhandlung der Mimesis findet sich bei Bode (1988: 56–61), der auf eine „praktische Verflachung des Konzepts“ hinweist (ebenda: 57). Eine zunehmende Abwendung von der erzählerischen Nachahmung der ‚Realität‘ lässt sich seit den 1960er Jahren im Zuge postmodernistischer Strömungen deutlich erkennen.

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entsprechenden Episoden Illusionsdurchbrechung überhaupt erzeugt?“ Wie sich zeigen wird, ist die differenzierte Analyse der Illusion bzw. Illusionsstörung als ein unverzichtbarer Bestandteil der systematischen Auffächerung narrativer Gewalt im Bellum Civile anzusehen. Wolf schuf mit seiner richtungsweisenden Studie, deren Schwerpunkt auf illusionsstörenden Elementen englischsprachiger Literatur liegt, die methodische Grundlage für unzählige wissenschaftliche Beiträge zu Erzähltexten der Moderne und ist auf diesem Gebiet längst zum Standardwerk avanciert.265 Er nimmt eine Differenzierung in ästhetische und narrative Illusion vor. Erstere nimmt allgemein auf Kunst Bezug. Narrative Illusion hingegen stellt sich in der Lektüre literarischer Texte ein. Prinzipiell konstituiert sich Illusionsbildung im Spannungsverhältnis von Distanz und Illusion.266 Sie erfolgt mittels narrativer „Imitation vor allem von Strukturen und daneben auch von Inhalten lebensweltlicher Wahrnehmung“ und erweckt im Rezipienten den Eindruck an der fiktiven Erzählwelt affektiv teilzunehmen.267 Zentrales Merkmal illusionsbildender Literatur ist ihre Heteroreferentialität, d. h. ihre Bezugnahme auf die außertextliche ‚Wirklichkeit‘, die sie nachahmt. Für den Moment der Lektüre verwischt eine solche Erzählung, gewissermaßen als ein Akt des make believe, die Grenze zwischen ‚Realität‘ und Fiktion.268 Um Missverständnissen vorzubeugen, muss jedoch unbedingt darauf hingewiesen werden, dass das Bewusstsein des Rezipienten um die Scheinhaftigkeit der Erzählung stets vorhanden ist.269 Die im Lektüreprozess immanente Distanz dient schließlich 265

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Wolf 1993; Illusionsdurchbrechung steht in einem engen Verhältnis zur umfassenden Thematik der Metafiktion, s. hierzu beispielsweise Nünning 2005; O’Donnell 2008; Neumann/Nünning 2009; Fludernik 2013: 175; Wolf 2013a, 2013b; zu Fiktion und Metafiktion bei Ovid s. Kirstein 2015c: bes. 46–51; Kirstein 2015b. Ästhetische Illusion darf also keineswegs mit Illusion im nicht-ästhetischen, psychologischen oder philosophischen Sinne gleichgesetzt werden. Wolf 1993: 113. In der Fiktionalitätstheorie hat sich der Begriff des make believe insbesondere mit Beginn der 90er Jahre etabliert, s. Currie 1990; zum direkten Zusammenhang von Mimesis und make believe vgl. Walton 1990; zur ‚Rezeption fiktionaler Texte als make-believe‘ s. Zipfel 2001: 248–252; vgl. Currie 2005; Bareis 2014; Lamarque 2014. Vgl. Wolf (1993: 35): „So illusionistisch eine erzählte Welt auch wirken mag, so offensichtlich ist doch in jedem Augenblick der Lektüre ihre bloß ‚papierne‘ Qualität, die Eingefangensein zwischen den Buchdeckeln“; s. auch Wolf (1993: 113): „[…] der Schein des dominant sinnlichen (Mit-)Erlebens einer (nicht der) Wirklichkeit, wobei dieser Schein selbst Analogien zu lebensweltlicher Erfahrung aufweist und gerade deshalb überzeugend wirkt, gleichzeitig aber stets von einem latenten Moment rationaler Distanz relativiert wird: dem kulturell erworbenen und in der ästhetischen Einstellung zum Tragen kommenden Wissen um die Scheinhaftigkeit“; Wertheimer (2014) spricht in Anknüpfung an Hans Vaihingers ‚Philosophie des Als-Ob‘ von einem „Kippspiel“, das den Leser mittels eines

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als „Sprungbrett für Illusionsstörungen“.270 Diese ergeben sich durch bewusste Negation der narrativen Imitation lebensweltlicher Wahrnehmung, oder einfacher: durch Aufhebung illusionsbildender Prinzipien.271 Illusionsstörende Literatur wird als autoreferentiell bezeichnet, da sie ihre Selbstbezüglichkeit und damit ihre Abgrenzung von der Realwelt ins Bewusstsein des Lesers hebt.272 Illusionsdurchbrechung wird damit nicht nur auf Ebene des narrativen Textes, sondern ebenso auf der des Rezipienten hervorgebracht. Sie ist abhängig von seiner kulturell erworbenen Kompetenz, die Künstlichkeit und Gemachtheit der erzählten Welt rational zu erfassen.273 Nach den eher allgemeinen Erläuterungen zu Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung soll im Folgenden dargelegt werden, wie die beiden Phänomene im literarischen Text zum Ausdruck kommen. Wolf definiert in diesem Kontext sechs Prinzipien, wovon die ersten fünf für eine Untersuchung der narrativen Gewalt nutzbar gemacht werden können.274 Erstens, das Prinzip anschaulicher Welthaftigkeit. Eine anschauliche und detaillierte Vermittlung der fiktiven Erzählwelt (z.B. des Erzählraums) suggeriert eine vom Leser unabhängige sowie ‚objektiv‘ erfahrbare Welt und führt zu einer guten Vorstellbarkeit. Ein hoher Grad an Unvollständigkeit dagegen, etwa durch fragmentarische und vage Beschreibungen des Erzählraums, stört die Illusion und hebt den Konstruktcharakter der Erzählung ins Bewusstsein des Rezipienten (vgl. insbesondere Abschnitt 4.4.3 zur Gyareus-Episode). Zweitens, das Prin-

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„ästhetischen Überzeichnens im Sinne einer als-ob-artigen und gleichzeitig sowohl-alsauch-artigen Wahrnehmungsverdopplung“ zwischen den Polen der Illusion und Distanz verortet. Wolf 1993: 112. Ein vollkommen ausgeglichenes Verhältnis von Illusion und Distanz lässt sich in der Regel nicht in narrativen Texten finden, sondern lediglich Akzentuierungen der einen oder anderen Richtung, vgl. Bauer/Sander 2004: 199. Bode (1988: 80–85) weist jedoch zu Recht darauf hin, dass ein literarischer Text aufgrund seiner Materialeigenschaft niemals absolute Selbstbezüglichkeit zum Ausdruck bringen kann. „Aus dieser Spannung erst,“ so Bode, „aus dem Sich-Absetzen des literarischen Textes aus der Referenz und der gleichzeitigen Unmöglichkeit, am anderen Ufer des Nichtmehr-Verweisens überhaupt jemals ankommen zu können, entsteht die Mehrdeutigkeit des literarischen Textes“, die, wie er später bemerkt, „ästhetische Bereicherung verspricht“ (81 u. 82). Vgl. Wolf (1993: 37): „Ausschlaggebend für eine bestimmte […] Rezeption ist also nicht nur das Werk selbst, sondern auch der Kontext seiner Rezeption. Hierunter sind allerdings nicht bloß raumzeitliche Umstände zu verstehen, vielmehr auch die innere ‚Einstellung‘ des Produzenten und vor allem des Rezipienten, die dann auch wieder auf den räumlichen und situativen Kontext der Rezeption zurückwirken kann.“ Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Wolfs Erläuterungen der jeweiligen Prinzipien (1993: 131–188).

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zip der Sinnzentriertheit. Wenn die Erwartungen, die der Rezipient hinsichtlich inhaltlicher und formaler Schemata an die Erzählung heranträgt, erfüllt werden, hat der Text eher illusionsbildende Wirkung. Sollten die Erwartungen, die von der lebensweltlichen Wahrnehmung des Lesers geprägt sind, jedoch gebrochen werden, wirkt die Erzählung befremdlich und damit illusionsstörend. In der Lucanforschung rief beispielsweise Catus’ Sterbeszene aufgrund des ‚fehlenden Realismus‘ deutliche Irritationen hervor, da zwei zeitgleich in Brust und Rücken eingedrungene Wurflanzen aufgrund des dadurch enorm angestiegenen Blutdrucks wieder herausgeschleudert wurden (s. Abschnitt 4.4.1). Als ebenso illusionsstörend werden in der Regel etwa narrative Diskontinuitäten des Raums, der Zeit oder der Figurenidentität empfunden.275 Drittens, das Prinzip der Perspektivität. Wird die Erzählwelt eindeutig durch die Perspektive einer bestimmten Figur geschildert, liegt der Akzent stärker auf der Illusion, da diese Situation der lebensweltlichen Erfahrung des Rezipienten entspricht. Verschmelzen jedoch die Perspektiven unterschiedlicher Instanzen, wie etwa häufig bei der desintegrierend wirkenden Überschreitung räumlichsemantischer Grenzen, bewirkt dies eine erhöhte Distanzierung des Lesers. Viertens, das Prinzip der Mediumsadäquatheit. Eine Missachtung der Grenzen des textlichen Mediums liegt vor, wenn der Fokus der Erzählung weg vom fiktiven Inhalt hin auf die narrative Vermittlung gelenkt wird. Hierzu zählen beispielsweise ‚überlange‘ oder sequentielle Beschreibungen von Dingen oder Ereignissen, die in der ‚Realität‘ des Lesers synchron erfassbar sind.276 Unter dieses Prinzip lassen sich vielleicht sogenannte ‚hyperrealistische‘ Beschreibungen von Verwundungsprozessen fassen, wie z. B. in der Lycidas-Episode, wo sich die Schilderung des Sterbeprozesses alleine über achteinhalb Verse erstreckt (s. Abschnitt 4.4.5). Schließlich fünftens, das Prinzip der Interessantheit der Geschichte. Dieses Prinzip hebt sich insofern von den vorigen ab, als Illusionsbildung hier nicht alleine durch den Aspekt der Wahrscheinlichkeit erzeugt wird. Denn eine allzu wahrscheinliche Darstellung einer Geschichte kann schnell zu Langeweile führen. Um ein möglichst hohes Maß an Interessantheit zu erreichen, müssen daher spannungsgenerierende Elemente in die Erzählung integriert werden, die entweder auf Ebene der fabula oder der story angesiedelt sind. Insbesondere der Ringkampf zwischen Antaeus und Hercules kann hierbei als Beispiel herangezogen werden (s. Abschnitt 5.4.4).

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Während ersteres Beispiel einen Bruch mit den inhaltlichen Lesererwartungen darstellt, ist das zweite in formaler Hinsicht illusionsdurchbrechend. Wolf (1993: 168) umschreibt dieses Phänomen treffend als „nicht mehr vorstellbare Addition an Daten“.

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Im Anschluss an die erläuterten Prinzipien bleibt festzuhalten, was sich im Hinblick auf die angeführten Beispiele in Lucans Bellum Civile bereits angedeutet hat: Die Prinzipien entfalten ihre volle Wirkung weniger einzeln, als vielmehr in ihrer dynamischen Wechselbeziehung zueinander.277 Zudem sind nicht alle Prinzipien für die Bildung oder Durchbrechung von Illusion erforderlich, andererseits führt die Missachtung eines oder zweier Prinzipien nicht zwangsläufig zu Illusionsdurchbrechung.278 Lucans Gewaltdarstellungen weisen zwar nicht immer, doch meist illusionsstörenden Charakter auf. Der Leser aktualisiert den fiktionalen Status der Erzählung, sodass die Selbstbezüglichkeit des Textes in den Vordergrund rückt. Mit Blick auf die vorigen Abschnitte kann abschließend festgehalten werden, dass sich anhand der narrativen Grundstrukturen Aktanten, Raum, Zeit und Fokalisierung der Grad der Illusion und ihrer Durchbrechung messen lässt. Der Umstand, dass die Autoreferentialität der a-mimetischen Erzählung den Fokus des Rezipienten nicht mehr auf eine die Realität imitierende Erzählwelt lenkt, „sondern auf seine eigene sinnstiftende Tätigkeit“, führt uns zum Begriff der Ästhetik, der für die Untersuchung von Gewalt und Unmaking bei Lucan eine wesentliche Rolle spielt.279 (7) Dass im Bellum Civile Gewalt und Ästhetik ein „Bedingungsverhältnis“ eingehen,280 dürfte in der Lucanforschung wohl eine weniger umstrittene oder provokante These darstellen. Bei einer genaueren Überprüfung dieser Aussage treten jedoch schnell methodische Schwierigkeiten zutage, die aus der amorphen Disposition des Begriffs ‚Ästhetik‘ resultieren (in diesem Punkt weist dieser eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zum Begriff der Gewalt auf). Ziel der folgenden Erläuterungen ist nicht eine ausführliche Reflexion über literarische Ästhetik, deren Linien von postmodernen Auffassungen (wie z. B. bei Barthes, Derrida oder Lyotard) zurück über Hegel und Kant bis hin zu Aristoteles und Platon reichen, sondern vielmehr eine ‚Sensibilisierung‘ für die methodische Auseinandersetzung mit ästhetischen Aspekten bezüglich Lucanischer Gewalt.281

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Bauer und Sander (2004: 213–214) tragen überblickshaft und sehr gut nachvollziehbar die Relationen zwischen den einzelnen Prinzipien zusammen. Zur Bedeutung des „Balanceeffekts“ s. Wolf 1993: 145. Bode 1988: 131; ebenda: „[…] in der Zerstörung der Mimesis leuchtet eine eigene Ästhetik auf […].“ Bohrer 1998a; Wertheimer (2006: 19): „Gewaltphantasien sind genuiner Bestandteil ästhetischer Produktion.“ Für eine umfassende Reflexion über den ästhetischen Ursprung und Hintergrund literaturwissenschaftlicher Fragestellungen s. beispielsweise Zima 1995; zu Ästhetik in allgemeiner Hinsicht als auch im Kontext von Literatur s. etwa Welsch 1993 u. 1996; Seel 1996

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Wie in Abschnitt 1.1.2 gezeigt,282 sind zahlreiche Beiträge bezüglich Gewalt im Bellum Civile als inhaltliche Annäherungen zu verstehen. Gewaltdarstellungen werden historisch kontextualisiert, um eine Autorintention oder ethischmoralische Interpretationsansätze argumentativ zu untermauern. Diese Zugangsweisen zum Text haben jedoch zur Folge, dass der Fokus des Interesses auf dem ‚Warum?‘ der Gewalt verharrt und nicht deren Form tiefergehend untersucht wird.283 Um also das ‚Wie?‘ der literarischen Verarbeitung der Gewalt zu erfassen, muss man deren „moralische und philosophische Funktionalisierung“ ausklammern. Es besteht die Notwendigkeit „den rational-moralischen Diskurs […] (zu) verlassen“.284 Dem „Erscheinungscharakter“ der Gewalt ist für den vorliegenden Zweck der Vorrang gegenüber ihrer inhaltlichen Deutung und Kausalität einzuräumen.285 Die Studie analysiert Lucans narrative Gewalt daher anhand von drei ästhetischen Kriterien: (a) sinnliche Wahrnehmung, (b) Selbstreferentialität und (c) Wirkung. (a) Da Ästhetik grundsätzlich als „Theorie der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer Reflexion“ zu verstehen ist,286 nimmt der Ästhetik-Begriff der vorliegenden Untersuchung seinen prinzipiellen Ausgang vom Begriff αἴσθησις, der sowohl das ‚Sinneswerkzeug‘ bzw. die ‚Sinnesorgane‘ als auch die ‚Sinneswahrnehmung‘ selbst bezeichnet. Dieser Aspekt ist konstitutiv für das Bedingungsverhältnis von Ästhetik und Gewalt. Denn Gewalt selbst ist – wie anhand des phänomenologischen Ansatzes soziologischer Gewaltforscher erläutert (s. Abschnitt 1.2.1) – Inbegriff sinnlicher Erfahrung. Daher muss für eine ästhetisch orientierte Analyse der narrativen Gewalt die Darstellung des Körpers verstärkt in den Blick genommen werden.287 Der Körperaspekt steht in enger

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u. 2000; Faas 2002; Kivy 2004; Gaut/Lopes 2005; Levinson 2005; Davies 2007; Urbich 2011; Betzler/Cojocaru 2012; Giovannelli 2012; Ribeiro 2012; Wolf 2013. Vgl. insbesondere die Seiten 18–19. Vgl. Bohrer 2000: 25. Bohrer 1998a: 281. Bohrer 1998a: 289; vgl. Seel (1996: 34–35): „Das ästhetische Bewusstsein hat weder eine kontinuierliche Deutung der Welt, noch zielt es auf eine solche.“ Wolf 2013: 5. Vgl. Trotha (1997a: 26): „Gewalt ist körperlicher Einsatz, ist physisches Verletzen und körperliches Leid – das ist der unverzichtbare Referenzpunkt aller Gewaltanalyse.“ (s.o. Anm. 144 auf S. 36); Diese Notwendigkeit findet ihre Entsprechung in der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gewalt, wozu neben den ‚Gewaltinnovateuren‘ um Sofsky und Trotha insbesondere auch die körperphänomenologische Gewalttheorie Reemtsmas (2008b) beigetragen hat; Inhetveen (2013: 204) zieht eine Zwischenbilanz der Gewaltforschung: „Inzwischen sind die Diskussionen um den Gewaltbegriff weitgehend abgeflaut, eine körperbezogene Gewaltdefinition ist etabliert, und die Neuerer haben ein Echo auf ihre Forderungen nach einer dicht beschreibenden Analyse von Gewaltphänome-

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Verbindung zu Sofskys Auffassung, die als stellvertretend für Gewaltinnovateure angesehen werden kann: „Die Wahrheit der Gewalt ist nicht das Handeln, sondern das Leiden.“288 Da in Lucans Gewaltdarstellungen die jeweilige Situation häufig durch das patiens fokalisiert ist, wird die Aufmerksamkeit des Lesers häufig auf das Körperempfinden des Verletzten gelenkt. Eine ganz besonders eindrückliche Hervorhebung der Gewalt als sinnliches Ereignis lässt sich beobachten, wenn etwa Sinnesorgane, wie Augen, Ohren, Nase, Zunge und Hände verstümmelt oder abgetrennt werden, wie im Fall des Marius Gratidianus (Lucan. 2.173–193a). Die Zerstörung des ‚ästhetischen‘ Zugangs zur Welt beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Körper des patiens, sondern weitet sich aus auf die subjektiv empfundene Auflösung lebensweltlicher Grundkonstanten und Strukturen wie Raum und Zeit. Wie bereits gezeigt wurde, lassen sich derartige Phänomene anhand von Sofskys Darlegungen zur Gewaltzeit beschreibbar machen (s.o.). Komplementär dazu lässt sich auch Karl-Heinz Bohrers ästhetische Kategorie des absoluten Präsens anführen. Demnach geht der Augenblick der Verwundung oder des Sterbens – analog zur Gewaltzeit – mit einer „Aufhebung zeiträumlicher Bedingungen“ bzw. mit einer „Versetzung realer Geschehnisabläufe in das fortwährende Präsens einer imaginativen Stimmung“ einher.289 Der Moment der Gewalt ist somit als „reines Wahrnehmungsereignis“ oder als „kontemplative[s] Stillstehen außerhalb der normalen Zeiterfahrung“ zu verstehen.290 Bohrers Theorie des absoluten Präsens weist insofern eine hohe Affinität zu Erfahrungen mit Gewalt auf, als es mit einer Art lähmenden, aus dem Fluss der ‚objektiven‘ Zeit gefallenen Schockwirkung des patiens korrespondiert, wofür er mehrfach auf den Begriff der ‚Kontemplation‘ zurückgreift.291

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nen gefunden. Der Gewaltforschung stellt sich heute insbesondere die Aufgabe, dem Körper-Gewalt-Nexus an konkreten Gegenständen in qualitativ-empirischen Untersuchungen nachzugehen, um das theoretisch-konzeptuelle Instrumentarium gegenstandsnah zu erweitern und zu detaillieren.“ Sofsky 1996: 68. Bohrer 1994: 154. Umbreit 2003: 33; Bohrer 1994: 160. Vgl. Bohrer (1994: 155): „Das absolute Präsens des kontemplativ Regungslosen angesichts einer Handlung, des Gemetzels.“ Ferner spricht er von einer „Zeitform kontemplativer reiner Gegenwart“ (ebenda 159). Hierbei arbeitet er Schopenhauers Ausführungen zum kontemplativen Zustand auf (ebenda 176): „‚Kontemplation‘ ist nach Schopenhauer jener ästhetische Zustand, in dem das geniale Subjekt das Objekt der Kontemplation aus allen seinen raumzeitlichen Bedingungen herauslöst und es ‚isoliert vor sich‘ sieht, als Repräsentanz eines Ganzen (Die Welt als Wille und Vorstellung, Drittes Buch, § 36).“

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(b) Nach Martin Seel lässt sich Kontemplation in doppelter Hinsicht als genuin ästhetische Kategorie auffassen, da er zum einen den Aspekt der sinnlichen Wahrnehmung und zum anderen den der Selbstzweckhaftigkeit in sich vereint: Der Augenblick ästhetischer Kontemplation ist ein Augenblick der rücksichtslosen Aufmerksamkeit für etwas, das durch die Art seiner Wahrnehmung aus allen praktischen und intellektuellen Kontexten herausgenommen wird. Auf der Basis der Fähigkeit zum sinnlichen und begrifflichen Unterscheiden geht es ihr um eine selbstzweckhafte ‚Befreiung der Sinne vom Sinn‘, wie Pessoa es einmal ausgedrückt hat.292 Ein Zugang über eine wahrnehmungsfundierte Ästhetik ermöglicht eine differenziertere Untersuchung der Lucanischen Gewalt bezüglich ihrer Selbstreferentialität und Eigenbedeutsamkeit.293 Während jedoch die ästhetische Wahrnehmung der Gewalt (also im konkreten Sinne der αἴσθησις) eher der fabula zuzuordnen ist, kommt der selbstbezügliche Charakter der Gewalt vielmehr in der story zum Ausdruck. Der Selbstzweck der narrativen Gewalt wird also mittels der narrativen Repräsentation in das Bewusstsein des Lesers gehoben.294 Die Ästhetisierung des Sterbeprozesses etwa ist ein wesentlicher Gesichtspunkt, auf den bereits Nicola Hömke hingewiesen hat. Im Fokus steht dabei das stete Oszillieren auf der diffusen Grenze zwischen Leben und Tod, sodass der Übergang losgelöst von den beiden Polen betrachtet werden muss. Hieraus resultiert schließlich seine eigene, ‚ästhetische‘ Qualität:

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Seel 1996: 266; zur theoretischen, ästhetischen und praktischen Kontemplation vgl. ebendort 260–272. Vgl. Wolf (2013: 5): „Während eine reine Philosophie der Kunst Gefahr läuft, das jeweilige Besondere des Phänomens unter eine ihm äußerliche Begrifflichkeit zu subsumieren, kann der weitere, von der Wahrnehmung ausgehende Begriff der Ästhetik die Eigenbedeutsamkeit des ästhetisch betrachteten Objekts besser zur Geltung kommen lassen.“ Die Autonomie der Ästhetik darf jedoch nicht alleine auf die Ebene der Narrativik beschränkt werden, sondern ist auch als essentielles Merkmal poetischer Sprache anzusehen, wie der russische Sprachwissenschaftler und Mitbegründer der 1926 aus der Taufe gehobenen ‚Prager Schule‘ Roman Jakobson aufgezeigt hat, vgl. Weinrich (1985: 234): „Die ästhetische oder auch poetische oder künstlerische Funktion der Sprache ist nach Jakobson eine sich selbst als Zweck setzende, ‚autotelische‘ Funktion, in der die alltägliche Intransitivität der Sprache auf sich selbst zurückgebogen ist.“ Die Selbstreferentialität der narrativen Gewalt speist sich also aus zwei Quellen: dem autotelischen Charakter zum einen der poetischen Sprache und zum anderen dem Phänomen der Gewalt.

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The focus rests on the process of dying. Dying is not only the transition from life to death but also an independent, artificially-expanded special condition of human existence. […] Lucan seems to have decided for an aesthetic of terror. He expands the moment between life and death to an interval of its own, gives dying its own state and subdivides it into different phases, which he in turn individually makes into an issue.295 Über den Hebel des Motivs ‚Gewalt‘ wird der Auflösungsprozess semantischer Strukturen, wie z.B. der Dichotomie zwischen Leben und Tod, auf die sprachlich-narrative Ebene übertragen. Das selbstreferentielle Moment der Gewalt offenbart sich im ‚Wie?‘ der erzählerischen Gestaltung, womit zugleich die Erzählung selbst bezüglich ihrer Künstlichkeit und Gemachtheit in den Vordergrund rückt. Unter diesem illusionsdurchbrechenden Eindruck des l’ art pour l’ art wird die Distanz des Lesers zum Text deutlich erhöht. (c) Lucans Ästhetik der narrativen Gewalt ist jedoch nicht nur durch werkinterne Faktoren geprägt. Vielmehr entfaltet sie ihr eindrückliches Potential erst in der Wirkung auf den Rezipienten.296 Diesem Aspekt wird schließlich anhand von Wolfgang Isers Theorie der Wirkungsästhetik Rechnung getragen.297 Ihm zufolge liegt bei narrativen Texten die Priorität deutlich stärker auf dem ‚Wie?‘ als dem ‚Was?‘ oder ‚Warum?‘.298 Erst der Leser konstituiert die im Text angelegten Sinnstrukturen und -potentiale.299 „Sinn“ wird demnach primär „als ästhetische Wirkung“ aufgefasst.300 Im Text selbst sind ‚Antriebe der Konstitutions-

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Hömke 2010: 100 u. 101; s. Anm. 113 auf S. 26. Wolf (1993: 35) hierzu: „Tatsächlich ist die Distanzauslösung durch werkinterne und mit der Rezeptionssituation gegebene Fiktionsmarkierungen ein nicht zu vernachlässigender Steuerungsmechanismus ästhetischer Rezeption.“ Vgl. Iser 1976; für eine begriffliche Abgrenzung von ‚Wirkungsästhetik‘ zu ‚Rezeptionsästhetik‘ s. Zima 1995: 218. Vgl hierfür Isers (1976: 88) prinzipielle Auffassung von Fiktion als Kommunikationsstruktur: „Nicht was sie bedeutet, sondern was sie bewirkt, gilt es nun in den Blick zu rücken. Erst daraus ergibt sich ein Zugang zur Funktion der Fiktion, die sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklichkeit erfüllt.“ Vgl. Zima (1995: 250): „In diesem Kontext geht es Iser primär darum, das Sinnpotential der Literatur und die Sinnkonstitution seitens des Lesers zu untersuchen.“ Iser 1976: 43; dennoch verweist Iser auf die „amphibolische Natur“ des Sinns, der einerseits ästhetischen, andererseits diskursiven Charakter hat (ebenda: 42–43): „Dieser [der Sinn] hat zunächst ästhetischen Charakter, weil er sich selbst bedeutet; denn durch ihn kommt etwas in die Welt, das vorher nicht in ihr war. Folglich kann er sich nur als Wirkung manifestieren, die sich vor keiner bestehenden Referenz ausweisen muss; seine Anerken-

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aktivität‘ angelegt, wie etwa Leer- oder Unbestimmtheitsstellen, die den Leser und seine Imaginationsfähigkeit aktivieren.301 Solche Leerstellen sind weniger als Mängel innerhalb des narrativen Schemas, sondern vielmehr als Anstoß für die kreative Tätigkeit des Rezipienten zu verstehen.302 So werden beispielsweise Zusammenhänge, seien sie kausaler oder finaler Art, nicht vom Erzähler explizit gemacht, sondern erfahren ihre Realisierung durch den Leser.303 Folglich steht dieser als „textproduzierende Instanz“ neben dem Autor.304 Wenn Iser allerdings vom ‚Leser‘ spricht, ist weniger ein historischer oder fiktiver gemeint, sondern der implizite Leser.305 Dieser ist eine dem Text eingeschriebene Lesestrategie, die „die Gesamtheit der Vororientierungen (verkörpert), die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der implizite Leser nicht in einem empirischen Substrat

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nung erfolgt durch die von ihm im Leser verursachte Erfahrung. […] der Sinn beginnt erst dann seinen ästhetischen Charakter zu verlieren und einen diskursiven anzunehmen, wenn man nach seiner Bedeutung fragt. In diesem Augenblick hört er auf, sich selbst zu bedeuten und damit ästhetische Wirkung zu sein.“ Zur Funktion von Leerstellen vgl. Iser 1976: 284–315; diese leitet er von Roman Ingardens Konzept der ‚Unbestimmtheitsstellen‘ ab, s. Iser 1976: 267–280; Ingarden (1968: 303) bemerkt, dass sich „in jedem literarischen Kunstwerk […] Stellen des Nichtgesagten, des Verschwiegenen, des Unbestimmten, Offengelassenen [beobachten lassen], die trotz ihrer merkwürdigen Anwesenheit und ihres ebenso merkwürdigen Unbemerktseins und Unbeachtetseins doch eine wesentliche Rolle in der künstlerischen Struktur des Kunstwerks spielen.“ Vgl. Zima (1995: 255): „Somit erscheint bei Iser die Leerstelle nicht so sehr als Lücke im Schema, die der Leser mechanisch ausfüllt, sondern als Ausgangspunkt für eine produktive Tätigkeit, die den literarischen Text als ästhetisches Objekt (im Sinne von Mukařovský) hervorbringt“; in bemerkenswerter Nähe zu Isers Begriff der Leerstelle befindet sich Lotmans dynamisches Kommunikationsmodell im Kontext seiner Kultursemiotik, vgl. Lotman (1974: 302): „Non-understanding, incomplete understanding, or misunderstanding are not side-products of the exchange of information but belong to its very essence“; vgl. Koschorke 2013: 122–123. Zima (1995: 253) hierzu: „Die Realisation […] kommt in einem Prozess zustande, in dem der Leser von Autor und Erzähler ständig veranlasst wird, seine Erwartungen zu korrigieren und Figuren, Handlungen und Situationen in einem neuen Licht zu betrachten. Dies geschieht in einer Wechselbeziehung von Erwatung und Erinnerung, Protention und Retention (im Sinne von Husserl), die als kumulativer Prozesss den Lektürevorgang ausmacht“; vgl. Iser 1972: 68; Iser (1976: 154) weist zudem darauf hin, dass willkürliche Realisierung durch den Leser ausgeschlossen ist. Vielmehr wird mittels narrativer Techniken und Strategien die Richtung vorgegeben, wodurch der Imaginationsprozess des Lesers gelenkt wird. Zima 1995: 255. Vgl. das Kommunikationsmodell in elaborierter Version im Abschnitt Erzählung (oben S. 51, Abb. 1).

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verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert.“306 Im Vollzug der kommunikativen Interaktion zwischen Text und Lektüre stellt die Realisierung der Erzählung durch den impliziten Leser den „eigentlichen ästhetischen und kreativen Prozess“ dar.307 Isers Wirkungsästhetik ermöglicht dem Literaturwissenschaftler also das methodische Freilegen statischer, textimmanenter Strukturen, ohne jedoch den dynamischen, offenen Prozess der Lektüre aus dem Blick zu verlieren. Im Gegenteil: „Das Konzept des impliziten Lesers meint die im Text ausmachbare Leserrolle, die aus einer Textstruktur und Aktstruktur besteht.“308 Es geht bei der Interpretation also „nicht […] um einen den Text versiegelnden Abschluss der Analyse, sondern um ein Offenhalten des Konnotationsprozesses.“309 Dieser Aspekt ist für die Untersuchung der narrativen Gewalt im Bellum Civile von zentraler Bedeutung.310 Das Sinnpotential der Erzählung wird erst anhand des ästhetischen Realisationsprozesses durch den Leser konstituiert. Hierbei wird der Sinn jedoch nicht vereindeutigt, sondern vervielfältigt.311 Insbesondere Lucans Gewaltdarstellungen leiten aufgrund ihrer illusionsstörenden Wirkung eine prismatische Auffächerung der Erzählung ein und damit eine Reflexion über seine ästhetische Wirkung. Das ‚Bedingungsverhältnis‘ von Gewalt und Ästhetik offenbart sich also erst im dynamischen Wechselspiel zwischen narrativer Repräsentation und Lektüre, das den Prozess des Unmaking markiert (s.u. Abschnitt 1.2.3).

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Iser 1976: 60; vgl. Iser 1972: 92. Der implizite Leser markiert demnach den Anschluss an Wayne Booths Konzept des ‚implied author‘, s. Booth 1961. Zima 1995: 251. Iser 1976: 66 (Hervorhebung durch den Verfasser); eine Seite später (1990: 67) führt er den Gedanken konkreter aus: „Das Konzept des impliziten Lesers umschreibt daher einen Übertragungsvorgang, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungshaushalt des Lesers übersetzen. Da diese Struktur für die Lektüre fiktionaler Texte allgemein gilt, darf sie transzendentalen Charakter beanspruchen“; zum Zusammenspiel von Leser und Text vgl. Eco (1979: bes. 21): „No text is read independently of the reader’s experience of other texts.“ So Bode (1988: 68) über Barthes’ vergleichbar dynamisches und offenes Textverständnis; zu den Bedingungen für eine Aufmerksamkeit gegenüber dem Pluralen vgl. Anm. 191 auf S. 50. Claudia Wick (2010) etwa hat mit ihrer Abhandlung zu Lucans ‚suggestiven Nichtbeschreibungen‘ bereits angedeutet, dass ein rein textorientierter und strukturalistischer Ansatz dem Bürgerkriegsepos nicht gerecht wird, vgl. Anm. 116 auf S. 27. Bode 1988: 67–69.

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(8) Vor diesem Hintergrund soll als letzter zentraler Begriff schließlich der des Poststrukturalismus bzw. der Postmoderne näher beleuchtet werden. Deren Attraktivität für die vorliegende Untersuchung liegt darin, dass sich in Lucans Werk eben solche Teilaspekte wie z.B. das Fragmentarische, Offenheit oder Ambivalenz finden, die in einem Entsprechungsverhältnis zu Postmoderne und Poststrukturalismus stehen. Gerade das Fehlen von Universalität oder Einheitlichkeit, die im modernen Sinne zu einer ‚großen Erzählung‘ gehören (s.u.), ist kennzeichnend für das Bellum Civile. Der Poststrukturalismus ist keine fest definierte Theorie oder Methode, sondern vielmehr eine philosophische Haltung, eine Denkweise verbunden mit einer korrespondierenden stilistischen (Schreib-)Praxis, die sich aus diversen Abhandlungen ableiten lässt.312 Dabei weist er ein weites und vielfältiges Spektrum auf, das sich über unterschiedliche Disziplinen erstreckt – mit teils widersprüchlichen Ansichten und Standpunkten.313 Die unscharfe begriffliche Abgrenzung führt dazu, dass es sich um ein kontrovers (und teils polemisch) diskutiertes Phänomen handelt, das von zahlreichen Missverständnissen begleitet ist.314 Da zudem außerhalb des akademischen Diskurses poststrukturalistische Tendenzen ein populäres Ausmaß annahmen – ihre weitreichenden Auswirkungen sind disziplinübergreifend in den Bereichen Architektur, bildende Kunst, Film und Literatur sichtbar –, soll an dieser Stelle kurz auf die wichtige Unterscheidung von Poststrukturalismus und Postmoderne eingegangen werden. Beide Begriffe werden in der Forschung häufig synonymisch gebraucht, obwohl sie unterschiedliche Schwerpunkte aufweisen. Trotz allem weisen beide gemeinsame Schnittmengen auf und gehen somit ein (post-)strukturales Entsprechungsverhältnis ein. Die Postmoderne, deren Ursprung in den USA der 60er Jahre liegt, bezeichnet zweierlei: einerseits eine „kulturgeschichtliche Periode“, die sich dialektisch auf die Moderne bezieht, andererseits fasst der Begriff „ästhetisch-philosophische Ansätze und kulturelle Konfigurationen dieser Zeit“ zusammen.315 Die Postmoderne konstituiert sich durch ihren negativen Bezug auf die Moderne. Dabei

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Zu den philosophiegeschichtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen des französischen Poststrukturalismus, der sich in den 1960er Jahren in Frankreich ausgebildet hat s. beispielsweise Zima 1994: 1–33; Münker/Roesler 2000: VIII–XIV. Als wichtigste Vertreter der Philosophie können Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze und Michel Foucault angesehen werden, der Literaturwissenschaft der ‚späte‘ Roland Barthes, der Soziologie Jean Baudrillard. Zu den einflussreichsten poststrukturalistisch denkenden Psychoanalytikern zählen schließlich Felix Guattari, Julia Kristeva und Jacques Lacan. Nicht einmal die in Anm. 313 als Vertreter des Poststrukturalismus angeführten Vorreiter dieser Strömung bezeichnen sich als Poststrukturalisten. Mayer 2013: 618.

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sind die Befindlichkeiten beider ‚Epochen‘ jedoch nicht immer klar voneinander zu trennen, worauf etwa Wolfgang Welsch bereits im Titel seiner Studie Unsere postmoderne Moderne hinweist.316 Denn einerseits markiert die Postmoderne ob ihrer Erkenntnisskepsis eine kompromisslose Fortführung der Moderne, andererseits wendet sie sich von dieser ab hinsichtlich der elitären Auffassung von Kunst und wissenschaftlicher Tätigkeit.317 Sie stellt dem universalistischen Anspruch allumfassender Theorien oder geistiger Strömungen fragmentarische und strukturoffene Wissenskonzepte entgegen. Die Betonung der Fragmentierung findet ihren Ausdruck in strukturauflösenden Tendenzen bezüglich der Sprache, der Zeit, des menschlichen Subjekts und der Gesellschaft.318 Insbesondere in der Kunst rückt der spielerische Bruch mit Konventionen und Traditionen ins Zentrum des Interesses. Ruth Mayer macht bei postmoderner Literatur Beobachtungen, die teils in ähnlicher Weise auch auf Lucans Bellum Civile zutreffen: […] V.a. Film und Lit.(eratur) reflektieren ein verändertes Verständnis von Kunst als Experimentierfeld eher denn als Sinnfindungsinstanz, so dass sich phantastische Handlungselemente, metafiktionale Verweise […], absurde Sprachspiele und Genre-Brüche […] häufen, […].319 Analog zur Relation Postmoderne – Moderne setzt sich der Poststrukturalismus kritisch mit dem Strukturalismus auseinander. Ebenso zeigt sich hier ein gespaltenes Verhältnis. Die Poststrukturalisten legen ihren Untersuchungen keine völlige Negierung strukturalistischen Denkens zugrunde. Viel eher lässt sich dessen kritische Modifizierung erkennen, woraus sich, so Münker und Roesler, durchaus gemeinsame Schnittmengen ergeben: Die These, wonach Sinn immer ein Effekt, ein Resultat sprachlicher Strukturen ist, bildet die gemeinsame Überzeugung aller Poststrukturalisten.

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Welsch 2002. Wie etwa bei der Aufkündigung der allumfassenden und sinnstiftenden ‚großen Erzählungen‘, sei es Religion, sei es Wissenschaft; vgl. Lyotard 1979. Als Verfechter der großen Erzählungen kann etwa René Girard (1972 u. 1978) angeführt werden. Zur Postmoderne als zwingende Fortführung der Moderne s. Eco 1986: 76–82. Sarup (1989: 135): „Rejecting totality, Lyotard and other postmodernists stress fragmentation – of language games, of time, of the human subject, of society itself. One of the fascinating things about the rejection of organic unity and the espousal of the fragmentary is that this belief was also held by the historic avant-garde movements. They too wanted the dissolution of unity.“ Mayer 2013: 619.

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Das aber bedeutet auch, dass die Einsicht der prinzipiellen Unhintergehbarkeit der Sprache und ihrer Struktur tatsächlich eine von Strukturalisten und Poststrukturalisten geteilte Überzeugung darstellt.320 Beim Verständnis von Struktur zeigt sich jedoch der wesentliche Unterschied, da diese nach poststrukturalistischer Auffassung nicht als geschlossen, sondern, im Gegenteil, offen ist. Dies hängt unmittelbar mit der Vorstellung der Struktur der Sprache zusammen: Während der Strukturalismus Sprache als abgeschlossenes System betrachtet, wird gerade diese Annahme vom Poststrukturalismus verneint, d.h. Sprache ist demnach ein offenes System: „Alles, so lautet die radikalisierte Version, ist Struktur – und nirgends hat sie ein Zentrum oder eine Grenze.“321 Damit markieren die Poststrukturalisten eine Rückkehr zur linguistischen Wende, woraus eine „rigorose Semiotisierung der Welt und der Wissenschaft“ hervorging.322 Aus der Offenheit der Sprache resultiert potentiell eine unendliche Anzahl an Differenzen, wodurch die stete Generierung neuen Sinns ermöglicht wird. Mit dieser Offenheit geht die Erkenntnis der sprachlichen Unschärfe einher und somit eine Verunmöglichung ihrer Kontrollierbarkeit. Nach Ansicht der Poststrukturalisten kann die Struktur der Sprache also nicht komplett beschreibbar gemacht werden.323 An diesem Punkt kann nicht mehr von einer Fortführung des Strukturalismus gesprochen werden, da ein deutlicher Paradigmenwechsel vollzogen wird.324 Legt man einen solchen Sprachbegriff zugrunde, prägt dies ganz wesentlich auch das Verständnis von narrativen Texten. Roland Barthes verlieh mit

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Münker/Roesler 2000: 29; In seiner Geste der Abkehr von metaphysischen Fragestellungen zeigt der Poststrukturalismus eine weitere Verbindungslinie zum Strukturalismus auf. Münker/Roesler 2000: 29; ein wichtiger Zusatz findet sich ebenda (30): „Der Vorwurf, der sich daraus gegen den Strukturalismus ergibt, ist also nicht, dass dessen Vertreter nach Strukturen Ausschau halten – sondern, dass sie dies im Vertrauen auf die illusorische Annahme tun, Strukturen besäßen Zentren, um die herum sie sich organisierten und von denen aus sie in ihrem internen Regelwerk verständlich und beherrschbar würden. Damit führt der Poststrukturalismus den Prozess der Dezentrierung weiter, der mit der strukturalistischen Verschiebung des Subjekts begann.“ Vgl. Deleuze/Guattari 1977. Berressem 2013: 620. Zum linguistic turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften s. beispielsweise Rorty 1992 (1967); Jameson 1974; LaCapra 1985; Klein 2000; Clark 2004; Bachmann-Medick 2010: 33–36. Vgl. Lotmans Kommunikationsmodell, das von unterschiedlichen Codes ausgeht, was stets eine Fragmentierung der Information bzw. ein ‚Rauschen‘ des Nicht-Verstehens erzeugt, s. Anm. 302 auf S. 78. Daher scheinen die Vorschläge, den Begriff ‚Poststrukturalismus‘ durch „Neostrukturalismus“ (Frank 1984) oder „Superstrukturalismus“ (Harland 1987) zu ersetzen, weniger geeignet; vgl. Münker/Roesler 2000: IX.

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seinen interpretationstheoretischen Überlegungen dem Textverständnis der Poststrukturalisten insofern ein besonderes Gepräge, als er den weitgehenden Konsens schuf, dass es keine eindeutige, absolute Interpretation eines literarischen Werkes geben kann. Viel eher ermöglicht der offene, unkontrollierbare, spielerische texte générale ein unendliches Pluriversum an Interpretationsmöglichkeiten, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern nebeneinander existieren.325 Wolfgang Isers Wirkungsästhetik steht also in der Tradition von Barthes’ richtungsweisenden Ausführungen, wenn er sagt, dass der Leser neben dem Autor die textproduzierende Instanz darstellt.326 Der Mehrwert poststrukturalistischer Ansätze für die Analyse der Lucanischen Gewalt ergibt sich somit prinzipiell aus zwei Aspekten: erstens, mit ihrer Hilfe lassen sich bewegliche, flüchtige, dynamische Strukturen, die für die Bedeutungs- und Sinnkonstitution förderlich sind, aufdecken und näher beleuchten, zweitens unternehmen sie aufgrund ihrer kritischen Ausrichtung den Versuch, die Grenzen der Strukturen zu überwinden, wie etwa durch die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Text. 1.2.3 Gewalt und Unmaking Der oben umfassend dargelegte Methodenpluralismus – die Verknüpfung soziologischer und narratologischer sowie strukturalistischer und poststrukturalistischer Ansätze – ist nicht als willkürliches Sammelsurium unterschiedlicher Methoden, Modelle und Denkweisen zu verstehen, die für die Analyse der Lucanischen Gewalt dem Text aufgezwungen werden sollen. Vielmehr orientiert sich deren Auswahl und Kombination an der narrativen Repräsentation der Gewalt selbst und nimmt diese als Ausgangspunkt. Der Blick auf das ‚Wie?‘ der Lucanischen Gewalt offenbart ein bewegliches Wechselspiel, das von einer dekonstruktiven Dynamik geprägt ist. Über den Hebel der Gewalt wird dem Leser auf unterschiedlichen Ebenen der Erzählung die Verflechtung struktu-

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Barthes (1976: 9–10): „Einen Text interpretieren heißt nicht, ihm einen (mehr oder weniger begründeten, mehr oder weniger freien) Sinn zu geben, heißt vielmehr abschätzen, aus welchem Pluralen er gebildet ist. […] In diesem idealen Text sind die Beziehungen im Textgewebe so vielfältig und treten so zueinander ins Spiel, dass keine von ihnen alle anderen haben könnte. Dieser Text ist eine Galaxie von Signifikanten und nicht Struktur von Signifikaten. […] Dieses absolut pluralen Textes können sich Sinnessysteme bemächtigen, deren Zahl niemals abgeschlossen ist, da sie zum Maß das Unendliche der Sprache haben“; vgl. Novitz 2005: 219; zum ‚offenen Kunstwerk‘ s. auch Eco 1973. Vgl. Barthes (1976: 8), der bemerkt, dass „es das Vorhaben der literarischen Arbeit (der Literatur als Arbeit) ist, aus dem Leser nicht mehr einen Konsumenten, sondern einen Textproduzenten zu machen“; so auch Bode 1988: 123 (s. o. Anm. 185).

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kapitel 1

rierender und destrukturierender Prozesse vor Augen geführt.327 Lucanische Gewalt ist damit stark vom Spannungsfeld des Unmaking geprägt.328 Dieses gilt es als konstitutives Merkmal der narrativen Gewalt im Bellum Civile herauszustellen. Vor dieser Matrix lassen sich daher auch alle zur Untersuchung herangezogenen Theorien, Ansätze und Begriffe zusammenfassen. Ähnlich wie der von Jacques Derrida und Paul de Man geprägte Begriff der Dekonstruktion beschreibt Unmaking eine Pendelbewegung zwischen Destruktion und der Konstruktion und weist eine hohe Affinität zu dem poststrukturalistischen Verfahren auf.329 Wie jedoch ausführlich dargelegt wurde, befindet

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Lucans narrativ dargestellte Gewalt lässt sich weniger als statisches Phänomen, sondern vielmehr in ihrer dynamischen Prozesshaftigkeit greifbar machen, sei es beispielsweise bezüglich der triadischen und zugleich veränderlichen Gewaltkonstellation, des beweglichen Wechselspiels von Raum, Grenze und Gewalt oder des die normativen Strukturen der Zeit auflösenden Phänomens der Gewaltzeit. Hierbei handelt es sich nicht um einen terminologisch fixierten Begriff, sondern ist Elaine Scarrys kulturanthropologischer Studie The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World (1985) entlehnt. Nach Scarry bezeichnet der Ausdruck Unmaking im Kontext der Sprache zerstörenden Folter weniger das Ergebnis, vielmehr richtet er den Fokus auf den Prozess der Sprachauflösung. Dabei steht Unmaking in dialektischer Beziehung zum Prozess des Making, sodass Scarry darin eine „schrittweise Rückwärtsbewegung“ der ‚Sprachbildung‘ sieht; vgl. Scarry (1985: 19–20): „Physical pain – to invoke what is at this moment its single most familiar attribute – is language-destroying. […] torture mimes (objectifies in the external environment) this language-destroying capacity in its interrogation, the purpose of which is not to elicit needed information but visibly to deconstruct the prisoner’s voice. The word ‚deconstruct‘ rather than ‚destroy‘ is used in the previous sentence because to say the interrogation ‚visibly destroys‘ the prisoner’s voice only implies that the outcome of the event is the shattering of the person’s voice (and if this alone were the goal, there would be no need for a verbal interrogation since the inflicted pain alone accomplishes this outcome). The prolonged interrogation, however, also graphically objectifies the step-by-step backward movement along the path by which language comes into being and which is here being reversed or uncreated or deconstructed. We will see that this same mime of uncreating reappears consistently throughout all the random details of torture […]“; auch Henderson (2010: passim, bes. 437) rekurriert im Kontext von Lucans Bellum Civile auf Scarrys Studie. Entsprechend der dekonstruktivistischen Ausrichtung seiner Untersuchung greift er jedoch keineswegs methodisch als vielmehr assoziativ auf den Begriff des Unmaking zurück. Insgesamt versteht Henderson das Phänomen des Unmaking als integralen Bestandteil des Werkganzen. Daran anknüpfend wendet Willis in ihrer postmodern ausgerichteten Analyse den Begriff Unmaking auf Lucans prozesshafte Rückgängigmachung der politisch-kosmologischen Ordnung an, die zuvor in Vergils Georgica und Aeneis errichtet wurde (Willis 2011: 4): „Lucan’s poem does indeed unmake, methodically and ruthlessly, the political system that Vergil sets up, not only in the epic Aeneid but also in the Georgics.“ Zu Dekonstruktion s. insbesondere Derrida 1967 u. 1972; de Man 1979; Culler 1988; Zima 1994; Attridge 2010.

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sich die vorliegende Arbeit aufgrund ihres methodischen Vorgehens auf dem fließenden Grenzbereich zwischen strukturalistischer und poststrukturalistischer Literaturkritik, sodass von einer völligen Hinwendung zum Dekonstruktivismus Abstand genommen wird.330 In Anlehnung an die phänomenologisch ausgerichtete Methode der soziologischen Gewaltforscher, die den Fokus auf das ‚Wie?‘ und somit auf die Diskontinuität, Entgrenzung und Selbstreferenz der Gewalt lenkte,331 werden für die Analyse der Gewaltdarstellungen in Lucans Bellum Civile strukturalistisch-deskriptive, klassisch narratologische Kategorien wie Aktanten, Raum und Zeit durch dynamische, offene, leserorientierte Konzepte wie Illusionsbildung und -durchbrechung, Wirkungsästhetik und Spannung erweitert. Das Unmaking der narrativen Gewalt spiegelt sich in Lucans Werk also in zweifacher Brechung: Erstens bildet sich die narrative Gewalt auf Ebene der fabula ‚mimetisch‘ in der Auflösung sprachlicher und narrativer Strukturen der story ab. Zweitens prägt Unmaking als kreative Tätigkeit den ästhetischen Prozess der Lektüre. Der Leser realisiert Lucans Gewaltdarstellungen, d. h. er agiert

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Die vorliegende Arbeit nimmt mit ihrer Methode des Unmaking z. B. kein konsequentes „Dezentrieren der zentral gesetzten thematisch-strukturellen Instanzen“ (Zapf 2013a: 124) des narrativen Textes vor, sondern greift auf etablierte erzähltheoretische Kategorien zurück und modifiziert diese, um dynamische Phänomene beschreibbar zu machen. Ebenso geht die Untersuchung von einer prinzipiellen Trennung der Instanzen Autor, Text und Leser aus, was aus dekonstruktivistischer Perspektive nicht haltbar wäre (vgl. Zapf 2013b: 126–127). Zudem wird auf die für die Dekonstruktion essentiellen Termini écriture oder différance verzichtet. Schließlich würde sich eine konsequent poststrukturalistischdekonstruktivistische Studie der Lucanischen Gewalt durch ihre selbstwidersprüchliche Disposition delegitimieren, da grundsätzlich durch den Versuch, zentrale und etablierte Begriffe zu beseitigen, neue „Begriffszentren“ hervorgebracht werden, wie eben écriture oder différance; vgl. Zapf (2013b: 127): „Auch die Texte des Dekonstruktivismus müssen so geschrieben sein, dass sie von ihren Lesern verstanden werden. Dies setzt voraus, dass ihre Begriffe einen Bedeutungskern besitzen, womit aber der Prozess der différance gerade suspendiert ist.“ Darauf, dass das Aufgreifen poststrukturalistischer oder strukturalistischer bzw. postmoderner oder moderner Merkmale nicht notgedrungen mit der Entscheidung für eine Seite einhergehen muss, weist richtigerweise Novitz (2005: 218) hin: „Even so, it would be wrong to think that all philosophers of art fall neatly into the modernist or postmodernist camp. The two positions represent extremes at either and of a continuum. While it is true, for instance, that analytic aestheticians subscribe to many of the tenets of modernism, it is also the case that many aestheticians are critical of some aspects of modernist thought in its application to art […].“ Zentral hierfür Nedelmann (1997: 63): „Die Art und Weise der Gewalthandlung sei das eigentliche Analyseobjekt, denn wie gemordet, gefoltert, gequält, überfallen usw. werde, könne als ‚Text‘ verstanden werden, der nach genauer Lektüre Rückschlüsse über die Gewaltdynamik selbst erlaube“; s. Anm. 183 auf S. 46.

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die narrative Gewalt durch seine kreative Imaginationsfähigkeit aus. Zugleich ist der Lucanischen Gewalt häufig ein illusionsstörendes, und damit narrative Strukturen desintegrierendes Moment inhärent, das beim Leser nicht nur eine Reflexion über die Künstlichkeit bzw. Gemachtheit der Erzählung selbst in Gang setzt, sondern auch über seine eigene ästhetische Tätigkeit der Lektüre selbst. Zum einen geraten also Gewalt und Erzählung in den observierenden Blick des Lesers, zum anderen dieser selbst, da er die narrative Gewalt realisiert und so zum Gewalt ausagierenden Bestandteil des ästhetischen Lektüreprozesses wird.332 So öffnet der analytische Blick auf das ‚Wie?‘ der Gewalt die Perspektive auf deren entgrenzendes, eigendynamisches Wirkungspotential. Im Unmaking der Lucanischen Gewalt fallen somit Struktur und Auflösung zusammen zu einer Struktur der Auflösung. 332

Hinsichtlich der Repräsentation von Gewalt im modernen Theater weist Jürgen Wertheimer (2006: 24) auf ein ähnlich ästhetisches Moment hin: „Die eigenen Reaktionen beim Beobachten sollte man genau beobachten. Künstler geben genau diese Anleitung und Hilfestellung zum Sich-Beobachten beim Beobachten, zum Sich-beim-Zusehen-Zusehen.“

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Ästhetik und Zerstückelung: Marius Gratidianus 2.1

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Text und Übersetzung: Lucan. 2.173–193a quid sanguine manes placatos Catuli referam? cum victima tristis inferias Marius forsan nolentibus umbris pendit inexpleto non fanda piacula busto, cum laceros artus aequataque vulnera membris vidimus et toto quamvis in corpore caeso nil animae letale datum, moremque nefandae dirum saevitiae, pereuntis parcere morti. avulsae cecidere manus exectaque lingua palpitat et muto vacuum ferit aera motu. hic aures, alius spiramina naris aduncae amputat, ille cavis evolvit sedibus orbes ultimaque effodit spectatis lumina membris. vix erit ulla fides tam saevi criminis, unum tot poenas cepisse caput. sic mole ruinae fracta sub ingenti miscentur pondere membra, nec magis informes veniunt ad litora trunci qui medio periere freto. quid perdere fructum iuvit et, ut vilem, Marii confundere vultum? ut scelus hoc Sullae caedesque ostensa placeret agnoscendus erat. Was soll ich über Catulus’ Manen berichten, wie sie durch Blut besänftigt worden sind? Wie Marius als trauriges Tieropfer (175) für die Schatten, die das Totenopfer vielleicht (gar) nicht wollten, am unersättlichen Grab unaussprechliche Sühneopfer darbot; wie wir seine verstümmelten Gliedmaßen und seine Wunden sahen, die der Anzahl seiner Glieder entsprachen, und keinerlei tödliche Wunde am gesamten gleichwohl geschlachteten Körper und die grässliche Unsitte unsäglicher (180) Grausamkeit auf den Tod des Sterbenden hinauszuzögern. Abgetrennt fielen seine Hände zu Boden, die herausgeschnittene Zunge zuckte und schlug mit stummer Bewegung die leere Luft. Dieser schnitt ihm die Ohren ab, ein anderer die Flügel der gebogenen Nase, ein Dritter wand aus den hoh-

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi:10.1163/9789004379459_003

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kapitel 2

len Fassungen die Augäpfel und (185) entriss ihm, nachdem er seine Glieder betrachtet hatte, als Letztes das Augenlicht. Es wird kaum jemanden geben, der ein so grausames Verbrechen für wahr hält, dass ein einziges Haupt so viele Qualen erlitten hat. So werden durch die Wucht eines eingestürzten Gebäudes, unter dem gewaltigen Gewicht die gebrochenen Glieder durcheinandergebracht, und kein Rumpf, (190) der mitten im Meer unterging, gelangt entstellter an die Küsten. Was nützte es den Lohn für ihre Tat zunichte und das Antlitz des Marius, gleichsam wertlos, unkenntlich zu machen? Damit diese Freveltat und der augenfällige Mord Sulla gefiel, hätte es erkennbar sein müssen.

2.2

Kontext, Inhalt, Aufbau

In den ersten beiden Büchern des Bellum Civile werden dem Leser die drei ‚Hauptfiguren‘ der Handlung vorgestellt: zunächst Caesar (1.183–395 und 2.439– 525), an zweiter Stelle Cato (2.234–379) und schließlich Pompeius (2.526–649).1 Buch 1 und 2 weisen eine parallele narrative Struktur auf, wobei sich jeweils eine Unterteilung in sechs bis acht Haupteinheiten vornehmen lässt. Symmetrie und Parallelität bilden hierbei das kompositorische Hauptprinzip.2 Die zu untersuchende Textpartie – die Zerstückelung des Marius – ist im zweiten großen Abschnitt von Buch 2 angesiedelt (2.173–193a). Nach dem philosophischen Diskurs zur Frage, ob das geordnete Schicksal von Göttern gelenkt, oder ob die Geschichte der Menschen von reiner Kontingenz bestimmt sei (2.1–15), werden die Reaktionen der römischen Bevölkerung auf die sich anbahnende Katastrophe geschildert. Es herrschen panisches Durcheinander, Verzweiflung und Flucht. In diesem Kontext setzt ein anonymer Sprecher (aliquis, 2.67), bei dem es sich vermutlich um einen Greis handelt (vgl. parentes, 2.64; senectae, 2.65), an, die grausamen Zustände im vorigen Bürgerkrieg zwischen Marius und Sulla zu schildern (2.65–233). Die Darstellung der damaligen Ereignisse folgt im Zeitraffer: 2.100: 2.118: 2.119–121a:

Marius’ Einzug in die Stadt, wo das Morden hemmungslos um sich greift Zeitraum bis zu Sullas Wiederkehr Baebius’ Ermordung

1 Zur Reihenfolge der Aufzählung und deren Funktion vgl. Fantham 1992: 23–24. 2 Fantham 1992: 24–26.

ästhetik und zerstückelung: marius gratidianus

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2.121b–124a: Antonius’ Tod 2.124b–125: Zerstückelung der beiden Crassi durch Fimbria und Tod eines Tribuns 2.126–129: Scaevolas Tod 2.130–133: Marius’ siebtes und letztes Konsulat 2.134: Schlacht bei Sacriportus zwischen C. Marius dem Jüngeren und Sulla 2.135–138a: Schlacht an der Porta Collina zwischen Popularen und Samniten gegen Sulla 2.138b: Verlorene Schlacht der Römer am Caudinischen Pass 321 v. Chr. 2.139–144: Sullas Marsch auf Rom und seine überzogene Rache 2.145–159: Gewalt und Selbstmorde, die unter Bürgern und Familienmitgliedern begangen werden 2.160–165: Beispiellose Anzahl an Leichen, die dieser Bürgerkrieg gefordert hat 2.166–173: Leid der Angehörigen und persönliche Erfahrung des anonymen Sprechers In diesem Kontext setzt die Erzählung von der Folter des Marius ein (2.173– 193a).3 Dieser ist zum Grab des Catulus geschleppt worden und wird dort als Opfer (victima, 174; inferias, 175; piacula, 176) unter den Blicken der Öffentlichkeit an Körper und Gliedern verstümmelt. Allerdings wird ihm dabei keine tödliche Wunde zugefügt, sondern sein Tod vielmehr hinausgezögert (pereuntis parcere morti, 180). Dabei schneiden seine Peiniger ihm sowohl Hände und Zunge als auch Ohren und Nasenflügel ab. Zuletzt winden und reißen (evolvit, 184; effodit, 185) sie ihm die Augen heraus, jedoch erst, nachdem er einen letzten Blick auf seinen entstellten Körper geworfen hat. Es folgt ein Vergleich im epischen Stil mit Leichnamen, die durch einstürzende Gebäude oder die hohe See völlig verunstaltet werden. Mit der abschließenden Feststellung des Erzählers, dass die völlige Entstellung für Sulla keinen Zweck erfülle, endet die Erzählung. Insgesamt lässt sich die Textpartie in sieben Abschnitte unterteilen: 173b–174a: Einleitende Frage 174b–176: Thematisierung des Opfers 177–180: Thematisierung der Folter: Verstümmelung von Körper und Gliedern

3 Die Partie ist parallel zur Schilderung der Gründe für den Kriegsbeginn in Buch 1 (67–182) konstruiert und stellt einen Blick in die Vergangenheit dar.

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kapitel 2

181–185:

Explizite Gewaltdarstellung: Abhacken der Hände und Zunge, Entstellung des Gesichts 186–187a: Reflexion 1 des Erzählers 187b–190a: Vergleich: a) 187b–188: Gebäude b) 189–190a: Schiff 190b–193a: Reflexion 2 des Erzählers (als Frage)

2.3

Forschungsstand

Auf Grundlage der Erläuterungen zum Kontext, Inhalt und Aufbau der FolterPartie soll im Folgenden zunächst deren historischer Hintergrund beleuchtet werden, um in einem nächsten Schritt die aktuellen Tendenzen innerhalb der Forschungsliteratur aufzuzeigen. Hieraus ergeben sich schließlich Anknüpfungspunkte zur vorliegenden Untersuchung, die eine Annäherung aus vornehmlich ästhetischer Perspektive vorsieht. Es ist mehrfach beobachtet worden, dass es sich bei der Zerstückelung des Marius um eine in der römischen Antike weithin prominente politische Angelegenheit handelte.4 M. Marius Gratidianus, in der Erzählung des anonymen Sprechers lediglich ‚Marius‘ genannt, war Prätor des Jahres 87 v. Chr. und Neffe des berühmten Feldherrn und mehrmaligen Konsuls C. Marius, der sowohl Jugurtha als auch die Kimbern und Teutonen bezwungen hatte. Wie in den Eingangsversen angedeutet wird, stellte Rache für den Tod des Q. Lutatius Catulus das Tatmotiv dar: quid sanguine manes | placatos Catuli referam? (173–174).5 Den Commenta und Adnotationes zu V. 173 ist zu entnehmen, dass Catulus Selbstmord beging, nachdem er unter der Herrschaft des C. Marius auf die Proskriptionsliste gesetzt und von Gratidianus verfolgt worden war. Catulus’ Sohn, Q. Lutatius Catulus, soll daraufhin Sulla gebeten haben, Gratidianus hinrichten zu dürfen, um Rache für seinen Vater zu üben.6 In Bezug auf die agentes gibt es jedoch unterschiedliche Darstellungen der Ereignisse: Während die eine Catulus’ Sohn als Täter identifiziert, fußt die andere auf Ciceros fragmentarisch erhaltener Wahlrede zum Konsulat des Jahres 63 v. Chr. In toga candida (Cic.

4 Fantham (1992: 112): „The death of Marius Gratidianus was a major political issue.“ Zum historischen Hintergrund s. ebenda; Dreyling 1999: 84–85. 5 Vgl. Marshall 1985a: 125. 6 Usener 1869: 61–62; Endt 1909: 51–52. Beide nehmen wohl Sall. hist. frg. 14 (Maurenbrecher) als Grundlage; vgl. Gruen 1968: 232–234.

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toga cand. fr. 9 Pucc./15 Crawf. [= Ascon. p. 69,27 Stangl]) und Plutarchs SullaBiographie (Plut. Sulla 32.3–4). Demnach trennte nicht Catulus’ Sohn, sondern Catilina dem gefolterten Marius Gratidianus den Kopf ab und legte ihn nach Durchquerung der Stadt Sulla als Beweis seiner Tat vor. In der Forschung geht man inzwischen mehrheitlich entweder von einer gemeinsamen Täterschaft Lutatius’ und Catilinas oder der alleinigen des Lutatius aus.7 Sallust (Sall. hist. frg. 1.44), Livius (Liv. per. 88) und Valerius Maximus (Val. Max. 9.2.1) verzichten dagegen auf eine explizite Nennung des oder der Täter. In diese Richtung der Überlieferung gehört auch Lucan. Stattdessen liegt das Gewicht seiner Darstellung auf den ‚realistischen‘ Details der Folter, wobei keine der anderen Autoren bezüglich der Qualität der extremen Gewalt und ihrer literarischen Ausgestaltung Lucans Text gleichgesetzt werden könnte. Darüber hinaus stellen die Schilderungen von Q. Cicero (Q. Cic. pet. 10) und Seneca (Sen. ira 3.18.1 f.) Vermengungen der oben genannten Versionen dar.8 Unternimmt man den Versuch, in Bezug auf Lucans Folterpartie eine allen Forschungsbeiträgen gemeinsame Tendenz herauszuarbeiten, so gibt sich – wie bereits angedeutet – schnell ein einhelliges Urteil über die Ausmaße der dargestellten Gewalt zu erkennen: Die Zerstückelung des Marius am lebendigen Leib übersteigt jede bisherige literarische Gestaltung dieses historischen Ereignisses, und bildet innerhalb von Lucans Bürgerkriegsepos einen Höhepunkt der Brutalität und Grausamkeit – sei es physischer oder psychischer Art. Für Gotter beispielsweise bildet Gratidianus’ Folter „in Sachen expliziter Grausamkeit […] einen einsamen Höhepunkt“9 bis zur Schilderung der Schlacht bei Pharsalus. Ähnlich fällt die Beurteilung Fuhrmanns aus, der die Alleinstellung der Gewaltszene hervorhebt: „Unter den Einzelszenen ragt dort [d. h. innerhalb der Erzählung des anonymen Sprechers, V. 64–233] die grauenhafte Verstümmelung des Marius Gratidianus hervor (V. 173–187).“10 Fratantuono attestiert der Partie sogar ein in der bisherigen römischen Poesie noch nie erreichtes Maß an Gewalttätigkeit: „Gratidianus’ death is arguably more horrible than anything found before it in Latin verse.“11 Walters bezeichnet Marius’ Tod als „devastatingly unnerving for its victim – and, ultimately, for us as well.“12 Und auch Liscovitz konstatiert: „The description of Marius Gratidianus’ torture in Book 2

7 8 9 10 11 12

Den Anstoß hierfür lieferte vor allem Marshall (1985b); vgl. Marshall 1985a; Hinard 1986. Zur genaueren Darstellung der Überlieferungslage s. Dreyling 1999: 84–85. Gotter 2011: 57, Anm. 6. Fuhrmann 1968: 56, Anm. 89. Fratantuono 2012: 64. Walters 2013: 121.

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(2.174–190) is all the more perverse because his captors forced Marius to gaze upon his own desintegration.“13 Während über die extreme Darstellung der Gewalt weitestgehend Einstimmigkeit herrscht, lässt sich die Forschung in zwei Gruppen teilen. Erstens eine historische, zweitens eine philologische, die vornehmlich intertextuelle Bezüge herstellt sowie auch metapoetische Aspekte der Marius-Partie näher beleuchtet. Als stellvertretend für die historische Deutung dieser Verse können zum einen Marshall und Hinard herangezogen werden, die sich mit der Frage der Täterschaft beschäftigen.14 Hoffman, Lintott und Gruen hingegen richten ihre Aufmerksamkeit auf die im Text angedeutete Opferung des Marius (victima, 174; inferias, 175; piacula, 176) und deuten sie als Relikt des ehemals verbreiteten Rituals des Menschenopfers.15 Repräsentativ für den philologischen Zugang zum Text ist vor allem Conte mit seinem bemerkenswerten und richtungsweisenden Beitrag, in dem er insbesondere intertextuelle Bezüge aufzeigt.16 Die Beschreibung der abgeschnittenen Zunge des Marius (exectaque lingua | palpitat et muto vacuum ferit aera motu, 181–182) führt er beispielsweise auf Ovids Darstellung der Verstümmelung Philomelas zurück (palpitat et moriens dominae vestigia quaerit, Ov. met. 6.560). Zudem zeigt er Parallelen zu Senecas Tragödien auf (radice ab ima funditus vulsos simul | evolvit orbes; […] lacerat cavos | alte recessus luminum, Sen. Oed. 966–969; avolsae manus, Sen. Thy. 1038). Ähnlich zeigt Moretti etwa Lucans Gebrauch des Wortes anima (179), das jener in Opposition zu letale (179) setzt, und arbeitet so Gemeinsamkeiten und Differenzen zu einer Partie in Lukrez’ De rerum natura heraus (Lucr. 3.403–405):17 quamvis est circum caesis lacer undique membris truncus, adempta anima circum membrisque remota vivit et aetherias vitalis suscipit auras18 Contes und Morettis Ergebnisse, die das allgemeine Urteil über Lucans Sprache und poetische Technik bis heute bestimmen, bilden den Ausgangspunkt für

13 14 15 16 17 18

Liscovitz 2013: 25. Marshall 1985a; Hinard 1986. Hoffman 1959: 464; Gruen 1968: 232–234 Lintott 1968: 40, Anm. 2. Conte 1968: 224–253. Moretti 1985: 136–137. „Mag er, zerfetzt, mit überall rings verstümmelten Gliedern | leben als Rest mit rings beschnittnem, den Gliedern entzognem | Leben und den belebenden Hauch des Äthers genießen, […].“ (Übers. Büchner).

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weitere Beiträge.19 Weiterführend sind Palmers und Ambühls Beobachtungen. Palmer zeigt, dass Prudentius die Verse 177–178 des Bürgerkriegsepos aufgreift (quot membra gestat, tot modis pereat volo, Prud. perist. 10.880; tot ecce laudant ora, quot sunt vulnera, Prud. perist. 10.570).20 Ambühl deckt narrative Strukturen auf, die in ähnlicher Weise in Euripides’ Tragödie Hecuba zu finden sind. Durch den Botenbericht Hecubas wird der Leser über die Opferung Polyxenas am Grab des Achilles unterrichtet (Hec. 260–263): πότερα τὸ χρῆν σφ᾽ ἐπήγαγ᾽ ἀνθρωποσφαγεῖν πρὸς τύμβον, ἔνθα βουθυτεῖν μᾶλλον πρέπει; ἢ τοὺς κτανόντας ἀνταποκτεῖναι θέλων ἐς τήνδ᾽ Ἀχιλλεὺς ἐνδίκως τείνει φόνον;21 Die Rezeption der Marius-Partie bildet den Hauptgegenstand mehrerer philologischer Untersuchungen, wie z.B. die Willy Schetters.22 Er verweist auf die literarische Verarbeitung der Lucanischen Verse in Dracontius’ Orestis tragoediae (727–728). Sprachliche Parallelen und das Motiv des ‚lebendigen Leichnams‘ lassen sich insbesondere an den Versen 907–909 ablesen. Auch Zwierlein führt beispielsweise bei der Untersuchung des Waltharius-Epos und seiner lateinischen Vorbilder mehrere Textstellen auf Lucans Folterszene zurück.23 Trägt man zu Lucans Darstellung der Marius-Folter die Untersuchungen der letzten Jahre und Jahrzehnte zusammen, treten insbesondere drei Gesichtspunkte zutage. Zunächst findet die Partie in den meisten Fällen lediglich marginal oder gar nur in Fußnoten Erwähnung, wobei die literarische Ausgestaltung extremer Gewalt und außerordentlicher Grausamkeit häufig die Funktion eines Tertium Comparationis innerhalb einer weiterführenden Untersuchung übernimmt. In nur wenigen Fällen steht sie also im Zentrum des Forschungsinteresses. Zweitens wird die drastische literarische Gestaltung der Gewalt und Grausamkeit zwar einstimmig konstatiert (s.o.), jedoch als Faktum vorausgesetzt, das scheinbar keiner differenzierten Erläuterung bedarf. Freilich wird die Frage nach dem ‚Warum‘ bzw. ‚Wozu‘ der brutalen Darstellung der physischen und psychischen Gewalt gestellt. Fantham etwa meint: „The act serves to repre19 20 21

22 23

Beispielsweise Fantham 1992; Most 1992; Bartsch 1997; Dreyling 1999; Hodges 2004; Dinter 2010; Alexis 2011; Dinter 2012; Fratantuono 2012. Palmer 1989: 186; Ambühl 2010: 17–39. „Was it necessity that persuaded them to slaughter a human at a tomb where oxen are the fitter sacrifice? Or if Achilles wants to take revenge by killing those that killed him, is it just that he should aim at a girl’s death?“ (Übersetzung nach Ambühl 2010: 25). Schetter 1984: 127–128. Zwierlein 1970: 153–184.

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sent civil war and Sulla’s cruelty“,24 und prägt damit bis heute die Communis Opinio.25 Dagegen wurde, drittens, der Frage nach dem ‚Wie‘ hauptsächlich ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vermehrt nachgegangen. Was macht die Qualität der extremen Gewaltdarstellung aus? Inwiefern wirkt die Zerstückelung so grausam auf den Rezipienten (s.o. Walters)? Und inwiefern steht der Aspekt der Fragmentierung im Verhältnis zur narrativen Repräsentation? Zur Beantwortung dieser Fragen scheint vor allem ein ästhetischer Zugang zum Text geeignet zu sein, wie bereits Bartsch, Hömke und Walters in ihren Untersuchungen angedeutet haben.26 In Anknüpfung an Quints Beobachtungen weist Bartsch darauf hin, dass der Körper als Medium für Grenzüberschreitungen innerhalb des Bürgerkrieges zum Ausdruck kommt: […] the imagery of boundary violation becomes grimmer and more startling as human bodies are used as the medium for its expression. […] The ill-fated M. Marius Gratidianus, adopted member of the family of Sulla’s foe, povides the climax to this roll call of the truncated (2.181–190).27 Zudem stehen im Bellum Civile körperliche und narrative Zerteilung in einem bemerkenswerten Entsprechungsverhältnis, wobei der Erzähler Faszination und Befremden zugleich äußert.28 Hömke wirft einen Blick auf „Scaeva as a model for Lucan’s concept of aesthetisizing the horrific“29 und zieht die Textpartie des Marius zum Vergleich hinzu:

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Fantham 1992: 112. Vgl. etwa Zimmermann (2013: 293, 294): „Solche von der Folter begleiteten Exekutionen und Leichenschändungen wurden freilich in Rom mit gänzlich anderen Intentionen weitererzählt. Sie wurden in erster Linie kolportiert, um den Täter zu verurteilen. […] Seine [Sullas] Rache am Selbstmord des Catulus, die angeblich in allen Phasen der Folter ausgekostete Ermordung des Marcus Marius Gratidianus an dessen Grab, ist Sinnbild der Exzesse, die ein Bürgerkrieg mit sich bringt“; Dinter (2012: 47) sagt: „his [Marius’] total dismemberment stands in for the dissection of the Roman body in the future civil war and thus prefigures the downfall of the Roman Republic“; so besteht auch für Rohmann (2010: 8–9) eine zusätzliche Funktion darin, dass soziale Gruppen in ihrem Zugehörigkeitsgefühl gestärkt werden sollen. Der Bürgerkrieg scheint das adäquate Mittel zu sein, die Aristokratie als Opfer des Bellum civile zu codieren. Gotter (2011: 60–61) hingegen ist der Meinung, Lucan intendiere beim römischen Leser eine Evozierung des Pathos-Gefühls. Bartsch 1997: 18–19; Hömke 2010: 91–105; Walters 2013: 115–127; s. auch Quint 1993: 142–143. Bartsch 1997: 15–16. Bartsch 1997: 18, 39; vgl. Quint (1993: 147): „To portray history from the perspective of the lost republican cause and to counter the unifying historical fictions and narratives of imperial ideology, both bodies and poems must fall into pieces.“ Hömke 2010: 98.

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Down to the very last detail, his [Scaeva’s] physical destruction is strongly reminiscent of the torture of Marius Gratidianus in 2.173–193. […] Both victims not only lose their eyesight but also their eyes, both of their faces are disfigured beyond recognition, etc.30 Für sie sind sowohl das Herausreißen der Augen als auch die Dehnung des Sterbeprozesses, d.h. die Zeitspanne zwischen Leben und Tod, Bestandteile von Lucans „aesthetic of terror“.31 Walters wählt einen ästhetischen Zugang, um auf bemerkenswerte Weise aufzuzeigen, inwiefern bei Lucan und Lukrez Lesen und Sterben als deckungsgleich betrachtet werden können.32 Sinne bzw. Sinneswahrnehmung, die Körperlichkeit der lateinischen Poesie und die Rolle des Lesers bei der Lektüre stellen elementare Operatoren für seine Analyse dar. Die ästhetisch orientierten Untersuchungen sollen somit als Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit herangezogen werden. Einerseits deuten sie wichtige Aspekte an (Sinneswahrnehmung, Ästhetik des Textes, Rolle des Lesers etc.), andererseits werden auch hier weder Lucans Marius-Partie in das Zentrum der Analyse gerückt noch wird die Frage nach dem konkreten ‚Wie‘ der Gewaltdarstellung umfassend beantwortet. Die vorliegende Arbeit widmet sich im Folgenden diesem Forschungsdesiderat.

2.4

Interpretation

„Die Unmittelbarkeit von Gewalt, Tod oder Lust ermächtigt gerade deshalb, weil sie im Mittelbaren der Repräsentation fast verschwindet, die Potentiale der Einbildungskraft dazu, tätig zu werden. Wahrscheinlich ist diese Bodenlosigkeit des Sich-etwas-Einbildens überhaupt der Ort des Kunstwerks und seiner Ankunft bei uns. Der bodenlose Ort sind wir am Ende dann selber.“33 Die bisherige Durchsicht hat bereits gezeigt, dass sich bei wohl kaum einer Gewaltszene in Lucans Bürgerkriegsepos die Aspekte Gewalt als unmittelbares Phänomen, Repräsentation der Gewalt und force de l’ imagination bzw. Leserwirkung in so pointierter Weise beobachten lassen wie bei der Zerstückelung des Marius Gratidianus.34 Daher liegt es nahe, die Partie aus ästhetischer Perspektive genauer zu beleuchten. Um die Modalität der literarischen Verarbeitung 30 31 32 33 34

Hömke 2010: 99. Hömke 2010: 101; zur Beraubung des Sehvermögens s. insbesondere Franzen 2011. Walters (2013: 123): „[…] reading and dying overlap in remarkable ways.“ Grimminger 2000a: 23. Zu force de l’imagination vgl. etwa Montaigne Essais 1.21.

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von Gewalt zu erfassen, soll der Text also nicht im Kontext eines rationalmoralischen Diskurses gedeutet und begründet werden.35 Ähnlich verhält es sich mit der Untersuchung der Grausamkeit, die innerhalb von Lucans Folterszene einen wichtigen Bestandteil für das Bedingungsverhältnis zwischen Gewalt und Ästhetik darstellt, und in der bisherigen Forschung meist als selbsterklärendes Phänomen angesehen wird. Es entsteht sogar bisweilen der Eindruck, dass Grausamkeit häufig mit physischer Gewalt gleichgestellt wird.36 Daher soll im folgenden Kapitel auch der Versuch unternommen werden, sich der Grausamkeit aus ästhetischer Blickrichtung anzunähern. Ziel ist es, eine solche „ästhetische Aneignung“37 des Textes zu ermöglichen, Gewalt als ein selbstreferentielles Phänomen zu identifizieren. Gewalt verweist hierbei nicht auf etwas anderes, sie übernimmt keine Funktion innerhalb einer übergeordneten Sinnhaftigkeit, erst recht nicht wenn Römer gegen Römer in den Kampf ziehen.38 Gewalt, die jeglicher Finalität entbehrt, hat sich selbst und die Grenzenlosigkeit ihrer eigenen Potentialität zum Ziel.39 Die „reine Möglichkeit zu jeder Art Handlung“40 findet ihr Entsprechungsverhältnis in eben dieser Ästhetik der Gewalt, die den Leser geradezu überwältigt und erst anschließend zum Nach-Denken bewegt.41 Hierfür soll bei der Textanalyse in vier Schritten vorgegangen werden. 2.4.1 Gewaltkonstellation In der Folterszene des Marius Gratidianus sind sieben Gewaltaktanten erkennbar. Insbesondere der Blick auf das ‚Dritte‘ innerhalb der Gewalthandlung erweist sich für den ästhetischen Zugriff auf Lucans Text als nützlich.

175

35 36 37 38 39 40 41

quid sanguine manes placatos Catuli referam? cum victima tristis inferias Marius forsan nolentibus umbris pendit inexpleto non fanda piacula busto, cum laceros artus aequataque vulnera membris vidimus et toto quamvis in corpore caeso nil animae letale datum, moremque nefandae

GA33b GA2; GA33b V(d); V(d) GP(ind); [GA33c]; V(a) GT(z)

Vgl. Anm. 284 u. 285. Fantham (1992: 113–114): „Physical cruelty is compounded by mental sadism.“ Bohrer 1998a: 291. Vgl. Rohmann 2006: 120–121. Zum Begriff der autotelischen Gewalt vgl. Reemtsma 2008: 116–124. Zur Sinnlosigkeit der Gewalt als Voraussetzung für Grausamkeit s. Schaub 2009: 11–33. Goppelsröder 2009: 202. Vgl. Philippi 2006: 51.

ästhetik und zerstückelung: marius gratidianus 180

185

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dirum saevitiae, pereuntis parcere morti. avulsae cecidere manus exectaque lingua palpitat et muto vacuum ferit aera motu. hic aures, alius spiramina naris aduncae amputat, ille cavis evolvit sedibus orbes ultimaque effodit spectatis lumina membris. vix erit ulla fides tam saevi criminis, unum tot poenas cepisse caput. sic mole ruinae fracta sub ingenti miscentur pondere membra, nec magis informes veniunt ad litora trunci qui medio periere freto. quid perdere fructum iuvit et, ut vilem, Marii confundere vultum? ut scelus hoc Sullae caedesque ostensa placeret agnoscendus erat.

97 GA2 V(d)/GE(p) GA11; V(d); GA12; V(d) GT(z); GA13; GT(z); V(d) GT(z); V(d)

GA2 GA33a/b

Marius ist als patiens (GA2) zu klassifizieren. Zudem werden drei agentes explizit erwähnt: hic (GA11, 183), alius (GA12, 183) und ille (GA13, 184). Der Leser wird über die genaue Identität der Protagonisten im Dunkeln gelassen. Die historisch motivierte Frage nach dem konkreten agens, ob etwa Catilina oder Lutatius gemeint sein könnte (s.o.), ist im Kontext der vorliegenden Interpretation zu vernachlässigen. Die restlichen drei Figuren sind als participes zu deuten, die jedoch voneinander zu differenzieren sind: an erster Stelle der verstorbene Catulus als Schiedsrichter, dessen Manen durch das Opfer besänftigt werden sollen (GA33b) (manes […] Catuli, 173, 174); dann der anonyme alte Mann als Zeuge (GA33c). Allerdings war dieser bei dem Geschehen wohl nicht alleine anwesend, was durch vidimus (178) implizit ausgedrückt wird. Schließlich handelt es sich um die erste Person im Plural, sodass man von mehreren Menschen bzw. einer Gruppe ausgehen muss. Da diese sich jedoch – zumindest gemäß der Erzählung – nicht anders verhalten als der Erzähler selbst und dadurch auch keine differente Einwirkung auf die Gewalthandlung festzustellen ist, werden sie im Folgenden als eine (kollektive) Figur, d.h. als Zuschauer bezeichnet. Als letztes kann schließlich Sulla sowohl die Rolle der Macht bzw. des Gebieters (GA33a) zugewiesen werden als auch die des Schiedsrichters (GA33b). Marius erleidet als patiens sowohl physische als auch psychische Gewalt, ohne selbst auf irgendeine Weise aktiv in das Geschehen einzugreifen. Weder wirft er sich bereitwillig in die Wunden noch lässt der anonyme Bericht Maßnahmen zur Gegenwehr erkennen.42 Von einem Kampf oder einer Kraftprobe

42

Die Bereitschaft sich verwunden zu lassen stellt im Bellum Civile ein häufig zu beobachten-

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kapitel 2

des Willens ist an keiner Stelle die Rede. Es handelt sich um eine Darstellung eines rein passiven Erleidens von Gewalt (GE[p]).43 Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit des Lesers umso eindringlicher auf den Akt der Folterung, die Qualen und das Leid gelenkt. Durch die Fokussierung auf den patiens, seine erlittene Verstümmelung und die absichtliche, künstliche Verlängerung seines Lebens (nil animae letale datum, 179; pereuntis parcere morti, 180) wird deutlich, dass die Folter weniger das Töten, als vielmehr das Sterben zum Gegenstand hat.44 So erscheint auch der Umstand, dass der Leser bzw. der Zuhörer keine expliziten Informationen über den Eintritt des Todes erhält, durchaus plausibel.45 Bemerkenswert im Hinblick auf Marius und die narrative Akzentuierung des Leidens ist, dass je nach Fokalisierungsinstanz weder Schmerzen noch Emotionen zum Ausdruck kommen. Das heißt jedoch nicht, dass Marius (auf Ebene der fabula) nicht gelitten hätte und auch nicht, dass dies als Hervorhebung seiner Standhaftigkeit zu interpretieren wäre. An dieser Stelle sei ganz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um einen Botenbericht (vgl. quid […] referam, 174), genauer um eine homodiegetische Erzählung mit interner Fokalisierung der Erzählerpersona handelt, in dem die Schrecken des ersten Bürgerkriegs dem Volk ins Bewusstsein gerufen werden (2.65–233). Der alte Mann ist zugleich ein intradiegetischer Erzähler, da die Adressaten der Erzählung sich innerhalb der fiktiven Erzählwelt befinden. Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass der Sprecher lediglich eigene Gedanken ex eventu wiedergibt und keinen Zugang zu Marius’ Gedanken- bzw. Gefühlswelt hat.46

43

44 45

46

des Motiv dar, vgl. etwa 3.618–622: iam clipeo telisque carens, non conditus ima | puppe sed expositus fraternaque pectore nudo | arma tegens, crebra confixus cuspide perstat | telaque multorum leto casura suorum | emerita iam morte tenet; 4.561: percussum est pectore ferrum; 7.533: sed hinc iugulis, hinc ferro bella geruntur. Vgl. Metger bezüglich der Seeschlacht vor Massilia (1957: 26): „Der Dichter konzentriert die Darstellung nur auf einen Kämpfer, der Gegner wird entweder gar nicht genannt oder er bleibt in seiner Gestalt so unklar, dass er nicht als ebenbürtig angesehen werden kann. Lediglich der Getroffene steht im Blickpunkt, nicht mehr der Treffende.“ Vgl. Sofsky (1996: 88): „Auch wenn viele Torturen zuletzt mit dem Tod enden, ist die Folter keine Technik des Tötens, sondern des Sterbens.“ Folglich kann man Metgers These, dass Lucan den Tod zur Voraussetzung mache, nicht ohne Einschränkung folgen. Es ist zwar unstrittig, dass der Tod in den Gewaltdarstellungen des Bellum Civile nicht das Ziel ist. Bei einer Folterszene wie der vorliegenden, ist jedoch deutlich erkennbar, dass eine möglichst lange Erhaltung der Qualen und damit des Lebens angestrebt wird. Der vorzeitige Tod wäre als ‚Kunstfehler‘ anzusehen; vgl. Metger 1957: 29. de Jong (1991: 12) fasst diesen Aspekt unter den Begriff „restriction of access“. Zur Fokalisierung der gesamten Rede s. Ludwig 2014: 199–208.

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Die drei anonymen agentes (GA11, GA12, GA13) gehen bei der Zerstückelung des patiens grundsätzlich zielgerichtet vor und verwunden ihn wissentlich und überlegt (GT[z]). Dies wird zum einen an der systematisch anmutenden Vorgehensweise der Folter ersichtlich: die Zerstückelung des Marius ist zwar ein singulärer Akt von enormer Gewaltsamkeit, jedoch impliziert der Begriff mos (moremque nefandae | dirum saevitiae, 179–180) hierbei eine gewisse Gebräuchlichkeit und suggeriert einen rituellen Charakter der Tat,47 was auch Hoffman, Lintott und Gruen zu ihren Überlegungen veranlasst haben dürfte (s.o. Abschnitt 2.3). Darüber hinaus findet der Eindruck des klar strukturierten Ablaufs der expliziten Gewaltdarstellung (181–185) auf sprachlicher Ebene mit der auffallend klaren, parataktischen Syntax seine Entsprechung:48

185

avulsae cecidere manus exectaque lingua palpitat et muto vacuum ferit aera motu. hic aures, alius spiramina naris aduncae amputat, ille cavis evolvit sedibus orbes ultimaque effodit spectatis lumina membris.

Zusätzlich wirken die Täter durch ihre ‚Arbeitsteilung‘ überaus organisiert.49 Jeder scheint seinen eigenen Aufgabenbereich zu übernehmen, um die Zerstückelung des Hauptes effektiv zu gestalten. Umso befremdlicher und schockierender wirkt die Entgrenzung der Gewalt, die immer exzessivere Züge anzunehmen scheint. Sie findet ihren Höhepunkt im Herausreißen der Augen (GT[z]), nachdem Marius dazu gezwungen wurde, seinen eigenen zerschundenen Körper zu betrachten (spectatis […] membris, 185). In dem Folterprozess selbst ist ein Akt der Dehumanisierung angelegt, sodass keinerlei Rücksicht der agentes gegenüber dem patiens zu beobachten ist.50 Dies lässt sich etwa auch

47 48

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50

Vgl. Fantham (1992: 113): „mos is often used rhetorically by Seneca (cf. Tro. 298 […]) and by L.[ucan] to represent a single act as habitual.“ Die Verse 174–180 hingegen weisen deutlich einen hypotaktischen Satzbau sowie auch zahlreiche Partizipialkonstruktionen auf, sodass sie eher unübersichtlich und hektisch auf den Leser wirken. Vgl. Conte (1968: 234): „Ad ogni membro asportato dal corpo corrisponde nella struttura sintattica una proposizione a cui la seguente si coordina per asindeto: una semplice costruzione fatta di singoli elementi accostati di seguito l’uno all’ altro con la stessa ordinata fredezza con cui in successione sistematica ogni mutilatione è compiuta.“ Sofsky (1996: 93): „Die Depersonalisierung des Menschen ist in den Praktiken der Tortur selbst eingebaut. Daher der Gleichmut, mit dem der Schinder sein Werk verrichtet. Bedenken fechten ihn nicht an. Weil die Tortur das Opfer seiner menschlichen Vermögen beraubt, bleibt sie für den Täter folgenlos“; s.u. Abschnitt 2.4.3.

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an amputat (GT[z], 184) festmachen. Wie Dreyling bereits aufgezeigt hat,51 findet sich dessen Gebrauch eher im landwirtschaftlichen Kontext.52 Im Begriff amputare wird der Bezug zur Entgrenzung der Gewalt angedeutet, indem es beim Leser ein ‚härteres‘ Bild generiert. Gleichzeitig wird das Extreme der Darstellung durch den Eindruck systematischen und überlegten Vorgehens kontrastiert. Das strukturierte, systematische Vorgehen der agentes findet seine Entsprechung schließlich in der kompositorischen Struktur der Marius-Partie. Immerhin fällt die erste Erwähnung der agentes exakt in die Mitte der 20 Verse. V. 183 wird jeweils von neuneinhalb Versen eingerahmt. Bei der Erläuterung der participes soll zunächst auf die Rolle des Zeugen bzw. anonymen Sprechers (GA33c) eingegangen werden. Er ist zusammen mit einer Gruppe weiterer Personen (s.o.) durch indirekte Partizipation gekennzeichnet. Er ist Zuschauer (vidimus, 178) und greift nicht direkt in die Gewalthandlung ein (GP[ind]). Wie bereits erwähnt, ist die Gewaltdarstellung als homodiegetische Erzählung zu betrachten, d.h. der Sprecher ist ein Protagonist seiner eigenen Erzählung, sodass die Rolle des Zuschauers eng mit der des Erzählers verknüpft ist.53 Diese Verknüpfung ist bei der vorliegenden Untersuchung stets zu beachten und soll hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gewaltdarstellung kurz ausgeführt werden, bevor der direkte Bezug zur Gewaltkonstellation hergestellt wird. Der Leser hat vor allem in den Versen 181–185 den Eindruck, selbst bei der Folter anwesend zu sein und schlüpft mittels direkter Fokalisierung in die Rolle des Zuschauers. Dies ist auf die sehr geringe Mittelbarkeit der Erzählung zurückzuführen.54 Schließlich ist diese als zitierte direkte Rede markiert (inquit, 2.68), weist einen hohen Informationsgehalt auf und kann durchaus als szenische Darstellung bezeichnet werden. Zudem lässt sich ein häufiger Gebrauch des historischen Präsens innerhalb der expliziten Gewaltdarstellung beobachten: palpitat (182), ferit (182), amputat (184), evolvit (184), effodit (185). Der Leser bzw. fiktive Zuhörer wird auf diese Weise in die damalige Zeit zurückversetzt. Zugleich lässt sich die Wahl des historischen Präsens als Maßnahme des Sprechers zur Leserlenkung interpretieren, d. h. über Verringerung der narrativen Distanz. Die Gewalt wird erneut in besonderem Maße akzentuiert.55 Zwar verleihen sein Detailwissen und die Art seiner Berichterstattung

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Dreyling 1999: 88. Vgl. etwa Hor. epod. 2.13: inutilisque falce ramos amputans; s. auch ThLL 1.0.2020.25–67. Vgl. de Jongs Ausführungen zum ‚I-as-witness-narrator‘ (1991: 60). S. Martinez 2012: 50–66. De Jong (1991: 41): „Historic presents highlight actions which are thereby marked (by the speaker) as important or decisive.“

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dem Sprecher als Augenzeugen hohe Glaubwürdigkeit56 – da er als Bote allerdings auch die Erzählung fokalisiert,57 ist er in der Lage, die Repräsentation der Ereignisse seinen Vorstellungen entsprechend zu gestalten.58 Dies ist ebenfalls an proleptischen Hinweisen erkennbar, mit denen er den Ausgang der Folter ex eventu andeutet: quid sanguine manes | placatos Catuli referam? (173– 174), pereuntis parcere morti (180). Durch den Gebrauch proleptischer Verweise wird beim Leser eine nachdrückliche, zielbewusste Spannung erzeugt, indem der Ausgang der Geschichte in ihrer Darstellung bzw. auf Ebene der story bereits am Anfang angedeutet wird.59 Wieder wird die Aufmerksamkeit des Lesers nicht am ‚Was‘, sondern am ‚Wie‘ der (Gewalt-)Darstellung geweckt.60 Die Exposition des Botenberichts wird also durch die Ästhetik der Gewalt konstituiert.61 Zur Rolle des Zuschauers (GA33c) im Kontext der Folter: Während Marius’ Verstümmelung wendet der anonyme Sprecher seinen Blick nicht ab, sondern scheint die Amputation von Händen und Gesichtsteilen konzentriert und gezielt zu verfolgen. Er lässt sich von seinem Umfeld und der übrigen Menschenmenge, die sich zur gleichen Zeit am Ort des Geschehens befindet, 56

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Ludwig (2014: 203–204): „Während aliquis im vorigen Teil seiner Rede z. B. noch Marius zum Fokalisator machte, vermutet er in 174–177 nur, dass Catulus’ Schatten das Vorgehen der Mörder möglicherweise nicht recht war, und lässt den Schatten nicht selbst fokalisieren. Das zeigt, dass der sekundäre Erzähler zwar allwissend ist, bei den Geschehnissen, die sein früheres Ich miterlebt hat, aber die begrenzte Perspektive der Charakterfokalisation bevorzugt, die ihm einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit verleiht.“ Vgl. Ludwig (2014: 203): „Zum anderen hat der anonyme Sprecher die Folterung und Tötung des Marius Gratidianus beobachtet (173–191). Explizite Charakterfokalisation enthalten dabei die Verse 177–180, aber die Detailkenntnisse des Sprechers könnten nahelegen, dass auch der übrige Textabschnitt durch ihn fokalisiert wird.“ Vgl. de Jong 1991: VIII; Erdmann (1964: 179): „Der Bote erzählt das Geschehen chronologisch geordnet in der Reihenfolge, wie er es erlebt hat, interpretiert es jedoch – zu besserem Verständnis – ex eventu“; Kannicht (1969: 397–398) fügt hinzu, der Botenbericht sei „also zwar auch chronologisch genau, aber zugleich auch schon implizit oder explizit interpretierend.“ Chatman (1978: 60) prägte hierfür auch den Begriff des ‚foreshadowing‘; Wulff (1996: 2 u. 5) verwendet die Begriffe ‚cataphoric text elements‘ und ‚advance references‘; zu Spannung bei Lucan s.u. Abschnitt 5.4.4 Suspense. Dies korrespondiert mit dem zweimaligen Gebrauch des cum explicativum in V. 174 und 177. Kannicht (1969: 169) sagt zur Spannung im Botenbericht bei Euripides: „Der nächste Schritt ist dann, dass sie […] lapidar und schlagzeilenartig zusammenfassen, was sich Ergebnis und den Konsequenzen nach ereignet hat; dadurch wird in dem Adressaten (und im Zuschauer) die elementare Spannung auf das Was gelöst und in eine differenzierte Spannung auf das Wie des Ereignisverlaufs verwandelt und diese verwandelte Spannung wiederum ist die Exposition des eigentlichen Berichts.“

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nicht beeinflussen. Allein das Prädikat vidimus (177) markiert deren Anwesenheit. Obwohl der Sprecher mittels indirekter Fokalisierung negative Emotionen (tristis, 174) und moralische Verurteilung zum Ausdruck bringt (nefandae […] saevitiae, 179–180; saevi criminis, 186; scelus, 191), erzeugt die Neugierde und Konzentration des Augenzeugen auf Details wie beispielsweise das Zucken und stumme Schlagen der abgeschnittenen Zunge (palpitat et muto vacuum ferit aera motu, 182) einen ambivalenten Eindruck seines emotionalen Zustands. Sofsky bezeichnet diese als „die Wollust des Voyeurs, die Angstlust der Faszination“.62 Moralische Verurteilung und ästhetische Attraktivität stehen direkt nebeneinander ohne sich gegenseitig auszuschließen. So brutal und grauenvoll das Leid des Marius sein mag, für den Zuschauer stellt sie letztendlich ein Schauspiel dar.63 So ließe sich vielleicht auch die fehlende Schilderung bzw. Nachempfindung von Schmerz erklären (s. o. zur Rolle des patiens).64 Neben dem anonymen Sprecher lassen sich die manes Catuli als Schiedsrichter (GA33b) klassifizieren. In Abschnitt 2.3 ist erläutert worden, dass Catulus wohl auf Betreiben des Marius Gratidianus Selbstmord beging. Dieser Sachverhalt kommt im Text nicht explizit zur Sprache. Stattdessen wird lediglich in den Eingangsversen angedeutet, dass Catulus’ Manen durch Blut besänftigt worden sind: quid sanguine manes | placatos Catuli referam? (173–174). Da es sich bei der Folter des Marius um eine prominente politische Angelegenheit gehandelt haben dürfte, liegt die Schlussfolgerung jedoch nahe. Als vermeintliches Motiv für die Rache lässt sich also eine indirekte Partizipation (GP[ind]) an der Gewalthandlung ausmachen. Im Rückgriff auf Greimas’ ‚konventionelle‘ Figurenanalyse lässt sich die fehlende Zweckmäßigkeit der Folter beschreibbar machen.65 Begehrtes Objekt der Handlung ist die Beschwichtigung der Manen. Die Manen selbst können wiederum als Subjekt, das um das Objekt bemüht ist, und zugleich als Adressat der Gewalthandlung gedeutet werden. Jedoch mutet die Besänftigung von Catulus’ Manen im Verlauf der Gewaltdarstellung mehr und mehr als Vorwand für ein Verbrechen an, das der anfänglich so augenscheinlichen Legitimität entbehrt. Vor allem die Andeutung, dass die 62 63 64

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Sofsky 1996: 107. Dass die Entstellung des Hauptes für den Sprecher unbegreiflich und kaum zu fassen ist, zeigt sich in V. 186–187: vix erit ulla fides tam saevi criminis unum | tot poenas cepisse caput. Vgl. Trotha (1997: 29): „Der Schmerz ist nicht nur ein Vorgang der Verleiblichung. Er ist ein Vorgang der Vereinsamung. Körperlicher Schmerz ist eine Wirklichkeit radikaler Vereinsamung, weil der Schmerz nicht nachfühlbar ist.“ Außerdem: „Unsere reduzierte Beobachtersprache für den Schmerz ist die Folge des Umstandes, dass wir keinen Zugang zum Schmerz haben“; s.o. Anm. 149 auf S. 38. Vgl. Anm. 204 auf S. 54.

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Schatten das Opfer des Marius am Grab vielleicht gar nicht wollen ( forsan nolentibus umbris, 175), bringt die legitimatorische Grundlage der Folter ins Wanken. Folglich verlieren die Manen ihre Rolle als Subjekt und Adressat der Gewalthandlung, sodass weder an einer kausalen noch finalen Sinnhaftigkeit der Gewalt festgehalten werden kann. Eindeutigkeit in der Frage, ob die Manen nun besänftigt worden sind, besteht letzten Endes jedoch nicht, da in V. 176 das Grab durch das Attribut inexpleto (ungesättigt bzw. unersättlich) näher beschrieben ist.66 Der Leser bleibt also ungewiss. Aufgrund der eindeutig negativen Beurteilung der Szene gewinnt der Eindruck eines illegitimen scelus und mos nefandae saevitiae allerdings immer mehr an Stärke.67 Schließlich ist Sulla als letzter Vertreter der participes zu betrachten (GA33a/b). Auch er ist, ähnlich wie der verstorbene Catulus, indirekt an der Folter beteiligt (GP[ind]) und erfährt eine allmähliche Veränderung seiner Rolle. Anfänglich übernimmt er die Funktion des Schiedsrichters (GA33b), der über die Handlung entscheidet. Hinsichtlich seiner Verantwortung tragenden Rolle kann er zugleich als Macht (GA33a) bezeichnet werden. Er erteilt seinen Schergen, den agentes, die Erlaubnis und die Vollmacht, Marius zu zerstückeln, um so den Tod des Catulus zu rächen. Bereits in den vorangegangen Partien des Botenberichts steht Sulla als Macht hinter dem Morden und zahlreichen Leichen, die sein Rachefeldzug gefordert hat (2.139–173). Im Verlauf der Folterszene ändert sich, ähnlich wie bei den manes Catuli (GA33b), jedoch auch seine Funktion als Gewaltaktant. Mit den immer exzessiver werdenden Ausmaßen der Entstellung durch die Gewalttäter und der zunehmenden moralischen Verurteilung durch den Sprecher verliert die Gewalttat ihre ursprüngliche Zweckmäßigkeit. Bei der zweiten Reflexion des Erzählers wird der Zweifel an der überhandnehmenden Entstellung explizit ausgesprochen (190–193): 190

quid perdere fructum iuvit et, ut vilem, Marii confundere vultum? ut scelus hoc Sullae caedesque ostensa placeret agnoscendus erat.

Indem die agentes über ihre Befugnis und Zweck der Tat hinausgehen (quid perdere fructum iuvit; ut vilem), tritt Sulla gleichzeitig als Macht in den Hintergrund.68 Er kann den Mord wegen der entstellten Züge des Hauptes nicht 66 67 68

Zur Diskussion um inexpleto busto s. Fantham 1992: 112; Dreyling 1999: 85–86. Der Begriff saevitia ist in der lateinischen Literatur durchweg negativ konnotiert; vgl. Rohmann 2006: 24. Perdere fructum ist fokalisiert durch die Gewalttäter, s. Fantham (1992: 114): „L. [Lucan] applies perdere from the perverted viewpoint of the villain.“

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mehr bestätigen. Vielmehr ist er nun als eine Art ‚Initiator‘ zu bezeichnen, da ohne seinen Befehl zwar vielleicht keine Folter zustande gekommen wäre, er jedoch seinen Einfluss auf die Umsetzung eingebüßt hat. Die Gewalttat bzw. die Folter an sich tritt in den Vordergrund und gibt sich immer mehr als Selbstzweck zu erkennen.69 Es ist kein übergeordneter Sinn mehr auszumachen.70 Die Gewalt und ihre reine Potentialität haben die Zerstörung von Ordnung und die Beseitigung alles Vertrauten und Verstehbaren zu Folge. Die Sinnlosigkeit bzw. fehlende Finalität findet in der vorliegenden Szene insbesondere durch die in sich dynamisch veränderliche Gewaltkonstellation und „den prozessualen und konstitutiven Charakter“ der Gewalt ihren Ausdruck.71 Als ästhetisches Phänomen wird die Gewalt vor allem durch ihre Selbstreferentialität dem Rezipienten vor Augen geführt. 2.4.2 Körper Welche Rolle spielt Marius’ Körper im Hinblick auf das Bedingungsverhältnis von Ästhetik und dargestellter Gewalt? Zur Beantwortung dieser Frage sollen zunächst (1) Aussagen zur allgemeinen Darstellung des Körpers gemacht werden, um in einem zweiten Schritt (2) konkret auf dessen einzelnen Bestandteile einzugehen. (1) An erster Stelle steht die Beobachtung, dass der Körper und all seine Gliedmaßen in den Versen 173–193a bis auf eine einzige Ausnahme (membris, 185) nur im Kontext der Verwundung anzutreffen sind.72 Marius’ Verletzungsoffenheit wird dem Leser mit enormer Eindringlichkeit vor Augen geführt. Ohne Wunde kann der gefolterte Körper in dieser Partie nicht gedacht werden. Dieser Sachverhalt wird nicht nur auf semantischer bzw. lexikalischer, sondern auch auf syntaktischer Ebene umgesetzt. So wird der Körper (oder dem entsprechenden Wortfeld zuzuweisende Begriffe) stets entweder durch den Gebrauch von Attributen oder Prädikativa erweitert und näher beschrieben oder er bildet als Akkusativobjekt das direkte Objekt des Prädikats und wird damit unmittelbar mit der Gewalthandlung in Verbindung gebracht:

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Dieser Selbstzweck ist auch sentenzhaft ausgedrückt in Lucan. 2.109: sed satis est iam posse mori. Staudigl (2015: 152): „Die Gewalt ist, […], ein Anspruch ohne Anspruch. Sie realisiert Sinn durch die Zerstörung von Sinn.“ Vgl. Sartre (2005: 313): „Sobald die Gewalt anerkannt werden will, kann sie es nur durch Gewalt erreichen. Man übt also Gewalt auf den anderen aus, um ihn zu zwingen anzuerkennen, wie wohlbegründet die Gewalt ist.“ Trotha 1997a: 22. Hierauf wird weiter unten in Abschnitt 2.4.4 näher eingegangen.

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laceros artus (177) – aequataque vulnera membris (177) – in corpore caeso (178) – avulsae manus (181) – exectaque lingua (181) – aures […] amputat (183/184) – spiramina […] amputat (183/184) – evolvit […] orbes (184) – effodit […] lumina (185) – poenas cepisse caput (187) – fracta […] membra (188) – nec magis informes […] trunci (189) – confundere vultum (191). Der Fokus der Verwundung liegt jedoch nicht auf dem Körper als Ganzen, sondern etwas mehr auf den Gliedmaßen und am deutlichsten auf den Sinneswerkzeugen, die eine wortwörtlich gemeinte ästhetische Wahrnehmung (αἴσθησις) der Welt ermöglichen.73 Dabei scheint die Erzählung der Ereignisse mit dem Blickverlauf des Zuschauers während der Zerstückelung zu korrespondieren. Der Leser bzw. fiktive Zuhörer nimmt scheinbar die Perspektive des Erzählers für kurze Zeit ein und verfolgt die Gewalttat bzw. das Gewalterleiden in derselben Abfolge, wie sie sich für eben jenen in der Situation ergeben hat. Hierbei ist eine sukzessive Differenzierung der Verwundung vom Gesamteindruck zum Einzelnen zu erkennen. Zum einen gewinnt die Darstellung der Gewalt durch ein solches Zoom In eine höhere Aufmerksamkeit, zum anderen wird auf subtile Weise die ‚Konstruiertheit‘ des menschlichen Körpers dem Leser vor Augen geführt. Zunächst geraten die verstümmelten Glieder (177) und der Körper im Ganzen (178) in den Blick. Die Erläuterungen zu Qualität und Quantität der Verletzungen sind vage gehalten. Daraufhin werden die schon deutlich genauer beschriebenen herabfallenden Hände (181) und die am Boden noch zuckende Zunge (182–183) wahrgenommen, sowie zuletzt die explizite Amputation der Sinneswerkzeuge: Ohren, Nasenflügel und Augen (183–185). Ab der ersten Reflexion des Erzählers bis zum Ende der Partie (186–193a) gibt der Erzähler den Körper nun in mehr oder weniger chiastischer Anordnung wieder, d.h. von kleineren zurück zu größeren Bestandteilen: erst das Haupt (187), dann die Glieder (188) und anschließend den Rumpf (189).74 (2) Diese Befunde führen zu der Frage, wie die verschiedenen Bestandteile des Körpers im Einzelnen literarisch gestaltet sind. Der Fokus wird hierfür auf (a) das Blut, (b) Marius’ Haupt und (c) die Verstümmelung seiner Sinnesorgane gerichtet.

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Demnach wird der Körper als Einheit an sich lediglich einmal verwendet: toto […] in corpore caeso (178). Die Erwähnung des Gesichts (vultum, 191) lässt sich allerdings nicht sinnvoll in diese Reihe integrieren. So deutet sich bei der Anordnung der einzelnen Körperteile an, dass man eher von einem kompositorischen Schema ausgehen muss, als von einem durch akribische Genauigkeit gekennzeichneten Modell.

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(a) Gleich zu Beginn der Marius-Partie wird der Leser in seiner Erwartung auf das gewalttätige Treiben ausgerichtet. Denn mit Blut (sanguine, 173) werden Catulus’ Manen besänftigt. Die Erwähnung des Blutes ist vornehmlich als Vorhalt zu kategorisieren, indem es als eingestreuter ‚Keim‘ (franz.: germe) im Verlauf der Erzählung ‚aufgeht‘, d.h. zunehmend an Bedeutung gewinnt und sich später als Leitgedanke der Partie identifizieren lässt.75 Der Gebrauch von sanguis scheint zunächst etwas zu irritieren, da eigentlich cruor im lateinischen Sprachgebrauch viel eher das vergossene, aus dem Körper tretende Blut bezeichnet.76 Im Kontext der Folterszene jedoch bringt der Begriff sanguis, der das zirkulierende, ungeronnene Blut beschreibt und eine starke Assoziation mit dem Leben hervorruft, den grausamen ‚Zweck‘ der Gewalttat deutlicher zum Ausdruck.77 Schließlich geht es den agentes bei der Verstümmelung um eine möglichst lange und qualvolle Erhaltung des Lebens, die in einen eigenständigen Grenzbereich des Sterbens mündet. Diesem Aspekt wird also mit sanguis in besonders anschaulicher Weise Ausdruck verliehen.78 (b) Im Folgenden soll der Blick auf die Entstellung des Hauptes (caput, 187; vultum, 191) gerichtet werden. Dem Text ist zu entnehmen, dass Marius’ Kenntlichkeit durch die völlige Entstellung seines Gesichts zerstört wird (quid […] | iuvit […] Marii confundere vultum?, 190–191; ut scelus hoc Sullae caedesque ostensa placeret | agnoscendus erat, 192–193). Ebenso vermutet der Erzähler, dass es kaum jemanden geben werde, der glauben könne, dass ein einziges Haupt so viele Qualen bzw. Strafen erlitten habe (vix erit ulla fides tam saevi criminis, unum | tot poenas cepisse caput, 186–187). Somit dürfte ihm ähnlich wie den vielen Leichen in der vorausgegangen Partie des Botenberichts (2.157–173) keine standesgemäße Bestattung zuteilwerden. Immerhin wäre hierfür, wie Dinter richtig bemerkt, die Anfertigung einer Totenmaske nötig, die ihm das Gedenken der Nachfahren sichern würde.79 Ähnlich wie im Fall von sanguis

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Genette 2010: 46; Barthes (1966: 7): „L’âme de toute fonction, c’est, si l’on peut dire, son germe, ce qui lui permet d’ensemencer le récit d’un élément qui mûrira plus tard, sur le même niveau, ou ailleurs, sur un autre niveau“; vgl. zur narrativen Funktion von sanguis Abschnitt 2.4.4. Vgl. Hor. carm. 2.1.4–5: arma | nondum expiatis uncta cruoribus. Vgl. Cic. Att. 4.18.2.1–3: amisimus […] sucum ac sanguinem; Tac. ann. 12.47.2: mox, ubi sanguis in artus [se] extremos suffuderit, levi ictu cruorem eliciunt atque invicem lambunt. Hier wird ferner der Kontrast zu cruor hervorgehoben. Zudem findet das Eintreten des Todes im Text überhaupt keine Erwähnung, sondern wird vom Leser realisiert. Dinter (2010: 186): „Darüber hinaus streicht Lucan die Tatsache heraus, dass das Gesicht des Marius unkenntlich gemacht wird (190ff.): Keine Totenmaske wird stolz in Beerdigungsprozessionen mitgeführt werden und sein Andenken bewahren.“

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lässt sich anhand der Erwähnung von caput und vultum die äußerst komplexe Zeitstruktur des Botenberichts aufzeigen. Es handelt sich bei der Erzählung um einen Blick in die Vergangenheit, der jedoch proleptisch den erst in der Entstehung begriffenen Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius ankündigt. Der Botenbericht weist also eine allzeitliche Struktur auf, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft impliziert.80 Dies korrespondiert mit den inter- bzw. intratextuellen Bezügen einerseits auf Priamus, der enthauptet und unkenntlich gemacht an Trojas Strand lag (Verg. Aen. 2.557–558: iacet ingens litore truncus, | avulsumque umeris caput et sine nomine corpus), andererseits auf Pompeius’ brutale Enthauptung und die anschließende Konservierung seines Kopfes, die an späterer Stelle im Bellum Civile geschildert wird (Lucan. 8.674– 691).81 (c) Bei der Folterszene wird die Aufmerksamkeit des Lesers unverkennbar auf die Amputation der Sinneswerkzeuge gelenkt, was für Marius der Verlust der ästhetischen Zugangsweise zur Welt bedeutet.82 Es wird deutlich, dass Gewalt „Inbegriff sinnlicher Erfahrung“ ist.83 Dies stellt eine gemeinsame Schnittmenge zum einen ihrer literarischen Gestaltung in Lucans Bürgerkriegsepos zum anderen der Befunde in wissenschaftlichen Bereich der Soziologie dar.84 Die Verse 181–185 unterscheiden sich vor allem auch im Hinblick auf den syntaktischen Aufbau von der vorausgehenden Passage (174–180). Demnach ist ein auffällig übergangsloser Wechsel von einer recht komplexen, hypotaktischen zu einer sehr übersichtlichen, parataktischen Satzstruktur zu beobachten (vgl. Abschnitt 2.4.1), wodurch die Verstümmelung der Sinnesorgane in ihrer Bedeutung für die Gewaltszene hervorgehoben wird. In diesem Kontext werden zunächst die Hände genannt. Ihre Art der Verwundung tritt dem Leser etwas anschaulicher vor Augen als die zerfetzten Glieder (laceros artus, 177) und der geschlachtete Körper (in corpore caeso, 178): abgetrennt fielen sie zu Boden (avulsae cecidere manus, 181). Dies stellt, wie in der Forschung

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So ist es auch kaum möglich ihn mithilfe narratologischer Kategorien begreiflich zu machen. Genette (2010: 50) führt als weniger befriedigende Vorschläge „retrospektiver Vorgriff“ oder „antizipierter Rückgriff“ an. Vgl. Fantham 1992: 114; s. auch Dinter (2006: 186): „Weiter ruft das Bild seiner verunstalteten Leiche hier zum einen Priamus’ enthaupteten Leichnam am Strande Trojas in Vergils Aeneis ins Gedächtnis und lässt zum anderen ebenfalls den Leichnam des Pompeius am Strande Ägyptens vorausahnen.“ Conte (1968: 234): „Il corpo messo in pezzi è visto come una totalità data dai cinque sensi, o meglio dalle singole cinque membra sensorie […].“ Trotha 1997a: 26. Vgl. Trotha 1997b; Sofsky 1996.

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bereits häufig festgestellt wurde, ein prominentes Motiv sowohl bei Lucan als auch darüber hinaus im römischen Epos dar.85 Daraufhin kommt der Erzähler auf Marius’ Zunge zu sprechen. Deren Verletzung wird nun im Verhältnis zu den anderen Körperteilen (abgesehen von den Augen) sehr viel anschaulicher beschrieben. Hierbei muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich nicht um die explizite Beschreibung der Verwundung handelt, sondern vielmehr um deren Nachwirkung. Aus dem Mund herausgeschnitten zuckt sie noch und schlägt mit stummem Schlag die leere bzw. geräuschlose Luft (exectaque lingua | palpitat et muto vacuum ferit aera motu, 181–182). Diese Verse sind stark ästhetisiert. In Anbetracht dessen, dass in V. 181–185 die Erzählzeit mit der erzählten Zeit weitestgehend übereinstimmt, wird durch diese kurze Ekphrasis der Zunge ein ganz leicht vernehmbarer Kontrast zum Rest der Gewaltdarstellung bewirkt. Keineswegs kann hier von Zeitdehnung die Rede sein, doch der Leser oder fiktive Zuhörer erhält den Eindruck, dass der homodiegetische Erzähler seinen Blick für eine kurze Zeit vom gefolterten Körper abwendet und mit einer gewissen Faszination und Neugier diesen ästhetischen Augenblick verfolgt.86 Muto […] motu und vacuum […] aera verweisen in bemerkenswerter Weise auf die Geräuschlosigkeit der kurzen Szene. Das gesamte Bewusstseinsfeld des Zuschauers ist voll und ganz auf diesen Moment des „absoluten Präsens“ gerichtet.87 Raum und Zeit scheinen sich auf die zuckende Zunge zusammenzuziehen. Sie ist nicht nur Ausdruck extremer Gewalt, sondern trägt in beträchtlichem Maße zu Marius’ Dehumanisierung bei, indem sie als Mittel zur Kommunikation versagt und die eigene Verortung in einer sozialen Welt unmöglich wird.88 Die hier angedeutete Sprachlosigkeit könnte als Argument für die große textliche Nähe zu den Händen angeführt werden: Cicero belegt Marius’ Tätigkeit als Redner (Cic. Brut. 223). Folglich nehmen das Abhacken der Zunge und Hände, die für den römischen

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3.611–612: sed eam [manum] gravis insuper ictus | amputat; 5.252: tot raptis truncus manibus; 6.176: amputat ense manus; bemerkenswert: 3.668: a manibus cecidere suis; vgl. Dreyling (1999: 87): „der Ausdruck manus cadit /-unt ist in dieser oder ähnlicher Form seit Lucr. 3,651 belegt“; s. auch Verg. Aen. 6.33: cecidere manus; vom Klang her ähnlich sind Ov. met. 5.109: Phinea cecidere manu; und auch Sen. Thy. 1038–1039: abscisa cerno capita et avulsas manus | et rupta fractis cruribus vestigia. Auf die intertextuellen Bezüge zu Ovid met. 6.556ff. wurde bereits in Abschnitt 2.3 eingegangen; vgl. Lebek 1976: 297–302; Dreyling 1999: 87. Zum Schrecken und seiner unmittelbaren Verknüpfung mit der ihn prägenden Zeitdimension vgl. Bohrer 1994. Zur Dehumanisierung s.u. Abschnitt 2.4.3. Zur genaueren Untersuchung der Sprachlosigkeit s. Abschnitt 2.4.4.

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orator schließlich die wichtigsten Werkzeuge darstellten, um eine Rede halten zu können,89 deutlich Bezug auf die historische Existenz des Gefolterten.90 Nach der kurzen Ekphrasis der herausgeschnittenen Zunge nimmt die Erzählung wieder an Geschwindigkeit zu. Die agentes schneiden dem Gefolterten Ohren und Nase ab (hic aures, alius spiramina naris aduncae | amputat, 183– 184). Dass Sulla Marius die Ohren abschneidet, ist auch bei Livius belegt (Liv. per. 88: [Sulla] Marium […] auribus praesectis et oculis effossis necavit). Als literarisches Motiv im Allgemeinen ist die Abtrennung der Ohren bei Seneca und Plautus zu finden (Sen. ira 3.17.3; Plaut. Cist. 383).91 Im Gegensatz zur literarischen Gestaltung der Ohren kann der Darstellung der Nasenflügel eine generische Anschauung attestiert werden, d.h. es handelt sich hier um die Vermittlung eines vagen Bildes durch die Kombination des selten gebrauchten spiramina mit naris aduncae.92 Die Verwendung von spiramina im Bellum Civile im Zusammenhang mit Winden oder dem Windhauch macht die vorgelegte Übersetzung mit ‚Nasenflügel‘ insofern plausibel, als beim Leser eine gewisse Assoziation mit Luftzug oder Lufthauch hervorgerufen wird. Lucans Sprachgebrauch lässt an dieser Stelle jedoch freien Raum zur Interpretation. Abgesehen von dem grobschlächtigen Begriff amputat (s. Abschnitt 2.4.1) entbehrt die Gewaltdarstellung ansonsten brutaler Bilder oder abstoßender Ekphraseis. Allerdings wurde die Verstümmelung von Ohren und Nasen im Zusammenhang mit den Händen gewöhnlich nicht – wie im Fall des Marius – am lebenden Menschen, sondern am bereits toten Körper vorgenommen und ist Bestandteil eines aus dem Altertum überlieferten Rituals: des Akroteriasmos.93 Dem Leser bzw. fiktiven Zuhörer wird so die Gleichzeitigkeit des lebenden und doch bereits geschlachteten Körpers ins Bewusstsein gehoben.94 Im Prozess der Folter verweilt Marius in einem bemerkenswerten Grenzbereich, der sich durch 89 90 91 92

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Vgl. Quint. inst. 11.3,65–136; Cic. orat. 59; vgl. Dinter 2006: 186. Dies ist nicht ungewöhnlich in der römischen Literatur, vgl. Fuhrmann 1968. Vgl. Dreyling 1999, 87–88. Der Begriff spiramen wird in der Dichtung zwar seit Ennius gebraucht, allerdings in abgeänderter Form und äußerst selten; vgl. Dreyling 1999: 88. In Lucans Werk ist er lediglich zwei weitere Mal zu finden: 6.90 und 10.247. Das im Singular stehende naris bezeichnet eigentlich das Nasenloch, wird an dieser Stelle jedoch wohl dem Ausdruck nasus vorgezogen, wie in der gehobenen Dichtung üblich; vgl. Adams 1980: 55–56; Dreyling (1999: 88) sieht unter anderem in Lucans Junktur spiramina naris einen Verweis auf Enn. ann. 222 SK: Sulpureas posuit spiramina Naris ad undas. Vgl. Fuhrmann 1968: 38; Lebek 1976: 297–302; Fantham 1992: 113; eine Beschreibung des Akroteriasmos findet sich auch in Verg. Aen. 6.494–497: Atque hic Priamiden laniatum corpore toto | Deiphobum vidit, lacerum crudeliter ora, | ora manusque ambas, populataque tempora raptis | auribus et truncas inhonesto vulnere naris. Fantham (1992: 113) verweist auf Gemeinsamkeiten mit Lucr. 3.403–405: quamvis est cir-

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beständige Desintegration von Leben und Tod konstituiert: dem des Sterbens (pereuntis, 180).95 Nach Goppelsröder: Die so auf Permanenz gestellte Folter zwingt ihr Opfer in einen Zustand des ewig aufgeschobenen Menschseins, der fortgesetzten Suspension, des endlosen Nicht-Zustands.96 Die Eigenbeständigkeit dieses Grenzbereichs zwischen Leben und Tod konstatiert auch Hömke in ihrer Analyse der Scaeva-Episode: The focus rests on the process of dying. Dying is not only the transition from life to death but also an independent, artificially-expanded special condition of human existence.97 In bemerkenswerter Weise korrespondiert das Sterben als von Leben und Tod „unabhängige Bedingung der menschlichen Existenz“ mit der Struktur des Erzählraums. Das Grab (busto, 176) nämlich lässt sich als räumlicher Grenzbereich zwischen Leben und Tod deuten, innerhalb dessen sich die Handlung, d.h. die Zerstückelung des Marius Gratidianus, konstituiert.98 Es stellt somit weniger einen Ort des Todes dar, sondern wird vielmehr in seiner Funktion als Ort des bereits eingetretenen Todes ‚aufgeschoben‘. Das Grab erscheint als Ort des Sterbens. Schließlich reißt der dritte agens Marius’ Augen heraus. Dies stellt die letzte und in ihrer Wirkung eindrücklichste Gewalttat dar, die den Zweck verfolgt den Gefolterten seiner αἴσθησις zu berauben. Diese Maßnahme wird durch ihre Letztposition innerhalb der Gewaltdarstellung zusätzlich hervorgehoben. Der Akt der Verwundung wird explizit dargestellt und im Gegensatz zu den bisherigen Amputationen vermeintlich in zwei Schritten vollzogen (zur narrativen Unschärfe s.u. Abschnitt 2.4.4). Zunächst windet der letzte der Peiniger die Augäpfel bzw. die runden Augenkörper mit einer drehenden Bewegung aus ihren Höhlen (ille cavis evolvit sedibus orbes, 184). Daraufhin wird Marius, nachdem er seine Glieder noch einmal in den Blick genommen hat, endgültig seines

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cum caesis lacer undique membris; | truncus adempta anima circum membrisque remota | vivit et aetherias vitalis suscipit auras.; s. Anm. 18. S.o. zum Gebrauch von sanguis (statt cruor). Goppelsröder 2009: 203; Lotmans Modell der Semiosphäre ist hier beinahe mit Händen zu greifen. Hömke 2009: 100. Lotman (1993: 332): „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.“

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Augenlichtes entledigt (ultimaque effodit spectatis lumina membris, 185). Es ist offensichtlich, dass der Erzähler ähnlich wie bei der Abtrennung der spiramina naris aduncae sehr viel Freiraum für die Leserimagination lässt. Die Amputation der Augen ist aufgrund von Mehrdeutigkeiten auf lexikalischer99 und syntaktischer100 Ebene äußerst vage gestaltet. Auch Fantham verweist auf die zahlreichen Anspielungen. Und ihre Feststellung, dass Lucan bei der Folterszene regen Gebrauch von „allusive and symbolic language“101 macht, trifft wohl am meisten auf diese beiden Verse zu. Das hat zur Folge, dass die deutschen herausgegebenen Übersetzungen ein sehr breites Spektrum an Variantenvielfalt aufweisen, wobei Dreyling eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Auffassungsmöglichkeiten darlegt.102 Letztendlich bleibt eine eindeutige Festlegung auf eine einzige Lösung unmöglich. Was jedoch die Einzelszene in so einzigartiger Weise grausam erscheinen lässt, ist nicht nur die physische Brutalität, die beim Herausreißen der Augen angewandt wird – ganz davon abgesehen, in welcher Reihenfolge oder ob die Amputation überhaupt in einer oder zwei Schritten vorgenommen wird – sondern auch die psychische Gewalt, indem Marius Augenzeuge seiner eigenen Verstümmelung wird (spectatis lumina membris, 185).103 Franzen weist bezüglich des Ausdrucks lumina darauf hin, dass die Grausamkeit der Darstellung insbesondere aus der wortwörtlichen Ästhetisierung der Gewalt resultiert: Indeed, the ability to see and understand fully what is a great power, and, as the poet draws attention to the noun [lumina], here, we, as readers, are brought closer to the experience of Marius as he watches his body disintegrate and fully understands that this disintegration is a spectacle of his own death. In fact, lumina can indicate someone or something conspicuous for excellence, brilliance of renown or luster, and the death we

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Vgl. orbes (Augen, Augäpfel), effodere (ausgraben, ausstechen, auskratzen, herausreißen, etc …) und lumina (Augen, Augenlicht, Augäpfel). Vgl. -que (epexetisch bzw. in der Art einer Apposition aufzufassen), spectatis membris (finaler Sinn). Fantham 1992: 112. Vgl. Dreyling 1999: 88–89; auch ein Blick auf die literarischen Vorlagen bzw. intertextuelle Bezüge bringt diesbezüglich keine Sicherheit; vgl. Sen. Oed. 955–957; 965–970; Ov. met. 13.561–564; Lucr. 3.408–415. Fantham (1992: 113): „Only L.[ucan] has the perverse motivation of saving them [the eyes] to witness his own mutilation.“ Liscovitz (2013: 25): „It is a fate worse than death to watch one’s body reduced to a mass of gore and severed limbs, a template for the horrors of civil war.“ Im Übrigen ist die Betrachtung der eigenen Glieder bei Lucans literarischen Vorbildern kein Thema.

112

kapitel 2

witness here with Marius is conspicuous as an exemplum of a particularly cruel and gruesome death. Marius becomes a spectacle to those who are killing him, to himself and to the wider audience of readers. The audience sees his eyes dug out while he sees and understands what is happening to him. This makes the particularly gruesome insight all the more spectacular.104 Hier zeigt sich, dass es nicht nur die Ästhetik der Gewalt, sondern auch umgekehrt die Gewalt der Ästhetik ist, die beim Leser das Grauen schafft. Selbstreferentialität als ästhetische Kategorie spielt in diesem Kontext eine entscheidende Rolle. Marius’ zerfetzter Körper richtet sich durch seine letzte visuelle Wahrnehmung gegen den Sterbenden selbst, bevor diesem der ästhetische Zugang zur Außenwelt zusammen mit dem Augenlicht vollkommen entrissen wird.105 Die Ergebnisse der Untersuchung des Körpers lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zunächst vollzieht sich Gewalt vor allem am Körper. Dessen Verletzungsoffenheit wird dabei vor allem durch die literarische Gestaltung einzelner Körperbestandteile zum Ausdruck gebracht. So wird beim Leser durch den Einsatz narrativer Techniken wie beispielsweise das Zoom In der Eindruck einer regelrechten Konstruiertheit bzw. Objekthaftigkeit des menschlichen Körpers erweckt. Wie im Verlauf der Folterszene aufgezeigt werden konnte, vollzieht sich die Folter insbesondere an Händen, Zunge, Ohren, Nase und Augen, sodass die Gewalt umso mehr als Inbegriff sinnlicher Erfahrung gedeutet werden kann. So hilft ein von der sinnlichen Wahrnehmung ausgehender ästhetischer Zugang zum Text dabei, das ‚Wie‘ der Gewalt und der Grausamkeit, die die Marius-Partie beherrscht, besser nachvollziehen zu können. Aus Marius’ Verlust seiner ästhetischen Bezugnahme zur Welt (im engeren Sinne von αἴσθησις) resultiert eine Grenzerfahrung des Sterbens, die weder dem Leben noch dem Tod zugeordnet werden kann und sich zudem in der Struktur des literarischen Raums widerspiegelt. Bei der Untersuchung der Augen-Amputation ergab sich, dass nicht nur die Ästhetik der Gewalt, sondern auch die Gewalt der Ästhetik eine entscheidende Rolle für die nähere Bestimmung von Grausamkeit spielt.

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Franzen 2011: 84. Dazu Sofsky (1996: 93–94): „Die Folter trifft den Menschen im Zentrum seines Selbstverhältnisses. […] Es ist sein Leib, der ihm die Qual bereitet und dem er nicht entkommen kann, so sehr er die Zähne zusammenbeißt, so sehr er die verbliebene Willenskraft mobilisiert. Der Todfeind ist in ihm selbst […] und zerschlägt seine letzte Gegenwehr.“

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2.4.3 Dehumanisierung Wie im letzten Abschnitt gezeigt werden konnte, ist das Bedingungsverhältnis Ästhetik – Gewalt von einer Vergegenständlichung des patiens geprägt. Es soll jedoch explizit zum Ausdruck gebracht werden, dass die Vergegenständlichung mit einem Prozess der Dehumanisierung einhergeht. Aufgrund seiner ‚Zersetzung‘ wirkt Marius auf den Leser wie „ein lebendes Stück Fleisch“106 und weniger wie ein Mensch. Wegen der Reduzierung auf seine pure Körperlichkeit erscheint er wie ein Gegenstand und „Objekt der Vernichtung“107, das nach und nach auseinandergenommen wird. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch die im Botenbericht fehlende Nachempfindung oder zumindest Erwähnung von Schmerzen oder Leid verstärkt (s.o.). Eine weitere Form der Dehumanisierung wird durch die Thematisierung des Opfers durch den Zerstückelten repräsentiert (174–176). Marius selbst wird als victima (174) und inferiae (175) gedeutet und erbringt dem verstorbenen Catulus unsägliche piacula (176). Durch den Gebrauch von victima ergibt sich für den Leser eine Assoziation zum Ritual des Tieropfers. So wird Marius in einen animalischen Kontext überführt, der darüber hinaus mit religiösen Riten und damit einhergehenden Schlachtungen eng verknüpft ist.108 Inferiae wurden in der Antike prinzipiell als Opfergaben für die Toten in Form von Milch, Wein und Honig über das Grab gegossen.109 Hier ist es allerdings Marius’ Blut (sanguine, 173), das Catulus’ Manen besänftigen soll. Piaculum ist an dieser Stelle als Sühneopfer zu verstehen und kann in semantischer Hinsicht mit inferiae gleichgesetzt werden.110 Darüber hinaus liegen uns Hinweise auf Menschenopfer in der römischen Kultur überliefert vor,111 werden allerdings in den Quellen zum Teil sehr negativ bewertet.112 Diesem Prozess der Entmenschlichung, die eine dermaßen grausame Vorgehensweise der drei agentes überhaupt erst ermöglicht, entspricht dem Befund der soziologischen Gewaltforschung, dass

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Sofsky 1996: 92. Metger 1957: 37, 67. Dinter 2006: 186; zum Tieropfer vgl. M. Krause: Art. ‚Hostia‘, in: RE Suppl. 5 (1931) Sp. 238,43–239,11; im Rückgriff auf Hom. Il. 23 verweist Fantham (1992: 113) auf die Unverhältnismäßigkeit der humanae hostiae. Vgl. Hom. Il. 23.175 u. 250; Verg. Aen. 5.75. Tromp (1921: 31) vertritt die Meinung, dass piacula mit scelera gleichgesetzt werden müsse. In der Bedeutung von Sühneopfer oder Totenopfer wird piaculum allerdings auch in den weiteren (einzigen) drei Stellen im Werk gebraucht (2.304; 4.790; 10.462); vgl. W. Ehlers: Art. ‚Piaculum‘, in: RE 20 (1941) Sp. 1179,56–1182,15; zu inferiae vgl. K. Latte: Art. ‚Inferi‘, in: RE 9 (1916) Sp. 1541,57–1543,10. Etwa bei Plut. Anton. 22.5–7; Brut. 28.1; sowie auch Tac. hist. 1.49.2. Hom. Il. 23; Sall. hist. frg. 1.53 (Maurenbrecher); Sen. Tro. 295; 298–299.

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der agens den patiens in dessen Subjektivität negiert oder zumindest herabsetzt, um rücksichtsloser gegen ihn vorgehen zu können: Es liegt hier ein paradoxer Mechanismus vor, bei dem derjenige, der anderen Menschen Gewalt antut, diese wie Nicht-Menschen, auf eine unmenschliche, sie ‚verdinglichende‘ Weise behandeln oder zum Tier machen, sie auf jeden Fall ihrer Menschlichkeit berauben muss, um sich weiterhin selbst ertragen zu können.113 Marius’ Dehumanisierung kann auch in sozialer Hinsicht festgestellt werden. Unter der zerstörerischen Einwirkung der Folter, die seinen Leib als konstitutionelles Zentrum erschüttert, findet er keinerlei Hilfe – zumindest erhält der Leser keine Informationen darüber – und verliert jeglichen Bezug zu seiner sozialen Umgebung.114 Der einzige ‚soziale‘ Kontakt besteht zu den drei agentes. Da sie jedoch insofern mit ihm interagieren, dass sie einschätzen müssen, welche Verletzung nicht tödlich ist (nil animae letale, 179), und wie sie den Tod so lange wie möglich hinauszögern können (pereuntis parcere morti, 180), stellt diese Kontaktaufnahme viel eher eine sarkastische Verkehrung einer zwischenmenschlichen Beziehung dar. Die grausame Erkenntnis, dass er weder sich selbst helfen, noch auf Hilfe durch seine Mitmenschen hoffen kann, bedeutet „Isolation rundum“.115 Diese Isolation gipfelt im Herausreißen der Augen, zumal die Sehfähigkeit einen elementaren Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen und Kommunikation darstellt. Das Erkennen und Unterscheiden von Freund und Feind wird für Marius unmöglich. Diese soziale Vereinsamung verweist wiederum auf seine existenzielle Ausnahmesituation: To have one’s eye dug out and destroyed represents more than the loss of a body part: without it, humans lose an essential means to express emotion, communicate and create bonds with one another. […] The eye removal, being an extreme and especially horrible means of maiming someone, exposes and amplifies the objectification of the victim and the subjectification of the perpetrator.116

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Wieviorka 2006: 160. Sofsky (1996: 66): „Daher trifft die Verletzung zugleich Seele und Geist, das Selbst und die soziale Existenzweise.“ Sofsky 1996: 78. Franzen 2001: 69–70; Liscovitz’ These, das Herausreißen der Augen sei für Marius umso grausamer, weil mithilfe der Augen der Schrecken des Bürgerkrieges verstanden werden kann, schließe ich mich allerdings nicht an, vgl. Liscovitz 2014: 25.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Dehumanisierung des Marius an drei Punkten festzumachen ist: erstens an seiner Vergegenständlichung hin zu einem Objekt der Vernichtung, zweitens an seiner ‚Animalisierung‘ als Totenopfer und drittens an seiner sozialen Isolation, die wiederum Bezug auf den Verlust seiner αἴσθησις nimmt. 2.4.4 Ästhetik und Erzählung Nachdem das Bedingungsverhältnis von Gewalt und Ästhetik mithilfe der drei Kategorien Gewaltkonstellation, Körper und Dehumanisierung näher beleuchtet wurde, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden, inwiefern Ästhetik und Erzählung aufeinander Bezug nehmen. Hierfür wird eine dreistufige Vorgehensweise gewählt. (1) Als erstes ist die Sprache, oder genauer gesagt, die Sprachlosigkeit als Gegenstand der fiktiven Erzählwelt zu ermitteln. (2) Als zweites soll aufgezeigt werden, inwiefern diese fiktive Sprachlosigkeit auf Ebene der story in einer narrativen Unschärfe abgebildet ist. (3) Daraus ergeben sich schließlich Rückschlüsse auf die Leserwirkung, die vom Zusammenspiel zwischen Sprache, Erzählung und dem ästhetischen Prozess der (Gewalt-)Lektüre geprägt ist. (1) Marius Gratidianus’ Verlust der αἴσθησις, seiner sinnlichen Wahrnehmungsorgane, bedeutet für ihn Verlust seines ästhetischen Zugriffs auf die Welt. Im Hinblick auf die entrückt wirkende Darstellung der herausgeschnittenen Zunge (exectaque lingua | palpitat et muto vacuum ferit aera motu, 181–182) wird dem Leser eine doppelte Funktion dieses Körperteils vor Augen geführt. Einerseits ist es ein Sinneswerkzeug und nimmt somit einen logischen Platz in der Aufzählung der abgetrennten Hände, Ohren, Nase und herausgedrehten Augen ein; andererseits stellt es ein Sprachinstrument dar, das für Marius (als Mensch und insbesondere als politischer Redner) eine elementare Voraussetzung seiner Kommunikation und Sprachfähigkeit darstellt. Die Amputation der Zunge lässt sich damit als Zerstörung sowohl der Sinnlichkeit als auch der Sinnhaftigkeit deuten. Schließlich kann die Welt weder mit den Wahrnehmungssinnen greifbar noch durch Sprache begreiflich gemacht werden. Im Vollzug der Gewalt resultiert der Verlust der Sprache. In der Erzählung wird dieser Aspekt durch das Motiv der Lautlosigkeit bzw. des Schweigens zum Ausdruck gebracht:117 Während palpitat den zuckenden Automatismus des eben noch intakten Körperteils beschreibt, erzeugt dagegen muto […] motu, die stumme Bewegung, die Assoziation zum Sprachverlust. Die Lautlosigkeit der

117

Zum weiterführenden Aspekt des Schweigens im römischen Epos und bei Lucan vgl. Anzinger 2007.

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vergeblichen Zungenbewegung ermöglicht die Interpretation von vacuum […] aera als ‚geräuschlose‘ statt ‚leere‘ Luft. ‚Leer‘ könnte in diesem Kontext auch im Sinne von ‚ohne das Wehen des Windes‘ verstanden werden, das im wortwörtlichen Sinne eine Windstille zur Folge hätte. Abgesehen von der narrativen Akzentuierung durch die Ekphrasis118 wird die Partie durch ihren intertextuellen Bezug zu Ovids Philomela-Erzählung (Ov. met. 6.556–560) markiert. ille indignantem et nomen patris usque vocantem luctantemque loqui conprensam forcipe linguam abstulit ense fero. radix micat ultima linguae, ipsa iacet terraeque tremens inmurmurat atrae, utque salire solet mutilatae cauda colubrae, 560 palpitat et moriens dominae vestigia quaerit.119 555

In Ovids Darstellung übernimmt die Zunge die Funktion eines Körperteils. Zudem tritt sie als pars pro toto an die Stelle von Philomela selbst (im Gegensatz zur Darstellung des Marius Gratidianus). Zudem lässt sie sich als Manifestation der Sprache und Sprachfähigkeit deuten. Das Absterben der lingua bezieht sich folglich sowohl auf das Konkretum als auch auf das Abstraktum.120 Der letzte der drei Aspekte ist so auch Lucans Text zu entnehmen. Im Vergleich zu Ovids literarischer Gestaltung der Gewalt lassen sich jedoch zwei Unterschiede herausarbeiten, die sich vor allem aus ästhetischer Perspektive ergeben. Erstens: in der Marius-Partie wird die Zunge als Sinneswerkzeug noch deutlicher hervorgehoben, da sie sich in die Reihe der Amputation von Händen, Ohren, Nase und Augen integrieren lässt. Zweitens: es kann insofern von einer Weiterentwicklung des Motivs gesprochen werden, da die Folterszene nicht nur visuell, sondern auch akustisch wahrgenommen wird. Es ließe sich keine Lautlosig118 119

120

Aufgrund des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit; vgl. Abschnitt 2.4.2. „[…] er aber packte mit einer Zange ihre Zunge, die sich sträubte, immerfort den Namen ihres Vaters rief und darum rang zu sprechen, und schnitt sie mit dem wilden Stahl ab: Der Rest der Zungenwurzel zuckt noch, die Zung liegt am Boden, und zitternd murmelt sie etwas in die blutgeschwärzte Erde. Und wie der Schwanz einer verstümmelten Schlange zu springen pflegt, bäumt sie sich auf und sucht sterbend die Füße ihrer Herrin.“ (Übers. von Albrecht). Dinter (2010: 180–181): „Die Zunge erlangt damit eine dreifache Funktion, die ihre starke Präsenz in dieser Passage rechtfertigt. Zum einen ist sie einfach ein Körperteil, zum anderen repräsentiert sie aber auch Philomela als pars pro toto. Schließlich kann die Zunge auch als Verdinglichung der Sprache selbst gedeutet werden. Damit erlangt durch die Zunge das Abstractum der Sprache dingliche Repräsentation im Text. Philomela verliert ihre Sprache mit ihrer Fähigkeit zu sprechen: lingua stirbt buchstäblich vor unseren Augen auf dem blutnassen Boden.“

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keit feststellen, wenn der homodiegetische Erzähler und Zuschauer nicht seine Hörfähigkeit zur Wahrnehmung der Zerstückelung miteinbezogen hätte. Das Motiv der Sprachlosigkeit innerhalb der fiktiven Welt lässt sich über den Bezug zur Körperlichkeit hinaus an non fanda piacula (176) und morem nefandae […] saevitiae (179–180) aufzeigen. Die Attribute non fanda (unaussprechlich) und nefandae (unsäglich) weisen nicht auf Sprachlosigkeit im generellen Sinne hin, sondern etwas differenzierter auf das Schweigen bzw. die Informationsverweigerung. Dieses Motiv wird immer wieder innerhalb des Bellum Civile aufgegriffen, wie beispielsweise bei Arruns’ Extispicium (1.631–637) oder Catos Weigerung, mit dem Orakel zu sprechen (9.565–586).121 Was bedeutet das für die Marius-Partie? Wie bereits bei der Untersuchung des Körpers (Abschnitt 2.4.2) gezeigt werden konnte, weist die Erzählung der Zerstückelung teilweise elliptische Auslassungen expliziter Gewalt auf – wie etwa das konkrete Herausschneiden der Zunge, wohingegen in der Textvorlage bei Ovid die Abtrennung eindringlich beschrieben ist – oder die Darstellung expliziter Verstümmelungen sind aufgrund lexikalischer oder syntaktischer Ambiguitäten – beispielsweise das Herausreißen der Augen – so mehrdeutig und vage gestaltet, dass sich der Sinn nicht aus dem Text bzw. der Erzählung, sondern letztendlich nach dem ‚Ermessen‘ des Lesers erschließt (s. Abschnitt 2.4.2). Aus diesen Beobachtungen lässt sich schließen, dass das Motiv der Sprachlosigkeit bzw. des Schweigens sich nicht nur auf die fiktive Erzählwelt beschränkt, sondern in eine narrative Sprachkrise auf Ebene der story mündet, und somit einen erheblichen Einfluss auf die narrative Gestaltung der Gewalt hat. (2) Die narrative Unschärfe ist in engem Zusammenhang mit der fiktiven Sprachlosigkeit zu betrachten. Aus dem Verlust der Sprache, der sich in der fabula aus der extremen Gewalt ergibt, – sei es die Verstümmelung der Zunge (execta lingua) oder die Unaussprechlichkeit der Grausamkeit, die der Folter implizit ist (mos nefandae saevitia) – resultiert die Zerstörung von Sinnhaftigkeit, die wiederum ihren Ausdruck in der narrativen Krise auf Ebene der story findet. Die narrative Unschärfe macht ihrerseits die Gewalt innerhalb der fiktiven Welt für den Leser nur schwer begreiflich, wenn nicht sogar unbegreiflich. Wo im Text lässt sich dieses Phänomen konkret beobachten? Zur Beantwortung der Frage sollen zur besseren Orientierung noch einmal zwei repräsentative Einzelszenen der Folter, die zum Teil bereits in Abschnitt 2.4.2 im Kontext der Körperlichkeit thematisiert wurden, herangezogen werden: (a) Die Verstümmelung der Nase und (b) das Herausreißen der Augen. 121

Vgl. Anzinger 2007: 148–155. Adema (2017) hingegen nimmt narrative Techniken und Repräsentationen von Speech and Thought in Latin War Narratives in den Blick. Für ihre Analysen legt sie Caesars Bellum Gallicum und Vergils Aeneis zugrunde.

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kapitel 2

(a) Das Abschneiden der Nasenflügel bietet aufgrund der vorliegenden lexikalischen Probleme ein sehr vages Bild der Entstellung. Dies ist unter anderem auf den äußerst ungewöhnlichen Begriff spiramina zurückzuführen, der in Lucans Bürgerkriegsepos lediglich zwei weitere Male Verwendung findet, und dann auch nur im Kontext von Windaktivitäten. Wie aufgezeigt wurde, bezeichnet naris eigentlich das Nasenloch, kann jedoch auch als Nase gedacht werden. Es bleibt das Problem der Junktur mit dem Attribut aduncae, welches wiederum nur in Verbindung mit nasus konventionell ist.122 Anhand dieses Beispiels lässt sich die Unanschaulichkeit der Gewalt besonders klar vor Augen führen. Die entgegen aller Konventionen konstruiert wirkende Sprache bringt lediglich Andeutungen zum Ausdruck, die der Leser realisieren muss (zur Leserwirkung s.u.). (b) In ganz besonderem Maße verhält es sich so auch mit dem Herausreißen der Augen. Schon allein der Gebrauch von effodere lässt unterschiedliche Interpretationen zu, sodass nicht entschieden werden kann, ob Marius’ Augen herausgerissen, -gekratzt oder ausgestochen werden. Darüber hinaus ist die story der dargestellten Gewalt, d.h. die Abfolge der Amputation unklar. Handelt es sich überhaupt um eine Verwundung in zwei Schritten? Oder wird sie nicht viel eher in einem Zug ausgeführt? Auch dies kann nicht eindeutig beantwortet werden. Einerseits ist fragwürdig, ob Marius überhaupt noch etwas sehen kann, nachdem seine Augen bzw. Augäpfel aus ihren Höhlen gewunden worden sind. Allerdings liegt der Fokus der Szene vielmehr auf der illusionsbrechenden, irritierenden Wirkung der Gewalt als auf medizinischer Genauigkeit. Andererseits bedarf es bemerkenswerter Anstrengungen vonseiten des Lesers, einen mehr oder weniger befriedigenden Sinn überhaupt zu realisieren.123 Zudem ist der Auflösungsprozess der Sinnhaftigkeit in der auffälligen Akkumulation negativer Ausdrücke abgebildet: nolentibus umbris (175) – inexpleto busto (176) – non fanda piacula (176) – nil animae letale (179) – nefandae saevitiae (179/180) – vix erit (184) – nec magis informes (189) 122 123

Vgl. Dreyling 1999: 88. S. hierfür Dreyling (1999: 88, 89): „Nun scheint zunächst nicht ausgeschlossen, dass Lucan mit orbes und lumina ebenfalls eine in zwei Schritten ablaufende Zerstörung darstellt. […] Wesentlich sinnvoller scheint, dass der mit ultimaque eingeleitete Vers das vorangehende cavis evolvit sedibus orbes erklärt, mithin lumina das vorangehende orbes aufnimmt und -que epexegetisch und ultima prädikativ zu verstehen sind: ‚Ein dritter riss die Augen aus ihren Höhlen, die dadurch entleert wurden (cavis ist proleptisch). Die Augen nämlich zuletzt, nachdem sie der Zerstückelung des übrigen Körpers und seiner Glieder zugeschaut hatten.‘ Dabei nimmt spectatis … membris einen fast schon finalen Sinn an.“

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119

Fantham sieht deren Gebrauch als typisch für Lucans Pathos an.124 Hierbei ist ergänzend hinzuzufügen, dass die Wirkung dieses Pathos’ sich jedoch erst aus Lucans Sprachästhetik entfaltet, die in bemerkenswertem Maße durch die narrative Krise konstituiert ist. Diese Beobachtungen lassen letztlich den Schluss zu, dass bei der Darstellung von Gewalt der Erzählung selbst Gewalt angetan wird. Dies lässt sich sogar noch etwas zuspitzen, und es ließe sich sagen, dass der sprachlich-literarisch vermittelten Gewaltdarstellung selbst durch narrative Unschärfe Gewalt angetan wird. Herbei kommt die im Verlauf des Kapitels immer wieder konstatierte reine Potentialität und Selbstreferentialität der Gewalt zum Ausdruck. Diese Selbstreferentialität identifiziert die Gewalt der fiktiven Erzählwelt als genuin ästhetisches Phänomen sowohl im konkreten Verständnis der sinnlichen Wahrnehmung (αἴσθησις) als auch im Weiteren der formalen Selbstrepräsentation der Erzählung. So gibt sich das Motiv der Gewalt, das die gesamte Folterszene dominiert, über ihren Ausdruck durch die narrative Unschärfe gleichzeitig als narrative Textstrategie zu erkennen. Auf diese Weise kommt über den Rahmen der fiktiven Erzählwelt hinaus die Zerstörung von Sinnhaftigkeit zum Ausdruck. Der illusionsstörende Charakter des Textes rückt in das Bewusstsein des Rezipienten, der folglich dazu gezwungen wird, seine gewohnten Strukturen bei der Lektüre der Folterszene aufzubrechen und sich mit der ästhetischen Erfahrung der Entfremdung, dem Unmaking Lucanischer Gewalt, auseinanderzusetzen. Dies führt zum letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels: die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Rezeption. (3) Zu Beginn der Interpretation wurde darauf hingewiesen, dass es wohl kaum eine Gewaltszene in Lucans Bellum Civile gibt, die so intensiv die force de l’imagination des Lesers anregt, wie die Zerstückelung des Marius Gratidianus. Hierfür soll noch einmal ihr Ausgangspunkt, Grimmingers Äußerungen zur ‚Einbildungskraft‘, ins Gedächtnis gerufen werden: Die Unmittelbarkeit von Gewalt, Tod oder Lust ermächtigt gerade deshalb, weil sie im Mittelbaren der Repräsentation fast verschwindet, die Potentiale der Einbildungskraft dazu, tätig zu werden. Wahrscheinlich ist diese Bodenlosigkeit des Sich-etwas-Einbildens überhaupt der Ort des Kunstwerks und seiner Ankunft bei uns. Der bodenlose Ort sind wir am Ende dann selber.125

124 125

Fantham (1992: 113): „The accumulation of negatives, nolentibus, inexpleto, non fanda, is typical of L.[ucan]’s pathos.“ Grimminger 2000a: 23; s. Anm. 33 auf S. 95.

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kapitel 2

Grimminger sieht also im Leser den ‚bodenlosen Ort‘, in dem die Einbildungskraft, ausgelöst durch die Erzählung der Gewalt, zur vollen Entfaltung gelangt.126 Hieraus lässt sich die folgende dem Abschnitt zugrundeliegende These ableiten: Die reine Potentialität der Gewalt entfaltet ihre Wirkung nicht nur auf Ebene der fabula und story, sondern auch insbesondere im wirkungsästhetischen Akt der Lektüre.127 Blickt man aus wirkungsästhetischer Perspektive auf die Szene, in der Marius zerstückelt wird, ermöglicht dies differenziertere Befunde in Bezug auf das ‚Wie‘ der Gewaltdarstellung als bisher der Forschungsliteratur zu entnehmen war.128 Dies soll nun anhand von drei Textbelegen veranschaulicht werden. (a) Als erstes wird ein noch recht banal wirkendes Beispiel angeführt, was jedoch die Plausibilität der Theorie umso nachdrücklicher bestätigt. Im Kontext der Untersuchungen zum Körper (Abschnitt 2.4.2) ist darauf hingewiesen worden, dass Marius’ Körper immer nur als verwundeter im Text aufzufinden ist – bis auf eine einzige Ausnahme: spectatis […] membris (185). Wie auch in der vorliegenden Arbeit kommt beispielsweise Liscovitz auf die außerordentliche Grausamkeit der Szene zu sprechen, die darin besteht, dass Marius seine eigene Zerstückelung mitansehen muss.129 Allerdings ist bei der Erwähnung von membris in V. 185 nicht explizit erwähnt, dass die angesehenen Glieder verwundet oder zerfetzt seien. Dies wird erst vom Leser im wirkungsästhetischen Vollzug der Lektüre realisiert. Dies ist ohne Frage sicherlich richtig, da bereits in V. 177 zu lesen ist: laceros artus aequataque vulnera membris. Dies veranlasst den Leser dazu, auch die Glieder in V. 185 als verstümmelt zu deuten, sodass an diese Leerstelle mit Sinn ‚aufgefüllt‘ wird. (b) Das zweite Beispiel bezieht sich auf sanguine (173), das ebenfalls in Abschnitt 2.4.2 zur Körperlichkeit zur Sprache kam. Eine explizite Nennung des Blutes lässt sich lediglich am Anfang der Partie feststellen, im weiteren Verlauf der Folter nicht mehr (auch wenn die Amputationen in der fabula sicher-

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Vgl. dazu Wertheimer (2006: 19): „Literatur und Bildende Kunst sind Laboratorien der Gewaltimagination, nicht deren Gegensatz. Gewaltphantasien sind genuiner Bestandteil ästhetischer Produktion.“ Zu Isers Wirkungsästhetik s.o. S. 77–79. Vgl. etwa Schmitt (1995: 70), der in der, wie sich zeigen wird, vermeintlich ‚genauen‘ Darstellung der Folter ein Sinnbild für das Blutbad des Bürgerkriegs sieht; Gotter (2011: 57, Anm. 6.) bewertet, wie in Abschnitt 2.3 beschrieben, die „explizite Grausamkeit“ als einen der Höhepunkte der Gewalt im Werk; und auch Fratantuono (2012: 64) bezeichnet Marius’ Tod als „more horrible than anything found before it in Latin verse“. Liscovitz (2013: 25): „The description of Marius Gratidianus’ torture in Book 2 (2.174–190) is all the more perverse because his captors forced Marius to gaze upon his own desintegration.“ Vgl. Anm. 104 auf S. 112.

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lich einige große Menge an vergossenem Blut zur Folge hatten). Nach Roland Barthes ist sanguine als germe zu verstehen, der die darauffolgende Gewaltdarstellung atmosphärisch ‚einfärbt‘.130 Das ‚Aufgehen‘ des Keims ergibt sich nur durch die Realisierung des Lesers. Ihm erscheint die darauffolgende Verstümmelung der Sinneswerkzeuge als grenzenloses Blutbad.131 (c) Als drittes Beispiel soll, gewissermaßen ‚leitmotivisch‘ für die vorliegende Untersuchung, das Herausreißen der Augen herangezogen werden (V. 184–185). Insbesondere dieser Gewaltdarstellung wird durch die narrative Unschärfe Gewalt angetan. In keiner anderen Einzelszene innerhalb der Marius-Partie sind mehr Leerstellen feststellbar, und trotzdem – oder genauer gesagt: gerade deswegen – findet durch den Leser eine Realisierung der Gewalt statt. Sei es dass die Augen ausgestochen, ausgerissen oder ausgekratzt werden, sei es, dass die Verwundung in zwei Phasen oder in einer stattfindet (s. o.). Diese Befunde legen den Schluss nahe, dass der Text der Marius-Partie und der Leser bei der Lektüre ein dynamisches, wechselseitiges Verhältnis eingehen, das eine stete Aktualisierung von Sinn und dessen Zerstörung zur Folge hat:132 Die durch gewaltbedingte narrative Unschärfe zerstörte Sinnhaftigkeit wird im wirkungsästhetischen Akt des Lesers (re)konstruiert. Bemerkenswert ist jedoch, dass die hergestellte Sinnhaftigkeit in der Realisierung von Gewalt besteht. Gewalt bedingt die Zerstörung von Sinn, der als Unbestimmtheitsoder Leerstelle im Text durch den Leser wieder aufgefüllt wird, indem dieser Gewalt realisiert. Zugespitzt formuliert: Der Rezipient übernimmt die Funktion eines ‚außertextlichen‘ agens. 2.4.5 Fazit In der Zerstückelungsszene des Marius Gratidianus äußert sich das Bedingungsverhältnis von Gewalt und Ästhetik sowohl in der fabula und story als auch in der Rezeption des narrativen Textes. Dabei konnten die ästhetischen Kriterien sinnliche Wahrnehmung, Selbstreferentialität und Wirkung in vierfacher Hinsicht herausgearbeitet werden. Die Analyse der Gewaltkonstellation hat ergeben, dass das Fehlen von Legitimation und Zweckmäßigkeit der Folter 130

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Vgl. Anm. 75 auf S. 106; nach Martínez (1999: 133) handelt es sich wohl eher um eine pragmatische Implikation, die sich ex negativo daraus ergibt, dass der Erzähler „pragmatischkommunikative Konventionen“ brechen würde, wenn er ein theoretisch mögliches Abschneiden der Sinnesorgane verschweigen würde. Vgl. insbesondere Schmitt (1995: 70): „Was bleibt ist die Lust am Grausamen, an dem Blutrausch, der sich verselbständigt, ohne eine wirkliche Lösung für die sowohl politisch als auch menschlich zerfahrene Lage zu bringen.“ Oder alternativ im Sinne Lotmans: Es konstituiert sich ein unscharfer Grenzbereich zwischen Text und Leser, s. Anm. 302 auf S. 78.

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kapitel 2

insbesondere durch die dynamisch veränderliche Funktion der participes, d. h. der Manen als Schiedsrichter (GA33b) und Sullas als Schiedsrichter (GA33b) bzw. Gebieter (GA33a), zum Ausdruck kommt. Die sinnliche Dimension der Ästhetik lässt sich bei der Verstümmelung des Körpers, d. h. der ‚Sinneswerkzeuge‘ Hände, Zunge, Ohren, Nase und Augen beobachten. In Zusammenhang mit dem Ritual des Akroteriasmos konstituiert sich der Aspekt der ästhetischen Selbstreferentialität im eigenbeständigen Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Die dynamische Wechselwirkung von Ästhetik der Gewalt und Gewalt der Ästhetik zeigt sich eindringlich an der Darstellung der Augenamputation und darauffolgenden Selbstbetrachtung. Marius’ Dehumanisierung lässt sich zum einen auf dessen Objektivierung sowie Animalisierung im Kontext des Opferrituals zurückführen, zum anderen auf die soziale Isolation, bedingt durch den Verlust seiner αἴσθησις. Schließlich wurde dargelegt, dass das Zusammenspiel von Gewalt und Ästhetik sich in der dynamischen Wechselwirkung von fabula und story widerspiegelt. Das Motiv der abgeschnittenen Zunge und Sprachlosigkeit ist in der narrativen Unschärfe der Partie abgebildet. Die gewalttätige Fragmentierung des Körpers steht in selbstreferentiellem Bezug zur narrativen Repräsentation der Gewalt selbst. Die damit einhergehenden Unbestimmtheitsstellen, das Ausagieren der Gewalt, werden im ästhetischen Realisationsprozess durch den Leser aufgefüllt. Dieser steht damit als ‚gewalttätiger‘ Textproduzent neben dem Erzähler. Im Spannungsfeld zwischen Text und Lektüre markiert also das stete Ineinandergreifen von Sinnzerstörung und Sinnkonstitution das Unmaking Lucanischer Gewalt. Marius’ Folter ist damit wohl nicht so sehr als Sinnbild für die Grausamkeit des Bürgerkriegs aufzufassen, sondern eher als Sinnbild für Gewalt um der Gewalt willen, deren Sinn paradoxer Weise darin besteht, Sinn zu zerstören.

kapitel 3

Verdichtung: Massensterben und Tiberflut 3.1

Text und Übersetzung: Lucan. 2.193b–220

vidit Fortuna colonos Praenestina suos cunctos simul ense recepto 195 unius populum pereuntem tempore mortis. tum flos Hesperiae, Latii iam sola iuventus, concidit et miserae maculavit Ovilia Romae. tot simul infesto iuvenes occumbere leto saepe fames pelagique furor subitaeque ruinae 200 aut terrae caelique lues aut bellica clades, numquam poena fuit. densi vix agmina vulgi inter et exangues immissa morte catervas victores movere manus; vix caede peracta procumbunt, dubiaque labant cervice; sed illos 205 magna premit strages peraguntque cadavera partem caedis: viva graves elidunt corpora trunci. intrepidus tanti sedit securus ab alto spectator sceleris: miseri tot milia vulgi non timuit iussisse mori. congesta recepit 210 omnia Tyrrhenus Sullana cadavera gurges. in fluvium primi cecidere, in corpora summi. praecipites haesere rates, et strage cruenta interruptus aquam fluxit prior amnis in aequor, ad molem stetit unda sequens. iam sanguinis alti 215 vis sibi fecit iter campumque effusa per omnem praecipitique ruens Tiberina in flumina rivo haerentis adiuvit aquas; nec iam alveus amnem nec retinent ripae, redditque cadavera campo. tandem Tyrrhenas vix eluctatus in undas 220 sanguine caeruleum torrenti dividit aequor. Die Fortuna aus Praeneste sah, wie all ihre Bewohner, wie ihr Volk innerhalb der Zeitspanne eines einzelnen Todes untergingen, indem sie das Schwert zugleich empfangen hatten. (195) Damals fiel die Blüte Hesperiens, gerade die außerordentliche Jungmannschaft Latiums, und besu-

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delte die Ovilia des elenden Rom. So viele junge Männer fielen zugleich durch gewaltsamen Tod. Oft ereigneten sich Hungersnöte und Meeresrasen und plötzliche Erdrutsche oder Seuchen der Erde und des Himmels oder Niederlagen im Kriege, (200) doch niemals eine solche Strafe. Zwischen den Reihen der dichten Volksmasse und den erblassten Haufen – dem Tod war freier Lauf gelassen worden – konnten die Sieger kaum ihre Hände bewegen; nach Vollendung des Gemetzels fallen sie kaum zu Boden, und wanken mit hin und her fallendem Nacken; aber jene erdrückt der große dahinsinkende Leichenhaufen und die toten Leiber vollbringen einen Teil (205) des Mordens; die schweren Rümpfe erdrücken die lebendigen Körper. Unerschrocken saß erhöht und in Sicherheit der Betrachter der so verbrecherischen Bluttat: Er schauderte nicht, den Mordbefehl gegen Tausende des bejammernswerten Volkes gegeben zu haben. Der Tiberfluss nahm alle angehäuften Sullanischen Leichen auf. (210) In fließendes Wasser fielen die ersten, auf Leichen die letzten. Heraneilende Schiffe blieben stecken, und von der abgesunkenen Blut-Masse unterbrochen ließ der vordere Teil des Flusses sein Wasser ins Meer strömen, an dem Damm kam die nachfolgende Woge zum Stehen. Schon bahnte sich die Kraft des hoch angestiegenen Blutes ihren Weg, überschwemmte das ganze Feld, (215) stürzte in einem hereinbrechenden Strom in die Fluten des Tiber und ließ die angestauten Wassermassen ansteigen; weder das Flussbett noch die die Ufer fassen den Fluss und geben dem Feld die Leichen zurück. Endlich ringt er sich mühevoll in Tyrrhenisches Gewässer und teilt in einem Blutstrom die blaue Meeresfläche (220).

3.2

Kontext, Inhalt, Aufbau

Die Massenhinrichtung unter Sulla folgt direkt auf die Folterszene des Marius Gratidianus (2.13–193) und stellt das letzte Ereignis in der intradiegetischen Erzählung des anonymen Sprechers (aliquis, 2.67) dar. Auf Befehl Sullas werden die Bewohner von Praeneste und die übrige Jungmannschaft Latiums auf dem Marsfeld (Ovilia, 197) hingerichtet. Es handelt sich jeweils um eine einzigartige Strafe (poena, 201), die sowohl in ihrer Art der Ausführung (unius […] tempore mortis, 195) als auch in ihrer hohen Anzahl von Toten sogar Naturkatastrophen und Kriegsniederlagen gleichkommt ( fames pelagique furor subitaeque ruinae | aut terrae caelique lues aut bellica clades, 199–200). Aufgrund der hohen Dichte der Menschenmasse können die auf dem Marsfeld Hingerichteten jedoch nicht umfallen, sodass sie im Tode ihre Voll-

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strecker erdrücken (viva graves elidunt corpora trunci, 206). Sulla betrachtet derweil das Massaker aus sicherer Entfernung (sedit securus ab alto, 207). Daraufhin werden die Leichen aufgehäuft und in den Tiber geworfen (recepit […] Thyrrhenus Sullana cadavera gurges, 209–210). Doch statt diese wegzuspülen, kommt der Fluss zum Stehen, das blutige Wasser steigt an und überflutet das umliegende Land. Die Leichen werden wieder zurück an Land gespült (redditque cadavera campo, 218) und schließlich teilt der Blutstrom das Meer mit großer Wucht. Die Textpartie kann in fünf Abschnitte gegliedert werden: 193b–195: 196–197: 198–201a: 201b–206: 207–209a: 209b–220:

3.3

Hinrichtung 1: Praeneste Hinrichtung 2: Rom Episode 1: Vergleich mit Naturkatastrophen Beschreibung des Massakers Episode 2: Sulla Tiberflut: a) 209b–214a: Verstopfung b) 214b–218: Überflutung c) 219–220: Eintritt ins Meer

Forschungsstand

Im Folgenden wird zunächst auf den historischen Hintergrund der Massenhinrichtungen unter Sulla eingegangen (1). Daran schließt sich eine Übersicht über die aktuelle Forschung aus philologischer Perspektive an, die sowohl intertextuelle als auch intratextuelle Aspekte näher beleuchtet sowie unterschiedliche Interpretationsansätze und die Rezeption der Partie (2). (1) Im Hinblick auf die Strafaktionen gegen die Bewohner von Praeneste und die Kriegsgefangenen auf dem Marsfeld hält sich der anonyme Erzähler nicht an die chronologische Abfolge des historischen Ereignisses. Denn die Kriegsgefangenen, größtenteils Samniten, die im Kampf gegen Sulla auf Marius’ Seite gestanden hatten, wurden bereits am 3. November 82, also im Anschluss an die Schlacht an der Porta Collina getötet.1 In Praeneste begingen daraufhin der jüngere Marius und der Bruder des Telesinus Selbstmord. Die übrigen Soldaten – Praenestiner, Samniten und Römer – ergaben sich Sullas Befehlshaber Lucretius Ofella (App. civ. 1.94.434; 1.101.471).2 Erst dann kam es zur jener Hin1 Salmon 1967: 386; Dreyling 1999: 92. 2 Zu Lucretius Ofella und seiner Rolle bei der Entsetzung der Stadt vgl. Salmon 1967: 387, Anm. 1; Cichorius 1922: 172.

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richtung, die im Bericht des Lucanischen Erzählers an erster Stelle steht (Liv. per. 88; Val. Max. 9.2.1; App. civ. 1.93–94).3 Der Anachronismus ist jedoch nicht ausschließlich auf Lucan zurückzuführen. Innerhalb der rhetorischen Tradition, in der Marius’ und Sullas Gräueltaten einen Platz als decantatae fabulae einnahmen,4 wurden die beiden Massaker als ein einzelnes Ereignis behandelt.5 Das in Praeneste begangene Massaker unter Sulla ist durch Plutarch (Plut. Sulla 32.1) und Appian (App. civ. 1.94.437–438) überliefert. Eine kurze Andeutung ist bei Statius zu finden (et populis mors una venit, Stat. Theb. 1.109). Die Bezeichnung Fortuna Praenestina (193–194) rekurriert wahrscheinlich auf Fortuna Primigenia, die Schutzgöttin von Praeneste.6 Bei colonos (193) handelt es sich in historischer Sicht um einen Anachronismus, da Praeneste erst nach ihrer Eroberung durch Sulla den rechtlichen Status einer colonia erhielt bzw. eine explizite Nennung nach diesen Ereignissen zu finden ist.7 Als etwas umfassender erweist sich die Überlieferung der in Rom abgehaltenen Hinrichtung der Samniten und Marianer. Allerdings besteht Uneinigkeit darüber, wo genau die Gegner Sullas getötet wurden. Im Botenbericht des Bellum Civile geschah dies in den auf dem Marsfeld befindlichen Ovilia (197) bzw. saepta, wo für gewöhnlich Wahlstimmen für die Zenturiatskomitien abgegeben wurden.8 Nach Strabo (Strab. 5.4.11), Sallust bzw. Pseudo-Sallust (Sall. epist. 1.4.1), Livius (Liv. per. 88), Valerius Maximus (Val. Max. 9.2.1), Cassius Dio (30– 35 fr. 109.5) und Florus (Flor. 2.9.24) allerdings wurden die Gefangenen in der für Gesandte vorgesehenen villa publica – ebenfalls auf dem Marsfeld – umgebracht.9 Plutarch hingegen berichtet, sie seien im Circus Flaminius ermordet worden (Plut. Sulla 30.3). Wie Fantham richtig bemerkt, kann eine so große Menschenzahl jedoch nur im Freien untergebracht worden sein.10 Nach Valerius Maximus (Val. Max. 9.2.1) soll es sich immerhin um vier Legionen gehan3 4 5 6

7 8 9 10

Eine umgekehrte Reihenfolge ist bei Dio ( fr. 109) zu finden. Radicke 2004: 204. Fantham 1992: 115. Fantham (1992: 115): „Fortuna Primigenia, patron godess of Praeneste, was conceived as having power to determine mens’ lives; instead she is a helpless witness as her community is destroyed. Perhaps as atonement Sulla rebuilt her shrine with grandiose terraces, now incorporated in the layout of the Palazzo Barbierini“; zur Diskussion, ob fortuna jedem Ort zuzuordnen ist vgl. Dreyling 1999: 91. Vgl. Mommsen 1908: 209; Brunt 1987: 305. Dreyling (1999: 91) bietet einen Überblick zur Diskussion, ob Praeneste bereits eine Kolonie Albas gewesen sei. Taylor 1966: 47–58 u. 78–113. Richter 1901: 226. Fantham (1992: 115): „[…] the four legions (Val. Max. 9.2.1) or the 8,000 men (two legions according Sen. Ben. 5.16.3) variously reported could only have been dealt with in the open.“

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delt haben, während Seneca (Sen. benef. 5.16.3) von zwei Legionen und Appian (App. civ. 1.93.432) von mehr als 8000 Mann spricht. Grundsätzlich scheint das Marsfeld ein geeigneter Schauplatz für Hinrichtungen zur Zeit der Bürgerkriege gewesen zu sein.11 Die Erwähnung der Ovilia (197) kann nicht durch einen historischen Blick auf die Textstelle beantwortet werden und ist wohl eher literarisch motiviert (s. Abschnitt 3.4.4). Die Beseitigung von Leichen über den Tiber war in Rom nicht ungewöhnlich. Diese Art der Beseitigung von Schmutz und Leichen war zum einen aus logistischer Hinsicht pragmatisch, zum anderen hatte sie symbolischen Charakter: […] the Tiber was seen as sending its contents to the sea […]. As a punishment, disposal via the Tiber was part of a traditional and legal execution ritual performed in and near the Carcer, Rome’s oldest state prison. […] The Tiber was the final stage in an elaborate ritual of abuse and vengeance, denial and damnation, a ritual familiar to plebeians, senators and emperors.12 Die Verwehrung einer ordentlichen Bestattung stellte für getötete hostes die größte Entehrung dar, da deren Seele keine Ruhe finden konnte. Dies ging mit einer damnatio memoriae einher und diente zugleich als Zeugnis für die ultimative Macht der siegreichen Partei. Daher erwies sich insbesondere zu Zeiten der Bürgerkriege der Tiber als äußerst nützlich: The final insult was not corpse mutilation but the denial of burial. Those left to rot on the Gemonian Steps or upon the cross received no final rites, no funeral, no burial, no tomb and thus no rest for their souls. They were cast out from the community and marked unworthy of burial; the best that they and their families could hope for was that eventually the body would be cast into the Tiber. […] The Tiber washed away the remains of the enemies of the state and in the process purified the city.13 11 12 13

Hinard (1987: 116): „Mais outre ces deux cas un peu spéciaux, le Champ de Mars a été le théâtre de bien des exécutions au cours de la période des guerres civiles“. Kyle 1998: 214 u. 222; vgl. ebendort 218–224; Barber 1988: 170–171. Hope 2000: 116; vgl. Rohmann (2006: 67): „Die lange Wartezeit während der Einkerkerung, die Aussetzung auf den scalae Gemoniae sowie die ‚Meeresbestattung‘ werden jede für sich in den Quellen als die demütigendsten und entehrendsten Misshandlungen beschrieben, die vorstellbar waren“; Arand (2002: 215): „Die Spielarten der unwürdigen Behandlung des toten in den Darstellungen der Historiker lassen sich in drei Bereiche gliedern: ‚Verstümmelung der Leiche‘, ‚unwürdige Bestattung der Leiche‘, ‚Unterlassung einer Bestat-

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Sowohl C. Marius als auch Sulla ließen die Leichen ihrer Gegner in den Tiber werfen (Val. Max. 9.2.1; Cass. Dio 30–35, fr. 109.8; App. civ. 1.88.404), und auch später wurde diese Praxis fortgesetzt (Cic. Sest. 35.77; Tac. ann. 6.19.3). Zudem ist in keiner historischen Quelle überliefert, dass der Tiber aufgrund von gebrochenen Dämmen oder sogar aufgetürmten Leichen über die Ufer trat und eine reißende Überschwemmung verursachte, wie in V. 209–220 geschildert wird. […] this type of flood was not the sort encountered in ancient Rome. Tiber floods were a comparatively slow-rising phenomenon. […] There was no sudden wave of water sweeping across previously dry ground.14 (2) Darstellungen intertextueller Bezüge liefern insbesondere Raabe, Fantham, Leigh, Dreyling, Fratantuono und Ambühl.15 Raabe weist nach, dass das Motiv „Erschlagene im Strom“ einen festen Bestandteil epischer Erzählung darstellt, und greift hierfür nicht nur auf Vergil, sondern auch vornehmlich auf Homers ΜΑΧΗ ΠΑΡΑΠΟΤΑΜΙΟΣ (Hom. Il. 21) zurück, ebenso wie auf die Texte von Lucan, Statius und Silius Italicus.16 Die Überschwemmung des Marsfeldes im Bellum Civile weist zwei formale Gemeinsamkeiten mit der literarischen Tradition auf: erstens treiben Leichen im Wasser, welches, zweitens, vom Blut rot gefärbt ist. Wesentliches Merkmal der Erzählung ist, so Raabe, die „höchst gesteigerte Bildintensität“.17 Weitere Ausführungen zur Szene finden sich bei ihm jedoch nicht. Fantham hebt intertextuelle Bezüge insbesondere zu Vergil, Horaz und Herodot hervor: Beispielsweise wird der Ausdruck flos (196) bei Vergil für italische Kämpfer gebraucht (Verg. Aen. 8.499–500: iuventus, | flos veterum virtusque virum; 7.162: pueri et primaevo flore iuventus). Die Rolle Sullas als Zuschauer evoziere, so Fantham weiter, beim Leser die Darstellung des Mezentius (Verg. Aen. 8.485) oder Xerxes (Hdt. 8.69 u. 90), und die sprachliche Gestaltung des Flusses, der letztendlich das Meer spaltet (220), verweise insbesondere auf Horaz (Hor. carm. 2.3.9). Auch Leigh bemerkt die bereits angeführten Parallelen zu Homer und Vergil, ergänzt diese jedoch um den Verweis auf Euryalus’ Tod in Verg. Aen. 9.433–437. Zudem erkennt er in der Partie eine

14 15 16 17

tung‘. In Einzelfällen wird noch eine offizielle Tilgung des Andenkens, die durch den Senat beschlossene ‚damnatio memoriae‘, erwähnt.“ Aldrete 2007: 118; Ciceros Darstellung (Cic. Sest. 35.77) bezieht sich auf das Jahr 57 v. Chr. und ist rhetorisch stark überhöht. Raabe 1974: 79; Fantham 1992: 114–120; Leigh 1997: 300–303; Dreyling 1999: 91–100; Fratantuono 2012: 65; Ambühl 2015: 320–323. Raabe 1974: 78–80; vgl. Juhnke 1972: 11–44. Raabe 1974: 79, Anm. 7.

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sexuelle Metaphorik, die er auf Catull 63.7 und 63.64 zurückführt.18 Von diesen Beobachtungen distanziert sich jedoch insbesondere Dreyling.19 Fratantuono ergänzt die Beobachtungen durch die Assoziation mit Pallas, der Turnus im Kampf unterliegt und dessen Tod mit dem Abschneiden einer Blume verglichen wird (Verg. Aen. 9.339).20 Weiter findet der Begriff Hesperiae (196) bereits in der griechischen Prophezeiung Erwähnung (Verg. Aen. 1.530: est locus, Hersperiam Grai cognomine dicunt). In Anbetracht der bisherigen Forschungsbeiträge zur Intertextualität sind der Botenbericht, die Massenhinrichtung unter Sulla sowie die Verstopfung des Tibers vor dem Hintergrund des Troianischen Krieges und der „damit verbundenen Mythologeme“ zu lesen.21 Neben der Auffassung, dass es sich bei den Schilderungen des ersten Bürgerkrieges zwischen Marius und Sulla um ein „Panoptikum des Schreckens“22 handelt, das die Funktion hat, den Leser und die fiktiven Zuhörer auf die drohenden Grausamkeiten vorzubereiten,23 sind der Textpartie auch konkrete intratextuelle Bezüge inhärent. Schmitt etwa zeigt proleptische Hinweise hinsichtlich der räumlichen Enge auf: Später werden auch die Soldaten des Pompeius kaum in der Lage sein, ihre Arme zu bewegen (vix habitura locum dextras ac tela movendi, 7.494 ). Zudem bleiben die Toten bei der Schlacht in Spanien (compressum stetit omne cadaver, 6.787 ) sowie auch bei der von Pharsalus stehen (quis steterit dum membra cadunt, 7.623). Radicke vertritt die These, dass „die verwesenden Opfer Sullas und der sich blutrot ins Meer ergießende Tiber die Leichenberge von Pharsalos sowie den Fluss Peneios anklingen lassen.“24 Bemerkenswerte interpretatorische Ansätze sind den Beiträgen von Conte und Lapidge zu entnehmen.25 Conte vergleicht den Blutstrom, der über das Ufer tritt und sich über das Marsfeld ergießt, mit der Bewegung einer Schlange. Zudem stellt er über Lucans künstlerische Mittel ein Verwischen von Poesie 18 19 20 21 22 23

24 25

Leigh 1997: 302 u. 302, Anm. 15. Dreyling 1999: 93. Fratantuono 2012: 65. Ambühl 2015: 320. Ambühl 2015: 323. Dies wird vom auktorialen Erzähler selbst explizit zum Ausdruck gebracht: sic maesta senectus | praeteritique memor flebat metuensque futuri (Lucan. 2.232–233); vgl. etwa Häussler (1978: 89), der den proleptischen Charakter der Erzählung als „Kulissenmalerei“ mit der Funktion der „Schaffung einer Grundstimmung“ bezeichnet; nach Schmitt (1995: 73) dient die „Beschreibung des Gemetzels […] zugleich dem Zweck der Rede: der Antizipation des kommenden Bürgerkrieges“; Radicke (2004: 207) bemerkt, die Partie „nimmt […] motivisch die Schrecken des Kriegs und der anschließenden Tyrannei Caesars vorweg.“ Radicke, 2004: 207. Vgl. Lucan. 7.789–824; 8.33–34. Conte 1968; Lapidge 1979.

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und Wirklichkeit fest und verweist auf die Kraft der „imaginazione“ und phantasia als wesentliches Element der Szene: […] il rapporto tra soggeto e oggetto, tra poesia e realtà, sta rompendosi: all’imaginazione, alla phantasia, è affidato il compito di integrare per suggestione il cantatto affievolito.26 Die Vermittlung von Information über den künstlerischen Ausdruck werde nicht mehr gewährleistet und habe allgemeines Chaos zur Folge.27 Lapidge führt den Gedanken des die Weltordnung auflösenden Bürgerkriegs eindrücklich fort. Dabei stellt er die These auf, dass Lucan im Kontext der Stoischen Kosmos-Theorie zu lesen sei.28 Auch er bezieht sich dabei auf die Überflutung des Tibers aufgrund der Verstopfung durch die aufgeschichteten Leichen: „The metaphor of the flood images the resulting chaos (on the cosmic scale) or nefas (on the human scale).“29 Schmitt dagegen distanziert sich deutlich von Contes und Lapidges Untersuchungen und bezeichnet sie als „Überinterpretationen“. Er verweist auf die Überlieferung durch Accius ( frg. 323 [R²]) und Cicero (Sest. 35.77) und behauptet irrtümlich, die Schilderung der Überflutung entspreche „historischen Umständen“. Außerdem sei diese Darstellung bei Lucan „ohne besonderen Zweck“.30 Diese Behauptung gilt es jedoch im Anschluss an den Forschungsüberblick zu entkräften (s. Abschnitt 3.4). Bartsch führt Lapidges Untersuchung der Auflösung und Grenzüberschreitung im Bellum Civile fort und kommt zu dem Schluss: […] microcosm and macrocosm reflect the dissolution of all normative limits. […] the gulf between life and death, earth and sky, land and sea, even chance and fate, dissolves and brings on the strangest of chaos.31 So wird eine Verkehrung von Subjekt und Objekt sowohl auf semantischer als auch auf syntaktischer Ebene ermöglicht. Denn eine solche Unterscheidung macht in einem Bürgerkrieg, in dem römische Bürger gegeneinander kämpfen, keinerlei Sinn. Es handelt sich vielmehr um eine Art gegen sich selbst gerichte-

26 27 28 29 30 31

Conte 1968: 238. Conte (1968: 238): „[…] volonta di ordine e disciplina si perdono.“ Lapidge (1979: 345): „Yet one aspect of Lucan’s Stoicism has never been adequately discussed: his debt to Stoic cosmological theory.“ Lapidge 1979: 363. Schmitt 1995: 75, Anm. 122. S. oben Anm. 14 auf S. 128. Bartsch 1997: 17.

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ter Zerfleischung und Identitätsverlust.32 Bartschs These der Grenzverletzung steht in engem Zusammenhang damit, dass bei der von Sulla angeordneten Massenhinrichtung lebende von bereits hingerichteten Menschen getötet werden.33 Dinter greift die These der Grenzüberschreitung auf und erweitert sie durch sein Konzept der Körperlichkeit. Auf das Motiv des ‚Leichendamms‘ kommt er sehr kurz zu sprechen, um auf eine Neugestaltung der Welt hinzuweisen: Civil war boundaries can reshape the world by crossing boundaries and breaking limits. Hence it […] also has an impact on the Roman state body and the cosmic body. The hyperbolic descriptions of dams constructed from bodies (BC 2.214) emphasize this conflict’s destructive and creative energy.34 Walde führt die Überflutung des Tibers als Beispiel an, um das Motiv des ‚Vermischens‘, das im Kontext von Flüssen häufig mit der Aufgabe der Identität einhergeht, näher zu beleuchten: Das Mischen, das eine partielle Identitätsaufgabe bedeutet, wird im Bellum Civile auf verschiedenen Ebenen immer wieder thematisiert, was wiederum an den Flüssen exemplarisch aufgezeigt wird: Denn sie mischen sich nicht nur miteinander oder mit dem Meer, sondern auch mit Blut. Im ersten Bürgerkrieg floss soviel Blut, dass der Tiber über die Ufer trat, das Blut und die Leichen aber später wieder ausscheiden konnte (2,214ff.).35 Die Rezeption der vorliegenden Szene ist sehr überschaubar und ist auf wenige Einzelbilder beschränkt.36 Der negativ-komparativische Vergleich der Bestrafung mit den Naturkatastrophen (199–200) diente vermutlich als Vorlage für Anth. Lat. 214.15–17: Quas aequoris iras, | quas caeli terraeque lues miserabile vulgus | pertulit. Die Beschreibung der Überschwemmung durch die Anhäufung von Leichen lag wohl gegen Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. dem Redner Nazarius vor: non commemorabo hic tectas continuis stragibus ripas, non opp-

32 33 34 35 36

Bartsch 1997: 24: „From here also comes Lucan’s image of civil war as a senseless manifestation of self-slaughter.“ Bartsch 1997: 17 u. 27. Dinter 2012: 126; vgl. Abschnitt 3.4.4 zum dekonstruktiven Charakter der Partie. Vgl. Walde 2007: 78. Vgl. Dreyling 1999: 94 u. 97.

132

kapitel 3

letum aceruis corporum Tiberim et inter congestas alte cadauerum moles aegro nisu ac uix eluctantibus gurgitibus exeuntem, […] (Pan. lat. 4.30.1). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bisherige Forschung die Partie der Massenhinrichtung und Tiberflut zwar durchaus berücksichtigt, diese jedoch meist nur als Beispiel herangezogen wird, um allgemeine Beobachtungen am Epos, wie etwa die Auflösung der Weltordnung in geringerem Umfang, zu belegen. Selbst die wohl ausführlichsten Interpretationsansätze von Conte und Lapidge weisen lediglich einen Umfang von ca. einer halben bis einer Seite auf. Daher soll im Folgenden eine differenziert und konkret vom Text ausgehende Analyse unternommen werden, die V. 193–220 ins Zentrum rückt.

3.4

Interpretation

Die folgende Interpretation nimmt John Hendersons allgemeine Beobachtung zum Bellum Civile als Ausgangspunkt: The structured process that is War: duality leading through binarism to self-cancellation and the unitary, made real by the aggregate of corpses whose memorialization validates the structure, […].37 Die Darstellung der Massenhinrichtung und die daran anschließende Überschwemmung des Tibers zeigt die Auflösung einer meist dualen Weltordnung und ihrer Grenzen in prägnanter Weise auf. „Chaos“38 und „the scope of this violation of boundaries“39 sowie auch Selbstauflösung bilden als Leitgedanken die Grundlage für das Verständnis der Textpartie. Es soll jedoch aufgezeigt werden, dass die vorliegende Gewalterzählung nicht nur über den Prozess der Auflösung, sondern auch über den der Verdichtung fassbar gemacht werden kann, der in unterschiedlicher Hinsicht präsent ist – am offensichtlichsten wohl am Motiv der aufgehäuften Leichen.40 In diesem Sinne lässt sich die Partie auch unter dem Eindruck von Senecas Beschreibung der ἐκπύρωσις lesen: ex tanta varietate solvantur atque eant in unum omnia (Sen. benef. 6.22.1).41 37 38 39 40

41

Henderson 2010: 483 (Hervorhebungen durch den Verfasser). Lapidge 1979: 363. Bartsch 1997: 17. Hendersons Ausdruck „unity“ weicht in seiner Bedeutung von dem der ‚Verdichtung‘ ab. Wesentlich an dem von mir gewählten Begriff ist das Übereinanderliegen mehrerer heterogener Schichten, was mit dem semantischen Grenzbereich zweier Semiosphären zu vergleichen ist. Auf diese Sentenz nimmt zudem die sprachliche Gestaltung der Überflutung in Ilerda

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133

3.4.1 Gewaltkonstellation Die Analyse der Gewaltkonstellation erfolgt in mehreren Schritten und orientiert sich dabei an der in Abschnitt 3.2 vorgenommenen Einteilung. Zu Hinrichtung 1: Praeneste (193b–195): 193

vidit Fortuna colonos Praenestina suos cunctos simul ense recepto unius populum pereuntem tempore mortis.

GP(ind); GA33c; GA2 GA33c; GA2; W; GE(p)

In Praeneste sind alle Einwohner der Kolonie (colonos […] suos cunctos) patientes (GA2). Agentes werden dagegen nicht genannt, stattdessen wird das passive Erleiden von Gewalt (GE[p]) durch das Schwert (W) mit der passivischen Partizipialkonstruktion ense recepto zum Ausdruck gebracht. Die personifizierte Schutzgöttin der Kolonie, Fortuna Praenestina, bildet als Subjekt des Satzes das particeps in der Funktion des Zeugen (GA33c). Der Fokalisationsmarker vidit kennzeichnet ihre indirekte Partizipation (GP[ind]). Es ist eine klare Differenzierung der einzelnen Aktanten zu erkennen, die keine Veränderung, wie etwa in der vorigen Partie des Marius Gratidianus (2.173–193a), aufweisen. Deutlich sichtbar ist die dichte Satzstruktur, markiert durch ein zweifach konstruiertes Hyperbaton (193–194), das zudem Fortuna und colonos mit ihren jeweiligen Attributen über den Versumbruch mittels eines Enjambements miteinander verbindet. Der sprachliche Ausdruck korrespondiert in bemerkenswerter Weise mit der inhaltlichen Nähe zwischen den Einwohnern Praenestes und ihrer Schutzgöttin. Dieses Bild kontrastiert umso stärker mit der Hilflosigkeit und Ohnmacht, der alle in 193b–194 genannten patientes bei der Massenhinrichtung ausgeliefert sind.42 Im Abschnitt Hinrichtung 2: Rom (196–197) wird der Blick des Lesers vom particeps auf die patientes gelenkt: 196

tum flos Hesperiae, Latii iam sola iuventus, concidit et miserae maculavit Ovilia Romae.

GA2 ST; VW

201

[…] densi vix agmina vulgi inter et exangues immissa morte catervas

GE(p)

42

(Lucan. 4.48–129) Bezug, die ihrerseits von der zu untersuchenden Textstelle proleptisch angedeutet wird; vgl. Lapidge 1979: 365. Vgl. Fantham (1992: 115): „Fortuna Primigenia, patron goddess of Praeneste, was conveived of having the power to determine men’s lives; instead she is a helpless witness as her community is desroyed.“

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victores movere manus; vix caede peracta procumbunt, […]

GA1; GT(z)?; GE(p)

Patientes (GA2) sind die in der intradiegetischen Erzählung als ‚Blüte Hesperiens‘ bzw. als ‚die Jungmannschaft Roms‘ bezeichneten Kriegsgefangenen Sullas.43 Der Moment der Verwundung lässt sich dem Text nicht explizit entnehmen, stattdessen die Schilderung des Sterbens (ST) durch concidit. Da im weiteren Verlauf des Massakers deutlich wird, dass die Leichen nicht in der Lage sind umzufallen (203–206), kann concidere hier konkret als ‚sterben‘ verstanden werden. Sicherlich ist die Doppeldeutigkeit des Verbs auf einen besonderen Pointeneffekt ausgelegt, sodass die Bedeutung als ‚bloßer‘ Prozess des Sterbens für den Rezipienten sich erst retrospektiv erschließt. Im Hinblick auf maculavit bleibt offen, ob es sich bei der Befleckung konkret um Blut, als proleptischer Hinweis auf ihre an Land zurückgespülten Leichen oder vielleicht als moralische Verurteilung der verbrecherischen Hinrichtung handelt, die auf die wertende Bemerkung des Erzählers miserae […] Romae rekurriert. Bei der anschließenden Beschreibung des Massakers (201b–206), das auf dem Marsfeld ausgeübt wird, weitet der Erzähler das Sichtfeld auf die Gewaltaktanten. […] densi vix agmina vulgi inter et exangues immissa morte catervas victores movere manus; vix caede peracta procumbunt, dubiaque labant cervice; sed illos 205 magna premit strages peraguntque cadavera partem caedis: viva graves elidunt corpora trunci.

GE(p) GA1; GT(z)?; GE(p) GA2 GA1; GT(n) GA2; GA1+W; GT(n)

Agentes (GA1) werden nun ausdrücklich genannt und zunächst als victores bezeichnet. Eine aktive Gewalttat ist dem Text nicht explizit zu entnehmen. Es lässt sich höchstens von der Andeutung einer zielgerichteten Gewalttat (GT[z]?) sprechen, da die victores aufgrund der dicht stehenden Reihen der Kriegsgefangenen kaum ihre Hände zum Schwungholen bewegen können (densi vix agmina vulgi | inter […] | victores movere manus). Vielmehr liegt der Fokus auf passiven Partizipialkonstruktionen (inmissa morte, caede peracta), die den Leser eindrücklicher über das passive Erleiden von Gewalt (GE[p]) 43

Domaszewski (1924) legt in seiner Untersuchung zum Bellum Marsicum dar, inwiefern die Samniten als iuventus Italiae zu verstehen sind. Fantham (1992: 116) deutet den Gebrauch von iuventus als mögliche Betonung der jungen Italiker, die in die Stadt getrieben wurden wie Schafe auf den Markt; zur weiteren Diskussion vgl. Dreyling 1999: 92–93.

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informieren und auf die Gewalt in Praeneste (ense recepto) in syntaktischer Hinsicht deutlich Bezug nehmen.44 Waffen werden bei dem Massaker nicht erwähnt, allerdings lässt sich der Gebrauch von Schwertern auf zwei Aspekte zurückführen: zum einen assoziativ durch die Hinrichtung in Praeneste und deren Ausführung durch enses (s.o.), zum anderen durch die erschwerte Ausführung des Schwungholens mit den Händen. Im weiteren Verlauf des Massakers (203b–206) unterliegt die bisherige Gewaltkonstellation aufgrund ihres dynamischen Wechselverhältnisses mit der Verdichtung des Erzählraums (s. Abschnitt 3.4.4) einer Veränderung in entgegengesetzter Richtung. Nach ihrem Tod fallen die Getöteten aufgrund des dichten Gedränges nicht einfach zu Boden, sondern sinken langsam ab und erdrücken ihre Mörder durch ihr Gewicht. Die Gewaltaktanten tauschen die Positionen: illos, das auf die bisherigen Gewalttäter victores Bezug nimmt, und viva corpora werden nun zu patientes (GA2), während dagegen die Hingerichteten (magna strages, cadavera, graves trunci) die Rolle der agentes (GA1) einnehmen. Dies wird zusätzlich auf stilistischer Ebene über den Gebrauch der Priamel (vix … vix … sed) akzentuiert. Die Masse der Leichen hat den Tod der GA2 zur Folge, wobei die Schilderung des Tötens im Gegensatz zum Massaker in Praeneste und dem bisherigen Verlauf der Hinrichtung auf dem Marsfeld nun eine nicht zielgerichtete Gewalttat darstellt (GT[n]). Auffällig ist also, dass der Aspekt bzw. die Blickrichtung der Gewalttat der Verkehrung der bisherigen Gewaltkonstellation entspricht: Anstelle von passiven Partizipialkonstruktionen lassen sich im Text nun Prädikate beobachten, die aktive Verbformen aufweisen (premit, peragunt, elidunt). So erhält die GT(n) durch die Hervorhebung auf syntaktischer Ebene eine höhere Intensität, obwohl sie von willenlosen Leichen ausgeführt wird. Zugleich ist eine Deutung der schweren Leiber (graves trunci, 206) als Waffen (W) durchaus plausibel, zumal dieses Motiv über das gesamte Epos hinweg zu finden ist.45

44 45

Zu immissa morte s. Fantham (1992: 116): „immissa morte vividly substitutes the abstraction for the human executioners.“ Beispielsweise Lucan. 3.622–626; 3.709–722; 4.561–562; 6.170–172; vgl. Hübner (1975: 210, Anm. 66): „Dass Leichen durch ihre Masse und ihr Gewicht noch eine Rolle beim Morden spielen können, ist ein grausiges Leitmotiv der Pharsalia […]“; Narducci 1985: 151, Anm. 16; Henderson (2010: 482): „There is just Caesar, C-ae-s-a-r and his metaplasms, c-a-d-o, c-ad-aver/c-ae-d-o, the Bellum Civile turning over and over the figure at the level of the Epic ‘Man’ of the ‘Walled City’s’ uncreation, the ruina (‘crash’) of the ‘corpse’, as itself the principal ‘Arms’ of the ‘Imperial Mission’: in Death, ‘the dead deal out death’, peragunt cadauera partem | caedis (2.205), ‘the hordes [cateruas] of the dead … are so great a heap that after the slaughter [caede peracta] they can hardly fall …’ (2.201–202, cf. 210–211, cadauera … cecidere, 134–135, cecidere cadauera … cateruas, 150–151, ceruix caesa … cederet … cecider-

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Abschließend konzentriert sich die Darstellung des intradiegetischen Erzählers in Episode 2: Sulla (207–209a) auf die doppelte gewaltaktantielle Funktion des Diktators. intrepidus tanti sedit securus ab alto spectator sceleris: miseri tot milia vulgi non timuit iussisse mori.

GA33ac GP(ind)

Sulla weist zum einen als spectator die Funktion des Zeugen (GA33c) auf. Zum anderen wird der Leser darüber in Kenntnis gesetzt, dass Sulla den Befehl zur verbrecherischen Hinrichtung gegeben hat. Damit ist der Zeuge des Geschehens zugleich als Gebieter (GA33a) zu klassifizieren und indirekt an der Gewalthandlung beteiligt (GP[ind]). Zusammen mit Fortuna Praenestina (193–194) bildet er eine Ringkomposition, die die beiden Hinrichtungen in Praeneste und Rom umfasst. Sulla ist als negatives Pendant zur Schutzgöttin anzusehen. Während diese ohnmächtig die Hinrichtung ihrer coloni mitansehen muss, konstituiert sich dessen Macht geradezu im Spektakel des Massakers auf dem Marsfeld. 3.4.2 Erzählmodus Das Motiv der Verdichtung konstituiert sich nicht nur in der fiktiven Erzählwelt der fabula, sondern auch auf Ebene der story, wie der Blick auf den Erzählmodus der Partie sichtbar macht. Zum einen lässt sich dies anhand der narrativen Distanz bzw. Mittelbarkeit aufzeigen (1), zum anderen an der Fokalisierung der Ereignisse (2). (1) Der erhöhte Grad von Distanz und Mittelbarkeit der Erzählung resultiert aus dem Ineinandergreifen verschiedener Erzählinstanzen. Es handelt sich wie auch in der Marius-Szene weiterhin um eine eingebettete Figurenerzählung. Der auktoriale Erzähler des Bellum Civile erzählt von einem anonymen Greis, der davon berichtet, wie die Fortuna von Praeneste und Sulla die jeweiligen Massenhinrichtungen mitansehen. Die Verdichtung zeigt sich insbesondere an drei ‚narrativen Inkonsistenzen‘, die ein Ineinanderfließen der verschiedenen Instanzen zum Ausdruck bringen: (a) Die Klassifizierung der Erzählung als ‚homodiegetisch‘ ist ab V. 193 nicht mehr zutreffend.46 Der anonyme Greis berichtet, wie Fortuna Praenestina und

46

unt, 169–170, caesi … cadauera … cervice recisum, 178–179, in corpore caeso … cecidere maus, 192, caedes, 197, concidit).“ Vgl. vidimus (V. 178) als Fokalisationsmarker für den Greis, der Marius’ Zerstückelung mitansieht.

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Sulla Augenzeugen des jeweiligen Massakers wurden, ohne jedoch selbst dabei gewesen zu sein. Der fließende Übergang zu einer heterodiegetischen Erzählung markiert eine ‚paraleptische‘ Ausweitung zu einer ‚quasi-auktorialen‘ Erzählung mit Nullfokalisierung (s.u.). Mit dieser für den Rezipienten irritierend wirkenden Modifikation rückt der anonyme Greis als narrativer Vermittler der fiktionalen Welt stärker in den Vordergrund und der Grad der Mittelbarkeit wird erhöht. (b) Zudem äußert sich die sukzessiv zunehmende Erzählerpräsenz in einer tendenziellen Annäherung an den primären, episch-auktorialen Erzähler des Bellum Civile. Exemplarisch ist Episode 1: Vergleich mit Naturkatastrophen (198– 201a) heranzuziehen. Als wesentliches Merkmal epischer Dichtung erzeugt der Vergleich aus dem Mund der Figur des ‚einfachen‘, alten Mannes eine illusionsstörende Wirkung. Auch Fantham bemerkt hierzu: „simple old men do not use mythological comparisons and elaborate similes.“47 So kann zwischen extraund intradiegetischem Erzähler keine klare Differenzierung mehr getroffen werden. Der primäre Erzähler des Bellum Civile scheint durch den anonymen Greis hindurch. Es ist bemerkenswert, dass die Erhöhung narrativer Distanz und Mittelbarkeit durch den epischen Vergleich im Kontext direkter Figurenrede erfolgt. Denn paradoxerweise ist direkte Figurenrede eigentlich als konstitutives Merkmal geringer Mittelbarkeit anzusehen. (c) Schließlich weist Ambühl im Hinblick auf den Erzählduktus des intradiegetischen Erzählers charakteristische Merkmale des tragischen Botenberichts nach, der wie in der vorliegenden Partie sein Sichtfeld auf das eines allwissenden Erzählers ausdehnen kann: Neben den Chorliedern kann auch das Modell des Botenberichts zur Erklärung des Phänomens dienen, dass die Erinnerungen des Greises streng genommen die Kapazität eines einzelnen Augenzeugen übersteigen. Wie neuere narratologische Untersuchungen zu Botenberichten in der attischen Tragödie aufgezeigt haben, verwenden tragische Boten erzähltechnische Mittel wie das historische Präsens oder subjektive Kommentare, um die von ihnen berichteten Ereignisse dem internen und dem externen Publikum anschaulich zu machen; obwohl sie sich gerne als Augenzeugen ausgeben, können sie ihren Horizont unter bestimmten Umständen auch zu einer umfassenderen Perspektive ausweiten.48 47

48

Fantham 1992: 93; unter diesen Aspekt lässt sich nach Fantham (1992: 120) auch die Beschreibung des rotgefärbten Tibers in das Meer fassen: „[…] the bloodshed passes beyond the survivor’s knowledge, and the pollution of the sea is not seen with the old men’s memory, but the poet’s vision.“ Ambühl 2015: 326; generell zur Figurenerzählung des Greises s. ebenda: 323–335; vgl.

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Damit blenden direkte Figurenrede, narrative Techniken des Epos und Elemente der attischen Tragödie ineinander und treten in der intradiegetischen Erzählung des anonymen Greises synthetisch zusammen. (2) Mit der Unschärfe narrativer Instanzen, die eine Erhöhung der Mittelbarkeit zur Folge hat, korrespondiert die Verdichtung der Fokalisierungsstruktur. Dies zeigt sich insbesondere am Phänomen der eingebetteten Fokalisierung einerseits durch Fortuna Praenestina und andererseits durch Sulla. Der Abschnitt Hinrichtung 1: Praeneste (193b–195) ist durch Fortuna Praenestina fokalisiert. Es liegt explizit eingebettete Fokalisierung vor, markiert durch das Prädikat vidit (193).49 Der sekundäre Erzähler, d. h. der anonyme Greis, integriert also offensichtlich die subjektive Wahrnehmung der Schutzgöttin in seine eigene Perspektive der Erzählung. Weniger offensichtlich ist dagegen die Fokalisierung des Massakers (201b– 206) durch Sulla. Im Gegensatz zur Darstellung des Massenmordes in Praeneste lässt sich hier implizit eingebettete Fokalisierung beobachten. Um dies deutlicher aufzeigen zu können, müssen auch die Abschnitte Hinrichtung 2: Rom (196–197), Episode 1: Vergleich mit Naturkatastrophen (198–201a) und Episode 2: Sulla (207–209a) in die Betrachtung miteinbezogen werden. Diese lassen klar Nullfokalisierung erkennen, wobei die Fokalisierungsinstanzen des primären Erzählers (der auktoriale Erzähler des Werkganzen) und sekundären Erzählers (der anonyme Greis) nicht trennscharf auseinanderzuhalten sind. Wie im Hinblick auf den epischen Vergleich in Episode 1 (198–201a) gezeigt werden konnte (s.o.), konstituiert sich der primäre, allwissende Erzähler in der vermeintlich perspektivisch eingeschränkten Figurenrede des sekundären Erzählers. Die Nullfokalisierung durch den doppelgestaltigen, d. h. ‚allwissenden anonymen Greis‘ lässt sich zum einen anhand wertender Ausdrücke belegen, die auf die moralische Verwerflichkeit der Hinrichtung in Rom hinweisen, wie etwa flos Hesperiae (196), miserae Romae (197), sceleris (208) und miseri (208); zum anderen an der Gleichsetzung der poena mit negativ behafteten Katastrophen und Naturgewalten wie fames, furor pelagi, subitae ruinae sowie terrae caelique lues und bellica clades (199–201). Dieser moralisch wertende Kontext lässt sich als Kontrastfolie zur Beschreibung des Massakers (201b–206) deuten. Weder beinhaltet sie eine moralische Wertung noch werden Emotionen zum Ausdruck gebracht. Die Passage hat rein deskriptiven Charakter und weist im Gegensatz zu den übrigen Abschnitten der Partie eine hohe Distanziertheit des Erzählers zum Geschehen auf. Die narrative Repräsentation des

49

zum Botenbericht bei den attischen Tragödienschreibern Barrett 2002; zu Euripides s. de Jong 1991. Durch die Erstposition in der Partie ist das verbum videndi zusätzlich betont.

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Massakers steht in einem bemerkenswerten Entsprechungsverhältnis zur emotionalen Teilnahmslosigkeit Sullas, der die Hinrichtung als spectator (GA33c) verfolgt (207–209a). Mittels Nullfokalisierung hat der Leser Einblick in die innere Verfassung des Herrschers: unerschrocken (intrepidus, 207) und selbst in Sicherheit (securus, 207) betrachtet er von einem erhöhten Standpunkt aus das grausame Geschehen auf dem Marsfeld. Reue über seinen Befehl empfindet er nicht (non timuit iussisse mori, 209). Da spectator als expliziter Fokalisierungsmarker nicht geeignet ist – Sulla würde die von ihm angeordnete Hinrichtung wohl kaum als scelus (208) und die Menschenmenge auch nicht als miser (208) empfinden – kann aufgrund der eindringlichen Entsprechung narrativer Gestaltung und psychischer Verfassung Sullas von implizit eingebetteter Fokalisierung ausgegangen werden. 3.4.3 Zeit Das Motiv der Verdichtung lässt sich nicht nur anhand der Kategorien ‚Gewaltkonstellation‘ und ‚Erzählmodus‘ greifbar machen, sondern äußert sich auch in der narrativen Gestaltung der Zeit. Dabei ist (1) zunächst auf die literarische Verarbeitung zweier historisch unabhängiger Hinrichtungen einzugehen. (2) Daraufhin wird der Blick auf die Gleichzeitigkeit als Gegenstand der fabula gelenkt. Schließlich folgt eine Auseinandersetzung mit der story, wobei (3) der Aspekt der Zeitraffung, (4) der gesteigerte Textumfang der Bestrafung in Rom und (5) die Wahrnehmung des ‚ästhetischen Präsens‘ in den Fokus gerückt werden. (1) In der eingebetteten Erzählung sind die jeweiligen Hinrichtungen in Praeneste und Rom in ihrer historischen Abfolge vertauscht (s. Abschnitt 3.3 zum Forschungsstand). Radicke bemerkt in diesem Zusammenhang, dass dies ein Mittel sei, „vermutlich um die Erzählung effektiver gestalten zu können“.50 Diese Feststellung ist sicherlich richtig, allerdings schließt sich die Frage an, inwiefern sie dadurch effektiver gestaltet wird. Ein Blick auf den ‚Rollentausch‘ der Gewaltaktanten (s.o.) legt nahe, dass die Verkehrung der Erzählfolge im Hinblick auf die Verdichtung zu deuten ist. Zudem ist eine eindeutige Markierung des zeitlichen Nacheinanders nicht eindeutig gegeben, da die adverbiale Bestimmung tum (196) nicht nur als ‚dann‘ oder ‚hierauf‘, sondern auch als einen bestimmten Zeitpunkt umschreibendes ‚damals‘ wiedergegeben werden kann.51 Diese zeitlich ‚verschmolzene‘ oder verdichtete Darstellung der Ereignisse entspräche zugleich der rhetorischen Tradition der decantatae fabulae (s.o.). 50 51

Radicke 2004: 207, Anm. 37. Vgl. etwa die deutsche Übersetzung Lucan und Ehlers (1973: 67).

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(2) Gleichzeitigkeit kommt nicht nur im Hinblick auf die Ordnung der Ereignisse zum Ausdruck, sondern ist expliziter Gegenstand der fiktiven Erzählwelt. Im Abschnitt Hinrichtung 1: Praeneste erleiden die patientes den Tod zum selben Zeitpunkt. Zum einen äußert sich die Gleichzeitigkeit durch die Adverbiale simul (194), zum anderen durch die Information, das Volk sei unius […] tempore mortis (195) zugrunde gegangen. Im Gegensatz zur Folter des Marius, wo die Verlängerung des Sterbens als möglichst qualvoller Übergang vom Leben zum Tod angestrebt wurde (173–193a), ist bei der Massenhinrichtung eine schnelle Herbeiführung des Todes das Ziel der agentes. Die beiden Textpartien stehen sich somit antithetisch gegenüber.52 Im Kontext der Hinrichtung auf dem Marsfeld greift Episode 1 den Aspekt der Gleichzeitigkeit durch die Wortwiederholung von simul (198) noch einmal auf. (3) Verdichtung der Zeit findet sich auch auf Ebene der story. Wie die Analyse der Gewaltkonstellation bereits gezeigt hat (s. Abschnitt 3.4.1), lässt keine der beiden Hinrichtungen eine explizite Schilderung von Verwundungen erkennen. Mittels Vorzeitigkeit anzeigender Partizipialkonstruktionen wie ense recepto (194), immissa morte (202) und caede peracta (203) ist das Erzähltempo erhöht. Die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte Zeit. Zudem sind den Ausdrücken jeweils unterschiedliche Nuancen inhärent. Für Fantham ist ense recepto trotz sprachlicher Schwierigkeiten als Ausdruck für „the hyperbole of simultaneous massacre“ zu verstehen.53 Durch immissa morte ist der Fokus auf den Tod als Ergebnis der Verwundung gerichtet. Der Prozess der Gewalt spielt somit eine eher untergeordnete Rolle. Schließlich stellt die Junktur caede peracta nicht nur eine zeitliche, sondern auch semantische Verdichtung dar. Das Verb peragere ist nicht nur im Sinne von ‚ausführen‘ zu verstehen,54 sondern im Passiv auch als ‚vollenden‘ bzw. im Sinne von ‚sterben‘.55 Durch die Redundanz gewinnt das gedrängte Bild des Gemetzels zusätzlich an Schärfe. (4) Trotz punktueller Zeitraffung weist die Schilderung der Massenexekution in Rom gegenüber der in Praeneste einen deutlich gesteigerten Textumfang auf. Während letztere lediglich zweieinhalb Verse umfasst (193b–195), wid52

53

54 55

Für die Antithese ‚Kürze der Zeit‘ – ‚Masse der Hingerichteten‘ verweist Fantham auf Ov. met. 8.833 (quodque satis poterat populo, non sufficit uni) und Sen. Herc. f. 775–776 (cumba populorum capax | succubuit uni). Fantham 1992: 115 (Hervorhebung durch den Verfasser); um die sprachlichen Unzulässigkeiten, die sich aus der Apposition populum pereuntem ergeben, zu korrigieren, wurde recepto in den Handschriften P und U durch den Akkusativ Plural receptos ersetzt. Die Editoren vor Hosius entschieden sich dagegen für recisos; vgl. Fantham 1992: 114. Vgl. Liv. 1.32.6: Peragit deinde postulata; Ov. met. 7.502: Cecropidae Cephalus peragit mandata; Lucan. 2.338–239: peregi | iussa. ThLL s.v. ‚perago‘, 10.1.1179.39–55.

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met sich der Erzähler der Bestrafung auf dem Marsfeld über 14 Verse hinweg (196–210), woraufhin er dem Leser zusätzlich die Entsorgung der Leichen über den Tiber vor Augen führt (211–220). Der sich auftürmende Leichenhaufen ist damit in der Kumulation der Verse auf story-Ebene abgebildet. (5) Abschließend soll der Blick auf den bemerkenswerten Tempuswechsel vom Perfekt zum Präsens gerichtet werden, der sich in der Beschreibung des Massakers ab V. 203 beobachten lässt: procumbunt (204) – labant (204) – premit (205) – peragunt (205) – elidunt (206). Als ein der attischen Tragödie entlehntes Element des Botenberichts übernimmt das Präsens die Funktion des historischen Präsens.56 Auf diese Weise wird das Geschehen lebendiger gestaltet und die Rezipienten emotional stärker in das Ereignis einbezogen. Der Tempuswechsel markiert den Wendepunkt des Massakers, wo das Verhältnis von agentes und patientes ins Gegenteil verkehrt wird und die bereits Hingerichteten ihren Henkern den Tod bringen. Da Sulla diese auf den Leser paradox und verstörend wirkende Szene fokalisiert (vgl. Abschnitt 3.4.2 zur implizit eingebetteten Fokalisierung), lässt sich hier von der Warte der Ästhetik aus argumentieren: Möglicherweise handelt es sich um „das absolute Präsens des kontemplativ Regungslosen angesichts einer Handlung, des Gemetzels“.57 Die Fokussierung aller Wahrnehmung auf das grauenerregende Schauspiel äußert sich in der Verdichtung der Zeit auf den ästhetischen Moment „reiner Gegenwart“58 und korrespondiert auf bemerkenswerte Weise mit den Sulla zugeschriebenen Attributen intrepidus, securus und spectator sceleris. Aus dieser Perspektive ist Sulla also nicht mehr die Eigenschaft des stoischen Weisen, sondern vielmehr die des gebannten Zuschauers oder Voyeurs zuzuschreiben.59 3.4.4 Erzählraum Innerhalb der vorliegenden Textpartie kommt dem Raum nicht die Funktion einer narrativen ‚Hintergrunderscheinung‘ oder eines ‚Behälters‘ zu, in dem

56 57 58 59

Ambühl 2015: 326. Bohrer 1994: 155. Bohrer 1994: 159. Zu Sullas Charakterisierung als stoischer Weiser anhand der Attribute intrepidus und securus bei Seneca s. Dreyling 1999: 95–96; zur Anomalie dieses doppelten Epithets vgl. Fantham (1992: 117): „The double epithet intrepidus … securus is an anomaly in Augustan and post-Augustan poetry (cf. Hofmann-Szantyr 160–161) and more awkward, since the epithets are near synonyms. But word order suggests that the inner phrase securus ab alto spectator scelerum is causal, explaining Sulla’s confidence by his elevated position, and contrasts with intrepidus, denoting his hubristic indifference to others’ suffering. […] L.[ucan] follows his uncle in condemning sadistic voyeurism.“

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sich die Figuren bewegen. Er darf nicht als ein vom Ereignis der Massaker losgelöster Schauplatz betrachtet werden. Vielmehr nimmt der Erzählraum aktiv Einfluss auf das Morden in Praeneste und Rom. Insbesondere hier lässt sich das dynamische Wechselspiel von räumlicher Enge und Gewalt beobachten. Im Prozess der Verdichtung führt dies unmittelbar zur Überschreitung von Grenzen – sowohl räumlicher als auch semantischer. Die Untersuchung des Erzählraums orientiert sich am Verlauf der story und erfolgt daher in zwei Schritten. (1) Zunächst wird auf die Abschnitte Hinrichtung 2: Rom (196–197) sowie die Beschreibung des Massakers (201b–206) eingegangen, und (2) im Anschluss auf die durch die angehäuften Leichen verursachte Tiberflut (209b– 220). (1) Am Motiv der Massenhinrichtung lässt sich besonders eindrücklich die Verdichtung in konkret-räumlicher und abstrakt-semantischer Perspektive aufzeigen. Der Anschauungsraum der Hinrichtung wird nur sehr spärlich beschrieben. Der Rezipient erhält lediglich die Information, dass sich die grausame Tat auf den Ovilia (197) ereignet. Hierbei handelt es sich um den Bereich auf dem am Tiber gelegenen Marsfeld, der den Römern als Abstimmungsplatz für die comitia diente. Da dieser von einem Zaun umgeben war, erhielt er ursprünglich die Bezeichnung saepta.60 So wird bereits zu Beginn der Partie proleptisch auf den Platzmangel hingewiesen, der sich bei der Ausführung des Massenmordes als bedeutsam erweist. Dass der Raum mit Blut befleckt wird, kommt lediglich implizit durch das Verb maculavit (197) zum Ausdruck, das möglicherweise auch die später an Land gespülten Leichen andeutet. Möglich ist auch, dass es sich um eine moralische Wertung durch die Erzählerpersona handelt, was mit dem Attribut miserae […] Romae korrespondiert. Dagegen steht bei der Darstellung der dicht zusammengedrängten Massen (densi […] agmina vulgi | inter et exangues […] catervas, 201–202) der Aktionsraum deutlich im Vordergrund. Die Dichte des Erzählraums trägt grundlegend dazu bei, dass die agentes kaum in der Lage sind, ihre Hände zur Ausführung des Todesstoßes zu bewegen.61 Aufgrund der räumlichen Enge ist es dagegen für die patientes unmöglich zu Boden zu fallen (201–204):62

60 61

62

Vgl. A. Rosenberg: Art. ‚Saepta‘, in: RE 1 A,2 (1920), Sp. 1724,28–1725,2. Das Motiv der im Kampf eingeschränkten Bewegungsfreiheit ist häufig im Bellum Civile zu finden: non arma movendi | iam locus est pressis (4.781–782); arma | vixque habitura locum dextras ac tela movendi | constiterat (7.493–495); auch bei Lucans epischen Vorgängern ist das Motiv nachweisbar: nec turba moveri | tela manusque sinit (Verg. Aen. 10.432–433); turba nocet iactis et, quos petit, inpetit ictus (Ov. met. 8.390). Silius etwa greift die Unmöglichkeit des Umfallens auf: nec artatis locus est in morte cadendi (Sil. 4.553).

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densi vix agmina vulgi inter et exangues immissa morte catervas victores movere manus; vix caede peracta procumbunt, dubiaque labant cervice; […] Das Schwanken der Nacken bzw. der Häupter korrespondiert mit der Veränderung der Gewaltaktanten. Im Gedränge werden die patientes zu agentes und umgekehrt. Die Wirkung der räumlichen Dichte, die der Leser als wesentliches Element der fabula wahrnimmt, wird anhand (a) epischer Erzählmittel sowie auch (b) syntaktisch und semantisch ambivalenter Phänomene auf Ebene der story übertragen. (a) Durch den epischen Vergleich des Massakers mit Naturkatastrophen (198–201) erzielt der Erzähler eine stärkere Kontrastwirkung zwischen Öffnung der Perspektive und Fokussierung auf die Gewalthandlung inmitten der dicht stehenden Reihen der patientes. Der Vergleich hat die Funktion eines Zoom Outs, der die Aufmerksamkeit des Lesers nicht nur auf das bis dahin einzigartige Ausmaß der Bestrafung lenkt, sondern auch in topographischer Hinsicht auf das Meer (pelagi furor, 199), die Erde (subitae ruinae, 199; terrae lues, 200) und den Himmel (caeli lues, 200). Die Begriffspaare Meer – Land und Erde – Himmel können dabei als binäre Oppositionen gesehen werden, die später bei der Überschwemmung in undurchsichtiges Chaos ineinander übergehen.63 Im Anschluss an den Vergleich erfolgt ein Zoom In in das konkrete Ereignis der Gewalthandlung. Geradezu leitmotivisch beginnt die Darstellung mit densi, das durch seine Erstposition direkt nach der Penthemimeres zusätzlich hervorgehoben wird. (b) Der Blick liegt nun auf dem Zwischenraum der dicht gedrängten Reihen (inter, 202), der sich als Lotman’sche Grenze klassifizieren lässt. Mit dem räumlichen ‚Dazwischen‘ korrespondiert eine erhöhte semantische Dichte, die sich auch in der Syntax bemerkbar macht. Die Präposition inter ist syntaktisch sowohl auf densi agmina vulgi als auch auf exangues catervas zu beziehen. Sie

63

Vgl. Dreyling (1999: 94): „Außerdem scheinen zwei Paare polarer Begriffe vorzuliegen, pelagique furor subitaeque ruinae, Meer – Land, terrae caeilique lues, Erde – Himmel. Zudem hat NORDEN, Priesterbücher 127 die vorliegenden Verse Lucans mit anderen Stellen verglichen, die es rätlich scheinen lassen, ruinae mit lues auf eine Stufe zu stellen“; Bartsch (1997: 17): „[…] microcosm and macrocosm reflect the dissolution of all normative limits. […] the gulf between life and death, earth and sky, land and sea, even chance and fate, dissolves and brings on the strangest of chaos. […] dead bodies stand upright in battle because there is no room to fall, and crush the living with their weight.“

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weicht von der üblichen Anastrophe, wie etwa agmina inter, ab und vermittelt den semantisch diffusen Übergang zwischen noch lebenden und bereits getöteten Menschen.64 Zudem findet in diesem ‚labilen‘ Grenzbereich65 die Verkehrung der Gewaltkonstellation statt. Agentes und patientes gehen ineinander über: The actor and the acted-on, the animated and the inert, the killer and the victim oddly change places […]. The subject of an act becomes its object; that which is other is equated with that which is its opposite.66 Im Bewusstsein einer allgemeinen Verkehrung der Subjekt-Objekt-Relation lässt sich auch vix […] victores movere manus als eine solche identifizieren. Es ist denkbar, dass Lucan mit dem bereits erläuterten epischen Motiv spielt und die Blickrichtung verändert.67 Einerseits können die agentes ihre Hände aufgrund des dichten Gedränges kaum bewegen, andererseits ist es den Scharen aber auch nicht möglich, die (vermeintlich) siegreichen agentes zu bewegen bzw. sie emotional zu rühren. Zudem ließe sich manus sogar als Handgemenge, Gewalttätigkeit oder Tätlichkeit verstehen. Weder aus syntaktischer noch aus semantischer Sicht kann hier eine eindeutige Entscheidung getroffen werden. Zudem lässt sich im semantisch verdichteten Grenzbereich exangues (202) als ambivalentes, zeugmatisches Attribut interpretieren. Sicherlich beschreibt es catervas genauer, jedoch ist nicht auszuschließen, dass es zugleich auf victores oder manus rekurriert: exangues victores könnte als proleptischer Verweis auf den tödlichen Ausgang auch für die vermeintlichen Sieger gedeutet werden, exangues manus als Ausdruck für die erschöpften Hände der Henker, da es sich schließlich um eine nie dagewesene Größenordnung einer Hinrichtung bzw. Bestrafung handelt (vgl. 198–201). Möglich ist ebenso eine gesteigerte Fokussierung auf die toten Scharen, exangues manus, parallel zu exangues catervas. Schließlich spiegelt die syntaktische Verwobenheit des letzten Satzes innerhalb der erzählten Hinrichtung die räumliche Dichte bzw. Vermengung toter wie lebender Menschen wider: viva graves elidunt corpora trunci (206). Durch den Gebrauch des doppelten Hyperbaton rückt die Auslöschung (elidunt) wortwörtlich in das Zentrum der Gewaltdarstellung.

64 65 66 67

Fantham 1992: 116. Vgl. Lucan. 4.779: vix impune suos inter convertitur enses; 3.689: mille modos inter leti. Vgl. 2.204: dubiaque labant cervice. Bartsch 1997: 23. Zu Pointenverkehrung s. Hübner 1972; 1975.

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Es kann festgehalten werden, dass die Verdichtung des Erzählraums, die im Vollzug der Gewalt voranschreitet, mit einer Transformation semantischer Codes und sprachlicher Strukturen einhergeht. Wie sich im Folgenden zeigen wird, lässt sich diese Beobachtung insbesondere auch im Abschnitt der Tiberflut anstellen. (2) Die Tiberflut. In Anknüpfung an Lapidges Interpretationsansatz, im allegorischen Bild der Überflutung sei die Auflösung des stoischen Kosmos’ zum Ausdruck gebracht, wird das Motiv der Grenzüberschreitung und Verdichtung in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.68 Im Folgenden ist die Untersuchung der Tiberflut in drei Teile gegliedert: (a) dynamische Wechselwirkung zwischen Erzählraum und Figuren, (b) Fallen, Stürzen und Fließen als Ausdruck von Unmaking, (c) Wortwiederholung und semantische Dichte. (a) Die Darstellung der Tiberflut, die in der missglückten Entsorgung der Hingerichteten ihre Ursache hat, lässt eindrücklich ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen Erzählraum und Figuren erkennen. Es ist nicht nur so, dass die räumliche Struktur auf die Figuren Einfluss nimmt, wie im Fall der Massenhinrichtung auf dem Marsfeld, sondern die Figuren bzw. ihre Körper selbst als wesentliches Element des Raums fungieren. Der Aktionsraum steht deutlich im Vordergrund. Indem der Tiber die Leichen haufenweise ‚empfängt‘ und diese durch ihre gewaltige Masse einen Damm bilden, kommt der Fluss zum Stehen (209–214):

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congesta recepit omnia Tyrrhenus Sullana cadavera gurges. in fluvium primi cecidere, in corpora summi. praecipites haesere rates, et strage cruenta interruptus aquam fluxit prior amnis in aequor, ad molem stetit unda sequens.

Die Leichen, die den Lauf des Flusses hemmen, stellen in der griechischen und römischen Literatur ein geläufiges Motiv dar (s. Abschnitt 3.3).69 An dieser Stelle ist es hyperbolisch gesteigert, indem die letzten Leichen gar nicht 68

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Lapidge (1979: 363): „[…] under the impulse of furor or ira or uis the bonds of restraint (whether foedera or freni or ripae) are broken. The metaphor of the flood images the resulting chaos (on the cosmic scale) or nefas (on the human scale).“ Hom. Il. 21.218–220: πλήθει γὰρ δή μοι νεκύων ἐρατεινὰ ῥέεθρα, | οὐδὲ τί πηι δύναμαι προχέειν ῥόον εἰς ἅλα δῖαν | στειμόνεμος νεκύεσσι; Catull. 64.358–359: Hellesponto, | cuius iter caesis angustans corporum acervis; Verg. Aen. 5.806–808: gemerentque repleti | amnes nec reperire viam atque evolvere posset | in mare se Xanthus; Sil. 13.743: refluunt obstructi stragibus amnes; vgl. Raabe 1974: 78–80.

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mehr in das Wasser fallen, sondern auf die Leiber, die den Fluss bereits verstopfen. Das Bild der grausigen Hinrichtung, wo die schwere Masse der Toten die Lebenden erdrückte, wird hier erneut aufgegriffen.70 Die motivische Anhäufung der cadavera korrespondiert zudem mit der auffälligen Ansammlung von Epitheta: congesta […] omnia […] Sullana (209–210).71 Der schwere Leichenhaufen lässt keine klare Differenzierung zwischen agentes und patientes bzw. Sullas Schergen und samnitischen Kriegsgefangenen erkennen, sondern wird viel eher nur noch als identitätslose, blutige und schwere Masse wahrgenommen.72 Die Körper selbst bilden zunächst eine klare räumliche Grenze zwischen dem ‚unteren‘ (prior amnis) und dem nachströmenden Wasser (unda sequens). Der entstandene Damm (molem) führt dazu, dass der Tiber über die Ufer tritt, was paradoxerweise eine Verwischung von Grenzen zur Folge hat, oder anders formuliert: eine Verdichtung räumlicher und semantischer Strukturen.73 Es beginnt die Synthese der toten Körper mit dem Erzählraum. Der Prozess der Verdichtung bzw. des Mischens, der in gewissem Maße mit der Aufgabe von Identitäten einhergeht, wird „an den Flüssen exemplarisch aufgezeigt. […] Denn sie mischen sich nicht nur miteinander, sondern auch mit Blut.“74 Das austretende Blut der Leichen weist wesentliche Merkmale des ‚Abjektes‘ auf, das im Verlauf der Lektüre weder den Leichen noch dem Fluss eindeutig zugeordnet werden kann und so eine ‚fließende‘ Grenzzone schafft.75 Es dehnt

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Bezüglich primi und summi vgl. Fantham (1992: 118): „[…] the masculine gender reminds the reader of the almost forgotten humanity“; Dreyling (1999, 98) bemerkt hierzu: „Den Genuswechsel von cadavera zu primi … summi erfordert das folgende in corpora.“ Dies muss allerdings nicht zwangsläufig bedeuten, dass Fanthams Interpretation zurückzuweisen ist. Vielmehr ist es möglich, beide Beobachtungen als komplementär zu betrachten. Fantham 1992: 118. Dies wird am einschlägigen semantischen Feld deutlich, das sich konsequent über die Partie hinweg erkennen lässt und die Aufmerksamkeit des Lesers auf Dichte und Gewicht der Leichen lenkt: premit strages (205), graves trunci (206), congesta cadavera (209–210), strage cruenta (212), molem (214). Die Verdichtung des Erzählraums durch Überwindung von Grenzen in 209–220 greift zum einen den vorherigen proleptischen Verweis auf (198–201), der das Oppositionspaar Meer – Land bereits anklingen ließ, und deutet zugleich auf die im Werk später stattfindende Schlacht in Pharsalos hin, wo sich ebenfalls ein diffuser Übergang von Leichen, Fluss und Land beobachten lässt: cernit propulsa cruore | flumina et excelsos cumulis aequantia colles | corpora, sidentes in tabem spectat acervos | et Magni numerat populos (7.789–792). Walde 2007: 78. Das Modell des ‚abject‘ geht auf Julia Kristeva (1982) zurück. Bartsch (1997: 19) beschreibt es als „a bodily part or product that both is and is not identifiable with the self, a thing that is ambiguosly positioned between self and other because it has been severed or separated from its origin. […] The disturbing quality of the abject arises precisely from this uncertain

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sich und zugleich den diffusen Grenzbereich weiter auf die topographische Struktur des Erzählraums aus, sodass aufgrund der Überschwemmung letztlich keine räumliche Trennung von Fluss (gurges) und Land (campus) mehr vorgenommen werden kann.76 Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf die erhöhte Bewegungsdynamik, den machtvollen Lauf des Blutstroms und damit auf den Aktionsraum und dessen Wegestrukturen gelenkt. iam sanguinis alti 215 vis sibi fecit iter campumque effusa per omnem praecipitique ruens Tiberina in flumina rivo haerentis adiuvit aquas; nec iam alveus amnem nec retinent ripae, redditque cadavera campo. tandem Tyrrhenas vix eluctatus in undas 220 sanguine caeruleum torrenti dividit aequor. Die übertrieben wirkende Ausdehnung des Blutstroms und, nach Einbruch des Damms, der Leichen selbst kann mithilfe von Bachtins Konzept des grotesken Körpers greifbar gemacht werden. Dies korrespondiert insofern mit dem dynamischen Erzählraum, als der groteske Körper nicht losgelöst von der ihn umgebenden Welt gedacht werden kann. Er ist „unfinished“, wächst aus sich selbst heraus und überschreitet so seine eigenen Grenzen: The stress is laid on those parts of the body that are open to the outside world, that is, the parts through which the world enters the body or emerges from it, or through which the body itself goes out to meet the world […].77 Besonders kennzeichnend für die vorliegende Textpartie: „The outward and inward features are often merged into one.“78

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status, for it necessarily confuses our sense of the limits that define us against that which is not-us; it throws into disarray the boundary markers we use to establish our relationship to the world and especially those with which we satisfy our need to mark ourselves off from what is not human.“ Vgl. Anm. 113. Vgl. Henderson (2010: 483): „[…] the river and the plain […] undifferentiated in the piles of bodies whose referentiality is spilled in the heap.“ Vgl. allgemein zu „fluidity of referentiality“ Scarry 1985: 119. Bachtin 1968: 26. Bachtin 1968: 318; weiterführende Gedanken zur Groteske bei Lucan finden sich bei Bartsch 1997: 36–40.

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Gemäß der hohen Dynamik des Erzählraums und der grotesken Extensivität, die der Partie zugrunde liegt, bahnt sich das Blut aktiv seinen Weg (sanguinis alti | vis sibi fecit iter) und ‚unterstützt‘ aktiv das Ansteigen des gestauten Tiberwassers (haerentis adiuvit aquas).79 Der Tiber selbst greift aktiv in das Ereignis ein und ‚nimmt sich‘ (recepit) die Leichen, um sie nach der Überflutung – scheinbar aus eigenem Willen – dem Land wieder zurückzugeben (reddit campo). Das interaktive Gefüge zwischen Figuren und Erzählraum ist auf die stilistischen Mittel der Personifikation und Hypallage zurückzuführen. Die Relationen einzelner syntaktischer Funktionen sind in ihr Gegenteil verkehrt. So kommt es, dass die Leichen nicht – wie vom Rezipienten zu erwarten – passiv in den Fluss geworfen werden oder an das Ufer gespült werden, sondern die Bewegungsrichtung einer ‚lucanesken‘ Umkehrung unterliegt. Das Fallen der cadavera wirkt durch die ‚entgegengerichtete‘ Bewegung schneller und der Weg des Aktionsraums kürzer.80 Zudem steht die Darstellung des Erzählraums in einem engen Entsprechungsverhältnis zur Verkehrung im Kontext der Gewaltkonstellation. (b) Insgesamt ist der Aspekt des Fallens, Stürzens und Fließens in V. 193– 220 von zentraler Bedeutung. Alleine die Häufigkeit entsprechender Ausdrücke fällt deutlich ins Blickfeld: pereuntem (195) – concidit (197) – occumbere (198) – ruinae (199) – procumbunt (204) – cecidere (211) – praecipites (212) – fluxit (213) – effusa (215) – praecipitique (216) – ruens (216) – torrenti (220) Das Stürzen im konkreten wie abstrakten Sinne weist hierbei zwei Funktionen auf: Erstens trägt es wesentlich zur Wegestruktur innerhalb des Aktionsraums bei, zweitens führt es durch seine charakteristische Bewegung im Erzählraum wesentliche Merkmale des Unmaking vor Augen, das gleichermaßen von konstituierenden und desintegrierenden Tendenzen geprägt ist. So fallen (cecidere)

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Somit geht die Schilderung sanguinis alti | vis sibi fecit iter über die Funktion eines Kontrastes zum gestauten Fluss weit hinaus. Vgl. Fantham (1992: 119): „In contrast with the blockage of the river the unnatural stream of blood forces its path across land, gushing into the Tiber.“ Vgl. Hübner (1975: 206, Anm. 45): „Die von der Gegenseite ausgehende Bewegung des Heranholens potenziert das Tempo der Hinbewegung. […] Die Einheit der Bewegung wird aufgegliedert in einander entgegenlaufende Aktionen. Die komplementären Züge ergänzen sich zu einem plastischen, sozusagen stereoskopischen Vollbild“; Schönberger (1968: 121) bemerkt dieses Phänomen auch im Kontext des um sich greifenden Feuers während der Seeschlacht vor Massilia (3.684): „Die Schiffe […], und das geht … über normalen Brand hinaus, raffen das Feuer an sich.“

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die Leichen in den Fluss und aufeinander und stauen den Fluss. Zugleich löst ihr Blut allerdings dadurch, dass es über das ganze Feld und in den Tiber hereinbricht (effusa, praecipiti rivo, ruens), den Damm auf, dem es gerade selbst entspringt: There may, however, be a deliberate inversion of the logic; in 212 the waterlogged bodies caused the obstruction, here the action is reversed as bloodshed pours from the bank to dislodge them and release the waters.81 Das Bild, in dem Landschaft und Gewalthandlung eng miteinander verwoben sind, die Naturgewalt ihre Entsprechung in der Gewalt des Massakers findet und Tiber wie Menschen gleichermaßen dahinstürzen, kann daher im Kontext der kosmischen Naturordnung als eine Allegorie der beständigen Veränderung aufgefasst werden. Die Überschwemmung dient als Ausdruck für den diffusen und stets reversiblen Übergang zwischen zwei Polen. Der Prozess des Dahinstürzens markiert den räumlichen und zugleich semantischen Grenzbereich zwischen campus und gurges, Verstopfung und Auflösung, Körper und Fluss, Blut und Wasser, Gewalttat und Gewalterleiden sowie schließlich Leben und Tod. Im Vollzug der räumlichen Bewegung wird die „Einheit des Geschehens aufgelöst“ und vom Rezipienten „unter wechselndem Aspekt als das Ineinander-, Miteinander- oder Gegeneinanderwirken von Komponenten“ wahrgenommen, sodass eine hohe Dynamik auf semantischer Ebene zum Ausdruck kommt.82 Der Text lässt sich daher unter den Leitgedanken des Unmaking fassen.83 (c) Abschließend wird Lucans Gebrauch von Wortwiederholungen in den Blick genommen, der in der Forschung einen häufig diskutierten Gegenstand darstellt. Die Dichte des Erzählraums zeigt sich dem Rezipienten zwar implizit, dafür jedoch umso eindrücklicher, wenn man den Blick auf die Wiederholung einzelner Wörter richtet: strages – strage (205, 212), corpora – corpora (206, 212), Tyrrhenus – Tyrrhenas (210, 219), cadavera – cadavera (210, 218), praecipites – praecipitique (212, 216), haesere – haerentis (212, 217), aquae – aquas (212, 217),

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Vgl. Fantham 1992: 119. Hübner 1975: 211. In ähnlicher Weise zeigt Dinter (2012: 126) den dekonstruktiven Charakter der Partie am Leichendamm auf: „The hyperbolic description of dams constructed from bodies (BC 2.214) emphasize this conflict’s destructive but also creative energy. Civil war simultaneously unmakes and remakes the world.“

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amnis – amnem (213, 217), aequor – aequor (213, 220), unda – undas (214, 219), sanguinis – sanguine (214, 220), campum – campo (215, 218) Sowohl in älteren als auch neueren Beiträgen findet sich der Vorwurf, die Wortwiederholungen resultierten aus Unachtsamkeit oder seien nur unzureichend motiviert. Bentley will V. 213 tilgen, da die Erwähnung der Schiffe in diesem Kontext sonst befremdlich wirke. Zudem moniert er, dass strages bereits in V. 205 sowie praeceps und haerere in V. 215 und 216 Erwähnung fänden.84 Seinem Urteil folgen Heitling, Mayer und Dreyling.85 Dagegen weist Wills darauf hin, dass Lucan durch Wortwiederholungen einen teils „meticulously and great effect“ erzielt.86 Zuvor wies bereits Paratore überzeugend nach, dass der repetitive Gebrauch einschlägiger Wörter und Begriffe Marius’ und Sullas Gräueltaten gleichwertig erscheinen lässt.87 Eine umfangreiche und systematische Analyse der Wiederholungstechnik als Stilprinzip liefert Dinter.88 Er nimmt eine Differenzierung in „verbal repetition“ und „repetition of events and patterns“ vor und vergleicht das immer wiederkehrende Aufgreifen gleicher Elemente in Lucans Epos mit der entsprechenden Vorgehensweise in Musik und Architektur.89 Wiederholungen lassen sich als Leitmotiv einzelner Passagen, aber auch innerhalb des Werkganzen identifizieren und sind darüber hinaus als symptomatisch für Lucans narrative Technik als nachvergilischer Epiker.90 Wie lässt sich die Anhäufung von Wiederholungen in der vorliegenden Partie interpretieren? Es handelt sich um zwölf Begriffspaare, die sich über 16 84 85

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Grotius/Bentley 1816: ad loc.; zur Diskussion um praecipites rates s. Fantham 1992: 118; Dreyling 1999: 98. Heitland (1971: lxxxi): „Among the characeristics of Lucan’s style we must not forget the careless repetition of words. The effect of this is sometimes very awkward, and has sometimes even caused editors to attempt the emendation of lines which on further consideration seem to be indubitably sound.“ Heitland differenziert zum Teil jedoch seine Ausführungen: vgl. ebenda: lxxxii; Mayer (1981: 13): „It may be that Lucan was insensitive in an unusual degree to repetition; but it seems more likely that it was the haste of composition in a refined medium that led to unwelcome echoes.“ Dreyling (1999: 98): „Dem letzteren Vorwurf (gemeint ist Bentleys Hinweis auf die Wiederholung von praeceps und haerere.) lässt sich insofern beikommen, als die unmotivierte Wortwiederholung bei Lucan sehr häufig zu beobachten ist. […] Bentley hätte ebenfalls auf wiederholtes aqua in 214 und 217 hinweisen können.“ Wills (1996: 220–222) verweist hierbei auf Lucan. 4.563: fratribus incurrunt fratres; 4.557– 558: minimumque in morte virorum | mors virtutis habet; 4.572–573: ducibus mirantibus ulli | esse ducem tanti. Paratore 1992: 28. Vgl. Dinter 2012: 119–155. Dinter 2012: 119. Dinter 2012: 140.

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Verse erstrecken (205–220). Bei der Aufzählung wird schnell ersichtlich, dass die Wiederholung fast ausschließlich raumstrukturierende Elemente betrifft,91 wobei ein Drittel dem Wortfeld ‚Fluss‘, ‚Strom‘ oder ‚Gewässer‘ zugeordnet werden kann.92 Die Auflösung bestehender Grenzen und die damit einhergehende Verdichtung des Erzählraums korrespondiert mit der Anhäufung der Wörter, die sich für das Erzeugen des allgemeinen Chaos als bedeutsam erweisen.93 Dem Rezipienten erscheint das stete Wiederaufgreifen bereits gefallener Ausdrücke als dichtes semantisches Netz, das mit fortschreitender Lektüre über die gesamte Beschreibung der Tiberflut gespannt wird. Im Zusammenspiel mit der hohen Bewegungsdynamik des Aktionsraums lässt die durch Wiederholung erzeugte semantische Dichte das überflutete Marsfeld als einen sich ständig verändernden Erzählraum erscheinen. Als Folge einer solchen ‚Reizüberflutung‘ rückt der Aspekt des Anschauungsraums fast ganz in den Hintergrund. Der Rezipient kann sich kaum eine klare Vorstellung von der chaotischen Lage machen. Der Versuch, das Ereignis im Erzählraum genau nachzuzeichnen, resultiert letztlich in offenen Fragen und Orientierungslosigkeit: Das Blut (sanguis altus) steigt infolge des Leichendamms an – obwohl man zunächst erwarten würde, dass zugleich auch das Wasser des Tiber ansteigt – und bricht in einem wuchtigen Strom (praecipiti rivo) über das gesamte Feld herein in den Tiber (Tiberina in flumina) – obwohl der Damm, dem der Blutstrom entweicht, sich bereits im Tiber befindet. Erst dann tritt der Fluss selbst über das Ufer, überschwemmt das Feld – also eine zweite Überschwemmung? – und spült die Leichen zurück an Land. Daraufhin windet er sich (eluctatus) mühevoll Tyrrhenas in undas. Diese ‚Wogen‘ sind entweder im Rückgriff auf Tyrrhenus gurges mit dem Tiber gleichzusetzen. Dabei würde sich der Fluss paradoxerweise in sich selbst ergießen – andererseits verhält es sich mit dem angestiegenen Blut der Leichen ebenso, wie oben erläutert. Oder es ist eben das Meer gemeint, in das der Tiber mündet – ist also ein zweiter Strom neben dem Tiber entstanden?94 Die Vorstellung der fiktiven Erzählwelt wird dem Rezipienten derma-

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Bei der einzigen Ausnahme caede peracta (203) und peraguntque […] caedis (205–206) wird weniger der Bezug zum Erzählraum, als vielmehr der Gegensatz zwischen passivem Erleiden von Gewalt im Leben und aktiver Gewalttat im Tod hervorgehoben. Zu Lucans Flussbezeichnungen und den bevorzugten Ausdrücken der nachvergilischen Epiker vgl. Dreyling 1999: 97–99; zur gesteigerten Bewegungsdynamik von unda und gurges s. Walde 1997: 64. Conte (1968: 238) spricht im Kontext des Durcheinanders in der Partie von „accumulo di potenziale espressivo“. Fratantuono (2012: 65) versteht die Szene sogar so, dass ein neuer Fluss entsteht: „Sulla essentially creates a new river, as the stream of gore becomes so powerful that it forces the birth of a new channel that floods the plains with carnage.“

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kapitel 3

ßen erschwert, dass man wie bei der Seeschlacht vor Massilia (s.u. Kapitel 4.) von einem ‚fassungslosen‘ Raum sprechen kann. Diese ‚Fassungslosigkeit‘ resultiert aus der narrativen Technik der ‚diachron-chaotischen Sequenzierung‘.95 Eine eindeutige Realisierung der Ereignisse ist damit unmöglich. In der Erzählung werden zwar einzelne raumstrukturierende Elemente wie etwa sanguis, campus, amnis und aqua wiederholt aufgegriffen und damit in ihrer Bedeutung dem Leser eindringlich vor Augen geführt, das Verhältnis zwischen diesen lässt sich jedoch letztlich nicht greifen. Das Chaos konstituiert sich sowohl auf Ebene der fabula durch die unkontrollierte, dekonstruktive Bewegung im Aktionsraum als auch auf Ebene der story durch die semantische Dichte der narrativen Repräsentation. 3.4.5 Fazit Die Ergebnisse der Aspekte Gewaltkonstellation, Erzählmodus, Zeit und Erzählraum zeigen, dass Verdichtung sowohl auf Ebene der fabula als auch der story greifbar gemacht werden kann. Als Phänomen der fiktiven Erzählwelt ( fabula) manifestiert es sich in erster Linie in der Massenhinrichtung und der scheinbar ‚grenzenlosen‘ Anhäufung von Leichen, ob in Praeneste, auf dem Marsfeld oder im Tiber. Verdichtung zeigt sich bei der Ausführung der Gewalt selbst: aus patientes werden agentes und in verkehrter Richtung aus agentes patientes. Die Distanz zwischen Getötetwerden und Töten verringert sich auf ein Minimum. Der Zeitraum, in dem insbesondere das Morden in Praeneste vollzogen wird, scheint sich zudem auf den einen Moment des Schwertstreichs zusammenzuziehen, sodass die Exekution eines gesamten Volkes nicht länger dauert als die eines einzelnen Mannes (simul ense recepto | unius populum pereuntem tempore mortis, 194–195). Schließlich ist Verdichtung nicht ohne Raum zu denken. In der Partie lässt sich die dynamische Wechselwirkung zwischen Erzählraum und Figurenhandlung deutlich beobachten. Erst die räumliche Enge auf dem Marsfeld führt zur massiven Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die schließlich den Henkern selbst zum Verhängnis wird. Das Motiv der Verdichtung wird in der Verstopfung des Tibers durch die Leichenberge geradezu plastisch fortgeführt. Kadaver und Blut sind als Komponenten des Erzählraums anzusehen und prägen diesen im Zuge der Überflutung wesentlich mit. In diesem Kontext konnte gezeigt werden, dass Verdichtung mit der Auflösung von fest definierten Grenzen einhergeht. Im wortwörtlich ‚fließenden‘ Übergang zwischen campus 95

Vgl. Fondermann 2008: 65–67; Conte (1968: 238) bemerkt hierzu: „Nello stile di Lucano gli strumenti espressivi e i modi della rappresentazione non sono piú soltanto mezzo ma in certa misura anche scopo, non sono piú soltanto forma ma devono essere assunti come vero e proprio contenuto, forse come il piú significativo contenuto dell’opera.“

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und gurges konstituiert sich das Unmaking Lucanischer Gewalt, das nicht auf räumliche Entitäten begrenzt ist, sondern auch in der Transformation semantischer Codes, wie beispielsweise in der Verdichtung semantischer Oppositionen wie Gewalttat – Gewalterleiden oder Leben – Tod zum Ausdruck kommt. Elemente der Verdichtung sind auch der story zu entnehmen. Dies zeigt sich insbesondere am Modus der Erzählung: zum einen am Ineinandergreifen narrativer Techniken des Epos und der attischen Tragödie innerhalb der Figurenrede, wodurch zwischen primärem und sekundärem Erzähler keine Unterscheidung mehr getroffen werden kann, und zum anderen an der explizit sowie implizit eingebetteten Fokalisierung der jeweiligen Exekutionen durch die Schutzgöttin von Praeneste und Sulla. Verdichtete Zeit ist nicht nur Gegenstand der fabula, sondern auch charakteristisch für die narrative Repräsentation auf Ebene der story. Neben der chronologischen Vertauschung der zwei historischen Hinrichtungen bzw. ihrer zumindest angedeuteten Kontraktion zu einem Ereignis weisen beide Darstellungen Zeitraffung auf, wodurch das Erzähltempo erhöht ist. Zugleich spiegelt sich die Kumulation der Leichen in Rom im Textumfang ihrer Schilderung wider. Dies fällt besonders im Vergleich mit der Passage der ersten Hinrichtung in Praeneste ins Auge. Im Zusammenhang mit der Beschreibung des Massakers (201b–206) wurde der Tempuswechsel von Perfekt zu Präsens als Verdichtung der Zeit auf den ästhetischen Moment des absoluten Jetzt gedeutet. Schließlich tragen vor allem im Kontext der Tiberflut die bemerkenswerte Anhäufung von Wortwiederholungen sowie die wenig anschauliche diachron-chaotische Sequenzierung zum Prozess der Verdichtung bei gleichzeitiger Auflösung bestehender Grenzen bei. In der vorliegenden Partie sind Verdichtung und Auflösung somit weniger als zwei sich gegenüberliegende Pole am jeweiligen Ende eines Spektrums aufzufassen, sondern vielmehr als ein und derselbe Prozess. Nach Seneca: ex tanta varietate solvantur atque eant in unum omnia (benef. 6.22.1) – oder in einem Wort: Unmaking.

kapitel 4

Tension: Die Seeschlacht vor Massilia 4.1

Text und Übersetzung: Lucan. 3.583–646

Lucan. 3.583–591: Catus Phocaicis Romana ratis vallata carinis robore diducto dextrum laevumque tuetur 585 aequo Marte latus; cuius dum pugnat ab alta puppe Catus Graiumque audax aplustre retentat, terga simul pariter missis et pectora telis transigitur: medio concurrit corpore ferrum, et stetit incertus, flueret quo vulnere, sanguis, 590 donec utrasque simul largus cruor expulit hastas divisitque animam sparsitque in vulnera letum. Ein römisches Schiff ist von phocischen Kielen umzingelt und in unentschiedenem Kampf verteidigt es mit halbierter Kraft seine rechte und linke Seite. Während Catus auf dem hohen Hinterdeck kämpft (585) und ungestüm die Heckverzierung eines griechischen Schiffs festhält, werden zugleich Brust und Rücken von gleichermaßen geschleuderten Spießen durchbohrt: mitten im Körper trifft das Eisen zusammen, und es steht, ungewiss, aus welcher Wunde es fließen soll, das Blut, solange bis endlich ein breiter Blutstrahl jede der beiden Lanzen heraustreibt, (590) das Leben zerteilt und den Tod in die Wunden sprengt. Lucan. 3.592–599: Telo derigit huc puppem miseri quoque dextra Telonis, qua nullam melius pelago turbante carinae audivere manum, nec lux est notior ulli 595 crastina, seu Phoebum videat seu cornua lunae, semper venturis componere carbasa ventis. hic Latiae rostro compagem ruperat alni, pila sed in medium venere trementia pectus avertitque ratem morientis dextra magistri.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi:10.1163/9789004379459_005

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Hierher lenkt die Rechte des ebenso elenden Telo das Schiff. Die Kiele gehorchten bei unruhiger See keiner Hand mehr als dieser, und niemandem ist das Wetter des nächsten Tages bekannter, sei es dass er die Sonne, sei es dass er die Sichel des Mondes in den Blick nimmt, (595) immer setzt er die Segel für die noch kommenden Winde. An dieser Stelle hätte er mit dem Rammsporn das Holzgefüge eines römischen Schiffs gesprengt, jedoch durchdrangen bebende Geschosse die Mitte seiner Brust und die Rechte des sterbenden Steuermannes bringt das Fahrzeug vom Kurs ab. Lucan. 3.599–602: Gyareus 600

dum cupit in sociam Gyareus erepere puppem, excipit immissum suspensa per ilia ferrum affixusque rati telo retinente pependit. Während Gyareus auf das verbündete Achterdeck klettern will, (600) empfängt er ein ehernes Geschoss, das sich durch seine herabtaumelnden Eingeweide bohrte, und er blieb an das Schiff geheftet hängen, da der Spieß ihn festhielt.

Lucan. 3.603–633a: Zwilling Stant gemini fratres, fecundae gloria matris, quos eadem variis genuerunt viscera fatis: 605 discrevit mors saeva viros, unumque relictum agnorunt miseri sublato errore parentes, aeternis causam lacrimis; tenet ille dolorem semper et amissum fratrem lugentibus offert. quorum alter mixtis obliquo pectine remis 610 ausus Romanae Graia de puppe carinae iniectare manum; sed eam gravis insuper ictus amputat; illa tamen nisu, quo prenderat, haesit deriguitque tenens strictis immortua nervis. crevit in adversis virtus: plus nobilis irae 615 truncus habet fortique instaurat proelia laeva rapturusque suam procumbit in aequora dextram. haec quoque cum toto manus est abscisa lacerto. iam clipeo telisque carens, non conditus ima puppe sed expositus fraternaque pectore nudo 620 arma tegens, crebra confixus cuspide perstat

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kapitel 4

telaque multorum leto casura suorum emerita iam morte tenet. tum vulnere multo effugientem animam lassos collegit in artus membraque contendit toto, quicumque manebat, 625 sanguine et hostilem defectis robore nervis insiluit solo nociturus pondere puppem. strage virum cumulata ratis multoque cruore plena per obliquum crebros latus accipit ictus et, postquam ruptis pelagus compagibus hausit, 630 ad summos repleta foros descendit in undas vicinum involvens contorto vertice pontum. aequora discedunt mersa diducta carina inque locum puppis cecidit mare. Da stehen die Zwillingsbrüder, der Ruhm eines fruchtbaren Mutterleibs, die derselbe Bauch unter verschiedenen Vorzeichen geboren hat. Ein schrecklicher Tod unterschied die Männer, (605) und die unglücklichen Eltern erkannten den einen, da er alleine im Leben zurückblieb. So war ein Irrtum zwar ausgeschlossen, doch bot dies den Grund für ewige Tränen; der zweite erhält den Kummer für immer aufrecht, indem er den Trauernden den verlorenen Bruder vor Augen führt. Der eine der beiden wagte es, nachdem sich die Ruder in schräger Anordnung ineinander verkeilt hatten, vom griechischen Deck herab an ein römisches Schiff (610) Hand anzulegen; aber diese trennte von oben ein wuchtiger Schlag ab; jene blieb dennoch mit derselben Kraft hängen, mit der sie zugepackt hatte, und erstarrte mit zusammengezogenen Sehnen in sterbendem Griff. Es wuchs im Unglück die Standhaftigkeit: der verstümmelte Leib verfügt über größeren edlen Zorn, mit der starken Linken erneuert er den Kampf (615) und lehnt sich auf das Meer hinaus, um seine Rechte an sich zu reißen. Auch diese Hand wurde mitsamt dem ganzen Arm abgeschlagen. Nunmehr ist er ohne Schild und Waffen, er verbirgt sich nicht im Innern des Decks, sondern gibt ausgesetzt und mit bloßer Brust der brüderlichen Rüstung Deckung, von zahlreichen Speerspitzen durchbohrt verharrt er auf der Stelle (620) und fängt, obwohl er sich bereits um den Tod verdient gemacht hätte, die Geschosse ab, die im Begriff waren, zum Tod vieler seiner Gefährten herabzufallen. Dann bündelte er seine aus vielen Wunden entweichende Lebenskraft in den Gliedmaßen und spannte mit seinem gesamten Blut, das ihm noch blieb, die Glieder an und sprang mit geschwundener Muskelkraft auf das feindliche Deck, (625) um alleine mit seinem Körpergewicht Verderben zu bringen. Von Män-

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nerleichen überhäuft und von Blut getränkt bekommt das Schiff seitlich an der Flanke zahlreiche Stöße ab und, nachdem sich die Meeresflut in den geborstenen Schiffsbauch ergossen hatte, geht es bis zu den obersten Gängen überschwemmt in den Wogen unter (630) und wälzt das Salzwasser, von dem es umgeben ist, in einen wirbelnden Strudel. Beim Untergang des Kiels treten die Wassermassen nach beiden Seiten auseinander und schlagen an der Stelle wieder zusammen, wo das Deck einst war. Lucan. 3.633b–646: Lycidas multaque ponto praebuit ille dies varii miracula fati. 635 Ferrea dum puppi rapidos manus inserit uncos affixit Lycidan. mersus foret ille profundo, sed prohibent socii suspensaque crura retentant. scinditur avulsus, nec, sicut vulnere, sanguis emicuit; lentus ruptis cadit undique venis, 640 discursusque animae diversa in membra meantis interceptus aquis. nullius vita perempti est tanta dimissa via. pars ultima trunci tradidit in letum vacuos vitalibus artus; at tumidus qua pulmo iacet, qua viscera fervent, 645 haeserunt ibi fata diu, luctataque multum hac cum parte viri vix omnia membra tulerunt. Und jener Tag bot dem Meer mannigfache Todesarten ohnegleichen. Während eine eiserne Greifhand ihre reißenden Krallen an ein Schiff heftet, (635) durchbohrt sie Lycidas. Jener wäre in der Tiefe ertrunken, jedoch verhindern seine Verbündeten dies und halten ihn an seinen in der Schwebe hängenden Beinen zurück. Er wird in zwei Teile zerrissen, doch das Blut schoss nicht wie aus einer Wunde heraus; langsam fällt es überall aus den zerfetzten Gefäßen, und der Lauf des pulsierenden Lebensstroms durch seine Glieder (640) ist vom Wasser unterbrochen. Das Leben keines Getöteten ist auf so weiten Raum vergossen worden. Der Unterleib lieferte die Gliedmaßen, die ohne lebenswichtige Organe sind, dem Tod aus; aber dort, wo die schwellende Lunge liegt, wo die Eingeweide glühen, drang das Verderben lange nicht vor, kämpfte unablässig (645) gegen diese Körperhälfte, und mühevoll raffte es alle Glieder dahin.

158 4.2

kapitel 4

Kontext, Inhalt, Aufbau

Die Seeschlacht vor Massilia stellt mit 253 Versen die umfangreichste Schlachtendarstellung im Bellum Civile dar und umfasst knapp ein Drittel des Textes in Buch 3. Nach Caesars Einmarsch in Rom (46–103) und der anschließenden Plünderung der Staatskasse durch seine Anhänger (104–168) begibt sich der erfolgreiche Feldherr weiter nach Spanien, um dort gegen die Pompeianer Petreius und Afranius militärisch vorzugehen (vgl. Buch 4). Währenddessen marschiert Pompeius mit fünf Legionen über Dyrrhachium nach Griechenland und organisiert dort Hilfstruppen für den militärischen Widerstand (169–297). Auf Caesars Reise nach Westen stellen sich ihm und seinen Truppen die Bewohner Massilias entgegen, um sich gegen die Einnahme ihrer Heimatstadt zu wehren (298–374). Caesar lässt die Stadt belagern, dringt daraufhin in einen naheliegenden heiligen Hain ein und gibt Befehl die Bäume als Material für die Belagerung zu fällen. Entgegen der Erwartungen der Massilier bleibt eine Bestrafung durch die Götter aus (375–452). Daraufhin gibt Caesar das Oberkommando an seine Generäle ab und setzt seinen Marsch nach Westen fort. Nach Abschluss der Vorbereitungen entbrennen blutige Kämpfe, die keiner Seite den Sieg bringen (453–508). Man beschließt den Kampf zur See und macht sich sofort an den Bau der Flotten. Auf massilischer Seite werden Jünglinge und Greise für die Schiffsmannschaften delegiert und die Schlacht beginnt an einem sonnigen Morgen (509–537). Unter Brutus’ Führung gelingt den Caesarianern in der blutigen und verlustreichen Seeschlacht die Niederschlagung ihrer griechischen Kontrahenten (538–762). In der Seeschlachtepisode wird ein breites Spektrum an Todesschicksalen geschildert, deren Darstellung alle im Werk bisher vorangegangenen Kampfund Folterszenen an expliziter Gewalt übersteigt. Die einzelnen Partien stehen in lockerer Verbindung zueinander und weisen mit Ausnahme des letzten Abschnitts (709–751) weniger eine explizit chronologische Abfolge als vielmehr einen in etwa zeitgleichen Verlauf der Ereignisse auf.1 Insgesamt lässt sich eine Gliederung in 13 Abschnitte vornehmen, die entweder in individuelle oder kollektive Gewaltszenen differenziert werden können: 566–582 583–591

Kollektive Sterbeszene 1: Beginn des Nahkampfes Individuelle Sterbeszene 1: Catus

1 Wie beispielsweise durch den wiederholten Gebrauch der Subjunktion dum. Zu den Versen 709–751 (‚Individuellen Gewaltsequenz: Lygdamus, Tyrrhenus, Argus und dessen Vater‘) als modifizierte Version des epischen Motivs ‚Kettenkampf‘ s. Nill (2018, im Druck).

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592–599 599–602 603–633a 633b–646 647–652a 652b–661a 661b–669 670–696a 696b–704 705–708 709–751

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Individuelle Sterbeszene 2: Telo Individuelle Sterbeszene 3: Gyareus Individuelle Opferszene: Zwilling Individuelle Sterbeszene 4: Lycidas Kollektive Sterbeszene 2: Schiffsmannschaft a.) Individuelle Sterbeszene 5: Schwimmer Kollektive Sterbeszene 3: Schiffsmannschaft b.) Kollektive Kampfszene: Kriegswut Individuelle Sterbeszene 6: Phoceus Kollektive Sterbeszene 4: Obstruktion Individuelle Gewaltsequenz: Lygdamus, Tyrrhenus, Argus und dessen Vater

Für die konkrete Arbeit am Text werden die ersten vier individuellen Sterbeszenen sowie die individuelle Opferszene des Zwillings herangezogen. Während in den zu analysierenden individuellen Sterbeszenen 1–4 namentlich genannte patientes – Catus, Telo, Gyareus und Lycidas – von namenlosen bzw. in der Erzählung nicht genannten agentes verwundet und getötet werden, schildert die individuelle Opferszene, wie ein Massilier sich anstelle seines Zwillingsbruders aktiv verwunden lässt und schließlich zum Gegenangriff übergeht, sodass er nicht nur als patiens, sondern auch als agens zu klassifizieren ist.2 Ein allen fünf Szenen gemeinsames Charakteristikum ist – neben der Darstellung individueller Kämpfer und Tode – die Abbildung eines Spannungsverhältnisses zwischen binären Oppositionen, das im Folgenden als tension bezeichnet wird.3

2 Der Inhalt der Partien wird zur besseren Übersicht jeweils zu Beginn der Einzelanalysen genauer wiedergegeben. 3 Um der Verwechslungsgefahr vorzubeugen, die mit dem Gebrauch des deutschen Ausdrucks ‚Spannung‘ einhergeht (zu suspense s.u. Abschnitt 5.4.4), wird auf den englischen Begriff tension zurückgegriffen, vgl. Wenzel (2004b: 181): „Spannung ist ein vielschichtiges, schwer zu fassendes Phänomen, das seine Wirkung in verschiedener Form und auf den verschiedensten Ebenen eines Werkes entfaltet. Dementsprechend kennt die englische Sprache – anders als die deutsche – zur Bezeichnung von Spannung zwei verschiedene Begriffe: Es gibt zum einen das Wort tension als Begriff für die statische, auf Gegensätzen fußende Spannung. Von der Literaturkritik ist diese Art von Spannung vor allem an Gedichten festgemacht worden. Das andere Wort zur Bezeichnung von Spannung ist suspense – der Begriff für eine dynamische, auf den Verlauf einer Handlung bezogene Spannung, die bei der Analyse von Filmen, Romanen und Kurzgeschichten eine wichtige Rolle spielt“; allerdings darf der hier gebrauchte Begriff tension nicht mit dem des New Critic Allen Tate gleichgesetzt werden, der tension als Skala auffasst, an deren beiden gegenüberliegenden Enden Intension und Extension stehen, s. Tate, Allen (1955): The Man of Letters in the Modern World. Selected Essays: 1928–1955, New York, 64–77.

160 4.3

kapitel 4

Forschungsstand

Die Darstellung der Seeschlacht vor Massilia wurde bereits in zahlreichen Forschungsbeiträgen untersucht. Das Interesse richtet sich dabei im Wesentlichen auf drei Aspekte: (1) die inhaltliche Diskrepanz, die Lucans Text zu anderen schriftlichen Quellen aufweist, wie beispielsweise bei Caesar und Cassius Dio, (2) die Seeschlacht als außergewöhnliches Motiv in der literarischen Gattung des Epos und (3) die explizite Darstellung der extremen Gewalt und ihre intertextuellen Bezüge. (1) Zunächst wird die bisherige Forschung zum historischen Gehalt der Schlacht in ihren Grundzügen skizziert.4 Leclercs These, Lucan müsse als Historiker gesehen werden, der über viele Quellen und Informationen verfügt habe und damit eine hohe historische Glaubwürdigkeit besitze,5 sowie seine Rekonstruktion der historischen Belagerung Massilias wurde in der Forschung bereits früh skeptisch gesehen.6 Opelt weist darauf hin, Lucan habe die zwei Seeschlachten bei den Stoichaden und bei Tauroentum aus erzähltechnischen Gründen zu einer entscheidenden zusammengefasst. Sie vergleicht Lucans Darstellungen mit Caes. Bell. civ. 1.56–58 und kommt zu dem Schluss, dass sich die historische Belagerung in fünf Abschnitte teilen lässt: […] erfolglose Operationen der Römer zu Lande, Seeschlacht bei den Stoichaden, erneute Operationen zu Lande, Seeschlacht bei Tauroentum, völlige Blockade, Übergabe.7 Auch Metger geht auf die Unterschiede der Seeschlacht bezüglich Inhalt und zeitlicher Abfolge ein.8 Zudem arbeitet er Differenzen in der narrativen Repräsentation heraus: Caesar offenbare bei seinen Kampfschilderungen den Blick

4 Neben Lucans Darstellung liegen uns heute weitere Primärquellen zur massilischen Seeschlacht vor von Cassius Dio (41.19; 41.25), Florus (2.12.23), Appian (civ. 2.47), Plutarch (Caes. 16), wo zwar Massilia nicht namentlich erwähnt wird, jedoch ein gewisser Acilius, der sich in dieser Schlacht besonders hervorgetan haben soll, und Sueton (Iul. 34.2). Die ausführlichste Darstellung, die bezüglich des Umfangs der Lucans am nächsten kommt, findet sich bei Caesar (Bell. civ. 1.33.4; 1.34–35; 1.56–58; 2.1–16). Ob dessen Kommentarien oder vielleicht doch Livius’ verlorene Ausführungen (per. 110) Lucan als Hauptquelle dienten, bleibt unentschieden; vgl. hierzu Pichon 1912; Griset 1954; Haffter 1957; Rambaud 1960; Lintott 1971; Bachofen 1972; Masters 1992. 5 Leclerc 1929: 106–127. 6 Leclerc 1903: 45; vgl. Holmes 1923. 7 Opelt 1957: 437. 8 Metger 1957: 3–10.

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des militärischen Strategen und unterrichte den Leser daher weniger über „einzelne Geschehnisse in ihrem äußeren Ablauf“, sondern stelle Zusammenhänge und Entwicklungen, die zu der Schlacht führen, differenzierter als Lucan dar.9 Caesars Bellum Civile seien keine vergleichbar expliziten Gewaltdarstellungen zu entnehmen, sodass die Schlacht diesbezüglich in scharfem Kontrast zum Bürgerkriegsepos stehe. Schließlich ist Olivers Forschungsbeitrag zu nennen, der größtenteils die Verkürzung und Vereinfachung der historischen Ereignisse zugunsten der epischen Gestaltung des Werkes aufzeigt.10 Es wird erläutert, dass Lucan weniger den Erzählstoff selbst erfindet als vielmehr historische Sachverhalte in ihrem chronologischen Ablauf verändert, unter Auslassungen neu anordnet und für seine literarischen Zwecke umarbeitet.11 Er geht näher auf die im Text genannten Waffen ein und legt dar, inwiefern diese in ihrem Gebrauch den historischen Gegebenheiten entsprechen.12 (2) Mag Lucan den Erzählstoff nicht selbst erfunden haben, so stellt jedoch die Thematisierung einer Seeschlacht eine bemerkenswerte Neuerung im Epos der griechischen und römischen Literatur dar. Weder bei Homer noch bei Vergil lassen sich Textstellen finden, die als direkte Vorlagen gedient haben könnten.13 Saint-Denis ist der Meinung, dass der „horreur du combat naval“ zu den Meeresmotiven gehört, die Lucan weniger durch seine spezifisch literarische Gestaltung als vielmehr durch die Wahl des Themas selbst geprägt hat.14 (3) Nach der geschilderten Zerstückelung des Marius Gratidianus erreicht die Darstellung der extremen Gewalt in Buch 3 einen neuen Höhepunkt. Dies spiegelt sich am erhöhten Interesse der Forschung und der Erscheinung zahlreicher Beiträge wider. Opelt charakterisiert zunächst die Schlacht im Allgemeinen. Sie weist auf die „Energie der Verse“ und „Paradoxa“ als gestalterisches Mittel hin und nimmt anschließend die Einzelkämpfe in den Blick.15 Zu den wichtigsten Beobachtungen zählt die zersplitterte, fragmentarische Komposition, die an Ovids Erzähltechnik erinnert, wobei die Textpartie als „statisch,

9 10 11

12 13 14 15

Metger 1957: 6. Oliver 1972. Oliver (1972: 324): „If an epic dealing with an historical war is to be more than a versified chronicle, its author must reduce a long and involved series of events, including military preparations, strategic manoeuvres, scouting, skirmishing, indecisive battles, and much else that is necessarily prosaic, to a limited number of episodes that may fairly be regarded as turning points in the conflict and also lend themselves to vivid and dramatic narration.“ Oliver 1972: 330–334; vgl. Hunink 1992: 192. Vgl. Fuhrmann 1968: 55; Ahl 1976: 315; Hunink 1992: 200; Fratantuono 2012: 117. Saint-Denis 1935: 437. Opelt 1957: 439.

162

kapitel 4

funktionell isoliert“ beschrieben wird.16 Die Kampfhandlungen versteht sie als „totale Selbstaufgabe der Kämpfer, die auch den Tod noch nutzbar machen wollen“.17 Auch für Metger steht neben dem Motiv der Vernichtung das der Standhaftigkeit, „der unbändige Selbstbehauptungswille“, im Zentrum der Darstellungen.18 Er untersucht die Szenen hinsichtlich intertextueller Bezüge zu Homer, Vergil, Ovid und Caesar, und trägt dabei die wichtigsten Motive, wie z. B. Kampfbeginn, Waffen und Verwundungen zusammen.19 Ähnlichen Einfluss auf die nachfolgenden Forschungsbeiträge zur Seeschlacht bei Lucan haben bis heute die prägnanten Ausführungen Fuhrmanns.20 Er vertritt die These, die zahlreichen Motive des verzögerten Todes legen zum Teil Zeugnis für das stoische Heldenschema ab.21 Zudem nimmt er insbesondere auf die „überaus paradoxe Mechanik“ der Einzelschicksale Bezug und hebt sich insofern von den bisherigen Arbeiten ab, als dass er keine klare Unterscheidung zwischen Einzel- und Massenszenen erkennt, sondern vielmehr fließende Übergänge.22 Rowland hingegen zweifelt an der starken Akzentuierung der Einzelszenen und ihrer Isolation vom Werkganzen. Stattdessen stellt er die These auf: […] the entire episode is integrally linked to the major themes of Lucan’s epic, that Massilia is, in fact, paradigmatic of Rome, and that Massilia’s sufferings and fate are the analogue of Rome’s.23 Daran knüpfen später Masters’ Ergebnisse an.24 Nach dem intertextuellen Vergleich zwischen Lucan und Caesar und der Hervorhebung von Übertreibung, Verdichtung und Deformation als Hauptmotive der Seeschlacht,25 zieht er den Schluss: „Every pattern of death imitates in some way Lucan’s civil-war imagery.“26 Bartsch blickt auf die Seeschlacht mit dem Fokus auf die dargestellten Körper und ihrer Fragmentierung. Ähnlich wie Masters deutet sie die 16 17 18 19

20 21 22 23 24 25 26

Ebenda. Opelt 1957: 445. Metger 1957: 26; vgl. ebenda 31 u. 32. Metger 1957: 3–77; vgl. Fuhrmann 1968: 52–55; Narducci 1979: 81–89; Alexis 2011: 112–114; Watkins 2012; Fratantuono (2012: 122) zeigt Parallelen zu Properz auf; Ambühl (2015: 256– 257) weist zudem intertextuelle Bezüge zu Aischylos’ Persern nach. Fuhrmann 1968: 52–55. Wovon sich die Forschung im Laufe der Zeit immer stärker distanziert hat; s. etwa Sklenář 2003. Fuhrmann 1968: 55. Rowland 1969: 204. Masters 1992: 11–43. Masters (1992: 24, Anm. 25): „Lucan deprives history of its logic“. Masters 1992: 42.

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Zerstückelung der Soldaten als Auflösung der bestehenden normativen Grenzen, die sowohl im Makro- als auch im Mikrokosmos abgebildet ist.27 Bei ihrer Analyse der Grenzüberschreitung greift sie auf Julia Kristevas Konzept des ‚Abjektes‘ zurück, sowie auch auf den von Bachtin geprägten Begriff der Groteske.28 An diese Aspekte wird in nachfolgenden Beiträgen angeknüpft. Dinter etwa weist überzeugend nach, dass die Zerstückelung des massilischen Zwillings in der Seeschlacht (3.603–626) als Sinnbild für die Dezimierung der massilischen Truppen gedeutet werden kann.29 Sklenář entwickelt einen nihilistischen Ansatz und hebt den Zerfall auf eine abstrakte Ebene.30 Er versucht in den Darstellungen der Seeschlacht nachzuweisen, inwiefern virtus ihre Gültigkeit verliert und stellt dies in einen kausalen Zusammenhang mit der Verlagerung des Kampfes vom Land auf das Meer. In einem Epos, das mit seiner literarischen Tradition bricht – z.B. mit Darstellung einer Seeschlacht, die wiederum wie eine Landschlacht anmutet –, können epische Motive keine Wirkung entfalten. Es erfolge eine „Entwertung aller Werte“.31

4.4

Interpretation

Die ersten fünf individuellen Gewaltszenen der Seeschlacht lassen sich nicht nur im Licht von „Verwundung und Tod der Kämpfer“ sowie „letzte Bewährung angesichts des Todes“ untersuchen.32 Anhand dieser kann auch in bemerkenswerter Weise das Bedingungsverhältnis von Gewalt und Unmaking aufgezeigt werden. Hierfür ist in Anknüpfung an Fuhrmann, der auf „das freie Spiel der steigernden und kontrastierenden Darstellung“ zu sprechen kommt, der Blick auf Oppositionspaare und das zwischen diesen erkennbare Spannungsfeld, kurz: tension zu richten.33 Im Kontext dieses szenenübergreifenden

27 28 29

30 31 32 33

Bartsch 1997: 16–39. Vgl. Kristeva 1982 u. Bachtin 1968. Vgl. Dinter (2010: bes. 188 u. 189): „Die lateinische ‚Körpersprache‘, d. h. die Worte, die im Lateinischen Körperteile beschreiben, können nicht nur zur Literaturkritik dienen, sondern ebenfalls eine Schlacht en miniature darstellen. […] Überdies kann die ganze Passage ebenfalls im Lichte der Doppelbedeutungen der lateinischen Worte für Körperteile, Waffen und Militär als mise en abyme eines Kosmos der Gewalt gelesen werden, in der der Körper des Zwillingsbruders zum Sinnbild des Bürgerkrieges avanciert.“ Sklenář 2003: 19–23. Sklenář 2003: 23; zur Beurteilung der massilischen Seeschlacht aus moralischer und kultureller Perspektive vgl. Gorman 2001 u. Thorne 2010. Metger 1957: 31–32. Fuhrmann 1968: 53.

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kapitel 4

Aspekts weisen die Partien zudem unterschiedliche Merkmale bezüglich ihrer Dynamik und eindringlichen Wirkung auf den Rezipienten auf. Für eine differenzierte Darstellung werden die fünf Texte unter folgenden Aspekten näher beleuchtet: Gewaltkonstellation, Erzählraum und Grenze, Körper und Verwundung, Zeit, sowie schließlich Illusionsdurchbrechung. Diese methodische Vorgabe ist nicht für jede einzelne Analyse als obligatorisches oder statisches ‚Metamodell‘ anzusehen, sondern eher als ein in sich veränderliches, dynamisches Schema, das eine adäquate Berücksichtigung der jeweiligen Charakteristika und narrativen Gestaltung der Partien zum Ziel hat. 4.4.1 Catus (Lucan. 3.583–591) Die Seeschlacht befindet sich in vollem Gange. Im Durcheinander der umherfliegenden Geschosse wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine irritierend wirkende Szene gelenkt: Ein römisches Schiff wird umzingelt und die Schiffsmannschaft verteidigt Steuerbord und Backbord. Catus steht auf dem Hinterdeck und wird von zwei Wurflanzen gleichzeitig in Rücken und Brust erfasst. Die Geschosse treffen in der Körpermitte zusammen, woraufhin ein starker Blutstrahl beide wieder aus dem durchbohrten Leib herausschleudert. Der Soldat stirbt. Die Untersuchung der neun Verse umfassenden Partie erfolgt aus fünf verschiedenen Blickrichtungen. 4.4.1.1 Gewaltkonstellation Auf den ersten kollektiven Massenkampf folgt die erste individuelle Sterbeszene der Seeschlacht, die dem Leser einen namentlich genannten patiens vor Augen führt (583–591). Catus wird von zwei im Text nicht erwähnten agentes getötet: Phocaicis Romana ratis vallata carinis robore diducto dextrum laevumque tuetur 585 aequo Marte latus; cuius dum pugnat ab alta puppe Catus Graiumque audax aplustre retentat, terga simul pariter missis et pectora telis transigitur: medio concurrit corpore ferrum, et stetit incertus, flueret quo vulnere, sanguis, 590 donec utrasque simul largus cruor expulit hastas divisitque animam sparsitque in vulnera letum.

X AG GA2/CH2 V(d); W GE(p); W WW WW, W ST

Nach dem kurzen Vorszenenelement X (583–585), das den Leser in die Kampfsituation einführt, rückt der Erzähler den Soldaten Catus ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit pugnat (585) wird eine allgemeine Gewalthandlung (AG)

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beschrieben. Einziger Gewaltaktant der Szene ist Catus (GA2). Er wird vom Erzähler namentlich genannt und als audax (586) charakterisiert (CH2).34 Somit ist er – zusätzlich zu seinem exponierten Standpunkt (alta | puppe, 585– 586) – im allgemeinen Kampfgetümmel von den übrigen Soldaten der Mannschaft abgehoben. Die detailliert geschilderte Verwundung des Rückens und der Brust (V[d]) stellt ein passives Erleiden von Gewalt dar, also ohne eigenes Zutun, (GE[p]). Dies wird durch den Gebrauch der passivischen Verbform transigitur (588) zusätzlich unterstrichen. Der Leser erhält über die agentes oder participes keine explizite Information. Es bleibt lediglich zu vermuten, dass die Lanzen von Massiliern geworfen werden infolge dessen, dass Catus die Heckverzierung eines griechischen bzw. massilischen Schiffs festhält. Ab der zweiten Hälfte der Szene lässt sich eine Akzentuierung der Waffen (W) und ihrer Wirkung auf den Körper (WW) beobachten. Die Geschosse werden drei Mal mit unterschiedlichen Ausdrücken wiedergegeben: telis (587), ferrum (588), hastas (590). Insbesondere das Blut (sanguis, 589; cruor, 590) ist von der Waffenwirkung betroffen, das zunächst in seiner Zirkulation im Körper unterbrochen wird, um schließlich mit gewaltiger Kraft beide Lanzen wieder aus den Wunden herauszutreiben, woraufhin Catus stirbt (ST). 4.4.1.2 Erzählraum Der Erzählraum ist für die narrative Repräsentation der physischen Verwundung von zentraler Bedeutung. Insbesondere zwei Teilaspekte des Erzählraums sind in der Partie zu erkennen: (1) Anschauungsraum und (2) Aktionsraum. (1) Der Leser erhält durch die Darstellung des Anschauungsraums einen Überblick über das setting der Szene, das nur bedingt anschaulich beschrieben ist. Der Erzähler benennt lediglich die für das folgende Ereignis bedeutsamen Elemente des Erzählraums, ohne genauer auf deren Beschaffenheit oder Aussehen einzugehen: Ein römisches Schiff wird von den Booten der Massilier umzingelt, Catus steht auf dem hohen Hinterdeck und greift nach der feindlichen Heckverzierung. (2) Inwiefern der Erzählraum Einfluss auf den Kampf nimmt, lässt sich am Aktionsraum beobachten. Die Umzingelung bestimmt die Bewegung der Figuren. Das römische Schiff ist in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt

34

Catus ist wohl als erfundener Charakter anzusehen und basiert nicht auf einer historischen Persönlichkeit; vgl. Hunink (1992: 225, ad loc.): „probably an invented character. In accordance with Vergilian practice […], minor characters are freely added by the poet. Their names do not refer to historic persons. This name Catus (spelled wrongly in many MSS) is taken up in Sil. 4,139.“

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und damit manövrierunfähig.35 Dessen Schiffsmannschaft teilt sich daher auf beide Seiten ihres Schiffes auf, um es zu verteidigen. Auch an Catus selbst lässt sich eine gewisse ‚Immobilität‘ ablesen, da er daran gehindert wird, die Grenze zwischen beiden Schiffen zu überqueren. Wie gering die räumliche Distanz zu den gegnerischen Booten ist, kann der Leser aus Catus’ Intention schließen, vom eigenen Hinterdeck nach der Heckverzierung der Griechen zu greifen. Der Erzählraum ist zwar wenig anschaulich dargestellt, doch weist er aufgrund der Konzentration auf die wesentlichen Raumelemente eine klar dichotomische Struktur auf. Die Szene ist von den binären Oppositionen Schiff der Römer – Schiff der Massilier, Zentrum – Peripherie, innen – außen, links – rechts geprägt. 4.4.1.3 Körper und Verwundung Die Konstellation des Erzählraums korrespondiert mit der Darstellung des Körpers und seiner Verwundung. Tension zeigt sich dabei vor allem angesichts der Doppelwunde, die Catus zugleich in Brust und Rücken empfängt. Hierfür soll der Blick auf drei Aspekte gerichtet werden: (1) Körper, (2) Fernwaffen und schließlich (3) die Repräsentation des Verwundungsprozesses durch Zooming, das die Bewegungsdynamik der Geschosse auf story-Ebene abbildet. (1) Als Objekt der Vernichtung steht Catus’ Körper deutlich im Vordergrund, sodass er dem Leser nur als verwundeter vor Augen geführt wird. (a) Der Prozess des zweifachen Durchbohrtwerdens wird einerseits auf syntaktischer Ebene in den Fokus gerückt, da transigitur das Prädikat des übergeordneten Hauptsatzes darstellt, während Catus’ allgemeine Kampfhandlung auf dem Hinterdeck (AG) im temporalen Nebensatz geschildert wird und somit lediglich als ‚Vorspiel‘ zu deuten ist (cuius dum pugnat ab alta | puppe Catus, 585–586). Auch Metger stellt für die drei ersten individuellen Sterbeszenen der Seeschlacht eine „Subordination der Kampfhandlung (Nebensatz) gegenüber der Verwundung (Hauptsatz)“ fest.36 (b) Andererseits stellt das Motiv der Doppelwunde eine Innovation in der Tradition des Epos dar, sodass die Besonderheit der Gewaltdarstellung auch in intertextueller Hinsicht hervorgehoben wird. Zwar finden sich bei Homer und Vergil ebenfalls Wunden in Rücken oder Brust, sowie auch Wunden in Rücken und Brust sich nachweisen lassen, jedoch nicht zum selben Zeitpunkt 35

36

Die Umzingelung der Römer wird durch das Hyperbaton Phocaicis […] carinis (583) auch auf formaler Ebene deutlich akzentuiert, zumal die hervorgehobene Erst- und Letztposition des Verses durch die beiden Begriffe besetzt ist. Diese ‚Rahmenbedingungen‘ sind, wie sich später zeigen wird, für die Konstellation der Gewaltdarstellung essenziell. Metger 1957: 30.

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und durch zwei Waffen.37 Insbesondere Ovids Darstellung von Nessus’ Tod wird häufig als Vorlage für Lucans Szene in Betracht gezogen, da nicht nur Rücken und Brust durchbohrt, sondern auch das Herausströmen des Blutes aus beiden Wunden geschildert wird (Ov. met. 9.127–130):

130

[…] et missa fugientia terga sagitta traicit: exstabat ferrum de pectore aduncum. quod simul evulsum est, sanguis per utrumque foramen emicuit mixtus Lernaei tabe veneni.38

Senecas Thyestes weist ähnliche Gemeinsamkeiten mit Catus’ Todesszene auf (Sen. Thy. 740–743):39 740

[…] ut pueri statim pectore receptus ensis in tergo extitit; cadit ille et aras sanguine extinguens suo per utrumque vulnus moritur.40

Im Vergleich mit den epischen bzw. tragischen Hypotexten wird in Lucans Text insbesondere durch die Darstellung des Blutes eine irritierende Wirkung auf den Leser erzeugt. Zum einen treibt das Blut selbst als Subjekt des letzten Satzes die Lanzen wieder aus dem Körper heraus und bringt den Tod: donec utrasque simul largus cruor expulit hastas | divisitque animam sparsitque in vulnera letum (590–591). Hübner spricht von narrativen Situationen, in denen eine Umorientierung der Syntax eintritt. Die Relationen zwischen den Satzgliedern verschieben sich. Eine unerwartete Vertauschung 37

38

39

40

Metger (1957: 37, Anm. 1): „Verwundungen auf der Brust oder auf dem Rücken sind uns bei Homer und Vergil durchaus geläufig (Ilias O 341, O 523 u. a.; Aen. IX 413, X 485 u. a.); auch kennen wir eine zweifache Verwundung, bei der die zweite der ersten aber zeitlich nachfolgt und immer als der Todesstoß zu verstehen ist.“ „Aus der Brust ragte die hakige Eisenspitze hervor. Als diese herausgezogen war, spritzte aus beiden Öffnungen Blut, vermischt mit dem Gift der lernaeischen Schlange.“ (Übers. von Albrecht). Vgl. Hunink (1992: 226, Anm. 1): „In both texts someone is killed by a double wound. In the former this is due to an arrow hitting the back and piercing the chest. In the latter the motif is given a new form: death is caused by a sword driven into the chest and piercing the back.“ „[…] und alsbald trat, in des Knaben Brust empfangen, das Schwert im Rücken heraus; er fällt, und mit seinem Blut das Altarfeuer auslöschend, stirbt er an der Doppelwunde.“ (Übers. Thomann).

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findet statt: Der Begriff, der logischerweise Objekt ist, wird als ‚Träger oder Mittelpunkt eines Vorgangs‘ […] zum grammatischen Subjekt erhoben.41 Damit wirkt der Körper auf zerstörerische Weise gegen sich selbst. Der Körper des patiens ist also nicht nur verletzungsoffen, sondern auch verletzungsmächtig. Das kontrastive Spannungsverhältnis zwischen dem lebenden, zirkulierenden Blut (sanguis, 589) und dem breiten Blutstrahl, der sich aus den Wunden ergießt (largus cruor, 590) wird an dieser Stelle durch die Nähe der beiden Begriffe im Text verschärft. Zum anderen ist die irritierende Wirkung der Szene auf die angedeutete implizite Fokalisierung durch das Blut zurückzuführen: das Blut bleibt zunächst im Körper stehen und ist – als ob es zur bewussten Entscheidung fähig sei – ‚ungewiss‘, aus welcher Wunde es fließen soll: stetit incertus, flueret quo vulnere, sanguis (589).42 Metger bemerkt zur Dynamik des Blutes in der Seeschlacht: Lucan sieht also das Blut in seiner dynamischen Kraft und leitet daraus einen besonderen Effekt ab, dass es – einst Träger des Lebens – im Ausströmen noch zur Zerstörung des menschlichen Organismus beiträgt. […] Lucan beschreibt die Verwundungen nicht, er analysiert sie und mit diabolischer Eindringlichkeit sucht er gerade die Vorgänge im Innern des Körpers aufzudecken. Die Distanz, aus der wir die homerischen und vergilischen Verwundungsarten betrachten, ist hier einer erregenden, grauenerweckenden Nähe gewichen.43 (c) Neben der markanten Akzentuierung der Verwundung in syntaktischer und intertextueller Hinsicht kommt im Motiv der gleichzeitig empfangenen Doppelwunde das Spannungsverhältnis gegenläufiger Tendenzen bzw. Oppositionspaare zum Ausdruck. Erzählraum und Verwundung des Körpers weisen ein enges Entsprechungsverhältnis auf: Während der Raum durch die topographischen bzw. topologischen Oppositionspaare Schiff der Römer – Schiff der Massilier, Zentrum – Peripherie, innen – außen, links – rechts charakterisiert ist, bewegt sich die Darstellung der physischen Verwundung im Spannungsfeld zwischen den Polen Rücken – Brust, hinten – vorne, innen – außen, stehendes Blut – strömendes Blut, Leben – Tod: Mit der Durchbohrung des Rückens von hinten und der Brust von vorne wird die räumliche Umzingelung durch die

41 42 43

Hübner 1972: 577. Hierauf wird im Abschnitt 4.4.1.4 zu ‚Grenze‘ genauer eingegangen. Metger 1957: 47.

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feindlichen Schiffe ins Bewusstsein des Rezipienten gehoben. Das Wechselverhältnis von innen und außen korrespondiert mit dem Blick in den Körper, wo das Blut stehenbleibt, und der Bewegung des strömenden Blutes über die Körpergrenze hinweg nach außen. Das Oszillieren zwischen den Oppositionen markiert somit den Übergang vom Leben zum Tod. Es kann schließlich als bezeichnend für die binäre Erzählstruktur angesehen werden, dass das Blut nach Herausschleudern der Lanzen den Lebenshauch zerteilt (cruor expulit hastas | divisitque animam, 590–591). Essentiell für die dichotomisch geprägte Darstellung der Verwundung ist – eine weitere Parallele zu Erzählraum – die geringe Anschaulichkeit. Dem Text lässt sich keine nähere Beschreibung des Körpers entnehmen. Am Gebrauch der Begriffe terga (587), pectora (587), medio corpore (588), sanguis (589) und largus cruor (590) zeigt sich, dass ähnlich wie bei der narrativen Gestaltung des Raums lediglich die Bestandteile des Körpers genannt werden, die für die Binarität der Sterbeszene von Bedeutung sind. Auf den Gebrauch präzisierender ‚Körperattribute‘ wird – abgesehen von medio und largus, die nur in geringem Maße zur höheren Anschaulichkeit der Szene beitragen – verzichtet. Diese Erzählstrategie hat eine schärfere Konturierung der im Text vorherrschenden Dichotomie zur Folge. Zusätzliche Details und ‚unnötige‘ Informationen würden den kontrastiven Charakter der Szene abschwächen. (2) Zur Darstellung der Fernwaffen. Bei der Gewaltdarstellung wird der Blick eindringlich in das Körperinnere des Römers (medio […] corpore, 588) gelenkt, wo die Lanzen zusammentreffen und die Waffenwirkung deutlich geschildert wird. Im Text lassen sich drei unterschiedliche Ausdrücke für die Geschosse finden: telis (587), ferrum (588), hastas (590). Angesichts der im Werkganzen vorliegenden Tendenz zu Wortwiederholungen vor allem im Kontext von Gewaltdarstellungen (wie beispielsweise der Massenhinrichtung in Lucan. 2.193b– 220) fällt der Gebrauch dreier unterschiedlicher Ausdrücke innerhalb von nur vier Versen klar ins Auge. Der Begriff telis erscheint dem Leser in seiner engeren Bedeutung vage. Es kann zunächst nicht sicher entschieden werden, ob es sich um Speere oder Pfeile handelt. Jedoch legt der Kontext die Assoziation zu Fern- oder Wurfwaffen nahe, wie es der primären Bedeutung der Vokabel entspricht.44 Ferrum hingegen richtet den Fokus stärker auf die Eisenspitzen, die in der Körpermitte aufeinanderschlagen (vgl. Abschnitt 4.4.3.3). Das gewaltsame Zusammentreffen wird auf phonetischer Ebene durch die Alliteration concurrunt corpore (588) abgebildet sowie auch durch die starke Anhäufung der r-Laute im gesamten Vers. Erst der letzte Begriff hastas macht deutlich, dass

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OLD s.v. ‚telum‘, 1911.

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Catus von Wurfspießen, Speeren oder Lanzen durchbohrt worden ist. Dass es sich nicht um Pfeile, sondern um Stabwaffen mit höherem Gewicht handelt, lässt die enorme Wucht, mit der das Blut die Geschosse aus der Doppelwunde treibt, noch gewaltiger erscheinen.45 Der Eindruck hoher Bewegungsdynamik und Energie, mit der die Wurflanzen geschleudert werden und in den Körper ein- bzw. wieder austreten, wird also mittels sukzessiver Informationsvermittlung zunehmend gesteigert. Die Intensität der Gewaltdarstellung wird außerdem dadurch erhöht, dass es für Catus aufgrund der räumlichen Umzingelung durch die Massilier keine Möglichkeit zur Flucht gibt. Zudem ist der Einsatz von Fernwaffen in der fabula konstitutiv für die story. Im Fernkampf herrschen Unübersichtlichkeit und chaotisches Durcheinander – Charakteristika, die auch Sofsky im Hinblick auf den modernen Fernkampf herausstellt und die zugleich in bemerkenswerter Weise auf die CatusSzene zutreffen: Die vertikale Umfassung versperrt die Fluchtwege und bedroht das bislang sichere Hinterland. Die Gefahr umgibt den Menschen rundum, von allen Seiten, von vorn, von hinten, von oben. Beim Nahkampf hat man den Gegner vor sich und den Rücken frei. Davon ist nichts geblieben. […] Der Mensch verliert die Deckung. Sein Raum ist brutal zusammengedrückt. Während sich das Terrain der Gewalt immer weiter ausdehnt, ist das Opfer an seinen Standort gebannt. Dabei ist der Urheber kaum mehr auszumachen.46 In Lucans Text korrespondiert das Motiv des Durcheinanders mit der spezifischen Beschaffenheit des Fernkampfes. Zum einen kommt dies durch die Leerstelle des agens in der Erzählung zum Ausdruck, zum anderen wirkt die Catus-Szene wie ein Einzelbild oder ‚Schnappschuss‘, der zufällig im Getümmel der Schlacht gemacht wurde.47 (3) Die hohe Dynamik des geschilderten Verwundungsprozesses, der sowohl auf das Spannungsverhältnis zwischen dichotomischen Kontrastpaaren als auch auf die enorme Bewegungsdynamik der Fernwaffen zurückzuführen ist, ist maßgeblich von der Leserlenkung mittels Zoom In mitgeprägt: Der Blick des

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Zur literaturgeschichtlichen Tradition von Lanzen und Schwertern bzw. ihrer Funktion im Werk Homers, Vergils und Lucans s. Metger 1957: 33–36. Sofsky 1996: 36, 37. Vgl. zur ‚Snapshot‘-Technik bei Ovid Fondermann 2008: 65–67; zur chaotisch-diachronen Sequenzierung s.o. Abschnitt 3.4.4; Lucans Technik des isolierten Einzelbildes ist Gegenstand etwa bei Metger 1957: 25–26; Opelt 1957: 438; Zimmermann 2009a: 183.

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Lesers wird konsequent von außen nach innen gelenkt. Die von außen hereinbrechende Gefahr wirkt nach und nach einengender: In der Umzingelung der massilischen Schiffe (Phocaicis carinis, 583) befindet sich das römische Schiff (Romana ratis, 583). Die Distanz wird verringert und die Aufmerksamkeit zunächst stärker auf das Vorgehen der Römer gelenkt, die Steuer- und Backbord verteidigen (dextrum laevumque tuetur, 584). Anschließend fällt der Blick auf das hohe Hinterdeck (alta puppe, 585–586), wo sich Catus im Kampf befindet (585). Seine Aktion wird nun konkretisiert. Ungestüm hält er die griechische Heckverzierung fest (Graium aplustre, 586), woraufhin sein Körper in den Fokus gerückt wird. Von hinten und vorne wird er mit Wurflanzen (telis, 587) in Rücken (terga, 587) und Brust (pectora, 587) durchbohrt. Die Engführung erreicht ihren Höhepunkt: Der Erzähler unterrichtet den Leser über die Vorgänge im Innern des Körpers. Die Nähe zum Geschehen wird immer ‚eindringlicher‘.48 In der Mitte (!) des Körpers (medio corpore, 588) treffen schließlich die Eisenspitzen ( ferrum, 588) zusammen. Es scheint, dass corpore an dieser Stelle nicht nur den ‚Rumpf‘ als Bestandteil des Körpers bezeichnet, sondern auch die leibliche Gesamtheit, in der das Leben verhaftet ist. Die Präfiguration der Partie ist von Beginn an darauf ausgerichtet, Catus in seinem konstitutionellen Zentrum zu treffen. Die Eindringlichkeit, mit der die Gefahr auf den Soldaten einwirkt, resultiert dabei aus der quasi konzentrisch angelegten Erzählstruktur. Die Gewalt wird auf diese Weise wortwörtlich in Szene gesetzt, sodass von einer „Ausdifferenzierung der Gewalt als ästhetischem Akt“49 gesprochen werden kann. In den letzten drei Versen wird der Blick in die entgegengesetzte Richtung, d.h. vom Innern des Körpers nach außen gelenkt. Dieses Zoom Out ist in seiner Wirkung jedoch weniger konsequent als das gegenläufige Zoom In, das sich über die Verse 583–588 erstreckt. Nach kurzer Verzögerung treibt ein breiter Blutstrahl beide Lanzen (hastas, 590) aus den Wunden – hier ist ein klarer Unterschied zwischen dem im Körper befindlichen sanguis (589) und dem aus Körper schießenden cruor (590) zu erkennen, der die Bewegung von innen nach außen auf lexikalischer Ebene kennzeichnet. Zudem markiert der Ausdruck hastas eine Öffnung der Perspektive und erzeugt den Eindruck höherer Distanz, wodurch nicht mehr nur die Spitze, sondern die kompletten Waffen in Erscheinung treten. Die Wucht, mit der das Blut aus dem Körper tritt, wirkt

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Vgl. Metger (1957: 37): „Das Motiv bleibt ohne jeden Anschauungsgehalt, der Effekt liegt nicht im äußerlich Sichtbaren: er lässt sich nur gedanklich erfassen.“ Bohrer 2000: 41. Dass dieser Akt mit einer Ästhetik der Plötzlichkeit näher beschrieben werden kann, wird in Abschnitt 4.4.1.4 zur Grenze näher behandelt.

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dadurch erhöht, dass die Lanzen nun in ihrer ganzen Länge aus den Wunden getrieben werden (s. Abschnitt 4.4.1.3 zur Verwundung des Körpers). Der bereits erläuterte Kontrast zwischen sanguis und cruor wird im letzten Vers durch das Oppositionspaar animam und letum noch einmal aufgegriffen. Das Zoom Out wird durch den separativen Ablativ quo vulnere und das mit ex- präfigurierte Verb expulit unterstrichen. Aufgrund der erzähltechnischen Mittel des Zoom In und Zoom Out entwickelt der Text eine bemerkenswert hohe Dynamik. Die Vehemenz der Gewalt, die auf Catus einwirkt und wieder aus ihm herausbricht, scheint nach dem Prinzip ‚Kraft gleich Gegenkraft‘ gestaltet zu sein. 4.4.1.4 Grenze Nachdem auf die Gewaltkonstellation der Szene sowie auch ausführlich auf die narrative Gestaltung des Erzählraums, und die Verwundung des Körpers eingegangen wurde, stellt im Folgenden der Aspekt der Grenze den Gegenstand der Untersuchung dar. Catus’ Sterbeprozess vollzieht sich in einer Grenzzone. Dies ist für die Szene besonders charakteristisch, da es sich um eine Umzingelung handelt, die die Römer dazu zwingt, sich an Steuer- und Backbord, d. h. an den Rand des Schiffes zu begeben. Catus wird von den Lanzen getroffen, während er sich von dem Hinterdeck herüberbeugt und sowohl zum eigenen als auch zum feindlichen Schiff Kontakt hat.50 Das „Widernatürliche der Verwundung“51 und der Bruch mit der Tradition epischer Motive (s. Abschnitt 4.4.1.3) finden hier ihren Platz.52 Er befindet sich in einem ‚Dazwischen‘ im Lotman’schen Sinne, das nicht nur durch seinen Standort im Erzählraum definiert ist, sondern auch semiotisierende Prozesse in Gang setzt. Im Zuge der hohen Bewegungsdynamik (audax, 586) und räumlichen Annäherung bewegt sich Catus in einem Spannungsfeld zwischen Leben und Tod, in dem sich bekannte Strukturen auflösen und im Zuge semantischer Verdichtungsprozesse neu konstituieren.53

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Opelt (1957: 444) weist darauf hin, dass bei der Seeschlacht vor Massilia insbesondere auf die durch den plötzlichen Tod abgebrochene Bewegung der Figuren zu achten ist. Bewegung und Tod stehen hier in einem engen Verhältnis. Metger 1957: 37. Vgl. Goppelsröder (2009: 201): „Nicht der physische Akt als solcher, sondern die durch ihn vollzogene Aufhebung des Vertrauten, Verstehbaren macht den Unterschied. Das Zusammenspiel aller Aspekte – der physischen Gewalt, der fehlenden Finalität/ Linearität, der konterkarierten Erwartungen – ist entscheidend. Dieses Verloren-Sein, diese Hilflosigkeit schafft das Grauen.“ Das im vorliegenden Text prädikativ gebrauchte audax kann hier durchaus eine gewisse Bewegungsdynamik zum Ausdruck bringen. Vgl. ThLL s. v. ‚audax‘, 2.0.1248.60–65; OLD s. v. ‚audax‘ 208.

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Besonders zwei Aspekte, die in der vorliegenden Untersuchung bisher noch nicht näher beleuchtet wurden, können mithilfe dieses Ansatzes beschreibbar gemacht werden: (1) die Zeit und (2) die zweifache Perspektivierung der Wunden. Bezeichnenderweise liegen mit dem doppelten Gebrauch von simul und vulnus die einzigen Wortwiederholungen der Szene vor, sodass bereits dadurch eine Akzentuierung zu erkennen ist – zumal im Gegensatz dazu innerhalb von nur vier Versen drei unterschiedliche Ausdrücke für die Wurflanzen nachgewiesen werden können (telis, ferrum, hastas). (1) Obwohl der Erzähler das Verstreichen von Zeit nicht explizit reflektiert, spielt deren Darstellung in zweierlei Hinsicht eine wesentliche Rolle. Erstens: Die Erzählzeit entspricht der erzählten Zeit. Die Szene steht durch die Subjunktion dum und den zweimaligen Gebrauch des Adverbs simul (587, 590) unter dem Eindruck der Gleichzeitigkeit, mit der das Gefühl von Unübersichtlichkeit, Chaos und Verdichtung einhergeht. Catus’ gewaltsamer Tod erstreckt sich in der fabula scheinbar auf einen kurzen Augenblick. In der fiktiven Erzählwelt umfasst der Vorgang der Durchbohrung und des Heraustreibens der Waffen vermutlich nur wenige Sekunden. Zeit und Fernkampf stehen in engem Zusammenhang, wie Sofsky bemerkt: Eng verbunden mit der Überwindung des Raums ist die Beschleunigung der Zeit. Geschwindigkeit ist selbst eine Waffe. […] Das Opfer ist langsamer als der Täter. Weil die Gewalt rasch ist, ist das Opfer überrascht. Unvorbereitet kann es dem plötzlichen Auftauchen der Waffe nichts entgegensetzen.54 Zudem trägt der wiederholte Gebrauch von simul in den Versen 587 (terga simul pariter missis et pectora telis | transigitur) und V. 590 (donec utrasque simul largus cruor expulit hastas) verstärkend zu dem Eindruck bei, dass die Waffen mit der gleichen Kraft aus dem Körper austreten wie sie in ihn eingedrungen sind.55

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Sofsky 1996: 37. Hunink (1992: 226) sieht in der Juxtaposition simul pariter (587) eine weitere Akzentuierung des simultanen Vorgangs: „the simultaneity of the injuries is brought out by the juxtaposition of the adverbs“; vgl. Metger (1957: 37): „Gleich dieses erste Verwundungsmotiv hebt sich durch die Verdoppelung, unterstrichen durch die unmittelbar aufeinanderfolgenden Adverbien simul und pariter, aus dem Rahmen der üblichen Vorstellungen heraus.“ Zum Austritt der Waffen bemerkt Hunink (1992: 226) zudem: „This reaction of the body corresponds to the injuries inflicted simultaneously. […] Traditionally, the motif has a simpler form: when a weapon is torn out of a wound, the blood and the life giving soul flow out.“ Hierbei verweist er auf Hom. Il. 16.504–505; Verg. Aen. 10.486–487; Ov. met. 9.129–130.

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Zweitens: Neben dem Aspekt der Gleichzeitigkeit ist die Verzögerung des Blutaustritts von zentraler Bedeutung (et stetit incertus, flueret quo vulnere, sanguis, 589). Hieran zeigt sich, dass der Tod im Bellum Civile häufig nicht das finale Ergebnis, sondern die Voraussetzung für die narrative Gestaltung darstellt.56 Die zeitliche Dehnung markiert den Prozess des Sterbens als „Augenblick ästhetischer Kontemplation“ bzw. „Augenblick der rücksichtslosen Aufmerksamkeit für etwas, das durch die Art seiner Wahrnehmung aus allen praktischen und intellektuellen Kontexten herausgenommen wird“.57 Der Prozess des Sterbens wird durch die Retardierung als eigenständige Phase, d. h. unabhängig von Leben oder Tod in den Fokus gerückt.58 Dies lässt sich mit der phänomenologischen Kategorie der Plötzlichkeit näher beschreiben: Die Wahrnehmung der Verletzung äußert sich demnach – entsprechend der desintegrativen Wirkung der Grenzzone, in der sich Catus befindet – in einem außerzeitlichen Moment der Lähmung. Der ‚widernatürliche‘ Stillstand des Blutes (stetit) lässt sich als „Unterbrechung des Zeitbewusstseins“59 oder als Gewaltzeit deuten, die einem eigenen phänomenologischen Modus zuzuordnen ist.60 Die Aufhebung der bekannten Ordnung und die damit verbundene Ungewissheit, mit der diese ästhetische Grenzerfahrung einhergeht, äußert sich zudem konkret im Begriff incertus (589).61 Der Wechsel der Erzähltempos hat schließlich einen enormen Einfluss auf die Dynamik des Geschehens. Weist der Austritt des Blutes aus

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Vgl. Metger (1957: 29): „Als das Tödliche sieht auch Lucan den Kampf – wie Homer, nur macht er den Tod der Helden nicht zum Ziel der Darstellung, sondern zur Voraussetzung, um die besondere Art dieses Todes ausführlich und sehr pointiert zu gestalten und damit – ähnlich wie Vergil – Wirkung auf den Leser zu erreichen.“ Seel 1996: 266. Vgl. Hömke (2010: 101): „Lucan seems to have decided for an aesthetic of terror. He expands the moment between life and death to an interval of its own, gives dying its own state and subdivides it into different phases, which he in turn individually makes into an issue.“ Bohrer 1994: 156. Sofsky (1997: 106): „Der Augenblick ist kategorial nicht zu verwechseln mit dem Jetzt, jenem Grenzpunkt, der Vergangenheit und Zukunft verknüpft und dessen stetiges Voranschreiten die Kontinuität der Zeit sichert. Im Jetzt endet das, was war, und es beginnt, was kommen wird. Das Plötzliche dagegen fügt sich dem Fortschritt der Zeit nicht ein, es zerstört ihn vielmehr. Das Jetzt ist in der Zeit, der Augenblick des Plötzlichen ist außerhalb der Zeit. […] Was blitzartig hereinbricht, hat keine Identität, es ist nichts Wohlbestimmtes, was sich von Anderem unterscheiden ließe. Es tilgt jegliche Differenz und Distanz“; s. Anm. 152 auf S. 39. Hunink (1992: 226) sieht zwar auch auf die Verzögerung des Blutaustritts als Erweiterung des traditionellen Motivs (beispielsweise in Hom. Il. 4.140), und setzt dies in Zusammenhang mit der Idee des „doubting“, allerdings kommt er nicht auf die Ästhetik des Prozesses zu sprechen.

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dem Körper aufgrund der dichotomisch geprägten Struktur des Textes und der ‚trichterförmigen‘ Leserlenkung mittels Zoom In eine außergewöhnliche Dynamik auf, so wirkt der Ausbruch durch die kurze Retardierung umso gewaltiger und eruptiver.62 (2) Insbesondere an der zweifachen Perspektivierung der Wunden lässt sich der für die klassifikatorische Grenze bezeichnende Prozess des Unmaking nachweisen. Die Wunden selbst können insofern als Sinnbild für die Überschreitung der Körpergrenze gedeutet werden, als sie das Innere vom Äußeren trennen, gleichzeitig jedoch diese beiden Entitäten miteinander verbinden. Dies zeigt sich an der Erzähltechnik der Perspektivenverkehrung: Zu diesen Methoden gehört offenbar auch das Spiel mit der wechselnden ‚Bewegungsrichtung‘: der Blickpunkt, von dem aus ein Geschehen gewöhnlich beobachtet wird, wird plötzlich mit dem entgegengesetzten vertauscht, oder das Geschehen wird von vornherein entgegen der Illusion des Lesers in der Umkehrung betrachtet.63 In V. 589 ist der Ablativ quo vulnere separativ aufzufassen. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird also auf das ‚Heraus‘ der Bewegung gelenkt. Entgegen der Lesererwartung weist V. 591 (divisitque animam sparsitque in vulnera letum) mit Blick auf die Adverbiale in vulnera jedoch einen Perspektivenwechsel auf. Mit dem Blut fließt nicht etwa der Tod aus den Wunden heraus, sondern es gießt ihn in die Wunden hinein, wiedergegeben mit einem Akkusativ der Richtung: vulnera wird nun nicht mehr als Ausgangspunkt, sondern vielmehr als Ziel des Prozesses dargestellt. Der Blick wird in die entgegengesetzte Richtung gewendet. Durch die perspektivische Verkehrung der topologischen Verhältnisse innen und außen erweist sich eine klare dichotomische Zuordnung als unmöglich. Vielmehr weisen die Wunden eine Doppelperspektive auf, die sowohl innen als auch außen umfasst. Gemäß ihrer Funktion als Körper- bzw. verkörperlichter Grenze ist vulnera also von hoher Ambivalenz geprägt. Dies fällt umso stärker ins Gewicht, als die gesamte Catus-Szene streng dichotomisch geprägt ist. Folglich entzieht sich die Schilderung der Wunden durch die Komplexität der narrativen Gestaltung jeglicher Anschaulichkeit. Hunink ist zwar der Meinung, dass die ungewöhnliche Kombination spargere letum sehr

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Opelts (1957: 445) allgemeine Beobachtungen zur Seeschlacht treffen an dieser Stelle in vollem Maße zu: „[…] so erfolgen nur Eruptionen der gestauten, tödlich getroffenen Lebenskräfte.“ Hübner 1975: 201.

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gut gewählt sei, da spargere die Blutstropfen suggeriert, doch gerade im Hinblick auf in vulnera ist der Prozess des Blutaustritts für den Rezipienten schwer realisierbar.64 Die ‚Degradation‘ und ‚Inversion‘ der räumlichen Verhältnisse, d. h. der Verkehrung von innen und außen, hinten und vorn etc. stellen Charakteristika der Groteske dar, die Bachtin in seiner Untersuchung zu Rabelais definiert hat: The grotesque body is not separated from the rest of the world. It is not a closed, completed unit; it is unfinished, outgrows itself, transgresses its own limits. The stress is laid on those parts of the body that are open to the outside world, that is, the parts through which the world enters the body or emerges from it, or through which the body itself goes out to meet the world […] The grotesque image displays not only the outward but also the inner features of the body: blood, bowels, heart and other organs. The outward and inward features are often merged into one.65 Im Vollzug der gewaltsamen Durchdringung von Catus’ Körper ist die Darstellung der „Haut als Grenze zwischen Körper und Welt“ essentiell.66 Der Aspekt der Grenze im Lotman’schen und des Grotesken im Bachtin’schen Sinne weisen insbesondere in dieser wie auch in den nachfolgenden Sterbeszenen der Seeschlacht ein enges Entsprechungsverhältnis auf.67 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Rückgriff auf Lotmans Begriff der Grenze eine differenziertere Analyse der Partie möglich ist. Im Vollzug der

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Hunink 1992: 226; die Beobachtung steht zudem in scharfem Kontrast zu Ludwig (2014: 52–53), die im Kontext der Pharsalos-Schlacht bemerkt: „Stattdessen schildert er einen Teil der Schlacht, allerdings nicht in so anschaulicher Weise wie etwa bei der Schlacht von Massilia“; dass das Motiv der Wunde bei Lucan prinzipiell ein schwer greifbares Phänomen ist, das sich unter anderem mit Ovids komplexen Sprachkonstruktionen vergleichen lässt, zeigt auch Wick (2010: 109) an der Schlangenepisode in Buch 9: „Bei der Darstellung von Leiden und Sterben verfällt Lukan bekanntermaßen in das Extrem des Hyperrealismus und schockiert mit kruder Detailversessenheit. Über mangelnde Anschaulichkeit wird sich kein Leser der zahlreichen einschlägigen Stellen beschweren! Doch auch hier lässt sich beobachten, wie klein der Schritt über die Grenze des Vorstellbaren hinaus sein kann.“ Bachtin 1968: 26 u. 318. Auf die Rolle des Grotesken in Lucans Bellum Civile weist bereits Bartsch (1997: 36–40) hin. Kremer 2000: 215. Bartsch sieht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Groteske und dem „mixing of boundaries“ (1997: 36). Allerdings lassen sich ihre Beobachtungen durch Lotmans Begriff der Grenze bzw. Semiosphäre methodisch unterfüttern und damit insgesamt erweitern. Hierauf wird bei der Analyse folgenden Sterbeszenen noch ausführlicher eingegangen.

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Grenzüberschreitung lässt sich eine Auflösung zeitlicher und topologischer Strukturen nachweisen, die als Symptome einer ästhetischen und grotesken Darstellungsweise der Gewalt gedeutet werden können. Wie eingangs geschildert, ist der Catus-Szene unter anderem aufgrund ihres grotesken Charakters häufig eine absurde, ja sogar eine unfreiwillig komische Wirkung zugesprochen worden. Dies führt schließlich zum letzten Aspekt der Untersuchung: Illusionsdurchbrechung. 4.4.1.5 Illusionsdurchbrechung „The episode of the siege of Massalia is one mass of absurd hyperbole: it is meant to be very impressive and grand, but its effect is grotesque and unreal.“68 Heitlands Bemerkungen zur grotesken und unrealistischen Wirkung auf den Leser hatten auf die nachfolgenden Untersuchungen zur Seeschlacht und den jeweiligen Einzelszenen einen beträchtlichen Einfluss. Wirft man einen Blick auf die jüngeren Beiträge zu Catus’ Sterbeszene, zeigt sich insgesamt ein nahezu einstimmiges Urteil: Die Partie wird häufig als paradigmatisch für die Absurdität der Gewalt im Bürgerkrieg angesehen. Hunink bezeichnet die Szene als „almost absurd“.69 Bartsch stellt sie auf eine Ebene mit der des massilischen Zwillings (603–633), die sie „Monty-Pythonesque“ nennt.70 Zimmermann weist ebenso auf die „ins Absurde gehende Detailversessenheit“ hin, und Alexis bewertet den Tod des Römers sogar als „ridiculous“.71 Wurde der Aspekt der grotesken Gewaltdarstellung zwar auch weiter aufgefächert,72 trifft dies jedoch auf den unrealistischen Charakter des Textes nur in geringem Maße zu. Obwohl es sich um eine Communis Opinio handelt, dass ‚Realitätsferne‘ ein wesentliches Merkmal Lucanischer Gewalt darstellt, besteht weiterhin Bedarf der konkreten Analyse dieses allgemein anerkannten Phänomens. Dieser Aspekt soll im Folgenden für die Catus-Szene näher beleuchtet werden. In der vorliegenden Erzählung lassen sich illusionsstörende Elemente nachweisen, die beim Leser eine „Aktualisierung ästhetischer Distanz“ bewirken.73 Die Distanz zwischen Erzählung und eigener lebensweltlicher Erfahrung wird erhöht und die Wahrnehmung des Textes als vermeintliche Wirklichkeit unterbunden.74 Im Folgenden werden illusionsstörende Momente und Prinzipien 68 69 70 71 72 73 74

Heitland 1971: 77. Hunink 1992: 226. Bartsch 1997: 37. Zimmermann 2009a: 183; Alexis 2011: 136. Als erstes und auch am ausführlichsten bei Bartsch 1997. Bauer/Sander 2004: 200. Zu ästhetischer Illusionsbildung und -durchbrechung s. Wolf 1993: 133–188; vgl. Anm. 265 auf S. 70.

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in dreierlei Hinsicht aufgezeigt: (1) Abweichung vom historischen Verlauf der Schlacht, sowie (2) im Motiv der Doppelverwundung in der fabula als auch (3) in der narrativen Repräsentation der story. (1) In der Catus-Partie ist der Eindruck des ‚Unwahrscheinlichen‘ bereits dadurch in die narrative Komposition der Seeschlachterzählung eingeschrieben, dass zwei historisch separate Schlachten narrativ zu einer zusammengefasst sind (s. Abschnitt 4.3 zum Forschungsstand). Dies hat für den gut informierten Leser eine Verringerung der historischen Glaubwürdigkeit zur Folge, sodass die individuellen Gewaltszenen vor diesem illusionsstörenden Hintergrund gelesen werden. (2) Auf Ebene der fabula verstößt das Motiv der gleichzeitigen Durchbohrung durch zwei verschiedene Waffen dem illusionsbildenden Prinzip der Sinnzentriertheit, ebenso wie auch der Beschreibung, dass das Blut aufgrund des Zusammenpralls beider Lanzenspitzen im Körper einen Blutstillstand zur Folge hat, woraufhin schließlich ein gewaltiger Blutstrahl die Geschosse aus den Wunden wieder heraustreibt. Die Erwartungshaltung des Rezipienten wird gebrochen und damit eine befremdliche Wirkung erzeugt. (3) In der story lassen sich illusionsdurchbrechende Elemente anhand des Verstoßes gegen drei illusionsbildende Prinzipien beobachten. (a) Zum einen die Abweichung von illusionsbildender Perspektivität. Durch interne Fokalisierung des stehenden Blutes, das incertus (589) sei, aus welcher der beiden Wunde es fließen solle, schreibt der Erzähler diesem andeutungsweise ein zur Entscheidung befähigtes Bewusstsein zu, wodurch dem Leser die Künstlichkeit der Erzählung klar vor Augen geführt wird. (b) Zweitens konstituiert die dichotomische Struktur der Erzählung einen Bruch mit dem Prinzip der Weltanschaulichkeit. Der Konstruktcharakter des Textes wird anhand von tension, geringer Anschaulichkeit und Detailmangel ins Bewusstsein gehoben. Zudem korrespondiert die räumliche Binarität mit dem Gebrauch des Zoom In bzw. Zoom Out, das die ‚konzentrische‘ Gewalteinwirkung der Fernwaffen inszeniert. (c) Widersprüche zum Prinzip der Sinnzentriertheit lassen sich nicht nur in der fabula (Unwahrscheinlichkeit der zeitgleichen Doppelwunde), sondern auch hinsichtlich der story herausarbeiten, wie etwa die Dynamisierung zeitlicher und räumlicher Strukturen. Wie bereits erläutert, geht der ästhetische Prozess des Sterbens mit einem Bruch des Zeitbewusstseins einher, der in der vorliegenden Partie als Gewaltzeit aufgefasst werden kann. Zudem weist die Doppelwunde wesentliche Merkmale einer ambivalenten Körpergrenze auf, sodass zwischen den topologischen Bezugspunkten innen und außen bzw. hinein und hinaus keine klar definierte Trennlinie realisiert werden kann (Abschnitt 4.4.1.4).

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Schließlich wird die Erwartungshaltung des Rezipienten anhand zwei weiterer Aspekte nicht erfüllt: erstens an der bemerkenswerten Übersteigerung epischer Gewaltmotive, wie z.B. bei Homer, Vergil oder Ovid (vgl. Abschnitt 4.4.1.3), die dem Leser stets vor Augen führt, dass Lucans Darstellungen in einem literaturgeschichtlichen Kontext zu lesen sind; zweitens an der Unzuverlässigkeit des Erzählers. Berichtet er noch kurz zuvor, dass insbesondere das Schwert den Kampf zur See prägt (navali plurima bello | ensis agit, 569–570), so bricht er gleich in der ersten individuellen Sterbeszene (sowie auch in der zweiten und dritten, s.u.) mit seiner eigenen Aussage. Durch diese Inkonsistenz weist er auf die fiktionale Beschaffenheit der erzählten Welt hin. 4.4.1.6 Zwischenfazit Die Untersuchung der Catus-Partie hat gezeigt, dass im Motiv der gleichzeitig empfangenen Doppelwunde in Rücken und Brust ein dynamisches Spannungsverhältnis zwischen binären Oppositionspaaren zum Ausdruck kommt. Dichotomische Strukturen ließen sich sowohl hinsichtlich des Erzählraums als auch im Kontext von Körper und Verwundung nachweisen. Als Erzählelemente sind beide Aspekte eng miteinander verwoben. Die hohe Bewegungsdynamik der geschleuderten Wurflanzen spiegelt sich in der narrativen Repräsentation anhand der Erzähltechnik des Zoom In bzw. Zoom Out wider. Der Blick des Lesers wird dadurch sukzessiv in das Zentrum des verwundeten Körpers gelenkt, um ihn zusammen mit dem herausschießenden Blutstrahl wieder nach außen zu führen. Mit der Überwindung der Körpergrenze werden dynamische Prozesse in Gang gesetzt, die die binär organisierte narrative Struktur ‚verunschärft‘. Diese desintegrierende Wirkung lässt sich einerseits in Bezug auf Catus’ Körper, andererseits auch auf die narrative Gestaltung von Zeit und Raum beobachten. Gewaltzeit und geringe Anschaulichkeit mittels topologischer Perspektivenverkehrung während der Sterbeszene – wird mit dem Blutaustritt aus dem Körper der Tod in die Wunden hineingegossen? – können als konstitutive Merkmale hierfür angesehen werden. Schließlich hat das dargestellte Wechselspiel statischer Gegensätze und dynamischer Prozesse im spannungsgeladenen ‚Dazwischen‘ zur Folge, dass der Rezipient den Konstruktcharakter bzw. die ‚Künstlichkeit‘ der Erzählung stets aktualisiert. Mit der Abweichung von illusionsbildenden Prinzipien wie Sinnzentriertheit, Weltanschaulichkeit und Perspektivität wird eine deutlich illusionsdurchbrechende Wirkung erzeugt. So lässt sich die desintegrierende Wirkung der Gewalt nicht nur angesichts der körperlichen Zerstörung auf Ebene der fabula beobachten, sondern auch in der story. In der Catus-Partie erweist sich tension somit als wesentliches Charakteristikum von Gewalt und Unmaking.

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4.4.2 Telo (Lucan. 3.592–599) In direktem Anschluss an die Catus-Partie folgt die zweite individuelle Sterbeszene. Der Grieche Telo steuert sein Schiff an denselben Ort, wo sich soeben Catus’ Tod ereignet hat. Der Steuermann verfügt über außergewöhnliche Fahrkünste und sieht stets aufkommende Winde voraus, nach denen er die Segel setzt. Kurz bevor er in der Schlacht ein römisches Schiff rammen kann, treffen ihn Wurfspieße in die Brust. Sterbend lenkt er sein eigenes Schiff zur Seite. Insbesondere Telos Sterbeszene ist von Gegensätzlichkeit und Kontrast geprägt. Zugleich weist der Text jedoch Anknüpfungspunkte und Parallelen zur Gewaltdarstellung in der vorigen Catus-Partie auf, wodurch der kontrastive Charakter zusätzlich in Szene gesetzt wird. 4.4.2.1 Gewaltkonstellation Der Übergang zu Telos Sterbeszene ist fließend. Entgegen der in der Darstellung der Seeschlacht vorherrschenden Tendenz, den Fokus des Lesers stets auf einen anderen Ort innerhalb der Schlacht zu lenken, bleibt dieser nun auf einen fixiert. Der griechische Steuermann lenkt sein Schiff in das ‚Blickfeld‘ des Erzählers hinein. Der namentlich genannte Soldat wird von mehreren, in der Erzählung nicht erwähnten agentes tödlich getroffen. derigit huc puppem miseri quoque dextra Telonis, qua nullam melius pelago turbante carinae audivere manum, nec lux est notior ulli 595 crastina, seu Phoebum videat seu cornua lunae, semper venturis componere carbasa ventis. hic Latiae rostro compagem ruperat alni, pila sed in medium venere trementia pectus avertitque ratem morientis dextra magistri.

X; CH2; GA2 CH2

GA2 [GA1; GT(z)] W; GE(p)/V(d) ST

Noch bevor Telo (GA2) mit Namen in die Erzählung eingeführt wird, charakterisiert ihn der Erzähler im einführenden Vers 592 (X) als miser (CH2). Dem Attribut ist quoque nachgesetzt. Dadurch ist zum einen miseri zusätzlich akzentuiert, zum anderen wird Telos Schicksal parallel zu dem seines getöteten Mitstreiters Catus dargestellt. So signalisiert der Erzähler dem Leser bereits zu Beginn, dass dem Griechen ein unglückliches Ende bevorsteht. Die Charakterisierung (CH2) wird in V. 593–596 fortgesetzt. Der Leser erfährt, dass der Protagonist ein besonders fähiger und umsichtiger Seefahrer ist, der selbst in schwierigen Situationen (pelago turbante, 593) die Kontrolle über sein Schiff behält. Es ist bemerkenswert, dass Telo erst in V. 598 eindeutig als GA2 zu identifizieren ist. Zuvor wird seine Absicht, in der Funktion des agens [GA1] eine

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zielgerichtete Gewalttat [GT(z)] gegen das feindliche Schiff der Römer auszuüben, deutlich zum Ausdruck gebracht. Dies gelingt ihm jedoch nicht,75 da er von aus der Ferne geschleuderten pila (W), römischen Wurfspießen, mitten in die Brust getroffen wird (598).76 Die Verwundung erleidet Telo ohne sie vorherzusehen und ist somit passiv (GE[p]). Zudem ist sie von einer allgemeinen Verwundung zu unterscheiden, da pectus konkret als Gewalt empfangender Körperteil in der Erzählung erwähnt wird (V[d]). Schließlich markieren morientis und das Weglenken des Schiffes (599) die Sterbeszene im engeren Sinne (ST). Der Eintritt des Todes ist nicht explizit genannt. 4.4.2.2 Erzählraum In der Sterbeszene ist keine deskriptive Darstellung des Erzählraums vorhanden. Allerdings weist die Adverbiale huc (592) darauf hin, dass sich Telo an eben den Ort begibt, wo Catus einen Moment zuvor aus der Ferne von zwei Geschossen getötet wurde. Der Aktionsraum kann also als verbindendes narratives Element zwischen der ersten und zweiten individuellen Sterbeszene der Seeschlacht angesehen werden.77 Dennoch lässt sich ein klarer Unterschied in Bezug auf die Mobilität beider Figuren herausarbeiten. Während Catus von feindlichen Schiffen eingekreist, in seinen Wegestrukturen deutlich eingeschränkt und somit immobil ist, durchquert Telo den Raum eigenbestimmt, bis er in das ‚Blickfeld‘ des Erzählers gelangt (derigit huc puppem, 592). Bedeutsam für die Telo-Partie ist weniger das setting, in dem die Verwundung Telos geschildert wird, sondern der in V. 593–596 dargestellte frame.78

75

76

77 78

Die Verbform ruperat (597) bringt an dieser Stelle ein irreales Verhältnis zum Ausdruck, vgl. Hunink (1992: 228, ad 597): „The indicative ruperat is used with irrealis force“. Alexis (2011: 135, Anm. 66) allerdings wählt die Übersetzung des Indikativs: „This warrior, from the adjective miseri, seems to be on the ‘Greek’ side; he steers his ship huc ‘to here’ against the ship of Catus, BC 3.592, and had damaged Roman ships before, BC 3.597.“ Dagegen spricht jedoch der Gebrauch von sed (598), da ein konzessives Verhältnis in diesem Fall unpassend wäre. Denn das bisherige Rammen der Schiffe stünde keineswegs im Widerspruch mit der Verwundung Telos. Zum Begriff pila und seiner Verwendung bei Lucan vgl. Hunink (1992: 228, ad loc.): „Pilum is the common word for a Roman spear. It is very rare in poetry, where hasta, iaculum and other words are preferred: Vergil and Horace each use pilum only once; Ovid four times. However, Lucan has no less than 20 cases. […] By employing such words, the poet reduces the ‘remoteness’ of the traditional epic war […]“. Darüber hinaus trifft dies auch auf die dritte individuelle Sterbeszene zu (s. weiter unten Abschnitt 4.4.3 zu Gyareus). Im Gegensatz zum setting, in dem sich die Handlung oder das Geschehen abspielt, beschreibt der frame einen entfernten, imaginierten oder außerhalb der Erzählung berich-

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Die einzelnen Elemente des frame, – unruhige See (pelago turbante, 593), Wetter (lux crastina, 594–595), Sonne (Phoebum, 595), Mond (cornua lunae, 595) und Winde (venturis ventis, 596) – tragen weder zu höherer Anschaulichkeit bei noch erzeugen sie eine atmosphärische Stimmung. Vielmehr sind sie auf ihre Funktionalität für Telo als Seefahrer reduziert. Die Naturphänomene dienen ihm als Parameter für eine erfolgreiche Fahrt, sodass sich anhand dieses ‚Wissensraums‘ die außergewöhnlichen Fähigkeiten und Fahrkünste des Protagonisten ablesen lassen, der sich in einer gefährlichen und stark wechselhaften Umgebung zurechtfindet. Dies zeigt sich auch an Telos eigenbestimmter Mobilität in der Schlacht (s.o.). Es bleibt festzuhalten, dass die Charakterisierung Telos über die Darstellung des frame erfolgt. 4.4.2.3 Körper und Verwundung Spannungsverhältnisse und kontrastierende Wirkung lassen sich trotz der vordergründig schlichten Darstellung physischer Gewalt insbesondere (1) anhand der Durchbohrung der Brust und (2) im Hinblick auf die Semantisierung der rechten Hand beobachten. (1) Bezüglich der geschilderten Verwundung fällt der Gegensatz zur extremen Gewalt in der Catus-Szene deutlich ins Auge: Weder erhält der Leser ausführliche Informationen über den Eintritt der Waffen in den Körper noch finden sich detailreiche Beschreibungen von Wunden oder spritzendem Blut. Auch im Vergleich zu Telos Charakterisierung (CH2) weist die Darstellung physischer Gewalt einen geringen Textumfang auf. Pectus (598) ist der einzige von Gewalt betroffene Körperteil in der Erzählung. Lediglich die Angabe, dass die Waffen in die Brustmitte eindringen (in medium, 598), sowie die hohe Bewegungsdynamik der geschleuderten pila, die durch das Attribut trementia (598) zum Ausdruck gebracht wird, deuten Parallelen zu Catus’ Sterbeszene an.79 Über die Anzahl der Wurfspieße, die Telos Brust treffen, wird keine Angabe gemacht. Mit venere (598) wird das tödliche Eindringen der Fernwaffen in die Brust ausgedrückt. Gleich in doppelter Hinsicht resultiert aus dessen Gebrauch eine kontrastierende Wirkung:

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teten Raum. Dieser kann in korrelativem oder kontrastivem Zusammenhang mit dem setting stehen; vgl. de Jong 2014: 107–108. Vgl. Hor. epod. 10.8: insurgat Aquilo, quantus altis montibus | frangit trementis ilices; Verg. georg. 1.329–330: quo maxima motu | terra tremit; Huninks (1992: 228) Bemerkung, die Junktur trementia pila sei seltsam („When said of a spear the detail seems strange, […]“) ist somit nicht nachvollziehbar. Auch dass das Zittern abgetrennter Glieder relevant für die Textstelle sein könnte (Hunink 1992: 229), kann nicht überzeugend nachgewiesen werden.

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(a) Der vom Erzähler gewählte Ausdruck venere ist vor allem mit Blick auf die anderen individuellen Gewaltszenen, in denen Soldaten durchbohrt werden, als Ersatz eines Verbum proprium anzusehen.80 Doch speziell vor dem Hintergrund der Catus-Szene, wo die Verwundung so ‚extravagant‘ und aufwändig in Szene gesetzt ist, aktiviert der Gebrauch des wenig anschaulichen und eher ‚gehaltlos‘ wirkenden ‚Allerweltswortes‘ venire umso stärker die Imaginationsfähigkeit des Rezipienten. Der Unbestimmtheit der Verwundung ist das Potential inhärent, im Zuge der Realisierung mit Details angereichert und ‚veranschaulicht‘ zu werden. Die Schlichtheit der Erzählung führt damit paradoxerweise zu einer Intensivierung der ästhetischen Auseinandersetzung des Lesers mit der narrativ vermittelten Gewalt. (b) Zudem markiert venere als Polyptoton zu venturis (596) einen Kontrast zu den in naher Zukunft aufkommenden Winden. Diese kann Telo als talentierter Seefahrer souverän voraussehen, wohingegen er nicht in der Lage ist, die ‚ankommenden‘ Wurfspieße der Römer vorauszuahnen (s. Abschnitt 4.4.2.4). (2) Die Darstellung der rechten Hand (dextra, 592, 599; manum 594) ist für Telos Sterbeprozess von zentraler Bedeutung. Zusätzlich unterstrichen ist dies zum einen in stilistischer Hinsicht, nämlich durch die zweifache Wortwiederholung des Ausdrucks dextra zu Beginn und am Ende der Szene. Zum anderen ist dessen Bedeutsamkeit auch auf syntaktischer Ebene betont, da dextra jeweils die Funktion des Subjekts übernimmt, während Telonis (592) und magistri (599) als Genitivattribute die rechte Hand näher beschreiben. An der Darstellung der Hand zeigt sich eine zunehmende Indifferenz zwischen Subjektivität und Körper. Auf dieses Phänomen verweist Bartsch im Kontext der individuellen Sterbesequenz gegen Ende der Seeschlachtdarstellung (bes. V. 730–732): […] the link between self and body is put into turmoil; the two merge into each other; we are not allowed to distinguish between an Argus and an assemblage of living limbs, a Massilian and a torso.81 Diese Beobachtung trifft auch auf die vorliegende Partie zu. Der Begriff dextra wird insbesondere im Kontext der Seefahrt als ausführender Körperteil gebraucht.82 Somit kann dextra aufgrund seiner syntaktischen Funktion als 80

81 82

Prozess und Zustand der Durchbohrung werden in den anderen vier individuellen Gewaltszenen durch vergleichsweise anschauliche und konkrete Ausdrücke vermittelt: transigitur (588), affixus (602), confixus (620), affixit (636). Bartsch 1997: 28. Vgl. ThLL s.v. ‚dexter, -(e)ra, -(e)rum‘, 5.1.925.52–53.

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Subjekt als ‚Verkörperung‘ von Telos Fahrkünsten betrachtet und mit diesen gleichgesetzt werden.83 Auch manum (594) ist nicht nur als bloßer Körperteil, sondern zugleich als ‚verkörperlichte‘ Kompetenz des Steuermannes zu interpretieren.84 Die Semantisierung der rechten Hand hat zur Folge, dass der Sterbeprozess in V. 599 (ST) nicht nur durch das Partizip morientis, sondern insbesondere durch das Versagen der außergewöhnlichen Segelfähigkeiten zum Ausdruck kommt: Die Hand selbst vermag es nicht den Kurs zu halten und lenkt – wohlgemerkt aktiv (avertit) – das Schiff zur Seite weg. Die zu Beginn der Szene festgestellte eigenbestimmte Mobilität (s.o.) wird durch – verletzungsbedingt – fremdbestimmte Mobilität konterkariert. Dies wird auch auf formaler Ebene in das Bewusstsein des Lesers gehoben. Die parallele Satzstruktur des Anfangs- und Schlussverses (592, 599) lassen eine Ringkomposition erkennen:

Prädikat

Akk.objekt Gen.attribut

derigit huc puppem […] avertitque ratem

Subjekt Gen.attribut

miseri quoque dextra

Telonis,

morientis

magistri.

dextra

Das besondere Spannungsverhältnis zwischen beiden Versen konstituiert sich dabei im dynamischen Übergang des semantischen Oppositionspaares Leben – Tod, dessen kontrastive Wirkung auf den Rezipienten durch den Parallelismus der Verse 592 und 599 zusätzlich akzentuiert wird. 4.4.2.4 Zeit Der kontrastive Charakter der Telo-Partie lässt sich schließlich mit Blick auf das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit aufzeigen. Insgesamt vier Aspekte sind hierbei von Bedeutung. (1) Zunächst soll auf das Attribut miseri (592) und dessen Funktion als spannungsgenerierender Vorhalt eingegangen werden. Hinsichtlich der Erzähldauer springt der abrupte Wechsel zwischen (2) retardierender Charakterisierung des Steuermannes und (3) geraffter Darstellung der tödlichen Verwundung ins Auge. (4) Zuletzt wird auf den Tempusgebrauch des Indikativ Plusquamperfektes ruperat (597) hingewiesen, der erst ‚im Nachhinein‘ mit fortschreitender Lektüre ein irreales Verhältnis zum Aus-

83 84

Nach Seneca: quod facit, corpus est (Sen. epist. 106.4). Zu audire in Verbindung mit leblosen Dingen vgl. Hunink 1992: 228, ad 594.

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druck bringt, womit die Erfahrung von Unübersichtlichkeit und Plötzlichkeit von fabula- auf story-Ebene übertragen wird. (1) Wie Hunink richtig bemerkt, ist die Bezeichnung miseri gleich zu Beginn als Vorhalt auf Telos tödliches Schicksal anzusehen: „Telo is given a pathetic qualification even before we learn about his fate. His action cannot result in anything but death.“85 Der Tod stellt in der vorliegenden Partie also eher die Voraussetzung als den Endpunkt der Gewaltdarstellung dar.86 Die angedeutete ‚Vorwegnahme‘ der Ereignisse als ein Spannung reduzierendes Element zu deuten, wird jedoch weder der Wirkung von miseri noch der Komplexität von Spannung gerecht.87 Denn vielmehr dient miseri als narrativer ‚Keim‘ der Erzeugung von suspense. Es wird implizit die Frage aufgeworfen, wie Telos ‚unglückliches‘ Ende wohl aussehe (anstelle der Frage, ob Telo überhaupt zu Tode komme). Der Reiz für den Leser besteht darin, die ‚Vorgeschichte‘ eines mehr oder weniger bekannten Erzählausgangs zu erfahren, zumal die Szene direkt an die spektakuläre, stark stilisierte Gewaltdarstellung der Catus-Szene anschließt. (2) Vor diesem Hintergrund ist die Charakterisierung (CH2) in V. 593–596 zu deuten. Denn diese erzeugt eine Pause auf Ebene der fabula. Die erzählte Zeit bleibt stehen, während Telos Fahrkünste genauer beschrieben werden. So wird eine Retardation der Erzählung bewirkt und die Auflösung des suspense hinauszögert. Wie im Kontext des Erzählraums erläutert (s. Abschnitt 4.4.2.2), erfolgt die Charakterisierung (CH2) insbesondere anhand des frame (593–596). Daneben wird Telo indirekt als Bester seines Metiers stilisiert, indem der Erzähler den Superlativ mit jeweils einer Negation in Verbindung mit einem komparativischen Adverb bzw. Adjektiv umschreibt. Die Schiffe gehorchen keiner Hand mehr als seiner (nullam melius, 593) und niemandem ist das Wetter bekannter (nec notior, 594). Zudem erfüllt Telos Fähigkeit des Sehens (videat, 595) eine wesentliche Funktion bei der Orientierung auf dem Meer. Vor diesem Hintergrund tritt der Kontrast umso deutlicher vor Augen, als dem Seefahrer in der Schlacht nun all diese Fähigkeiten abhanden zu kommen scheinen.88 Wäh-

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87 88

Hunink 1992: 227. Vgl. Metger (1957: 29): „Als das Tödliche sieht auch Lucan den Kampf – wie Homer, nur macht der den Tod der Helden nicht zum Ziel der Darstellung, sondern zur Voraussetzung, um die besondere Art dieses Todes ausführlich und sehr pointiert zu gestalten und damit – ähnlich wie Vergil – Wirkung auf den Leser zu erreichen.“ Hunink (1992: 227, ad loc.): „For similar anticipations reducing suspense but increasing pathos cf. […].“ Metger (1957: 48) stellt einen Kontrast zwischen Charakterisierung und der Gewalt des Krieges fest. Auf die Figurenhandlung geht er dagegen nicht ein: „Es ist jedoch unverkennbar, dass diese Einlagen [gemeint sind die Charakterisierung Telos und des phocischen Tauchers] nicht dazu dienen, die Helden als Individuen zu zeichnen, sondern vielmehr

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rend er auf das feindliche Schiff zusteuert, verfügt er nicht mehr über seine gewohnte Voraussicht und wird daher von den ankommenden Wurfspießen der Römer tödlich verwundet. Zusätzlich wird das Spannungsverhältnis zwischen ‚Fähigkeit‘ und ‚Unfähigkeit‘ durch das Polyptoton venturis (596) und venere (598) hervorgehoben. (3) In direkter Anknüpfung an die retardierend wirkende Charakterisierung erfolgt ein markanter Wechsel des Erzähltempos mittels Zeitraffung. Sobald die vier Verse umfassende Charakterisierung beendet ist, setzt der Erzähler ohne Überleitung mitten im Geschehen innerhalb der Seeschlacht ein und informiert den Leser über den von Telo bereits eingeleiteten Angriff auf das feindliche Schiff (597). Bei der Schilderung der Verwundung (V[d]/GE[p]), die lediglich einen Vers umfasst (598), liegt Isochronie vor, d. h. Erzählzeit und erzählte Zeit sind annähernd deckungsgleich. Der kontrastive Effekt der sehr kurzen Gewaltdarstellung wird durch die Nichterwähnung von agentes verstärkt. Das Ereignis wirkt umso rapider und plötzlicher. (4) Schließlich geht der Eindruck von Plötzlichkeit mit kurzzeitiger Unübersichtlichkeit einher bzw. mit erschwerter Realisierung des Textes durch den Rezipienten. In V. 597 wird der vorübergehende Anschein erweckt, Telo werde seinen zuvor beschriebenen Fähigkeiten vielleicht doch gerecht – trotz des Vorhaltes miseri (592). Denn der Gebrauch des Indikativ Plusquamperfekt ruperat (597) impliziert zunächst einen erfolgreichen Angriff auf ein römisches Schiff, sodass Telo dem Leser als vermeintlicher agens und nicht als patiens vor Augen geführt wird. Erst im darauffolgenden Vers kommt durch die Konjunktion sed das irreale Verhältnis zum Ausdruck (s. Anm. 75 auf S. 181), woraus sich das Scheitern der Rammattacke schließen lässt. Dem Leser wird so ein alternativer Handlungsverlauf aufgezeigt.89 Die Absichts- bzw. Wunschwelt der Figur Telo tritt mit der textual actual world in Konflikt. So wie Telo unvorhergesehen von den römischen Wurfspießen überrascht wird, sieht sich auch der Leser in seiner Realisierung des vermeintlich erfolgreichen Ramm-Manövers getäuscht.

89

einen Kontrast zu schaffen, an dem sich die Größe der Vernichtungsgewalt dieses Krieges steigert.“ Zur Possible Worlds Theory allgemein s. insbesondere Ryan 1991; Ronen 1994; Gutenberg 2000; Surkamp 2002; Prince (1988: 28–39) hingegen prägte den Terminus „the disnarrated“; zur Übertragung der Possible Worlds Theory auf antike Texte s. etwa Kirstein (2015b), der Ov. Trist. 4.2 auf verschiedene literarische Welten und Fiktivisierungsgrade hin untersucht.

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4.4.2.5 Zwischenfazit Die Analyse hat ergeben, dass die zweite individuelle Sterbeszene weniger von der Figur des Übergangs geprägt ist als viel eher von trennscharfen Gegensätzen. Damit weist die Telo-Szene einen erheblichen Unterschied zu den übrigen Gewaltdarstellungen der Seeschlacht auf. Kontrastive Strukturen lassen sich zum einen im Hinblick auf die vorhergehende Catus-Szene beobachten, zum anderen innerhalb der Telo-Partie selbst. Neben der prägnanten Charakterisierung Telos anhand des Erzählraums (die erste von lediglich zweien innerhalb der gesamten Seeschlacht) und der Betonung seiner Mobilität gegenüber Catus’ Immobilität wird dem Leser insbesondere die schlichte Schilderung der Verwundung als Kontrast vor Augen geführt. Während Catus’ Verwundungsprozess vom Erzähler deutlich in den Vordergrund gerückt wird, umfasst die Beschreibung von Telos Gewalterleiden lediglich einen Vers (598). Diese steht damit auch innerhalb der Partie in Kontrast zum gesteigerten Textumfang der Charakterisierung (593–596). Zudem konnte die kontrastive Wirkung des Ausdrucks venere in zweierlei Hinsicht herausgearbeitet werden. Einerseits bezüglich der Intensivierung der ästhetischen Auseinandersetzung des Rezipienten mit der erzählten Gewalt, andererseits bringt venere als Polyptoton von venturis (596) das spannungsgeladene Verhältnis von Unfähigkeit und Fähigkeit zum Ausdruck. Dieses ist zugleich im Sterbeprozess abgebildet: Telos rechte Hand (dextra) ist, wie gezeigt wurde, als ‚Verkörperung‘ seiner Fahrkünste anzusehen, sodass letztendlich im Kontrollverlust über das eigene Schiff der Tod des Steuermannes widergespiegelt ist. Zudem resultiert die hohe Dynamik der Szene aus dem abrupten Wechsel des Erzähltempos. Auf die Retardierung mittels Pause der erzählten Zeit (593–596) folgt übergangslos eine enorme Beschleunigung sowohl durch Isochronie von erzählter Zeit und Erzählzeit (598–599) als auch durch den Gebrauch des Vorzeitigkeit anzeigenden Plusquamperfekts ruperat (597). Anhand des irrealen Verhältnisses, das dem Ausdruck ruperat inhärent ist, wird dem Rezipienten der Konflikt von Wunschwelt des patiens und textual actual world ins Bewusstsein gehoben. Der dadurch angedeutete alternative Handlungsverlauf markiert zusätzlich den kontrastiven Charakter der Partie. Schließlich ist festzuhalten, dass Kontrast und Gegensatz vor dem Hintergrund angedeuteter Parallelen zur Catus-Szene zusätzlich an Schärfe gewinnen: Nicht nur kann der Aktionsraum als verbindendes narratives Element zwischen der ersten und zweiten Sterbeszene gedeutet werden, sondern vor allem das Motiv der durchbohrten Brustmitte sowie die hohe Bewegungsdynamik der geschleuderten Waffen rufen dem Rezipienten die extravagante und illusionsstörende Gewaltdarstellung der Catus-Partie ins Gedächtnis, von der sich jedoch die Gewaltdarstellung der Telo-Szene deutlich unterscheidet. Auf

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stilistischer Ebene wird anhand des Parallelismus des ersten und letzten Verses ähnliche Wirkung erzielt. 4.4.3 Gyareus (Lucan. 3.599–602) Die Gyareus-Partie fügt sich nahtlos an die Telos an. Sie weist mit drei Versen (599–602) den geringsten Umfang der 13 Abschnitte der Seeschlacht auf. Nach Telos tödlicher Verwundung unternimmt sein Gefährte Gyareus den Versuch auf das Achterdeck zu klettern. Jedoch wird er von einem Geschoss in den Unterleib getroffen, das ihn durchbohrt und an das Schiff heftet. Von den drei ersten individuellen Sterbeszenen weist die kurze Passage das geringste Maß an Anschaulichkeit und sprachlich-narrativer Präzision auf, sodass illusionsstörende Wirkung erzeugt wird. Allerdings wird dem Rezipienten dabei nicht nur die Künstlichkeit der Erzählung vor Augen geführt. Aufgrund der in besonderer Weise erschwerten Realisierung der narrativ vermittelten Gewalt rückt die ästhetische Tätigkeit der Lektüre selbst in den Fokus. Dies soll in vier Schritten näher erläutert werden. 4.4.3.1 Gewaltkonstellation Der Protagonist wird von einem heranfliegenden Geschoss getroffen. Weder Schütze noch Ausführung der Tat werden vom Erzähler thematisiert oder beschrieben. Gyareus befindet sich nicht wie seine beiden ‚Vorgänger‘ in einem konkreten Kampf, sondern kommt seinem bereits verunglückten Gefährten zu Hilfe. 600

dum cupit in sociam Gyareus erepere puppem, excipit immissum suspensa per ilia ferrum affixusque rati telo retinente pependit.

X; GA2 V(d)/GE(p); W WW; W

Im ersten einführenden Vers (600) führt der Erzähler Gyareus mit Namen in die Szene ein (X).90 Auf seinem Weg zum Achterdeck wird der patiens (GA2) ohne eigenes Zutun in den Unterleib (ilia, 601) getroffen (V[d]/GE[p]). Der Leser wird zunächst über ein eisernes Geschoss ( ferrum, 601) als Waffe (W) informiert. Anschließend kommt der Erzähler auf die Waffenwirkung zu sprechen: Gyareus bleibt festgenagelt an dem Schiff hängen (WW), sodass er nicht ins Wasser fällt. Der Ausdruck telo (602), der die Waffe (W) weiter konkreti-

90

Hunink (1992: 229) und Gorman (2001: 273) etwa sehen in dem Namen einen Verweis auf die Kykladen-Insel Gyaros; vgl. Verg. Aen. 3.76; Cic. Att. 5.12.1.

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siert, lässt den Leser eher auf einen Wurfspeer als auf einen Pfeil schließen, da letzterer wohl nicht in der Lage wäre, das Gewicht des Mannes zu halten (vgl. Abschnitt 4.4.3.3). 4.4.3.2 Erzählraum Dem Text ist keine nähere Beschreibung des Erzählraums zu entnehmen. Der Leser muss das räumliche setting bei der Lektüre erst realisieren.91 Dies ist jedoch, wie sich zeigen wird, mit hohem Aufwand verbunden: es kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sich auch die dritte individuelle Sterbeszene am selben Ort innerhalb des erzählten Raums ereignet wie die vorigen Szenen.92 Die einzigen in der Erzählung genannten Raumbestandteile puppem (600) und rati (602) verweisen auf das dem Leser bereits bekannte setting, da puppem (592) und ratem (599) aus der Telo-Partie wieder aufgegriffen werden. Die Wortwiederholungen erzeugen beim Leser einen umso stärkeren Wiedererkennungseffekt, als die Ausdrücke in beiden Szenen jeweils sowohl im ersten als auch im letzten Vers gebraucht werden.93 Neben der Parallelisierung auf formaler Ebene verweist zudem das zu puppem gehörige Attribut sociam (600) auf denselben Erzählraum, da hiermit eine konkrete Verbindung zum Deck des verbündeten Telo hergestellt wird. Die beschriebene Realisation des narrativen Raums durch den Leser ist jedoch nur als eine Möglichkeit unter mehreren anzusehen. Denn problematisch für das Verständnis der Szene ist die geringe Anschaulichkeit des Erzählraums, die auf zwei Aspekte zurückzuführen ist: (1) sowohl auf die lexikalische Ambivalenz von puppem als auch (2) auf die semantische von sociam. (1) Zwar bezeichnet puppis im konkreten Sinne zunächst das Achterdeck, von dem aus das Schiff in der Regel gelenkt wird,94 jedoch auch in metonymischem Sinn das Schiff als Ganzes.95 Geht der Leser von der Bedeutung ‚Achterdeck‘ aus, ergibt sich daher ein anderer Standpunkt des Gyareus als wenn puppem als ‚Schiff‘ realisiert wird. Denn im ersten Fall wäre es möglich, dass sich Gyareus auf demselben Schiff wie Telo befindet und nun auf das vom restlichen Deck aus gesehen höhergelegene Achterdeck klettert, während er im zweiten Fall vom Leser ganz sicher auf einem anderen Schiff zu lokalisieren wäre.

91 92 93 94 95

Zwar weist Opelt (1957: 443) darauf hin, dass „der Standort [der Kämpfer] vielfach erst erschlossen werden [muss]“, jedoch führt sie diese Beobachtung nicht weiter aus. Vgl. Anm. 77 auf S. 181. Zudem ist auf die Akzentuierung durch die Ringkomposition hinzuweisen. ThLL s.v. ‚puppis‘, 10.2.2667.75–2668.8; s. auch 10.2.2669.5–6; OLD s. v. ‚puppis (1)‘, 1522. ThLL s.v. ‚puppis‘, 10.2.2670.47–52; OLD s.v. ‚puppis (2)‘, 1522.

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(2) Hinsichtlich des Attributs sociam bleibt unbestimmt, ob Gyareus nun auf das oder auf ein verbündetes Achterdeck bzw. Schiff klettert. Diese Unsicherheit ist für das Verständnis der Szene essenziell, da im ersten Fall sociam puppem mit dem von Telo identifizieren ist, wohingegen im zweiten irgendein Achterdeck bzw. Schiff gemeint sein könnte – zumal die einzelnen Sterbeszenen der Seeschlacht eh in loser Verbindung zueinander stehen. Zudem bleibt die Frage offen, durch welche Figur genau sociam fokalisiert ist. Da Nullfokalisierung durch den Erzähler vorliegt, kommt nicht nur Gyareus, sondern auch Telo als Fokalisierer in Frage, was zur Folge hätte, dass gerade nicht das Deck bzw. Schiff des Steuermannes gemeint wäre. Dass die beschriebene ‚semantische Offenheit‘ nicht nur ein theoretisches Konstrukt darstellt, sondern auch in der Forschung tatsächlich zu unterschiedlichen Interpretationen geführt hat, zeigen etwa die Beiträge von Opelt, Metger, Rowland und Hunink (s. u.). Opelt entfernt sich in ihrer Deutung am weitesten von den nachfolgenden Untersuchungen. Zum einen versteht sie puppem als metonymische Bezeichnung für ‚Schiff‘, zum anderen scheint sociam ihrer Ansicht nach durch Telo fokalisiert zu sein:96 Der nächste Tote ist Gyareus, wieder ein Grieche. Er will in das andere der beiden massaliotischen Schiffe umsteigen, die das römische Schiff, auf dem Catus fiel, umzingelt haben. Dabei wird er an den Weichteilen von einem Wurfgeschoss durchbohrt und an dem Schiff festgenagelt (600/2).97 Metger übersetzt puppem ebenfalls mit ‚Schiff‘. Im Unterschied zu Opelt sieht er in der Gyareus-Szene jedoch keine Verknüpfung zu Telo, sondern interpretiert die Episode losgelöst von den vorhergehenden Ereignissen, sodass seiner Meinung nach Gyareus auf irgendein anderes Schiff kriecht: Wir vergleichen Ovid Met.XII 327ff. und Lucan III 600 ff. […] Dazu die lucanische Stelle: Ein Massilier versucht, auf ein verbündetes Schiff hinüberzukriechen. Er wird von einem feindlichen Speer getroffen […].98

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97 98

Dazu muss bemerkt werden, dass sie als Ziel von Telos Rammattacke das Schiff des Römers Catus ansieht. Telos Schiff ist, so Opelts Darstellung, eines derjenigen, die an der in V. 586 beschriebenen Umzingelung teilnehmen; vgl. Opelt 1957: 439. Opelt 1957: 440. Metger 1957: 43.

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Rowland fällt keine Entscheidung bezüglich einer Übersetzung von puppis. Seiner Darstellung zufolge wird sociam allerdings durch Gyareus fokalisiert, der nicht auf irgendein Schiff, sondern auf das seines Gefährten Telo klettert: […] Telo perished from a volley of javelins (3, 592–599). Another Greek, Gyareus, coming to the aid of his ally (socia puppis), was immediately laid low. The Roman ship vanishes from the tale without a trace, […].99 Hunink zieht schließlich die Bedeutung ‚Achterdeck‘ gegenüber der metonymischen Lesart für puppem vor, und sieht, wie auch Rowland, sociam fokalisiert durch Gyareus, sodass dieser Telo zu Hilfe kommt: Gyareus: another Massilian, coming to Telo’s help; […]. erepere: Gyareus apparently wants to replace Telo at the steering oar. For erepere in the sense ‘to clamber up’ with a direct object cf. Hor. S. 1,5,78–79; Stat. Silv.2,2,30.100 Infolge der offensichtlichen Unsicherheit des Lesers, wo und wie die Figur Gyareus im Erzählraum zu lokalisieren ist, erweist sich auch die Darstellung des Aktionsraums bzw. der Wegestruktur als diffizil. Dies lässt sich an den unterschiedlichen Interpretationsansätzen deutlich erkennen. Während Opelt und Metger von einer eher ‚horizontal‘ ausgerichteten Bewegung durch den Raum ausgehen („umsteigen“ bzw. „hinüberkriechen“) spricht sich Hunink für eine ‚vertikale‘ Ausrichtung der Raumdurchquerung im Sinne von ‚hinaufklettern‘ aus („to clamber up“).101 Die lexikalische Bedeutung von erepere lässt beide Interpretationen zu,102 wenn auch der Verweis auf den herabhängenden Unterleib (suspensa ilia, 602) wohl eher für Huninks Deutung spricht.103

99 100 101

102 103

Rowland 1969: 207. Hunink 1992: 229 ad loc. Haskins (1971: 106) weist sogar darauf hin, dass Gyareus an einem Seil heraufklettern könnte. Hierfür fehlt allerdings die Grundlage im Text. Zudem scheint das Erklettern des Schiffs bzw. Achter mit den Händen im Hinblick auf V. 661–669 plausibler, vgl. Hunink 1992: 229. ThLL s.v. ‚erepere‘, 5.2.749.20–25. Bei erepere handelt es sich um eine Konjektur durch Heinsius, die er von ae repere in den Handschriften Z und M (?) ableitet; vgl. hierzu Shackleton-Bailey 2009: 71 ad loc. An dieser Stelle ist auf die zahlreichen überlieferten Lesarten hinzuweisen, von denen jedoch keine der Konjektur vorzuziehen ist: et repere (U); eripere (P); erumpere (Z²GV); vgl. Hunink 1992: 229; Gotoff 1971: 117.

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All diese Unbestimmtheitsstellen innerhalb des Erzählraums machen in besonderem Maße die Realisierung der fiktiven Erzählwelt erforderlich. So lässt sich in der vorliegenden Szene nicht nur ein Mangel anschaulicher Details konstatieren, sondern auch eine Überstrapazierung des textlichen Mediums. Auf diese Weise werden die Prinzipien der Illusionsbildung durchbrochen, sodass – ähnlich wie in der Catus-Szene (s. Abschnitt 4.4.1.5) – die Gemachtheit und Autoreferentialität der Erzählung in das Bewusstsein des Lesers gehoben wird. 4.4.3.3 Körper und Verwundung Der Leser nimmt auch in dieser Partie den Körper lediglich im Kontext der Verwundung wahr. Der Erzähler lenkt dessen Aufmerksamkeit auf den Unterleib (ilia, 601), da dieser zum einen als einziger Körperteil der Szene explizit genannt wird, zum anderen als ambivalenter Ausdruck nur unscharf zu realisieren ist. Bezüglich Gyareus’ Körper und Verwundung stehen in der Forschung bislang hauptsächlich intertextuelle Bezüge zu Ovids Metamorphosen im Zentrum der Aufmerksamkeit. So arbeitet etwa Metger Parallelen zur Episode des Kampfes zwischen Lapithen und Centauren heraus, in der Petraeus von einem Speer an eine Eiche geheftet wird (Ov. met. 12.330–331: lancea Pirithoi costis inmissa Petraei | pectora cum duro luctantia robore fixit).104 Er verweist dabei auf den Unterschied, dass bei Ovid die Tat des Attackierenden in den Vordergrund rückt ( fixit) und nicht, wie bei Lucan, der Fokus auf dem patiens liegt (excipit … ferrum, 601). Zudem richtet der Dichter des Bürgerkriegsepos, so Metger, „sein Augenmerk auf die Verwundung und auf die Folge des Anheftens, das Hängen […]“.105 Hunink stellt – neben dem Hinweis auf den Unterleib als traditioneller Ort der Verwundung bei Homer106 – die Vermutung auf, Lucan habe das Motiv des Hängens aus. Ov. met. 5.123–127 entnommen und adaptiert.107 An dieser Stelle wird Pelates’ Hand durch einen Spieß an einen Türpfosten genagelt, sodass er von dort herabhängt (retinente manum moriens e poste pependit, 127). Watkins knüpft an Huninks Beobachtung an und deutet die GyareusSzene als Kombination der Motive in Ov. met. 5.123–127 und 5.133.108 Wie bereits bei der Analyse des Erzählraums aufgezeigt wurde, lassen sich auch in Bezug auf den verwundeten Körper im Text angelegte Unbestimmt104 105 106 107 108

Metger 1957:43–44. Metger 1957: 44. Vgl. beispielsweise Hom. Il. 4.521–526; 5.65–68. Hunink 1992: 229. Watkins 2012: 67–68.

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heitsstellen nachweisen. In den meisten Forschungsbeiträgen wird der Gebrauch des Ausdrucks ilia (601) im Sinne von ‚Unterleib‘ zugrunde gelegt, wie etwa bei Hunink: „Gyareus is hit in the side near the groin […]. Here this part of the body is said to be hanging in the air […].“109 Rowland verzichtet auf eine Übersetzung von ilia. Auf die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks wird jedoch auch in seiner Untersuchung nicht eingegangen: „Another Greek, Gyareus, coming to the aid of his ally (socia puppis), was immediately laid low.“110 So auch Watkins: „Pierced by a weapon, per ilia, his dying body is affixed to the ship.“111 Lediglich Metger thematisiert die lexikalische Bedeutung ‚Eingeweide‘ in seinen Ausführungen explizit:112 Schon die Verwundung trägt einen eigenen Effekt. Wo Ovid nur Eintritt und Austritt des Speeres aus dem Körper bezeichnete, und sich dabei große Zurückhaltung auferlegte (costis – pectora), sucht Lucan das Abscheuliche, das Niedere, das Gemeine bewusst hervorzukehren: Gyareus wird in die ‚hängenden Eingeweide‘ getroffen. […] Hier wird das Zerstörende, Vernichtende stärker betont, nicht selten in einer perversen Färbung.113 Metgers Beobachtung lässt sich vor dem Hintergrund der ambivalenten Ausrichtung der Gyareus-Szene noch weiter auffächern. Mit der Bedeutung ‚Unterleib‘ schwingt zugleich die Assoziation zu ‚Eingeweide‘ mit; ilia weist somit eine semantische Überlagerung auf, die von Seiten des Rezipienten nicht zu ‚beseitigen‘, sondern unter dem Aspekt der Ambivalenz vielmehr als textimmanente Strategie anzusehen ist. Die Durchbohrung des Körpers auf fiktiver Ebene kommt durch den Gebrauch des semantisch ambivalenten Ausdrucks ilia auch auf Ebene der narrativen Repräsentation zum Ausdruck. Denn bei der Verwundung lenkt der Erzähler den Blick des Lesers auf das Körperinnere und die dort befindlichen Organe – ähnlich wie in der ersten individuellen Sterbeszene des Catus (s. Abschnitt 4.4.1.3). Die Unterscheidung von innen und außen scheint im Moment des Waffeneintritts in den Körper zu verwischen. Das zu ilia gehörige Attribut suspensa verstärkt den Eindruck der ‚diffusen Körpergrenze‘: Die

109 110 111 112 113

Hunink 1992: 229; vgl. ThLL s.v. ‚ile‘, 7.1.325.61–326.15; OLD s. v. ‚ilia1‘, 825. Rowland 1969: 207. Watkins 2012: 67. ThLL s.v. ‚ile‘, 7.1.326.16–24. OLD s.v. ‚ilia1(e)‘, 825. Metger 1957: 44; Opelt (1957: 444) deutet die Verwundung des Gyareus zusammen mit der des Lycidas (633b–646) und des Schwimmers, der von zwei Schiffen zerquetscht wird (652b–661a), als „totale Vernichtung der Leiber“, geht jedoch nicht konkret auf die ilia ein.

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Vorstellung ‚herabhängender Eingeweide‘ parallel zu der des ‚herabhängenden Unterleibs‘ ruft beim Leser die Verletzungsoffenheit des patiens umso eindringlicher ins Bewusstsein. Zudem wird durch die Waffenbezeichnung ferrum der Fokus erneut (s.o. Abschnitt 4.4.1.3) auf die Eisenspitze des Geschosses gerichtet, das Gyareus in seinem Unterleib bzw. seinen Eingeweiden empfängt (excipit, 602). Das mit in- bzw. im- präfigierte Partizip immissum (601) markiert zusätzlich die gewaltsame Bewegung des ‚Hinein‘, in die wortwörtlichen ‚Innereien‘ der Figur. Wie auch der Ausdruck ilia oszilliert immittere zwischen den Bedeutungen ‚schleudern‘ (im Sinne von mittere bzw. emittere) und ‚hineinbohren‘ (parallel zu indere, infigere und inicere).114 Der abschließende Vers lässt mit dem Gebrauch von telo ein Zoom Out von der Spitze im Körperinneren heraus auf die Waffe als Ganzes erkennen. Dies korrespondiert mit der Darstellung des Soldaten, der ebenfalls in seiner Gesamtheit am Schiff hängt (affixus … pependit, 602).115 Zusammenfassung: Es lässt sich nachweisen, dass in der dritten individuellen Sterbeszene die Ambivalenz den konstitutiven Aspekt nicht nur hinsichtlich des Erzählraums, sondern auch der narrativen Repräsentation des Körpers sowie der damit in Zusammenhang stehenden Verwundung darstellt. Durch die lexikalische Doppeldeutigkeit von suspensa ilia – die sich in den jeweiligen Interpretationen der bisherigen Forschung zwar deutlich abzeichnet, jedoch nicht als textimmanente Erzählstrategie reflektiert wurde – wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Körperinnere gelenkt. Die dargestellte Gewalt erzeugt den Eindruck einer Verwischung der Körpergrenze, sodass die Teilbereiche innen und außen ineinander überzugehen scheinen. Dies hat eine deutliche Reduzierung der Anschaulichkeit zur Folge, sodass der Rezipient nicht in der Lage ist, das Ereignis der fiktiven Erzählwelt eindeutig zu realisieren. 4.4.3.4 Zeit Die Gyareus-Partie erreicht im Vergleich mit den ersten beiden individuellen Sterbeszenen der Massilia-Seeschlacht die mit Abstand höchste Erzählgeschwindigkeit. Während bei der ausführlichen Beschreibung von Catus’ Verwundung ein retardierendes Zoom In zu beobachten ist, der eine Zeitdehnung zur Folge hat (s. Abschnitt 4.4.1.4), und in der darauffolgenden Telo-Szene der Erzähler mittels einer Pause die erzählte Zeit zum Stillstand bringt, um daraufhin abrupt in gesteigertem Erzähltempo fortzufahren (s. Abschnitt 4.4.2.4), ist in der vorliegenden Partie die Erzählzeit durchweg deutlich kürzer als die

114 115

ThLL s.v. ‚immitto‘, 7.1.469.45–470.5. Vgl. Metger 1957: 44.

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erzählte Zeit: Es liegt Zeitraffung vor. Dies lässt sich insbesondere an zwei Aspekten aufzeigen. (1) Zum einen belegt dies der erste Vers, der den Leser in die Situation einführt. Nach den Ausführungen des Erzählers wird Gyareus, noch während er das Schiff/Achterdeck hinaufklettern will bzw. dies zu tun wünscht (dum cupit … erepere, 600), vom feindlichen telum getroffen. Dass er jedoch bereits begonnen hat seine Absicht in die Tat umzusetzen, wird vom Leser erst durch den Verweis auf den bereits herabhängenden Unterleib/Eingeweide (suspensa ilia, 601) realisiert. Der Prozess des Kletterns markiert eine narrative Leerstelle, die erst im Verlauf der Lektüre ‚gefüllt‘ wird. Der Erzähler spart die Aktion des Protagonisten in der story aus, woraus eine Erhöhung der Erzählgeschwindigkeit resultiert.116 Zudem geht die Schilderung der Verwundung mit einem gewissen ‚Überraschungseffekt‘ einher, da Gyareus sich – im Gegensatz zu Catus (dum pugnat, 585) und Telo (ruperat, 597) – in keiner konkreten Kampfhandlung befindet, in deren Kontext ein Angriff zu erwarten wäre. (2) Zum anderen wird der Eindruck des gesteigerten Tempos auch auf grammatischer Ebene erweckt. Vor dem Hintergrund, dass immissum ferrum (601) zwischen zwei Bedeutungen oszilliert und immittere im Sinne von indere, infigere und inicere etwa als ‚hineinbohren‘ oder ‚hineinstoßen‘ gedeutet werden kann (s.o.), ergibt sich eine Konsequenz für die narrative Gestaltung der Zeit. Das Partizip immissum zeigt Vorzeitigkeit zum Prädikat excipit (601) an, sodass auf Ebene der story die logische Abfolge des Verwundungsprozesses durchbrochen wird. Demnach erfolgt in Form eines Hysteron-Proteron zuerst die Durchbohrung der Eingeweide (immissum suspensa per ilia ferrum), dann erst empfängt (excipit) Gyareus das Geschoss in seinem Leib. Aus der erhöhten Erzählgeschwindigkeit und der Tendenz zur Anachronie resultiert somit ähnlich wie bei der narrativen Repräsentation des Erzählraums eine Verringerung der Anschaulichkeit und Übersichtlichkeit der Gewaltszene. Trotz der Differenzen bezüglich der narrativen Gestaltung der Zeit ist es bemerkenswert, dass die Erzählkerne aller drei individuellen Sterbeszenen (Catus, Telo, Gyareus) erhalten bleiben. Zunächst wird dem Leser eine Ausgangssituation vor Augen geführt (X), anschließend erfolgt die Beschreibung der Verwundung (V[d]), woraufhin letztlich der Sterbeprozess als Folge (ST) bzw. die Waffenwirkung (WW) geschildert wird. Aufgrund der analogen narrativen Ausarbeitung der Partien wird die Zunahme der Erzählgeschwindigkeit zusätzlich unterstrichen.

116

Vgl. zur erhöhten Geschwindigkeit im Fernkampf Anm. 54.

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4.4.3.5 Zwischenfazit Die Untersuchung der Gyareus-Partie hat ergeben, dass insbesondere durch die ambivalente Darstellung von Erzählraum, Körper und Verwundung eine geringe Anschaulichkeit der Erzählung vorliegt. Zusätzlich wird diese ‚Unfassbarkeit‘ durch das im Vergleich zu den beiden vorigen Sterbeszenen erhöhte Erzähltempo intensiviert. Der markante Detailmangel bzw. die narrative Unschärfe, die das Textverständnis bei genauer Lektüre in besonderem Maße erschwert, konstituiert die Überstrapazierung des Erzählmediums. Aufgrund ambivalenter Informationen (sociam puppem, erepere, suspensa ilia) und fragmenthafter narrativer Repräsentation des Ereignisses kann sich der Rezipient nur ein unscharfes Bild von der Gewaltszene machen. Damit weist die Partie eine bemerkenswert dynamische Offenheit auf, deren ‚Realisierungspotential‘ scheinbar ein Pluriversum an Interpretationsmöglichkeiten hervorzubringen vermag. Tatsächlich hat der offene Charakter der Erzählung divergente Deutungen zur Folge (s. beispielsweise Metger, Opelt, Rowland, Hunink). In der ästhetischen Auseinandersetzung mit der dargestellten Gewalt gerät der Leser als Gewalt imaginierende Instanz selbst in den Fokus der Lektüre und ist somit vom dynamischen, offenen Wirkungspotential des Lucanischen Unmaking betroffen. Abschließend mag es vielleicht zu weit führen, suspensa (601) als metafiktionalen Kommentar zu deuten, allerdings ließe es sich insofern als narratives Darstellungsprinzip für die Gyareus-Partie bestimmen, als es parallel zur Bedeutung ‚herabhängend‘ als ‚schwebend‘, ‚ungewiss‘, ‚zweifelhaft‘ verstanden werden kann – zumal suspensa im zweiten von drei Versen, eingerahmt von jeweils zweieinhalb Versfüßen, an die zentrale Position gesetzt ist. 4.4.4 Zwilling (Lucan. 3.603–633a) Ohne Überleitung geht der Erzähler zur längsten individuellen Szene der Seeschlacht-Partie über. Der Blick des Lesers wird auf zwei massilische Zwillinge gelenkt. Nach einer kurzen Schilderung, die den Ausgang der Szene proleptisch vorwegnimmt (discrevit mors saeva viros, 605) und das Leid der Eltern näher ausführt (605–608), folgt die eigentliche Gewaltdarstellung. Der eine der beiden Brüder legt seine Hand an das feindliche römische Schiff. Diese wird unverzüglich abgehackt, bleibt an der Reling hängen und stirbt dort ab (609–613). Daraufhin wächst die virtus des Mannes. Entschlossen greift er mit seiner Linken nach der abgetrennten Hand, doch auch diese wird mitsamt seinem Arm abgeschlagen (614–617). Unbewaffnet wendet er sich von seinem Vorhaben ab und wirft sich vor die Waffen seines Bruders, um die gegnerischen Angriffe mit entblößter Brust abzufangen. Standhaft schirmt er auch die Geschosse ab, die auf viele seiner Gefährten herabfallen. (618–622a). Trotz der zahlreichen

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Wunden vermag er seine schwindende Kraft zu sammeln und springt in einem letzten Angriff auf das gegnerische Schiff, um mit seinem bloßen Körpergewicht Schaden anzurichten (622b–626). Unter der Last der aufgehäuften Leichen erhält das römische Gefährt Treffer in die Seite, sodass die Gänge und das Deck mit Wasser volllaufen. Schließlich versinkt es in einem gewaltigen Strudel im Meer (627–633). Aufgrund des im Vergleich zu den bisherigen Szenen höheren Textumfangs wird eine Einteilung in sechs Erzählabschnitte vorgenommen. Diese Gliederung stellt nicht die chronologische Reihenfolge der nachfolgenden Analyse dar, sondern dient der besseren Orientierung im lateinischen Text: 603–608: 609–613: 614–617: 618–622a: 622b–626: 627–633:

Vorszenenelement Verwundung 1 Verwundung 2 Opferung Angriff Schlussszene

Die Analyse erfolgt in fünf Schritten. Da die vorliegende Partie eine in der Forschungsliteratur zur Seeschlacht prominente Stellung einnimmt, wird ein Überblick zur Forschungs- und Motivgeschichte an den Anfang gestellt. Wie sich weiter zeigen wird, kommt es zum ersten Mal im Verlauf einer individuellen Sterbeszene zu einer Veränderung der Figuration. Im letzten Analyseabschnitt soll der Blick auf den Text ausgeweitet und in Anknüpfung an den Forschungsstand und die bis dahin erarbeiteten Ergebnisse eine Ästhetik der Abwesenheit als wesentliches Merkmal der narrativen Darstellung nachgewiesen werden. Das Motiv des Zwillings, der den Kampf überlebt hat und seinen Eltern den amissum fratrem (608) vor Augen führt, dient dabei als Sinnbild für das Oszillieren zwischen Emotionalität und Distanziertheit, Aristie und Anti-Aristie, Erzählung und hypothetischer Erzählung. 4.4.4.1 Forschungsstand Zur vorliegenden Partie lassen sich in der Forschung tendenziell drei Aspekte herausstellen, denen besondere Aufmerksamkeit gewidmet ist: (1) Erstens die literarischen Vorlagen und intertextuellen Bezüge, die in der Epik, Historiographie und Rhetorik zu finden sind, (2) zweitens die Beurteilung der Szene als Aristie und (3) drittens die Interpretation der hyperbolischen Darstellung der Gewalt als Paradigma für den Bürgerkrieg. (1) Die literarischen Vorlagen und intertextuellen Bezüge stellen den in der Forschung am ausführlichsten analysierten Aspekt bezüglich der individuellen

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Opferszene dar. Es wurde bisher in diversen Beiträgen aufgezeigt, dass Lucans Darstellung des Zwillings insgesamt vier literarische Motive in sich vereint: (a) das Zwillingspaar in Vergils Aeneis (10.390–396), (b) die Zerstückelung des Cynaegirus bei Herodot (6.114), (c) die Durchbohrung des polemarchos Kallimachos (Suda, s.v. ‚Hippias‘ [ι 545 Adler]), (d) den rhetorischen Topos des vir fortis sine manibus. Aufgrund dieses breit gefächerten Spektrums unterschiedlicher Traditionen und Gattungen weist die Partie eine sehr komplexe Struktur auf. (a) Insbesondere Metger, Narducci, Esposito und Hunink zeigen auf, dass das Motiv der Zwillinge bei Lucan in intertextuellem Verhältnis zur Erzählung der Zwillinge Larides und Thymber aufweist (Verg. Aen. 10.390–396).117 vos etiam, gemini, Rutulis cecidistis in agris, Daucia, Laride Thymberque, simillima proles, indiscreta suis gratusque parentibus error; at nunc dura dedit vobis discrimina Pallas. nam tibi, Thymbre, caput Euandrius abstulit ensis; 395 te decisa suum, Laride, dextera quaerit semianimesque micant digiti ferrumque retractant.118 390

Insbesondere die Ähnlichkeit der Brüder, die – dreifach angedeutet durch simillima proles (391), indiscreta suis und gratus parentibus error (392) – als emotionale Komponente gedeutet und durch die Verwundung des Pallas scharf kontrastiert wird, ist als Berührungspunkt zu Lucans Text evident. Dieses Faktum wird ausführlich berichtet und vor allem dem Leser gefühlsmäßig nahegebracht. […] Weil sie sich zum Verwechseln ähnlich sind, sind sie ihren Eltern so lieb. Demgegenüber stellt der Dichter in scharfer Antithese die Einwirkung des Kampfes: Pallas schafft ihnen jetzt die ‚discrimina‘, deren sie vorher entbehrt hatten.119

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Metger 1957: 49–54; Narducci 1979: 82; Esposito 1987a: 98; Hunink 1992: 229–230. „Auch ihr, beide, seid auf Rutulerfluren gefallen, Larides und Thymber, Söhne des Daucus, einander völlig gleich, für eure Umgebung nicht zu unterscheiden, ein willkommener Anlass für elterliche Missverständnisse; doch nun hat für euch eine bittere Unterscheidung getroffen Pallas. Denn dir, Thymber, raubte Euanders Schwert das Haupt; dich, ihren Besitzer, Larides, sucht deine abgehauene Rechte, halbtot zucken die Finger und wollen das Schwert wieder fassen.“ (Übers. Binder/Binder). Metger 1957: 49.

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Zudem wurde das Abhacken von Larides’ rechter Hand als Parallele zur Szene des massilischen Zwillings herausgearbeitet. Allerdings sind deutliche Differenzen zu beobachten. So sind die Zwillinge in Lucans Erzählung anonym, weder die sentimentalen Nuancen der vergilischen Vorlage noch die Apostrophe des Erzählers an die Figuren sind vorhanden. Zudem ist im Bellum Civile der Kontrast zwischen den Brüdern deutlich schärfer.120 (b) Neben dem Zwillingsmotiv bei Vergil ist auch das Motiv des Cynaegirus als intertextueller Bezug herausgearbeitet worden (Hdt. 6.114).121 Dem Marathonomachos wird ebenfalls die Hand abgetrennt, während er nach der Galionsfigur des feindlichen Schiffes greift: τοῦτο δὲ Κυνέγειρος ὁ Εὐφορίωνος ἐνθαῦτα ἐπιλαμβανόμενος τῶν ἀφλάστων νεός, τὴν χεῖρα ἀποκοπεὶς πελέκεϊ πίπτει, […]. Zugleich lassen sich deutliche Bezüge zur Erzählung des Acilius aufzeigen – ein Soldat Caesars in der Seeschlacht vor Massilia, der nach dem Verlust seiner rechten Hand den Kampf fortsetzt und die feindlichen Soldaten auf ihrem Schiff zurückdrängt. Zwar liegt uns heute die direkte Vorlage der Erzählung nicht vor,122 jedoch ist sie in vier weitgehend übereinstimmenden Parallelberichten überliefert: Suet. Iul. 68, Iust. Epit. 2.9.16–19, Val. Max. 3.2.22 und Plut. Caes. 16. An dieser Stelle sollen die Berichte Suetons und des Valerius Maximus aufgeführt werden, die bemerkenswerte Schnittmengen mit Lucans Darstellung des Zwillings aufweisen: Acilius nauali ad Massiliam proelio iniecta in puppem hostium dextera et abscisa memorabile illud apud Graecos Cynegiri exemplum imitatus transiluit in nauem umbone obuios agens.123 Suet. Iul. 68.4

Ne Acilium quidem praeterire possumus, qui, cum decumae legionis miles pro C. Caesaris partibus maritima pugna proeliaretur, abscisa dex120

121 122 123

Hunink 1992: 229–230; vgl. Metger (1957: 52): „Das rein Menschliche, die Freude der Eltern an der täuschenden Ähnlichkeit ihrer Söhne, bildet bei Vergil den Grundton. Es ist ein Hauch bescheidenen Familienglücks, das vom Dichter hier erfasst wird. […] Dieser verhaltenen Darstellung steht die rhetorische, auf Pathos und pointierte Formulierungen ausgerichtete Schilderung Lucans gegenüber, die jeden zarten Gefühlsausdruck vermissen lässt.“ Vgl. Metger 1957: 52–53; Opelt 1957: 440; Oliver 1972: 328; Esposito 1987a: 99–104; Hunink 1992: 231; Jolivet 2013: 154–157. Nach Metgers Vermutung (1957: 49) handelt es sich wohl um eine Partie bei Livius. „Acilius fasste im Verlaufe eines Seegefechtes bei Massilia das Heck eines feindlichen Schiffes mit der rechten Hand an, wobei sie ihm abgeschlagen wurde; er ahmte damit das bei den Griechen berühmte Beispiel des Cynegirus nach, sprang auf das Schiff und trieb alle, die sich ihm entgegenstellten, mit dem Schildbuckel vor sich her.“ (Übers. Schmitz).

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tra, quam Massiliensium naui iniecerat, laeua puppim adprehendit nec ante dimicare destitit quam captam profundo mergeret. quod factum parum iusta notitia patet. at Cynaegirum Atheniensem simili pertinacia in consectandis hostibus usum uerbosa cantu laudum suarum Graecia omnium saeculorum memoriae litterarum praeconio inculcauit.124 Val. Max. 3.2.22

Beide Male handelt es sich um einen Soldaten Caesars. Wie auch dem massilischen Zwilling wird Acilius, die rechte Hand abgeschlagen, bei Valerius Maximus daraufhin die linke, nachdem er sie an das feindliche Schiff gelegt hat. In Suetons Schilderung springt er schließlich auf das Deck der Massilier und treibt die Gegner zurück. In Valerius Maximus’ Text erobert und versenkt er das massilische Schiff. Die Identifikation des Acilius mit der Figur des Cynaegirus ist in beiden Berichten explizit genannt (nicht jedoch bei Plutarch) und wird in der Forschung als deutlicher Hinweis auf die lange literarische Tradition des griechischen Helden gesehen: „Therefore, it is as if the Lucanian motif were thus elaborated from the model of Cynaegirus and then completed using that of Acilius, clearly retrieving the motif to the Massilians’ benefit.“125 (c) Jolivet erweitert die Bandbreite der intertextuellen Verweise und führt zusätzlich die kurze Darstellung des polemarchos Kallimachos in der Schlacht von Marathon an: ἐν τούτοις Καλλίμαχος ἐπὶ δοράτων εἱστήκει νεκρός, […].126 Nachdem der Zwilling ähnlich wie Acilius zerstückelt wurde, hält er nun wie im Bericht der Suda den feindlichen Speeren stand. (d) Als letzte der vier literarischen Vorlagen wird schließlich der Topos des vir fortis sine manibus in der deklamatorischen Tradition herangezogen.127 Bonner arbeitet in seiner Untersuchung diese Thematik anhand von Senecas Controversiae (1.4) auf. Er konstatiert, dass keiner der Grundcharaktere in Senecas 124

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„Auch Gaius Acilius verdient hier eine Stelle. Er focht für Cäsars Sache als Soldat in der zehnten Legion. In einer Seeschlacht wurde ihm die rechte Hand, mit welcher er ein massilisches Schiff gefasst hatte, abgehauen: da packte er dasselbe mit der Linken, und rang so lange, bis er das Fahrzeug genommen, und in den Grund gebohrt hatte. Diese Tat ist nicht in dem Grade, als sie es verdiente, zur öffentlichen Kunde gekommen, während Griechenland, welches in Besingung seiner Helden es an Worten nicht fehlen lässt, den Athener Cynägirus, der einst den Feind mit ähnlicher Beharrlichkeit verfolgte, durch den Lobpreis seiner Schriftsteller dem Andenken aller Jahrhunderte gleichsam aufdringt.“ (Übers. Hoffmann). Jolivet 2013: 154; vgl. Oliver (1972: 328): „[…] it is probable that Lucan […] attributed Acilius’ heroism to an unnamed Massaliote, one of twins, and exaggerated the feat so that it would fully match the most amplified version of the story told about the celebrated Greek hero, Cynaegirus“; vgl. Esposito 1987a: 100–104. Suda, s.v. ‚Hippias‘ (ι 545 Adler); Jolivet 2013: 156–157. Vgl. Bonner 1966; Favreau 2003; Hunink 1992: 231; Jolivet 2013: 152.

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Abhandlung häufiger in den Fokus gerückt wird als der vir fortis. Um diesen in seiner dramatischen Wirkung noch weiter zu steigern, verliert er im Kampf seine Hände und wird zum vir fortis sine manibus, als dessen bekanntester Vertreter die bereits genannte Figur des Cynaegirus anzusehen ist.128 Lucan sei als ausgebildeter Redner stark durch die rhetorische Tradition beeinflusst und knüpfe mit der narrativen Gestaltung des Zwillings innerhalb der Seeschlacht an eben diese Praxis der Deklamationsschulen an.129 (2) Den zweiten Forschungsschwerpunkt der individuellen Opferszene stellt deren Beurteilung als Aristie dar. Diese Interpretation geht hauptsächlich auf Metger zurück, der als wesentlichen Bestandteil der Partie nicht die „von Erfolg gekrönte Handlung“ sieht, sondern den Selbstbehauptungswillen und Widerstand im Kampf: Lucan hingegen begrenzt den Aktionsradius seines Helden durch die schwere toddrohende Verwundung auf ein Minimum und versucht nun, die äußerste Leistungsfähigkeit eines Menschen – der sich keines göttlichen Beistandes erfreut, – darzustellen: Darin erweist sich die Aristie.130 Von zentraler Bedeutung sei hierbei das Wissen des Protagonisten, dass er mit der ersten Verwundung sterben werde: Der Tod ist nicht nur das Ende dieser Aristie, sondern bildet den Hintergrund dieser ganzen Episode. […] Ein Erfolg ist es, den Tod zu verzögern und ihm damit die uneingeschränkte Herrschaft streitig zu machen. Letztendlich ist also diese Aristie eine Agonie, ein Kampf mit dem Tode, oder – von außen gesehen – ein miraculum fati.131 Eine differenzierte Darstellung des Doppelaspektes ‚Aristie/Agonie‘ ist in der Forschung weniger zu finden als die Annahme, es handle sich um eine Aristie

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Bonner (1966: 281): „Now of all the handless heroes of antiquity none was more famous than Cynegirus, who, according to Herodotus (VI, 114) grasped a Persian ship and had his hand severed with an axe. Generations of Greeklings declaimed on this subject with patriotic delight, and the story grew with the telling“. Bonner (1966: 281): „Lucan, in the course of his long description of this battle in Book III, though he wrongly refers the exploit to a Massiliot, makes much of this episode, and his treatment is in places exactly parallel, in exaggeration and absurdity, to the Greek declamation on Cynegirus“; s. auch Hunink 1992: 231. Metger 1957: 63. Metger 1957: 63.

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im ‚mehr oder weniger‘ klassischen Sinne. Während Leigh von einem „example of suicidal aristeia in the manner of Scaeva“ ausgeht,132 bezeichnen beispielsweise Radicke, Dinter und Jolivet die Partie generalisierend als ‚Aristie‘, ohne dies genauer zu reflektieren.133 Raabe kategorisiert die Szene nicht als „semiindividuelle Aristie“ sondern fasst sie als „Einzelkampf“ mit den drei vorhergehenden individuellen Sterbeszenen zusammen.134 Aufgrund der vorliegenden Anonymität stellt Sklenář die Qualität der Szene als Aristie andeutungsweise in Frage: „Fidelity to the epic example would have required both participants in a single combat to be named.“135 Hieran knüpft schließlich Gorman mit ihrer allgemeinen Feststellung: „Because epic kleos is strictly personal, the naming of the conquered foes is one of the most important features of the aristeia.“136 Sie sieht im Bellum Civile überhaupt die Erwartungen an die epische Aristeia ins Gegenteil verkehrt, wofür sie die Schlachten von Pharsalus und Massilia heranzieht. (3) Den letzten der drei angeführten Aspekte bildet die Interpretation der dargestellten Gewalt als Paradigma für den Bürgerkrieg. Hierbei handelt es sich meist um überblicksartige Interpretationen innerhalb summarischer Darstellungen wie beispielsweise bei Fuhrmann. Er führt die Partie des Zwillings an, um etwa aufzuzeigen, wie sehr die virtus in Lucans Bellum Civile zu „völliger Abstraktheit gesteigert“ ist.137 In ähnlicher Weise ist auch bei Hunink zu beob-

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Leigh (1997: 253) stützt sich in seiner Argumentation stark auf Metgers Thesen. Allerdings übersieht er, dass Metger selbst die ‚Aristie‘ des Zwillings von der des Scaeva klar abhebt: „Hier geht es um die Haltung und nicht um eine von Erfolg gekrönte Handlung. In diesem Sinn erfährt die virtus bei Lucan eine positive Beurteilung, während sie sonst in Verbindung mit einer Angriffsaktion als ‚crimen‘ hingestellt wird“; auf Scaeva (6.147 f.) verweist Metger anschließend in Anm. 1: „(Scaeva), qui nesciret, in armis quam magnum virtus crimen civilibus esset.“ Radicke (2004: 261–262): „So ist die Aristie des Zwillings (603–633a), der trotz Verlust der Arme noch weiterkämpft, offensichtlich nach dem Vorbild der Aristie des Acilius gestaltet, den Livius im Rahmen der Seeschlacht von Marseille als exemplum virtutis verzeichnet zu haben scheint“; Dinter (2010: 188–189): „Abschließend bleibt festzuhalten, dass die so auffallende Verstümmelung und die darauffolgende Aristeia eines Verstümmelten Lucans Anliegen verdeutlichen, unseren ‚nicht-römischen‘ Helden mit den bürgerkriegsgeplagten Römern zu kontrastieren“; Jolivet (2013: 152): „The most remarkable aristeia, however, is attributed to the anonymous twins, one of whom dies while the other survives.“ Raabe 1974: 176; allerdings ist darauf hinzuweisen, dass seine Einordnung insofern eine Ungenauigkeit aufweist, als es sich bei der Figur des Zwillings um einen namentlich nicht genannten Kämpfer handelt – entgegen der seiner Arbeit zugrundeliegenden Definition des ‚Einzelkampfes‘ (Raabe 1974: 169). Sklenář 2003: 20. Gorman 2001: 265. Fuhrmann 1968: 55.

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achten, wie wesentliche Bestandteile der Szene auf die Gewaltdarstellungen der gesamten Seeschlacht übertragen werden: […] in the longer section 602–634 warriors are not merely swept away by death: much attention is paid to their attempts at achieving something before dying. The pathos of fighting to the bitter end emerges clearly.138 Hinsichtlich dieser eher verallgemeinernden Erläuterungen ist daher Dinters präzise Analyse der individuellen Opferszene hervorzuheben.139 Er stellt die bemerkenswerte Beobachtung an, dass die Gewaltdarstellung auf lexikalischer Ebene als „Schlacht en miniature“ angesehen werden kann.140 Die in der Partie gebrauchten Begriffe des Körpers weisen eine semantische Ambivalenz auf, die es ermöglicht, die Schilderung des Einzelschicksals in den Kontext des übergeordneten Heeres zu heben. Dinter verweist insbesondere auf die Begriffe manus, ala, lacertus und armus. Ebenso weist er darauf hin, dass der Zwilling in metonymischem Sinne seinen Körper selbst zu einer Waffe macht, als er auf das gegnerische Schiff springt. Zusammenfassend hält er fest: Überdies kann die ganze Passage ebenfalls im Lichte der Doppelbedeutungen der lateinischen Worte für Körperteile, Waffen und Militär als mise en abyme eines Kosmos der Gewalt gelesen werden, in dem der Körper des Zwillingsbruders zum Sinnbild des Bürgerkrieges avanciert.141 4.4.4.2 Gewaltkonstellation Nach dem Vorszenenelement, das den Leser auf den Verlauf der Szene vorbereitet und ihm die Ähnlichkeit der Zwillingsbrüder sowie die Trauer der Eltern vor Augen führt (603–608), folgt unmittelbar die Darstellung der Gewalt. Zunächst wird die erste Verwundung (609–613) des massilischen Soldaten einer genaueren Betrachtung unterzogen.

610

138 139 140 141

quorum alter mixtis obliquo pectine remis ausus Romanae Graia de puppe carinae iniectare manum; sed eam gravis insuper ictus amputat; illa tamen nisu, quo prenderat, haesit deriguitque tenens strictis immortua nervis. Hunink 1992: 229. Dinter 2010: 187–189. Dinter 2010: 188. Dinter 2010: 189.

GA2 GT(z)/V(d) ST

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Der eine der beiden Zwillinge (quorum alter, 609) ist als patiens (GA2) an die erste Stelle im Vers gesetzt. Im Gegensatz zu den ersten drei individuellen Sterbeszenen wird sein Name jedoch nicht genannt. Die Anonymität des Protagonisten bleibt bis zum Ende der Erzählung bestehen.142 Während der Zwilling seine Hand an das römische Schiff legt, wird diese abgeschlagen (V[d]). Die Gewalttat ereignet sich in direkter Folge auf den Versuch des patiens sich dem Feind zu nähern und kann daher als zielgerichtet gedeutet werden (GT[z]). Subjekt des Satzes ist gravis ictus (611), d.h. der Prozess des Schlagens an sich. Der agens ist nicht genannt. Dies ist zusätzlich dadurch unterstrichen, dass der Vorgang der detaillierten Verwundung (V[d]) aktivisch beschrieben wird (amputat, 612). Die Verse 612–613 markieren eine konkrete Sterbeszene (ST), in der die abgehackte Hand nicht etwa herabfällt, sondern am Schiff hängenbleibt und dort mit angespannten Sehnen abstirbt (strictis immortua nervis, 613).143 Insgesamt rekurriert die erste Verwundung des Zwillings auf die Darstellung des ‚Handgemenges‘ zu Beginn der ersten kollektiven Sterbeszene (569–571):

570

miscenturque manus. navali plurima bello ensis agit. stat quisque suae de robore puppis pronus in adversos ictus, nullique perempti in ratibus cecidere suis.

Zum einen handelt es sich in der Zwillingspartie – im Gegensatz zu den vorhergehenden individuellen Sterbeszenen 1 bis 3 – nicht um einen Fern-, sondern einen Nahkampf. Zum anderen kann der Rezipient vor dem Hintergrund der kollektiven Sterbeszene 1 (569–582) auf den Gebrauch eines Schwertes (ensis) schließen, mit dem die rechte Hand abgeschlagen wird. Zudem lehnt sich der Zwilling ebenfalls von seinem Deck (puppis) aus hinüber zum feindlichen Schiff, wo er seine Wunde durch einen Hieb (ictus) erleidet. Die inhaltlichen Kongruenzen und Wortwiederholungen lassen die Partie des Zwillings im größeren Zusammenhang der vom Schwert geprägten Seeschlacht erscheinen. Der darauffolgende Abschnitt der zweiten Verwundung (614–617) beginnt mit einer Innenperspektive des patiens (IP2). In der Not wächst die Standhaftigkeit und edler Zorn steigt im Kämpfer auf. 142

143

Die Anonymität der Zwillinge hat in der bisherigen Forschung häufig Erwähnung gefunden. Insbesondere Gorman (2001: 263–273) hat sich dem Phänomen der Namenlosigkeit in Lucans Bellum Civile gewidmet. Dieser Aspekt wird in Abschnitt 4.4.4.5 zur Ästhetik der Abwesenheit tiefergehend untersucht. Vgl. Abschnitt 4.4.4.3 zum Aspekt der Grenze.

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615

crevit in adversis virtus: plus nobilis irae truncus habet fortique instaurat proelia laeva rapturusque suam procumbit in aequora dextram. haec quoque cum toto manus est abscisa lacerto.

205 IP2

GE(p)/V(d)

Es ist bemerkenswert, dass nicht der Zwilling diesen Zorn in sich spürt, sondern explizit der Rumpf (truncus, 615), der zugleich Subjekt des Satzes ist (s.u. Abschnitt 4.4.4.4). Demnach greift der Rumpf mit seiner Linken nach der erstarrten Rechten. Dies ist nicht als Veränderung der Gewaltkonstellation anzusehen, da diese vermeintliche Offensivhandlung nicht auf die Verwundung des Gegners zielt, sondern auf die (zwecklose) Rückgewinnung des abgetrennten Körperteils. In diesem Zuge verliert er jedoch seine linke Hand mitsamt dem übrigen Arm (V[d]). Die detaillierte Verwundung ist zugleich als passives Gewalterleiden (GE[p]) zu deuten, da sie nicht willentlich vom patiens erlitten wird. Im Gegensatz zur ersten Verwundung wird diese durch eine passivische Konstruktion zum Ausdruck gebracht (est abscisa, 617). Erneut sind weder agens noch Waffe explizit genannt. Der anschließende Abschnitt schildert die Opferung des Zwillings für seine Kameraden (618–622a). Die Gewaltkonstellation wird durch die explizite Nennung von participes (GA33c) um eine Instanz erweitert und weist nun eine deutlich höhere Komplexität auf. iam clipeo telisque carens, non conditus ima W puppe sed expositus fraternaque pectore nudo GE(a); GA33c1 /GP(ind) 620 arma tegens, crebra confixus cuspide perstat W; GE(a)/O; V(d); W; GE(a)/O telaque multorum leto casura suorum W; GA33c2/GP(ind) emerita iam morte tenet. GE(a)/O Zum ersten Mal in der vorliegenden Partie erwähnt der Erzähler mit clipeo telisque (618) konkrete Waffen (W). Wie später genauer herausgearbeitet wird, ist gerade das Fehlen dieser (carens, 618) für die Gewaltdarstellung charakteristisch (s. Abschnitt 4.4.4.5 zur Ästhetik der Abwesenheit). Der Bruder des verstümmelten Soldaten wird als arbiter bzw. Zeuge (GA33c1) in die Erzählung eingeführt. Seine Partizipation an der Gewalt ist als indirekt zu betrachten (GP[ind]), da er bzw. seine Waffen (W) ( fraterna arma, 619–620) für den patiens ein zu schützendes Objekt darstellt und so Einfluss auf die Dynamik der Gewaltdarstellung nimmt. Der patiens opfert sich für den Zeugen. Er empfängt die Gewalt willentlich und aktiv (GE[a]), was insbesondere an non conditus […] sed expositus (618–619), pectore nudo (619) und dem aktivischen Partizip tegens (620) deutlich wird. Er stellt sich dem gegnerischen Angriff frontal entgegen

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und übernimmt die Funktion eines clipeus – den er selbst nicht tragen kann. Es geht nicht um die Verwundung des Feindes, sondern um die Neutralisierung ihrer Waffen bzw. nicht um Destruktion, sondern Obstruktion (O). Dass die Obstruktion jedoch mit der Destruktion seines eigenen Körpers einhergeht, ist anhand der allgemeinen Verwundung durch die Durchbohrung (confixus, 620) zu konstatieren (V[a]). Als Waffen (W) erwähnt der Erzähler zahlreiche Speere (crebra cuspide, 620).144 Das mit intensivierendem per- präfigierte Prädikat perstat (620) verstärkt den Eindruck des aktiven Gewaltempfangens zusätzlich (GE[a]), was mit einer stärkeren Akzentuierung der Obstruktion (O) einhergeht. Schließlich nimmt ein weiterer, diesmal kollektiv aufzufassender dritter Gewaltaktant (GA33c2) am Kampf teil: die Gefährten des patiens (multorum suorum, 621). In gleicher Weise wie der GA33c1 ist ihre Partizipation als indirekt zu charakterisieren (GP[ind]). Der zerstückelte und mittlerweile durchbohrte GA2 wirft sich zwischen sie und die herabfallenden feindlichen Geschosse (W), die ihnen voraussichtlich tödliche Wunden beigebracht hätten (tela leto casura, 621). Durch den – abermals aktivischen – Gebrauch des Prädikats tenet (622) kommt das freiwillige, aktive Gewaltempfangen (GE[a]) und zugleich die Neutralisierung der gegnerischen Waffen (O) zum dritten Mal klar zum Ausdruck. Es wird sich im Verlauf der Analyse zeigen, dass das Motiv der Opferung, oder auch: das Prinzip des ‚Anstelle‘ nicht nur für die Verse 618–622a, sondern auch für die gesamte Partie von zentraler Bedeutung ist (s. Abschnitt 4.4.4.5).145 Zum Ende der konkreten Gewaltdarstellung unterliegt die Gewaltkonstellation einer Veränderung. Der Zwilling geht zum Angriff (622b–626) über: tum vulnere multo effugientem animam lassos collegit in artus membraque contendit toto, quicumque manebat, 625 sanguine et hostilem defectis robore nervis insiluit solo nociturus pondere puppem.

144 145

GT(z); W

ThLL s.v. ‚cuspis‘, 4.0.1553.27–42. Zum Gebrauch des kollektiven Singulars an dieser Stelle vgl. ThLL s.v. ‚cuspis‘, 4.0.1554.27–29. Vgl. Metger (1957: 62): „Der Kämpfer ist so verwundet, dass eine aktive Beteiligung am Kampfgeschehen ausgeschlossen ist. […] Er kämpft nicht gegen den Feind, er kämpft um sich selbst.“ Diese Bemerkungen reduzieren die Komplexität der Gewaltkonstellation beträchtlich. Der Einfluss der beiden GA33c auf die Dynamik der Gewaltszene wird dabei außer Acht gelassen. Einer differenzierten Auffächerung des Opferungsmotivs wird dadurch jeglicher Anknüpfungspunkt entzogen. Zudem ist Obstruktion, wie oben gezeigt wurde, sehr wohl als aktive Beteiligung am Kampf zu sehen.

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Unter dem Eindruck des bevorstehenden Todeseintritts (effugientem animam, 623) sammelt der aufgrund seiner zahllosen Wunden geschwächte Massilier seine letzten Kräfte und springt auf das feindliche Schiff. Der bisherige patiens übernimmt nun die Funktion des agens. Weitere Gewaltfiguren, wie beispielsweise patiens und particeps, werden nicht genannt. Das asynchrone, anonyme Verhältnis der Gewalt bleibt konsequent bestehen. Der Angriff (hostilem […] insiluit puppem, 625–626) ist als zielgerichtete Gewalttat (GT[z]) zu bewerten: Der Zweck des Unterfangens lässt sich anhand der Partizipialkonstruktion nociturus (626) belegen, die ein finales Verhältnis impliziert. Zudem lässt der agens nun nicht mehr die Funktion eines clipeus erkennen, die eine obstruierende Wirkung zur Folge hat, sondern vielmehr nutzt er das Gewicht seines zerstückelten Körpers (solo pondere, 626), um selbst Schaden anzurichten. Der Soldat wandelt sich also nicht nur vom patiens zum agens, sondern vom Schild zur Waffe (W). Eine Auswirkung des Angriffs ist im Text nicht explizit erkennbar.146 Schließlich bleibt festzuhalten, dass auch der finale Sprung auf das feindliche Deck sich in ähnlicher Weise wie die Schilderung der ersten Verwundung (609–612) in das Gesamtbild fügt, das in der ersten kollektiven Sterbeszene (vor-)gezeichnet wird: nullique perempti | in ratibus cecidere suis (571–572). 4.4.4.3 Erzählraum Der Erzählraum der individuellen Opferszene steht weniger im Zentrum des Forschungsinteresses. Es lassen sich jedoch Beobachtungen machen, deren Ausarbeitung zum einen bestehende Ergebnisse methodisch unterfüttert, und zum anderen bisher eher wenig beachtete Aspekte ins Bewusstsein hebt. Die narrative Repräsentation des Raums lässt insbesondere das dynamische Verhältnis von Handlungs- und Raumstrukturen sichtbar werden. (1) Die Darstellung des Aktionsraums soll daher als erstes näher betrachtet werden. Die Untersuchung kreist vor allem um zwei Aspekte: einerseits (a) den Wechsel von geringer und hoher Bewegungsdynamik, andererseits (b) die gegenläufige Relation zwischen Bewegungsdynamik und räumlicher Reichweite. (2) Zentrale Bedeutung kommt der Überschreitung der Schiffsgrenze zu, die zwei semantisch codierte Teilräume voneinander trennt und eine sowohl strukturierende als auch entstrukturierende Funktion in der Erzählung, die auf fabulawie story-Ebene festzustellen ist. (3) Zudem weist das Schlussszenenelement

146

Vgl. beispielsweise Hunink (1992: 235, Anm. 2): „OPELT 1957, 440 says that the twin brother causes the ship to sink, but that cannot be found in the text itself“; Sklenář 2003: 21; s. auch Abschnitt 4.4.4.5.

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(627–633) eine Schilderung des Anschauungsraums auf, die in der gesamten Seeschlachterzählung bezüglich ihrer Detailfülle eine singuläre Qualität aufweist. (a) Zum einen ist auf die narrative Funktion des Anschauungsraums einzugehen, (b) zum anderen ist in ihm der kontrastreiche Verlauf der Gewaltdarstellung abgebildet. (1) In erster Linie wird der Erzählraum der individuellen Opferszene im Zusammenhang mit Figurenhandlungen dargestellt, sodass die Aufmerksamkeit des Lesers zunächst stärker auf den Aktionsraum gelenkt wird. (a) Dass die Zwillingszene das Motiv des sterbenden Einzelkämpfers weiter differenziert und eine Zäsur in der narrativen Struktur markiert als die vorhergehenden individuellen Sterbeszenen, wird durch den Gebrauch von stant (603) angedeutet, das an der ersten Stelle des Verses zu finden ist und so deutlich akzentuiert wird. Während die Darstellungen von Catus, Telo und Gyareus jeweils zu Beginn von einer hohen Bewegungsdynamik und Mobilität der Figuren geprägt sind und der räumliche Standpunkt bzw. die Wegestruktur der Figuren explizit beschrieben werden, bricht die vorliegende Szene mit dem Prinzip des die Erzählung gliedernden Erzählraums (s. Abschnitt 4.4.2.2).147 Der Blick des Lesers wird an einen vom Erzähler scheinbar willkürlich gewählten Ort innerhalb der Seeschlacht gelenkt, der keinen konsekutiven oder kausalen Zusammenhang mit den vorigen Szenen erkennen lässt und daher isoliert von ihnen zu betrachten ist. Dieser narrative Kontrast wird durch die wortwörtlich ‚statische‘ Figurenhandlung in der fabula markiert: sie ‚stehen‘. Das Raumverhalten korrespondiert in bemerkenswerter Weise mit der Gestaltung der erzählten Zeit, denn auch sie bleibt während des Vorszenenelements (603b–608) stehen. Erst im Zuge der figuralen Raumdurchquerung wird der Leser bezüglich der narrativen Gestaltung des Erzählraums näher informiert. Die Annäherung der beiden feindlichen Schiffe und das Verhaken der Ruder (mixtis obliqua pectine remis, 609) ermöglichen dabei die Aktionen des massilischen Soldaten. Insbesondere seine Offensivhandlungen lassen während der konkreten Gewaltdarstellung eine deutlich erhöhte Bewegungsdynamik beobachten: iniectare (611), rapturus procumbit (616), insiluit (626). Diese Ausdrücke bilden einen scharfen Kontrast zum zuvor eindringlich akzentuierten Begriff

147

Das römische Schiff, auf dessen Hinterdeck Catus kämpft, wird von zwei massilischen Schiffen umzingelt (583–586). Der Steuermann Telo navigiert sein Schiff anschließend an ebendie Stelle, wo sich kurz zuvor der Tod des Römers ereignet hat (derigit huc puppem miseri quoque dextra Telonis, 592). Dagegen ist Gyareus’ Position und Wegestruktur durch die Ambivalenz und Unvollständigkeit der narrativen Repräsentation für den Leser schwieriger zu realisieren, wenngleich explizite Angaben vom Erzähler gemacht werden (600–602).

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stant.148 Dagegen sind die defensiven Aktionen von geringer Bewegungsdynamik geprägt: tegens (620), perstat (620), tenet (622). Es ist bezeichnend, dass gerade diese eher statisch wirkenden Verben die Obstruktion der feindlichen Waffen (s. Abschnitt 4.4.4.2) beschreiben. (b) An den Aspekt der Bewegungsdynamik, sei es dass es sich um Be- oder Entschleunigung handelt, schließt sich die Beobachtung eines paradoxen Phänomens an, das für die Gewaltdarstellung ein wesentliches Charakteristikum darstellt: je höher die Bewegungsdynamik, umso geringer die räumliche Reichweite und der Erfolg der Figur. Der rapide Griff nach dem feindlichen Schiff – ausgedrückt durch das Intensivum iniectare – reicht lediglich bis zur gegnerischen Reling und hat den Verlust der Hand zur Folge. Die zweite Offensivaktion – rapturus procumbit – weist eine noch geringere Reichweite im Erzählraum auf, denn der linke Arm wird bereits vor Erreichen der rechten Hand abgetrennt. Lediglich der Sprung auf das römische Deck gelingt und bildet die Ausnahme von aufgestellter Regel. Jedoch lässt sich einwenden, dass dessen hohe Bewegungsdynamik durch die Informationen defectis robore nervis (625) und solo pondere (626) abgeschwächt wird. Zudem bleibt der Leser über den Erfolg der Tat im Ungewissen bzw. erfährt lediglich, dass das Schiff von Leichen überhäuft ist und nur aufgrund von Lecks untergeht, sodass der Erfolg nicht im Text nachgewiesen werden kann. Sehr viel bemerkenswerter als die Beobachtungen bezüglich der offensiven Handlungen ist jedoch die Feststellung, dass die logische Umkehrung des paradoxen Phänomens auf die Gewaltdarstellung – genauer: auf die Obstruktion – zutrifft: je geringer die Bewegungsdynamik, umso größer die Reichweite. So bietet der verstümmelte Massilier lediglich mit bloßer Brust den Waffen seines Zwillingsbruders Deckung ( fraternaque pectore nudo | arma tegens, 619– 620) und hält zahlreichen Speeren stand, die ihn anstelle seines Verwandten durchbohren (crebra confixus cuspide perstat, 620). Die hyperbolisch wirkende Stilisierung des Protagonisten als Schutzschild in ‚Überlebensgröße‘, der in der Lage ist, eine hohe Anzahl geschleuderter Lanzen abzuwehren, geht mit einer sehr geringen Bewegungsdynamik einher – man beachte den Gebrauch des Verbs perstare, das sowohl ‚ausharren‘ bzw. ‚aushalten‘ als auch ‚fest stehen‘

148

Die mit der Gewaltdarstellung einsetzende Erhöhung der Bewegungsdynamik wird zudem auf metrischer Ebene unterstützt. Während der träge Prozess des Verhakens in V. 609 mit fünf Spondeen lautlich untermalt wird (so auch V. 610), geht mit der rasanten Bewegung von iniectare (611) der Gebrauch von fünf Daktylen einher. Hunink (1992: 230) bemerkt zudem, dass iniectare vor Lucans Bürgerkriegsepos nicht überliefert ist; vgl. ThLL s.v. ‚iniecto‘, 7.1.1618.57–66; daher nimmt das Wort nicht nur auf intra-, sondern auch extratextueller Ebene eine hervorgehobene Stellung ein.

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bedeutet. Die räumliche Ausdehnung des Sterbenden wird in V. 621 so weit gesteigert, dass er schließlich in der Lage ist, einen großen Teil seiner Gefährten zu retten, indem er auch diese Geschosse mit seinem bloßen Körper abfängt (telaque multorum leto casura suorum | […] tenet, 621–622). Der zerstückelte und durchbohrte Rumpf scheint in einer grotesken Weise über sich selbst hinauszuwachsen und bildet eine im übertragenen Sinne undurchdringliche Schutzwand, die insbesondere durch ihre ‚Statik‘ bzw. ‚Standhaftigkeit‘ zur erfolgreichen Obstruktion der Angriffe beiträgt.149 An Leighs Bemerkung, die „wahnsinnige Energie“ des sich opfernden Zwillings sei „übermenschlich“, lässt sich also mithilfe der Analyse des Aktionsraums anknüpfen, um differenziert aufzeigen zu können, mit welchen narrativen Mitteln dieser Eindruck im Text erzeugt wird.150 (2) Die Darstellung des Aktionsraums und der figuralen Wegestruktur geht ein enges Verhältnis mit der narrativen Gestaltung der Grenze und ihrer Überschreitung ein. Dieser Aspekt kommt in der vorliegenden Partie wesentlich ausführlicher zum Ausdruck als in den vorhergehenden individuellen Sterbeszenen. Denn wie bereits angedeutet, verläuft das gesamte Bewegungsmuster des massilischen Zwillings entlang an der räumlichen Grenze zwischen den beiden miteinander verhakten Schiffen. Diese ist jedoch nicht lediglich als topographisch festgelegte Trennlinie zu verstehen, sondern zugleich als Grenzzone, die zwischen zwei semantischen ‚Feldern‘ bzw. Semiosphären verläuft. Hierbei lassen sich zwei Funktionen nachweisen: Zum einen sondert die Grenze die semantisch codierten Teilräume voneinander ab, sodass diese als diametral entgegengesetzt erscheinen, zum anderen wirkt sie als ambivalente Kontaktzone. Die semantische Überlagerung der Teilräume ist prinzipiell eng an die im Text vermittelte Fokalisierung gekoppelt. Die gesamte individuelle Opferszene weist keine fixierte Fokalisierung auf, sondern changiert polymodal zwischen den Perspektiven des auktorialen Erzählers (Schlussszene, 627–633) und der Figuren wie etwa der Eltern (Vorszenenelement, 603–608) oder des sterbenden Zwillings (Verwundung 1, 2 und Angriff ). Allerdings lassen sich im vorliegenden Fall teils fließende Übergänge zwischen den jeweiligen Wahrnehmungsperspektiven beobachten, sodass in die Darstellung des auktorialen Erzählers

149

150

Damit distanziert sich die vorliegende Analyse deutlich von der Feststellung Metgers, dass Lucan „den Aktionsraum seines Helden“ begrenze (Metger, 1957: 59). Zur Darstellung des verwundeten Körpers s. Abschnitt 4.4.4.4. Vgl. Leigh (1997: 253): „[…] the very idea of exposing oneself to all the darts of the enemy, even if heroic self-sacrifice, is a miraculum fati at which to marvel. It bespeaks a lunatic vigour which, however admirable, is so superhuman as to alienate the tender response felt in Vergil.“

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(Nullfokalisierung) Anzeichen für interne Fokalisierung eingeflochten sind. Im Folgenden werden (a) zunächst die vier semantisch codierten Oppositionspaare aufgezeigt, denen die jeweiligen Teilräume, d. h. die beiden Schiffe, zugeordnet sind. (b) Anschließend ist die Grenze als Kontaktzone und ambivalentes Element der Erzählung näher in den Blick zu nehmen. (a) Das folgende Schaubild verschafft zunächst einen Überblick über die kontrastive Darstellung der jeweiligen Teilräume. In direktem Anschluss werden diese näher erläutert.

Teilraum 1

Teilraum 2

Griechen Römer Bruder und Gefährten Feinde Leben Tod

Erstens geht mit den beiden Teilräumen ganz offensichtlich die Gegenüberstellung von griechischer und römischer Seite einher, da diese im Text explizit genannt werden: Graia de puppe – Romanae carinae (610). Anhand des inhaltlichen Kontextes (s. Abschnitt 4.2) ist eine Präzisierung möglich. Bei der griechischen Seite handelt es sich um die Bewohner Massilias, die sich gegen die Einnahme ihrer Stadt wehren, und bei den Römern um die Soldaten Caesars. Zweitens ist anhand der internen Fokalisierung durch den Zwilling Teilraum 1 mit dem semantischen Feld Bruder und Gefährten zu identifizieren, die zu schützen sind. Dies ist insbesondere im Kontext der Opferung (618– 622a) von zentraler Bedeutung. Es wird deutlich, dass es dem Soldaten nicht nur auf abstrakter Ebene um die ‚massilische Sache‘ geht, sondern vielmehr um die konkreten Personen, die ihm (im übertragenen und wortwörtlichen Sinne) nahestehen ( fraternaque arma, 619) und mit denen er sich identifiziert, markiert durch das Possessivpronomen suorum (621). Dem wird konsequenterweise das semantische Feld der Feinde gegenübergestellt, was sich explizit in hostilem puppem (625–626) äußert, ebenfalls fokalisiert durch die Figur des Zwillings. Drittens ist Teilraum 1 deutlich mit Leben konnotiert. Bis zum Ende der Erzählung zeigt sich, dass der Zwilling, solange er sich auf seinem eigenen Schiff aufhält, trotz der zahlreichen tödlichen Verwundungen am Leben bleibt. Dies geht insbesondere mit der konzessiv aufzufassenden Adverbiale emerita iam morte (622) aus dem Text hervor: „obwohl er sich bereits um den Tod verdient gemacht hätte“, fängt er die tödlichen Geschosse mit seinem Körper ab.

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Der Tod wird als alternativer Handlungsverlauf oder possible world zur textual actual world dem Leser in das Bewusstsein gerufen.151 Stattdessen wird die außerordentliche Qualität seiner Lebenskraft und Standhaftigkeit sogar noch weiter gesteigert: Während der Vorbereitung auf den Angriff sammelt der Zwilling seine ‚fliehende‘ anima (623) in seinem Körper und spannt seine Muskeln mit dem noch verbliebenen lebenden Blut (sanguine, 625) an, um zum finalen Sprung anzusetzen. Teilraum 1 korrespondiert also mit einer stark übersteigerten Standhaftigkeit des Protagonisten. Zum Entsprechungsverhältnis von Teilraum 2 zum Tod: Das Anwachsen der virtus (crevit in adversis virtus, 614) und Empfinden edlen Zorns (plus nobilis irae | truncus habet, 614–615) nach der ersten geschilderten Verwundung können als Voraussetzung dafür angesehen werden, dass der Zwilling mit erstarkter linker Hand den Kampf fortsetzen ( fortique instaurat proelia laeva, 615) und sich später den zahlreich herabfallenden Speerspitzen entgegenstellen kann (crebra confixus cuspide perstat, 620). Jedoch ist diese Standhaftigkeit nicht, wie etwa Opelt meint, nur als chronologische Folge auf Verwundung und Leid zu sehen, sondern auch außerzeitlich in direktem Zusammenhang mit dem Erzählraum zu betrachten, da sie nur in Teilraum 1 ihre volle Wirkung entfalten kann.152 Denn sobald der Zwilling auf das Schiff der Römer (Teilraum 2) springt, wird ihre Effektivität gewaltsam zunichte gemacht. Teilraum 2 ist – entsprechend der vornehmlich internen Fokalisierung des Protagonisten – mit Tod assoziiert, der scheinbar nach Überschreitung der Grenze eintritt. Eine konkrete Darstellung des Todeseintritts ist – bedingt durch die narrative Ellipse zwischen Angriff und Schlussszene – dem Text zwar nicht zu entnehmen, jedoch lässt sich der Tod vom Leser im wirkungsästhetischen Prozess der Lektüre realisieren: Zum einen ist V. 626 der Hinweis zu entnehmen, dass das römische Schiff von Leichen überfüllt ist (strage virum cumulata), was darauf schließen lässt, dass der Zwilling, der schließlich mit letzter Kraft (defectis robore nervis, 625) seine finale Handlung ausgeführt hatte, sein Leben nun endgültig verwirkt hat. Zum anderen ist es möglich, den Todeseintritt unter Berücksichtigung des Erzählmodus nachzuvollziehen. Wenn die Darstellung der körperlichen Vorbereitung auf den Angriff (622a–625) intern durch den Zwilling fokalisiert ist, so bricht sie logischerweise ab und mündet in eine

151 152

Zur narrativen Erzeugung einer possible world bzw. zur hypothetischen Erzählung in der Partie vgl. Abschnitt 4.4.4.5. Opelt (1957: 445): „Der Heftigkeit des Leidens steht die gesteigerte Energie des Handelns gegenüber, die totale Selbstaufgabe der Kämpfer, die auch den Tod noch nutzbar machen wollen: sie verkörpert der schon öfter bemühte massaliotische Zwillingsbruder und der einzige römische Held des Gefechts, der geblendete Tyrrhenus.“

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elliptische Auslassung innerhalb der Erzählung, wenn dessen Tod auf Ebene der fabula tatsächlich eingetreten ist. Der Todeseintritt ist durch den abrupten Wechsel von interner Fokalisierung zu Nullfokalisierung markiert. Der Tod ist also nicht nur auf Ebene der fiktiven Erzählwelt angedeutet (strage virum), sondern kommt auch auf Ebene der narrativen Repräsentation zum Ausdruck. (b) Die gleichermaßen topographische wie semantische Grenze ist nicht nur als Trennlinie zwischen zwei Teilräumen aufzufassen, sondern auch als unscharfe Grenzzone, an der beide Semiosphären ineinander über- und somit eine gemeinsame Verbindung eingehen. Die Unschärfe dieser Grenzzone spiegelt sich in V. 609 wider: mixtis obliquo pectine remis. Die Ruder sind ‚vermischt‘ (mixtis), sodass eine Differenzierung in griechische und römische Ruder unmöglich ist. Zudem scheint obliquo pectine eine nur vermeintlich präzise Angabe zu sein, die letztlich jedoch keine klare Vorstellung von der Verhakung zulässt.153 In ähnlicher Weise wird mit dem Prozess der Grenzüberschreitung von Teilraum 1 zu Teilraum 2 eine Verdichtung von Zeichenprozessen und Strukturen in Gang gesetzt. Dem Leser wird ein sowohl topographisches als auch semantisches Moment des ‚Dazwischen‘ vor Augen geführt, in der sich die Dichotomien ‚Leben‘ und ‚Tod‘ einander so stark nähern, dass sie ineinander überzugehen scheinen. Als Beleg hierfür lässt sich die Sterbeszene (ST) der abgetrennten Hand anführen. Diese fällt nach der Amputation nicht etwa leblos ins Wasser, sondern hält sich mit derselben Kraft, mit der sie zu Lebzeiten zugepackt hatte, am gegnerischen Schiff sterbend (immortua) fest (611–613): 611

iniectare manum; sed eam gravis insuper ictus amputat; illa tamen nisu, quo prenderat, haesit deriguitque tenens strictis immortua nervis.

Der Prozess des Absterbens, der weder zum Leben noch zum Tod eindeutig zugeordnet werden kann, wird hier vom Erzähler stark ästhetisiert. Er ist als „artificially-expanded special condition of human existence“ und „interval of its own“ inszeniert.154 Darauf dass „strukturierende und entstrukturierende Tendenzen“ der unscharfen bzw. ‚verunschärfenden‘ Grenze auch über narrative Repräsentation der Zeit zum Ausdruck kommen, wird weiter unten im Kontext von Körper und Verwundung näher eingegangen.155 153 154 155

Hunink (1992: 231): „[…] obliquo pectine is so precise as to be almost obscure.“ So Hömke (2010: 100 u. 101) angesichts der Ästhetisierung des Sterbens in der ScaevaPartie. Koschorke 2013: 119.

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(3) Der letzte zu untersuchende Raumaspekt, der Anschauungsraum, rückt zwar während der konkreten Gewaltdarstellung der Zwillingspartie in den Hintergrund. Jedoch zeigt sich in der Schlussszene (627–633) eine bemerkenswert anschauliche descriptio des Erzählraums: strage virum cumulata ratis multoque cruore plena per obliquum crebros latus accipit ictus et, postquam ruptis pelagus compagibus hausit, 630 ad summos repleta foros descendit in undas vicinum involvens contorto vertice pontum. aequora discedunt mersa diducta carina inque locum puppis cecidit mare. Obwohl der Vorgang des untergehenden Schiffes mit sieben Versen einen wesentlichen Bestandteil der Partie darstellt, wurde er bisher nur von Opelt und Hunink eingehender in den Blick genommen.156 In Anlehnung an deren Beobachtungen ist die folgende Ausführung zweigeteilt: (a) als erstes wird der Fokus auf die narrative Funktion des geschilderten Anschauungsraums gerichtet, und (b) anschließend soll in aller Kürze Huninks Befund zur ‚Ästhetik des Kontrastes‘ aufgegriffen werden, die – wie sich später in Abschnitt 4.4.5.5 zeigen wird – als elementarer Bestandteil der Ästhetik der Abwesenheit aufzufassen ist. (a) Opelts Bemerkung dient als Ausgangspunkt für die nachfolgende Analyse des Anschauungsraums: Die einzelnen Phasen des Untergangs bis zum Strudel, der sich an der Stelle, wo das Schiff versunken ist, bildet, sind scharf herausgearbeitet (627/33). Das gibt der Darstellung eine gewisse Zäsur, nach der sogleich wieder neue Wundertaten des Todes geschildert werden.157 Aufgrund diachron-konsekutiver Sequenzierung erzeugen die scharf herausgearbeiteten „einzelnen Phasen des Untergangs“ illusionsbildende Wirkung. Für den Rezipienten wird die zeitlich logische Abfolge sprachlich durch den Gebrauch von Partizipialkonstruktionen (strage virum cumulata, 627; ruptis compagibus, 629), temporalen Subjunktionen (postquam, 629) und Konnektoren (et, 629; -que, 633) klar realisier- bzw. ‚visualisierbar‘ gemacht. Inwiefern markiert jedoch die präzise Darstellung des Anschauungsraums „eine

156 157

Opelt 1957: 440; Hunink 1992: 235–236. Opelt 1957: 440.

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gewisse Zäsur“, wie Opelt feststellt? Dies lässt sich auf die thematische Funktion des Erzählraums für die Szene zurückführen.158 Die individuellen Sterbeund Opferszenen sind von Gewaltdarstellungen geprägt, die sich auf den jeweiligen Schiffsdecks ereignen. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird durch die vorliegende Schlussszene wieder auf das Meer als Erzählraum gelenkt. Dies erreicht der Erzähler jedoch nicht nur über das Motiv des Schiffsuntergangs auf fiktiver, sondern auch auf narrativer bzw. lexikalischer Ebene über den Gebrauch unterschiedlicher Meeresbegriffe ab V. 629: pelagus (629), undas (630), pontum (631), aequora (632), mare (633). Das Einzelschicksal des Zwillings wird über die narrative Repräsentation des Anschauungsraums in den übergeordneten Kontext der Seeschlacht gesetzt. Zudem findet sich in der Schlussszene eine zunehmende Akzentuierung räumlicher Verhältnisse, die zugleich nachfolgende Szenen der Schlacht näher charakterisieren: Vertikalität (summos foros, 630; descendit, 630) Horizontalität (vicinum pontum, 631; aequora discedunt […] diducta, 632) und Dichte (strage virum cumulata, 627; plena, 628; repleta, 630). Dieses Zoom Out der Schlussszene generiert einen finalen ‚Panoramablick‘, der als Vorhalt auf die nachfolgende narrative Gestaltung der Seeschlachtpartie gedeutet werden kann. (b) Schließlich stellt die Schilderung des Anschauungsraums den kontrastiven Charakter der individuellen Opferszene noch schärfer heraus. In Anknüpfung an Huninks Beobachtung lässt sich die Behauptung aufstellen, der Anschauungsraum übernehme eine ‚Spiegel-Funktion‘:159 […] after even the highest parts of the ship have sunk below the surface, the water which had been divided by the ship […] returns to its place. As often, the poet shows no compassion, but has an eye only for the paradoxical aspect: where there was a ship shortly before, now there is only water.160 158

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Zur thematischen Funktion des Erzählraums s. de Jong (2014: 123): „Few critics nowadays would like to leave it at that and ascribe space and description only a scene-setting, ornamental, or authenticating function. First, space may acqire a thematic function, when it is itself one of the main ingredients in a narrative. […] For classical literature we may think of Homer’s Odyssey, as the interest in the exotic places visited by Odysseus reflects the expanding world of the Greeks in the eight and seventh centuries bc; […] and Virgil’s Aeneid, which offers a teleologically coloured view of early Italy, destined to become the Roman world.“ Vgl. de Jong (2014: 123): „A second function is involved when a place or object, fully described in the form of a synoptic description or ekphrasis, somehow mirrors the surrounding narrative. Such mirror-descriptions, as they might be called, are a subtype of the larger category of the mise en abyme […].“ Hunink 1992: 236.

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kapitel 4

Das Prinzip des ‚Anstelle‘ bzw. die Ästhetik der Abwesenheit, worauf in Abschnitt 4.4.5.5 ausführlich eingegangen wird, ist dem Erzählraum selbst inhärent: die höchsten Schiffsgänge versinken in den Tiefen des Meeres; in verkehrter Blickrichtung tritt das Wasser an die Stelle (inque locum, 633) des Schiffes und markiert dessen Abwesenheit. Die binäre Oppositionsstruktur, die Pendelbewegung zwischen An- und Abwesendem sowie Affirmation und Negation ist konstitutives Merkmal der Gewaltdarstellung und durchzieht die Partie wie ein roter Faden (s.u.). 4.4.4.4 Körper und Verwundung In den Abschnitten Verwundung 1 (609–613), Verwundung 2 (614–617) und Angriff (622b–626) rückt der Erzähler insbesondere Körper und Verwundung in den Vordergrund. Daher stellt dieser Aspekt wohl den am ausführlichsten untersuchten Gegenstand der gesamten individuellen Opferszene dar.161 In Anknüpfung an die angestellten Beobachtungen geht die folgende Analyse von drei wesentlichen Punkten aus: (1) Fragmentierung des Körpers, insbesondere mit Blick auf Vokabular und Lexik, (2) Auflösung und Modifikation zeitlicher Strukturen während der geschilderten Verwundung, und schließlich (3) Vergegenständlichung des Körpers. (1) Keine andere Szene der Seeschlachtpartie ist eher als „prolonged metamorphosis of bodies into fragments“ zu deuten als die Zerstückelung des Zwillings.162 Die blutige Abtrennung der Glieder vom Torso lässt sich alleine am entsprechenden Körpervokabular nachvollziehen: manum (611), strictis nervis (613), truncus (615), fortique laeva (615), dextram (616), manus (617), toto lacerto (617), pectore nudo (619), vulnere multo (622), lassos artus (623), membra (624), toto sanguine (625), defectis nervis (625), multoque cruore (627) Bemerkenswert ist zudem die Bezeichnung des Körpers truncus bereits nach der ersten Verwundung. Obwohl der Protagonist bis dahin ‚lediglich‘ seine rechte Hand verloren hat (611–612), bezeichnet der Erzähler ihn als ‚verstüm-

161 162

Zu den wichtigsten Beiträgen zählen etwa die von Metger (1957: 49–63), Hunink (1992: 231–235), Bartsch (1997: 16–47 passim) und Dinter (2010). Bartsch 1997: 16; es soll jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, dass das Motiv der Gliedmaßen, die nach ihrer Abtrennung vom Körper scheinbar weiterleben, eine Innovation Lucans darstellen, sondern in einer Linie mit der Tradition des griechisch-römischen Epos stehen, vgl. etwa Hom. Il. 10.457; Od. 22.329; Enn. ann. 383–384 Skutsch; Verg. Aen. 10.395–396; Ov. met. 5.104–106; 6.556–557; 11.50–51.

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melten Rumpf‘.163 Zum einen wird der Massilier ganz und gar auf seinen Körper reduziert und so – zumal er namentlich nicht genannt wird – seiner persönlichen Identität beraubt.164 Zum anderen kann der Gebrauch von truncus als Vorhalt auf den weiteren Verlauf der Erzählung aufgefasst werden, dessen Sinn sich dem Rezipienten erst nach der Abtrennung des gesamten linken Arms (616) und der Durchbohrung mittels unzähliger Geschosse (620–622) erschließt. Unter dem Gesichtspunkt der Fragmentierung rekurriert truncus auch auf artus (623) und membra (624). Während truncus den Körper ohne Gliedmaßen in den Blick nimmt, charakterisieren artus und membra ihn als Summe der einzelnen, fragmentarischen Bestandteile. Artus und membra lassen sich nicht nur nicht als einzelne ‚Glieder‘, sondern vielmehr als ihre Zusammenfügung zu einem kollektiven Ganzen interpretieren.165 Beim Leser wird der Eindruck eines aus losen Teilen bestehenden Körpers erweckt, wie auch Bartsch bemerkt: „the protagonists are simple machines for mutilation“.166 An der ‚synekdochischen‘ Auflösung des Körpers in seine einzelnen Bestandteile lässt sich die enge Verwobenheit von Lucanischer Gewalt und Groteske (erneut) aufzeigen: Im Zentrum aller Beziehungen der frühneuzeitlichen Groteske steht immer der Körper in seiner kreatürlichen Gesamtheit. Es handelt sich um den kollektiven Körper, der in seinem elementaren und universalen Zusammenhang gezeigt wird. Der groteske Körper ist der obszöne, der fressende und ausscheidende, der gebärende und der sexuelle, der gewalttätige und Gewalt erleidende, in jeder Hinsicht aber hyperbolische Körper. Er löst sich synekdochisch in seine Einzelteile auf und wächst doch immer wieder über sich selbst hinaus, nimmt Tierform an oder verwandelt sich in Gegenstände.167 Mit der Beschreibungskategorie der Groteske kann auch die Darstellung der abgetrennten Hand gedeutet werden, womit eine Ausweitung des interpretatorischen Möglichkeitsspektrums einhergeht. So sind weniger Aspekte wie

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OLD, s.v. ‚truncus² (1)‘, 1982. Vgl. Sklenář (2003: 21): „[…] its possessor not only lacks a name, he is a mere piece of man“; s. auch Thorne (2010: 98): „Lucan litters his rushing narrative with scenes of destruction and dismemberment that result repeatedly in that noted product of civil war, the truncus.“ Zu artus s. ThLL s.v. ‚1. artus‘, 2.0.713.59–714.7; OLD s. v. ‚artus² (4)‘, 178; zu membra s. ThLL s.v. ‚membrum‘, 8.0.634.39–68; OLD s.v. ‚membrum (2)‘, 1095. Bartsch 1997: 38. Kremer 2000: 215; vgl. Anm. 78 auf S. 181 u. 65 auf S. 176.

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„Absurdität“ und „Sinnlosigkeit“, als vielmehr ästhetische Kriterien in die Analyse miteinzubeziehen.168 (2) Mit der Auflösung des Körpers in der fabula korrespondiert die Modifikation zeitlicher Strukturen auf Ebene der story. Einerseits (a) ist dies an der amputierten Hand und der narrativ vermittelten ‚Gewaltzeit‘ zu erkennen, andererseits (b) an der gerafften Darstellung der Verwundung gegenüber der Figurenhandlung unmittelbar zuvor. (a) Wie bereits im Kontext des Erzählraums erläutert (s. Abschnitt 4.4.4.3, Punkt 2b), befindet sich die amputierte Hand in einem ‚Schwebezustand‘ zwischen Leben und Tod. Der Prozess des Sterbens wird auf narrativer Ebene durch ein Zoom In besonders in Szene gesetzt. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten wird für einen Augenblick ganz auf die physiologischen Vorgänge der sich zusammenziehenden Sehnen gerichtet. Der eigenständige Status des ‚Dazwischen‘ äußert sich angesichts der ‚semiosphärischen‘ Grenzzone nicht nur räumlich (zwischen Teilraum 1 und Teilraum 2) und semantisch (zwischen Leben und Tod), sondern auch zeitlich. Er korrespondiert dabei mit dem phänomenologisch eigenständigen Modus der Plötzlichkeit. Auf den vom Zwilling unvorhergesehenen gravis insuper ictus (611) folgt ein „Zwischenmoment der Lähmung“, eine im wörtlichen Sinne „punktuelle Erstarrung“. Die Sterbeszene weist damit konstitutive Merkmale der ‚Gewaltzeit‘ auf. Für die narrative Vermittlung ist hierbei das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit von zentraler Bedeutung. Während die zielgerichtete Gewalttat (sed eam gravis insuper ictus | amputat, 611–612a) Zeitdeckung aufweist, wird der Sterbeprozess selbst (612b–613) zeitlich gedehnt geschildert. Das Erzähltempo wird entschleunigt. Durch ‚diachron-konsekutive Sequenzierung‘ zusammen mit der Schilderung körperlicher Details (strictis nervis) wird ein anschauliches Bild generiert.169 Zudem korreliert Zeitdehnung in bemerkenswerter Weise mit den gebrauchten Verben, die die physiologischen Vorgänge der erstarrenden Hand beschreiben: haerere (612), derigere (613) und tenere (613). Die Zeit selbst scheint mit der

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Vgl. Metger: (1957: 54–55): „Die Pointe liegt nämlich darin, dass die Hand, obwohl schon losgelöst vom Körper, noch mit der gleichen Anstrengung wie vorher das Schiff festhält. Sie selbst versucht gewissermaßen noch, das Schiff zu halten und gibt nicht auf, obwohl sie schon im Absterben ist. Eine absurde Vorstellung! Es ist eine Art Selbstbehauptungswille, der bis zur Sinnlosigkeit gesteigert ist.“ Diese These entkräftet Dinter (2010: 188), jedoch stützt sich seine Argumentation auf die Deutung der Szene als „Schlacht en miniature“ und nicht auf die unscharfe Grenze; Hunink (1992: 232, ad 612) nimmt das Motiv vor dem Hintergrund epischer Topoi in den Blick: „Here the poet concentrates upon the entire hand rather than the fingers. More strikingly, it is seen to be stiffening instead of moving, which represents a clear innovation of the motif.“ Zur ‚diachron-konsekutiven Sequenzierung‘ vgl. Fondermann 2008: 58.

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abgetrennten Hand kurzzeitig zu ‚erstarren‘. Der Erzähler bringt das Motiv der Erstarrung also sowohl auf Ebene der fabula als auch auf der der story eindrücklich zum Ausdruck.170 (b) Die kontrastive Gestaltung der Zeit, d.h. der abrupte Wechsel von Beund Entschleunigung des Erzähltempos, ist im weiteren Verlauf der Gewaltdarstellung durchgehend evident. Im Abschnitt Verwundung 2 (614–617) gehen der Schilderung des passiven Gewaltempfangens (GE[p]), die einen Vers umfasst (617), drei Verse voraus (614–616), die die Rückgewinnung der rechten Hand thematisieren. Wie bei der GT(z) (611–612) weist das GE(p) Zeitdeckung und somit eine kürzere Erzählzeit als die ‚Vorbereitung‘ der expliziten Verwundung auf. Auf diese Weise kommt die Übermacht der Feinde deutlich zum Ausdruck. Das Abhacken des linken Arms erscheint als überraschend müheloses, fast schon beiläufiges Unterfangen. Zudem ist manus Subjekt des Satzes, während cum toto lacerto als Adverbiale lediglich eine Zusatzinformation innerhalb des Satzes und somit syntaktisch untergeordnet ist.171 Der Kontrast zwischen umfangreicher Vorbereitung und verkürzt dargestellter Gewalthandlung findet sich in variierter Form schließlich beim Angriff wieder (622b–626). Die enorme Kraftanstrengung des Zwillings, die die „physiologischen Gesetze“172 des Körpers außer Kraft setzt, indem er sein Blut aktiv sammelt, um die Muskeln für seinen finalen Sprung (GT[z]) anzuspannen, weist Zeitdehnung auf (623b–625a). Zwar steht diese nicht in besonders scharfem Kontrast zur konkreten Angriffstat (625b–626), jedoch wird sie durch die elliptische Auslassung zwischen V. 626 und 627 klar konterkariert. Denn die Folge des übermenschlich wirkenden Kraftaufwands endet bemerkenswerterweise im ‚narrativen Nichts‘.173 170

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Zur Verwundung des Körpers während der Bewegung sowie zur kontrastiv geprägten narrativen Repräsentation (rechte und linke Hand) bemerkt Opelt (1957: 444): „Die Einzelszenen – Lucans eigentlichste Leistung – wandeln ein Motiv ab, das aus der Malerei oder der bildenden Kunst stammen könnte: das Motiv der durch den Tod jäh abgebrochenen und auf immer fixierten, unvollendeten Bewegung: […] Die Szene mit dem Tode des Zwillingsbruders bringt dieses Motiv sogar in zweifacher Abwandlung: den unvollendet bleibenden Griff nach dem feindlichen Schiff und nach der eigenen abgehauenen Hand. Man kann hier wohl von einer Vorliebe für nur eine Pose sprechen, so etwa, als ob ein Maler durchgängig die Haltung des Kontrapostes verwendet und auch dies in betonter Vorliebe für eine bestimmte Seite, also nur rechts oder nur links.“ Diese Verkehrung der Blickrichtung kann als weiteres Beispiel für Lucans narrative Technik der Pointenwende angesehen werden, vgl. Hübner 1975. Metger 1957: 61. Hunink (1992: 234) sieht im Hyperbaton hostilem […] puppem, das sich über die Verse 625 und 626 erstreckt, einen Verweis auf „the extreme effort of the fighter and the fall of the body“. Dies lässt sich jedoch unter dem Eindruck der elliptischen Auslassung und zusam-

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Hinsichtlich der narrativen Gestaltung der Zeit lässt sich schließlich zusammenfassend festhalten, dass weniger die „Heftigkeit des Leidens“ der „gesteigerte[n] Energie des Handelns“ gegenübersteht,174 sondern – in verkehrter Blickrichtung – die verkürzte Darstellung der Verwundung bzw. elliptisch ausgelassene Folge des Angriffs der vorausgehenden Zeitdehnung bei der ‚Vorbereitung‘. (3) Vergegenständlichung. Die zusammen mit dem Gewalterleiden sukzessive zunehmende Standhaftigkeit (crevit in adversis virtus, 614) ist für die Opferung (618–622a) wesentlich.175 Der Zwilling wirft sich pectore nudo (619) vor die Waffen bzw. Rüstung seines Bruders ( fraternaque […] arma tegens, 619–620) und hält die auf seine Gefährten gerichteten Geschosse ab. Das ‚hypallegische Verhältnis‘ zwischen Körper und fraterna arma wird von Leigh und Bartsch als konstitutives Merkmal der Opferhandlung hervorgehoben.176 Den Schild sieht Metger als „wesentlichen Berührungspunkt“ mit der Erzählung des Acilius.177 Diese Beobachtungen lassen sich durch eine weitere ergänzen, die mit der Groteske eng verwoben ist. Zur Erinnerung: Der groteske Körper […] löst sich synekdochisch in seine Einzelteile auf und wächst doch immer wieder über sich selbst hinaus, nimmt Tierform an oder verwandelt sich in Gegenstände.178

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men mit dem Hyperbaton toto […] sanguine (624–625) auch als Ausdruck für die fehlende Finalität der Figurenhandlung bzw. für den konfusen Aktionismus des Zwillings deuten. Opelt (1957: 445): „Der Heftigkeit des Leidens steht die gesteigerte Energie des Handelns gegenüber, die totale Selbstaufgabe der Kämpfer, die auch den Tod noch nutzbar machen wollen: sie verkörpert der schon öfter bemühte massaliotische Zwillingsbruder und der einzige römische Held des Gefechts, der geblendete Tyrrhenus.“ Vgl. Metger (1957: 60): „Wesentlich ist, dass der Held hier schon kampfunfähig ist und seine virtus nur noch im Widerstandleisten beweisen kann“; zur Ästhetisierung von Gewalt mittels Standhaftigkeitstopoi s. Rohmann 2006: 54–55. Leigh (1997: 250): „Roman heroes bear scars on their chests with great pride, but do not actively seek them, and wear body armour in order to avoid them. Lucan’s hero-twin pursues a hypallagous relationship with his brother, his pectus protecting the other’s armour, and the impression is of an excessive, an insane virtus“; Bartsch (1997: 24): „The underlying reversal that the figure enacts continues even when the syntax itself is normal, so that (for example) at the sea battle of Massilia, we find bodies protecting shields instead of vice versa (3.619–620) […]“; weniger differenziert dagegen Metger (1957: 61): „Die Verbindung mit dem Zwillingsmotiv klingt in den vs. 619/20 ganz schwach an. Sie wird nur noch zu einer besonderen Pointe ausgenutzt: Mit nackter Brust schützt er nicht den Körper seines Bruders, sondern dessen Waffen ( fraternaque arma tegens).“ Metger 1957: 60; vgl. Abschnitt 4.4.4.1. S. Anm. 167.

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Die Obstruktion der feindlichen Speere und Geschosse markiert eine Vergegenständlichung des patiens. Durch die Anmerkung des Erzählers, der Zwilling verfüge weder über Schild noch Waffen (iam clipeo telisque carens, 618), wird dem Leser nachdrücklich bewusst gemacht, dass der Körper selbst zum clipeus wird. Die Vergegenständlichung hat zur Folge, dass erstens die Verletzungsoffenheit des Körpers in den Hintergrund der Erzählung rückt und zweitens die Qualität der Standhaftigkeit eine enorme Steigerung aufweist – was wohlgemerkt mit der grotesk wirkenden Ausdehnung des Körpers im Erzählraum korrespondiert (s. Abschnitt 4.4.4.3). Auch der mit tum (622) eingeleitete Angriff lässt den Aspekt der Vergegenständlichung klar hervortreten. Der Körper wird zur Waffe (vgl. Abschnitt 4.4.4.2 zur Gewaltkonstellation des Angriffs). Die Akzentuierung der ‚mechanisch‘ wirkenden Prozesse im Körperinneren, die über das Menschenmögliche hinausgehen (622–625), zielt – mit Metgers Worten – auf die „vom Willen beherrschte Körpermasse“ ab.179 So wird eine illusionsstörende Wirkung generiert, die die Wahrnehmung des Protagonisten als Mensch stark beeinträchtigt. Der Erzähler präsentiert eine Innenperspektive, die weniger eine Beteiligung an der emotionalen Verfassung des Zwillings ermöglicht, als vielmehr von einer körperlichen ‚Dinghaftigkeit‘ geprägt ist, wie sie in V. 615 mit der befremdlich wirkenden Bezeichnung truncus bereits angedeutet ist (s. o. und Abschnitt 4.4.4.2).180 Die Vergegenständlichung des Körpers zur Waffe findet ihren Höhepunkt im Sprung auf das feindliche Deck. Allein mit seinem Körpergewicht (solo pondere, 626) beabsichtigt der geschwächte Zwilling Schaden herbeizuführen und übernimmt so die Funktion eines telum, das in gleicher Weise im Fallen durch sein Gewicht Wunden schlägt, wie zuvor in der ersten kollektiven Massenkampfszene (566–582) geschildert: et quodcumque cadit frustrato pondere ferrum | exceptum mediis invenit vulnus in undis (581–582). Zusammenfassend lässt sich festhalten: In Anknüpfung an bestehende Forschungsbeiträge wurde in der oben angestellten Analyse des Körpers und der Verwundung herausgearbeitet, dass das Motiv der Zerstückelung auf lexikalischer Ebene noch differenzierter aufgefächert werden kann. Anhand des Analysekriteriums der Groteske lässt sich insbesondere der Fokus auf die abgehackte rechte Hand näher beschreiben. Wie aus der weiteren Untersuchung hervorging, steht das Motiv der Erstarrung auf Ebene der fabula in einem 179

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Metger 1957: 62; bemerkenswert ist zudem der Kontrast zur Catus-Partie (538–591). Hier verfügt umgekehrt das Blut (sanguis) über einen Willen (et stetit incertus, flueret quo vulnere, sanguis, 689). Metger (1957: 62) legt den Fokus weniger auf die Metamorphose des Zwillings in Schild und Waffe, sondern richtet den Blick stärker auf den Verlust des Mensch-Seins.

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bemerkenswerten Entsprechungsverhältnis zur story der Szene: Der Gebrauch ‚retardierend‘ wirkender Verben (haerere, derigere, tenere) korrespondiert mit Zeitdehnung. In diesem Kontext wurden konstitutive Merkmale von ‚Gewaltzeit‘ herausgearbeitet. Die Darstellung der zweiten Verwundung und des Angriffs ist ebenfalls wesentlich von einer kontrastiven Zeitstruktur geprägt. Schließlich konnte ein zweiter Bezugspunkt zur Groteske aufgezeigt werden, der bisher weniger in den Fokus gerückt wurde: die Vergegenständlichung des Körpers. So ist der Körper des Protagonisten – beginnend mit der Opferung (618–622b) – mit eben jenen Kampfgeräten zu identifizieren, die ihm selbst nicht zur Verfügung stehen: Schild und Waffen. Damit geht die Darstellung über die Interpretation Hendersons hinaus, der hinsichtlich der Gewaltszenen im Bellum Civile bemerkt: „Although a weapon is an extension of the human body […] it is instead the human body that becomes in this vocabulary an extension of the weapon.“181 4.4.4.5 Ästhetik der Abwesenheit „(All) War is ‚civil‘ – it always already has been ‚civil‘, has been figuring and disfiguring of civilization as an absurd process of unmaking.“182 In Anknüpfung an Hendersons Ansatz, der die dekonstruktiven Befindlichkeiten des Bellum Civile in den Fokus rückt, soll der Versuch unternommen werden, die individuelle Opferungsszene unter dem Aspekt tension und Unmaking näher zu beleuchten. Dies lässt sich insbesondere anhand einer Ästhetik der Abwesenheit beschreibbar machen. Die Analyse von Erzählraum sowie Körper und Verwundung hat gezeigt, dass die Partie von Kontrast geprägt ist. Hinsichtlich des Erzählraums seien etwa noch einmal die binären Oppositionspaare Schiff – Meer, Schiff der Massilier – Schiff der Römer und die damit korrespondierenden semantischen Gegensätze Bruder und Gefährten – Feinde sowie zugleich Leben – Tod genannt, hinsichtlich Körper und Verwundung Rumpf – Glieder, rechts – links und Verteidigung – Angriff. Auch die narrative Gestaltung der Zeit wechselt in variierender Form zwischen Zeitdehnung und -raffung. Am deutlichsten tritt der dichotomische Charakter der Szene jedoch auf figuraler Ebene im Vorszenenelement (603– 608) hervor: Stant gemini fratres, fecundae gloria matris, quos eadem variis genuerunt viscera fatis:

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Henderson 2010: 464. Henderson 2010: 437.

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discrevit mors saeva viros, unumque relictum agnorunt miseri sublato errore parentes, aeternis causam lacrimis; tenet ille dolorem semper et amissum fratrem lugentibus offert.

Die beiden Zwillingsbrüder wurden zwar vom selben Mutterleib geboren (eadem viscera), jedoch unter verschiedenen Vorzeichen (variis fatis). Der Kontrast wird durch die ‚tödliche Unterscheidung‘ (discrevit mors saeva viros) in unumque relictum und amissum fratrem deutlich verschärft – insbesondere vor dem Hintergrund, dass sogar ihre Eltern sich durch das gleiche Aussehen der beiden täuschen ließen (errore). Der lebende Zwilling führt seinen Eltern das Ebenbild seines amissus frater vor Augen (lugentibus offert). Die Eltern sehen wortwörtlich in dem lebenden Zwilling das Ebenbild ihres verstorbenen Sohnes. Damit wird die Aufmerksamkeit des Lesers vom lebenden auf den toten Zwilling gelenkt. Was sich also beobachten lässt, ist eine deutliche Akzentuierung dessen, was nicht mehr ‚da‘ ist, die Andeutung einer ‚Leerstelle‘. Die Figur des lebenden Zwillings wird in ihrem eigenständigen Status gewissermaßen negiert und ist durch den Widerschein des toten Bruders als Sinnbild für eine Ästhetik der Abwesenheit zu deuten.183 Aus dieser Perspektive lässt sich diese Figur als ‚Verkörperung‘ einerseits des Unmaking, andererseits aber auch der concordia discors, dem paradoxen Narrativ des Bellum Civile, identifizieren.184 Die Akzentuierung des Abwesenden ist nicht lediglich als einfache Negation des ‚Anwesenden‘ aufzufassen, sondern es lässt sich darüber hinaus eine gleichzeitige Negation dieser Negation konstatieren. So wird der Fokus des Lesers zwar erst vom lebenden auf den getöteten Zwilling gelenkt, jedoch ist es entgegen der Lesererwartung nicht der getötete Bruder, der die Trauer der Eltern verursacht, sondern paradoxerweise der lebende (aeternis causam lacrimis; tenet ille dolorem | semper et amissum fratrem lugentibus offert).185 Die Partie ist durch diese dekonstruktive Disposition deutlich präfiguriert.

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Der Begriff ‚Ästhetik der Abwesenheit‘ geht somit konkret von dem Ausdruck αἴσθησις aus, der die sinnliche Wahrnehmung beschreibt. Zur Ästhetik der Abwesenheit als Denkfigur im Kontext der Dekonstruktion vgl. Kamper 1999: 101–108. Zum narrativen Prinzip der concordia discors in Lucans Bürgerkriegsepos vgl. insbesondere Masters (1992: 35): „The language of civil-war literature recommends ceaselessly the paradox of unified disunity or disunified unity – concordia discors […].“ Bezüglich Masters’ grundlegender Theorie der ‚fractured voice‘ (1992: 90): „It is, therefore, mimicry of civil war, of divided unity, concordia discors, that has produced this split in the authorial, dominating, legitimising persona, this one poet many poets, this schizophrenia, the fractured voice.“ Auf diese Pointenwende weist bereits Metger (1957: 51–52) hin. Allerdings betrachtet er

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Im Folgenden soll nachgewiesen werden, dass die Ästhetik der Abwesenheit als narratives Schema für die gesamte individuelle Opferszene anzusehen ist. Wie sich zeigen wird, resultiert daraus, dass für den Leser die Selbstreferentialität und damit der „Erscheinungscharakter“ der Erzählung in den Vordergrund rückt.186 Zudem weist die Ästhetik der Abwesenheit deutliche Parallelen zu Wolfgang Isers Wirkungsästhetik auf. Dies soll an den Aspekten (1) Emotionalität, (2) Anonymität, (3) Aristie und (4) hypothetische Erzählung aufgezeigt werden. (1) Im Hinblick auf das Vorszenenelement (603–608) wurde bereits auf intertextuelle Bezüge zu Vergils Aeneis hingewiesen (Abschnitt 4.4.4.1, s. auch Anm. 120 auf S. 199). Insbesondere Metgers Beobachtungen haben die nachfolgenden Forschungsbeiträge geprägt: Die ganze Gefühlsbetontheit und die daraus entstehende Tragik, wie sie Vergil darstellte, ersetzt er [Lucan] durch eine strenge, auf rhetorische Wirkung abzielende Antithese (eadem viscera – variis fatis). […] Vergil erweckt Ergriffenheit, Lucan Erschaudern. Letzterer sieht auch nicht die Tragik des ganzen Kriegsgeschehens, er sieht nur Vernichtung.187 Durch die stark kontrastierende Gegenüberstellung der beiden Texte entsteht der Eindruck, dass Lucans Vorszenenelement weder emotionale noch tragische Elemente inhärent sind. Dieser wird mit Blick auf den Umstand, dass die Eltern nach dem Tod ihren übriggebliebenen Sohn erkennen (unumque relictum | agnorunt miseri sublato errore parentes, 605–606), sogar noch weiter forciert: Metger ist der Auffassung, dass in diesen Versen eine zynische Tendenz erkennbar sei, die die Gefühlslage der Eltern konterkariere: Hatte Vergil das menschliche Empfinden nachzuzeichnen versucht, stellt Lucan nach dem Tode des einen Zwillings mit fast zynischer Offenheit fest, dass jetzt nicht mehr die Möglichkeit eines Irrtums besteht.188

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den Aspekt lediglich unter der Perspektive der Intertextualität und führt ihn nicht weiter aus: „Vergil erwähnte den Schmerz nicht, Lucan stellt ihn mit aller Deutlichkeit und dazu noch in pointierter Form heraus. Der Überlebende (!) bildet für die Eltern den ‚Grund ewiger Tränen‘. […] Die Eltern erkennen den Verlust an dem Übriggebliebenen. Er macht ihnen durch seine Erscheinung den Verlust des Bruders deutlich“; Hunink (1992: 230) hebt die bemerkenswerte Pointe nicht ganz so deutlich hervor: „the grief of the parents is kept alive by the close likeness of the remaining son to his fallen brother.“ Bohrer 1998a: 289. Metger 1957: 51; vgl. Leigh 1997: 252–253. Metger 1957: 51.

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Hunink spricht sogar von einem „kranken Witz“, den sich Lucan hier erlaube: Lucan develops it [the notion of ‚difference‘] into a sick joke: as soon as one of the twins is killed, their parents can at least no longer be in doubt as to their identity. The subtle, Vergilian gratus … error has been brutally removed.189 Gegen diese Wertungen lässt sich folgendes Argument anführen: Das ‚Erkennen‘ des lebenden Sohnes markiert nicht so sehr einen zynischen Erzähler, sondern lässt den Leser das gleiche Aussehen der beiden Brüder überhaupt erst realisieren. Auf diese Weise wird der Rezipient auf die Ästhetik der Abwesenheit ‚vorbereitet‘, die erst durch eine klare Differenzierung zwischen dem übriggebliebenen (relictum) und verlorenen Zwilling (amissum fratrem) möglich ist. Das Erkennen und die Emotionen der Eltern stehen also in einem korrespondierenden Verhältnis zueinander. Deren Trauer und der Schmerz kommen in den Versen 603–608 klar zum Ausdruck. Die wertenden Attribute saeva (605) und miseri (606) deuten auf eine implizite Fokalisierung durch die Figuren der Eltern hin, d.h. dem Leser wird das Schicksal des grausamen Todes durch deren Perspektive näher gebracht. Die Ausdrücke aeternis lacrimis (607), dolorem (607) und lugentibus (608) bringen die Emotionalität und Tragik der Erzählung explizit zum Ausdruck. Das Pathos ist dadurch klar gesteigert.190 Hinzu kommt, dass das literarische Motiv der Zwillinge nicht nur ein Element des Epos und der griechisch-römischen Mythologie darstellt,191 sondern auch der römischen Komödie. Insbesondere Plautus’ Menaechmi weist Parallelen zum vorliegenden Text auf. So handelt es sich bei den Protagonisten um einen zurückgebliebenen (illum reliquit alterum apud matrem domi, Men. prol. 28) und einen verlorenen Sohn (pater eius autem postquam puerum perdidit, Men. prol. 34), der Plot selbst basiert auf zahlreichen Verwechslungen, die erst am Ende des Werks aufgelöst werden. Das Zwillingsmotiv als Element der römischen Komödie kann als Kontrastfolie interpretiert werden, vor der Lucans Darstellung noch tragischer erscheint. Diese gesteigerte Emotionalität und Tragik steht allerdings in scharfem Kontrast zur anschließenden Schilderung der Gewalt (609–626).192 Bartsch spricht

189 190 191 192

Hunink 1992: 230, ad 605. Vgl. Hunink 1992: 229–230. Vgl. Rathmayr 2000. Metger (1957: 50) sieht die beiden Abschnitte sogar als voneinander isoliert an: „Dieser Kampf bildet eine geschlossene Einheit und ist von dem Zwillingsmotiv temporal und

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der narrativen Repräsentation der Verwundung aufgrund ihres grotesken Charakters jegliche tragische Wirkung ab. Sie bezeichnet das Schicksal des sterbenden Zwillings gar als „Monty-Pythonesque“ und auch Leigh konstatiert „a chilling of the reader’s emotional relationship to the victims“.193 In der Tat erleidet der Zwilling seine Wunden mit bemerkenswerter Emotionslosigkeit. Wie weiter oben ausgeführt, wird er zudem auf seine Körperlichkeit reduziert und am Ende präsentiert der Erzähler ihn als zu Schild und Waffe verdinglichter Materie (s. Abschnitt 4.4.4.4). Gerade diese offensichtliche Negierung der Tragik, die während des Vorszenenelements zum Ausdruck kommt, lässt den Leser die Akzentuierung des nicht (mehr) Vorhandenen bzw. des Abwesenden in besonderer Deutlichkeit wahrnehmen. Der dargestellten Emotionslosigkeit der Gewaltdarstellung ist der ‚Widerschein‘ der Emotionalität inhärent. Gemäß dem narrativen Schema, das der relictus frater als Sinnbild für eine Ästhetik der Abwesenheit zu Beginn der Partie vorgibt, wird jedoch auch diese Negierung der Emotionalität wiederum negiert. So weist der Erzähler explizit auf das Anwachsen edlen Zorns hin (plus nobilis irae | truncus habet, 614). Allerdings wird der Zorn nicht dem sterbenden Zwilling selbst zugeschrieben, sondern seinem truncus (615). Der so zunehmende Identitätsverlust der Figur bzw. überhaupt der bereits von Metger bemerkte Verlust des „Mensch-Seins“ (s. Anm. 180 auf S. 221) lässt keine Identifikation des Lesers mit ihr zu, sodass die Beschreibung dieser Emotion eine für den Leser befremdliche Wirkung erzeugt (vgl. Abschnitt 4.4.4.4).194 Durch das stete Oszillieren zwischen gesteigerter und geminderter Emotionalität bzw. Tragik aktualisiert der Rezipient den narrativen Status der gesamten Szene immer wieder aufs Neue. Der autoreferentielle Charakter der Erzählung steht damit in engem Verhältnis mit der Ästhetik der Abwesenheit. (2) Ein weiterer Aspekt, der mit der Emotionalität der Szene in Verbindung gebracht wurde und zugleich als ein wesentliches Merkmal einer Ästhetik der Abwesenheit anzusehen ist, ist der der Anonymität.195 Dass es sich bei den massilischen Zwillingen um namenlose Protagonisten handelt, wird umso deutlicher in das Bewusstsein des Lesers gerückt, als dies zum ersten Mal bei den

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local völlig isoliert. Die sachlichen Verbindungpunkte, die zwischen beiden Teilen bestehen, geben der Aristie des einen Bruders keine besondere Färbung.“ Bartsch (1997: 37): „Its grotesqueries may provide us with a frisson of horror, but there is no emotion provoked: no Dido, no Euryalus, only the human body as a bundle of reactions. Recall, for example, the Monty-Pythonesque fate of the Massilian who has one hand chopped off while grasping an enemy ship“; Leigh 1997: 252. Vgl. Leigh (1997: 254): „The action of the Massilia sea battle is more bizarre than heroic, and it is natural to react to the bizarre with amazement and not sympathy.“ Metger 1957: 50–51; Leigh 1997: 252; vgl. Anm. 135 auf S. 202 u. 142 auf S. 204.

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individuellen Sterbeszenen der Fall ist und so als klare Differenz zu den Partien Catus’, Telos und Gyareus’ hervortritt. Davins These, die beiden Zwillinge seien mit den zuvor getöteten Figuren Telo und Gyareus zu identifizieren, wurde bereits früh von Opelt widerlegt.196 Davins Überlegungen, die beiden Brüder seien um 75 v. Chr. geboren und stammten ursprünglich aus Toulon, wie der Name Telo nahelege, erweisen sich als völlig haltlos.197 Eine weitere Interpretation, auf die lediglich verwiesen, jedoch nicht weiter eingegangen werden soll, bietet Gorman. Sie stellt den Aspekt der Namenlosigkeit in einen moralischen Kontext: „He [Lucan] manipulates the technique of naming in order to make a moral point.“198 Ihre Bemerkungen zur Dekonstruktion der Aristie innerhalb der vorliegenden Szene werden an späterer Stelle aufgegriffen. Insbesondere Jolivets Beobachtungen lassen jedoch gemeinsame Schnittpunkte mit dem narrativen Schema der Ästhetik der Abwesenheit erkennen. Mit Blick auf die angedeutete Figur des Kallimachos in Aelius Aristides’ Panathenaikos (Pan. 88) konstatiert er: „No doubt Lucan’s twins are purely fictional, but the fact that he confers anonymity upon them probably follows earlier examples of learned paralipsis.“199 Die Paralipse, das rhetorische Mittel der gezielten und bewussten Auslassung, korrespondiert mit der Ästhetik der Abwesenheit. Die Negierung eines Namens und damit verbunden einer für den Leser nachvollziehbaren Identität der Figur markiert eine deutliche Akzentuierung einer Leerstelle. Nicht nur der Umstand, dass zuvor Catus, Telo und Gyareus explizit mit Namen genannt werden – also Figuren, deren Darstellung weit weniger Raum einnimmt als die des massilischen Zwillings – hebt diese Negierung bzw. Leerstelle in das Bewusstsein des Lesers, sondern auch die prominenten Hypotexte, die in Lucans Erzählung einer kommentarlosen Transformation unterliegen (Larides und Thymber, Acilius, Cynaegirus). Doch auch diese Negierung ist wiederum durch die narrative Struktur des Textes negiert. Denn im wirkungsästhetischen Prozess der Lektüre wird diese Leerstelle vom (impliziten) Leser partiell aufgefüllt bzw. realisiert.200 Insbeson196 197

198 199 200

Opelt 1957: 440. Davin 1952: 75–76; vgl. Hunink (1992: 229, Anm. 3): „DAVIN 1952, 75–76 has argued that these twins are none other than Telo and Gyareus, with Telo as the active twin brother in 603–634, apparently after surviving his fatal injuries of 598–599. Such fantasies are completely unfounded“. Gorman 2001: 272. Jolivet 2013: 158. Vgl Jolivet (2013: 156): „The story of Cynaegirus is far too famous for Lucan’s readers to miss the similarity between the two heroic deeds. […] The use of the topos in a Greek context, the Massilian fleet, cannot help but stir memories of the glorious Marathonomachoi.“

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dere die Erzählung des Acilius, die Suet. Iul. 68.9 und Val. Max. 3.2.22 überliefern, ist hierbei von zentraler Bedeutung für die Lektüre der Zwillingspartie. Wie bereits in Abschnitt 4.4.4.1 erläutert, springt Acilius nach Verlust seiner Rechten auf das feindliche Deck, treibt seine Gegner vor sich her und versenkt das Schiff schließlich im Meer. Die finale Aktion des Römers, das Versenken des Schiffs, ist dem vorliegenden Text der individuellen Opferszene im Gegensatz zur Vorlage nicht explizit zu entnehmen. Zugleich hat die Analyse des Körpers und der Verwundung ergeben, dass zwischen V. 626 und 627 eine elliptische Auslassung vorliegt, an die der Untergang des römischen Schiffs anschließt, verursacht durch Stöße und Hiebe in die seitlichen Planken (per obliquum crebros latus accipit ictus, 628). Während beispielsweise Metger, Fuhrmann und Hunink darauf hinweisen, dass dem Text nicht explizit zu entnehmen ist, dass der Untergang des Schiffs das Verdienst des Zwillings sei,201 sieht ein Großteil der Forschungsbeiträge gerade den Zwilling als Hauptursache. Hierzu zählen die Untersuchungen von Opelt, Rowland, Sklenář, Gorman und Zimmermann.202 Die Aktivierung des außertextlichen Wissens, d. h. der implizite Verweis auf den Hypotext des Acilius kann als textimmanente Strategie gedeutet werden, die zur Folge hat, dass der Leser die Leerstelle zwischen V. 626 und 627 gemäß der literarischen Tradition realisiert. Die finale Aktion des Acilius wird somit auf die des massilischen Zwillings projiziert. Zugespitzt formuliert: Aus der Negierung eines Namens bzw. einer Identität resultiert, dass diese Negierung ihrerseits negiert und die Figur des massilischen Zwillings mit der des Acilius implizit identifiziert bzw. realisiert wird. (3) Der Aspekt der Anonymität steht in enger Verbindung zu dem der Aristie, wie Gormans Untersuchung belegt.203 Da in der literarischen Tradition der kleos von einem stark persönlichen Bezug zum epischen Pro- und Antagonisten

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203

Ebenda verweist Jolivet zudem auf die literarische Vorlage als Motiv in den Bildenden Künsten: Nep. Milt. 6.3; Plin. nat. 35–57. Metger 1957: 62; Fuhrmann 1968: 54, Anm. 84; Hunink 1992: 235, Anm. 2. Opelt (1957: 440): „Der namenlose Massaliote bringt unter Aufopferung seines Lebens das römische Schiff zum Kentern“; Rowland (1969: 207): „[…] then, on the point of death, he leapt over to the ship, causing it to sink (603–634)“; Gorman (2001: 272): „[…] one hand and the other arm are hacked off and his chest is riddled with spears before he leaps onto the enemy ship and sinks it with his body weight (3.603–634)“; Sklenář (2003: 21): „[…] but with a dying burst of strength, he leaps onto a Roman ship and sinks it.“ Jedoch relativiert Sklenář seine Beobachtung einige Sätze später: „The Greek’s last valorous gesture is an exercise in irrelevance, since the ship would have sunk anyway“; Zimmermann (2013: 354) sieht den Zwilling sogar als Ausführenden der Schläge (ictus), aufgrund derer das Innere mit Wasser vollläuft: „Schließlich stürzt er sich mit ganzem Körper auf das gegnerische Schiff, durchbricht die Planken und versenkt das Boot (3, 610–630).“ Gorman 2001.

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geprägt ist, stellt auch die Nennung des Namens ein grundlegendes Merkmal der Aristie dar. „Because epic kleos is strictly personal,“ so Gorman, „the naming of the conquered foes is one of the most important features of the aristeia.“204 Hieran schließt die Beobachtung, dass die durch das konventionelle Epos vorgeprägten Erwartungen an eine Aristie in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie etwa bei der Schlacht von Pharsalus: „At Lucan’s Pharsalus, no virtue is proven, no glory won, because, generally speaking, Lucan refuses to name names (7.552–555).“205 Der Abschnitt zur Forschungsgeschichte (4.4.4.1) hat bereits gezeigt, dass die Auffassung der Zwillingsszene als Aristie häufig eine Grundannahme darstellt, die lediglich von Metger, Gorman und Sklenář explizit hinterfragt wird. Diese nehmen insbesondere die Aspekte ‚Standhaftigkeit‘ und ‚Anonymität‘ in den Blick. Im Kontext des narrativen Schemas, das in der vorliegenden Arbeit als Ästhetik der Abwesenheit identifiziert wurde, soll das Spektrum der AristieElemente ausgeweitet werden, um aufzuzeigen, wie die Erzählung als negierte Negation einer Aristie dekonstruiert wird. Die Analyse stützt sich dabei auf Krischers Beitrag zu formalen Konventionen der homerischen Epik, in der er Gleichnistypen für folgende formale Merkmale einer Aristie definiert: ‚Glanz der Waffen‘, ‚Auszug zum Kampf‘, ‚Ansturm des Helden‘, ‚Flucht und Verfolgung‘, ‚Der Sieger und sein Opfer‘, ‚Unentschiedener Kampf‘, ‚Standhalten‘, ‚Zurückweichen‘ sowie schließlich ‚Der Krieger fällt‘.206 Die individuelle Opferszene lässt deutliche Bezugnahmen zu den epischen Konventionen (a) ‚Auszug zum Kampf‘, (b) ‚Ansturm des Helden‘, (c) ‚Unentschiedener Kampf‘, (d) ‚Standhalten‘, (e) ‚Zurückweichen‘ und (f) ‚Der Krieger fällt‘ erkennen, die ihrerseits in unterschiedlicher Weise negiert werden. (a) Der ‚Auszug zum Kampf‘, so Krischer, ist bei Homer prinzipiell zwischen den Phasen der Rüstung und dem Kampfbeginn angesiedelt, während er bei der Darstellung eines individuellen Helden entweder zu Beginn der Partie geschildert wird oder im zweiten Teil der Aristie, nach Wiederherstellung der Kraft durch eine Gottheit.207 Der Auszug ist insbesondere durch das stolze Einherschreiten des Helden charakterisiert, das mit der Beschreibung einer Waffengeste, wie beispielsweise dem „Schwingen der Speere, Hochhalten des Schildes, Nicken des Helmes“ einhergeht, sowie der Reaktionen sei-

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Gorman 2001: 265; bes. 266: „the act of naming the participants – victim as well as victor – is integral to the poetic act of epic itself, […]“; vgl. Hom. Il. 16.284–785; Verg. Aen. 10.525– 592. Gorman 2001: 267. Krischer 1971: 36–75. Krischer 1971: 39.

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ner Gefährten und Widersacher, d.h. entweder Furcht oder Bewunderung und Freude.208 In Lucans Szene markiert allerdings stant einen Kontrast zur epischen Tradition. Das Stehen ist dem Text zwar nicht als explizite Negierung des Einherziehens zu entnehmen, in seiner pointierten Gegenüberstellung ruft es jedoch deutliche Assoziationen zu den gebräuchlichen Motiven hervor, die so die Funktion einer kontrastiven Hintergrundfolie für die Vorgänge der Szene einnehmen. Zum einen wird dies zusätzlich durch die akzentuierte Verserstposition unterstrichen, zum anderen hebt sich der Beginn der Partie auch von den vorigen individuellen Sterbeszenen der Seeschlacht ab, deren Protagonisten eine gewisse Mobilität oder zumindest eine hohe Bewegungsdynamik erkennen lassen (s. Abschnitt 4.4.4.3), sodass die Besonderheit der ‚statischen Aktion‘ dem Leser in das Bewusstsein gehoben wird. Die für eine Aristie typische Beschreibung der Waffengestik bzw. eine negative Bezugnahme auf diese ist den Anfangsversen nicht entnehmbar, allerdings verweist der Erzähler auf den Gebrauch von clipeus und telum an späterer Stelle im Kontext der Obstruktion, und das bezeichnenderweise erst, als diese dem Zwilling nicht mehr zur Verfügung stehen. Konkrete Reaktionen anderer Figuren auf den Auftritt der Zwillinge werden zwar nicht explizit genannt, jedoch erwähnt der Erzähler den Ruhm (gloria, 603), den die Brüder ihrer Mutter bringen, sodass er dem Leser eine schemenhafte Andeutung dieses Motivs vor Augen führt, die ihn auf die vermeintliche Aristie atmosphärisch vorbereitet.209 (b) Auf den ‚Auszug zum Kampf‘ folgt der ‚Ansturm des Helden‘, eines der prominentesten Merkmale einer Aristie.210 Während bei Homer der Angriff des Helden häufig mit der zerstörerischen Wirkung von Naturgewalten verglichen wird,211 enden bei Lucan die ersten Angriffe des Zwillings vorzeitig, sodass er zunächst nicht einmal über die Reling des feindlichen Schiffes hinauskommt. Die kontrastive Zeitstruktur der Szene, d. h. der rasche Wechsel zwischen umfangreicher Vorbereitung der Offensivaktion und gerafft dargestellter Gewalthandlung (s. Abschnitt 4.4.4.4), brechen deutlich mit der Erwartung an eine epische Aristie. Hinzu kommt die übersteigerte Verletzungsoffenheit des patiens, die Leichtigkeit der ersten beiden Verwundungen, die dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass fast schon beiläufig der ganze Arm mitsamt der Hand abgetrennt wird (s.o.). Die Wirkung des finalen Angriffs auf das römische Schiff scheint schließlich in der Ellipse zwischen V. 626 und 627 zu ‚verpuffen‘. 208 209 210 211

Krischer (1971: 40–41) verweist hierbei auf die Aristien in Hom. Il. 7.208; 7.213–215; 12.299; 13.298; 20.164. Zum Gegensatz von gloria bei Lucan und gratus bei Vergil s. Metger 1957: 52. Krischer 1971: 49. Vgl. Hom. Il. 5.87; 11.155; 20.490.

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Dies wird nicht nur auf narrativer Ebene zum Ausdruck gebracht, sondern trifft auch auf Ebene der fabula zu: anstatt mit voller Kraft erfolgt die Sprungattacke des Zwillings defectis robore nervis (625). (c)/(d) Das Aristie-Merkmal ‚Unentschiedener Kampf‘ steht bei Lucan in enger Verbindung mit dem des ‚Standhaltens‘. In Homers Ilias lassen sich nur vereinzelt Darstellungen unentschiedener Zweikämpfe beobachten. Sie bilden die Ausnahme im Gegensatz zu Kampfschilderungen, in denen ganze Heere oder zumindest größere Gruppen um den Sieg ringen. Insbesondere die Merkmale ‚Lärm‘, ‚aufgewirbelter Staub‘ oder die ‚Masse der abgeschossenen Pfeile und Speere‘ werden hierbei in ein eindrückliches Bild gefasst.212 Die individuelle Opferszene der massilischen Seeschlacht nimmt insofern negativ auf die literarische Tradition Bezug, als ein Einzelkämpfer sich gegen die Übermacht einer feindlichen Schiffsmannschaft stellt. Es handelt sich also weder um einen reinen Zweikampf noch um einen reinen Massenkampf. Letztendlich geht kein eindeutiger Sieger aus dem Kampf hervor. Dem Erfolg der Römer, der darin besteht, die Offensivaktionen des Zwillings abzuwehren (609–617), steht der Erfolg des Zwillings gegenüber, der seinen Bruder und viele seiner Gefährten vor dem Tod durch römische tela bewahrt (618–622a). Das Motiv der zahllosen Geschosse, das bei Homer häufig als Sinnbild für den unentschiedenen Kampf gebraucht wird, wird in Lucans Szene anhand der Obstruktion aufgegriffen: telaque multorum leto casura suorum | […] tenet (621– 622). Der Erfolg des Zwillings besteht darin, standhaft alle Geschosse selbst aufzufangen, indem er in grotesker Weise über die Leistungsfähigkeit eines Menschen hinausgeht und sich – wohlgemerkt ohne den Beistand irgendeiner Gottheit – in der Phase des Sterbens bewährt (emerita iam morte, 622).213 Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass die Obstruktion der Geschosse mit der Destruktion seines Körpers einhergeht. Das Phänomen der Gleichzeitigkeit, die der Opferung inhärent ist – Erfolg und Misserfolg, Sieg und Niederlage, Leben und Tod – kann als symptomatisch für den dekonstruktiven Charakter der Szene angesehen werden.214 212 213

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Krischer 1971: 61; vgl. Hom. Il. 8.394; 12.108f.; 12.156; 12.278–286; 16.633; 17.737. Vgl. Metger 1957: 59–61; bes. 63: „Hier geht es um die Handlung und nicht um eine von Erfolg gekrönte Handlung. In diesem Sinn erfährt die virtus bei Lucan eine positive Beurteilung, während sie sonst in Verbindung mit einer Angriffsaktion als ‚crimen‘ hingestellt wird. […] Ein Erfolg ist es, den Tod zu verzögern und ihm damit die uneingeschränkte Herrschaft streitig zu machen. Letztlich ist also diese Aristie eine Agonie […].“ Zur Ambivalenz von Sieg und Niederlage im Bellum Civile s. Henderson (2010: 459): „When Victim is Victor, when the differences constructed and confirmed by war have shrunk toward zero, when there is only one side … You have, you find, no way to tell the story. This is not what narrative can narrate. Such is the ‚Caesar-Epos‘ of Lucan.“

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(e) Zudem wird die Aufmerksamkeit des Lesers explizit auf den Aspekt des ‚Zurückweichens‘ gelenkt. In der Tradition der epischen Aristie erblickt meist ein ausgewählter Kämpfer bzw. ein Promachos seinen Gegner und weicht ob dessen Überlegenheit zurück. Häufig steht diese Rückwärtsbewegung auch bei Homer im Wechselspiel mit anderen Elementen wie beispielsweise ‚Verfolgung‘.215 Der Erzähler in Lucans Bürgerkriegsepos weist explizit darauf hin, dass der Zwilling trotz der abgehackten Gliedmaßen sich nicht im Inneren seines Schiffes verbirgt, sondern mit entblößter Brust der zerstörerischen Übermacht der Feinde entgegenstellt. Die Negierung bezieht sich in diesem Fall nicht auf die Qualität der Figur als Held, sondern auf den Akt des Zurückweichens, der dem Leser als alternative Handlung zur textual actual world vor Augen geführt wird. Durch die scharfe Antithese non conditus ima | puppe sed expositus (618–619) wird seine Bewährung im Widerstand nachdrücklich hervorgehoben (s.u. ‚hypothetische Erzählung‘): Die grundlegende Änderung aber ist die, dass sich bei Lucan die virtus nicht im Angriff, sondern im Widerstand erprobt, und zwar im Aushalten und Sich-Bewähren angesichts einer von der Gegenseite drohenden Vernichtung.216 Eine weitere Akzentuierung seiner virtus lässt sich zudem an emerita iam morte (622) beobachten. Obwohl der Zwilling sich um seinen ehrbaren Tod bereits verdient gemacht hat, weicht er nicht zurück. Stattdessen fängt er die herabfallenden Geschosse mit seinem Körper auf. Die Negierung dieses für einen epischen Helden wünschenswerten Todes im Kampf unterstreicht die außerordentliche Qualität als Helden zusätzlich (s.u.).217 (f) Als letztes Charakteristikum einer Aristie führt Krischer den ‚Fall eines Kriegers‘ an. Dieses Motiv beschreibt konkret den Sturz oder das Herabsinken eines getöteten Gegners, insbesondere in der Art eines gefällten Baumes, eines geopferten Stiers oder wie durch den tödlichen Biss eines Löwen.218 Das Motiv des Fallens wird auch von Lucan aufgegriffen. Der Zwilling fällt auf das gegnerische Schiff. Allerdings wird hier episches Material gebraucht, um es in seiner ursprünglichen Form zu negieren.219 Denn nicht irgendein Krieger, son-

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Krischer 1971: 69–71; vgl. Hom. Il. 3.33; 5.597; 15.586. Metger 1957: 62. Zur wünschenswerten Erlangung des ehrbaren Todes vgl. Aeneas’ verzweifelte Rede in Verg. Aen. 1.94–101. Krischer 1971: 72; vgl. beispielsweise Hom. Il 4.482; 13.178; 13.389; 17.53; 17.61; 20.403. Vgl. Henderson (2010: 459): „The obsessive practice of ‚negative enumeration‘, ‚Negati-

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dern der Protagonist, d.h. der vermeintliche Held selbst fällt und verliert in der Folge sein Leben. Doch auch diese Negierung wird ihrerseits wieder negiert. Denn der Zwilling erhält seinen Status als ‚angedeuteter‘ Held aufrecht. Wie bereits aufgezeigt, übernimmt sein Körper letztlich die Funktion eines telum, das mit dem Ziel des Verletzens und Schadens herab fällt (Abschnitt 4.4.4.4). Er bringt seinen Feinden also den Tod im eigenen Tode – ein Motiv, das im Bellum Civile häufig nachgewiesen wurde.220 Schließlich bleibt jedoch festzuhalten, dass auch dieses Motiv nicht beständig ist. Da das kausale Verhältnis zwischen dem Sprung des Massiliers und dem Versenken des Schiffes nicht explizit dargestellt ist – bedingt durch die Ellipse zwischen V. 626 und 627 – ist diese Annahme durch den Rezipienten selbst während der Lektüre zu realisieren. Zusammenfassung: Die Analyse der individuellen Opferszene unter dem Aspekt der Aristie hat ergeben, dass die Lesererwartungen, die durch das konventionelle Epos der griechischen und römischen Literatur vorgeprägt sind, gebrochen werden. Dies lässt sich über die Aspekte der Standhaftigkeit und Anonymität – die am intensivsten untersuchten Faktoren der Partie – hinaus anhand der negativen Verweise auf folgende Aristie-Merkmale nachweisen: ‚Auszug zum Kampf‘, ‚Ansturm des Helden‘, ‚Unentschiedener Kampf‘, ‚Standhalten‘, ‚Zurückweichen‘ und ‚Der Krieger fällt‘. Gemäß des im Vorszenenelement angedeuteten narrativen Schemas der Ästhetik der Abwesenheit werden diese Elemente vom Erzähler aufgegriffen und zugleich negiert, sodass keinesfalls von einer Aristie im traditionellen Sinne ausgegangen werden kann. Allerdings würde die Behauptung, es handle sich bei der vorliegenden Szene um eine Anti-Aristie, ebenfalls zu kurz greifen. Denn in den meisten Fällen lässt sich eine weitere Negierung der negierten Aristie-Merkmale herausarbeiten, die den Status der Szene in einen unscharfen, ephemeren ‚Schwebezustand‘ versetzt. Im Spannungsfeld zwischen der Aristie und Anti-Aristie lässt der Erzähler den Rezipienten bei der Lektüre unsicher zurück. Was bleibt, ist der andauernde Widerschein einer anderen Ordnung, eine beständige „Evokation der einzelnen Bezugssysteme, in symbolischer Verdichtung und in einem Kontaktieren des anscheinend Heterogensten“.221 Anhand der Ästhetik der

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onsantithesen‘, where the text mentions epic material only to repudiate its adequacy to re-present Bellum Civile, allows you to retain the measure of Lucan’s deformation of the tradition and wrests the narration away under the sign of negation to a world that beggars description […].“ Vgl. etwa Rutz 1960; s. auch die Untersuchungen der vorliegenden Arbeit zu Lucan. 2.193– 220 u. 4.591–660, wo der Zusammenhang zwischen Fallen und Töten ebenfalls expliziert wird. Zima 2001a: 217.

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Abwesenheit ist es möglich, die rhizomatische Struktur und Komplexität der Partie noch differenzierter zu beschreiben. (4) Die Negierung des relictum und der Widerschein des amissum sind nicht nur innerhalb der fiktiven Erzählwelt, sondern auch in der narrativen Repräsentation der Erzählung deutlich zu erkennen. Das Phänomen der hypothetischen Erzählung wurde in den vorigen Segmenten zu Körper und Aristie bereits angedeutet, ist jedoch für die Interpretation der individuellen Opferszene von solch elementarer Bedeutung, dass ausführlicher darauf eingegangen werden muss. Es ist bemerkenswert, dass die Merkmale der hypothetischen Erzählung nicht – wie etwa die negativen Bezugnahmen auf die konventionellen Merkmale der Aristie – über die Partie hinweg, sondern konzentriert im Abschnitt der Opferung (618–622a) festzustellen sind: iam clipeo telisque carens (618) – non conditus ima puppe (618–619) – pectore nudo (619) – tela leto casura (621) – emerita iam morte (622) Diese expliziten Anmerkungen machen den Leser auf einen möglichen, alternativen Handlungsverlauf aufmerksam: Der Zwilling hätte sich beispielsweise ins Schiffsinnere zurückziehen können anstatt mit bloßer, ungeschützter Brust (pectore nudo) die Geschosse abzufangen. In dem Fall wären jedoch mit einer gewissen anzunehmenden Wahrscheinlichkeit Bruder und Gefährten gestorben (tela leto casura). Diese möglichen Optionen werden jedoch in aller Deutlichkeit negiert, sodass die Figur des Zwillings dem Leser nachdrücklicher als sich bewährender Held präsentiert wird.222 Auch wenn, oder gerade weil er über keine Waffen verfügt (iam clipeo telisque carens), erweist er sich als äußerst widerständiger Kämpfer; gerade dadurch, dass er sich nicht ins Schiffsinnere zurückzieht (non conditus ima puppe), stellt er seine Standhaftigkeit unter Beweis. Gerade der (vorübergehende) Verzicht auf den wünschenswerten ehrbaren Tod, bringt noch größere Ehre zum Ausdruck.223 Die narrative Repräsentation dessen, was hypothetisch ist, bedeutet schließlich eine Akzentuierung dessen, was in der fiktiven Erzählwelt nicht ‚da‘ ist. Aufgrund dieser narrativen Struktur, die von einer Ästhetik der Abwesenheit geprägt ist, aktualisiert der Leser den fiktionalen Status der Erzählung, d. h. deren Künstlichkeit

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Wie jedoch weiter oben aufgezeigt, wird der Eindruck der Aristie, der besonders im Abschnitt der Opferung stark präsent ist, dekonstruiert. Vgl. Prince (1988: 5): „The disnarrated provides one of the important means for emphasizing tellability: this narrative is worth narrating because it could have been otherwise, because it usually is otherwise, because it was not otherwise.“

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und Gemachtheit, umso stärker.224 Unter diesem Eindruck wird zudem ein Aspekt in das Bewusstsein gehoben, der auch beim Zweikampf zwischen Hercules und Antaeus in Buch 4 des Bellum Civile klar zu erkennen ist (s.u. Kapitel 5) Die hypothetische Erzählung hat eine Dehnung der erzählten Zeit zur Folge und korrespondiert so in bemerkenswerter Weise mit dem Aspekt der Obstruktion feindlicher Angriffe auf fiktiver Ebene. 4.4.4.6 Zwischenfazit Die Analyse der individuellen Opferszene hat ergeben, dass das allegorische Bild des Zwillings, der seinen Eltern das Antlitz seines verstorbenen Bruders vor Augen führt und so deren Trauer stets aufrechterhält, als Schema für die narrative Repräsentation gedeutet werden kann. Die Wahrnehmung dessen, was nicht (mehr) ‚da‘ ist, jedoch bemerkenswerten Einfluss auf Figuren, Erzählung und Leser hat, wurde als Ästhetik der Abwesenheit bezeichnet. Hierbei konnte nicht nur eine einfache Negierung des Anwesenden bzw. Bestehenden nachgewiesen werden, sondern häufig auch eine weitere Negierung dieser Negierung. Das Vorszenenelement (603–608) ist somit als metafiktionaler Kommentar zu deuten, der den Leser auf den nachfolgenden dekonstruierenden Prozess der Lektüre vorbereitet. Bei der narrativen Gestaltung der Gewalt (Verwundung 1, 2 und Angriff ) spiegelt sich die kontrastive Struktur und das Oszillieren zwischen zwei Entitäten im Erzählraum wider. Die räumliche Grenze zwischen den Schiffen stellt eine Kontaktzone dar, die zugleich in epistemischer Hinsicht strukturierende und entstrukturierende Tendenzen aufweist. Sie trennt nicht nur das massilische Schiff vom römischen, sondern markiert zugleich den ästhetischen Prozess des Sterbens als eigenständigen Zustand zwischen Leben und Tod (s. die abgehackte Rechte). Wie sich zeigen ließ, korrespondiert diese Beobachtung mit der Darstellung des Körpers, der sich im Prozess der Verwundung in grotesker Weise synekdochisch auflöst und zugleich über sich hinauswächst. Schließlich erfährt der Körper eine scheinbare Verdinglichung zu Schild und Waffe. In den Kontext des Ambivalenten fügt sich das Motiv der Opferung: mit der Obstruktion der feindlichen Geschosse geht die Destruktion des eigenen Körpers einher. In Anknüpfung an Isers wirkungsästhetische Theorie und das rhetorische Mittel der Paralipse wurden zahlreiche Leerstellen herausgearbeitet, wie etwa die der Anonymität des kämpfenden Protagonisten, die jedoch vor dem Hin-

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Vgl. Prince (1988: 5): „[…] it [the disnarrated] emphasizes the realities of representation as opposed to the representation of realities […].“

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tergrund inter- bzw. hypertextueller Bezüge durch den Leser realisiert werden (s. Acilius). Es bleibt also nicht bei dem einfachen negativen Verweis auf das Abwesende, sondern dieser lässt Auswirkungen auf die Erzählung erkennen, die ihrerseits häufig negiert werden. So entsteht der Eindruck eines ephemeren Schwebezustands, eines Oszillierens bzw. ambivalenten Grenzbereichs zwischen zwei ‚Semiosphären‘. Anwesendes und Abwesendes, Emotionalität und Emotionslosigkeit, Identität und Anonymität, Aristie und Anti-Aristie, aktuale und hypothetische Erzählung sind nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern weisen vielmehr eine dynamische Wechselbeziehung auf. Sie stehen nicht nur in Kontrast zueinander, sondern auch in Kontakt miteinander. Diese Verdichtung weist einen rhizomatischen Charakter auf, wodurch jegliches Bemühen um Sinnkonstitution vergeblich scheint. Die dekonstruktive Struktur der Erzählung bietet dem Leser keinen ‚Lösungsansatz‘, sondern erzeugt illusionsstörende Orientierungslosigkeit. Folglich rückt die Autoreferentialität der Erzählung in das Bewusstsein des Rezipienten. 4.4.5 Lycidas (Lucan. 3.633b–646) Auf die Darstellung der vermeintlichen Aristie des Zwillings folgt die individuelle Sterbeszene des Soldaten Lycidas (3.633b–646). Als eine eiserne Greifhand auf dessen Schiff abgefeuert wird, durchbohrt sie zufällig den Kämpfer. Dessen Gefährten kommen ihm zu Hilfe und halten ihn an den Beinen fest, damit er nicht über Bord gezogen wird. Unmittelbar darauf wird Lycidas entzweigerissen. Es folgt eine gedehnte Schilderung sowohl des Blutaustrittes und als auch des Sterbeprozesses. Zuerst stirbt der Unterleib des Mannes ab, während der Oberkörper dem voranschreitenden Tod lange Widerstand zu leisten scheint. Schließlich dringt der Tod in alle Glieder. Die Erzählung kann in vier Segmente geteilt werden: 633b–634: 635–637: 638–642a: 642b–646:

Vorszenenelement Verwundung 1 Verwundung 2 Todeskampf

Zu Beginn der Untersuchung werden zunächst die wichtigsten Forschungstendenzen zur vorliegenden Partie herausgearbeitet. Der anschließende interpretatorische Abschnitt widmet sich drei bisher weniger beachteten Aspekten. Hinsichtlich der Gewaltaktanten wird insbesondere den herbeieilenden Gefährten Aufmerksamkeit gewidmet, da diese einer Änderung ihrer Funktion als participes unterliegen. Wohl aufgrund mangelnder Anschaulichkeit wurde der Erzählraum bisher eher weniger in den Fokus gerückt. Doch vor allem der

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Blick auf den Aktionsraum trägt in beträchtlichem Maße zur Wirkung der dargestellten Gewalt bei, wobei Raumraffung und -dehnung als zentrale Aspekte anzusehen sind. Daran anknüpfend wird der Versuch unternommen, die Sterbeszene anhand der Kategorien Gewaltzeit und Plötzlichkeit aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. In Anlehnung an Sofskys soziologischen und Bohrers philosophisch-literaturwissenschaftlichen Ansatz befasst sich die Analyse mit der narrativen Zeitstruktur und legt dar, inwiefern sich die häufig festgestellte Retardierung des Sterbeprozesses als phänomenologische Schilderung interpretieren lässt. 4.4.5.1 Forschungsstand „The main purpose and outcome of war is injuring […].“225 Elaine Scarrys Bemerkung über den Krieg als reales Phänomen kann insbesondere für Lycidas’ fiktiven Tod als paradigmatisch angesehen werden. Dies spiegelt sich in dreifacher Weise in der Forschungsliteratur zur vorliegenden Partie wider. (1) Die Darstellung des verwundeten Körpers und seines Ringens mit dem Tode bildet häufig einen zentralen Aspekt. (2) Zudem wird die Zerteilung des Körpers in zwei Hälften als Sinnbild für die Spaltung Roms durch den Bürgerkrieg gedeutet. (3) Schließlich soll auf Untersuchungen eingegangen werden, die Lycidas’ Sterbeprozess exemplarisch als Schauspiel und miraculum fati in den Blick nehmen.226 (1) Metger wirft einen sehr differenzierten Blick auf die Partie.227 Er sieht im Prozess der körperlichen Zerstörung das vorherrschende Motiv der Szene: […] das Thema der Vernichtung tritt in den Vordergrund. Ausschließlich herrscht dieses dann in der dritten Szene (635–646), die sofort mit der Verwundung einsetzt und auch nichts anderes mehr zum Inhalt hat als eine effektvolle Schilderung eines komplizierten Todesvorganges.228 Die Beobachtung, Lycidas’ Körper werde als Summe fragmentarischer Einzelteile dargestellt, wird insbesondere von Bartsch aufgegriffen. Sie sieht „unhappy Lycidas“ in einer Reihe von Soldaten, die in der Seeschlacht vor Massilia

225 226

227 228

Scarry 1985: 70. Die Diskussion, ob Lucan die Verse 638–646 bei seinem erzwungenen Selbstmord zitierte, spielt für die vorliegende Untersuchung keine Rolle; vgl. hierfür Hunink 1992: 238–239; Fratantuono 2012: 118. Zur Figur des Lycidas in der bukolischen Dichtung sowie bei Ovid und Horaz s. Hunink 1992, 237; Fratantuono 2012: 118. Metger 1957: 39–42. Metger 1957: 39.

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fallen, deren Todesdarstellungen dem Ausdruck einer „prolonged metamorphosis of bodies into fragments“ dienen.229 Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Metger benennt, ist die narrative Verzögerung des Verwundungs- und Sterbeprozesses: „Hier wird nicht die Verwundungsschwere intensiviert, sondern der Verwundungsvorgang retardiert.“230 An diese Feststellung knüpft auch Esposito an, der in der Zeitdehnung ein Mittel zur Erhöhung der tragischen Wirkung sieht: Dominano, oltre al gusto dell’eccezionale, e del sorprendente, la tendenza, evidentissima, al dilatare i tempi dell’azione. Questa acquista in efficacia e in interesse proprio attraverso il rinvio dell’esito finale, che, per quanto scontato, risulta ancora più tragico per l’ attesa angosciosa che lo prepara.231 (2) Angesichts der brutalen Entzweiung findet die These, die etwa Watkins in ihrem Beitrag aufgreift, weitgehend Zustimmung: Not only is Lycidas’ death ( fata) quite literally divided between the two parts of his body (ultima pars; hac cum parte), but Lucan creates an additional level of microcosm by suggesting that even death itself is at war with and within Lycidas’ body (luctataque … | hac cum parte).232 Auch Rowland verweist auf die Verlegung des Bürgerkrieges in den Körper des Soldaten. Er sieht in dem lucanischen Bild eine Anspielung auf Sallusts Beschreibung des Staates, der zwischen zwei Fronten auseinandergetrieben wird: We are directed next to a certain Lycidas who was pulled in half by attacking Caesarians and by his own socii who were attempting to save him (635–646) – a grisly picture, reminiscent of Sallust’s description of the state torn to pieces (dilacerata) between contending factions ( Jug. 4I, 5).233 229

230 231 232 233

Bartsch 1997: 16–17; vgl. Metger (1957: 41): „Als körperliche Einheit tritt dieser Lycidas nicht mehr in Erscheinung, seine Teile werden verselbständigt, wobei auch hier die Vielzahl wichtiger ist als die Genauigkeit.“ Metger 1957: 40. Esposito 1987a: 47. Watkins 2012: 63; weiter heißt es: „As with the death of Lycidas, Lucan incorporates multiple levels of civil war imagery within this one scene.“ Rowland 1969: 207–208.

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Bartsch deutet die Partie als weiteres Beispiel für die gewaltsame Überschreitung von Grenzen in Lucans Bellum Civile. Das Verwischen von Mikround Makrokosmos des Bürgerkrieges sei somit als Konsequenz der Auflösung wertsetzender Grenzen zu werten.234 (3) In V. 633b–634 (multaque ponto | praebuit ille dies varii miracula fati) sieht insbesondere Leigh ein konkretes Beispiel für Lucans Vorliebe für das Spektakel und die Erzeugung von emotionaler Distanz des Lesers zu den fiktiven Figuren. Der Erzähler lege den Fokus eher auf das ästhetisch Außergewöhnliche als auf illusionsbildende Einbindung des Lesers in die Erzählwelt: […] he [Lucan] suggests to the reader one way to approach the subsequent narrative: that is, with an eye to the freakish rather than the pathetic, and this in the same terms as Corydon used to describe his reaction to the amphitheatre.235 Im Rückgriff auf die Schauspielhaftigkeit der narrativen Repräsentation stelle sich, so Leigh weiter, beim Leser ästhetisches Vergnügen ein: Lucan seems to be parading a certain strategy in describing this battle and to be inviting his audience to read or to watch with the same amazed and amused perspective. The reader sees ‘dire death’ (dirum … letum), but she sees only the ‘surface’ ( facies), is not emotionally involved with the pathos of the victims’ experiences.236 Diese Feststellungen korrespondieren mit Bartschs Bemerkungen über Lucans Erzähltechnik, die eine besondere Nähe zur Groteske aufweist und so den Leser durch beständige Entfremdung emotional auf Distanz hält: Our alienation is supremely important for Lucan: it ensures that we will find it difficult to become emotionally embedded in his narrative, that we

234 235

236

Bartsch 1997: 17; zur ‚Verkörperlichung des Bürgerkrieges‘ s. insbesondere Dinter 2005; 2012: 9–50. Leigh 1997: 249; zudem verweist Leigh (1997: 250) auf weitere Parallelen im Werk wie etwa 3.652–653: Tunc unica diri | conspecta est leti facies; 9.736: insolitas mortes; 9.805: spectacula; 3.680–681: Nulla tamen plures hoc edidit aequore clades | quam pelago diversa lues.; 3.689–690: mille modos inter leti mors una timori est | qua coepere mori. Leigh 1997: 250. Eine gute Zusammenfassung zu aesthetic pleasure in der Literatur bietet Lamarque 2009: 23–25.

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feel a sense of detachment from the events at hand that makes it impossible for us to truly pity the fate of any character mowed down in war.237 Sklenář greift den Gedanken der Entfremdung auf und bewertet ihn vor dem Hintergrund der literarischen Gattung des Epos: Lucan, by contrast, takes the exaggerations far beyond anything contemplated by Homer or Vergil and situates them in the midst of a historical event scarcely a century removed from his own day. His references to miracula fati and unica leti facies acknowledge the complete inverisimilitude of his own epic world.238 Es lässt sich festhalten, dass alle drei dargelegten Hauptaspekte – (1) das ‚Wie‘ des Sterbeprozesses, (2) die Versinnbildlichung des Bürgerkrieges in der Zerteilung und (3) der Blick auf das miraculum fati als Spektakel – in beträchtlichem Maße aus der für die Erzählung spezifischen Gewaltkonstellation resultieren. Die gescheiterte Hilfe der socii, oder vielmehr der paradox anmutende Ausgang, dass Lycidas’ Körper erst durch das Festhalten der Beine in zwei Teile gerissen wird, ist häufig wahrgenommen worden.239 Allerdings lässt sich das Zusammenwirken der Gewaltaktanten, wie sich im Folgenden zeigen wird, noch weiter auffächern. 4.4.5.2 Gewaltkonstellation Wie in den Szenen zuvor wird auch in der Lycidas-Partie auf die Nennung von agentes verzichtet. Zusätzlich zum namentlich genannten patiens kommt den participes eine zentrale Funktion für die Gewaltdarstellung zu. multaque ponto praebuit ille dies varii miracula fati. 635 Ferrea dum puppi rapidos manus inserit uncos affixit Lycidan. mersus foret ille profundo, 237 238 239

Y W GT(n)/V(a); GA2

Bartsch 1997: 39. Sklenář 2003: 21. Am deutlichsten Metger (1957: 40): „Die Hilfe der Freunde bewirkt einen noch grausigeren Tod. Diese Paradoxie steht über dem Schicksal des Lycidas und lässt das Absonderliche der folgenden Schilderung noch stärker heraustreten“; vgl. Hunink (1992: 237): „as the grappling-iron threatens to hurl Lycidas into the water, he is saved from drowning by his comrades. However, as will be seen, this makes matters only worse for him“; Watkins (2012: 62, Anm. 122): „Not to be overlooked here is the fact that Lycidas’ own countrymen play a pivotal role in his destruction.“

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sed prohibent socii suspensaque crura retentant. scinditur avulsus, nec, sicut vulnere, sanguis emicuit; lentus ruptis cadit undique venis, 640 discursusque animae diversa in membra meantis interceptus aquis. nullius vita perempti est tanta dimissa via. pars ultima trunci tradidit in letum vacuos vitalibus artus; at tumidus qua pulmo iacet, qua viscera fervent, 645 haeserunt ibi fata diu, luctataque multum hac cum parte viri vix omnia membra tulerunt.

241 GA32/1; GP(d) V(d) ST

Nach dem Vorszenenelement (Y) kommt der Erzähler auf die erste Verwundung des patiens Lycidas (GA2) zu sprechen (635–637). Weder erhält der Rezipient – anders als bei den Gewaltszenen des Catus, Telo oder Gyareus – Informationen über den räumlichen Standort der Figur noch über deren Tätigkeit bis zum Zeitpunkt des Getroffenwerdens. Es handelt sich nicht um eine konventionelle Distanzwaffe wie etwa ein telum, sondern um eine ferrea manus (W), die für gewöhnlich dazu dient, die Distanz zum gegnerischen Schiff zu verringern.240 Die Gewalttat ist als nicht-zielgerichtet anzusehen (GT[n]). Dies legt der Gebrauch der Subjunktion dum (635) nahe, womit eine Hintergrundhandlung markiert wird. Lycidas scheint also zu seinem Unglück im Weg zu stehen, während die Greifhand ihre Widerhaken in die Planken schlägt. Die Verwundung affixit (636) ist zudem als allgemeine Verwundung zu klassifizieren (V[a]), die dem Leser zunächst ein nur wenig anschauliches Bild vermittelt. Daraufhin greifen die Gefährten des GA2 aktiv ein (sed prohibent socii suspensaque crura retentant, 637), sodass ihre Handlung als direkte Partizipation an der Gewalt zu klassifizieren ist (GP[d]). Allerdings lässt sich eine Veränderung ihrer Rolle der participes (GA3) feststellen. In der Absicht, Lycidas vor dem Ertrinkungstod zu retten, sind sie zunächst als opponentes (GA32) der Gewalttat zu identifizieren. Allerdings hat dies zur Folge, dass der GA2 – sicherlich gegen den Willen der socii – in zwei Teile gerissen wird. Plötzlich erweisen sich die opponentes (GA32) vielmehr als adiuvantes (GA31), die der ursprünglichen Gewalttat

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Eine historische Untersuchung zum Gebrauch von Enterhaken bei Seeschlachten findet sich bei Casson 1971: 121 (bes. Anm. 87); vgl. Viereck 1975: 95; s. auch Sall. hist. frg. 3.35; Liv. 24.34.10; Plin. nat. 7.209; Sil. 14.321–322. Die eiserne Greifhand scheint anhand der aktiven Verbformen inserit und affixit in hohem Maße belebt. Dieser Gesichtspunkt springt insbesondere dadurch ins Auge, dass kurz zuvor der Zwilling beim Hinübergreifen auf das feindliche Schiff beide Hände verlor. Ebenso wie in der vorliegenden Szene (rapidos uncos, 635) kam auch dort eine hohe Bewegungsdynamik zum Ausdruck (rapturus, 616).

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ein extremes Maß an Brutalität verleihen. Aus dieser veränderten Konstellation geht die außerordentliche Dynamik der Gewaltdarstellung hervor. Mit der Veränderung der Gewaltkonstellation korrespondiert die narrative Gestaltung von Verwundung 2 (638–642a), das Auseinanderreißen des Körpers. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf die Besonderheit der tödlichen Verletzung gelenkt (V[d]). Vor allem der unvermutet langsame Austritt des Blutes aus den zerfetzten Gefäßen wird in den Fokus gerückt (638–639), sowie auch dessen weitreichende Ausbreitung im Erzählraum (640–642). Der Lauf des pulsierenden Lebensstroms (discursus animae, 640) wird vom Meerwasser unterbrochen. Der Abschnitt des Todeskampfes (640–646) schildert den Sterbeprozess (ST), der sich über sieben Verse hinweg bis zum Ende der Partie erstreckt. 4.4.5.3 Erzählraum Wie bei der Betrachtung der Verse 627–633a bereits angemerkt (s. Abschnitt 4.4.4.3 zum Erzählraum der Zwillingspartie), hebt der Erzähler das Meer nun deutlicher in das Bewusstsein des Lesers. Dies wird im Vorszenenelement Y (633b–634) explizit zum Ausdruck gebracht: 633

multaque ponto praebuit ille dies varii miracula fati.

Während Bourgery, Housman, Ehlers und Canali/Brena in ponto ein DativObjekt in Verbindung mit praebuit sehen und so das Meer als Adressat der miracula fati deuten, entscheiden sich Haskins, Duff, Luck und Widdows für die Interpretation einer adverbialen Bestimmung des Ortes.241 Hunink bemerkt zwar, dass keine der beiden Lesarten zu beanstanden sei.242 Hinsichtlich der dynamischen Wechselwirkung jedoch, die dem Rezipienten in Lucans Bürgerkriegsepos zwischen Erzählraum und narrativer Gewalt stets vor Augen geführt wird, scheint der Gebrauch eines Ablativus loci an dieser Stelle plausibler. So ist das Meer in der vorliegenden Partie weniger als wahrnehmende bzw. indirekt teilnehmende Instanz anzusehen, sondern vielmehr als elementarer Bestandteil der Gewaltdarstellung: Die Raumstruktur korrespondiert nicht nur deutlich mit der Handlungsstruktur der Gewaltaktanten, sondern schafft überhaupt erst die ‚strukturelle‘ Voraussetzung für den schockierenden Tod des Protagonisten Lycidas. Daher wird im Folgenden insbesondere die Analyse des

241 242

Vgl. Bourgery 1926; Housman 1927; Ehlers 1973; Canali/ Brena 1997; Haskins 1971 (1887); Duff 1928; Luck 2009; Widdows 1988. Hunink (1992: 236): „Both make good sense here.“

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Aktionsraums im Vordergrund stehen. Sie orientiert sich dabei an der Einteilung in die Sinnabschnitte (1) Verwundung 1, (2) Verwundung 2 und (3) Todeskampf. (1) Der Abschnitt Verwundung 1 (635–637) ist hinsichtlich des Erzählraums wenig anschaulich, was mit dem Eindruck hoher Geschwindigkeit und ‚räumlicher Raffung‘ einhergeht. Der Blick des Lesers wird auf die Waffe ( ferrea manus) gelenkt, die die Distanz zwischen ihrem nicht genannten Ausgangspunkt und dem Ziel (puppi) bereits überwunden hat und sich nun mit hoher Bewegungsdynamik in die Planken und zugleich Lycidas’ Körper bohrt (rapidos inserit uncos). Dem Leser wird keine Information über die Wegestruktur vermittelt, sodass die gesamte Aufmerksamkeit auf die Plötzlichkeit der ersten Verwundung gerichtet ist.243 Dies lässt sich in ähnlicher Weise für den zweiten Teil des Abschnitts feststellen: Über die genaue Position des patiens macht der Erzähler keine Angaben – anders als bei den vorhergehenden Partien Catus’, Telos, Gyareus’ und des massilischen Zwillings. Es kann lediglich angenommen werden, dass sich Lycidas irgendwo auf dem Deck befindet, als er von der Greifhand erfasst wird.244 Unter dem Eindruck aneinandergereihter ‚Snapshots‘ muss der Leser Figurenbewegung und Wegestruktur bei der Lektüre selbst realisieren: So lässt der Erzähler den Leser wissen, Lycidas wäre in den Tiefen des Meeres versunken (mersus foret ille profundo). Dass der Soldat im Begriff war, über die Reling gezogen zu werden und ins Meer zu fallen, ist in dieser Aussage implizit enthalten. Der Umstand, dass Lycidas bereits in die Höhe gehoben wurde, ist ebenfalls vom Rezipienten zu realisieren. Denn als Resultat dessen halten seine Gefährten ihn an den in der Schwebe hängenden Beinen (suspensa crura) zurück, wie dem Text explizit zu entnehmen ist. Der Aktionsraum lässt sich also im Abschnitt der ersten Verwundung lediglich anhand von Snapshots bzw. Momentaufnahmen erfassen. Die zu realisierende Figurenbewegung ist durch die topologischen Kategorien ‚oben‘ (suspensa) und ‚unten‘ (profundo) definiert und weist somit eine vertikale Ausrichtung auf. (2) Verwundung 2 (638–642a) lässt in dreierlei Hinsicht einen scharfen Kontrast zu Verwundung 1 erkennen.

243 244

Zum Aspekt der Plötzlichkeit s.u. Abschnitt 4.4.5.4. Vgl. Metger (1957: 40): „Ein Enterhaken hat den Lycidas erfasst und ans Schiff geheftet: puppi … adfixit (635/36). Genaueres über den Zustand des Getroffenen berichtet der Dichter selbst nicht. Dem Leser bleibt es überlassen, aus dieser kurzen Notiz die für das Verständnis der folgenden Verse notwendige Vorstellung zu gewinnen, dass Lycidas an die Bordwand oder zumindest an die Bordkante geheftet wurde, sich durch eigene Körperschwere löste und ins Wasser zu fallen drohte.“

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(a) Zum einen ist der Aktionsraum nicht vertikal, sondern vielmehr von einem horizontalen Auseinander geprägt. Das Auseinanderreißen des Körpers in der fabula korrespondiert deutlich mit dem Gebrauch entsprechend präfigierter Vokabeln: a-vulsus (638), e-micuit (639), dis-cursus (640), di-versa (640), di-missa (642). (b) Zudem verzichtet der Erzähler auf eine Darstellung von Snapshots. Er rückt Bewegung und Wegestrukturen stärker in den Vordergrund, wie folgende Ausdrücke belegen: scinditur avulsus (638), emicuit (639), cadit (639), discursus animae (640), in membra meantis (640), est dimissa (641). In Ergänzung dazu werden beim Blutaustritt – im Gegensatz zur Darstellung der Greifhand – sowohl Ausgangs- als auch Endpunkt der Bewegung genannt: Das Blut fällt aus den Gefäßen (ruptis venis, 639), sodass der discursus animae, der hier mit sanguis gleichgesetzt werden kann, vom Meereswasser unterbrochen bzw. aufgefangen wird (interceptus aquis, 641).245 (c) Infolge der akzentuierten Wegestrukturen wird schließlich der Eindruck einer Raumdehnung generiert. Dieser Aspekt kommt einerseits durch die ausufernd wirkende Angabe undique (639), andererseits durch die letzten beiden Verse der zweiten Verwundung zum Ausdruck: nullius vita perempti | est tanta dimissa via (641b–642a). Das langsame Ausbluten des patiens nimmt geradezu unvorstellbare Ausmaße an, sodass sich der Erzählraum in ein einziges Blutbad – oder in Anlehnung an Lucks Übersetzung – eine ‚Blut-Bahn‘ zu verwandeln scheint.246 Durch die Aspekte Bewegung und Raumausdehnung werden

245

246

Hunink (1992: 238–239) verweist hierbei auf die stoische Vorstellung, dass das Blut als Träger der Seele angesehen wird: „[…] a complex description of the moment of death in Stoic terms. […] Discursus is the action of running in different directions. Here it is said of the soul, and, by implication, the blood, which in Stoic theory was considered its carrier“; vgl. Schotes (1969: 50–51): „Um auch die letzte Leibeszelle zu durchdringen, bindet sich die Seele an das Blut; dieses nimmt die Seelenkraft in sich auf und führt sie durch die Adern dem Körper zu. […] Discursus meint das ‚Auseinanderströmen‘ des Blutes in alle Körperteile“; 57: „Tritt er [der Tod] durch Gewalt ein und das Blut entströmt einer Wunde, so fehlt dem Seelenstoff der Träger, der ihn den einzelnen Körperteilen zuführt“; dass mit dem Blut auch zugleich die Seele bzw. das Leben den Körper verlässt, ist innerhalb der Seeschlacht-Erzählung häufiger zu beobachten: […] largus cruor expulit hastas | divisitque animam sparsitque in vulnera letum (590–591); tum vulnere multo | effugientem animam lassos collegit in artus (622–623); letum praecedere nati | festinantem animam morti non credidit uni (750–751). Luck (2009: 159): „Nie verlor ein Toter sein Leben auf so breiter Bahn“; Hunink (1992: 239) dagegen sieht via als Umschreibung der Wunde an: „The phrase is vague, and has been interpreted in various ways. Most likely, it refers to the vast wounds on the body, through which the blood and soul pour out, as in 639–640“; vgl. Haskins (1971: ad loc.): „ ‚by so wide a path‘, i.e. by so vast a wound.“

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die Darstellung der enormen Verwundung und deren eindringliche Wirkung auf den Leser intensiviert. (3) Die Schilderung des Todeskampfes (642b–646) weist ihrerseits einen Bruch mit Verwundung 2 auf. (a) Das Zoom In auf bzw. in den Körper des Sterbenden hinein lässt die Darstellung des Erzählraums in den Hintergrund treten. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten liegt alleine auf den beiden Körperhälften (pars ultima trunci, 642; hac cum parte, 646) ohne Bezugnahme auf deren räumliche Verortung. Fällt der Oberkörper ins Wasser? Oder wird er von der Greifhand durch die Luft geschleudert, sodass das Blut in das Meer fließt? Halten die socii die Beine immer noch fest, während diese, frei von lebenswichtigen Organen, dem Tod ‚ausgeliefert‘ sind? Der Text lässt diesbezüglich keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu. (b) Darüber hinaus schafft der Fokus auf Entschleunigung und Stillstand einen Kontrast zu Bewegung und Ausdehnung – sowohl auf fabula- als auch auf story-Ebene. Die geringe Bewegungsdynamik lässt sich insbesondere anhand ‚statisch‘ wirkender Adverbiale und Prädikate belegen: qua, iacet, qua (644), haeserunt, ibi, diu, multum (645), vix (646). (c) Und auch die Bewegungsrichtung des ‚Auseinander‘ lässt eine perspektivische Verkehrung in ihr Gegenteil beobachten: in der Agonie scheint sich der Raum auf den Körper zusammenzuziehen. Der Blick des Lesers wird von der äußeren Peripherie des Körpers (ultima parte) schließlich in das innere Zentrum gelenkt (pulmo, viscera). Anders als etwa bei der ersten individuellen Sterbeszene des Catus (583–591) ergießt sich der Tod also nicht von innen nach außen,247 sondern der Tod dringt von außen nach innen in den Körper ein. Es lässt sich festhalten, dass der Erzählraum der individuellen Sterbeszene 4 der Seeschlacht insbesondere durch die Darstellung des Aktionsraums geprägt ist. Während im Abschnitt der ersten Verwundung (635–637) der Erzählraum anhand der Snapshot-Technik gerafft erscheint, entsteht im Verlauf der zweiten Verwundung (638–642a) der Eindruck der Raumdehnung, die sowohl auf eine Akzentuierung von horizontaler Bewegung und das Aufzeigen von Wegestrukturen zurückzuführen ist als auch auf den expliziten Verweis des auktorialen Erzählers, dass kein Sterbender sein Leben so weiträumig vergossen habe (641– 642). Der Abschnitt Todeskampf (642b–646) lässt aufgrund des Zoom In auf Lycidas’ auseinandergerissenen Körper keine Angaben oder Anhaltspunkte zu dessen räumlicher Verortung erkennen. Statt einer kontinuierlichen Bewegung

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590–591: […] largus cruor expulit hastas | divisitque animam sparsitque in vulnera letum.

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nach außen wird dem Leser eher der Eindruck einer nach innen gerichteten Entschleunigung vermittelt. Dies ist schließlich in Wechselwirkung mit der narrativen Gestaltung der Zeit zu untersuchen. 4.4.5.4 Gewaltzeit „Eng verbunden mit der Überwindung des Raums ist die Beschleunigung der Zeit. Geschwindigkeit ist selbst eine Waffe. […] Das Opfer ist langsamer als der Täter. Weil die Gewalt rasch ist, ist das Opfer überrascht. Unvorbereitet kann es dem plötzlichen Auftauchen der Waffe nichts entgegensetzen. Der Weg zur Deckung, zum Versteck ist lang. Zeit zur Flucht bleibt nicht.“248 Das enge Zusammenwirken zwischen Erzählraum und Erzählzeit ist auch in Lycidas’ Sterbeszene deutlich zu beobachten. Die narrative Raffung des Raums durch Snapshots korrespondiert mit der narrativen Raffung von Zeit. Parallel dazu erweckt die räumliche Dehnung den Eindruck, dass die tödliche Verwundung des Soldaten zeitlich gedehnt erfolgt. Zwar ist die Retardierung des Verwundungs- und Sterbeprozesses bereits häufig konstatiert worden,249 jedoch lassen sich aus der Perspektive von Gewaltzeit und Plötzlichkeit weitere Beobachtungen anschließen. Metgers Feststellung etwa, dass die „besonderen Effekte“ der Erzählung aus den „Kräfte[n]“ resultieren, „die in den Aktionen wirksam sind“, lässt sich auf diese Weise weiter auffächern.250 Der erste der nachfolgenden drei Teilabschnitte beschreibt und erläutert zunächst (1) die narrative Zeitstruktur der Lycidas-Partie und schafft damit die Voraussetzung für den zweiten Abschnitt: (2) die Textanalyse unter dem Aspekt der Gewaltzeit bzw. Plötzlichkeit. Anhand dieser Kategorien soll zum Verständnis der gedehnten Gewaltdarstellung beigetragen werden. (3) Im Anschluss wird als dritter Schritt der Gesichtspunkt der Depersonalisierung durch Gewalt weiter ausgeführt. (1) Die eindringliche Wirkung der Gewaltdarstellung kann auf das Wechselspiel von Zeitraffung und -dehnung zurückgeführt werden. Auf die sehr kurze Schilderung der nicht zielgerichteten Gewalttat affixit Lycidan (635) folgt eine leichte Retardierung durch die kurze Darlegung des alternativen Handlungs248 249

250

Sofsky 1996: 37. S. Anm. 230 auf S. 238; vgl. Hunink (1992: 237, ad 635): „Like Catus, Telo and Gyareus he is given no opportunity for action, being mortally hit right at the beginning. But his death is retarded by the poet for more than 10 lines, in which the dying process is described with cruel precision. Though we may detect some technical interest in physiology (cf. on 640), the details’ function is to heighten the pathos.“ Metger (1957: 40–41): „Der Dichter richtet sein Augenmerk weniger auf den bildhaften Ausdruck als auf die Kräfte, die in den Aktionen wirksam sind; aus ihnen leitet er vornehmlich die besonderen Effekte ab.“

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verlaufs mersus foret ille profundo (635) und der direkten Partizipation der Gefährten. Hieran schließt unmittelbar die rasch und abrupt wirkende zweite Verwundung scinditur avulsus (638). Der plötzliche Akt der Entzweiung wird in formaler Entsprechung mit zwei Worten wiedergegeben. Das Erzähltempo ist für einen sehr kurzen Augenblick erhöht und wirkt wie ein Schock nach.251 Den zweieinhalb Versfüßen stehen achteinhalb Verse gegenüber, die den langsamen Sterbeprozess des patiens zum Ausdruck bringen. Der Erzähler geht dabei detailliert auf den Austritt des Blutes aus der Wunde ein (638–639): 638

[…] nec, sicut vulnere, sanguis emicuit; lentus ruptis cadit undique venis

Sowohl der fabula als auch der story lässt sich der Prozess der Retardierung entnehmen: Zum einen spritzt das Blut nicht, wie es im Falle einer Wunde zu erwarten sei, sondern fällt oder fließt langsam (lentus) aus allen geplatzten Gefäßen.252 Dies wirkt umso irritierender, als das Attribut ruptis die ruckartige, gewaltige Entzweiung des Körpers noch einmal aufgreift und nachhaltig in das Bewusstsein des Rezipienten hebt.253 Zum anderen stellt die Erklärung, wie das Blut nicht aus der Wunde tritt, eine hypothetische Erzählung dar und verweist erneut auf einen alternativen Handlungsverlauf (vgl. V. 636). Diese ‚Negativbeschreibung‘ trägt so auf Ebene der narrativen Vermittlung zur Zeitdehnung bei. Zudem stellt die Bemerkung des Erzählers, dass niemand sonst sein Leben auf so weiten Raum vergossen hatte, einen weiteren narrativen Einschub dar (641–642): 641

[…] nullius vita perempti est tanta dimissa via, […]

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Metger (1957: 40): „Der erste ‚Akt‘ dieses Todes wird mit zwei Worten beschrieben: scinditur avolsus. Ein klares Bild intendiert der Dichter auch hier nicht; er zeichnet weder die äußeren Umstände, noch malt er die Verletzung weiter aus. Kurz und ‚objektiv‘ wird der Tatbestand gegeben, wobei aber nicht zu verkennen ist, dass sich in der Bedeutung dieser Worte vor allem die Gewaltsamkeit ausdrückt, mit der der Körper zerrissen wird.“ Dass lentus nicht auf emicuit, sondern cadit zu beziehen ist, legt Hunink (1992: 238) überzeugend dar: „Most editors have seen a problem here. They print a colon after lentus and take it with nec – emicuit, arguing, that the adjective is less out of place there than with ruptis – venis; cf. HOUSMAN’s note. In their view, emicuit designates a slow tickling out of the blood and ruptis – venis a violent eruption. However, when it refers to blood, emicare always indicates heavy bleeding […]. Here it is obviously opposed to the calm cadit. Therefore, it seems better to print a semicolon before lentus, and take it with ruptis – venis, as BENTLEY, and, in recent years, SHACKLETON-BAILEY and CANALI have done.“ Vgl. Sofsky (1996: 76): „Der Jetztpunkt des Schocks zerdehnt sich zu reiner Dauer.“

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Durch dieses ‚Alleinstellungsmerkmal‘ der außergewöhnlich weitreichenden räumlichen Ausbreitung gewinnt Lycidas’ Tod als miraculum fati an Bedeutung. Zugleich wird auch die Erzählzeit relativ zur erzählten Zeit verlängert. Während des Todeskampfes (642b–646) wird die Dehnung des Sterbeprozesses explizit geschildert: pars ultima trunci tradidit in letum vacuos vitalibus artus; at tumidus qua pulmo iacet, qua viscera fervent, 645 haeserunt ibi fata diu, luctataque multum hac cum parte viri vix omnia membra tulerunt. Während die untere Körperhälfte aufgrund ihres Mangels an lebenswichtigen Organen rasch abstirbt, leistet der Torso offensichtlich hartnäckigen Widerstand, sodass der Tod lange nicht vorankommt (haeserunt diu; luctataque multum) und nur mit Mühe (vix) den ‚Sieg‘ davonträgt. Der Eindruck des körperlichen Widerstands wird durch die Dehnung zusätzlich unterstrichen.254 Die Nennung der einzelnen Körperteile geht mit gleichzeitigem Verweis auf ihre ‚widerständische‘ Qualität als auch Quantität einher: die Lunge ist geschwollen (tumidus pulmo),255 die Eingeweide glühen (viscera fervent),256 das Dahinraffen durch den Tod betrifft zudem alle Glieder (omnia membra), sodass der Körper mit all seinen einzelnen Bestandteilen nicht nur von Leben erfüllt, sondern auch in der Überzahl erscheint.257 Hinsichtlich der story liegt ein bemerkenswerter Unterschied zum Abschnitt der zweiten Verwundung (638–642a) vor, der bisher weniger berücksichtigt wurde. Während bei der Schilderung des Blutaustritts Zeitdehnung vorliegt, ist beim Todeskampf viel eher Zeitdeckung festzustellen. Die fiktive Dauer des

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Vgl. Hunink (1992: 239): „with ruthless precision, the poet concentrates upon the final stage of the swift dying process: the remains of the body fiercely resisting death, up to the last moment;“ Metger (1957: 41): „Zum Unterschied vom voraufgegangenen Beispiel werden die einzelnen Körperteile belebt vorgestellt, mit einer eigenen Widerstandskraft gegenüber dem Tode ausgestattet. […] Es ist nun auffallend und bezeichnend für die Kühle, mit der der Dichter die ‚Verwundungsobjekte‘ zerlegt, dass diese Widerstandskraft nicht alle Teile gleichmäßig erfüllt, sondern je nach Entfernung von der Mitte des Körpers abgestuft wird.“ Zum ungewöhnlichen Gebrauch von pulmo im lateinischen Epos vgl. Hunink 1992: 239. Zur Verwendung von fervere im Kontext von Leben oder belebten Dingen s. ThLL s. v. ‚ferveo fervo‘, 6.1.591.71–75. Die Akzentuierung der Körperlichkeit trägt in besonderem Maße auch zu Lycidas’ Depersonalisierung bei, s.u. Punkt (3).

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Sterbeprozesses beider Körperhälften ist auf narrativer Ebene nachgezeichnet. Dies spiegelt sich im jeweiligen Textumfang wider. Da der Unterleib keine lebenswichtigen Organe beinhaltet, stirbt er in der fabula schneller ab. In der story umfasst die narrative Zeitdauer somit lediglich eineinhalb Verse (642a– 643). Dagegen nimmt die Vereinnahmung des Oberkörpers durch den Tod mehr Zeit in Anspruch. Aus rein formaler Sicht ließe sich behaupten, genau doppelt so viel. Der Textumfang beträgt drei Verse (644–646). Der zentrale Aspekt liegt jedoch nicht in der Bestimmung eines exakten Zahlenverhältnisses, sondern darin, dass der fiktive Zeitumfang auf Ebene der fabula und der narrative auf Ebene der story überhaupt Deckungsgleichheit aufweisen. So ergibt sich ein differenzierterer Blick auf die in der Forschung häufig festgestellte Verzögerung des Sterbeprozesses: Diese resultiert zunächst stärker aus der narrativ vermittelten Zeitdehnung mittels eingeschobener Partien, wobei allerdings auch lentus auf Ebene der fabula zum Eindruck der Retardierung erheblich beiträgt. Schließlich ist die Verzögerung überwiegend auf die lange Dauer des Todeskampfes innerhalb des zerrissenen Körpers zurückzuführen und wird somit eher auf Ebene der fabula konstituiert, während auf Ebene der narrativen Vermittlung Zeitdeckung vorliegt. (2) Die Schärfe der Gewaltszene liegt weniger darin, dass Lycidas auseinandergerissen wird, sondern in dem Wie der narrativen Repräsentation, bedingt durch das Wechselspiel zwischen Zeitraffung und -dehnung. Die dynamische Zeitstruktur der Gewalt trägt erheblich zur Inszenierung des miraculum fati bei und lässt sich unter den Begriff der Gewaltzeit oder auch Plötzlichkeit fassen. Sofskys Überlegungen zu den Zeitmodi der Gewalt erweisen sich hier als besonders anknüpfungsfähig: […] die Gewalt verläuft selbst in der Zeit, die Situationen wechseln und damit auch ihre Zeitmodi. Manchmal geschieht dies abrupt. Inmitten des Gewaltablaufs schlägt die Zeit um. Der Plötzlichkeit der Explosion folgt der Moment des Entsetzens, dann der anhaltende Bewegungssturm der Panik. […] Wirkung gewinnt der Anschlag durch seine Plötzlichkeit. Jählings durchbricht das Ereignis die Stetigkeit der Normalzeit.258 Die Gewaltzeit unterliegt also nicht dem messbaren, kontinuierlichen Verlauf der Zeit, sondern ist außerhalb ‚objektiver‘ Zeitkategorien angesiedelt. Dies macht das Erleiden von Gewalt zu einem fassungslosen Erlebnis von enormer

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Sofsky 1997: 106.

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Intensität. Der Augenblick der Gewalt und die damit verbundene Erfahrung von Plötzlichkeit sind demnach – aus der Perspektive des patiens – als „reines Wahrnehmungsereignis“ zu deuten,259 als konstitutiver Bestandteil eines ästhetisch aufzufassenden „Erscheinungsvorgangs“.260 Aus dieser phänomenologischen Perspektive lässt sich in bemerkenswerter Weise auch die individuelle Sterbeszene des Lycidas betrachten. Watkins deutet darauf hin, dass die Gewaltdarstellung über die Wahrnehmung des Soldaten vermittelt wird: Apart from presenting us with this image of division, Lucan takes the idea one step further in his description of the actual process of dying as Lycidas experiences it.261 Hierbei ist zu bemerken, dass in der Erzählung keine Marker finden sind, die auf eine interne Fokalisierung hinweisen, wie beispielsweise videt oder sentit. Vielmehr liegt Nullfokalisierung durch den auktorialen Erzähler vor, die jedoch eine implizite bzw. interne Fokalisierung durch den patiens nicht ausschließt. Eine scharfe Trennlinie zwischen den Fokalisierungsinstanzen, d. h. dem allwissenden Erzähler und der in Wissen und Wahrnehmung eingeschränkten Figur Lycidas, kann hierbei nicht gezogen werden.262 Der Leser nimmt über die

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Umbreit (2003: 33): „Als ‚reines Wahrnehmungsereignis‘ entspringt der Augenblick in seiner Plötzlichkeit dem Fluss der kontinuierlich vergehenden Zeit, sprengt ihn auf und negiert damit Zeitlichkeit überhaupt.“ Bohrer (1998b: 48): „Das ‚Plötzliche‘ war also von Beginn seiner kategorialen Erfassung an einem ästhetischen Erscheinungsvorgang zugeordnet.“ Watkins 2012: 62–63; Hervorhebungen durch den Verfasser. Vgl Martínez/Scheffel (2012: 68): „Aber auch wenn eine gewisse Distanz zur erlebenden Figur vorzuliegen scheint, […], kann das Erzählte eng an die Wahrnehmung der Figur gekoppelt sein“; Genette (2010: 134) arbeitet das Phänomen der mehrfachen Fokalisierung bzw. deren ‚Polymodalität‘ am Beispiel von Prousts À la Recherche du temps perdu heraus: „Doch diese fast unvorstellbare Koexistenz mag uns zudem als Emblem für die gesamte narrative Praxis von Proust dienen, der bedenkenlos und scheinbar unbekümmert drei Fokalisierungsmodi zugleich einsetzt und nach Belieben aus dem Bewusstsein seines Helden in das des Erzählers hinüberwechselt, aber auch abwechselnd in das der verschiedensten Figuren schlüpft. Diese dreifache narrative Position lässt sich auf gar keinen Fall mit der einfachen Allwissenheit im klassischen Roman vergleichen, […]. Und schließlich konkurrieren theoretisch unvereinbare Fokalisierungen miteinander, was die gesamte Logik der narrativen Repräsentation erschüttert. Wie wir des Öfteren sahen, hängt diese Subversion des Modus mit der Aktivität oder besser gesagt mit der Präsenz des Erzählers zusammen, damit, dass die narrative Quelle oder die Narration störend in der Erzählung interveniert“; auf das Problem der letztendlichen Ambiguität bzw. Unschärfe, die insbesondere der indirekten Fokalisierung zugrunde liegt, geht de Jong (2014: 52) ein: „But not all cases of embedded focalization, whether explicit and implicit, are so clear-

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‚Mitsicht‘ des Erzählers als Nullfokalisierer an Lycidas’ subjektiver Erfahrung der Gewalt teil. Mittels wechselnder narrativer Zeitmodi, die von der Raffung des Schocks über die Dehnung des Blutaustritts bis hin zur Retardierung des Todeseintritts reichen, wird der Eindruck einer phänomenologisch gefärbten Wahrnehmung erzeugt. Unter dem Aspekt der subjektiven Empfindung des patiens scheint es plausibel, dass das Blut entgegen jeglicher Erwartung nicht spritzt, sondern langsam (lentus) herabfließt. Denn: Das Leiden hat seine eigene Zeit. Dies gilt für die körperlichen Empfindungen, den Rhythmus des Schmerzes, ebenso wie für die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen. Gewaltzeit meint auch die innere Zeit des Menschen. Das Widerfahrnis schlägt durch auf die Zeitstruktur des Bewusstseins, auf das Verhältnis von Erinnerung, Wahrnehmung und Erwartung, von Retention und Perzeption.263 Aus der Perspektive des agens oder eines particeps, d. h. durch die Vermittlung der Wahrnehmung von außen, ist das entschleunigte Fallen des Blutes daher nur schwer nachzuvollziehen. Gewaltzeit verläuft asymmetrisch. Gewalt ist für jeden Aktanten ein individuell erfahrbares Phänomen, das sich insbesondere auch auf das jeweilige ‚Erleben‘ von Zeit niederschlägt.264 Die narrative Repräsentation der Zeit dient der Ästhetisierung des Sterbens als

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cut. Embedded focalization in principle entails ambiguity: what is to be ascribed to the primary-narrator-focalizer and what to the secondary focalizer? After all, it is the primary narrator focalizer who is verbalizing the focalization of the character. And where does the embedding stop or (in the case of implicit embedded focalization) begin? […] Because of the inherent ambiguity of embedded focalization and the possibility of the intrusion,“ so de Jong weiter (54), „it could be argued that embedded focalization should be restricted to those cases where the focalization by a character is without question, for instance the view expressed or the language used can be shown to be typical of that character. This would considerably reduce the amount of embedded focalization in a narrative text and increase the presence and dominance of the primary narrator-focalizer“; Fludernik (2013: 50): „In der traditionellen Erzählung ist daher die Einstellung (viewpoint, bzw. point of view) des Erzählers eine oft privilegierte, geschlossene Perspektive; die Perspektivenstruktur kann aber auch offen bleiben, wenn zwischen den Ansichten des Erzählers und der Figuren nicht eindeutig zu entscheiden ist.“ Sofsky 1997: 104; s. Anm. 151 auf S. 38; vgl. Bohrer (1994: 156): „Die Unterbrechung des Zeitbewusstseins, die Abwesenheit auch von Zeitgegenwart zugunsten reiner Gegenwärtigkeit der Imagination hat als die notwendige Folge: Unbestimmtheit eines Vorgangs, den man nicht mehr ableiten kann.“ Sofsky (1997: 119): „Gewaltzeit ist keine gemeinsame Zeit. Was dem Beobachter, der aus dritter Perspektive das Geschehen untersucht, als einheitliche Zeitform erscheint, ist in Wahrheit ein radikaler Antagonismus.“ Vgl. Anm. 156 auf S. 40.

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Übergang vom Leben zum Tod.265 Dieser ‚außerzeitliche‘ Augenblick bewegt sich ausschließlich im Grenzbereich des „Jetzt-nicht-Mehr“ und „Jetzt-nochNicht“.266 Er lässt sich als selbstreferentielle, zeitlose Kontemplation verstehen und gleicht in ihrer Wirkung einer „Epiphanie des Plötzlichen“, die Bohrer auch in Bezug auf Zenos Paradoxon des fliegenden Pfeils feststellt.267 Die Irritation des Ausdrucks lentus cadit resultiert demnach also weniger aus physiologischen Gesetzmäßigkeiten,268 als vielmehr aus der Ambivalenz der narrativen Vermittlung durch den auktorialen Erzähler und der fiktiven Wahrnehmung der Gewalt(zeit) durch den patiens Lycidas.269 Es ist bemerkenswert, dass – ähnlich wie in der individuellen Sterbeszene 1 (Catus) und der individuellen Opferungsszene (Zwilling) – strukturauflösende Prozesse mit einer räumlich-semantischen Grenzüberschreitung der Figur einhergehen. Während Lycidas von Enterhaken und Gefährten in der Schwebe zwischen den Teilräumen Meer und Schiff gehalten und schließlich zerrissen

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Vgl. Hömke (2010: 100): „The focus rests on the process of dying. Dying is not only the transition from life to death but also an independent, artificially-expanded special condition of human existence“; im Hinblick auf Scaevas Tod fährt Hömke (2010: 101) fort: „Lucan seems to have decided for an aesthetic of terror. He expands the moment between life and death to an interval of its own, gives dying its own state and subdivides it into different phases, which he in turn individually makes into an issue.“ Bohrer 1998b: 53; vgl. Umbreit (2003: 35): „Die Figur des Übergangs bezeichnet diese oszillierende, gespaltene Gegenwart, ein Dazwischen, das sich aufspannt zwischen einer Gegenwart, die eigentlich nicht mehr ist, aber auch noch nicht voll da ist“; vgl. Sofsky 1997: 106 (s. Anm. 152 auf S. 39); zum Paradoxon, dass der ‚zeitlose‘ Augenblick in der fortschreitenden Zeit nicht zu verorten ist, s. Plat. Parm. 156d–157a. Vgl. Bohrer 1994: 175; zu Zenos Pfeil-Paradoxon s. Aristot. Phys. 6.9.239b.30. Metgers (1957: 41) ‚physiologische‘ Erläuterung, dass das Blut aufgrund des aufgehobenen Blutdrucks langsam aus den Wunden ‚fällt‘ wird von Hunink (1992: 238) aufgegriffen: „the blood does not spurt out like it would in the case of a normal wound, but as the blood pressure suddenly ceases completely, due to the major injuries, the blood starts flowing profusely, but slowly.“ Im Hinblick auf die Aspekte der ‚verzerrten narrativen Vermittlung durch den Erzähler‘ und ‚Zusammenbruch der Zeit‘ steht das Phänomen der Gewaltzeit in einem bemerkenswerten Entsprechungsverhältnis zu Christine Waldes Beobachtungen bezüglich des Verhätlnisses Postmemory – Figurenkommentare. Auf Grundlage eines trauma- und erinnerungstheoretischen Zugangs zu Lucans Text gelangt sie unter anderem zu dem Ergebnis (2011, 296): „This enactment of the many perspectives of memory in the form of Figurenkommentare is enhanced by the use of a biased narrator and a remarkable time collapse, as it is indeed typical of traumatic experiences and their literary reconstruction.“ Die narrative Repräsentation von Gewaltzeit kann demnach als eine der bedeutendsten „innovative literary strategies“ (Walde 2011: 301) angesehen werden, um den Leser traumatische Gewalterfahrungen realisieren zu lassen. Zu körperlichen Trauma als Voraussetzung für die Erfahrung von Erhabenheit s. Day 2013: 188, passim.

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wird, hebt der Erzähler mittels narrativer Repräsentation von Zeit und Fokalisierung eine Verschmelzung der Erfahrungs- und Wahrnehmungsebenen ins Bewusstsein des Rezipienten. Weitere Auflösungserscheinungen lassen sich zudem mit Blick auf Subjektivität und soziale Beziehungen beobachten. (3) Der letzte Abschnitt der individuellen Sterbeszene bringt infolge der Zerstörung zeitlicher Strukturen schließlich eine Depersonalisierung des patiens zum Ausdruck.270 Gewaltzeit steht mit der Desintegration des Subjekts in unmittelbarem Zusammenhang: Gewalt dissoziiert und atomisiert. Sie stößt die Menschen auf ihre nackte Leiblichkeit zurück. […] Die Zerstörung des Zeitsinns ist eine zentrale Wirkung akuter Gewalt. Sie hat die vollständige Desubjektivierung zur Folge. Das Widerfahrnis der Gewalt ist von absoluter Präsenz. Sie komprimiert die Zeit zur Jetztzeit ohne Horizont, zum Augenblick außerhalb der Zeit. Das Opfer ist außerstande, das Widerfahrnis im Lichte der Vergangenheit oder Zukunft einzuordnen und dadurch Distanz zu gewinnen. Es kann sich nicht mehr zur Situation verhalten, und deshalb kann es sich auch nicht mehr zu sich und zu anderen verhalten. Noch vor dem Tod wirft die Gewalt den Menschen in eine Zeit jenseits der sozialen Welt.271 Wie bereits erwähnt, spiegelt sich die Isolation des Körpers vom Erzählraum und den herbeigeeilten Soldaten im extremen Zoom In auf das Innere der beiden Körperhälften wider (s. Abschnitt 4.4.6.3 zum Erzählraum). Der Leser wird weder über deren räumliche Position noch über den weiteren Verbleib der socii in Kenntnis gesetzt. Der räumliche und soziale Kontakt nach außen ist unterbrochen. Wie Sofsky bemerkt, geht die Erfahrung der Gewalt jedoch über eine ‚Vereinsamung‘ bzw. das Gefühl des ‚Aus-der Welt-Geworfensein‘ hinaus. Am Text lässt sich vielmehr der Verlust jeglicher Selbstbezüglichkeit beobachten. Lycidas’ Desintegration als Subjekt wird insbesondere durch die deutliche Akzentuierung des Körpers und dessen Eigenständigkeit suggeriert (s.o., vgl. 270

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Vgl. Bartsch (1997: 38): „All these episodes are described without any hint at pain or suffering; the protagonists are simple machines for mutilation, comically pursuing their ends as various body parts fall off around them – again, another factor contributing to the reader’s emotional distance from the events“; vgl. zudem ihre Ausführungen zum ‚Abjekt‘ als Sinnbild für die Depersonalisierung der Soldaten (19–27); und Alexis (2011: 137) resümiert knapp: „This fighter is depersonalised, as here we see death struggling with parts of the body as life is emptied from the limbs.“ Sofsky 1997: 120; vgl. Anm. 153 auf S. 39; s. auch Sofsky (1996: 66): „Der Körper ist nicht ein Teil des Menschen, sondern dessen konstitutionelles Zentrum. Daher trifft die Verletzung zugleich Seele und Geist, das Selbst und die soziale Existenzweise.“

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Anm. 254 auf S. 248). Die zwei Körperhälften scheinen autonom zu handeln, wenn etwa der untere Teil die Gliedmaßen aktiv dem Tod überlässt (pars ultima trunci | tradidit in letum, 642–643) oder der personifiziert wirkende Tod ( fata) lange mit dem Rumpf kämpft (luctataque multum | hac cum parte, 645–646). Der Eindruck wird durch den Verweis auf die geschwollene Lunge und die glühenden Eingeweide intensiviert, zumal auf syntaktischer Ebene die Subjekte pulmo und viscera jeweils ein aktives finites Verb regieren (iacet, fervent). Dies gipfelt letztendlich in dem Eindruck, dass der Tod Besitz ergreift vom desubjektivierten Organismus eines anonymen viri (646). Genau diesen Prozess der Zerstörung jeglicher Selbstreferentialität bezeichnet Trotha als eine in ihr Gegenteil verkehrte ‚Verleiblichung‘: Überwältigt vom Erleiden der Gewalt können Menschen damit anfangen, ihrem Körper seine Eigenständigkeit zu überlassen, ihm wie von außen zuzusehen und jene radikale Distanz zu ihrer eigenen Körperlichkeit zu entwickeln, die die Gleichgültigkeit ist. […] Der Körper macht, was er will, aber wir haben uns von ihm so weit entfernt, dass uns diese Verselbstständigung des Körpers nicht mehr berührt […].272 Die narrative Vermittlung dieses Prozesses, d.h. der Entfernung des Gewalt erleidenden Subjekts Lycidas von seinem eigenen Körper, wird erst durch die bereits weiter oben erläuterte offene Perspektivenstruktur der Erzählung ermöglicht. Mittels einer rein internen Fokalisierung wäre eine bewusste Wahrnehmung des Aspekts der Depersonalisierung wohl weniger möglich. 4.4.5.5 Zwischenfazit Die Analyse der vierten individuellen Sterbeszene hat ergeben, dass die Gewaltdarstellung ihre eindringliche Wirkung zum einen aus der dynamischen Gewaltkonstellation entfaltet. Die Gefährten greifen zunächst direkt als opponentes (GA32) in das Geschehen ein, sind letztlich jedoch als adiuvantes (GA31) der Gewalt anzusehen, da Lycidas’ Tod erst durch ihren Einsatz zum grauenerregenden miraculum fati wird. Zum anderen wurde der Versuch unternommen, die Partie aus dem Blickwinkel des Erzählraums und damit zusammenhängend der narrativen Gestaltung der Zeit zu untersuchen. Insbesondere der Aspekt des Aktionsraums tritt in der Sterbeszene in den Vordergrund. Zunächst erscheint der Erzählraum aufgrund der Vermittlung einzelner Snapshots gerafft, während in der anschließenden Schilderung des Blut-

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Trotha 1997a: 29.

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austritts der Eindruck einer Raumdehnung erweckt wird. Dies resultiert aus der Hervorhebung von Bewegung und Wegestrukturen. Parallel zur narrativen Repräsentation des Raums lassen sich im Text sowohl Raffung als auch Dehnung der Zeit belegen. Jedoch konnte im Hinblick auf den Todeskampf (642b–646) auch Zeitdeckung nachgewiesen werden, die ebenso zum Eindruck des gedehnten Sterbeprozesses beiträgt. Insgesamt weist die dynamische Zeitstruktur der Lycidas-Partie zahlreiche Berührungspunkte mit Sofskys und Bohrers theoretischen Ausführungen zu Gewaltzeit und Plötzlichkeit auf. Durch die Zusammenführung der soziologischen und literaturwissenschaftlichen Ansätze lässt sich zur vorliegenden Erzählung ein neuer Zugang erschließen, der sich einerseits von der philologisch traditionellen Sichtweise abhebt, andererseits gemeinsame Schnittmengen mit bisherigen Ergebnissen aufweist. Im Zuge von Gewalt und Grenzüberschreitung wird Lycidas’ phänomenologisches ‚Erleben‘ von Zeit nachgezeichnet. Als subjektives Wahrnehmungsereignis ist eine rein ‚objektive‘ Annäherung von außen nicht möglich. Als unmittelbare Folge auf den Prozess des ‚Aus-der-Zeit-Fallens‘ wurde schließlich Bezug auf die Depersonalisierung des patiens eingegangen, die anhand des extremen Zoom In in dessen Körper zum Ausdruck kommt. Mit dem Sterben geht jeglicher Selbst- als auch Weltbezug verloren, sodass die Szene mit dem Tod des desubjektivierten Organismus’ abschließt. In Lycidas’ physischer ‚Fragmentierung‘ ist die dynamische, eindringliche Wirkung von tension paradigmatisch abgebildet. Das Spannungsverhältnis zwischen zwei entgegengesetzten ‚Energiefeldern‘ konstituiert sich im Prozess der Auflösung. 4.4.6 Fazit Die Analyse der ersten fünf individuellen Gewaltszenen der Seeschlacht hat gezeigt, dass „das freie Spiel der steigernden und kontrastierenden Darstellung“ anhand des Kriteriums Tension beschreibbar gemacht und weiter aufgefächert werden kann.273 In den jeweiligen Partien sind, wie erläutert, binäre Oppositionspaare beispielsweise im Kontext des Körpers (Brust – Rücken), des Erzählraums (Meer – Schiff, innen – außen) oder der Zeit (Dehnung – Raffung) abgebildet. Während die kontrastiv angelegten Entitäten eher als statisch anzusehen sind, ist deren Spannungsverhältnis von bemerkenswerter Dynamik geprägt. Im Text äußert sich diese Dynamik meist im Prozess der Grenzüberschreitung (wie etwa Catus), in Desintegration und (Re-)Konstitution bestehender Strukturen (z.B. der Zwilling oder Lycidas) sowie in Bedeutungsoffen-

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Fuhrmann 1968: 53; vgl. Anm. 33 auf S. 163.

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heit und Ambivalenz (Gyareus). Infolge sprachlicher, semantischer und narrativer Unschärfe ergeben sich unterschiedliche, nebeneinander existierende Interpretationsmöglichkeiten, ohne dass der Rezipient sich auf eine eindeutige Sichtweise festlegen kann. Ein allen Szenen gemeinsames Charakteristikum, das großenteils daraus resultiert, ist die Überwindung illusionsbildender Prinzipien wie Weltanschaulichkeit, Sinnzentriertheit, Perspektivität und Mediumsadäquatheit. Die Lektüre veranlasst den Rezipienten zur steten Aktualisierung der fiktionalen, ‚künstlichen‘ Beschaffenheit des Textes. Vor diesem Hintergrund ist die jeweilige Figur des patiens weniger als ‚Charakter‘ oder individuelle ‚Persönlichkeit‘ dargestellt, sondern vielmehr als ‚Typus‘ inszeniert, an dem Gewalt als ästhetischer Akt ausdifferenziert wird. So lässt sich nach der Untersuchung die rahmende Funktion der ersten (Catus) und vierten individuelle Gewaltszene (Lycidas) hervorheben, die beide den dynamischen Prozess der (physischen) Auflösung unter verkehrten Vorzeichen schildern: während erstere mit dem Zusammentreffen der Wurflanzen eine konzentrische ‚Hineinbewegung‘ beschreibt, woraufhin das eruptive Herausschleudern der Fernwaffen folgt, ist letzterer zuerst das ‚dezentrierende‘ Auseinanderreißen des Körpers zu entnehmen, woraufhin schließlich der Blick ausschließlich ins Innere des Körpers gerichtet wird. Tension und dynamische Spannungsverhältnisse sind also nicht nur konstituierende Merkmale innerhalb der individuellen Gewaltszenen, sondern markieren auch die Wechselwirkung aller fünf Partien untereinander: Die Partien heben sich angesichts der narrativen Repräsentation der Gewalt kontrastierend voneinander ab, zugleich weisen sie jedoch Parallelen und Berührungspunkte auf, anhand derer das kontrastive Verhältnis noch schärfere Konturen annimmt (s. besonders die Telo-Episode). Die Selbstreferentialität Lucanischer Gewalt lässt sich also auch ‚interszenisch‘ greifbar machen.

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Suspense: Hercules vs. Antaeus 5.1

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Text und Übersetzung: Lucan. 4.593–653 ‘Nondum post genitos Tellus effeta gigantas terribilem Libycis partum concepit in antris. nec tam iusta fuit genetricis gloria Typhon aut Tityos Briareusque ferox; caeloque pepercit quod non Phlegraeis Antaeum sustulit arvis. hoc quoque tam vastas cumulavit munere vires Terra sui fetus, quod, cum tetigere parentem, iam defecta vigent renovato robore membra. haec illi spelunca domus; latuisse sub alta rupe ferunt, epulas raptos habuisse leones; ad somnos non terga ferae praebere cubile assuerunt, non silva torum, viresque resumit in nuda tellure iacens. periere coloni arvorum Libyae, pereunt quos appulit aequor; auxilioque diu virtus non usa cadendi terrae spernit opes: invictus robore cunctis, quamvis staret, erat. tandem vulgata cruenti fama mali terras monstris aequorque levantem magnanimum Alciden Libycas excivit in oras. ille Cleonaei proiecit terga leonis, Antaeus Libyci; perfudit membra liquore hospes Olympiacae servato more palaestrae, ille parum fidens pedibus contingere matrem auxilium membris calidas infudit harenas. conseruere manus et multo bracchia nexu; colla diu gravibus frustra temptata lacertis, inmotumque caput fixa cum fronte tenetur, miranturque habuisse parem. nec viribus uti Alcides primo voluit certamine totis, exhausitque virum, quod creber anhelitus illi prodidit et gelidus fesso de corpore sudor. tum cervix lassata quati, tum pectore pectus urgueri, tunc obliqua percussa labare

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi:10.1163/9789004379459_006

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crura manu. iam terga viri cedentia victor alligat et medium conpressis ilibus artat inguinaque insertis pedibus distendit et omnem explicuit per membra virum. rapit arida tellus sudorem; calido complentur sanguine venae, intumuere tori, totosque induruit artus Herculeosque novo laxavit corpore nodos. constitit Alcides stupefactus robore tanto, nec sic Inachiis, quamvis rudis esset, in undis desectam timuit reparatis anguibus hydram. conflixere pares, Telluris viribus ille, ille suis. numquam saevae sperare novercae plus licuit: videt exhaustos sudoribus artus cervicemque viri, siccam cum ferret Olympum. utque iterum fessis iniecit bracchia membris non expectatis Antaeus viribus hostis sponte cadit maiorque accepto robore surgit. quisquis inest terris in fessos spiritus artus egeritur, Tellusque viro luctante laborat. ut tandem auxilium tactae prodesse parentis Alcides sensit, ‘standum est tibi’, dixit ‘et ultra non credere solo, sternique vetabere terra. haerebis pressis intra mea pectora membris: huc, Antaee, cades.’ sic fatus sustulit alte nitentem in terras iuvenem. morientis in artus non potuit nati Tellus permittere vires: Alcides medius tenuit iam pectora pigro stricta gelu terrisque diu non credidit hostem. „Noch war die Erde nach der Geburt der Giganten nicht erschöpft, und empfing eine schreckliche Leibesfrucht in den Libyschen Höhlen. Typhon oder Tityos und der wilde Briareus waren kein vergleichbar begründeter Stolz für die Erzeugerin (595); sie verschonte den Himmel insofern, als sie Antaeus nicht in den Höhlen Phlegras aufzog. Die Erde häufte die so gewaltige Stärke ihres Sprösslings auch durch diese Gabe an, dass seine bereits erschöpften Glieder immer, wenn sie die Mutter berührten, mit wiederhergestellter Kraft erstarkten (600). Diese Höhle war für ihn sein Zuhause; es wird überliefert, dass er sich tief im Fels verbarg und Löwen, die er gerissen hatte, als Speise zu sich nahm; zum Schlafen bot ihm für gewöhnlich kein Fell eines wilden Tieres eine Lagerstatt, kein Gesträuch

suspense: hercules vs. antaeus

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ein Polster, und seine Kräfte erneuerte er, indem er auf der bloßen Erde lag (605). Es starben die Landleute Libyens, es starb, wen das Meer herantrieb; lange Zeit hatte seine Standhaftigkeit die Hilfe des Niederfallens nicht gebraucht, sie verwarf die Macht der Erde: aufgrund seiner Körperkraft war er für alle unbesiegbar, obwohl er sich auf den Füßen hielt. Schließlich rief das allgemein verbreitete Gerede von dem blutdürstigen Übel den mutigen Alciden, der Länder und Meer von Ungeheuern befreit (610), an die Libyschen Küsten. Jener warf das Fell des nemëischen Löwen, Antaeus das eines libyschen ab; der Fremde begoss seine Glieder mit Öl, ganz nach dem Brauch der olympischen Ringkunst; jener vertraute zu wenig darauf, mit den Füßen seine Mutter zu berühren (615) und schüttete zur Unterstützung heißen Sand über seine Glieder. Sie verstrickten ihre Hände ineinander sowie ihre Arme in vielfältiger Windung; lange versuchten sie vergebens, den jeweiligen Nacken mit den wuchtigen Armmuskeln in ihre Gewalt zu bringen, ihr Haupt, an die Stirn (des Gegners) geheftet, blieb unbeweglich, und es nimmt sie wunder, einen ebenbürtigen Gegner zu haben (620). Der Alcide wollte aber zunächst nicht seine ganze Kraft im Kampf einsetzen, und erschöpfte den Mann, wie jenem stetes Keuchen verriet und kalter Schweiß, der aus dem ermatteten Körper rann. Dann wird der ermüdete Nacken geschüttelt, dann Brust durch Brust verdrängt, alsdann beginnen die Beine zu sinken, die von der Seite heftige Faustschläge erhalten (625); nun umfasst der Sieger den nachgebenden Rücken des Mannes, drückt seinen Unterleib zusammen und nimmt dessen Körpermitte in den Würgegriff; seine Füße zwischen dessen Leisten gebracht, zieht er sie auseinander und streckt den Mann in seiner Größe von Kopf bis Fuß hin. Die dürre Erde saugt den Schweiß rasch auf: die Blutgefäße füllten sich mit warmem Blut (630), die Muskeln schwollen an, er erstarkte an allen Gliedmaßen und löste mit erfrischtem Körper Herkules’ Griffe. Der Alcide blieb angesichts so großer Kraft erstaunt stehen. So sehr fürchtete er am inachischen Gewässer trotz seiner Unerfahrenheit nicht die enthauptete Hydra, als ihre Schlangenköpfe wieder nachgewachsen waren (635). Sie stießen als ebenbürtige Gegner zusammen, jener mit der Kraft der Erde, jener mit seiner eigenen. Nie war es der wilden Stiefmutter vergönnt, größere Hoffnung zu schöpfen: sie sieht die schweißüberströmten Gliedmaßen und den Nacken des Mannes, der, selbst als er den Himmel trug, trocken war. Und sowie er seine Arme erneut um die erschöpften Glieder fasst (640), wartet Antaeus den Gewaltakt seines Feindes nicht ab, lässt sich aus freien Stücke fallen und richtet sich mit aufgenommener Kraft noch mächtiger auf. Die ganze Luft, die sich im Erdreich befindet, strömt hinaus in seine ermatteten Glieder

260

kapitel 5

und die Erde müht sich ab, während der Mann sich im Ringkampf befindet. Als der Alcide endlich bemerkte, dass die Berührung der Mutter ihm zu Hilfe kam und nützte (645), sprach er: ‚Stehen musst du, und es wird dir nicht weiter erlaubt sein, dich dem Boden anzuvertrauen, noch dich auf die Erde niederzuwerfen. Hängen wirst du, mit eingeklemmten Gliedern inmitten meiner Brust. Hierhin, Antaeus, wirst du fallen.‘ So sprach er und hob den Jüngling, der sich auf den Boden stemmte, in die Höhe (650). Der Erde war es nicht möglich, ihre Kräfte in die Glieder ihres sterbenden Sohnes strömen zu lassen: Der Alcide hielt die von starrer Kälte bereits steife Brust in der Mitte und überließ den Feind lange nicht dem Erdboden.

5.2

Kontext, Inhalt, Aufbau

Die Erzählung vom Kampf zwischen Hercules und Antaeus ist in den letzten der drei großen Abschnitte in Buch 4 eingebettet: 1–401: Schlacht von Ilerda 402–581: Vulteius’ Freitod 581–824: Curios Militäraktion Auf die Schilderung der Schlacht von Ilerda und des kollektiven Freitods caesarischer Soldaten unter Vulteius folgt Curios militärisches Vorgehen gegen Varus und Juba in Africa. Hier wird zu Beginn geschildert, wie Curio mit seiner Flotte von Lilybaeum zu einem Hafenplatz zwischen Clipea und Karthago gelangt. Von einem ansässigen Bauern (rudis incola, 592) will er wissen, warum die Gegend, in deren Nähe er sein Lager aufgeschlagen hat, den Namen ‚Reich des Antaeus‘ trägt. Der Landmann beginnt vom Kampf des Riesen Antaeus gegen Hercules zu erzählen. Die folgende Partie stellt einen der wenigen mythologischen Exkurse im Bellum Civile dar, der zudem in seiner Länge lediglich vom Medusa-Exkurs in Buch 9 überboten wird. Er nimmt als mise en abyme des Bürgerkriegs eine Schlüsselstelle im Werkganzen ein und muss in engem Zusammenhang insbesondere mit den nachfolgenden Ereignissen in Africa gesehen werden (s. Abschnitt 5.3 zum Forschungsstand).1 Antaeus wurde in den Höhlen Libyens von seiner Mutter Tellus großgezogen. Er übertrifft sogar seine Brüder, die im Gegensatz zu ihm am Kampf gegen die Olympischen Götter teilgenommen haben und gefallen sind (593–597). Zusätz-

1 Vgl. Ahl 1972: 1000; Alexis 2011: 148.

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261

lich zu seiner enormen Stärke verfügt er über die besondere Fähigkeit, durch Körperkontakt mit der Erde seine verbrauchte Kraft wiederherzustellen. Der Riese lebt in Höhlen, verspeist Löwen und tötet – ohne die Hilfe seiner Mutter Erde in Anspruch zu nehmen – sowohl Einwohner als auch Fremde, die über das Meer an seine Küste segeln (598–609). Seine grausamen Taten rufen schließlich Hercules herbei. Zwischen den beiden kommt es zum Ringkampf. Schnell stellen sie verwundert fest, dass sie sich einem jeweils ebenbürtigen Gegner gegenübersehen (612–620). Nach zwei erfolglosen Angriffen Hercules’, denen Antaeus erfolgreich Widerstand leistete, indem er sich auf den Boden fallen ließ und so seine Kraft vollständig erneuerte (621–644), durchschaut der griechische Held dessen ihm bisher unbekannte Fähigkeit. Nach kurzer Rede geht er zu einem dritten Angriff über, hebt Antaeus hoch, sodass die Verbindung zwischen Mutter und Sohn unterbrochen wird, drückt Körper und Glieder zusammen und würgt seinen Gegner schließlich zu Tode (645–653). Die Textpartie lässt sich in folgende Abschnitte gliedern: 593–611:

Einleitung: a) 593–609a: Charakterisierung Antaeus b) 609b–611: Charakterisierung Hercules 612–616: Kampfvorbereitung 617–620a: Kampfbeginn 620b–629a: Angriff 1 (Hercules) 629b–632: Verteidigung 1 (Antaeus) 633–635: Episodischer Einschub 1: Hercules’ Verunsicherung 636–637a: Fortsetzung des Kampfes 637b–639: Episodischer Einschub 2: Junos Perspektive 640–644: Angriff 2 (Hercules) und Verteidigung 2 (Antaeus) 645–649a: Episodischer Einschub 3: Hercules’ Klarblick und Rede 649b–653: Angriff 3 (Hercules) und Tod des Antaeus

5.3

Forschungsstand

Die Antaeus-Episode hat im Zusammenhang mit der Darstellung von Curios Feldzug in Africa ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfahren. Dabei beziehen sich die bisherigen Forschungsbeiträge überwiegend auf vier Aspekte: (1) die Partie als repräsentatives Beispiel für Lucans spezifische Exkurstechnik, (2) Libyen als besondere Landschaft, (3) die allegorische Gleichsetzung von Antaeus und Hercules mit anderen Figuren des Werks, (4) und intertextuelle Bezüge.

262

kapitel 5

(1) Den Exkursen des Bellum Civile wurde aufgrund ihrer Länge und scheinbaren Beziehungslosigkeit zum Werkganzen häufig eine Funktion innerhalb der narrativen Makrostruktur abgesprochen. Sie seien, so beispielsweise Syndikus und Morford, lediglich dadurch legitimiert, dass sie die Gelehrsamkeit Lucans zum Ausdruck brächten.2 Zudem leide deren poetische Qualität unter der starken Rhetorisierung und dem manieristischen Stil – gemäß Quintilians bekanntem Urteil: Lucanus […] magis oratoribus quam poetis imitandus (Quint. inst. 10.1.90.13–15).3 Dagegen führt Uhle in seinem Forschungsüberblick zur lucanischen Exkurstechnik dennoch drei Erklärungsansätze an, die Zweifel gegenüber den bis dahin geläufigen Vorwürfen äußern.4 Erstens erfüllt eine Episode wie die vom Kampf zwischen Hercules und Antaeus eine emphatische Funktion. Landschaften, Einwohner und mythische Figuren werden meist besonders düster und schauderhaft beschrieben mit dem Ziel, das Bürgerkriegstreiben als Katastrophe kosmischen Ausmaßes darzustellen.5 Zweitens übernehmen Exkurse eine gliedernde Funktion. Dabei schaffen sie zum einen Übergänge, zum anderen unterstreichen sie den kontrastiven Charakter zweier sich antithetisch gegenüberstehender Partien.6 Drittens tragen sie zur ‚Modernisierung‘ der epischen Gattung bei, indem der wissenschaftliche Charakter der Rhetorik und die Dichtung miteinander in Einklang gebracht werden.7 In Bezug auf Uhles ersten Punkt kommt Burck bei seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass die ‚gelehrten‘ Exkurse im Bellum Civile keinesfalls einen reinen Selbstzweck erfüllen, sondern „sinnvoll der Haupthandlung zugeordnet [sind], wenn sie auch in der Einzelausführung ihre klassischen Modelle übertrumpfen und bisweilen erheblich ausufern.“8 Auch Schönberger sieht in den mythologischen Vergleichen eine „dichterische Vertiefung“, die dazu beiträgt, die bedrohliche Atmosphäre des Werkes zu steigern.9 Im Hinblick auf die Rhetorisierung der Dichtung, Uhles dritter Punkt, sieht Albrecht in der Rhetorik ein Mittel, um

2 Syndikus 1958: 71; Morford (1967: 87): „These episodes […] had to display a knowledge of the literary tradition and a knowledge, often very detailed, of the subject being dealt with.“ 3 Morford (1967: 87): „What is important is that the conventions of epic poetry in the time of Nero allowed the inclusion of extraneous disquisitions whose connection with the main development of the epic hardly justifies (in our view) their length.“ 4 Uhle 2006: 442–444. 5 Vgl. Burck 1979: 175. 6 Uhle 2006: 443. Vgl. Eckardt 1936: 3–5. 7 Uhle 2006: 443. 8 Burck 1979: 176. 9 Schönberger 1968: 196–197.

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263

die „spezifisch poetische Qualität“ zu erreichen.10 Auf diese Weise rückt Lucan sein Bürgerkriegsepos näher an die Gattung des Lehrgedichts.11 (2) Landschaften tragen durch ihre Beschreibung nicht nur zur Atmosphäre des Werkganzen bei, sondern müssen in ihrer Komplexität auch als „symbolgeladene Räume und intertextuelle Erinnerungsspeicher“ verstanden werden.12 Sie sind sowohl allgemein als auch speziell im Hinblick auf Libyen bereits von mythischer oder historischer Gewalt vorgeprägt. In der vorliegenden Partie erscheint Curio die Gegend aufgrund von Hercules’ Sieg über Antaeus als „[…] ominous, appropriate, an ‘ideal site’ […]“.13 Ebenso hebt Radicke die enge Verbindung von Mythologie und Topographie hervor: Darüber hinaus erfüllt er [der mythische Exkurs] im Ganzen eine sinnvolle Funktion, indem er die topographische Einleitung verlängert und den Leser motivisch auf die folgende Handlung einstimmt, da ihm der Platz, an dem Curio lagert, als eine Stätte erscheinen muss, an dem Kampf und Leid seit mythischen Urzeiten verwurzelt sind.14 Zudem hebt sich die Darstellung Libyens von den übrigen Landschaften im Bellum Civile dadurch ab, dass gleich drei mythische Erzählungen mit ihr verwoben sind. Neben dem Antaeus-Exkurs ist dies der Mythos der Hesperiden (9.348–367) sowie Medusas (9.616–699).15 So erhält der Leser ein umso eindrücklicheres Bild von der tödlichen Gefahr und ins Phantastische reichenden Abnormität der fiktiven Gegend.16

10 11

12

13 14 15 16

Albrecht 1994: 726; vgl. Schindler 2000: 139–141 u. 150–151. Uhle 2006: 444; vgl. Syndikus 1958: 71; Morford 1967: 87; allerdings hat Lausberg (1990: 180– 187 u. 202–203) nachgewiesen, dass dem Lehrgedicht ähnliche Partien bereits in Homers epische Dichtung Eingang gefunden haben. Daher trifft der Begriff der ‚Modernisierung‘ nicht in vollem Maße zu. Ambühl 2015: 136; über die Charakterisierung Libyens hinaus s. König (1957) und Schönberger (1968: 1970), deren Interpretationsansätze in den Beiträgen von Helzle (1993), Müller (1995) und Loupiac (1998) Eingang finden; zu Landschaften bei Lucan vgl. Masters 1992 115–116; Auhagen 1997; Walde 2007; Bexley 2014. Zur Verwischung von geographischen und politischen Grenzen s. Bexley 2009, Pogorzelski 2011 und Myers 2011. Allgemein zu Landschaftsbeschreibung in der römischen Poesie vgl. Segal 1969; Barchiesi 1997; Hinds 2002; Bartsch/Elsner 2007; ein weiterführender Überblick findet sich bei Ambühl (2015: 137, Anm. 241). Masters 1992: 116. Radicke 2004: 302; vgl. Martindale 1981: 74. Ambühl 2015: 137. Zur allegorischen Deutung Libyens bei Lucan s. Thomas 1982: 108–123; O’Gorman 1995: 125–127; Loupiac 1998: 67–78; Leigh 2000; Raschle 2001: 43–59; Hodges 2004: 201–213;

264

kapitel 5

(3) Einer der am ausführlichsten untersuchten Aspekte der vorliegenden Partie stellt die Identifikation von Antaeus und Hercules mit anderen Figuren inner- und außerhalb der Erzählwelt des Bellum Civile dar. Die Forschung lässt zunächst zwei unterschiedliche Tendenzen erkennen: Zum einen sei Hercules als Ideal des stoischen Helden zu deuten, das letztendlich in Cato seine Erfüllung finde. Dieser Ansatz geht auf Grimals Beitrag zurück, dem beispielsweise Thompson/Bruère und Leigh folgen.17 Zum anderen wird Hercules als unvollständiger und mangelhafter Held gedeutet, dessen Vervollkommnung schließlich erst bei Cato nachzuweisen sei.18 Ahls Interpretation lässt einen bemerkenswerten Einfluss auf nachfolgende Untersuchungen erkennen, wie etwa von Shoaf, Martindale, Moretti, Raschle und Wick.19 Erst die Forschung der letzten Jahre lässt Zweifel an der Heldenhaftigkeit Catos aufkommen und rückt dessen ambivalente Deutung stärker in den Vordergrund. Hierzu zählen vor allem die Beiträge von Saylor, Sklenář, Wildberger, Maes, Seo und Tipping.20 Die hohe Anzahl vergleichbarer Untersuchungen weist eine bemerkenswerte Diskrepanz der Resultate auf: Ahl kommt zu dem Ergebnis, dass weder Curio mit Antaeus noch Juba mit Hercules identifizierbar seien.21 Saylor dagegen versucht nachzuweisen, dass sowohl Curio als auch Juba, auf jeweils unterschiedliche Weise, Antaeus zuzuordnen sind: der eine in Bezug auf seinen Misserfolg, der andere gerade deshalb, weil er Erfolg hat.22 Martindale lehnt eine Gleichsetzung von Figuren untereinander kategorisch ab ebenso wie die Ansicht, dass es sich um einen exemplarischen Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei handelt – jeweils verkörpert durch Hercules und Antaeus. Stattdessen liegt sein Interesse auf „the paradoxical and bizarre nature of the contest“, ein Sachverhalt, der sich seiner Meinung nach im Stil der Passage widerspiegelt.23 Diesem Ansatz widerspricht jedoch Asso, der den Ringkampf zwischen dem olympischen Helden und dem wilden Riesen als erneutes Aufflammen der Gigantomachie sieht, in der am Ende die Ordnung über das Chaos

17 18 19 20 21 22 23

Wick 2004: 155–158; McIntyre 2009: 74–84; Lowe 2010. In der aktuellen Raumnarratologie erfüllt der Erzählraum eine thematische, beschreibende, symbolische, charakterisierende und/oder psychologisierende Funktion, s. de Jong 2014: 122–135; vgl. Anm. 158 u. 159 auf S. 215; s. auch Hoffmann 1978; Ronen 1986; Dennerlein 2009; Hallet 2009. Grimal 1949: 60; Thompson/Bruère 1970: 169; Leigh 2000: 108–109. Ahl 1976: 99 u. 259–274. Shoaf 1978; Martindale 1981; Moretti 1999; Raschle 2001: 49–55; Wick 2004: 27–32. Saylor 2002; Sklenář 2003: 59–100; Wildberger 2005; Maes 2009; Seo 2011; Tipping 2011; vgl. Bexley 2010 u. D’Alessandro-Behr 2011. Ahl 1972: 1003; 1976: 88–115. Saylor 1982. Martindale 1981: 72.

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265

siegt.24 Schließlich schlägt Uhle vor, die im Text suggerierte typologische Trias Hercules – Scipio – Curio aufzubrechen, und setzt an deren Stelle die Linie Antaeus – Hannibal – Caesar, sodass eine indirekte Kritik an Nero zum Ausdruck käme.25 Schließlich identifiziert Lowe Antaeus mit Libyen, das zugleich mit caesarischen Konnotationen versehen ist.26 Diese enorme Vielfalt oft widersprüchlicher Ergebnisse lässt möglicherweise darauf schließen, dass die Unmöglichkeit einer deutlichen Identifikation im Text selbst angelegt ist. So kann die Unschärfe von vermeintlich klar abgegrenzten Kategorien zum einen als typisches Merkmal der Bürgerkriegssituation in all ihrer Komplexität verstanden werden, wie auch Ambühl bemerkt: Solche eindeutigen allegorischen Zuordnungen gehen jedoch meist nicht auf, da die mythischen Figuren jeweils zu mehreren Bürgerkriegsakteuren zugleich in Bezug stehen und damit zueinander in Widerspruch stehende Deutungsmöglichkeiten eröffnen, die zugleich die für einen Bürgerkrieg typische Verwischung der Kategorien abbilden.27 Zum anderen ist Ambiguität als charakteristisch für Dichtung an sich zu sehen, woraus sich unterschiedliche – durchaus auch gegensätzliche – Interpretationsansätze überhaupt erst ergeben.28 (4) Schließlich nimmt der Aspekt der Intertextualität eine prominente Stellung in der Forschung ein.29 Hierbei zeigt sich, dass die Prätexte der AntaeusEpisode ein breiteres Spektrum aufweisen als zunächst angenommen. Lucans Text lässt insbesondere zum Kampf zwischen Hercules und Cacus in Vergils Aeneis (8.184–305) deutliche Parallelen erkennen, die vor allem Thompson/Bruère, Ahl, Asso und Alexis aufzeigen.30 Ihre Beiträge korrespondieren mit Sklenářs Untersuchungen, die stärker auf die moralische Dimension des Bürgerkriegs eingehen, einen Vergleich zwischen Soldaten und Gladiatoren innerhalb der Curio-Szene anstellen und dabei den Blick auf Aen. 1.98–207 24 25 26 27

28

29 30

Asso 2002: 58–66. Uhle 2006. Lowe 2010. Ambühl 2015: 138; Merli (2005: 129, Anm. 41) bemerkt hierzu: „Jede Eins-zu-eins-Identifikation ist als zu schematische Vereinfachung abzulehnen“; Radicke (2004: 303): „Die Vielschichtigkeit der Deutung ist von Lucan möglicherweise beabsichtigt.“ Zum Begriff der Ambiguität in der neueren Literaturtheorie s. die grundlegende Arbeit von Empson (1969); vgl. Eco 1973; Rimmon-Kenan 1977; Bode 1988; Schick 2003; Koslowski 2004; Berndt/Kammer 2009. Zum Intertextualitätsbegriff, der der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt s. Anm. 99 auf S. 21. Thompson/Bruère 1970; Ahl 1976: 93–98; Asso 2002; Alexis 2011: 164–165.

266

kapitel 5

richten.31 Zudem konnte auch Ovids Schilderung vom Kampf zwischen Hercules und Achelous (met. 9.1–88) als Prätext für die vorliegende RingkampfPassage nachgewiesen werden. Während Vergils Kampfszene hinsichtlich der Darstellung von einzelnen Körperteilen mit der Lucans kontrastiert, legt Ovid den Fokus ähnlich stark wie der Autor des Bellum Civile auf die Physis und präzisen Bewegungsabläufe der beiden Kontrahenten. Auch der Bezug zu Hercules’ Sieg über die Hydra führt Lucans Ovid-Rezeption klar vor Augen.32 Livius’ Erzählung vom Kampf des Regulus gegen die riesige Schlange am Bagradas könnte ebenso Lucan vorgelegen haben, wie Ahl und Leigh dokumentieren.33 Sophokles’ Trachiniae (1058–1061) finden in der Forschung zu Lucans intertextuellen Bezügen ebenfalls Berücksichtigung,34 sowie auch Pindars vierte Isthmie.35 Hinweise auf hellenistische Elemente deckt Ambühl auf, die der Partie eine „alexandrinisch-kallimacheische Färbung“ bezeugt.36 Hierbei geht sie genauer auf die wenig motiviert wirkende Erwähnung des rudis incolae (Lucan. 4.592) ein, sowie auch auf das Epitheton des Nemeischen Löwenfells, und arbeitet Parallelen zu Kallimachos’ Victoria Berenices und Hekale heraus. Zudem wird (Ps.)-Theokrits 25. Idyll (266–271) in ihrer Untersuchung berücksichtigt.37

5.4

Interpretation

Der Ringkampf zwischen Hercules und Antaeus ist von den meisten Gewaltdarstellungen des Bellum Civile besonders abzuheben: Gewalt zeigt sich hier nicht in blutiger Manier, wie der Leser etwa nach der Lektüre der Seeschlacht in Buch 3 erwarten könnte, sondern als Entzug von Kräften. Konventionelle Waffen kommen nicht zum Einsatz, vielmehr wird der Erzählraum zur Waffe. Zudem lässt sich die Szene als individuelle Aristie bezeichnen, da es sich um eine gewaltsame Auseinandersetzung eines dem Rezipienten bekannten Helden mit einem namentlich genannten Gegner handelt. Es wird in dieser Partie also ein Bild gezeichnet, das konträr zur deutlichen Tendenz des Bellum Civile

31 32 33 34 35 36 37

Sklenář 2003: 34–45. Vgl. Phillips 1962: 35–37; Albrecht 1970: 294–265; 2003: 251; Merli 2005: 128; Alexis 2011: 165. Ahl 1972: 1004; Leigh 2000: 95–96. Esposito 2009: 281. Ahl 1972: 1005. Ambühl 2015: 139. Ebenda: 139–141; zur Rezeptionsgeschichte der vorliegenden Textstelle s. Esposito 2009: 270–294; McIntyre 2009: 233–242.

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267

zu sehen ist, wonach die Gewaltfiguren anonym dargestellt sind. Heldenhaftigkeit besitzt somit im Kontext des Bürgerkriegs eigentlich keine Authentizität: „[…] as there is no virtue in civil war, no heroes can productivley be named.“38 Zudem steht nicht so sehr das Erleiden von Gewalt und eine in die Länge gezogene Sterbeszene im Fokus der Darstellung, sondern vielmehr der beharrliche Angriff. Im Folgenden sollen weniger die „bestimmten literarisch-narratologischen Absichten“39 der Partie innerhalb der Curio-Episode (s. zu Lucans Exkurstechnik und den typologischen Zuweisungen der Figuren Abschnitt 5.3), sondern vielmehr die konkrete narrative Repräsentation der Gewalt in den Blick genommen werden. Insbesondere der Aspekt der Verzögerung – Bramble deutet Lucans Vorgehen allgemein als ‚Verweigerung zu erzählen‘40 – ist für die folgende Untersuchung relevant. Masters geht in seiner Untersuchung auf diesen Gesichtspunkt des ‚delay‘ genauer ein und stellt in Bezug auf Lucans ‚Schizophrenie‘ zwischen Caesarischer und Pompeianischer Gesinnung fest: „[…] but none the less there is reluctance, there is ‚mora‘, the narrative does make the gesture of tying itself in knots in order to obstruct the progress of its demonic protagonist.“41 Ebenso Henderson: „this narrator loathes the progress of his story of Caesarian triumph, loves mora, delay, obstruction, diversion.“42 Wie in der anschließenden Analyse näher erläutert wird, lassen sich retardierende Elemente in der Antaeus-Episode weniger als Verweigerung der Erzählung identifizieren, sondern dienen eher der Erzeugung von Spannung. Um dieses schwer fassbare Phänomen, das sowohl auf Ebene der fabula als auch der story zur Wirkung kommt, in der Darstellung des Kampfes zwischen Antaeus und Hercules greifbar machen zu können, müssen zunächst drei wesentliche und zum Teil miteinander eng verflochtene Punkte ausführlicher betrachtet werden: erstens die Gewaltkonstellation, wobei eine genaue Differenzierung der beiden Kontrahenten als agens und patiens vorgenommen wird, und

38

39 40 41 42

Dinter 2005: 307; zur häufigen Beobachtung der Anonymität von Gewaltfiguren s. etwa Ahl (1976: 50), der feststellt, dass in der Schlacht von Pharsalus in Buch 7 einzig Domitius Ahenobarbus namentliche Erwähnung findet: „Although we are told of the many deaths of notable republicans in the battle, only one is mentioned by name in any of them: Domitius Ahenobarbus“; s. auch Sklenář (2003: 20–21) zur Anonymität von virtus in den Gewaltdarstellungen. Uhle 2006: 452. Bramble 1982: 540. Masters 1992: 8–9. Zum ‚Unwillen zu erzählen‘ vor allem bei der Überschreitung von Grenzen s. ebenda 3–6. Henderson 2010: 453; vgl. Narducci 1979: 80. Auf den Begriff der Obstruktion wird in Abschnitt 5.4.1 genauer eingegangen.

268

kapitel 5

zudem Tellus’ wachsender Einfluss als particeps (GA31/2) in das Zentrum des Interesses rückt; zweitens der Erzählraum, dessen Strukturen in bemerkenswerter Weise mit den Handlungsstrukturen der Figuren korrespondieren; und drittens die Körperlichkeit, die der Erzähler besonders akzentuiert. Im vierten und letzten Schritt sollen die bisherigen Ergebnisse im Hinblick auf die Erzeugung von Spannung bzw. suspense zusammengefasst und um weitere Beobachtungen ergänzt werden. Dabei wird der Versuch unternommen, aufzuzeigen, inwiefern sich der Verlauf des Zweikampfes in der narrativen Struktur der Textpartie widerspiegelt, und die narrative Struktur des Textes mithilfe der modernen Spannungstheorie beschreibbar gemacht werden kann (Abschnitt 5.4.4).43 5.4.1 Gewaltkonstellation Die Analyse der Gewaltkonstellation orientiert sich an der weiter oben vorgenommenen Einteilung in einzelne Segmente (s. Abschnitt 5.2). In der Einleitung (593–611) lassen sich keine konkreten Beobachtungen zur Gewaltkonstellation anstellen. Dennoch soll dieses Segment kurz erläutert werden, da es insbesondere zwei Funktionen erfüllt, die für den Verlauf und Ausgang des Kampfes von zentraler Bedeutung sind. Zum einen erhält der Leser ‚Hintergrundinformationen‘ zu den beiden Kontrahenten, d.h. hauptsächlich zu Antaeus und seiner übermenschlichen Fähigkeit über die Erde neue Kraft zu erhalten (593–609a).44 Damit verfügt der Leser über das nötige Wissen, um das Kampfgeschehen und das Wechselverhältnis zwischen Mutter und Sohn besser nachzuvollziehen. Zudem weiß er durch die anfänglichen Erläuterungen mehr als die Figur Hercules, der diesen Zusammenhang erst im Verlauf der Auseinandersetzung durchschaut.45 Im Gegensatz zum Riesen, der in seiner libyschen Heimat geradezu ‚verwurzelt‘ ist, wird der griechische Held selbst als mobiler Held in die Erzählung eingeführt (609b– 611). Sein Erscheinen wird durch die Charakterisierung und die schändlichen Umtriebe des Antaeus motiviert. Zum anderen kommt der Einleitung die Funktion einer ‚atmosphärischen Hintergrundfolie‘ zu. Dem Leser wird der als bekannt vorauszusetzende Hercu-

43 44

45

Die Untersuchung orientiert sich dabei an Wenzel 2004b: 181–195. Asso (2002: 64) bemerkt, dass der Erzähler keine Details zu Antaeus’ äußerer Erscheinung preisgibt. Dass es sich um einen Riesen handelt, lässt sich lediglich von partus terribilis (596) ableiten, das Antaeus in eine Linie mit seinen Gigantenbrüdern Typhon, Tityos und Briareus setzt. Wie sich später zeigen wird, trägt dies zusätzlich zur Erzeugung von suspense bei (s. Abschnitt 5.4.4).

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les-Mythos als Hypotext ins Bewusstsein gerufen.46 Denn ohne den Mythos ist die Partie in ihrer Komplexität nicht zu fassen. Angedeutet werden Hercules’ Mobilität (609–611) und Herkunft. Das Patronymikon Alciden (611) verweist auf dessen verwandtschaftliche Beziehung als Enkel zu Alkaios.47 Zudem wird mit Antaeus’ Epitheton invictus (608) indirekt auf den griechischen Helden verwiesen, da im Mythos gerade diesem das Attribut der Sieghaftigkeit zugeschrieben wird (victor, 626).48 Auch in den weiteren Segmenten der Partie wird der Hercules-Mythos immer wieder aufgegriffen, wie etwa bei der Kampfvorbereitung (s.u.) oder im ersten Angriff des Hercules (620b–629a). Zur Kampfvorbereitung (612–616): Noch vor dem Kampfbeginn führt ein Vorszenenelement (X) den Leser in die Situation ein und lässt sich als strukturale Disposition für den eigentlichen Kampfverlauf deuten. Wie zu sehen sein wird, bewegt sich die Szene in einem semantischen Spannungsfeld zwischen Agon und Krieg, Arena und Landschaft, Zivilisiertheit und Ursprünglichkeit.

615

ille Cleonaei proiecit terga leonis, Antaeus Libyci; perfudit membra liquore hospes Olympiacae servato more palaestrae, ille parum fidens pedibus contingere matrem auxilium membris calidas infudit harenas.

X

Die beiden Kontrahenten treffen jeweils Vorbereitungen, die sie sowohl als ebenbürtige Gegner als auch in ihrer kulturellen Gegensätzlichkeit kennzeich-

46 47 48

Dies spiegelt sich zudem an der Anzahl der Verse wider. Die Charakerisierung des Antaeus umfasst 16 1/2, die des Hercules 2 1/2 Verse. Vgl. E. Degani, Art. ‚Alkaios‘, in: DNP 1 (1996), Sp. 493. Die Rezeption des Hercules-Mythos in der römischen Literatur und Kunst befasst sich prinzipiell mit der Deutung des Helden als stoisch geprägtes exemplum virtutis sowie seiner politischen Funktionalisierung und dem ihn betreffenden stadtrömischen Kult. Insbesondere seine Sieghaftigkeit stellt einen zentralen Aspekt dar, wie etwa in Verg. Aen. oder in konfliktträchtigem Verhältnis zwischen Wahnsinn und Reflexionsvermögen in Sen. Herc. f. Anhand von römischen Denkmälern lässt sich nachweisen, dass Hercules für Marius und Sulla metonymisch für militärisch-polititschen Erfolg stand (F. Bezner, Art. ‚Herakles‘, in: DNP Suppl. 5 [2008], Sp. 331). Zudem wurde Hercules’ Unbesiegbarkeit mit bestehenden Herrschaftsstrukturen, d.h. der mittleren und späteren Republik, sowie Augustus’ Prinzipat (in ambivalenterer Ausführung) als auch der Herrschaft der Kaiser eng verknüpft (ebenda: 332). Weiterführende Literatur zur Rezeption des HerculesMythos s. Galinsky 1972; Effe 1978; Boardman et al., Art. ‚Herakles/Hercules‘, in: LIMC 5.1., 1990, 1–192; Kray et al. 1994; Ritter 1995; Huttner 1997; Kansteiner 2000; Heinrich 2006; Bezner 2008.

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nen.49 Dies soll im Folgenden erläutert werden, bevor der Blick genauer auf die Gewaltkonstellation der jeweiligen Kampfphasen gerichtet wird. Die Ähnlichkeit der Kämpfer wird vor allem an ihrer äußeren Erscheinung und den sich entsprechenden Handlungsabläufen erkennbar.50 Beide tragen ein Löwenfell, das nun zu Boden geworfen wird. Einerseits werden Antaeus zwar namentlich erwähnt (613) und Hercules als hospes bezeichnet (614),51 sodass sie klar voneinander zu unterscheiden sind, andererseits jedoch nimmt der Erzähler mit dem Demonstrativpronomen ille (612, 615) Bezug auf beide Protagonisten und bewirkt dadurch eine Annäherung auf lexikalischer Ebene.52 Der Leser muss hierbei mittels seines Vorwissens selbst schlussfolgern, dass zunächst Hercules – der Mythos lehrt, dass er als erste seiner zwölf Heldentaten den Nemeischen Löwen erlegt hat – und später Antaeus gemeint ist. Zudem übergießen (perfudit, 613; infudit, 616) beide ihre Glieder (membra, 613; membris, 616) mit Öl bzw. Sand. Zum einen unterscheiden sich die Prädikate lediglich hinsichtlich ihrer Präfigurierung per- und in-, zum anderen wird der Leser durch membra auf eine waffenlose Auseinandersetzung vorbereitet, wodurch der Fokus gleich von vornherein auf die Körperlichkeit des Kampfes gerichtet ist (s. Abschnitt 5.4.3).53 Es lässt sich zugleich eine unterschiedliche Charakterisierung beobachten, wenn man die Felle, das Öl und den Sand als semantisch besetzte Gegenstände oder Träger mythischer bzw. kultureller Kontexte in den Blick nimmt. Das Nemeische Löwenfell (Cleonaei terga, 612) markiert Hercules als mythischen Helden, der Nemea von der grausamen Bestie befreit hat. Das Attribut Cleonaei verweist als Synekdoche für Nemea auf das argivische Dorf Kleonai, wo der Halbgott Obdach bei dem Bauern Molorkos fand.54 Das Epitheton dient jedoch nicht nur der Ausschmückung, wie Ambühl richtig bemerkt, sondern kann auch als proleptischer Verweis auf den Kampf und insbesondere auf 49 50 51 52 53

54

Der Aspekt der Ebenbürtigkeit wird später explizit durch den Gebrauch von parem (620) und pares (636) zum Ausdruck gebracht. Zur äußeren Erscheinung s. Ahl 1976: 95. Auf die Bezeichnung wird in Abschnitt 5.4.4 zu suspense näher eingegangen. Zudem verweist die Bezeichnung auf Hercules’ Mobilität. Alexis 2011: 159. Alexis (2011: 158) sieht in der Gleichheit der beiden Kämpfenden eine Analogie zum Bürgerkrieg insgesamt: „Lucan’s Hercules / Antaeus episode is more ambiguous and can be read as an inversion of a mise en abyme, a negative expression of the main civil war story, an example of a pessimistic reflection of the subject on itself, where the digression concentrates the elements of conflict from the whole poem into a single wrestling match […]. Because civil war is the subject of his epic, Lucan emphasises the equality of Hercules and Antaeus to accentuate the similarity of the two sides in civil war […].“ Zum intertextuellen Verweis auf Kallimachos’ Herakles und das Epitheton Cleonaei s. Ambühl 2015: 140.

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dessen Ausgang gedeutet werden. Schließlich überwand Hercules die Bestie in der gleichen Weise wie später seinen Kontrahenten, indem er sie von hinten durch einen Würgegriff erstickte.55 Antaeus, der sich das Fell eines libyschen Löwen umgeworfen hat, erweckt hingegen selbst den Eindruck einer wilden Bestie. Diese Charakterisierung entsteht dadurch, dass der Riese Löwen ‚reißt‘, verzehrt (vgl. in der Einleitung: epulas raptos habuisse leones, 602) und somit in der ‚Nahrungskette‘ über diesen steht. Zudem ist gerade der libysche Löwe in der römischen Literatur als Sinnbild für furor und ferocitas bekannt.56 Vor diesem Hintergrund zeigt sich dem griechischen Helden eindrücklich die Gefahr, der er sich im Zweikampf gegenübersieht. Nicht nur die Löwenfelle, sondern auch symbolische Handlungen markieren die jeweiligen Eigenheiten der beiden Gegner. Hercules unterscheidet sich in der Darstellung von Antaeus durch das Einölen seiner Glieder (perfudit membra liquore, 613), was als typisch für einen griechischen Athleten anzusehen ist.57 Zudem lässt die Adverbiale Olympiacae servato more palaestrae (614) den Leser Hercules’ Genealogie vergegenwärtigen, da es sich bei den Olympischen Spielen um ein Fest zu Ehren seines Vaters Zeus handelt.58 Hier kommt deutlich seine Funktion als zivilisationsund kulturstiftender Held zum Ausdruck.59 Antaeus hingegen wirft warmen Sand über seine Glieder (membris calidas infudit harenas, 616), in der berechtigten Vorahnung, dass seine eigene Kraft nicht wie in den bisherigen Kämpfen ausreichen werde (parum fidens pedibus contingere matrem, 615).60 Abgesehen vom ‚Aggregatzustand‘ des flüssigen Öls und des festen Sandes, was eine Gegensätzlichkeit aus ästhetischer Perspektive erkennen lässt, unterstreicht Antaeus’ ursprüngliche, natürliche und rohe Verbundenheit zur Erde den Kontrast zu Hercules’ zivilisiertem Habitus als griechischer Athlet.61 Zugleich erzeugt der libysche Sand eine Atmosphäre eines agonalen Wettkampfs bzw. ruft aufgrund der etymologischen Verwandtschaft62 Assoziationen zum Gladiatorenkampf 55 56 57 58 59 60 61

62

Ebenda: 140–141. Ahl 1972: 1005; Ahl 1976: 95. Ahl 1976: 96; Asso 2010: 233. Asso 2010: 234. Vgl. F. Bezner, Art. ‚Herakles‘, in: DNP Suppl. 5 (2008), Sp. 331. Vgl. Ov. met. 9.35–36; Stat. Theb. 6.848–849; Mart. 7.67; Iuv. 6.421. Vgl. Ahl (1976: 96), für den die Partie auf „the victory of spiritually superior, educated Greek athletics over the crude natural strength of the barbarian“ abzielt; Alexis (2011: 160): „[…] we can see that Hercules symbolises the Greeks as civilised and civilising while Antaeus is cast in one of two roles: that of the foreign barbarian and child of the earth, or that of the Roman, more concerned with war or games than refined culture.“ Antaeus die Rolle als Stellvertreter Roms zuzuschreiben, stellt sich als nur schwer haltbar heraus, wie Alexis selbst bemerkt (ebenda: 161). OLD s.v. ‚(h)arena‘, 785. ThLL s.v. ‚(h)arena‘, 6.3.2528.58–60.

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hervor.63 Als setting scheint das von Wüste geprägte Libyen generell geradezu prädestiniert zu sein für Gladiatorenkämpfe.64 Antaeus wird dem Leser somit als „geborener Gladiator“ vor Augen geführt.65 Der Ringkampf wird letztlich aus dem Kontext eines ‚Wettstreits‘ in den eines existenziellen Kampfes bzw. Krieges überführt, in dem es keine Prämien gibt, sondern der Sieg mit Überleben, und die Niederlage mit dem Tod einhergeht.66 Es lässt sich also festhalten, dass eine semantische Überlagerung des Agons durch Krieg, der Landschaft durch die Arena sowie der Zivilisiertheit durch Ursprünglichkeit vorliegt. Der Kampfbeginn (617–620a) tritt unvermittelt und ohne Überleitung ein (617). Gewaltaktanten werden nicht explizit genannt und es ist keine eindeutige Unterscheidung zwischen agens und patiens zu treffen. conseruere manus et multo bracchia nexu; colla diu gravibus frustra temptata lacertis, inmotumque caput fixa cum fronte tenetur, 620 miranturque habuisse parem.

GT(z)

IP1,2

Bereits im ersten Vers der konkreten Gewaltdarstellung wird deutlich, dass Hercules und Antaeus einen Ringkampf austragen, bei dem ihre technische Versiertheit deutlich zum Ausdruck kommt: conseruere manus et multo bracchia

63

64

65 66

Ahl (1976: 98): „The gladiatorial simile not only reduces the battle between Curio and Varus to the dimensions of a contest in the arena, but it recalls the struggle, fifty lines earlier, between Hercules and Antaeus.“ Zu diesem Ergebnis kommt auch Saylor (1982: 169). Martindale (1981: 74): „Hercules and Antaeus are athletes, the sands of Africa provide the arena, and they are matched as gladiators.“ Ahl (1976: 99): „The struggles between Hercules and Antaeus, Curio and Varus, and Curio and Juba are dominated by the language of blood, sand, and sweat. The sangre y arena of the gladiatorial munus could find no better natural landscape than the desert of Libya.“ Zum Erzählraum s. u. Abschnitt 5.4.2. Ahl 1976: 100. Vgl. Sofsky (1996: 141): „Kampf ist kein Wettstreit. Die Gegner konkurrieren nicht um eine Prämie, die ein Dritter zu Schluss dem Gewinner überreicht. Der Sieg ist nicht etwas Drittes, das unabhängig vom Kampf der Rivalen existiert. Vielmehr besteht der Sieg darin, dass der eine gewinnt, was der andere verliert. Ich oder Du, das ist die Konstellation des Kampfes. […] Sobald der Kampf mit Gewalt ausgefochten wird, geht es allein um eins: um die Vermeidung des Schmerzes, der Verletzung, ums Überleben und Töten“; s. Alexis (2011: 164): „Games and contests are common topoi in epic, especially funeral games for a dead hero, but Lucan’s reference to the arena through the depiction of a wrestling bout is unusual, although as an Olympic competition and as a training exercise for youth, wrestling is a common form of contest. Games in epic are friendly and are often a way of consolidating loyalty and of rebuilding fighting spirit in a force depleted by death and both winners and losers are rewarded.“ Vgl. zum römischen Konzept des Ringens als Wettkampf Lovatt 2005: 4–12.

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nexu (617).67 Die Erwähnung dieser zielgerichteten Gewalttat (GT[z]) nimmt die Erstposition im Vers ein und unterstreicht damit zusätzlich die Plötzlichkeit des Beginns.68 Zudem liegt der Fokus ganz auf einzelnen Körperpartien (s. Abschnitt 5.4.3). Die bei der Vorbereitung angedeutete Gleichheit der Kontrahenten zeigt sich an dieser Stelle wieder, da sie lange (diu, 618) Stirn an Stirn verharren. Der Leser erhält einen Blick auf die Innenperspektive der beiden (IP1, 2), die verwundert feststellen, dass sie einen ebenbürtigen Gegner gefunden haben.69 In der sich direkt anschließenden Darstellung von Hercules’ erstem Angriff (620b–629a) lässt sich eine differenziertere Betrachtung der Gewaltkonstellation vornehmen. nec viribus uti Alcides primo voluit certamine totis, exhausitque virum, quod creber anhelitus illi prodidit et gelidus fesso de corpore sudor. tum cervix lassata quati, tum pectore pectus 625 urgueri, tunc obliqua percussa labare crura manu. iam terga viri cedentia victor alligat et medium conpressis ilibus artat inguinaque insertis pedibus distendit et omnem explicuit per membra virum. 620

GA1 AG; GA2 GE(p) GA2; GA1/CH1 GT(z) GA2

Denn nun folgen mehrere explizite Angaben sowohl des agens (GA1) als auch des patiens (GA2). Die beiden Kontrahenten sind für den Leser deutlich auseinanderzuhalten, auch wenn sie nicht namentlich genannt werden. Das Patronymikon Alcides (621) bezeichnet Hercules (s. Anm. 47 auf S. 269) während victor (626) aufgrund des Kontextes ebenfalls Bezug auf den griechischen Helden

67

68

69

Asso (2010: 235): „The expression conserere manus generally denotes fighting. Here it applies to wrestling in a technical sense“; vgl. Esposito (2009: 284): „[…] è l’espressione propria per indicare il venire alle mani, l’iniziare lo scontro, che si tratti di una gara atletica o di un combattimento campale […]“. Asso (2010: 235) weist darauf hin, dass nexus einen „technical term in wrestling“ darstellt. Asso (2010: 235) bemerkt, dass dieser und der folgende Vers mit zwei Daktylen beginnen. Damit ist auf metrischer Ebene die Wirkung des hohen Tempos verstärkt, das – angepasst an den Kampfverlauf – in 619 (immotumque caput) wieder etwas zurückgenommen wird. Der erzählende rudis incola gibt sich als auktorialer Erzähler zu erkennen, der über mehr Wissen als die fiktiven Figuren verfügt. In Abschnitt 5.4.4 zur Spannungsphase Erweckung von Anteilnahme wird sich zeigen, dass er sich jedoch mit seiner Vermittlung relevanter Informationen nach Hercules’ Wissensstand richtet.

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nimmt. Zudem liegt mit victor eine Charakterisierung (CH1) vor, die Hercules’ zumindest vorübergehende Überlegenheit explizit formuliert.70 Hercules ist damit, anders als zu Beginn des Kampfes, durchgehend als agens zu identifizieren. Antaeus hingegen übernimmt die Rolle des patiens. Er wird zweimal als vir bezeichnet (622, 629), was hinsichtlich seiner Vorstellung als Riese, der seiner Mutter größeren Ruhm bringt als die Giganten Typhon, Tityos und Briareus (595–596), irritierend wirkt und in der Forschung unterschiedliche Erklärungsansätze hervorbrachte: Merli erkennt in der Partie eine Metamorphose des Antaeus von einem terribilem partum (594–595) bzw. cruentum malum (609– 610) zu einem vir und schließlich einem iuvenis (650). Die Verwandlung des Riesen im Verlauf des Kampfes weist ihrer Ansicht nach eine Parallele zu Curios Entwicklung auf, die sich innerhalb der ersten vier Bücher des Bellum Civile vollzieht.71 Dagegen sieht Esposito vielmehr einen Kontrast zu Hercules’ Heldenhaftigkeit. Allerdings wird dieser an späterer Stelle ebenfalls als vir bezeichnet (639).72 Asso hält es für möglich, dass vir, ähnlich wie homo, für einen zuvor erwähnten Protagonisten gebraucht wird, und um die flektierte Form von is zu vermeiden. Zudem könnte vir als „gladiatorial term to refer to one of the opponents“ gesehen werden.73 Der Erzähler bezieht sich erneut mit dem Pronomen ille (622) auf Hercules’ Gegner. Anders als zum Kampfbeginn lässt sich an dieser Stelle allerdings keine Parität erkennen. Die Aufmerksamkeit wird weiterhin stark auf Antaeus’ Körper als Ziel der Griffe, Schläge und Tritte gelenkt. Das wenig spezifische exhausit markiert eine eher allgemeine Gewalthandlung (AG). Die Folgen der körperlichen Erschöpfung kommen allerdings explizit und in dichter Folge zum Ausdruck: anhelitus (622), gelidus sudor (623), fesso de corpore (623), cervix lassata (624), labare (625). Das Schwinden der Kräfte geht mit dem passiven Erleiden von Gewalt einher (GE[p]), das zudem passivisch und mit Blick auf einzelne Körperpartien dargestellt wird. Die Überlegenheit des ‚siegreichen‘ Hercules ist auf syntaktischer Ebene zusätzlich akzentuiert, da die zielgerichtete Gewalttat (GT[z]) aktive Verbformen die jeweiligen Prädikate bilden: alligat (627), artat (627), distendit (628), explicuit (629). Die rasche Folge der Bewegungsabläufe ist zum einen durch die Konnektoren tum, tum, tunc, iam (624–626), zum anderen durch den parataktischen Satzbau abgebildet, gekennzeichnet durch die Konjunktionen et (627), -que (628), et (628).

70 71 72 73

Der Gebrauch der Antonomasie wirkt umso eindringlicher, da Antaeus dem Leser zuvor als invictus robore (608) vorgestellt wurde. Merli 2005: 128. Esposito 2009: 285. Asso 2010: 236.

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In direktem Anschluss an Hercules’ Angriff, d. h. noch im selben Vers, tritt die Erde in Erscheinung und leitet Antaeus’ erste Verteidigung ein (629b–632).

630

rapit arida tellus sudorem; calido complentur sanguine venae, intumuere tori, totosque induruit artus Herculeosque novo laxavit corpore nodos.

GP(d); GA32 O GT(z)

Die Erde (tellus, 629) greift als particeps (GA32) im wörtlichen Sinne aktiv in das Geschehen ein.74 Sie nimmt direkt an der Gewalt teil (GP[d]), indem sie den Schweiß als Symptom der Erschöpfung ‚an sich reißt‘ (rapit arida tellus, 629) und Antaeus durch ihre Berührung mit neuer Kraft versorgt. Allerdings findet die Hilfe keine explizite Erwähnung. Vielmehr realisiert der Leser den kausalen Zusammenhang zwischen Bodenkontakt und Erneuerung der Kräfte aufgrund seines Vorwissens, das der Erzähler während der Einführung des Riesen (593–609) vermittelt hat. Vergleicht man die Anzahl der Verse, die Antaeus’ Verteidigung 1 mithilfe der Erde einnimmt (3 1/2), mit der von Hercules’ Angriff 1 (9 1/2) oder gar der des gesamten bisherigen Kampfverlaufs (Hercules’ Angriff 1 inklusive Kampfbeginn = 13 Verse), wirkt die Leichtigkeit, mit der die Erde ihrem Zögling zu Hilfe kommt, umso eindrücklicher. Der Kraftaufwand des griechischen Helden ist somit als unverhältnismäßig höher anzusehen als die Anstrengung, die die Erde aufbringen muss. Agens und patiens sind nur durch das Attribut Herculeos (632) differenzierbar. Die Würgegriffe (nodos, 632) (GT[z]) gehen also von Hercules aus, der die Funktion des agens (GA1) übernimmt. Eine Veränderung der Gewaltkonstellation ist folglich nicht festzustellen.75 Antaeus kann nicht als agens angesehen werden und es kommt auch nicht zur Umkehrung der Kräfteverhältnisse. Eher lässt sich seine Verteidigung bzw. Widerstand (complentur, 630; intumuere, 631; induruit, 632; laxavit, 632) als Obstruktion (O) charakterisieren, die allein den Zweck erfüllt, Hercules’ Angriff zu neutralisieren und sich aus den Würgegriffen zu befreien. Der Aspekt der Verteidigung prägt in bemerkenswerter Weise die gesamte vorliegende Textpartie, denn Verteidigung macht den Kampf erst zum Kampf, da Angriff ohne Verteidigung lediglich Besitznahme, Unterwerfung oder Tötung ist – wie in den meisten als typisch angesehenen Gewaltdarstellungen Lucans.76 74 75 76

Zur bemerkenswerten Dynamisierung des Erzählraums s. Abschnitt 5.4.2. Wie beispielsweise in Lucan. 2.193–220, wo die Leichen der patientes zu agentes werden. Vgl. Sofsky (1996: 139): „Der Kampf ist […] ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Er beginnt nicht mit dem Angriff, sondern mit der Verteidigung. Ohne Gegenwehr kein Kampf. […]

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kapitel 5

Die Fortsetzung des Kampfes (636–637a) nach dem ersten episodischen Einschub ist strukturell in ähnlicher Weise wie der Kampfbeginn (617–620a) gestaltet: Es gibt keine Überleitung, Hercules und Antaeus treten sofort in Aktion. 636

conflixere pares, Telluris viribus ille, ille suis.

AG; GA31/GP(d)

Das Prädikat conflixere (636) ist – wie conseruere (617) – als kontrahierte Perfektform wiedergegeben und an die besonders akzentuierte Erstposition des Verses gestellt. Diese Parallelen unterstreichen den Eindruck, dass die Ausgangssituation für beide gleichermaßen wiederhergestellt ist.77 Ebenso kann erneut keine Differenzierung in agens und patiens vorgenommen werden (s.o.). Die wiederhergestellte Gleichheit der körperlichen Verfassung ist augenfällig auf lexikalischer Ebene (pares, 636) und am zweifachen Gebrauch des Pronomens ille festzumachen, das einerseits auf Antaeus (636), andererseits auf Hercules referiert (637) – eine weitere Parallele zum Kampfbeginn. Dieser Aspekt wird zusätzlich durch den Gebrauch der Anadiplose betont (die jedoch zugleich den Unterschied der jeweiligen Kräfteressourcen vor Augen führt). Das Zusammenstoßen lässt sich als allgemeine Gewalthandlung interpretieren (AG). Tellus partizipiert als adiuvans (GA31) weiterhin direkt am Kampf. Diesmal allerdings ist ihr Einwirken auf Antaeus explizit im Text durch Telluris viribus (GP[d]) ausgedrückt. Es folgt ein fließender Übergang zum zweiten episodischen Einschub (637b– 639), in dem der Rezipient aus Junos (saevae novercae, 637) Perspektive auf das Geschehen blickt. numquam saevae sperare novercae plus licuit: videt exhaustos sudoribus artus cervicemque viri, siccam cum ferret Olympum.

GA33c GP(ind)

Neben Tellus wird nun auch Juno als particeps bzw. Zeugin (GA33c) in die Erzählung eingeführt. Der implizite Fokalisationsmarker videt (638) charakterisiert sie als Zuschauerin des Ringkampfes. Der Leser ‚sieht‘ gewissermaßen die Kampfszene aus den Augen der Göttin, sodass sie als dessen repräsentative Instanz gedeutet werden kann. Trotz ihrer Parteilichkeit nimmt sie, im Gegen-

77

Allein die Verteidigung bezweckt den Kampf. Sie will abwehren, erhalten, dem Übergriff trotzen.“ Zur Wiederholungsstruktur der Erzählung vgl. Abschnitt 5.4.4, Punkt c) Wechselspiel zwischen Aussichtslosigkeit und Hoffnung.

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277

satz zur Erde, indirekt am Geschehen teil (GP[ind]). Eine Einflussnahme ist dem Text nicht zu entnehmen.78 In direktem Anschluss erfolgt der zweite Angriff durch Hercules und die zweite Verteidigung des Antaeus (640–644). 640

utque iterum fessis iniecit bracchia membris non expectatis Antaeus viribus hostis sponte cadit maiorque accepto robore surgit. quisquis inest terris in fessos spiritus artus egeritur, Tellusque viro luctante laborat.

GT(z) GA2; GA1 O GP(d) GA32/GA2

In dieser Kampfphase sind der Riese als patiens (GA2) und Hercules als agens (GA1) deutlich zu identifizieren – analog zum ersten Angriff des griechischen Helden (620b–629a). Der Ablauf des Ringkampfes wirkt nun jedoch komprimierter. Es ist kein vergleichbar starker Fokus auf Körperpartien und kampftechnische Details zu erkennen. Angriff und Verteidigung scheinen auf den ersten Blick direkt ineinander überzugehen. Bei näherer Betrachtung befindet sich die zielgerichtete Gewalttat iniecit (640, GT[z]) im Nebensatz, während Antaeus’ Verteidigung (cadit maiorque surgit, 642), die abermals lediglich der Obstruktion (O) dient, die Handlung des Hauptsatzes markiert. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird so auf syntaktischer Ebene auf den Widerstand und den beträchtlichen Einfluss der Erde (Tellus, 644) (GA32) gelenkt, ohne deren Hilfe der Kampf vermutlich schon nach Hercules’ erstem erfolgreichen Wurf beendet worden wäre. Im Gegensatz zur bisherigen Darstellung des Ringkampfes unterrichten die Verse 643–644 den Rezipienten nun explizit und bis ins Detail über den Vorgang der direkten Gewaltpartizipation (GP[d]).79 Es lässt sich zudem eine bemerkenswerte Veränderung der Gewaltkonstellation beobachten: Tellus leidet Not (laborat, 644) und steht mit ihrem Zögling in solch enger Verbindung, dass sie selbst als patiens (GA2) in Mitleidenschaft gezogen wird, während Antaeus kämpft. Dieses gemeinsame Leid findet seinen Ausdruck auch auf lautlicher Ebene durch die Alliteration luctante laborat (644).

78 79

Allerdings ist die Erwähnung Junos als Zuschauerin im Kontext der narrativen Struktur von zentraler Bedeutung, wie in Abschnitt 5.4.4 zu sehen sein wird. Ahl (1976: 100) verweist zudem auf den Einfluss des Pneumatismus auf diese Partie: „The key word here is spiritus. It ist the Latin equivalent of the Greek pneuma, the Stoic term for the substratum of all matter. It is the transfer of energy, in this case, from inorganic to organic matter which can only occur within a material continuum. Here, in Pharsalia 4, primitive animism and Stoic physics merge. No line can be drawn between man and his universe. Both are alive.“

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Hercules’ dritter Angriff (649b–653) hat schließlich Erfolg und Antaeus’ Tod zur Folge. Die Aufklärung der (zumindest für Hercules) geheimen Fähigkeit kommt in der klar definierten Rollenverteilung innerhalb der Gewaltkonstellation zum Ausdruck.

650

sic fatus sustulit alte nitentem in terras iuvenem. morientis in artus non potuit nati Tellus permittere vires: Alcides medius tenuit iam pectora pigro stricta gelu terrisque diu non credidit hostem.

GT(z)/GP(d) GA2; ST GA32 GA1; GT(z) GA32; GP(d); GA2

Hercules (Alcides, 652) bleibt eindeutig agens (GA1), Antaeus (iuvenem, 650; hostem, 653) patiens (GA2). Der nun als ‚junger Mann‘ bezeichnete Riese80 stirbt schließlich hängend im Würgegriff des Siegers, da die Erde (Tellus, 651; terris, 653) (GA32) aufgrund des fehlenden Bodenkontaktes nicht mehr in der Lage ist, seine Glieder mit neuer Stärke zu auszustatten. An der zielgerichteten Gewalttat (GT[z]), dem Hochheben und Halten des Gegners (sustulit alte, 649; tenuit […] pectora, 652), lässt sich zugleich die immer noch bestehende direkte Partizipation der Erde beobachten (GP[d]). Noch deutlicher fällt diese in 653 ins Auge, da Hercules den bereits starren Leichnam lange in der Luft hält, um nicht das Risiko einzugehen, dass Tellus diesem helfen könnte (terrisque diu non credidit hostem, 652). Es ist bemerkenswert, dass der Prozess des Sterbens scheinbar sofort eintritt, sobald Antaeus nicht mehr die Erde berührt. Gewalt zeigt sich hier als Entzug von Kräften. Die Luft bzw. das ‚Oben‘ wird in gewisser Hinsicht zur Waffe. Zudem wird die Sterbeszene (ST) fast schon ‚beiläufig‘ und ohne Details geschildert sowie die Beschreibung des Todeseintritts vom Erzähler elliptisch ausgelassen.81 Zusammenfassung: In der Darstellung des Kampfes oszillieren Hercules und Antaeus zwischen der Erscheinung als ebenbürtige, sich gleichende Gegner und klar voneinander abgehobene Gewaltfiguren. Bei allgemeinen (AG) oder zielgerichteten Gewalthandlungen (GT[z]), die eine neue Kampfphase einleiten (conseruere manus, 617; conflixere, 636), ist eine klare Unterscheidung in 80

81

Neben Merlis Interpretation, dass der Gebrauch von iuvenis den Endpunkt einer Humanisierung des ursprünglichen monstrum Antaeus markiert (s. Anm. 71 auf S. 274), hat dieser Begriff möglicherweise als ‚quasi-atmosphärisches‘ Wort das Potenzial eine allgemeine Unterlegenheit im Kampf auszudrücken. Vgl. Asso (2010: 244, ad 652–653): „Understand: While Antaeus’ chest had been now strangled in motionless (pigro) frigidity, Alcides held him in suspension […] and no longer entrusted his enemy to the earth“; inwiefern die Auslassung auf den Leser irritierend wirkt, wird in Abschnitt 5.4.4 zur narrativen Struktur der Partie genauer erläutert.

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agens (GA1) und patiens (GA2) für den Leser nicht möglich. Dies entspricht der in zahlreichen Forschungsbeiträgen beobachteten Ambiguität, die für die Partie konstitutiv ist (vgl. Abschnitt 5.3, Punkt 3). Dagegen kann in den jeweiligen ‚Einzeldarstellungen‘ eine eindeutige Differenzierung vorgenommen werden, d.h. bei Angriff 1, 2, 3 ist jeweils Hercules als GA1, bei Verteidigung 1, 2 jeweils Antaeus als GA2 zu identifizieren. Insofern entspricht der Verlauf des Kampfes nicht unbedingt der im Text häufig betonten Ebenbürtigkeit. Die prinzipielle Gewaltkonstellation unterliegt im Verlauf der Gewaltdarstellung keiner Veränderung. Antaeus’ Widerstand lässt keine Verkehrung der Kräfteverhältnisse erkennen, und schließlich wird nicht einmal das Bemühen darum deutlich. Daher muss die Verteidigung des Riesen eher als Obstruktion angesehen werden, die lediglich darauf abzielt, die Angriffe seines Gegenübers zu neutralisieren, und damit den Ausgang des Kampfes deutlich in die Länge zieht. Die Obstruktion der Gewalt korrespondiert mit Masters’ und Hendersons Beobachtungen zur narrativen Dehnung, die zu Beginn der vorliegenden Interpretation Erwähnung fanden.82 Neben Hercules und Antaeus sind bei der Analyse zwei weitere Teilnehmer in der Funktion des particeps herausgearbeitet worden: Tellus (GA31/2) und Juno (GA33c). Während die ‚wilde Stiefmutter‘ des griechischen Helden als Zeugin indirekt an der Gewalt beteiligt ist (GP[ind]), wirkt die Mutter des Riesen als adiuvans bzw. opponens beträchtlich auf den Kampfverlauf ein, indem sie ihn durch Bodenkontakt mit neuer Kraft versorgt (GP[d]). Durch die Erde entsteht überhaupt erst der Kampf, da Antaeus sich ohne ihre Hilfe kaum zur Wehr setzen könnte, wie am schnellen Todeseintritt zu sehen ist (649b–653). Sie bewirkt eine Obstruktion, d.h. die Neutralisation von Hercules’ Angriffen und verzögert damit den Tod ihres Sohnes. Die direkte Gewaltpartizipation wird allerdings erst im Verlauf des Kampfes immer ausführlicher und konkreter zum Ausdruck gebracht. Zugleich steht sie in solch enger Verbindung zu ihm, dass sie selbst als GA2 gedeutet werden kann (Tellusque viro luctante laborat, 644).

82

Masters (1992: 8–9): „[…] but none the less there is reluctance, there is ‚mora‘, the narrative does make the gesture of tying itself in knots in order to obstruct the progress of its demonic protagonist“; Henderson (2010: 453): „this narrator loathes the progress of his story of Caesarian triumph, loves mora, delay, obstruction, diversion“; vgl. Anm. 41 u. 42 auf S. 267. In Abschnitt 5.4.4 wird sich zeigen, dass Antaeus’ Obstruktion in der fabula mit retardierenden narrativen Elementen der story korrespondiert, wodurch eine Verzögerung der Erzählung bewirkt wird.

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5.4.2 Erzählraum Die enge Verbundenheit zwischen Antaeus und der Erde lässt sich als außerordentlich dynamisches Wechselverhältnis zwischen Figuren und Erzählraum beschreiben. Insbesondere durch die Personifikation Tellus und ihre Erscheinung als eigenständig handelnde (Gewalt-)Figur wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Raum gelenkt. Wie im vorigen Abschnitt erläutert, nimmt er beträchtlichen Einfluss auf das Ereignis des ‚Ringkampfes‘, sodass durch seine stärkende Einwirkung Obstruktion und Verzögerung überhaupt erst ermöglicht werden. Auf Grundlage der Ergebnisse, die die Analyse der Gewaltkonstellation ergeben hat, soll nun im Detail aufgezeigt werden, dass im vorliegenden Text die Raumstrukturen mit den Handlungsstrukturen der Protagonisten korrespondieren. Hierfür ist der Blick auf drei Aspekte des Erzählraums zu richten: (1) den Aktionsraum, (2) die semantisch besetzte Topologie des Raums sowie schließlich (3) den Anschauungsraum. (1) Beleuchtet man näher Antaeus’ Handlungs- bzw. Bewegungsmuster im Aktionsraum, fällt zunächst die Verbundenheit zwischen Antaeus und der Erde auf.83 Im Gegensatz dazu ist Hercules’ Vorgehen als deutlich isolierter von seiner räumlichen Umgebung zu betrachten. Dies ändert sich allerdings gegen Ende der Partie, als er Antaeus’ besondere Fähigkeit durchschaut und ihn daran hindert den Boden zu berühren. Aufgrund von Antaeus’ dynamischer Wechselwirkung mit der Erde, die sich durch den Körperkontakt mit dem Boden entfaltet, drängt sich dem Leser der Eindruck eines vertikal geprägten Bewegungsmusters auf. Allgemein wird der Eindruck erweckt, dass sich der Kampf – sowohl aus räumlicher Perspektive als auch im Hinblick auf den erhofften Erfolg der beiden jeweiligen Protagonisten – in einem ständigen Auf und Ab befindet. Statt etwa davon zu berichten, dass die Kontrahenten sich gegenseitig umkreisen, nach links oder rechts ausweichen bzw. sich nach vorne oder hinten bewegen, fokussiert sich der rudis incola in seinem Botenbericht insbesondere auf den Vorgang des Stehens, Fallens und sich Aufrichtens. Dies wird an den entsprechenden Verbalhandlungen der expliziten Gewaltdarstellung sowie auch der Hercules-Rede ersichtlich, deren Ausführungen implizit einen Rückschluss auf den Kampfverlauf zulassen: explicuit per membra (629) – constitit (633) – sponte cadit (642) – surgit (642) – standum est (646) – non credere solo (647) – sternique vetabere

83

Es sei noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Bewegungen im Aktionsraum nicht komplexe Bewegungsvorgänge oder -abläufe beschreiben, sondern lediglich triviale Handlungen.

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(647) – haerebis (648) – huc cades (649) – sustulit alte (649) – nitentem in terras (650) Die besondere Pointe des geschilderten Ringkampfes liegt darin, dass Antaeus’ Stärke und Aussicht auf Erfolg paradoxerweise darin bestehen, sich auf den Boden werfen zu lassen bzw. freiwillig niederzufallen, wie bereits Martindale festgestellt hat: The central paradox of the episode is the fact that the normal aim of a wrestling match – to throw your opponent to the ground – is subverted by Earth’s gift to her son: a fall advantages her son.84 Wäre der Leser zuvor nicht über die besondere Fähigkeit des Riesen – die Wiederherstellung seiner Kraft durch Berühren der Erde – in Kenntnis gesetzt worden (593–611), würde die Darstellung mit dessen Erwartung brechen. Schließlich war es ja Ziel bei den palaestra, den Gegner auf den Grund zu befördern, um den Sieg für sich beanspruchen zu können.85 Dieser Aspekt findet seinen Ausdruck zusätzlich in Hercules’ Ankündigung huc, Antaee, cades (649): Indem Antaeus in der Luft hängend an der Brust seines Bezwingers erdrosselt wird, fällt bzw. stirbt er.86 Bei diesem Bild handelt sich um eine ‚gebrochene‘ Anschauung, die für die Verkehrung des ‚Oben‘ und ‚Unten‘ innerhalb der topologisch-vertikalen Ausrichtung des Erzählraums als bezeichnend angesehen werden kann. Aufbauend auf den Beobachtungen Martindales und Assos, die eher auf die Bewegung im Raum Bezug nehmen, wird im Folgenden eine weiterführende Analyse der semantischen Überlagerung topologischer Verhältnisse angestellt. (2) Dass die vorliegende Partie von dieser Dichotomie geprägt ist, zeigt sich auch außerhalb der expliziten Gewaltdarstellung. So wird der Kampf bereits durch den Verweis auf die Gigantomachie präfiguriert,87 deren räumliche

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Martindale 2010: 72. Asso (2010: 243) verweist darauf, dass keine antike Quelle überliefert ist, die eine Zusammenfassung der Ringkampf-Regeln bietet. Allerdings kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es ein festes Reglement gab, vgl. J. Jüthner: Art. ‚Pale‘, in: RE 18,3 (1949) Sp. 82–89; J. Jüthner: Art. ‚Pankration‘, in: RE 18,3 (1949) Sp. 619–625; J. Jüthner/E. Mehl: Art. ‚Pygme‘, in: RE Suppl. 9 (1962) Sp. 1306–1352; vgl. Sen. benef. 5.3.1: luctator ter abiectus perdidit palmam, […]. Es ist bemerkenswert, dass Antaeus verliert, als er zum ebenfalls zum dritten Mal von Hercules überwunden wird; zur literarischen Tradition von „games“ und „contests“ im Epos s. Alexis 2011: 164. Asso 2010: 243. Vgl. Anm. 24 auf S. 265.

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Struktur sich ebenfalls an der vertikalen Achse ‚oben – unten‘ orientiert, indem die Olympischen Götter gegen die erdgeborenen Giganten kämpfen. Die Assoziation ergibt sich zusätzlich durch die explizite Erwähnung von Antaeus’ Geburtsstätte, d.h. den libyschen Höhlen (terribilem Libycis partum concepit in antris, 594), und der Bemerkung, die Erde habe den Himmel dadurch verschont, dass sie ihn nicht in Phlegra aufzog (caeloque pepercit, 596). Eine vage Anspielung auf diese mythische Präfiguration ist im zweiten episodischen Einschub (637b–639) erkennbar, wo Juno vom Olymp aus (also von oben) auf die Auseinandersetzung zwischen Hercules und Antaeus herabblickt (unten).88 An der konkreten Gewaltdarstellung selbst lässt sich beobachten, dass die beiden Teilräume semantisch codiert sind – vor allem aus Antaeus’ Sicht.89 ‚Oben‘ bezeichnet dabei das Sichaufhalten auf den Beinen bzw. in der Luft, ‚unten‘ das Liegen auf dem Boden. ‚Oben‘ steht im Zusammenhang mit ‚Erschöpfung‘, ‚Kälte‘ und ‚Flüssigkeit‘, während ‚unten‘ mit ‚Stärke‘, ‚Wärme‘ und ‚Trockenheit‘ einhergeht. Bezeichnenderweise stehen sich die jeweiligen semantischen Entitäten ebenso wie die einander gegenübergestellten topologischen Teilräume als binäre Oppositionen gegenüber. Die folgende Auflistung der Textbelege soll dies verdeutlichen: Oben =

Erschöpfung: exhausit virum (622) – anhelitus (622) – fesso de corpore (623) – cervix lassata (624) – labare | crura (624–625) – fessis membris (640) Kälte: gelidus sudor (623) – pectora pigro | stricta gelu (652–653) Flüssigkeit: sudor (623) Unten = Stärke: complentur sanguine venae (630) – intumuere tori (631) – totosque induruit artus (631) – novo laxavit corpore nodos (632) – robore tanto (633) – accepto robore (642) Wärme: calidos harenas (616) – arida tellus (629) – calido sanguine (630) Trockenheit: harenas (616) – rapit arida tellus | sudorem (629– 630)

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Saylor (1982: 172, Anm. 8) weist zudem darauf hin, dass die Darstellung von Curios Schlacht, in die die Hercules-Antaeus-Episode eingebettet ist, im Vergleich zu Caesars Schilderungen (Bell. civ. 2.24–44) stark vereinfacht wirkt „in favor of this strong, consistent contrast between high and low ground, Castra Cornelia and plain.“ Soweit der Text entsprechend fokalisiert ist.

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Die Wechselwirkung zwischen dem Erzählraum und Antaeus kann also nicht nur anhand von expliziten Erläuterungen (quisquis inest terris in fessos spiritus artus | egeritur, 643–644) oder hinsichtlich der Bewegungen im Aktionsraum, sondern auch an der semantischen Codierung der topologischen Teilräume oben – unten greifbar gemacht werden. (3) Der Anschauungsraum wird vom Leser als karge, unzugängliche und menschenfeindliche Landschaft wahrgenommen, die von Höhlen (antris, 594; spelunca, 601), Felsmassiven (sub alta | rupe, 601–602), Löwen (603), Sand (616) und Trockenheit (arida Tellus, 629) geprägt ist.90 Die starke Identifikation des Antaeus mit seiner Heimat91 lässt in eindrücklicher Weise einen Rückschluss auf sein Wesen zu: Er wirkt durch seine Erdgebundenheit ähnlich karg, unzugänglich und menschenfeindlich wie das libysche Land. Zudem korrespondiert die fiktive Kargheit der Landschaft bzw. des Antaeus mit der narrativen Darstellung des Erzählraums bzw. der hohen narrativen Distanz des Lesers zu Antaeus, die an der Kampfschilderung zu vernehmen ist. Denn der Erzähler vermittelt dem Leser ein ausführlicheres Bild von Hercules’ emotionaler Verfassung (constitit Alcides stupefactus, 633; timuit, 635) und erzeugt so eine deutlich größere Nähe zum griechischen Helden als zu seinem libyschen Widersacher, von dem der Leser keine Innenperspektive erhält.92 Abschließend bleibt festzuhalten, dass alle drei Aspekte des Erzählraums, der Aktionsraum, die semantisch codierte Topologie und der Anschauungsraum in Bezug auf Antaeus eine charakterisierende Funktion übernehmen und so seine enge Verbundenheit zur personifizierten Erde bzw. Erzählraum klar vor Augen führen. In Anknüpfung an bisherige Forschungsergebnisse konnte zudem aufgezeigt werden, dass während des Kampfes eine Akzentuierung der Bewegung vorliegt, wodurch der Fokus des Lesers eher auf den Aktionsraum sowie auf die topologische Präfiguration des Erzählraums als auf die Darstellung des Anschauungsraums gerichtet wird. Dieser Befund korreliert bezeich-

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Eine für das Epos typische ἔκφρασις τόπου ist dem Text nicht zu entnehmen. Lowe (2010: 130) bemerkt zudem, dass Libyens Landschaft in Buch 4 anders gestaltet ist als in Buch 9. Grimal (1949: 60): „Antée est le Libyen par excellence: il est la Libye“; Asso (2002: 64) weist auf Antaeus’ enges Verhältnis zur Erde in lexikalisch-etymologischer Hinsicht auf: „[…] Lucan’s preoccupation is to stress Antaeus’ status as a Giant and a son of Terra, a partus TERRibilis“; vgl. Asso (2010: 225, ad 593–594): „The nameless peasant begins his etymological/ aetiological tale of the struggle between Hercules and Antaeus by recurring to a series of etymological and bilingual puns, whose purpose is to emphasize both Antaeus’ parentage and the resulting Gigantomachic implications of the struggle to follow: nondum post genitos Tellus effeta gigantas / terribilem partum concepit in antris.“ Abgesehen von miranturque habuisse parem (620), was sich jedoch auch auf Hercules bezieht. Genaueres zu Distanz, Nähe und Sympathielenkung im Text s. Abschnitt 5.4.4.

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nenderweise mit einem Aspekt, der in der vorliegenden Partie eine besonders exponierte Stellung einnimmt: dem Körper. 5.4.3 Körper Die Repräsentation des Körpers nimmt im vorliegenden Text großen Raum ein. Durch die Fokussierung auf die Körperlichkeit ist – trotz der fehlenden Beschreibung von Wunden – eine gesteigerte Intensität des Kampfes deutlich wahrnehmbar.93 Dies wird insbesondere durch eine ‚ fragmentierende‘ Darstellung des Körpers erreicht, die aus dem Eindruck erhöhter Bewegungsdynamik, der narrativen Technik des Zooming und der Verwischung von Körpergrenzen resultiert. Die einzelnen Aspekte lassen sich insbesondere anhand der Segmente Kampfbeginn (617–620a), Angriff 1 (620b–629a), Verteidigung 1 (629b– 632) und episodischer Einschub 2 (637b–639) aufzeigen. Die Kämpfenden scheinen ihren gesamten Körper, von der Stirn ( fronte, 619) bis zu den Füßen (pedibus, 628), zum Einsatz zu bringen. Allerdings lenkt der Erzähler die Aufmerksamkeit des Lesers nicht auf den Körper als bestehende Einheit, sondern es lässt sich vielmehr eine ‚fragmentierende‘ Darstellungsweise erkennen, sodass einzelne Körperpartien gezielt hervorgehoben werden.94 So sind dem Botenbericht 19 verschiedene Ausdrücke für den Körper und seine Einzelteile zu entnehmen, die jeweils mehrfach genannt werden.95 Insbesondere in der ersten Hälfte der Gewaltdarstellung lässt sich eine deutlich höhere Dichte der entsprechenden Begriffe feststellen als in der zweiten. Dies wird gleich zum Kampfbeginn deutlich (617–620a): 93

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Alexis (2011: 153) schreibt der Hercules-Antaeus-Episode, die sie als „civil war in microcosm“ (158) bezeichnet, wie allen Exkursen den Effekt zu „to reinforce the broad physical extent of Rome’s civil war.“ Wie bereits weiter oben erwähnt, soll in der vorliegenden Untersuchung nicht eine Funktion des Kampfes innerhalb der Curio-Partie herausgearbeitet werden. Vielmehr ist der Blick auf das ‚Wie‘ der Gewaltdarstellung und ihrer narrativen Gestaltung zu richten. Damit orientiert sich Lucans Darstellung weniger an Vergils Erzählung von Hercules’ Kampf gegen Cacus (Aen. 8.184–305), als vielmehr an Ovids Kampfschilderung des griechischen Helden gegen Achelous (met. 9.1–88); vgl. Alexis 2011: 165–167. Berücksichtigt werden hierbei die Verse 612–652, d.h. die konkrete Schilderung des Kampfes inklusive der Vorbereitung beider Kontrahenten. Zehn Ausdrücke werden nur ein einziges Mal gebraucht: colla (618), lacertis (618), caput (619), fronte (619), crura (626), terga (626; bereits in 612 zu lesen, allerdings bezeichnet terga dort nicht den Rücken der Kämpfenden, sondern die Felle der Löwen), ilibus (627), inguina (628), sanguine (630), venae (630), tori (631). Fünf weitere kommen zwei Mal zum Ausdruck: pedibus (615; 628), manus (618; 626), bracchia (618; 640), corpore (623; 632), cervix (624; 639). Drei Mal wird sudor (623; 630; 638) erwähnt, vier Mal pectus (zwei Mal in 624; 648; 652) und artus (631; 638; 643; 650). Am häufigsten, nämlich an fünf Stellen, macht der Erzähler Gebrauch von membra (613; 616; 629; 640; 648).

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conseruere manus et multo bracchia nexu; colla diu gravibus frustra temptata lacertis, inmotumque caput fixa cum fronte tenetur, 620 miranturque habuisse parem. Hier ist eine hohe Bewegungsdynamik zum einen durch die mehrfache, unterschiedliche Benennung der Glieder, die für den Ringkampf besonders relevant sind, zum anderen auf metrischer Ebene zum Ausdruck gebracht.96 Zudem deutet die Szene Hercules’ und Antaeus’ technische Versiertheit im Ringen an.97 Die Vielfalt der Griffe (multo […] nexu) entspricht der dichten Nennung von colla, lacertis, caput und fronte innerhalb von nur zwei Versen.98 Auf den lang andauernden Gleichstand zwischen den Gegnern folgt eine rasche Abfolge der Ereignisse und Hercules gewinnt durch seinen ersten Angriff vorübergehend die Oberhand (623–629a): prodidit et gelidus fesso de corpore sudor. tum cervix lassata quati, tum pectore pectus 625 urgueri, tunc obliqua percussa labare crura manu. iam terga viri cedentia victor alligat et medium conpressis ilibus artat inguinaque insertis pedibus distendit et omnem explicuit per membra virum. Die schnelle Aufeinanderfolge der Angriffe äußert sich am Gebrauch der Adverbien tum, tum, tunc und iam.99 Auch der Gebrauch des variierenden KörperVokabulars erzeugt den Eindruck schneller Bewegung und ist mit rasch wechselnden Kameraeinstellungen zu vergleichen. Das Zoom In auf einzelne Körperpartien bewirkt eine unübersichtliche und abbildende Schilderung des Ringkampfes. Insbesondere in V. 623–626 verläuft der Blick nicht ‚geradlinig‘ am Körper entlang, sondern ‚springt‘ vielmehr von einem Punkt des Körpers zum nächsten: corpore – sudor – cervix – pectore pectus – crura – manu. Dagegen lässt sich in V. 626–629 tendenziell eine Blickrichtung von oben nach unten erkennen: terga – ilibus – inguina – pedibus. Auf diese Weise wird Antaeus’

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Vgl. Anm. 68 auf S. 273. Asso (2010: 235): „The expression conserere manus generally denotes fighting. Here it applies to wrestling in a technical sense.“ Ferner weist Asso (ebenda) darauf hin, dass nexus einen terminus technicus im Ringkampf darstellt. Ebenda. Asso 2010: 237.

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Sturz nicht nur explizit auf lexikalischer Ebene, sondern auch über die Lenkung der ‚Leserperspektive‘ verbalisiert. Zugleich lässt sich nun ein Zoom Out von einzelnen Körperteilen zur Gesamtheit der Glieder (membra) beobachten,100 die wiederum auf corpore zu Beginn des ersten Angriffs durch Hercules rekurriert und so eine Ringkomposition andeutet. Durch das Zoom Out hinsichtlich des Körpers wird zudem die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Erzählraum, d.h. den Erdboden gelenkt (rapit arida tellus | sudorem, 629–630), der in enger Verbindung zu Antaeus Körper steht (s. o. Abschnitt 5.4.2). Die Andeutung der technischen Versiertheit bereits zu Beginn des Kampfes wird an dieser Stelle explizit greifbar. Insbesondere Hercules wendet Griffe, Schläge, Tritte und Würfe an, sodass der Ringkampf eher den Charakter eines pancration annimmt, das unter Neros Herrschaft in der römischen Arena ausgetragen wurde.101 Die deutliche Akzentuierung des Körpers deutet in den vorliegenden Versen auch auf die Anspannung, den Kraftakt und die Konzentration der Protagonisten hin: Alle Aufmerksamkeit ist auf den richtigen Moment des erfolgreichen Angriffs gerichtet, der Horizont zieht sich im Kontext der Gewalt auf die Kontrahenten und ihre Körper zusammen.102 Dies wird narrativ durch das stark dynamisch wirkende Zoom In bzw. Zoom Out verstärkt sowie durch den Gebrauch des historischen Infinitivs bzw. historischen Präsens: quati – urgueri – labare – alligat – artat – distendit. Die Figuren und der Leser nehmen die Kampfsituation absolut oder als ‚Jetztzeit‘ wahr, wodurch die Darstellung die Fokussierung auf den Körper und seine Erschöpfung zusätzlich an Intensität gewinnt (exhausitque virum, 622; anhelitus, 622; gelidus de fesso corpore sudor, 623):

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Vgl. Asso (2010: 239, ad 628–629): „Antaeus’ body, thrown to the ground by Hercules, spreads out in all of its gigantic length.“ Haskins (1971: 142, ad 625–626) weist darauf hin, dass das Schlagen der Beine nicht dem gewöhnlichen Ringkampf entsprach: „There seems here to be a confusion between wrestling and boxing, but even if the latter is intended to be described why should Hercules strike Antaeus on the legs, by doing which he would certainly expose his own body? In the account of the boxing match between Pollux and Amycus in Theocritus xxii all the blows are directed at the face and chest“; Alexis (2011: 166): „Lucan has concentrated on wrestling holds rather than this combination of foot, breast, hand and forehead, even though in Neronian Rome boxing and wrestling were combined in the Roman arena in the form of the deadly pankration.“ Einer besonderen Hervorhebung der Ringergriffe gegenüber der Angriffskombinationen bestehend aus Fuß, Brust, Hand und Stirn widersprechen jedoch das breite Spektrum des Körpervokabulars und der mehrmalige Gebrauch unterschiedlicher Ausdrücke (vgl. Anm. 95 auf S. 284); zum pancration s. Xenophan. 2.5 und Pind. N. 5.52; vgl. Anm. 85 auf S. 281. Vgl. Sofsky 1997: 146.

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Die Zeit wird intensiv und knapp: intensiv, weil sie blitzartig hereinbricht; knapp, weil die Bedenk-, Warn- und Fluchtzeiten auf ein Minimum verkürzt sind. Die Vehemenz der Geschwindigkeit verleiht der Zeit selbst destruktive Kraft.103 Schließlich ist Antaeus’ erste Verteidigung (629b–632) näher zu betrachten, die wie die vorigen Passagen einen erhöhten Gebrauch von Körperausdrücken erkennen lässt. rapit arida tellus 630 sudorem; calido complentur sanguine venae, intumuere tori, totosque induruit artus Herculeosque novo laxavit corpore nodos. Die Erstarkung des Riesen wird dem Leser als eine Art ‚Innenperspektive des Körpers‘ vermittelt, die mit einem Zoom Out einhergeht. Es zeigt sich, dass die Wiederherstellung der Kräfte durch die Erde von innen nach außen erfolgt: sanguine – venae – tori – artus – corpore. Das warme, im Körper zirkulierende Blut mit seiner Konnotation des Lebendigen ist hier wie auch bei mehreren Gewaltdarstellungen des Bellum Civile von zentraler Bedeutung (dum movet haec calidus spirantia corpora sanguis, 1.363; nondum destituit calidus tua volnera sanguis | semianimisque iaces, 3.746–747; in venas extremaque membra cucurrit, 6.751). Es füllt als ‚Kraftspender‘ die Adern (venae) und lässt die Muskeln (tori) anschwellen. Der Ausdruck torus bezeichnet den Muskel bereits in gewölbter, geschwollener oder angespannter Form.104 Der Plural verweist auf den Erholungsvorgang, der sich auf jeden einzelnen Muskel in Antaeus’ erstreckt und sich so in die generell fragmentierende Gewaltdarstellung einfügt. Die Glieder (artus) erhalten neue Kraft, und der Riese löst mit ‚neuem Körper‘ (novo […] corpore) Hercules’ Würgegriff. Der Blick auf Antaeus’ gesamten erholten Körper schließt die erste Verteidigung ab, wobei durch die Junktur novo corpore die Wiederherstellung des alten Kräfteverhältnisses ausgedrückt und fesso corpore (623) kontrastiv gegenübergestellt wird. Nimmt man die in der gesamten Kampfdarstellung mehrmals gebrauchten Körperausdrücke in den Blick (manus, bracchia, cervix, sudor, pectus, artus, membra, s. Anm. 95 auf S. 284), lassen diese semantische Überlagerungen erkennen. Manus und bracchia werden in der vorliegenden Partie lediglich im

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Sofsky 1997: 104; vgl. Sofsky 1996: 145–148. OLD s.v. ‚torus‘, 1952.

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Kontext des Angriffs gebraucht (conseruere manus et multa bracchia nexu, 617; obliqua percussa labare | crura manu, 625–626, fessis iniecit bracchia membris, 640). Dies entspricht der Darstellung der Hände an zahlreichen weiteren Stellen des Bellum Civile, wo sie als oft eigenständige, Gewalt ausübende agentes inszeniert werden (miscenturque manus, 3.569; miscere manus, 4.773; invenient haec arma manus, 5.326; nulla fuit non certa manus, 6.190).105 Der Leser nimmt diese als angreifende Körperteile wahr, während membra – abgesehen von der Kampfvorbereitung – im Kontext des Erleidens bzw. als Gewalt empfangende Körperteile dargestellt werden (explicuit per membra virum, 629; fessis iniecit bracchia membris, 640; haerebis pressis […] membris, 648). So ist membra immer auf Antaeus und seine Rolle als GA2 zu beziehen (s. Abschnitt 5.4.1). Als ambivalenter Körperteil erweist sich pectus, der zu gleichen Teilen im Kontext des Angriffs als auch des Gewaltempfangens gebraucht wird (tum pectore pectus urgueri, 624; haerebis […] intra mea pectora, 648; iam pectora pigro | stricta gelu, 651–652). An cervix und sudor lässt sich hauptsächlich die körperliche Erschöpfung beider Kontrahenten beobachten (cervix lassata, 624; exhaustos sudoribus artus | cervicemque viri, 638–639; gelidus fesso de corpore sudor, 623; rapit arida tellus | sudorem, 629–630).106 Schließlich rekurriert artus sowohl auf Hercules’ Erschöpfung (638–639) als auch allgemeiner auf Antaeus’ physischen Zustand des Erstarkens über die Erschöpfung bis hin zum Tod (totosque induruit artus, 631; fessos […] artus, 643; morientis in artus, 650). Es zeigt sich insgesamt, dass der Körper weniger eine ganzheitliche Entität darstellt, vielmehr wird durch die mehrfache Nennung einzelner Bestandteile des Körpers eine Differenzierung in verletzungsmächtige und verletzungsoffene Partien ermöglicht.107 Bevor im nächsten Abschnitt (5.4.4) die Gewaltdarstellung unter dem Aspekt der Spannung analysiert wird, ist abschließend ein wesentlicher Punkt bezüglich des dargestellten Körpers zu erörtern. Die Verwischung von (Körper-)Grenzen basiert zum einen auf der bereits erläuterten Geübtheit der Kämpfer, die mit Tritten, Schlägen, Würfen und insbesondere Würgegriffen den Sieg zu erreichen suchen und sich so multo nexu (617) ineinander verstricken. Zum anderen geht mit der ebenfalls weiter oben geschilderten raschen Abfolge der Angriffe eine desintegrierend wirkende Grenzüberschreitung einher, die 105

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Dinter (2005: 307): „Hence the predominance of the words manus and dextra among the body vocabulary of the Bellum Civile. For an army of countless and anonymous hands figths, murders and kills: remarkably independent body parts serve as substitute agents performing deeds that sturdy heroes would otherwise enact.“ Zur ‚Personifikation‘ unbelebter Dinge bei Lucan vgl. Hübner 1972: 577. S. Assos (2010: 240) Erläuterungen zu sudorem „[…] which here stands for the giants’ exhaustion“. Wobei allerdings eine durchweg eindeutige, schematische Zuordnung nicht möglich ist.

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nicht nur auf fiktiv-erzählweltlicher, sondern auch auf narrativer Ebene der Erzählung greifbar gemacht werden kann. Im Vollzug der Gewalt scheinen sich Hercules und Antaeus als ebenbürtige Gegner (pares) in einen Zwischenbereich bzw. eine Grenzzone zweier Semiosphären zu begeben, in der keine expliziten Zuordnungen mehr zum Ausdruck gebracht werden. Dies lässt sich deutlich am Polyptoton pectore pectus (624) beobachten, womit nicht nur eine räumliche Annäherung beider Kämpfer, sondern ähnlich wie bei der Darstellung des Massenmords unter Sulla auch eine semantische Verdichtung festzustellen ist.108 Zudem muss der Leser selbstständig realisieren, welchem von beiden Kontrahenten cervix, pectus (624), crura und manu (626) zuzuordnen sind, da sich im Text keine expliziten Erläuterungen finden. Ebenso muss der Leser den Sinn selbst konstituieren, wenn geschildert wird, dass ‚der Sieger‘ (victor, 626) den Rücken seines Gegners (terga viri, 626) umfasst und ihn zu Boden wirft. Wer ist der Sieger? Wer ist mit vir gemeint? Im hastigen und zugleich kampftechnisch komplexen Durcheinander des Ringkampfes scheint eine klare, eindeutige Erzählung nicht möglich. Die jeweilige Zuordnung von victor, terga viri (626), ilibus (627) inguinaque und pedibus (628) muss somit vom Rezipienten als ‚textproduzierende Instanz‘ vorgenommen werden. Der Kontext lässt implizit darauf schließen, dass Hercules als GA1, Antaeus als GA2 zu identifizieren ist. Schließlich äußert sich die paritas der Kämpfer auch auf lexikalischer Ebene im zweiten episodischen Einschub (637b–639): 637

numquam saevae sperare novercae plus licuit: videt exhaustos sudoribus artus cervicemque viri, siccam cum ferret Olympum.

Nicht mehr nur Antaeus, sondern auch Hercules wird nun als vir bezeichnet. Zudem rekurriert die Passage, die Hercules’ Erschöpfung schildert, durch die Wortwiederholungen exhaustos, sudoribus, cervicem und viri auf die Verse 622– 624, wo es allerdings Antaeus war, der durch Hercules’ Angriffe ermüdet wurde (622–624):109

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S. Kapitel 3; die körperliche Fusion beider wird auf lexikalischer Ebene durch den zweifachen Gebrauch des Pronomens ille (636–637) zusätzlich unterstrichen, das sich zunächst auf den Riesen, und im darauffolgenden Vers auf den griechischen Helden bezieht; vgl. Abschnitt 5.4.1 zur Gewaltkonstellation; vgl. Alexis (2011: 159): „Conflict in the form of wrestling blurs the boundaries between protagonists and takes the struggle from the field of war into the realm of games or spectacle […].“ Alexis 2011: 168–169.

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exhausitque virum, quod creber anhelitus illi prodidit et gelidus fesso de corpore sudor. tum cervix lassata quati, […]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verwischung von Körpergrenzen innerhalb der fiktiven Erzählwelt wie auch auf narrativer Ebene der Erzählung greifbar gemacht werden kann. Im Vollzug des Kampfes und der gleichzeitigen räumlichen Annäherung begeben sich Hercules und Antaeus in eine desintegrierende Grenzzone, in der sich semantische und lexikalische Ambiguitäten nachweisen lassen, sodass die beiden Kontrahenten scheinbar die Grenzen ihrer Körper überschreiten und ineinander diffundieren. Eine Differenzierung kann nicht explizit am Text festgemacht werden, sondern findet erst durch die Realisierung des Lesers statt. Dieses Phänomen der semantischen Verdichtung wirkt umso eindringlicher im Kontext des Ringkampfes, der prinzipiell stark dichotomisch geprägt ist.110 Im folgenden Abschnitt soll aufgezeigt werden, wie dieses statische, auf zwei Gegensätzen basierende Spannungsverhältnis (tension) mit der narrativen Struktur der vorliegenden Erzählung korreliert und so dynamische, auf den Verlauf der Gewalt bezogene Spannung (suspense) erzeugt wird. 5.4.4 Suspense Suspense kann sowohl auf Ebene der fabula als auch der story der Erzählung erzeugt werden. Beide Ebenen stehen im Kontext der Spannung in enger, wechselseitiger Wirkung zueinander. Denn Spannungspotential kann zwar durch das fiktive Erzählmaterial hervorgebracht werden, wie z. B. die Situation eines Duells, allerdings hängt die letztendliche Realisation dieses Potentials stark von der erzählerischen Vermittlung ab. Hierbei stehen dem Autor diverse Erzählstrategien zur Verfügung, die ihre spannende Wirkung jeweils durch unterschiedliche spezifische Mittel entfalten.111 Im Folgenden soll unter Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse zu Gewaltkonstellation, Erzählraum und Körper untersucht werden, welche narrative Strategie der Erzählung des Ring-

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Wie in Abschnitt 5.4.2 gezeigt werden konnte, konstituiert sich die antithetische Struktur der Erzählung im Erzählraum und seiner vertikalen bzw. topologisch-semantischen Ausrichtung. Wenzel 2004b: 181–182. Grundlegende Literatur zum Thema Spannung: Büchler 1908; Lugowski 1932; Barthes 1970; Rabkin 1973; Pfister 1977; Borringo 1980; Koch 1993b; Späth 1994; Vorderer 1996; Brewer 1996; Borgmeier/Wenzel 2001; Junkerjürgen 2002; Irsigler 2008; eine gute Übersicht findet sich bei Wenzel 2004b.

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kampfes zwischen Hercules und Antaeus zugrunde liegt und mit welchen Mitteln Spannung erzeugt wird. Hierfür werden zunächst (1) die Voraussetzungen für suspense auf Ebene der fabula ermittelt, und anschließend (2) die Umsetzung des Spannungspotentials in der story näher beschrieben. (1) Die vorliegende Textpartie weist fast alle Voraussetzungen für die Erzeugung von suspense auf.112 Der Zweikampf weist im Hinblick auf den Ausgang eine offene Frage auf. Die Lösung des Konflikts besteht lediglich aus zwei Alternativen und stellt damit ein minimales Paradigma dar: entweder erringt Hercules oder Antaeus den Sieg.113 Es wurde bereits erläutert, dass der Sieg an dieser Stelle nicht etwa mit dem Erwerb einer Prämie einhergeht, wie die Assoziationen zum Wettkampf bzw. palaestra andeuten, sondern es handelt sich um einen Kampf um Leben und Tod. Das Ende ist also unbekannt. Die Spannung der Erzählung zielt auf das ‚Was‘ der fabula und kann somit als ‚Finalspannung‘ charakterisiert werden.114 Der Blick auf die Gewaltkonstellation macht deutlich, dass Hercules sich in einem ungleichen Konflikt befindet, da Antaeus tatkräftige Unterstützung von Tellus erhält. Wie bei der Analyse der story im Anschluss genauer erläutert wird, gewinnt der Leser den Eindruck, dass Hercules’ Wahrscheinlichkeit auf einen Sieg kontinuierlich sinkt – zumindest bis er die besondere Fähigkeit seines Gegners durchschaut. Dies wirkt sich besonders stark auf die Spannung der Partie aus und gewinnt sogar an Intensität, indem sich der Leser durch Sympathielenkung mit dem griechischen Helden zunehmend identifiziert.115 Je größer die Not und unwahrscheinlicher der Sieg erscheint, desto eher wird der Leser in den Bann der fiktiven Erzählwelt gezogen. (2) In der Hercules-Antaeus-Partie lässt sich die Erzeugung von suspense in bemerkenswerter Deutlichkeit auch auf Ebene der story nachweisen. Da die Spannung teleologisch geprägt und auf ein „binäres Lösungsschema“116 ausgerichtet ist, das ‚Was‘ im Zentrum des Interesses steht sowie fabula und story parallel verlaufen, handelt es sich eindeutig um ein Konflikt- und Bedrohungs112

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Im Folgenden wird die Terminologie von Wenzel (2004b: 181–195) übernommen, deren klar definierten Kategorien eine differenzierte Darstellung des prinzipiell schwer greifbaren Phänomens der Spannung ermöglicht. Letztendlich ist die Wirkung der Spannung jedoch stark vom Leser und der jeweiligen Lesesituation abhängig, sodass im vorliegenden Abschnitt nur narrative Strategien aufgezeigt werden, die suspense zwar ermöglichen, aber nicht zwingend zur Folge haben; vgl. zum Aspekt der Leserpsychologie DolleWeinkauf 1994: 116; Junkerjürgen 2002: 31–51. Vgl. Carroll 1996: 75. Vgl. zu Final- und Detailspannung Pütz 1970: 15–16; Pfister 1977: 143 u. 147; Fuchs 2000: 50–53. S. weiter unten zur zweiten Spannungsphase ‚Erweckung von Anteilnahme‘. Wenzel 2004b: 187.

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schema (suspense discourse structure). Dieses Schema lässt sich in fünf verschiedene Phasen des Spannungsverlaufs unterteilen:117 (a) Vordisponierungsphase (b) Erweckung von Anteilnahme (c) Wechselspiel von Aussichtslosigkeit und Hoffnung (d) Retardierung (e) Entscheidung An diesem Verlaufsmodell orientiert sich die folgende Analyse, wobei die Spezifika der jeweiligen Phasen sich konkret am lateinischen Text belegen lassen. Es ist zu beachten, dass die Bestimmung der Spannungsphasen mit der bisherigen Einteilung der Partie in ihre einzelnen Segmente nicht deckungsgleich ist (s. Abschnitt 5.2). (a) Einen elementaren Bestandteil der Vordisponierungsphase stellt das initiating event dar, das Spannung überhaupt erst auslöst.118 Kennzeichnend hierfür sind auch Merkmale bzw. Vorhalte, die die drohende Gefahr andeuten.119 Das Spannung bzw. suspense erregende Ereignis der vorliegenden Erzählung ist in V. 609–611 angesiedelt, wo Antaeus mit Hercules zum ersten Mal ein namhafter oder zumindest eindeutig zu identifizierender Gegner (Alciden, 611) gegenüberstellt wird: tandem vulgata cruenti | fama mali terras monstris aequorque levantem | magnanimum Alciden Libycas excivit in oras. Als Gefahr anzeigendes Merkmal ist das Fell eines libyschen Löwen zu deuten, das dem Riesen als Überwurf dient. Wie bereits in Abschnitt 5.4.1 erläutert, charakterisiert es Antaeus als besonders wild und unberechenbar.120 Ebenso verweist die Erwähnung des warmen Sandes, den sich Hercules’ Gegner auf die Glieder streut (membris calidas infudit harenas, 616), darauf, dass die Erde im Gegensatz zu den bisherigen Kämpfen nun von höherer Bedeutung sein könnte. (b) In der anschließenden Phase wird beim Leser die für die Spannungserzeugung notwendige Erweckung von Anteilnahme bzw. emotionale Beteiligung am Schicksal einer Figur hervorgerufen. Durch Sympathielenkung, die sowohl explizit etwa auf lexikalischer oder implizit auf Ebene der story erfolgt, muss der Rezipient dazu bewegt werden, sich mit einer Figur zu identifizieren. Über die gesamte Gewaltdarstellung hinweg ist Hercules als Identifikationsfigur auszumachen. Zum einen wird dies insbesondere über die episodischen

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Ebenda: 188, Abb. 9.A; 190–192. Brewer (1996: 119): „[…] suspense is produced by having an initiating event in the discourse that has the potential to lead to significant outcome for one of the characters.“ Ebenda: „[…] higher suspense is produced when there is the potential for a bad outcome for a good character.“ S. Anm. 56 auf S. 271.

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Einschübe erreicht. Im episodischen Einschub 1 (633–635) erhält Leser einen intimen Blick in Hercules’ Gefühlswelt, nachdem Antaeus sich aus dessen Würgegriff befreien konnte und nun wieder mit ursprünglicher Stärke ausgestattet ist. Hercules bleibt erstaunt stehen (constitit […] stupefactus, 633) und kann sich die rasche Erholung seines eigentlich überwundenen Gegners nicht erklären, wobei constitit als Ausdruck seiner Irritation besonders durch die Erstposition im Vers akzentuiert ist.121 Die emotionale Einbindung wird noch gesteigert, denn selbst die gewaltige Hydra, der die abgeschlagenen Köpfe wieder nachwuchsen, fürchtete der griechische Held nicht so sehr wie nun seinen aktuellen Gegner (nec sic Inachiis, quamvis rudis esset, in undis | desectam timuit reparatis anguibus hydram, 634–635). Der Identifikationsprozess des Rezipienten mit Hercules erfolgt an dieser Stelle insbesondere auf lexikalischer Ebene. Der Gebrauch von stupefactus und timuit bringt eine starke Emotionalität und große Nähe zum Protagonisten zum Ausdruck. Zudem aktiviert die Andeutung quamvis rudis esset das Vorwissen des gebildeten Rezipienten, da der Sieg über die Hydra die zweite Heldentat des Halbgottes darstellt – nach der Bezwingung des Nemeischen Löwen, dessen Fell in V. 612 erwähnt wird. Da Hercules in der griechischen und römischen Mythologie fest verwurzelt ist und in der literarischen Tradition des Epos häufig die Rolle des typischen Helden einnimmt,122 erscheint eine generelle Tendenz des Lesers, sich gerade mit dieser Figur zu identifizieren, durchaus plausibel. Der mythologische Kontext wird auch in Episode 2 (637–639) ins Bewusstsein gerufen, wo Juno Hercules’ schweißnassen Nacken erblickt. Dieser blieb sogar trocken, als er das Himmelsgewölbe trug (siccam cum ferret Olympum). Der griechische Held wird also insgesamt als emotionale Figur beschrieben, die zudem einen hohen Stellenwert sowohl im Mythos als auch in der epischen Tradition hat und somit als Identifikationsfigur für den Leser deutlich in Szene gesetzt wird. Seine Darstellung steht in scharfem Kontrast zu dem Bild, das von Antaeus vermittelt wird. An ihm lassen sich keinerlei emotionalen Regungen beobachten.123 Die einzige nennenswerte ‚Innenperspektive‘ (630–632) nimmt vielmehr auf seinen Körper Bezug, dessen Stärkung sich von innen nach außen entfaltet (s. Abschnitt 5.4.3 zum Körper). Die enge Verbundenheit des Riesen mit der Erde und seine Identifikation mit der libyschen Landschaft, die durch Unnahbarkeit, Kargheit und

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Asso 2010: 241. Beispielsweise Verg. Aen. 8.184–305; Ov. met. 9.4–88. Galinsky (1972: 166, Anm. 15): „[…] a Herakles episode was almost mandatory in Roman epic.“ Abgesehen von mirantur (620). Jedoch rekurriert diese Innenperspektive auch auf Hercules und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers eher auf den unerwarteten Umstand, dass es sich bei beiden um ebenbürtige Gegner handelt.

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Menschenfeindlichkeit geprägt ist (s. Abschnitt 5.4.2 zum Erzählraum), lässt eine emotionale Annäherung des Lesers geradezu unmöglich erscheinen. Die Erzeugung eines Identifikationsgefühls zwischen Leser und Hercules ist allerdings nicht nur an den episodischen Einschüben der Partie erkennbar, sondern konstituiert sich zudem in der immer expliziter werdenden Schilderung der direkten Partizipation durch Tellus als GA31/2 (Abschnitt 5.4.1). Die Analyse der Gewaltkonstellation wies nach, dass die Erde als personifizierter Erzählraum zwar von Beginn der konkreten Gewaltszene an das Geschehen beeinflusst, der kausale Zusammenhang jedoch zwischen Antaeus’ Berührung des Bodens und seiner Stärkung in V. 614 lediglich angedeutet, in V. 630 gar elliptisch ausgelassen, erst in V. 636 zum ersten Mal explizit genannt, und in V. 643–644 ausführlich erläutert wird. Der Leser verfügt bereits zu diesem Zeitpunkt über die nötige Information, um den kausalen Zusammenhang an den jeweiligen Unbestimmtheitsstellen problemlos zu realisieren (vgl. die Charakterisierung des Antaeus, 593–609a). Der hospes Hercules jedoch muss sein figurales Teilwissen in einem mühevollen Lernprozess selbst erwerben.124 Es lässt sich am Text beobachten, dass der Lernprozess des Helden mit der erzählerischen Vermittlung der direkten Gewaltpartizipation korrespondiert: Wo die Wechselwirkung zwischen Antaeus und Tellus im Erzähldiskurs elliptisch ausgelassen wird, herrscht bei Hercules Ratlosigkeit (constitit […] stupefactus). Als jedoch die stärkende Wirkung der Erde klar und deutlich narrativ vermittelt wird (quisquis inest terris in fessos spiritus artus | egeritur, Tellusque viro luctante laborat, 643–644), durchschaut auch Hercules das Geheimnis und erwürgt seinen Gegner in der Luft. Der narrative Informationsvorbehalt innerhalb der konkreten Gewaltdarstellung lässt den wissenden Leser also am fiktiven Lernprozess des Protagonisten teilhaben bzw. diesen nachempfinden. Durch diese ‚Alteritätserfahrung‘ identifiziert sich der Rezipient zwangsläufig mit Hercules, sodass er überhaupt erst wirkliche Spannung bzw. suspense empfinden kann. (c) Das Wechselspiel von Aussichtslosigkeit und Hoffnung steht im Zentrum des Konflikt- und Bedrohungsschemas, da es dem Leser immer wieder bewusst macht, dass es für die Figuren lediglich zwei Lösungsmöglichkeiten gibt: Sieg oder Niederlage.125 Gerade das Szenario des Zweikampfes weist einen steten

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Seine Ahnungslosigkeit ist also möglicherweise auf seine Unkenntnis der libyschen Landschaft zurückzuführen. Alexis (2011: 160) sieht in der Verwendung von hospes einen Verweis auf Hercules’ griechisches Erbe, während Asso (2010: 234) die Antonomasie auf dessen Tätigkeit als herumreisender Monsterjäger bezieht: „[…] for he travels the world far and wide to rid it of its monsters“. Vgl. zum minimalen Paradigma weiter oben die Spannungserzeugung auf Ebene der fabula.

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Wechsel zwischen zeitweiliger Über- und Unterlegenheit der Kontrahenten auf und gilt somit als „prototypische Realisierung“ der dritten Spannungsphase.126 Die Erzählung vom Duell zwischen Hercules und Antaeus lässt eine deutliche Akzentuierung der Aussichtlosigkeit gegenüber der Hoffnung erkennen. Die Chance, dass Hercules den Sieg davonträgt, scheint kontinuierlich zu sinken, was durch die hohe Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten allerdings umso spannungsfördernder wirkt (s.o.). Die Darstellung wirkt aus Hercules Sicht insofern immer verzweifelter, als Antaeus immer wieder neu zu Kräften kommt, während der Held selbst immer schwächer wird. Die zunehmende Aussichtslosigkeit wird auch in den episodischen Einschüben deutlich: Selbst die Hydra wirkte auf Hercules nicht so furchteinflößend wie der Riese Antaeus (635). Zudem war Junos Hoffnung auf eine Niederlage des Jupiter-Sohnes niemals berechtigter als in dieser Situation (numquam saevae sperare novercae | plus licuit, 637–638). Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Hercules den Kampf verliert. Die immer düster werdenden Aussichten auf das Ende des Kampfes gehen mit den Symptomen fortschreitender körperlicher Erschöpfung einher (zur Verkehrung der körperlichen Erschöpfung s. Abschnitt 5.4.3), die durch die olympische Göttin fokalisiert werden: videt exhaustos sudoribus artus | cervicemque viri, siccam cum ferret Olympum (638– 639). Die deutliche Konzentration auf den Körper innerhalb der Gewaltdarstellung bewirkt außerdem eine sowohl in der vorliegenden Untersuchung als auch in der Forschung bisher nicht berücksichtigte, sehr intensive und für den Leser körperlich erfahrbare Art von Spannung. Diese wird als thrill bezeichnet.127 Bei der Wirkung handelt es sich um „intensive, aber angenehme Empfindungen, auch solche körperlicher Art, die sich vor allem als Reaktion auf die Darstellung von Gewalt und Sex einstellen.“128 Dem thrill liegen also „biologisch fundierte Triebstrukturen und Verhaltensmuster zugrunde“,129 die Walter A. Koch genauer in CRIMEN, FRUCTUS und SEXUS differenziert.130 In vorliegenden Textpartie wird thrill vor allem durch CRIMEN erzeugt, das unter anderem durch Gewalt, Kampf, Mord und „das große Duell zwischen unversöhnlichen Feinden“ charakterisiert ist.131 Die Aussichtslosigkeit lässt sich allerdings nicht nur auf Ebene der fabula, sondern auch an der story erkennen. Diese ist unter anderem auf die narrative

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Wenzel 2004b: 192. Insbesondere auch in 617–629, wo die Dichte des Körpervokabulars am höchsten ist. Späth 1994: 133. Wenzel 2004b: 184. Koch 1993a: 45–46, 120–121, 154–156. Wenzel 2004b: 184.

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Vermittlung des auktorialen Erzählers noch vor der intradiegetischen Erzählung zurückzuführen. Denn der auktoriale Erzähler präfiguriert gewissermaßen den Eindruck der Aussichtslosigkeit, indem er den Leser davon in Kenntnis setzt, dass die Gegend, in der Curio anlegt, nicht ohne Grund ‚Reich des Antaeus‘ genannt werde (inde petit tumulos exesasque undique rupes | Antaei quae regna vocat non vana vetustas, 589–590). In der Forschung wird die Frage der Namensgebung bereits seit langem diskutiert, da diese in Anbetracht des Kampfverlaufs und seines Ausgangs Irritationen hervorruft – schließlich gewinnt Hercules und nicht Antaeus.132 Eine mögliche Erklärung ergibt sich aus Analyse der Spannung. Da der Ausgang offen ist, mit dem Duell ein minimales, d. h. binäres Lösungsparadigma einhergeht und das Motiv der Aussichtslosigkeit immer mehr an Intensität gewinnt, scheint ein Sieg des Antagonisten Antaeus durchaus plausibel – insbesondere mit dem vermeintlichen Wissen, dass die Gegend ‚nicht umsonst‘ nach Antaeus benannt ist. Umso größer fällt dann die Erleichterung des Lesers über Hercules’ Sieg aus, der ohne den aitiologischen Verweis von vornherein eher anzunehmen gewesen wäre. Der auktoriale Erzähler nimmt mit der irreführenden Andeutung non vana vetustas Züge eines unzuverlässigen Erzählers an. Auf diese Weise wird suspense in ihrer Wirkung auf den Rezipienten erheblich gesteigert. Zudem führt die Wiederholungsstruktur des narrativen Textes dem Leser immer wieder die düsteren Aussichten der Identifikationsfigur Hercules vor Augen, wodurch ebenfalls eine Intensivierung von suspense erzeugt wird. Dies äußert sich in subtiler Weise im Kampfbeginn (617–620) und der Fortsetzung des Kampfes (636–637a). Den Anfang beider Passagen markieren jeweils an der besonders akzentuierten Verserstposition eine kontrahierte Perfektform der dritten Person im Plural: conseruere (617) und conflixere (636). Zum einen sind in der gesamten Gewaltdarstellung ansonsten keine dieser kontrahierten Verbformen im Perfekt nachzuweisen, sodass diese zwei in grammatischer Hinsicht eine auffällige Stellung einnehmen. Auch die ‚sprachästhetische‘ Komponente dürfte hier wohl eine wichtige Rolle spielen, da beide Wörter mit con- präfiguriert sind und homoteleutisch auf -ere enden. Zum anderen kennzeichnen 132

Syndikus (1958: 58) vertritt die Meinung, dass der Name Antaei regna in der Handlung eigentlich keinen Platz hat. Ahl (1976: 97) sieht in der Namensgebung eine Herabwürdigung von Hercules’ Heldentat, da sein Sieg im Gegensatz zu dem des Scipio (656–660) keinen „change of names“ bewirkt. Asso (2002: 59–60) schreibt der Hercules-AntaeusErzählung eine aitiologische Funktion zu, wodurch Lucans geographische und etymologische Gelehrsamkeit zum Ausdruck kommt. Die Bezeichnung Antaei regna sei zudem als rhetorische Figur bzw. als Synekdoche für Libyen zu deuten. Fratantuono (2012: 166) sieht in dem möglicherweise unmotiviert wirkenden Ausdruck ein vermeintliches Lieblingsmotiv Lucans: „the emptiness of onomastics“.

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beide Handlungen auf fabula-Ebene einen ansatzlosen Übergang zur nächsten Kampfphase, in der sich Hercules und Antaeus mit gleichen physischen Voraussetzungen angreifen. Alle drei Beobachtungen tragen dazu bei, dass der Leser seine Aufmerksamkeit auf die Wiederaufnahme des Duells richtet, die durch diese wiederholende sprachliche Komponente unterstrichen wird. Deutlicher wird auf den repetitiven Charakter des Kampfes unter gleichen körperlichen Voraussetzungen durch das Adverb iterum (640) hingewiesen – wohlgemerkt beim zweiten Angriff des griechischen Helden.133 Zudem verweist Paratore auf die durchgehenden Wortwiederholungen innerhalb der gesamten Partie, die sich dem Leser gewissermaßen ‚einhämmern‘ und somit die Wiederholungsstruktur zusätzlich betonen: vires (598, 604, 636), tetigere parentem (599), contingere matrem (615), tactae […] parentis (645).134 Der Wendepunkt des Kampfes wird schließlich mit ut tandem (645) eingeleitet. Nachdem Hercules die Fähigkeit seines Kontrahenten durchschaut hat, kann auch der Leser wieder Hoffnung schöpfen, die in der wörtlichen Rede des Protagonisten sogar in Gewissheit umschlägt.135 Das ‚Aufbrechen‘ der repetitiven Struktur findet seinen Ausdruck in ultra | non credere solo. Ultra und non sind insbesondere durch ihre Letzt- bzw. Erstposition zusätzlich betont. (d) Die Retardierung ist für die vorliegende Textpartie besonders kennzeichnend, da sie eng mit der Gewaltdarstellung verknüpft ist. Grundsätzlich stehen in dieser Phase diverse narrative Mittel zur weiteren Erzeugung von Spannung bzw. suspense zur Verfügung. Vor allem retardierende Elemente lassen sich äußerst flexibel, d.h. vor, innerhalb und nach der dritten Spannungsphase in die Erzählung integrieren.136 In der Erzählung des Ringkampfes erfüllen die drei episodischen Einschübe eine retardierende Funktion, allerdings auf jeweils unterschiedliche Art und Weise: In Episode 1 (633–635) pausiert die Gewalt auf Ebene der fabula und damit die erzählte Zeit, während die Erzählzeit fortgesetzt wird. Der Einschub wirkt im Einklang mit Hercules’ Irritation stark kontrastierend zur bisherigen Darstellung des Kampfes, da erstens mit dessen Einleitung constitit (633) die hohe Bewegungsdynamik innerhalb kürzester Zeit zum Stillstand kommt. Zweitens 133

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Dinter (2012: 140) spricht sogar davon, dass es sich an dieser Stelle um einen zweiten Kampf zwischen beiden Kontrahenten handelt: „This notion of a second, reiterated fight is expressed in many junctures: in BC 4 superhero Hercules has to seize Giant Antaeus a second time (iterum) and repeats their fight (BC 4.640–642) […]“. Zum Gebrauch von iterum und rursus im Bellum Civile vgl. Dinter 2012: 140–142. Paratore 1992: 34. Bemerkenswert ist der Gebrauch der futurischen Verbformen credere, vetabere (647), haerebis (648) und cades (649). Wenzel 2004b: 192.

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wechselt die Erzählung von der szenisch wirkenden Schilderung von Angriff 1 (620b–629a) und Verteidigung 1 (629b–632) zu einer stärker narrativ vermittelten Darstellung, die den bisherigen temporeichen Erzählfluss unterbricht. Erzählzeit und erzählte Zeit sind nun nicht mehr deckungsgleich. Die für Hercules irritierende Situation geht mit einem Blick in die Vergangenheit einher, als er noch unerfahren (rudis, 634) war.137 Auch Inachiis […] undis (634) als Verweis auf den damaligen Ort des Kampfes bildet einen deutlichen Gegensatz zur trockenen, heißen Landschaft Libyens. Anschließend wird der Ringkampf ansatzlos und unter gleichen Bedingungen weitergeführt. Während des episodischen Ein- bzw. Auf schubs 2 (637–639) pausiert die Gewalt nicht, sondern wird fortgeführt. Die Erzählzeit ist zwar länger als die erzählte Zeit, deren Differenz jedoch nicht so hoch wie in Episode 1. Der Kampf ist durch Juno fokalisiert (videt, 638). Hercules’ körperliche Erschöpfung deutet dessen zeitliche Limitation an, d.h. je mehr sich der Kampf in die Länge zieht, umso eher erfüllt sich die Hoffnung der Göttin, dass er die Auseinandersetzung und zugleich sein Leben verliert.138 Dem Leser wird dadurch erneut das minimale Lösungsschema ‚Leben oder Tod‘ vor Augen geführt. Zudem wird seine Aufmerksamkeit über Junos Blick auf den schweißnassen Nacken weg vom aktuellen Kampfgeschehen auf die Vergangenheit des Helden gelenkt. Nachdem sich auch Antaeus Angriff 2 durch Hercules entziehen konnte, setzt nun der episodische Einschub 3 ein (645–649). Wie im ersten Einschub (633–635) pausiert auch hier die Gewalt und Hercules setzt zur Rede an.139 Allerdings sind erzählte Zeit und Erzählzeit deckungsgleich. Die Erzählung nimmt erneut szenischen Charakter an und der Blick ist nicht mehr wie in Episode 1 und 2 vergangenheits-, sondern zukunftsgerichtet. Hercules’ Ansprache erfüllt die Funktion einer kompletiven Prolepse, da sie die ‚tatsächliche‘ Todes-

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Die besondere Funktion von rudis an dieser Stelle wird weiter unten näher beschrieben. Junos Parteilichkeit lässt sich im Übrigen auch auf ihre teils mythologisch begründete ‚Affinität‘ zur Erde zurückführen, wie etwa der dritten homerischen Hymne an Apollon zu entnehmen ist (Hom. h. 3.300–374): Aus Eifersucht auf Zeus’ kopfgeborene Tochter Athene verschwor Hera sich mit der Erde, und gebar mit deren Gunst den schrecklichen Typhon. Vor diesem Hintergrund lässt sich Junos Sympathie für Tellus’ Sohn Antaeus erklären, zumal Typhon in V. 595 explizit genannt und die Partie dadurch atmosphärisch vorgeprägt ist; zur mythologischen Tradition Typhons vgl. Asso 2010: 226–227, ad loc. Dies sind Hercules’ einzige Worte im gesamten Bellum Civile, sodass dessen Rede eine exponierte Stellung einnimmt; hierzu Asso (2010: 243): „These are the only words spoken by Hercules in the entire poem. Hercules does not speak in Evander’s narrative from Aeneid VIII (or in Livy I), nor does he speak in either Silius or Valerius; but he does speak in Ov. M. 9.120–126, before striking the centaur to rescue Deianira. Both Ovid and L.[ucan] might be imitating the Homeric model of the victor who speaks to taunt the loser.“

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szene teilweise vorwegnimmt. Suspense speist sich nicht, wie in Episode 1 und 2, aus dem Motiv der Aussichtslosigkeit, sondern, wie weiter oben gezeigt wurde, aus dem ‚Prinzip Hoffnung‘. Bemerkenswerterweise verändert sich also das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit mit den episodischen Einschüben. Während die Differenz in Episode 1 aufgrund der Pause der erzählten Zeit am größten ist, verringert sie sich in Episode 2, wo die erzählte Zeit zwar nicht pausiert, aber merklich kürzer als die Erzählzeit ist. In Episode 3 – kurz vor der Entscheidung – ist die Differenz schließlich auf ein Minimum reduziert und es liegt Isochronie vor. Es lässt sich also im Hinblick auf das Verhältnis Erzählzeit – erzählte Zeit eine stete Abnahme der Retardierung beobachten. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass alle drei episodischen Einschübe nicht nur der Retardierung dienen, sondern zugleich auch die Nachempfindung von Hercules’ Lernprozess, die die Identifikation des Lesers mit dem Helden, emotionale Teilnahme und das Wechselspiel von Aussichtslosigkeit und Hoffnung ermöglichen. Wie an der Einteilung in einzelne Segmente ersichtlich wird (s. Abschnitt 5.2 zu Kontext, Inhalt, Aufbau), sind die Einschübe zwischen den konkreten Gewaltdarstellungen positioniert, sodass die Konsistenz des Kampfes bestehen bleibt und die Spannung weiter gesteigert wird. So folgt auf Angriff 1 (620b– 629a) und Verteidigung 1 (629b–632) der erste episodische Einschub (633–635). An die Fortsetzung des Kampfes (636–637a) schließt sich der zweite Einschub (637b–639), und auf Angriff 2 und Verteidigung 2 (640–644) der dritte Einschub (645–649a) an. Hierbei lässt sich eine bemerkenswerte Beobachtung machen: Die retardierenden Elemente stehen – abgesehen von der Fortsetzung des Kampfes – in engem Zusammenhang mit bzw. in unmittelbarer Folge auf Antaeus’ jeweilige Verteidigung, die sich bei näherer Betrachtung als Obstruktion charakterisieren lässt, und lediglich darauf abzielt, den Angriffen seines Gegners auszuweichen bzw. sie zu neutralisieren (s. Abschnitt 5.4.1).140 Ebenso wie die episodischen Einschübe auf narrativer Ebene übernimmt also die Obstruktion des Riesen auf fiktiver Ebene eine retardierende Funktion innerhalb der Gewaltdarstellung. Gewalt in der fabula steht somit in einem direkten Entsprechungsverhältnis zur narrativen Struktur des Textes auf story-Ebene. Bevor sich die Analyse der fünften Spannungsphase zuwendet, ist auf den Aspekt der Erzähldistanz einzugehen. Die Untersuchung der episodischen Einschübe lässt diesbezüglich eine Zweiteilung erkennen. Der erste Teil (617–632,

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Allerdings stehen Hercules und Antaeus sich auch im Abschnitt Fortsetzung des Kampfes als ebenbürtige Kontrahenten (pares, 636) gegenüber, die sich gegenseitig neutralisieren.

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jedoch insbesondere Angriff 1 und Verteidigung 1) wurde bereits häufiger als ‚szenisch‘ bezeichnet. Dieser ‚dramatische Modus‘ ist auf die geringe Mittelbarkeit der Erzählung zurückzuführen. Demnach weist die Passage eine schwache Erzählerpräsenz auf, offenbart einen hohen Informationsgehalt und ist reich an Detailbeschreibungen, wie etwa des Körpers oder der variablen Kampftechnik (Tritte, Schläge, Würfe und Griffe). Zudem deutet die konzentrierte Darstellung der Gewalt die Wahrnehmungsperspektive des Protagonisten Hercules an (nec viribus uti | Alcides primo voluit certamine totis, 620–621). Erzählzeit und erzählte Zeit sind annähernd deckungsgleich. Im zweiten Teil (633– 653, ab dem ersten episodischen Einschub) lässt sich dagegen eine deutlich höhere Mittelbarkeit beobachten, sodass hier von einem Wechsel zum ‚narrativen Modus‘ gesprochen werden kann. Die Präsenz eines auktorialen Erzählers wird zusehends stärker, was sich an der differenzierten Erläuterung von Tellus’ heilender Wirkung auf Antaeus äußert. Die Einschübe enthalten zudem analeptische und proleptische Verweise, wodurch die narrative Struktur an Komplexität gewinnt. Das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit variiert: Bei der Innenperspektive des Hercules etwa ist die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit, der entgegengesetzte Fall liegt bei der Fortsetzung des Kampfes vor (conflixere pares, Telluris viribus ille, | ille suis, 636–637). Im Kontext der hohen Mittelbarkeit muss insbesondere auf den Gebrauch von rudis in V. 634 besonderes Augenmerk gerichtet werden (s. oben Anm. 137 auf S. 298). Alexis macht zu Recht auf die Assoziation zum incola rudis als Erzählerpersona aufmerksam: As Hercules compares his present self with his memory of himself when he was rudis, BC 4.634, ‘young’, the poet seems to be toying with ideas of comparison, story-telling and memory since the term rudis, here reminds us of the rudis incola, BC 4.592, who relates this whole episode.141 Trotz der unterschiedlichen Bedeutung von rudis in den zwei Kontexten – ‚ungebildet‘ und ‚unerfahren‘ – wird dem Leser vor Augen geführt, dass mit dem Text nicht etwa eine dramatische Szene, sondern eine Erzählung innerhalb einer Erzählung bzw. eine Binnenerzählung vorliegt. In Anknüpfung an Alexis’ Feststellung ist das Attribut rudis somit als metanarrative Anspielung zu verstehen, die den Übergang in den narrativen Modus in V. 633–653 markiert. Es lässt sich also festhalten, dass die Kategorie der Distanz sich deutlich auf die Qualität der Spannung auswirkt. Während der Fokus im ersten eher dramati-

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Alexis 2011: 168.

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schen Teil auf dem thrill und der gefühlten ‚Jetztzeit‘ liegt, wird im zweiten eher narrativen Segment suspense vor allem durch Retardierung vorangetrieben. (e) Der ideale Aufbau der Spannung, wie er in der vorliegenden Textpartie auf Ebene der fabula und der story nachgewiesen werden konnte – (a) Vordisponierungsphase, (b) Erweckung von Anteilnahme, (c) Wechselspiel von Aussichtslosigkeit und Hoffnung und (d) Retardierung – weist mit der letzten Phase (e) Entscheidung einen signifikanten Bruch auf. Wie bei der Untersuchung der Gewaltkonstellation bereits herausgearbeitet wurde (s. Abschnitt 5.4.1), ruft Hercules’ Sieg über Antaeus beim Leser Irritationen hervor, da die eigentliche Sterbeszene, die bei den Gewaltdarstellungen im Bellum Civile häufig großen Raum einnimmt142 fast schon beiläufig Erwähnung findet bzw. der Eintritt des Todes elliptisch ausgespart wird. Zudem schließt die Erzählung des rudis incola mit dem kurzen Exkurs zu Scipios Erfolgen in Libyen, der Hercules’ Tat zu schmälern scheint.143 Der Grund für diese Irritation ergibt sich zum einen aus der literarischen Tradition des Epos, zum anderen aus dem Verlauf der Spannung. Die Darstellung von Antaeus’ Tod bricht mit der Tradition des Epos.144 Da die Darstellung des Zweikampfes Qualitäten einer Aristie nach homerischem Vorbild erkennen lässt,145 werden Erwartungen des Lesers auch im Hinblick auf die Schilderung des Sterbens geweckt. So müsste der Tod – gemäß der literarischen Tradition – plötzlich eintreten. Zwar kommen in der Regel keine Qualen des patiens zum Ausdruck, jedoch übertrifft die Erzählzeit die Dauer der erzählten Zeit bei weitem, sodass der in der fabula eigentlich kurze Moment des Sterbens in der story in Zeitlupe beschrieben wird.146 Auf diese Weise wird das heldenhafte Profil des Protagonisten besonders herausgestellt und dem Leser wird durch eine möglichst brutale, schauderhafte Schilderung der Verwundung vor Augen geführt, welch großer Gefahr sich der Held aussetzt.147 Die Sterbeszene geht meist mit dem Motiv des Niedersinkens oder Herabfallens einher (s. auch Abschnitt 4.4.4.5, Punkt 3.f auf S. 232). Im Ringkampf zwischen Hercules und Antaeus dagegen wird gerade dieses durch das Halten in

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Vgl. etwa die Darstellung zahlreicher, grausamer Tode während der Seeschlacht vor Massilia (3.567–762). Ahl (1976: 96): „There is an unmistakable suggestion that Scipio’s victory over Hannibal surpasses in importance that of Hercules over Antaeus“; Fratantuono (2012: 166): „Hercules’ victory is downgraded by the fact that a greater name (4.656) was given to the locale by Scipio – Publius Cornelius Scipio Africanus Maior.“ Auch Alexis (2011: 75) bemerkt: „Antaeus’ death is not described in epic style.“ Vgl. zur Aristie bei Homer beispielsweise Friedrich 1956; Niens 1987; Stoevesandt 2004. Zimmermann 2009a: 163. Ebenda.

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kapitel 5

der Luft konterkariert.148 Das irritierende Moment des Kampfausgangs basiert allerdings auch auf der bis dahin so sorgfältig aufgebauten Spannung, die letztlich zu früh aufgelöst wird. Damit die Phase der Entscheidung ihre Wirkung auf den Leser in vollem Umfang entfalten kann, muss die Lösung des Konflikt- und Bedrohungsschemas in einem Zug eintreten, sodass die Spannung in einer last minute crisis nochmals zu einem Höhepunkt gesteigert wird.149 Da jedoch Hercules’ Rede als kompletive Prolepse Antaeus’ Tod teilweise vorwegnimmt, ist eine weitere Steigerung von suspense nicht mehr möglich. Eine Sterbeszene, die in Anbetracht der Aussichtslosigkeit Hercules’ großartigen Erfolg entsprechend würdigen und in Szene setzen würde – schließlich lässt sich an der Stärke der Gegner die Stärke des Helden bemessen –, bleibt aus. Das abrupte Ende und die den Sieg über Antaeus schmälernde Erwähnung Scipios täuschen den Rezipienten letztendlich in seiner Erwartung genauso wie – in der fiktiven Erzählwelt – Curio, der darauf hofft, die mythisch-historische Heldenlinie ‚Hercules – Scipio‘ zu einer Trias komplettieren zu können.150 Zusammenfassung: Die Analyse des Textes unter dem Aspekt Spannung hat ergeben, dass auf Ebene der fabula klare Voraussetzungen für die Erzeugung von suspense vorhanden sind: hierzu zählt die offene Frage des Ausgangs, der lediglich auf ein minimales Lösungsparadigma hinweist: Sieg oder Niederlage. Über die Identifikation des Lesers mit Hercules als Protagonisten wirkt die sinkende Wahrscheinlichkeit seines Sieges besonders suspense-steigernd. Auf Ebene der story war es möglich ein Konflikt- und Bedrohungsschema nachzuweisen. Es ist bemerkenswert, dass sich an der Erzählung vier Phasen des Spannungsverlaufs beobachten lassen: die Phase der Vordisponierung, die Erweckung von Anteilnahme, das Wechselspiel von Aussichtslosigkeit und Hoffnung und schließlich die Retardierung. Anhand der Kategorie der suspense ließen sich vor allem narrative Strukturen in der story aufzeigen, die mit Gewalt in der fabula korrespondieren, insbesondere die Retardierung durch die drei episodischen Einschübe mit der Obstruktion der Gewalt durch Antaeus. Es

148

149 150

Vgl. Hom. Il. 13.650–655; 14.465–468; 20.413–418. Alexis (2011: 175) sieht den Bruch in Anlehnung an Vergils und Ovids Versionen des Hercules-Kampfes: „With this reversal of an epic death scene, Lucan is providing yet another form of death. The poet cannot have Antaeus fall in death, since his life is regained from the soil, so an epic death, signalled by a fall to earth, must be altered. In this way Lucan’s story distorts the tradition, adhered to by Virgil’s dispassionate manner of recounting the final moment of Cacus. Ovid’s Hercules / Achelous story culminates with mutilation, not death, a change which continues to mar the forehead of the river god even when he is no longer in the form of a bull.“ Wenzel 2004b: 192. In dem Punkt, Hercules sei „designed to disappoint the reader“, trifft Saylors (1982: 170) Interpretation damit zu.

suspense: hercules vs. antaeus

303

kann als bezeichnend für Lucans spezifische Pointentechnik angesehen werden, dass gerade die letzte Spannungsphase, die Entscheidung, mit der Lesererwartung bricht. 5.4.5 Fazit Einerseits weicht die Disposition des dargestellten Kampfes von den bisher untersuchten Gewaltdarstellungen deutlich ab: ein aus der griechisch-römischen Mythologie bekannter Held, Hercules, tritt zum Ringkampf gegen einen ebenfalls prominenten Widersacher, den Riesen Antaeus, an, um Land und Bevölkerung zu befreien, und stellt durch den (wortwörtlich) mühevoll errungenen Sieg seine Stärke unter Beweis. Andererseits lässt die narrative Repräsentation der Gewalt Tendenzen des Unmaking erkennen. Das Spannungsverhältnis bzw. tension zwischen den Oppositionen Hercules und Antaeus ist geradezu ‚lucan-typisch‘ von Entgrenzung und Diskontinuität geprägt. Entgrenzung konnte etwa am Aufbrechen der dichotomischen Struktur agens – patiens durch dritte Gewaltaktanten, wie die direkt partizipierende Tellus (GA32), aufgezeigt werden. Während des intensiv geführten Kampfes ließ sich auch eine Verwischung von Körpergrenzen feststellen. Die dynamische Wechselwirkung zwischen Obstruktion der Gewalt durch Antaeus und Verzögerung des narrativen Fortschritts zeigt, dass fabula und story ein enges Entsprechungsverhältnis eingehen. Erneut wird dem Leser vor Augen geführt, dass Lucanische Gewalt ihre Wirkung über die Grenzen der fiktiven Erzählwelt hinaus auf die Erzählstruktur entfaltet. Diskontinuität kommt etwa in der (Quasi-)Aristie mit verkehrter Pointe zum Ausdruck, die darin besteht, dass Antaeus ‚fällt‘ ohne wirklich zu fallen (die Dynamisierung und Semantisierung des Erzählraums ist hierbei von zentraler Bedeutung). Unmaking spiegelt sich in der Durchbrechung bzw. vorzeitigen Auflösung von suspense wider. Der Bruch mit der Lesererwartung wirkt umso irritierender, als suspense bis zur letzten Phase der Entscheidung mustergültig und wirkungsvoll aufgebaut wurde. Das illusionsbildende Prinzip der Interessantheit der Geschichte dient hier als „Sprungbrett für Illusionsstörungen“, die in lucanesker Weise dem Rezipienten die Autoreferentialität der Erzählung bewusst werden lässt.151 151

Wolf 1993: 112; vgl. Anm. 270 auf S. 71.

kapitel 6

Exzess: Pharsalus 6.1

Text und Übersetzung: Lucan. 7.617–631

Impendisse pudet lacrimas in funere mundi mortibus innumeris, ac singula fata sequentem quaerere letiferum per cuius viscera vulnus 620 exierit, quis fusa solo vitalia calcet, ore quis adverso demissum faucibus ensem expulerit moriens anima, quis corruat ictu, quis steterit dum membra cadunt, qui pectore tela transmittant aut quos campis affixerit hasta, 625 quis cruor emissis perruperit aera venis inque hostis cadat arma sui, quis pectora fratris caedat et, ut notum possit spoliare cadaver, abscisum longe mittat caput, ora parentis quis laceret nimiaque probet spectantibus ira 630 quem iugulat non esse patrem. mors nulla querella digna sua est, nullosque hominum lugere vacamus. Beim Untergang der Welt schämt man sich, Tränen für unzählige Tode zu vergießen und, während man einzelne Schicksale verfolgt, zu fragen, durch wessen Eingeweide eine tödliche Wunde hervordrang; wer auf seine inneren Organe (620) trat, die auf den Boden geglitten waren; wer, dem Feinde zugewandt, das in seinen Rachen versenkte Schwert mit seinem letzten Lebenshauch sterbend ausstieß; wer getroffen zusammenbrach; wer stehenblieb, während seine Glieder zu Boden fielen; wer die Geschosse durch die Brust dringen ließ oder wen die Lanze auf das Schlachtfeld heftete; (625) wessen Blut sich aus offenen Adern mit Gewalt einen Weg durch die Luft bahnte und auf die Rüstung des Feindes ergoss; wer die Brust seines Bruders durchbohrte und, um den ihm bekannten Leichnam plündern zu können, das abgetrennte Haupt weithin fortwarf; wer das Gesicht seines Erzeugers verstümmelte und durch allzu großen Zorn denen, die dies mitansahen, glaubhaft machen wollte, dass derjenige, dem er die Kehle abschnitt, (630) nicht sein Vater sei. Kein Tod ist einer eigenen Klage wert, und es obliegt uns nicht auch nur einen der Männer zu betrauern.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi:10.1163/9789004379459_007

exzess: pharsalus

6.2

305

Kontext, Inhalt, Aufbau

Das siebte Buch des Bellum Civile ist der Entscheidungsschlacht bei Pharsalus gewidmet. Sie scheint kosmische Ausmaße anzunehmen, da in ihr die Auseinandersetzung der „zwei Weltprinzipien“ Caesar und Pompeius ihren Höhepunkt findet.1 Die vorliegende Partie (7.617–631) ist in den zweiten von insgesamt drei Hauptteilen eingebettet: 1–234: Pompeius’ Entscheidung zum Angriff, Aufmarsch 235–727: Vorbereitung, Schlachtverlauf 728–872: Caesar nach der Schlacht Insbesondere der umfangreiche Teil 2 Vorbereitung, Schlachtverlauf (235–727) lässt sich in neun weitere Abschnitte differenzieren: 235–336: 337–384: 385–459: 460–505: 506–531: 532–598: 599–616: 617–646: 647–727:

Caesars Rede an sein Heer Pompeius’ Rede an sein Heer Erzählerkommentar 1: Auswirkungen der Schlacht Schlachtbeginn Pompeius’ Kavallerie versagt, Flucht der Hilfstruppen Blutbad auf pompeianischer Seite, Tod der Senatoren Domitius’ Tod, Wortwechsel mit Caesar Erzählerkommentar 2: Massensterben, Roms Ende Pompeius’ Flucht

In den Versen 617–646 (Erzählerkommentar 2: Massensterben, Roms Ende) greift der Erzähler seine Ausführungen zu den verheerenden Auswirkungen der Pharsalus-Schlacht noch einmal auf (vgl. Erzählerkommentar 1, 386–459) und kommt auf das massenhafte Sterben der Soldaten zu sprechen, als dessen unmittelbare Folge der Untergang der römischen Welt anzusehen ist. Die Textanalyse richtet den Fokus auf die erste Hälfte des zweiten Erzählerkommentars, d.h. auf die Verse 617–631. Angesichts des Weltuntergangs (in funere mundi, 617) sei es, so der Erzähler zu Beginn der Partie, beschämend die Todesschicksale einzelner Männer hervorzuheben (617–619a). Es dürfe auch nicht nach den Namen derer gefragt werden, die im Kampf den Tod finden bzw. ihn zufügen. Nach der additiven Massenkampfszene, die aus einer Aneinanderreihung individueller, expliziter

1 Thierfelder 1970: 54.

306

kapitel 6

Sterbeszenen besteht (619b–626a), thematisiert er Mord und Verstümmelung an Brüdern und Vätern (626b–630a) – durchgehend in Form einer indirekten Frage. Abschließend fasst er die Partie in einen Rahmen, indem er an die Bemerkungen zu Beginn anknüpft und sein Vorhaben, keine Klage für einzelne Todesschicksale anzustimmen, bekräftigt (630b–631). Für die Analyse wird die Episode in vier Hauptteile gegliedert. Die additive Massenkampfszene setzt sich aus acht Einzelszenen zusammen, während der Verwandtenmord sich in zwei weitere Unterkategorien fassen lässt: 617–619a: Vorszenenelement (X) 619b–626a: Additive Massenkampfszene: a) 619b–620a: Szene 1 b) 620b: Szene 2 c) 621–622a: Szene 3 d) 622b: Szene 4 e) 623a: Szene 5 f) 623b–624a: Szene 6 g) 624b: Szene 7 h) 625–626a: Szene 8 626b–630a: Verwandtenmord a) 626b–628a: Brudermord b) 628b–630a: Vatermord 630b–631: Schlussszenenelement (Y)

6.3

Forschungsstand

Die Lucanforschung beleuchtet die Verse 617–631 in überschaubarem Umfang und beinahe ausschließlich in Bezug auf deren narrative Vermittlung durch den Erzähler. Ausgangspunkt der Analyse ist häufig der Verweis auf das rhetorische Stilmittel der Praeteritio, die in Form einer indirekten Frage (pudet … quaerere) die Massenkampfszene (619b–626a) und den Verwandtenmord (626b– 630a) umfasst.2 Der Erzähler übergeht demnach die unzähligen individuellen Todesschicksale (mortibus innumeris, singula fata) allerdings nur scheinbar, denn er führt sie daraufhin in variabler Länge schließlich doch aus. Insbesondere der Aspekt der Anonymität, d.h. die Weigerung, die Namen der Betrof2 Auf den Gebrauch der Praeteritio verweisen explizit Rutz 1950: 84; Narducci 2002; Radicke 2004: 420; Ambühl 2005: 282, 285; Anzinger 2007: 153; Gibson 2008: 92; Estèves 2010: 203; Hömke 2012: 82; Ambühl 2015: 249.

exzess: pharsalus

307

fenen zu erwähnen, fand in den Untersuchungen ein breites Echo, zumal der Erzähler sein Verschweigen-Wollen zuvor in den Versen 552–556 explizit thematisiert:3

555

hanc fuge, mens, partem belli tenebrisque relinque, nullaque tantorum discat me vate malorum, quam multum bellis liceat civilibus, aetas. a potius pereant lacrimae pereantque querellae: quidquid in hac acie gessisti, Roma, tacebo.4

Auf dieser Grundlage wurden unterschiedliche Interpretationsansätze ausgearbeitet, die sich nach drei Gesichtspunkten auffächern lassen: (1) Zum einen sei, so Rutz, die Erklärung dem Text selbst inhärent. Angesichts der kosmischen Ausmaße des römischen Bürgerkrieges wäre eine Klage über die Schicksale einzelner Soldaten verfehlt, die vor diesem Hintergrund nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zudem würde der Blick auf Einzelheiten die Wirkung des Pathos schmälern.5 Gorman folgt Rutz in seiner Argumentation und erweitert sie um den Aspekt des Gedenkens. Sie schreibt: „The poet must refuse to memorialize the names of men because he must mourn the death of the whole world (7.617–631): […].“6 Auch Feichtinger sieht in der Verweigerung des Erinnerungsgestus ein Schlüsselmotiv in Lucans Text: Während die Selbstzerfleischung der Römer ihre Kräfte bindet und dadurch andere Völker entlastet, deren Sänger ihre toten und lebenden Helden unbelastet loben können (Lucan. 1.447–449), verweigert sich Lucan der Fokussierung und Nennung des einzelnen Soldaten als Erzählprinzip wie als gemeinschaftsbildendem und -beschwörendem Erinnerungsgestus.7 3 Dieser intratextuelle Verweis wird vor allem von Gorman (2001: 267) deutlich herausgearbeitet: „At Lucan’s Pharsalus, no virtue is proven, no glory won, because, generally speaking, Lucan refuses to name names (7.552–555) […]“; s. auch Radicke 2004: 402, Anm. 158. 4 „Flieh diesen Abschnitt des Krieges, mein Geist, und lass ihn im Dunkeln! Kein Zeitalter soll in meinem Zeugnis durch diese furchtbaren Gräueltaten erfahren, wie weit ein Bürgerkrieg gehen kann! Ah, lieber lasse ich diese Tränen, lasse mein Klagen und verschweige, was Rom in diesem Ringen vollbracht hat!“ (Übers. Luck). 5 Rutz (1950: 84): „Die tantae res, die der Dichter künden will (I 67), sind eben das funus mundi, der Untergang der alten Welt. Vor ihm aber werden Einzelschicksale wesenlos. […] Lucan hat offenbar bewusst die Darstellung individueller Gestalten und einzelner Kämpfe vermieden, um der Schilderung nichts von ihrem Pathos zu nehmen.“ 6 Gorman 2001: 271. 7 Feichtinger 2007: 78.

308

kapitel 6

Ambühl untersucht die Partie vor dem Horizont ihres intertextuellen Verhältnisses zu Euripides’ Hiketiden und hebt dabei stärker auf das Schamgefühl des Erzählers ab (pudet, 617). Hierin komme eine verurteilende Haltung zum Ausdruck, die Ambühl als Grund für die vermeintliche Nicht-Erzählung anführt.8 (2) Meist blicken die Interpreten aus Perspektive des literarischen Genres auf die Partie. Die narrative Hervorhebung der anonymen Masse gegenüber der Gestaltung gattungstypischer Aristien müsse demnach als Überwindung oder Modifikation epischer Konventionen gesehen werden. Im Gegensatz zu Homer oder Vergil verzichtet Lucan auf Identitätsstiftung oder Einflechtung seiner Figuren in mythologische Kontexte. In Leighs prägnanter Bemerkung etwa spiegelt sich die Communis Opinio der verschiedenen Untersuchungen wider: Yet this is not to be a poem of individual aristeiai. This is the message of 7.617–630, where Lucan’s expression of shame at discussing individual deaths goes hand in hand with a grotesque account of the violence done by Roman to Roman, kinsman to kinsman.9 8 Ambühl (2005: 284–285): „Lucans Erzähler verallgemeinert diese abwehrende Haltung zu einer pauschalen Weigerung, den brudermörderischen Aspekt des Bürgerkriegs zu schildern. Auch die vereinzelten negativen Kommentare zum Duell der Brüder in den Botenberichten bei Euripides werden von Lucans Erzähler zu einer vehementen Verurteilung des Bürgerkriegs überhaupt ausgeweitet. Dies zeigt sich etwa in seiner Verwendung des rhetorischen Stilmittels der praeteritio (BC 7,617–631), das sich auch im Kontext der Schlachtbeschreibung in Euripides’ Hiketiden findet. Während aber dort der Bote vor lauter Sinneseindrücken nicht weiß, womit er beginnen soll (Hik. 684–693), und Theseus Adrastos nicht nach Einzelheiten über die Schlacht befragen will, weil diese im Kampfgetümmel ohnehin nicht zu erkennen seien (Hik. 844–856), lehnt es der Erzähler bei Lucan aus Scham ab, angesichts des allgemeinen Untergangs die Schicksale einzelner Soldaten zu beklagen und nach ihren jeweiligen Todesarten zu fragen.“ 9 Leigh 1997: 78; vgl. Gorman (2001: 271–272): „In the careful detailing of the anonymous gore we are reminded of the care displayed by Homer and Vergil in naming and describing their specific heroes engaged in aristeia, and must note the startling transformation of this convention“; s. auch Narducci (2002: 222): „In un passaggio di poco successivo, Lucano giustificherà la propria scelta con il carattere particolarissimo dello scontro di Farsàlo: in questo vero e proprio funus mundi (Phars. VII 617) a cadere sono interi popoli e nazioni, e non singoli uomini, come nelle precedenti battaglie della guerra civile (Phars. VII 632 sgg.). Perciò si rivelano inadeguate le formule tradizionali dell’epica per raccontare le morti sul campo, che il poeta rievoca attraverso una lunga ‚preterizione‘ (Phars. VII 617 sgg.)“; Gall (2005: 105): „Der Sinnlosigkeit, in einem solchen Bruderkrieg einzelne Taten hervorzuheben, widmet Lucan in diesem Kontext einen umfänglichen Passus (617–631); wo Römer gegen Römer kämpfen, gibt es keine Aristien, sondern nur das Ende Roms als allen gemeinsame Katastrophe (643: per populos hic Roma perit)“; Anzinger (2007: 153): „Als konventionelle epische Schlachtschilderung mit

exzess: pharsalus

309

Radicke dagegen stellt den alleinigen Fokus auf die literarische Tradition des Epos in Frage und will die bemerkenswerte ‚Namenlosigkeit‘ vor dem Hintergrund des historischen Erzählparadigmas verstanden wissen. Dabei distanziert er sich von der These Gormans, die ihr Augenmerk allein auf das Verhältnis zur epischen Konvention (moralische Inversion des epischen Heldentums) richtet und die historische Tradition zu wenig beachtet. […] Dem ist entgegenzuhalten, dass Lucan in seiner Beschreibung das historische Erzählparadigma genau abbildet (dort werden keine Namen geboten). Die Abweichung von der epischen Konvention liegt zunächst vor allem darin begründet.10 (3) Der letzte interpretatorische Ansatz ist erzähltheoretisch ausgerichtet und betrachtet den ‚Sonderstatus‘ des Erzählers. Esposito sieht als zentrales Merkmal der Partie den – angesichts der implizit angekündigten Auslassung – ‚visuellen‘ Charakter der Gewaltszenen.11 Der Erzähler schlüpfe in einem dramatisierenden Prozess in die Rolle eines Zuschauers, sodass sich eine Art ‚Darstellung in der Darstellung‘ erkennen lasse.12 Hieran knüpft Ambühls Beobachtung

10 11

12

den üblichen Einzelszenen ist das funus mundi nicht zu fassen. […] Sowohl das Ausmaß des Schlachtens als auch die moralische Qualität der Beteiligten […] lassen eine konventionelle epische Schilderung dieser als Menschheitskatastrophe aufgefassten Schlacht ebenso aussichtslos wie überflüssig erscheinen und veranlassen den Erzähler, nach neuen narrativen Mitteln zu suchen“; Feichtinger (2007: 78): „Lucan pervertiert hier die traditionelle Erzählform der Aristie, indem er die einzelnen Heldenkrieger, die kämpfenden Individuen auflöst in eine namenlose Masse von Todesarten, von Waffen und Wunden […]“; Hömke (2012: 82): „Gerade die Schlacht von Pharsalos, das direkte Aufeinandertreffen der Heerführer Pompeius und Caesar, wäre gemäß traditionellem Epenverständnis der ideale Rahmen für kunstvoll verknüpfte Aristie-Episoden gewesen, in denen die aufgezählten spektakulären Kriegertode alle hätten vorkommen können. […] Schließlich hat er sich – freilich fernab der dramaturgisch gebotenen Stelle, wie es die Pharsalos-Schlacht gewesen wäre – bereits mit der epischen Tradition dieser Bauform auseinandergesetzt und sie im Sinne seines eigenen epischen Konzepts umfunktionalisiert.“ Radicke 2004: 404, Anm. 104. Auch Hömke (2012: 82, Anm. 194) verweist am Rande ihrer Argumentation auf die eindrückliche Ausgestaltung der einzelnen Gewaltszenen: „Gleichwohl lässt Lucan das Aufgezählte seine abstoßende Wirkung entfalten. Dazu fokussiert er wie in der ScaevaPassage in ‚Großaufnahme‘ auf die Verwundungen statt auf die Kämpfer.“ Esposito (1987a: 48): „Tutto il brano è finalizzato alla rappresentazione visiva ed è un succedersi di immagini di lunghezza variabile, introdotte ognuna da un pronome (cuius, quis, quis, ecc.), e culminanti in quelle finali, in cui un figlio sfigura il volto del padre per impedire che quanti vedono (spectantibus) possano credere che la furia omicida che lo anima si eserciti su qualcuno che non sia un avversario comune e anonimo. Questa parte finale

310

kapitel 6

an, dass Lucans Erzähler hinsichtlich seiner subjektiv gefärbten Schilderung exzessiver Gewalt Charakteristika des tragischen Boten aufweise: Umgekehrt lässt sich die subjektiv gefärbte Perspektive des Erzählers in Lucans Schlachtbeschreibung – eher als mit der eines ‚objektiven‘ epischen Erzählers – mit der Erzählhaltung eines tragischen Boten vergleichen, der selbst am Geschehen beteiligt ist und als Figur der Handlung agiert – unter Einbezug der eben erwähnten Steigerung durch eine scheinbar simultane Berichterstattung.13

6.4

Interpretation

Bella per Emathios plus quam civilia campos | […] canimus (Lucan. 1.1–2). Die Ankündigung des Erzählers, einen Krieg zu besingen, der mehr war als nur ein Bürgerkrieg, ist vielfach untersucht und interpretiert worden, sei es aus intraoder intertextueller Blickrichtung.14 Die unterschiedlichen Ansätze kommen dabei zu einem Ergebnis: die ersten Verse des Bellum Civile sind als programmatische ‚Überdimensionierung‘ anzusehen, „wie ein Motto des lucanischen Steigerungswillen“.15 Worin diese Übersteigerung allerdings zum Ausdruck kommt, muss als Leerstelle durch den Rezipienten realisiert werden, oder wie Henderson bemerkt: „[…] the phrase challenges readers to name this excess, this plus quam […].“16 Der Exzess – der im weiteren Verlauf das breite Bedeutungsspektrum von Steigerung, Eskalation, Entgrenzung umfasst – ist insbesondere auch in der vorliegenden Partie der Pharsalus-Schlacht abgebildet. Er liegt ihr als zentrales Motiv und zugleich narratives Gestaltungsprinzip zugrunde. Dies lässt sich anhand folgender drei Aspekte sichtbar machen. Zunächst soll

13

14

15 16

offre la chiave di lettura dell’intero brano, che sembra strutturato come una specie di rappresentazione nella rappresentazione, ossia una riproposta al pubblico di una serie di scene di cui l’autore, l’io narrante, si finge spettatore, secondo un procedimento tipico della descrizione drammatica.“ Ambühl 2005: 284; zu den Gemeinsamkeiten des Lucanischen Erzählers zum tragischen Chor s. ebendort Anm. 78; in ihrer gattungsübergreifenden Untersuchung zu Lucans griechischen Vorbildern weitet Ambühl (2015: 244) ihren Blick noch weiter auf Euripides und Aischylos aus. Zu intratextuellen Ansätzen vgl. beispielsweise Schrijvers 1989: 62–66; Nuñez González 2006; Roche 2009: 57–58, 100–103; für intertextuelle Untersuchungen s. etwa Fantham 2011: 559–576; Ambühl 2015: 4–11, passim. Seitz 1965: 221, Anm. 2. Henderson 2010: 456.

exzess: pharsalus

311

der Exzess hinsichtlich der sukzessiven Ausweitung der Gewaltkonstellation nachgezeichnet werden. Die Eskalation der Gewalt korrespondiert dabei mit der dynamischen Wechselwirkung zwischen den jeweiligen Gewaltaktanten. Anschließend zeigen sich exzessive Tendenzen bei der Analyse von Körper und Verwundung. Vor allem die kontrafaktische Verarbeitung homerischer Gewaltmotive sowie die Steigerung des Massenkampfes durch den Verwandtenmord führen dem Leser ein eindringliches Bild eskalierender Gewalt vor Augen. Zuletzt macht die Analyse der narrativen Vermittlung deutlich, dass sich der Gewaltexzess auf Ebene der fabula in der story widerspiegelt. Die strukturauflösende Wirkung, das Unmaking Lucanischer Gewalt lässt sich anhand der Entgrenzung narrativer Strukturen beschreibbar machen, sodass zwischen Erzählung des Exzesses und Exzess der Erzählung keine definitive Trennlinie gezogen werden kann. 6.4.1 Gewaltkonstellation Im Rahmen der Praeteritio tritt in der additiven Massenkampfszene (619b–626a) und dem Abschnitt des Verwandtenmordes (626b–630a) die Individualität der Figuren hinter den Typus der jeweiligen Gewaltaktanten zurück. Anhand der synoptischen Darstellung der Gewaltkonstellation lässt sich eine bemerkenswerte Tendenz sichtbar machen: Während die additive Massenkampfszene weniger Kämpfe, als vielmehr das bloße Gewalterleiden und Sterben anonymer patientes (GA2) präsentiert, weitet sich beim Verwandtenmord das Sichtfeld. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf agentes (GA1), patientes (GA2) und schließlich auch auf participes, genauer: Zeugen der Gewalt (GA33c) gelenkt, sodass alle drei Gewaltaktanten in der Partie zu finden sind.

620

625 626a 626b

Impendisse pudet lacrimas in funere mundi X mortibus innumeris, ac singula fata sequentem quaerere letiferum per cuius viscera vulnus GA2; V(d) exierit, quis fusa solo vitalia calcet, GA2; V(d) ore quis adverso demissum faucibus ensem GA2; V(d); W expulerit moriens anima, quis corruat ictu, ST; GA2; V(a) quis steterit dum membra cadunt, qui pectore tela GA2; V(d); GA2; V(d); W transmittant aut quos campis affixerit hasta, GA2; WW; W quis cruor emissis perruperit aera venis GA2; V(d) inque hostis cadat arma sui, GA1 quis pectora fratris GA1; GT(z); GA2 caedat et, ut notum possit spoliare cadaver, IP1 abscisum longe mittat caput, ora parentis V(d); V(d); GA2 quis laceret nimiaque probet spectantibus ira GA1; GT(z); GP(ind) GA33c

312 630

kapitel 6

quem iugulat non esse patrem. mors nulla querella digna sua est, nullosque hominum lugere vacamus.

GA2; GT(z); V(d); Y

Szene 1 (619b–620a): Wie auch in den nachfolgenden Einzeldarstellungen wird der patiens (GA2) nicht durch eine konkrete Figur repräsentiert, sondern kommt mittels eines ‚anonymen‘ Interrogativpronomens zum Ausdruck (cuius). Dem Leser wird mit der Durchdringung der inneren Organe (viscera) eine detaillierte Verwundung (V[d]) vor Augen geführt. Anstatt einer Waffe tritt die Wunde selbst aktiv aus dem Körper des patiens heraus (vulnus exierit, 619–620). Szene 2 (620b) zeigt einen anonymen patiens (GA2) (quis), dem bereits eine ähnliche bestimmte Wunde (V[d]) zugefügt wurde, da dessen Eingeweide (vitalia) aus dem Körperinneren auf den Boden heruntergefallen sind. Der Soldat führt eine noch schlimmere Verwundung herbei, indem er – wohl unabsichtlich im Zuge der Vorwärtsbewegung – darauf tritt. Auch in Szene 3 (621–622a) erlitt ein patiens (GA2) (quis) bereits eine fatale Wunde, indem ihm ein Schwert (W) (ensem) in den Rachen gestoßen wurde (V[d]). Die Angabe ore adverso (621) lässt auf einen Zweikampf schließen, in dem sich der patiens einem vom Erzähler nicht genannten agens gegenübersah und sichtlich unterlag. Die Darstellung wird um eine Sterbeszene im engsten Sinne (ST) erweitert, indem der patiens das Schwert wieder herauszieht und damit auch seinen letzten Atemzug sterbend (moriens anima, 622) ausstößt. Szene 4 (622b) weist mit insgesamt drei Worten den geringsten Umfang auf und zeigt den kurzen Moment, in dem ein patiens (GA2) (quis) unter einem Stoß oder Hieb (ictu) zusammenbricht. Dies lässt sich als Schilderung einer allgemeinen Verwundung (V[a]) charakterisieren, da weder der Körper als Ganzes noch einzelne Körperteile genannt werden. Szene 5 (623a) setzt wie Szene 2 und 3 nach dem Zeitpunkt der konkreten Verwundung ein. Sie zeigt in antithetischer Gegenüberstellung zur vorigen Szene einen patiens (GA2) (quis), der selbst stehen bleibt, während dessen Glieder (membra) zu Boden fallen (V[d]). Szene 6 (623b–624a) hebt sich von den übrigen ab, indem sie die detaillierte Verwundung (V[d]) mehrerer patientes (GA2) (qui) schildert, deren Brust von tela (W) durchbohrt wird. In direkter Anknüpfung folgt Szene 7 (624b). Mehrere patientes (GA2) (quos) werden von geschleuderten Lanzen (W) (hasta) auf das Schlachtfeld geheftet. Die Fixierung an den Boden akzentuiert weniger eine Verwundung als eher eine spezifische Waffenwirkung (WW). Szene 8 (625–626a), die zusammen mit Szene 3 den größten Umfang aufweist, schließt die additive Massenkampfszene ab. Auch hier erlitt der patiens (GA2), kurz bevor der Erzähler auf die Szene zu sprechen kommt, einen Angriff. Die Blutgefäße sind gewaltsam geöffnet (venis emissis, 625). Die Verletzung ist der Kategorie V(d) zuzuordnen. Der Erzähler fährt fort: das Blut schießt

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durch die Luft auf die Rüstung des Feindes (hostis, 626). Dem Text ist zwar nicht eindeutig zu entnehmen, dass es sich bei diesem um den agens (GA1) handelt, dies ist jedoch plausibler als dass der Blutstrahl irgendeinen Feind träfe (zur narrativen Funktion des herausschießenden Blutstrahls s. Abschnitt 6.4.2). Wie eingangs erläutert, weitet sich in der folgenden Darstellung des Verwandtenmordes (626b–630a) die Erzählung auf weitere Gewaltaktanten. Zudem weisen die beiden Szenen des parricidium einen höheren Textumfang auf. Sowohl der Bruder- als auch der Vatermord umfassen jeweils einen halben, einen ganzen und nochmals einen halben Vers (626b–628a und 628b–630a), womit sie jede der Einzelszenen im Massenkampf übersteigen. Insgesamt werden im Massenkampf acht Einzelszenen innerhalb von sieben Versen geschildert, wohingegen Bruder- und Vatermord in etwa vier Verse umfassen. Beim Brudermord (626b–628a) wechselt die Perspektive zu einem anonymen agens (GA1), der analog zur bisherigen Darstellung durch das Interrogativpronomen quis (626) zum Ausdruck gebracht wird. Als Subjekt des Satzes führt er einen Hieb gegen die Brust seines Bruders (GA2) aus (pectora fratris caedat, 626–627) und begeht damit eine zielgerichtete Gewalttat (GT[z]). Der Finalsatz ut notum possit spoliare cadaver (627) stellt die einzige Innenperspektive (IP1) der gesamten Episode dar und motiviert die letzte Handlung des Brudermörders (GA1). Damit er den ihm bekannten Leichnam plündern kann, wirft er das abgetrennte Haupt (V[d]) weit von sich (628). Die Gewaltkonstellation des Vatermordes (628b–630a): Erneut ist der GA1 (quis, 629) Subjekt des Satzes und verstümmelt (laceret, 629) (GT[z]) das Antlitz des GA2, seines Vaters (ora parentis, 628). Die Szene weist schon alleine dadurch einen weiteren Schritt der Eskalation auf, dass der GA2 der Vater des GA1 ist. Mit der Ermordung des pater familias, der die höchste Stellung innerhalb der Familienhierarchie einnimmt, lässt sich die höchstmögliche Steigerung des parricidium beobachten. Schließlich ist dem Abschnitt des Vatermordes die höchste ‚interaktantielle‘ Dynamik der Partie zu entnehmen. Denn nicht nur die Aktanten agens und patiens sind vertreten, sondern auch participes (GA33c). Die Zeugen (spectantibus, 629) der zielgerichteten Gewalttat nehmen indirekt Einfluss auf die weitere Gewalthandlung (GP[ind]). Der Akt des Zuschauens hat entscheidende Wirkung auf das ausufernde gewalttätige Verhalten des agens. Dieser versucht offensichtlich, den Beobachtern mit der Darstellung allzu großen Zornes (nimia ira, 629) zu beweisen, dass die Person (quem, 630) (GA2), deren Kehle er in einer weiteren zielgerichteten Gewalttat (GT[z]) durchschneidet (iugulat, 630), nicht sein Vater sei. Es scheint also gerechtfertigt, an dieser Stelle zu überlegen, ob die Gewalttat des agens am patiens so exzessiv verlaufen wäre, wenn erstens, die Zeugen nicht anwesend

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und zweitens, der patiens nicht der Vater des agens gewesen wäre. Die Eskalation der Gewalt ist damit auf die dynamische Wechselwirkung zwischen den jeweiligen Gewaltaktanten zurückzuführen (zur Empfindung der Scham s.u. Abschnitt 6.4.3). 6.4.2 Körper und Verwundung Die Darstellung der Körper und ihrer Verwundung wird dem Leser eindrücklich vor Augen geführt. Umso bemerkenswerter scheint es, dass dieser Aspekt bisher einer weniger differenzierten Analyse unterzogen, sondern lediglich angedeutet wurde. Hauptsächlich die Einzelszenen des Massenkampfes werden unter ‚lucaneske‘ Attribute wie ‚bizarr‘, ‚grotesk‘ und ‚hyperbolisch‘ subsumiert. Solch vorschnelle Urteile bringen jedoch die Gefahr mit sich, die narrativ-ästhetischen Charakteristika des Textes unberücksichtigt zu lassen.17 Denn gerade die narrative Ausgestaltung und Ästhetisierung der Gewalt im Gewande einer Praeteritio heben den Aspekt des Exzesses, der die gesamte Partie beherrscht, in besonderem Maße hervor. Im Folgenden ist die Analyse in zwei Teile gegliedert. (1) Zunächst wird die additive Massenkampfszene näher erläutert. (2) Im Anschluss ist der Blick auf den Verwandtenmord zu richten. (1) In der additiven Massenkampfszene gilt die Aufmerksamkeit des Erzählers insbesondere den Körpern der patientes. Körper und Körperteile sind nur im Kontext der Verwundung genannt. Bei der physischen Verwundung lassen 17

Vgl. etwa Rutz (1950: 85): „Diese beiden sich entsprechenden Stücke umrahmen den Mittelteil, der in der Form der praeteritio die mannigfachen Todesarten beschreibt und dabei in der Steigerung bis zum ruchlosen, abgefeimten Verwandtenmord […] noch einmal den Widersinn, das Verbrechen dieser Schlacht hyperbolisch darstellt, noch einmal das Grauen des leichenbedeckten Schlachtfeldes lebendig werden lässt“; s. auch Leigh (1997: 78): „This is the message of 7.617–630, where Lucan’s expression of shame at discussing individual deaths goes hand in hand with a grotesque account of the violence done by Roman to Roman, kinsman to kinsman“; Narducci (2002: 222) charakterisiert die Einzelszenen im Hinblick auf einen episch-literarischen Überbietungsgestus: „Moti ‚epiche‘ – insistendo soprattutto sugli aspetti bizzarri, paradossali, grotteschi, sulla ricerca dello straordinario, dell’esagerazione e della concettosità – erano già state descritte in precedenti scene guerresche della Pharsalia, nelle quali il poeta sembrava proporsi di superare la convenzionalità di moduli narrativi tradizionali.“ Ambühl (2015: 249): „Eine mit der Weigerung von Lucans Erzähler in BC 7.552–556 verwandte Figur ist die ausgedehnte ‚praeteritio‘ in den Versen 617–631, in der er es ablehnt, angesichts des Unterganges der ganzen Welt Einzelschicksale zu beweinen […], dann aber umgehend eine lange Liste grausam bizarrer Todesarten anonymer Opfer anfügt (619–626) […].“ Davon abzuheben ist allerdings Ésteves’ Beitrag, deren Ansatz sich als ‚körperphänomenologisch‘ bezeichnen ließe, und eine Differenzierung des Massenkampfes in drei Verwundungsarten vornimmt (Estèves 2010: 203): „[…] transpercement, troncation ou écrasement, accompagnés de brusques effusion de sang“.

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sich insbesondere drei Motive hervorheben. (a) Die Szenen 1 bis 3 sind von der Überschreitung der Körpergrenze von innen nach außen geprägt. (b) In den Szenen 4 und 5 ist das Fallen das dominierende Motiv. (c) Die Szenen 6 und 7 weisen – in Anlehnung an die Seeschlacht vor Massilia – das Durchstoßen des Körpers durch Distanzwaffen auf. (d) In Szene 8 sind alle drei Verwundungsmotive zusammengeführt, wodurch der Übergang zum Verwandtenmord zusätzlich unterstrichen ist. Insgesamt lässt sich bei der Darstellung des Körpers und seiner Verwundung eine erhöhte Bewegungsdynamik und damit eine Akzentuierung des Aktionsraums erkennen. In stilistischer Hinsicht weisen die Verse 619b–626a eine antithetische Struktur auf, die aus der jeweils kontrastiven Gestaltung physischen Gewalterleidens resultiert. Aufgrund dieses übergeordneten Gestaltungprinzips sind die individuellen Sterbeszenen allerdings nicht so sehr als voneinander isoliert anzusehen, sondern eher als loses kompositorisches Gefüge. Dies resultiert im Eindruck des synchronen Verlaufs einzelner Szenen innerhalb des Massenkampfes (zum Aspekt der Zeit s.u. Abschnitt 6.4.3). Zudem ist das vornehmliche stilistische Merkmal innerhalb der individuellen Sterbeszenen Hypallage bzw. Pointenverkehrung.18 (a) Szene 1 (619b–620a) zeigt eine bemerkenswerte Großaufnahme der Wunde. Agentes oder Waffen liegen außerhalb des Blickfeldes. Die Wunde ist weder Prozess noch Ergebnis der körperlichen Zerstörung, sondern nimmt selbst an der Gewalthandlung teil. Vulnus (619) ist Subjekt des Satzes und tritt aktiv (exierit, 620) aus den Eingeweiden des patiens heraus. Es scheint, als bringe die Wunde sich selbst hervor und trage den Tod durch den Körper (letiferum, 619).19 Wie Henderson bemerkt, ist vulnus metonymisch für die zustoßende Waffe zu verstehen. In der Wunde verdichten sich somit Prozess und Zustand, Gewalttat und -erleiden: „[…] the Lucanesque is the compressed violence where uolnera (‚wounds‘) are put in place of arma (‚what wounds‘) […]“.20 Die ins Gegenteil verkehrte Bewegungsrichtung der Wunde, d. h. vom Körperinneren nach außen, entfaltet eine noch eindringlichere Wirkung auf den Leser, wenn man sie in direkten Vergleich mit Gewaltdarstellungen in Homers Ilias setzt. In Anknüpfung an Hom. Il. 5.65–68 ist sie als kontrafaktische Steigerung zu deuten:

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Auf Lucans Pointentechnik wurde bereits an mehreren Stellen genauer eingegangen, vgl. Hübner 1975. Dilke (2001: 146, ad loc.) sieht in exierit einen Verweis auf eine ‚glatte‘ Wunde: „ ‘Has gone clean through’, opposed to the mangling wound next described.“ Henderson 2010: 465; s. auch Gagliardi 1975: 88.

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τὸν μὲν Μηριόνης ὅτε δὴ κατέμαρπτε διώκων βεβλήκει γλουτὸν κατὰ δεξιόν· ἣ δὲ διαπρὸ ἀντικρὺ κατὰ κύστιν ὑπ’ ὀστέον ἤλυθ’ ἀκωκή· γνὺξ δ’ ἔριπ’ οἰμώξας, θάνατος δέ μιν ἀμφεκάλυψε.21

Während Homers Erzähler die Durchbohrung des Körpers sehr realitätsnah, detailreich und anschaulich wiedergibt, übt Lucans Text vielmehr eine illusionsstörende Wirkung auf den Rezipienten aus, bedingt durch die semantische Verdichtung von Waffe und Wunde, die mangelnde Anschaulichkeit des ‚Nachaußen-Dringens‘ der Wunde sowie durch die starke zeitliche Raffung. Szene 2 (620b) steht der ersten in dreierlei Hinsicht antithetisch gegenüber. Erstens handelt es sich nicht um eine ‚glatte‘ Wunde (vgl. Anm. 19 auf S. 315). Stattdessen haben sich die vitalia (620) des patiens auf dem Boden verteilt ( fusa solo, 620), in die dieser nun tritt und sich zu verstricken scheint. Zweitens liegt der Fokus der narrativen Darstellung nicht auf dem Prozess der Verwundung wie noch in der Szene zuvor. Die gewalttätige Öffnung des Körpers ist in der Erzählung elliptisch ausgelassen, sodass die Leerstelle vom Leser zu realisieren ist. Drittens unterstreicht der Ausdruck vitalia, dass es sich um lebenswichtige Organe handelt.22 Indem der patiens darauf tritt, führt nicht die Wunde, sondern letztlich er selbst seinen eigenen Tod herbei. Damit kann auch diese exzessive Darstellung als Verkehrung homerischer Gewalt aufgefasst werden (Hom. Il. 20.413–418): 413 416

τὸν βάλε μέσσον ἄκοντι ποδάρκης δῖος Ἀχιλλεὺς […] ἀντικρὺ δὲ διέσχε παρ’ ὀμφαλὸν ἔγχεος αἰχμή, γνὺξ δ’ ἔριπ’ οἰμώξας, νεφέλη δέ μιν ἀμφεκάλυψε κυανέη, προτὶ οἷ δ’ ἔλαβ’ ἔντερα χερσὶ λιασθείς.23

Während das Eindringen der Spitze in den Körper geschildert wird und der patiens Polydoros sterbend versucht, sein herausquellendes Gedärm zurück-

21

22 23

„Diesen traf, wie er jetzt im verfolgenden Lauf ihn ereilte, | Rechts hindurch ins Gesäß Meriones, dass ihm die Spitze, | Vorn die Blase durchbohrend, am Schambein wieder hervordrang. | Heulend sank er aufs Knie, und Todesschatten umfing ihn“ (Übers. Rupé). Vgl. OLD, s.v. ‚vitalis (3)‘, 2078. „Mitten im Rücken traf ihn der Speer des schnellen Achilleus | […] | Vorn aber bohrte sich durch bis zum Nabel die Spitze des Speeres. | Heulend sank er ins Knie, eine finstere Wolke umfing ihn. | An sich zog der Gefallene noch das Gedärm mit den Händen“ (Übers. Rupé).

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zuhalten, weist Szene 2 der vorliegenden Partie also eine geradezu gegenläufige Tendenz auf. Szene 3 (621–622a) knüpft insbesondere an zwei Gesichtspunkte der zweiten Szene an. Zum einen ist die entscheidende Wunde bereits geschlagen, als der Erzähler seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen richtet. Dass dem patiens im Nahkampf ein Schwert in den Rachen ( faucibus, 621) gestoßen wurde, stellt in der Erzählung eine elliptische Auslassung dar. Wie bereits im Kontext der Gewaltkonstellation erwähnt, standen sich die Kontrahenten wohl gegenüber, worauf ore adverso (621) hinweist. Zum anderen tritt der Tod nicht sofort ein, sondern erst, als der patiens selbst das Schwert aus seinem Mund herauszieht und in diesem Zuge seinen letzten Atemhauch ausstößt.24 Mit dieser Handlung führt auch er letztlich seinen eigenen Tod herbei. Die gesteigerte Intensität der Gewalt resultiert daraus, dass der Getroffene bis zu diesem Zeitpunkt immer noch am Leben ist sowie auch in der Lage, sich koordiniert zu bewegen. Auch hier lässt sich eine Passage der Ilias heranziehen (Hom. Il. 16.345–350): Ἰδομενεὺς δ’ Ἐρύμαντα κατὰ στόμα νηλέι χαλκῷ νύξε· τὸ δ’ ἀντικρὺ δόρυ χάλκεον ἐξεπέρησε νέρθεν ὑπ’ ἐγκεφάλοιο, κέασσε δ’ ἄρ’ ὀστέα λευκά· ἐκ δ’ ἐτίναχθεν ὀδόντες, ἐνέπλησθεν δέ οἱ ἄμφω αἵματος ὀφθαλμοί· τὸ δ’ ἀνὰ στόμα καὶ κατὰ ῥῖνας 350 πρῆσε χανών· θανάτου δὲ μέλαν νέφος ἀμφεκάλυψεν.25 345

Der Erzähler konzentriert sich im Vergleich zu Lucans Text stärker auf den Eintritt der Lanze in den Körper, der dem Leser mit bemerkenswerter Detailfülle veranschaulicht wird. Vor dem intertextuellen Hintergrund rücken in Lucans Szene 3 die geraffte Schilderung und das Herausziehen des Schwertes aus dem Rachen umso eindrücklicher ins Bewusstsein. Dabei korrespondiert die konträre Bewegung nach außen mit dem Ausspeien des Blutes bei Homer, woraufhin in beiden Texten unmittelbar der Tod eintritt. Die Gewaltästhetik der ersten drei Sterbeszenen im Massenkampf konstituiert sich hauptsächlich durch ‚Externalisierung‘ der Verwundung bzw. der

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Gagliardi (1975: 88, ad loc.) beurteilt die Passage ore quis … moriens anima als „überwältigendes Beispiel einer Hypallage“ („altro clamoroso esempio d’ ipallage“). „Aber Idomeneus Erymas traf am Mund mit dem harten | Erz, und es bohrte sich durch und fuhr die eherne Lanze | Unter dem Hirne hervor; den weißlichen Schädel zerspaltend, | Schlug sie die Zähne heraus, und beide Augen erfüllte | Strömendes Blut; er spie aus offenem Mund und den Nüstern | Röchelnd hervor, dann umfing ihn die düstere Wolke des Todes“ (Übers. Rupé).

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Bewegungsrichtung von innen nach außen. Die Entgrenzung der Gewalt, die mit den Mitteln der Raffung, Hypallage und Illusionsbrechung einhergeht, vollzieht sich demnach in ihrer räumlichen Dimension als wörtlich zu nehmender ‚Exzess‘, nämlich in der Überwindung der Körpergrenze. Dies wird umso stärker ins Bewusstsein gehoben, zieht man die kontrafaktische Verarbeitung homerischer Gewaltdarstellungen in Betracht. (b) Szene 4 (622b) weicht durch ihre bemerkenswerte Kürze von den übrigen Schilderungen ab. Sie umfasst lediglich einen halben Vers bzw. zweieinhalb Versfüße. Vor allem im Anschluss an die vorigen Passagen, die von Pointenverkehrungen deutlich geprägt sind und dem Leser ‚exzessive‘ Verwundungen vor Augen führen, kommt hier das antithetische Ordnungsprinzip klar zum Ausdruck. Weder Körper noch Körperteile werden genannt, keine Wunde näher beschrieben (V[a]), stattdessen der Moment der Gewalthandlung. Lediglich der Stoß (ictu) lässt Rückschlüsse auf eine Gewalthandlung zu.26 Die narrative Repräsentation weist eine sehr geringe Anschaulichkeit auf. Der Ausdruck corruere, der ein Fallen im Kampf bezeichnet, findet auch bei anderen Epikern häufig Gebrauch.27 Es ist bemerkenswert, dass gerade aufgrund ihres ‚herkömmlichen‘, beiläufigen Charakters die Szene ins Auge fällt. Damit ist die Szene den vorigen diametral entgegengesetzt. Szene 5 (623a) ist vor dieser Kontrastfolie in den Blick zu nehmen. Wie in den ersten drei Szenen wird die explizite Gewalttat elliptisch ausgespart. Der Leser muss den Akt der Amputation beider Arme (membra) realisieren. Der Fokus des Erzählers liegt auf dem Motiv des Fallens. Das Zusammensinken des anonymen Soldaten in Szene 4 wird kontrafaktisch aufgegriffen. Denn während der patiens stehenbleibt, fallen nur seine Arme zu Boden. Die Antithese wird durch den expliziten Verweis auf das Stehenbleiben (steterit) noch stärker ins Bewusstsein des Lesers gehoben. Unterstützt wird dies durch die syntaktische Struktur: Das radikale Hauptereignis, das Herabfallen der amputierten Arme, erweckt aufgrund der syntaktischen Unterordnung (dum membra cadunt) den Eindruck einer vermeintlichen Hintergrundhandlung. Diese Verschiebung des narrativ-sprachlichen Fokus, die Abweichung von Form und Inhalt, geht mit einer deutlichen Irritation des Lesers einher.28

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Shackleton-Bailey entscheidet sich in seiner Edition für die Lesart ictus. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich hierbei jedoch an Housmans Variante ictu. Vgl. ThLL, s.v. ‚corruo‘, 4.0.1061.37–39. Vgl. Gagliardi (1975: 88, ad loc.): „[…] oltre il grotttesco, vibra un palpito di vera commozione, per non dire di tragedia, nella visione di chi rimane in piedi mentre le membra gli cadono, non avvendosi di morire.“

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(c) Das Motiv der Durchbohrung markiert insbesondere die Szenen 6 (623b– 624a) und 7 (624b). Im Gegensatz zur vorigen Passage ist der Moment der physischen Durchdringung explizit genannt. Der Prozess der Verwundung (V[d]) ist in Szene 6 zusätzlich durch den Gebrauch der Hypallage hervorgehoben. So beschreibt der Erzähler, dass der patiens die Geschosse (tela, 623) durch seine Brust (pectora, 623) ‚hindurchdringen‘ lässt (transmittant, 624).29 Bartsch führt die Szene als Beispiel an, um zu erläutern, dass im Zuge einer für das Bellum Civile typischen ‚Subjekt-Objekt-Inversion‘ die patientes aktiv ihre eigene physische Zerstörung vorantreiben: […] while men on the receiving end of spear or swords will paradoxically take on the agency of the weapons, and ‘run through’ the weapons or ‘propel’ them through their own bodies ([…] ‘pectore tela transmittant’, 7.623–624).30 Insgesamt lassen beide Szenen die Seeschlacht vor Massilia (Lucan. 3.566–762) anklingen, wo das Motiv der Durchbohrung und des Festnagelns des Körpers an Schiffe stark präsent ist.31 Dass es sich diesmal um eine ‚echte‘ Landschlacht handelt, zeigt sich an der expliziten Nennung von campis (624). (d) Szene 8 (625–626a) markiert den Übergang der additiven Massenkampfszene zum Abschnitt des Verwandtenmordes. Ihre Funktion als narrative ‚Gelenkstelle‘ wird einerseits durch die Andeutung aller drei bisherigen Verwundungsmotive akzentuiert – Durchbohrung, Externalisierung der Wunde und Fallen –, andererseits durch die narrative Funktionalisierung des Blutstrahls. Zu den Verwundungsmotiven: Der Moment der Verwundung ist nicht explizit genannt. Dennoch wird der Leser über die unmittelbare Folge des Gewaltaktes informiert: Das Blut (cruor, 625) schießt in einem Strahl durch die Luft (perruperit aera, 625) und trifft die Rüstung des Feindes (inque hostis cadat arma, 626). Das Motiv der Durchbohrung zeigt sich nicht im Durchstoßen irgendeines Körpers durch eine Waffe, sondern darin, dass das herausspritzende Blut die Luft ‚durchbricht‘. Der Aktionsraum wird insbesondere durch das mit per- präfigierte Verb perruperit hervorgehoben, sodass die räumliche

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Vgl. Dilke 2001: 147. Bartsch 1997: 27. Zu den Versen 623–624 (pectora tela | transmittant) vgl. etwa Lucan. 3.661: deiectum in pelagus perfosso pectore corpus | vulneribus transmisit aquas. Bereits weiter oben besprochen wurden die Partien, in denen Gyareus bei seinem Versuch, ein Schiff zu erklimmen, festgeheftet wurde (Lucan. 3.599–602) und Lycidas, den eine eiserne Greifhand erfasste (Lucan. 3.633b–646, bes. 636: affixit Lycidan).

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Durchdringung verbunden mit einer hohen Bewegungsdynamik klar zum Ausdruck kommt.32 Die Bewegungsrichtung von innen nach außen wird durch die Hypallage emissis venis (625) markant in Szene gesetzt. Zur inneren Logik der Darstellung bemerkt Dilke: „What is let out is not the veins but the blood.“33 Der hypallegische Ausdruck fordert den Leser heraus, den Prozess der Externalisierung zu realisieren und sich damit aktiv auseinanderzusetzen, wodurch dieses Motiv eindrücklich in dessen Bewusstsein gehoben wird. Das Motiv des Fallens äußert sich im Auftreffen des Blutstrahls auf der feindlichen Rüstung. Durch Wortwiederholung rekurriert das Prädikat cadat (626) auf die vom Körper herabfallenden Glieder in Szene 5 (membra cadunt, 623). Zusätzlich zur Zusammenführung der drei Verwundungsmotive weist das sich auf die Rüstung des Feindes ergießende Blut eine narrative Funktionalisierung auf, die in engem Zusammenhang mit der Gewaltanalyse durch das Modell der Gewaltaktanten steht. Denn cruor dient ganz ‚augenfällig‘ der Leserlenkung: Der Blick des Rezipienten ‚begleitet‘ den die Luft durchdringenden Blutstrahl und bleibt mit ihm zusammen an der Rüstung des hostis haften. Das Sichtfeld ist nun nicht mehr lediglich auf den patiens (GA2) beschränkt, sondern weitet sich auf weitere Instanzen – zunächst auf die agentes (GA1) und später die Zeugen (spectantibus, 629) als participes (GA33c) der narrativen Gewalt. Die Entgrenzung der Gewalt ist damit auch auf Ebene der Gewaltaktanten deutlich erkennbar (s.o.). (2) Mit der Ausweitung des Sichtfeldes auf die agentes folgt die Schilderung des (a) Bruder- und (b) Vatermordes (626b–630a). Aus ästhetischer Perspektive ist sie weniger antithetisch geprägt als vielmehr von einer mehrere Aspekte umfassenden Steigerung, die bereits in Rutz’ Untersuchung zwar Erwähnung findet, dort jedoch nicht genauer ausgeführt wird: […] Diese beiden sich entsprechenden Stücke umrahmen den Mittelteil, der in der Form der praeteritio die mannigfachen Todesarten beschreibt und dabei in der Steigerung bis zum ruchlosen, abgefeimten Verwandtenmord […] noch einmal den Widersinn, das Verbrechen dieser Schlacht hyperbolisch darstellt, noch einmal das Grauen des leichenbedeckten Schlachtfeldes lebendig werden lässt.34

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Bei den individuellen Sterbeszenen ist grundsätzlich eine hohe Bewegungsdynamik erkennbar, die sich hauptsächlich aus richtungsanzeigenden Präfixen und Präpositionen ableitet: exierit (620), adverso, demissum (621), expulerit (622) transmittant (624), affixerit (624) emissis, perruperit (625), inque arma (626). Dilke 2001: 147, ad loc; vgl. Gagliardi 1975: 88, ad loc. Rutz 1950: 85; s. auch Esposito 1987a: 49; vgl. Anm. 12 auf S. 309.

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Der Grad der Anonymität wird zumindest dadurch ansatzweise verringert, dass dem Leser bestehende Verwandtschaftsverhältnisse vor Augen geführt werden. Die narrative Gewalt steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den sozialen Beziehungen der am Kampf Beteiligten, womit nun auch moralischemotionale Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. (a) Die Szene des Brudermordes (626b–628a) präsentiert zum ersten Mal innerhalb der Verse 617–631 eine zielgerichtete Gewalttat (GT[z]) eines agens (GA1). Der tödliche Treffer der Brust (pectora fratris | caedat, 626–627) weist auf einen offenen Zweikampf hin, in dem sich beide Kämpfer gegenüberstehen. Markiert eine Verwundung der Brust in ‚herkömmlichen‘ Schlachten gegen auswärtige Gegner eine ehren- und tugendhafte Kampfhaltung, so wird diese im Kontext des Bürger- bzw. Verwandtenkrieges in ihr Gegenteil verkehrt. Zudem markiert pectus bisweilen den Sitz der virtus.35 Es ist denkbar, dass die moralische Verurteilung des Brudermordes und damit die Abkehr von bestehenden römisch-republikanischen Werten durch die lexikalische Tiefe von pectus zusätzlich unterstrichen werden. Der Mord erhält noch eine weitere bemerkenswerte Steigerung, indem der agens schließlich den abgetrennten Kopf des Leichnams weit von sich schleudert: abscisum longe mittat caput (628). Das Partizip abscisum beschreibt eine bereits abgeschlossene Handlung, der Akt der Enthauptung selbst wird in der Darstellung elliptisch ausgelassen.36 So wird der Fokus der narrativen Vermittlung auf den Wurf des Hauptes gelenkt. Ein Blick auf den Aktionsraum erweist sich für das interpretatorische Interesse als besonders nützlich. Denn in der räumlichen Distanz (longe) lässt sich ein Akt der Verdrängung erkennen. Damit der agens überhaupt den Leichnam seines Bruders plündern kann (ut notum possit spoliare cadaver, 627), bedarf es dieser radikalen, die Gewalt weiter entgrenzenden Tat.37 Der Finalsatz bietet im Gegensatz zu den vorigen Szenen des

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Vgl. ThLL, s.v. ‚pectus‘, 10.1.915.19–27; s. auch Lucan. 10.188: […] sed, cum tanta meo vivat sub pectore virtus […]; Reis (1962: 145–158) verweist zudem auf den altlateinischen Gebrauch von pectus in Verbindung mit Verben für Verletzen und Schmerzen, womit seelischer Schmerz zum Ausdruck gebracht werden kann (bes. 153). Dagegen sieht Gagliardi (1975: 89, ad loc.) gerade in der Wahl der pluralischen Form einen Hinweis auf den körperlichen Aspekt von pectora. Vgl. Gagliardi (1975: 89, ad loc.): „Abscisum, che riprende significativamente il caedat del verso precendente, è participio congiunto, ‚abbia tagliato il capo e lo getti lontano‘.“ Aus psychologischer Sicht ließe sich die Gewalttat am bereits toten Leib auch als ‚overkill‘ bezeichnen, zumal eine enge emotionale Beziehung der beiden Brüder durchaus plausibel wäre; vgl. Fratantuono (2012: 309, Anm. 55): „In other words, it would be unacceptable to steal from a brother’s corpse, and so the revealing head must be thrown far off from

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Massenkampfes die Innenperspektive eines Gewaltaktanten (IP1). Es scheint, als müsse der agens seinen Bruder erst der Identität berauben, um sich überwinden zu können. Der Aktionsraum korrespondiert demnach mit der emotionalen Befindlichkeit des agens. Der Akt der Identitätsberaubung zeugt zudem vom klaren Unrechtsbewusstseins- und Schamgefühl der Kämpfenden, die sich leidlich abmühen, die Ruchlosigkeit ihrer Untaten zu schmälern.38 Ähnlich wie die Wunde in der Brust unterliegt die eigentlich ehrenhafte Aneignung der Feindesrüstung, des Spolium, einer Pervertierung durch die Umstände des Bürgerkriegs.39 (b) Beim Vatermord (628b–630a) kommt der Erzähler auf zwei unterschiedliche zielgerichtete Gewalttaten (GT[z]) des agens zu sprechen. Zunächst verstümmelt er das Gesicht seines Vaters (ora parentis | quis laceret, 628–629), daraufhin schneidet er ihm die Kehle durch (quem iugulat, 630). Die Entstellung des Gesichtes rekurriert auf die postmortale Enthauptung der vorigen Szene (628a). Wie beim Brudermord ist die Auslöschung der Identität ein zentrales Anliegen.40 Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, dass der agens die Verstümmelung nicht am Leichnam, sondern am lebendigen Leib vornimmt. Der Identitätsraub erfolgt also noch vor dem Tod. Das erhöhte Maß an Gewaltbereitschaft und Grausamkeit, das in der Erzählerwertung nimia ira (629) zum Ausdruck kommt, dient der Verschleierung der bestehenden Verwandtschaft

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the trunk; Lucan’s overall point is that there was still some vestige of pietas, however the vestige was being perverted to serve Fury.“ Gagliardi (1975: 89, ad loc.) verweist auf die metrische Unterstützung des verbrecherischen Geschehens: „[…] il ritmo grave degli spondei nel primo hemiepes accompagna lentamente le fasi della scelleraggine consumata.“ Zur allgemeinen Umkehrung römischer Werte im Bellum Civile s. Henderson (2010: 468): „Lucan’s text does trace a subversion of the system of values, linguistic, literary, ideological, and cultural, which are fixed in place, asserted, and paraded by the epic tradition […]“; Gorman (2001: 271) sieht im Kontext der verbrecherischen Maßnahmen des agens eine metapoetische Reflexion. Ebenso wie der Kämpfer den Kopf vom Körper seines Bruders abtrennen muss, bestehe für Lucan die Notwendigkeit, in der gesamten Partie auf die Nennung von Namen zu verzichten: „In order to fit the crimina of a civil war into an epic framework, Lucan must parallel the actions of his soldiers and efface the names of the opponents. Like the soldier who cuts off the head of his brother so that he can perform the epic act of robbing the body of its armor, Lucan removes the identifying features from his players. Just as the soldier must remove the evidence of his fratricide before he can proceed, Lucan must remove the individual identities so that he can narrate the civil war without being crushed under the horrifying pollution and sorrow of the individual accusations.“ Damit folgt der agens zugleich dem Befehl Caesars (Lucan. 7.322): vultus gladio turbate verendos.

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zwischen Vater und Sohn. Sie übernimmt die Funktion einer kommunikativen Geste. Die umherstehenden Zeugen (spectantibus, 629) sollen anhand der maßlosen Brutalität davon überzeugt werden, dass es sich gerade nicht um den Vater des agens handelt. Der vom Erzähler enttarnte Versuch (nimia), sich dem Vorwurf des verbrecherischen parricidium zu entziehen, kann erneut als ein Beleg für die Scham und das Unrechtsbewusstsein des Handelnden angeführt werden.41 In diesem moralisierenden Kontext ist die Ausweitung der Perspektive auf die participes (GA33c) von zentraler Bedeutung. Denn die indirekte Partizipation der Zuschauer (GP[ind]) besteht darin, dass sie als ‚Öffentlichkeit‘ die moralische Instanz bilden, vor der der agens seine integre Außenwirkung aufrechterhalten will. Esposito kommt auf den Aspekt in der Öffentlichkeit zu sprechen und identifiziert ihn als Schlüssel der gesamten Szene. Das Verhalten des agens, der seinen Vater tötet, sei in dramatischer Form als ‚Darstellung in der Darstellung‘ zu deuten. Aus dieser Dynamik resultiert paradoxerweise eine völlige Entgrenzung der Gewalt:42 Tutto il brano è finalizzato alla rappresentazione visiva ed è un succedersi di immagini di lunghezza variabile, introdotte ognuna da un pronome (cuius, quis, quis, ecc.), e culminanti in quelle finali, in cui un figlio sfigura il volto del padre per impedire che quanti vedono (spectantibus) possano credere che la furia omicida che lo anima si eserciti su qualcuno che non sia un avversario comune e anonimo. Questa parte finale offre la chiave di lettura dell’intero brano, che sembra strutturato come una specie di rappresentazione nella rappresentazione, ossia una riproposta al pubblico di una serie di scene di cui l’autore, l’io narrante, si finge spettatore, secondo un procedimento tipico della descrizione drammatica.43 Im Hinblick auf den Körper und dessen Verwundung lassen sich die Ergebnisse zu Exzess und Steigerung folgendermaßen zusammenfassen: In der additiven Massenkampfszene zeigen sich exzessive Schilderungen zunächst wortwörtlich in der Überwindung von Körpergrenzen. Die Gewaltdarstellungen beziehen ihre eindringliche Wirkung insbesondere aus der Auseinandersetzung mit Homerischen Schlacht- und Kampfschilderungen, die in Lucans Text kontra-

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Zur Übersetzung von probet vgl. Dilke (2001: 147, ad loc.): “ ‘Tried to prove’, not ‘proved’ ”. Estèves (2010: 203): „La décapitation apparaît ainsi comme un geste emblématique des horreurs perpétrées durant la guerre civile – un excès (nimia) de ressentiment pouvant même pousser l’agresseur à défigurer sa victime (laceret).“ Esposito 1987a: 48; vgl. Anm. 12 auf S. 309.

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faktisch aufgegriffen und verarbeitet werden. Doch auch in intratextueller Hinsicht rekurrieren die individuellen Sterbeszenen des Massenkampfes aufeinander, wobei Kontrafaktur, Hypallage und Antithese als konstitutive Merkmale des voranschreitenden Exzesses im Vordergrund stehen. Szene 8 bildet zum einen den Übergang zum Verwandtenmord, und zum anderen den vorläufigen Höhepunkt der bisherigen Darstellung, da in ihr alle drei Verwundungsmotive der vorhergehenden Einzelszenen zusammengeführt sind – ‚Externalisierung‘, Amputation und Durchbohrung. Zudem nimmt der Erzähler von nun an nicht nur den patiens, sondern auch den agens in den Blick. Zentrales ‚exzessives‘ Element ist hierbei der durch die Luft schießende Blutstrahl, jedoch weniger angesichts der dargestellten Brutalität als vielmehr seiner narrativen Funktion der Leserlenkung. Aus erzähltechnischer Perspektive ist cruor also von zentraler Bedeutung. Der Bruder- (626b–628a) und der Vatermord (628b–630a) weisen nicht nur einen jeweils höheren Textumfang auf als die individuellen Sterbeszenen des Massenkampfes, sondern auch eine höhere Komplexität aufgrund erstens: der Einbeziehung von participes (GA33c), und zweitens: der Benennung verwandtschaftlich-sozialer Beziehungen. Zur ästhetischen Dimension tritt nun also eine moralisch-emotionale. Im Bewusstsein um die Perfidität, die mit dem parricidium einhergeht, wird die Ermordung durch Verstümmelung und Identitätsberaubung nochmals gesteigert, zuerst am toten, später sogar am lebendigen Leibe. 6.4.3 Erzählung des Exzesses vs. Exzess der Erzählung Im Folgenden soll der Exzess als zentrales Merkmal der Erzählung herausgearbeitet werden. Dies geschieht in direkter Anknüpfung an bisherige Forschungsergebnisse (s.o. Abschnitt 6.3) sowie insbesondere mit Blick auf die Rahmenkomposition der Partie und den spezifischen Gebrauch der Praeteritio durch den Erzähler. Das methodische Vorgehen lässt sich unter vier Aspekte fassen. (1) Zu Beginn wird der exzessive Charakter in rhetorischer Hinsicht näher beleuchtet. Die formale Ausweitung der Praeteritio durch Percursio und Evidentia dient dabei als Basis für die weitere Analyse. (2) Daraufhin soll gezeigt werden, dass der Übersteigerungsgestus des plus quam auch in der gegenläufigen Tendenz der narrativen Reduktion, genauer: durch Einsatz von Raffung und Ellipse zum Ausdruck kommt. In der Auseinandersetzung mit den ‚unfassbaren‘ Ausmaßen der Pharsalus-Schlacht offenbart sich zugleich das Spannungsfeld zwischen Unendlichkeit der fabula und Endlichkeit der story. (3) Anschließend beschreibt die Dramatisierung des Massenkampfes ein weiteres Moment der Entgrenzung. Mit dem quasi-metaleptischen Eintritt des Erzählers in die fabula korrespondiert eine Verwischung von Epos und Tragödie. (4) Zuletzt soll gezeigt werden, in welcher Relation die Eskalation der Gewalt zur

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Eskalation der Erzählung steht. Fabula und story gehen in der Schilderung der Pharsalus-Schlacht erneut ein Entsprechungsverhältnis ein. Insbesondere die Empfindung von Scham ist dabei von zentraler Bedeutung. (1) Die meisten Interpreten, die sich mit der zu untersuchenden Partie befassen, heben zu Recht die Praeteritio des Erzählers hervor.44 Allerdings lässt sich der Verweis auf dessen Weigerung, einzelne Todesarten zu schildern, um diese letztendlich dann doch auszumalen, präziser erfassen als mit dem Terminus der Praeteritio. Gibson etwa bringt diesbezüglich eine gewisse Skepsis zum Ausdruck, indem er von einer „Art der Praeteritio“ redet: However, by a kind of praeteritio, Lucan is also declining to describe the kinds of death which can be found in epic poetry, whilst at the same time giving examples of such slayings.45 Wirft man einen Blick in Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik, zeigt sich, dass in der vorliegenden Partie eine Modifikation der Praeteritio vorliegt: Die Kundgabe der Absicht der Auslassung gewisser Dinge schließt die Nennung dieser Dinge ein: worauf verzichtet wird, ist die Detaillierung dieser Dinge. Handelt es sich um mehrere Dinge, so enthält die praeteritio eine Aufzählung, d.h. eine percursio […]. Die eine percursio enthaltende praeteritio wird so Schem.dian.9 als ἐπιτροχασμός bezeichnet […].46 Insbesondere am wiederholten Gebrauch der Interrogativpronomina, die jeweils eine neue Gewaltszene einleiten, lässt sich die Ausweitung der Praeteritio zum ἐπιτροχασμός erkennen: cuius (619), quis (620), quis (621), quis (622), quis, qui (623), quos (624), quis (625), quis (626), quis (629) Das Spannungsverhältnis zwischen Ankündigung zur Auslassung und darauf folgender Nennung dessen, was der Erzähler eigentlich nicht benennen will, erfährt eine zusätzliche Steigerung, wenn die Percursio durch Evidentia ausgebaut wird:

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Vgl. Anm. 2 auf S. 306. Gibson 2008: 92. Lausberg, Heinrich (2008): Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, s.v. ‚praeteritio‘, 436.

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Die evidentia […] ist die lebhaft-detaillierte Schilderung eines rahmenmäßigen Gesamtgegenstandes […] durch Aufzählung (wirklicher oder in der Phantasie erfundener) sinnenfälliger Einzelheiten […].47 Gerade die „lebhaft-detaillierten“ individuellen Sterbeszenen des Massenkampfes sind als einzelne Ereignisse im Kontext eines Gesamtvorganges, d. h. der Rahmung durch das Vor- und Schlussszenenelement X (617–619a) und Y (630b–631), zu betrachten und tragen damit zur Intensivierung der erzählten Gewalt bei.48 (2) Das exzessive Ausmaß der Pharsalus-Schlacht kommt paradoxerweise auch durch die elliptische Darstellung zum Ausdruck. Durch die vermeintliche narrative Reduktion wird die Wirkung der Gewalt auf den Rezipienten keineswegs geschmälert, sondern ganz im Gegenteil: Wie auch Lausberg resümiert, erhöht der Erzähler vielmehr deren Intensität und kann vor allem durch den ironischen […] Gegensatz zwischen der praeteritio-Kundgabe und dem Ausbau der percursio zur evidentia […] die Grausigkeit, über die er noch sehr viel detaillierter berichten könnte, ausdrücken.49 Die Grausamkeit und Brutalität der Gewaltdarstellungen basiert also neben der „Großaufnahme auf die Verwundungen“ auch auf dem, was der Erzähler zwar andeutet, jedoch nicht konkret in Worte fasst.50 Wenn die eindringliche Schärfe der narrativen Gewalt bereits in der vorliegenden gerafften Form so deutlich zum Ausdruck kommt, wäre eine Explikation in aller Ausführlichkeit wohl kaum zu ertragen. Die Entgrenzung der Gewalt in der fabula konstituiert sich somit in der Unbestimmtheit der story.51

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Lausberg, Heinrich (2008): Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, s.v. ‚evidentia‘, 399. Die Differenzierung der vermeintlichen Praeteritio ist im Kontext der vorliegenden Untersuchung also nicht kasuistisch motiviert, sondern dient dazu, den exzessiven Charakter der Partie in rhetorischer Hinsicht präziser zu erfassen. Lausberg, Heinrich (2008): Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, s.v. ‚praeteritio‘, 437 (Hervorhebungen durch den Verfasser). Vgl. Hömke (2012: 82): „Gleichwohl lässt Lucan das Aufgezählte seine abstoßende Wirkung entfalten. Dazu fokussiert er, wie in der Scaeva-Passage, in ‚Großaufnahme‘ auf die Verwundungen statt auf die Kämpfer.“ Hierbei ist erneut auf Lucan. 7.552–556 hinzuweisen, wo der Erzähler die unvorstellbare Ruchlosigkeit und eskalierende Brutalität der Gewalt zwischen Römern durch sein vorsätzliches Verschweigen markiert, s. Anm. 3 auf S. 307.

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Im Schlussszenenelement Y (630b–631) rekurriert der Erzähler schließlich auf die zu Beginn der Partie implizit angekündigte Praeteritio und beendet explizit die Schilderung der Gewaltszenen mit der Begründung, es fehle die Zeit oder der Raum, die Schicksale einzelner Männer zu betrauern: mors nulla querella | digna sua est, nullosque hominum lugere vacamus. Der Abbruch der Darstellung individueller Tode deutet damit die bis dahin ungekannten, geradezu ‚unfassbaren‘ Ausmaße der Pharsalus-Schlacht an, auf die der Erzähler zum einen bereits in V. 618 (mortibus innumeris) hinweist. Zum anderen werden in unmittelbarem Anschluss (V. 632–646) die exorbitanten ‚raumzeitlichen‘ Auswirkungen dem Leser klar vor Augen geführt. Auch wenn der Erzähler entgegen jeglicher epischer Tradition handelt, die darin besteht, von Schlachten, Kämpfen und Toten zu künden, sieht er nun endgültig von einer typisch epischen Schlachterzählung ab – nachdem er zuvor implizit angekündigt hatte, die Schilderung einzelner Tode auszulassen, um diese zur Irritation des Lesers dann doch näher auszuführen. Die ‚narrative Inkonsistenz‘ des Erzählers berührt einen ganz wesentlichen Grundkonflikt narrativer Texte: Sie lässt das Spannungsfeld zwischen Unendlichkeit der fabula und Endlichkeit der story sichtbar werden. „Erzählen“, so Albrecht Koschorke, ist eine hochgradig selektive Tätigkeit. Es hebt wenige Einzelzüge als signifikant aus einer Masse von Daten heraus. Wie diese Selektion im Einzelnen vor sich geht, hängt unter anderem von den Erfordernissen des jeweiligen Plots ab.52 Anhand der impliziten Praeteritio in Abschnitt X (pudet … quaerere), die anschließend mittels Percursio und Evidentia weiter ausgebaut wird, und der expliziten Ankündigung der Auslassung in Y (nullosque hominum lugere vacamus), die im Rückgriff auf erstere die Gewaltdarstellungen des Massenkampfes und Verwandtenmordes umrahmt, kann der konfliktreiche Prozess der ‚narrativen Selektion‘ anschaulich rekonstruiert werden.53 Es ist bezeichnend für 52

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Koschorke 2013: 29; vgl. Carr (2001: 148): „[…] in a good story all the extraneous noise is cut out. That is, we the audience are told by the story-teller just what is necessary to ‘further the plot’. A selection is made of all events and actions the characters may engage in, and only a small minority finds its way into the story. In life, by contrast, everything is left in; all the static is there“; vgl. Reitz (2013, im Druck): „Der Dichter muss immer wieder den Konflikt zwischen vollständigem Erzählen, von Anfang bis Ende, und individueller Auswahl des Stoffes thematisieren und bewältigen.“ Auch für Ambühls (2015: 242) intertextuelle Analyse sind speziell die Äußerungen des Erzählers interessant, „die quasi von einer theoretischen Warte aus den Erzählprozess kommentieren. Dies sind insbesondere die Sphragis in den Versen 7.205–213 […], sowie

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Lucans Text, dass diese illusionsdurchbrechende narrative Inkonsistenz im Spiegel eskalierender Gewalt metanarrativ ausgehandelt wird. (3) Zur ‚Exzesshaftigkeit‘ der Darstellung trägt die Dramatisierung des Massenkampfes weiter bei. Der quasi-metaleptische Eintritt des Erzählers in die fiktive Erzählwelt geht mit einer ‚Verunschärfung‘ der literarischen Grenze zwischen Epos und Drama bzw. Tragödie einher. Wie im Abschnitt zur Forschungsgeschichte erläutert (s. Abschnitt 6.3, Punkt 3), bemerken bereits Esposito und Ambühl dieses Phänomen. Während Esposito den Schwerpunkt stärker auf die Zuschauerrolle (spettatore) des Erzählers legt, akzentuiert Ambühl eher die Annäherung des epischen Erzählers zum tragischen Boten.54 Im Folgenden soll zunächst (a) auf den tragischen Klagecharakter des Massenkampfes eingegangen werden und anschließend (b) auf die subjektiv geprägte Perspektivierung der Szene durch den Erzähler in seiner Rolle als Zuschauer. (a) Durch die Ankündigung der Praeteritio bringt der Erzähler seine Trauer indirekt zum Ausdruck. Der Klagecharakter lässt sich nicht nur anhand der Rahmenabschnitte X und Y belegen (impendisse pudet lacrimas, 617; querella, 630; lugere, 631) sondern auch am Stil der additiven Massenkampfszene. Sie weist klare stilistische Schnittmengen mit der Klage der griechischen Tragödie auf:55 zum einen die durch Antithese geprägte Struktur, wie der Blick auf die Verwundungen der Körper deutlich macht (s. o. Abschnitt 6.4.2), zum anderen wird dem kontrastiven Charakter der Partie sowohl durch asyndetischen Satzbau als auch durch Wortwiederholung und Polyptoton des Interrogativpronomens quis ein schärferes Profil verliehen. Zum Vergleich kann hierzu etwa Margaret Alexious Untersuchung von Aischylos’ Sieben gegen Theben herangezogen werden: Antithetical style is a fundamental and integral part of the structure and thought of the lament, though by no means exclusive to it. Hinsichtlich der Perser konstatiert sie:

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die Passagen, in denen er die Unmöglichkeit seines eigenen Erzählens zum Thema macht.“ Dabei hebt sie auf die Annäherung des Lucanischen Erzählers an die Berichterstattung durch den tragischen Boten ab. Mit Blick auf Silius Italicus (Pun. 12.387–392) zeigt Reitz (2013, im Druck) zudem, wie der Dichter die in der Erzählung genannten caedes und horrida facta „in den Bereich des Nicht-Erzählbaren“ rückt. Vgl. Anm. 12 u. 13. Auch ein Vergleich mit dem Genre des Threnos liegt nahe, erweist sich jedoch aufgrund der mangelhaften Überlieferungslage als schwierig, vgl. Swift 2010: 298–366; allgemein zum Klage in der griechischen Literatur s. etwa Alexiou 1974; Loraux 1981; Holst-Warhaft 1991; Foley 1993; McClure 1999; Foley 2001; Suter 2008; Derderian 2010.

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[…] the rhythm is further intensified by the use of parallelism and asyndeton […]. A similar effect is achieved by the repetition of an emotive word in different cases, […].56 Die Beobachtungen zur tragischen Untermalung der Gewaltdarstellung stehen in einer Linie mit Ambühls Ergebnissen. Die Klagen im Bellum Civile scheinen ihr sogar noch „viel hilfloser“ als der weinende Bote in Euripides’ Phoinissen.57 Auch die Unentschlossenheit zwischen „Verschweigenwollen und Erzählenmüssen“, die dem tragischen Boten (am Beispiel der Perser, 253–295) anhaftet, spiegelt sich in Lucans Erzähler wider: Das Dilemma zwischen Verschweigenwollen und Erzählenmüssen, das im Drama als Dialog zwischen dem Boten und seinen internen Adressaten, dem Chor und der Königin, inszeniert wird, ist im Bellum civile zu einem inneren Konflikt des Erzählers transformiert, den er mittels Interjektionen und Selbstapostrophen dramatisiert; im Unterschied zur Tragödie richtet Lucans Erzähler seinen ‚Botenbericht‘ ohne den Umweg über interne Adressaten ja direkt an die externen Rezipienten.58 (b) Die subjektiv geprägte Perspektivierung ist, im Rückgriff auf Espositos Ansatz, auf den visuellen Charakter der Gewaltdarstellungen zurückzuführen. In Ergänzung zu dieser Beobachtung lässt sich die Dramatisierung insbesondere anhand der narrativen Repräsentation der Zeit und Fokalisierung sichtbar machen. Im Kontext der Ausweitung der Praeteritio durch Evidentia erfüllt der Aspekt der Zeit eine zentrale Funktion. Denn konstitutives Merkmal der Evidentia ist, so Lausberg, „das Gleichzeitigkeitserlebnis des Augenzeugen“: […] es handelt sich um die Beschreibung eines wenn auch in den Einzelheiten bewegten, so doch durch den Rahmen einer (mehr oder minder lockerbaren) Gleichzeitigkeit zusammengehaltenen Bildes. Die den statischen Charakter des Gesamtgegenstandes bedingende Gleichzeitigkeit

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Alexiou 1974: 150–151. Ambühl (2015: 251–252): „Die Klagen und Tränen des Boten und seiner internen Adressaten, Kreons und des Chors (1335–1355, 1425), finden ein Echo in den Klagen und Tränen von Lucans Erzähler, der sich angesichts des Ausmaßes der zu beschreibenden Katastrophe noch viel hilfloser zeigt (BC 7.617f., 630f.)“; s. auch 254: „In seinen emotionalen Klagen und Tränen (7.555: lacrimae, querellae; 617: lacrimas; 630f..: querella, lugere) gleicht er dabei auch dem Chor der Perser (vgl. Aischyl. Pers. 256–259, 280–283 und die Chorlieder).“ Ambühl 2015: 253–254, hier 254.

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der Einzelheiten ist das Gleichzeitigkeitserlebnis des Augenzeugen: der Redner versetzt sich und sein Publikum in die Lage des Augenzeugen.59 Die Vermittlung von Gleichzeitigkeit lässt sich ebenso in Lucans Text belegen. Die additive Massenkampfszene (619b–626a) weist ein bemerkenswert hohes Tempo auf, keine individuelle Sterbeszene umfasst mehr als eineinhalb Verse. Anhand der häufig zu beobachtenden Ellipse expliziter Verwundungen (s.o. Abschnitt 6.4.2) ergeben sich fragmentarische Snapshots einzelner Todesschicksale – als ob der Erzähler als Augenzeuge des hitzigen Schlachtgetümmels seinen Blick hektisch von einer grausigen Szene auf die nächste richtet. Es scheint, dass in der fabula die Geschwindigkeit der Verwundungen so erhöht ist, dass der Zuschauer diese in seiner subjektiven Sichtweise nur unvollständig erfassen und erzählend wiedergeben kann. Die Überforderung spiegelt sich zudem im variablen Tempusgebrauch wider: exierit (620) – calcet (620) – expulerit (622) – corruat (622) – steterit (623) – transmittant (624) – affixerit (624) – perruperit (625) – cadat (626) Konjunktiv Präsens und Perfekt stehen bis V. 626 konsequent im Wechsel, während im Abschnitt des Verwandtenmordes überwiegend das Präsens gebraucht wird. Die Einordnung in den objektiven Verlauf der Zeit durch präzise Wiedergabe von Vor- und Gleichzeitigkeit scheint in dieser Situation für den Erzähler unmöglich, die Zeitstruktur seines Bewusstseins zerrüttet. Angesichts der in der vorliegenden Arbeit analysierten Gewaltdarstellungen ist es besonders bemerkenswert, dass hier zum ersten Mal nicht der patiens, sondern der particeps (GA33c) von Gewaltzeit affiziert ist. Nicht „das Leiden hat seine eigene Zeit“, sondern das Zuschauen. „Das Widerfahrnis“, so Sofsky bezüglich der phänomenologischen Wirkung von Gewaltzeit, „schlägt durch auf die Zeitstruktur des Bewusstseins, auf das Verhältnis von Erinnerung, Wahrnehmung und Erwartung, von Retention und Perzeption.“60 Anhand der Fokalisierung lässt sich die subjektive Wahrnehmung der Schlacht durch den erzählenden Zuschauer erfassen. Die Verse 619–626a weisen einen bemerkenswerten Fokalisierungswechsel auf, der diese Beobachtungen zusätzlich untermauert. Während in X (617–619a) und Y (630b–631) der Erzähler eindeutig als auktoriale Instanz auftritt und damit ‚gottähnlich‘,

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Lausberg 2008: 400. Sofsky 1997: 104.

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allwissend und reflektierend auf den Untergang der Welt blickt (Nullfokalisierung), lassen die individuellen Sterbeszenen tendenziell eine interne Fokalisierung erkennen. Der Erzähler zeigt Züge eines „unpersönlichen und flottierenden Zeugen des Geschehens“.61 Weder allwissend noch mit Zugang zur Wissens- und Gefühlswelt der patientes teilt der erzählende Zuschauer, der mitten im unübersichtlichen Gemetzel zu stehen scheint, dem Leser die schockierenden Ereignisse mit, die sich innerhalb von Sekundenbruchteilen vor seinen Augen abspielen. Die Gewaltdarstellungen sind auf ihre visuelle Wahrnehmung von außen beschränkt. Darin liegt der stark ästhetische Charakter der Massenkampfszene begründet. In Anbetracht der wirkungsmächtigen Bilder der Gewalt bleibt – im Gegensatz zu den Abschnitten X und Y – keine Zeit für reflektierende Gedanken über Trauer, Moral und Schamgefühl.62 Nach Bohrer lassen sich die individuellen Gewaltdarstellungen als ein „In-ErscheinungTreten von etwas Wirkungsmächtigem“ deuten, „das ästhetische Aneignung bewirkt statt inhaltliche Affirmation“.63 (4) Die Doppelgestalt Erzählung des Exzesses – Exzess der Erzählung lässt sich schließlich am Entsprechungsverhältnis von fabula und story erläutern. In dieser Perspektive steht vor allem das Motiv der Scham im Zentrum. Bereits die ersten drei Worte impendisse pudet lacrimas (617) prägen die nachfolgenden Verse atmosphärisch vor und färben die gesamte Partie im Licht der Scham, Trauer und inneren Zerrissenheit. Umso eindringlicher ist die Wirkung, als sie in V. 630b–631 wieder aufgegriffen und damit die geschilderten Gewaltszenen in einen atmosphärischen Rahmen gespannt werden. Digna (631) kann dabei als ‚Responsionswort‘ zu pudet (617) angesehen werden. Zudem ist der Fokus auf die Scham auch auf syntaktischer Ebene abgebildet. Pudet ist Prädikat des Hauptsatzes. Diesem ist ein hypotaktisches Gefüge untergeordnet, welches die Massenkampfszene sowie den Verwandtenmord schildert. Auch Ambühl hebt

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Genette 2010: 123. Die Schilderung des Verwandtenmordes (626b–630a) ist als fließender Übergang von interner Fokalisierung zu Nullfokalisierung anzusehen. So lässt sich eine Alteration der internen Fokalisierung durch paraleptischen „Informationsüberschuss“ (Genette 2010: 126) deutlich beobachten. Der Erzähler streift seine Rolle als in seiner Sicht eingeschränkter Zuschauer des Geschehens ab und zeigt dem Leser Verwandtschaftsverhältnisse auf, hat Einblick auf die Innenperspektive des Brudermörders (ut notum possit spoliare cadaver, 627) und des Sohnes, der bei der Verstümmelung des Vaters auf seine Außenwirkung auf die Zuschauer (spectantibus, 629) bedacht ist. Die Wertung nimia ira (629) ist als weiterer Hinweis auf Nullfokalisierung durch den stärker auktorialen Erzähler anzusehen. Sie berücksichtigt die Perspektive der Zuschauer und führt dem Leser die Vergeblichkeit des Versuchs vor Augen (s. Anm. 41 auf S. 323). Bohrer 1998a: 291.

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die Scham als konstitutives Merkmal des Textes hervor. Im Zuge des Vergleichs mit Euripides’ Phoinissen bemerkt sie: […] In seiner eigenen ‚praeteritio‘ macht Lucans Erzähler dagegen nicht solche technischen Schwierigkeiten einer Schlachtbeschreibung geltend, sondern er wendet die Figur ins Moralische: Er schäme sich, angesichts des Weltbegräbnisses nach Einzelschicksalen zu fragen […].64 Trotz moralischer Bedenken und Skrupel hebt der Erzähler dennoch individuelle Sterbeszenen in den Vordergrund, die im Stile eines in der Summe ausgedehnten Gewaltkatalogs eine hochgradige Ästhetisierung erkennen lassen – umso bemerkenswerter angesichts der empfundenen Scham. Bereits aus rein quantitativer Sicht lenkt er die Aufmerksamkeit deutlich auf die Einzelschicksale. Sie umfassen genau zwei Drittel der erzählten Passage: dies äußert sich im Verhältnis von zwölf Versen (619b–630a) gegenüber insgesamt vier Versen des Vor- und Schlussszenenelements (617–619a und 630b–631). Im Hinblick auf die offenkundige Illustration und Ästhetisierung der Einzelszenen kann somit keineswegs vom „Fortfallen alles Singulären“ die Rede sein, wie Rutz meint.65 Dem Rezipienten zeigt sich eine eklatante Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und narrativer Repräsentation der Schlacht. Gleichzeitig offenbart sich in der narrativen Inkonsistenz der innere Konflikt des Erzählers, eine Pendelbewegung zwischen Moral und Ästhetik, Auslassung und Ausführung, Untergang der Welt und Untergang des Einzelnen. Den dichotomischen Charakter der Partie deutet Anzinger als Ausdruck für das enorme Ausmaß der Bürgerkriegskatastrophe: Das geschickte Ineinanderblenden von konventioneller Erzählung und Verweigerung des Erzählens, von Mitgefühl und indignatio, Detailbesessenheit und Abwendung des Blicks, Einzelszene und funus mundi, der ruhelose Wechsel zwischen den Alternativen, die gerade nicht zu einem den Erzähler ästhetisch befriedigenden Kompromiss gelangen, lässt den

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Ambühl 2015: 252–253; vgl. Leigh (1997: 78): „Yet this is not to be a poem of individual aristeiai. This is the message of 7.617–630, where Lucan’s expression of shame at discussing individual deaths goes hand in hand with a grotesque account of the violence done by Roman to Roman, kinsman to kinsman.“ (s.o. Anm. 9 auf S. 308); s. auch Ambühl 2005: 285. Rutz 1950: 84; seine These, dass vor dem „Untergang der alten Welt […] Einzelschicksale wesenlos“ werden, trifft daher höchstens auf die Anonymität der Gewaltaktanten zu (ebenda).

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Rezipienten das Versagen der Worte angesichts des Unmaßes der Katastrophe empfinden und so dieses Unmaß selbst erahnen.66 Während der Klagecharakter der Partie insbesondere durch das Aufzeigen intertextueller Bezugnahmen hervorgehoben werden kann, lässt sich der Aspekt der Scham vor allem aus der intratextuellen Perspektive auf den Text näher beleuchten. Die Scham des Erzählers steht in einem engen Entsprechungsverhältnis zur erzählten Gewalt. Im Kontext physischer Zerstörung ist in der Erzählung die dynamische Wechselwirkung zwischen fabula und story zu erkennen. Hierfür ist das Augenmerk vor allem auf die beiden Szenen des Verwandtenmordes zu richten. Wie im Abschnitt zu ‚Körper und Verwundung‘ (6.4.2) angedeutet, kann das Bedürfnis der jeweiligen agentes, dem Bruder bzw. Vater die Identität zu nehmen, auf ihr Schamempfinden zurückgeführt werden. Im Bewusstsein um die moralische Verwerflichkeit ihrer Taten besteht für sie die Notwendigkeit, den patientes den Kopf postmortal abzutrennen und diesen weit von sich zu werfen bzw. das bekannte Antlitz des Vaters am lebendigen Leibe zu entstellen. Erzähltechnisch ist dieser Aspekt zusätzlich unterstrichen, indem einerseits das Erzähltempo gegenüber der additiven Massenkampfszene an Geschwindigkeit abnimmt. Sowohl der Bruder- als auch der Vatermord übersteigen in ihrem Umfang jede der individuellen Sterbeszenen im Massenkampf (s.o. Abschnitt 6.4.2). Damit korrespondiert die Öffnung der Erzählerperspektive von interner Fokalisierung zu Nullfokalisierung (s. o.). Der Erzähler tritt in der Funktion als Zuschauer zurück und gewährleistet als auktorialer Erzähler Einsicht in die ‚Gedankenwelt‘ der agentes. Während beim Brudermord die Innenperspektive – und damit die Scham – des agens im Finalsatz ut notum possit spoliare cadaver (627) zum Ausdruck kommt, dienen beim Vatermord die Zeugen (spectantibus, 629) als moralische Instanz, vor der der Vatermörder sein Ansehen wahren will. Doch entgegen aller Erwartung führt ihr Schamgefühl oder Unrechtsbewusstsein nicht etwa dazu, dass die Kämpfenden vor der Gewalt zurückschrecken, sondern im Gegenteil, erst recht unter äußerster Gewaltanwendung (vgl. nimia ira, 629) ihre Blutsverwandten töten, zerhacken und bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln. Dieses paradox anmutende Verhalten der Gewaltaktanten auf Ebene der fabula findet ihre Entsprechung in der narrativen Repräsentation der Gewalt durch den Erzähler auf Ebene der story: Trotz aller Scham und innerer Zerrissenheit ‚eskaliert‘ dessen Gewaltdarstellung zu einem äußerst ästhetisierten und im Verhältnis zur Bekundung, die grausamen Taten nicht schildern zu wollen, umfangreichen

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Anzinger 2007: 154.

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Gewaltkatalog, der schließlich in der – gerade aus römisch-republikanischer Sicht – moralischen Katastrophe des parricidium gipfelt. Hierin offenbart sich eine bemerkenswerte Identifikation des Erzählers mit seiner Geschichte. Etwas freier formuliert ließe sich sagen, der Erzähler selbst ist keineswegs besser als die Figuren seiner Bürgerkriegserzählung. Dass insbesondere im Kontext der Pharsalus-Schlacht die römischen Soldaten im Zwiespalt zwischen Scham und Gewaltbereitschaft stehen, belegen weitere Partien des siebten Buches, wie beispielsweise 7.460–469, wo sich die Armeen lange zögernd gegenüberstehen und trotz ihrer Zweifel nicht vom Krieg absehen (Lucan. 7.466–469): […] tamen omnia torpor pectora constrixit, gelidusque in viscera sanguis percussa pietate coit, totaeque cohortes pila parata diu tensis tenuere lacertis.67 Zudem äußert sich der innere Konflikt auch in 7.485–487 beim Abschuss der Pfeile, begleitet von der Hoffnung, diese mögen sich statt in die Körper der Feinde lieber in die Erde bohren (Lucan. 7.485–487): 485

spargitur innumerum diversis missile votis: vulnera pars optat, pars terrae figere tela ac puras servare manus.68

Anhaltende Reue zeigt sich schließlich bei den Soldaten, die nach langem Kampf den Sieg erringen konnten (Lucan. 7.764–767):

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quos agitat vaesana quies, somnique furentes Thessalicam miseris versant in pectore pugnam. invigilat cunctis saevum scelus, armaque tota mente agitant, capuloque manus absente moventur.69

„Dennoch schnürt Lähmung jede Brust zusammen, die Liebe wird im Innersten erschüttert, manchem gerinnt im Herzen das Blut, und ganze Kohorten halten reglos mit gespannten Muskeln lange die Lanzen wurfbereit.“ (Übers. Luck). „Ein Hagel von Geschossen prasselt nieder, aber es sind nicht immer dieselben Wünsche, die sie begleiten: Die einen Schützen möchten Wunden schlagen, andere hoffen, dass sich ihre Lanzen in den Boden bohren und ihre Hände schuldlos bleiben.“ (Übers. Luck). „Aber wahnwitzige Gesichte quälen sie im Schlaf, und wilde Träume wiederholen zu ihrer Qual im Geist noch immer die Schlacht von Pharsalos. In allen Herzen wacht ein furchtba-

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Das Unmaking Lucanischer Gewalt konstituiert sich somit in der mimetischen Nachbildung der fabula auf story-Ebene.70 Über den ‚Katalysator‘ der Scham wirkt sich die Gewalt in narrativer Hinsicht ‚entgrenzend‘ auf die Struktur der Erzählung aus. 6.4.4 Fazit Der Übersteigerungsgestus des plus quam, der zu Beginn des Bellum Civile programmatisch zum Ausdruck kommt (Lucan 1.1–2), wird in der untersuchten Partie der Pharsalus-Schlacht (7.617–631) durch das zentrale Motiv des Exzesses aufgegriffen. Es konnte gezeigt werden, dass der Exzess der Gewalt sich zugleich in der narrativen Repräsentation abbildet. Im ersten Schritt wurde hinsichtlich der Gewaltkonstellation eine sukzessive Steigerung festgestellt. Mit der Ausweitung des Blickwinkels auf die Gewaltaktanten (erst GA2, dann GA1+GA2, und schließlich GA1+GA2+GA33c) korrespondiert die Eskalation der Gewalt in der fabula, die aus der dynamischen Wechselwirkung zwischen den jeweiligen Gewaltaktanten resultiert. Der Abschnitt des Verwandtenmordes (626b–630a) wird gegenüber der additiven Massenkampfszene (619b–626a) um eine moralische Komponente ergänzt, indem sich zunächst Brüder gegen Brüder und später Söhne gegen Väter wenden. Selbst das parricidium unterliegt aufgrund der geschilderten Erzählfolge einer graduellen Zuspitzung. Die Analyse der körperlichen Verwundung hat ergeben, dass der Exzess in der kontrafaktischen Steigerung homerischer Gewaltmotive zum Ausdruck kommt. Hinsichtlich der verkehrten Bewegungsrichtung der ersten drei Verwundungen, d.h. der Überwindung der Körpergrenze von innen nach außen, ist der ‚Exzess‘ der Gewalt wortwörtlich zu verstehen. In seinem weiteren Verlauf weist der Massenkampf zudem eine konsequent antithetisch-kontrafaktische Struktur auf. Eine zusätzliche Steigerung der Gewalt ist Szene 8 (625–626a) zu entnehmen. Dem Rezipienten werden nochmals alle drei Verwundungsmotive der jeweiligen Einzelszenen – Externalisierung, Fallen, Durchbohrung – vor Augen geführt. Für die Überleitung zum Verwandtenmord ist der die Luft durch-

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res Schuldgefühl; sie können nur noch an Kampf denken, und auch ohne einen Schwertknauf zu halten, regen sich die Fäuste.“ (Übers. Luck). Vgl. Gorman (2001: 268), die bezüglich der Anonymität zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt: „In order to fit the crimina of a civil war into an epic framework, Lucan must parallel the actions of his soldiers and efface the names of the opponents. Like the soldier who cuts of the head of his brother so that he can perform the epic act of robbing the body of its armor, Lucan removes the identifying features from his players. Just as the soldier must remove the evidence of his fratricide before he can proceed, Lucan must remove the individual identities so that he can narrate the civil war without being crushed under the horrifying pollution and sorrow of the individual accusations.“

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stoßende Blutstrahl (cruor, 625) von zentraler Bedeutung, da er die Aufmerksamkeit des Lesers auf den agens lenkt und damit die Ausweitung der Gewaltkonstellation einleitet. Schließlich geht die Verstümmelung bzw. Unkenntlichmachung der patientes mit dem parricidium einher und ist als Höhepunkt der Eskalation körperlicher Gewalt anzusehen. Als letztes wurde auf die Frage eingegangen, inwiefern die Erzählung exzessiver Gewalt als Exzess der Erzählung aufgefasst werden kann. Insgesamt lässt sich das Entsprechungsverhältnis anhand von vier Aspekten belegen: erstens am rhetorischen Ausbau der Praeteritio durch Percursio und Evidentia. Zweitens äußern sich die im doppelten Sinne ‚unfassbaren‘ bzw. überdimensionalen Ausmaße der Pharsalus-Schlacht, die nicht mit Worten wiedergegeben werden können, durch den Gebrauch von Raffung und Ellipse. In diesem Kontext wurde außerdem der narrative Grundkonflikt ‚Unendlichkeit der fabula vs. Endlichkeit der story‘ herausgearbeitet. Im dritten Schritt ließ sich die Intensivierung der Massenkampfszene auf das Mittel der Dramatisierung zurückführen. Dabei sind sowohl stilistische Parallelen zur tragischen Klage als auch die narrative Gestaltung der Zeit (Snapshottechnik, Gleichzeitigkeit, subjektives Zeitempfinden) und Fokalisierung (interne Fokalisierung vs. Nullfokalisierung) als konstitutive Merkmale anzusehen. ‚Entgrenzung‘ findet hier zwischen den literarischen Gattungen des Epos und der Tragödie statt. Schließlich zeigt sich der Exzess der Erzählung insbesondere an der Kongruenz von fabula und story. Die Eskalation der Gewalt trotz bzw. infolge von Scham und innerer Zerrissenheit spiegelt sich in der narrativen Repräsentation des Erzählers wider. Der Exzess Lucanischer Gewalt darf daher nicht als ein auf die fiktive Erzählwelt beschränktes Motiv verstanden werden, sondern entfaltet seine Wirkung über deren Grenzen hinaus auf die Erzählung in all ihrer Komplexität, die damit selbst in den Fokus der Lektüre gerückt wird. Im Kontext der Pharsalus-Schlacht wird damit deutlich, dass die bella plus quam civilia nicht nur Gegenstand des canimus sind, sondern bezüglich ihrer narrativen Dynamik in einem Spannungsverhältnis mit der Dichtung stehen und auf sie zurückwirken.

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Schluss: Narrative Gewalt als Unmaking Gewalt/Unmaking durchdringt Lucans Bellum Civile. Dabei markiert der Doppelbegriff kein Oppositionspaar, keine gegenüberliegenden Enden eines Spektrums, sondern ein Bedingungsverhältnis, das von Übergangs- und Entgrenzungsdynamiken geprägt ist. In ihm verdichten sich Inhalt und Form, Ursache und Wirkung, Struktur und Auflösung. Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die Formen und Modalitäten, das ‚Wie?‘ der im Bürgerkriegsepos narrativ repräsentierten Gewalt zu analysieren. Zugleich ging es einerseits um die Überwindung der Frage nach Gründen und Autorintentionen, die den expliziten Kampf- und Sterbeszenen vorgelagert sein mögen. Andererseits galt es, sich von einer Reduzierung auf vermeintlich ‚typische‘ Partien zu distanzieren, und ‚Lucanische Gewalt‘ als vielschichtiges, offenes Gebilde herauszustellen. In ihrer experimentellen Ausrichtung unternahm die Arbeit den Versuch aufzuzeigen, dass über den Hebel der Gewalt fiktive Erzählwelt ( fabula) und narrative Repräsentation (story) in eine dynamische Wechselwirkung geraten und sich gegenseitig bedingen. Unmaking, so die These weiter, konstituiert sich über die ‚Binnengrenzen‘ der Erzählung hinaus in der ästhetischen Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Text. Um ein möglichst hochauflösendes, mehrdimensionales Bild von Lucans narrativer Gewalt zu erhalten, wurde eine interdisziplinäre Herangehensweise gewählt. Die Studie kombiniert gewaltsoziologische Ansätze mit erzähl- und literaturtheoretischen Methoden und Modellen. Ergebnisse der sogenannten ‚Gewaltinnovateure‘ um Sofsky und Trotha bezüglich Triangularität der Gewaltkonstellation sowie Eigendynamik, Ambivalenz, Entgrenzung und Selbstreferentialität realer Gewalt stellen für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit fiktionalisierter Gewalt geeignete Anknüpfungspunkte dar. Wie sich gezeigt hat, lassen sich diese Aspekte anhand von erzähl- und literaturtheoretischen Beschreibungskategorien für die konkrete Textanalyse nutzbar machen. Infolge ihrer literaturtheoretischen Verortung auf der fließenden Grenze zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus greift die Studie sowohl auf statische, in sich geschlossene Analysekriterien wie Aktanten, Zeit und Raum zurück als auch auf dynamische, offene wie Spannung, Illusionsbildung, Illusionsdurchbrechung und Wirkungsästhetik. Für die interpretatorische Arbeit am Text wurden einzelne exemplarische Gewaltdarstellungen ausgewählt und nach den methodischen Vorgaben syste-

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi:10.1163/9789004379459_008

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matisch analysiert. Dabei sollte ein möglichst breites Spektrum an ‚Gewaltsettings‘ berücksichtigt werden. Es galt sowohl individuelle als auch kollektive Kampf- und Sterbeszenen in den Blick zu nehmen, sowie auch Partien, in denen eine Einzelfigur einer Überzahl von Gegnern gegenübersteht. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie in einem Dreischritt präsentiert. (1) Zunächst soll anhand der Aspekte Gewaltkonstellation, Körper und Verwundung, Zeit, Raum und Grenze die Frage nach dem ‚Wie?‘ der dargestellten Gewalt beantwortet werden. (2) Ausgehend von den eher deskriptiven Befunden weitet sich die Perspektive auf das Unmaking Lucanischer Gewalt, das sich im Entsprechungsverhältnis von fabula und story konstituiert. (3) Schließlich wird das Augenmerk auf die dynamischen Prozesse des illusionsdurchbrechenden Unmaking gerichtet, die sich über den narrativen Text hinaus auf die ästhetische Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Text auswirken. (1) Lucanische Gewalt lässt sich aufgrund ihrer weitreichenden Bandbreite und offenen, beweglichen Struktur nur schwer aus einer Perspektive näher beleuchten. Im Rückgriff auf eine vielfältige Kombination interdisziplinärer Methoden und Herangehensweisen hat die Studie zu zeigen versucht, dass Lucans Gewaltszenen von bemerkenswerter Dynamik und Intensität geprägt sind. Die Darstellungen lassen ein vielschichtiges Ineinanderblenden der Gewalt konstituierenden Faktoren (a) Gewaltkonstellation, (b) Körper und Verwundung, (c) Zeit, (d) Raum und (e) Grenze erkennen. Die konstatierte Wechselwirkung strukturierender und entstrukturierender Tendenzen wurde unter den Begriff des Unmaking gefasst. (a) Gewaltkonstellation. Der deskriptive Zugriff auf das ‚Wie?‘ Lucanischer Gewalt, d.h. ihrer Formen und Modalitäten, erfolgte anhand des entwickelten gewaltaktantiellen Modells. Die unterschiedlichen Gewaltdarstellungen erfahren ein schärferes Profil nicht nur durch das Aufbrechen obsoleter TäterOpfer-Dichotomien, sondern auch durch die analytische Erfassung der Relationen zwischen den jeweiligen Aktanten. Die systematische Auffächerung des Beschreibungsinventars in binär ausgerichtete Kategorien wie zielgerichtete und nicht zielgerichtete Gewalttat (GT[z], GT[n]) des agens, aktives und passives Gewalterleiden (GE[a], GE[p]) des patiens, sowie direkte und indirekte Gewaltpartizipation (GP[d], GP[ind]) des particeps ermöglicht eine präzise Analyse narrativ vermittelter Gewaltprozesse. So lässt sich festhalten, dass die enorme Dynamik und Intensität der untersuchten Gewaltszenen häufig aus der Variabilität der Gewaltkonstellation resultiert. Sei es, dass ein agens zum patiens (Telo, s. Abschnitt 4.4.2), sei es, dass ein patiens im Verlauf der gewalttätigen Auseinandersetzung zum agens wird (Massenhinrichtung unter Sulla, s. Abschnitt 3.4.). Insbesondere der dritte Gewaltaktant – adiuvans (GA31), opponens (GA32) und die Unterkategorien des arbiter (GA33), d. h. Macht (GA33a),

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Schiedsrichter (GA33b) und Zeugen (GA33c) – ist in diesem Kontext von zentraler Bedeutung. Eine Veränderung der direkten Gewaltpartizipation ließ beispielsweise die Lycidas-Partie erkennen: herbeieilende Gefährten greifen als opponentes in das Geschehen ein, erweisen sich jedoch im Verlauf als adiuvantes der Gewalthandlung, wodurch der patiens Lycidas paradoxerweise einen noch viel grausameren Tod erleidet, indem er entzweigerissen wird (vgl. Abschnitt 4.4.5). In der Folterszene des Marius Gratidianus war zu beobachten, dass die Eigendynamik und Zwecklosigkeit der Gewalt auch in der Veränderlichkeit der indirekten Gewaltpartizipation zum Ausdruck kommt: die manes Catuli stellen sich im Verlauf der Lektüre als lediglich vermeintliche Schiedsrichter (GA33b) heraus, und auch Sulla ist in seiner Funktion als Macht (GA33a) und Schiedsrichter (GA33b) hinfällig (Abschnitt 2.4.1). Der geschilderte Ringkampf zwischen Hercules und Antaeus zeigt, dass participes nicht nur innerhalb ihrer Funktion als dritter Gewaltaktant (GA3) veränderlich sind, sondern auch als patientes (GA2) Gewalt (mit)erleiden. Durch die spezielle Verbundenheit mit dem im Kampf unterlegenen patiens Antaeus ist die Erde zugleich als opponens und als patiens der Gewalt zu klassifizieren (Abschnitt 5.4). (b) Körper und Verwundung. Der Blick auf das ‚Wie?‘ Lucanischer Gewalt steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der narrativen Repräsentation von Körper und Verwundung. Diese beiden Aspekte sind kaum voneinander getrennt zu denken und stehen im Zentrum der untersuchten Gewaltszenen. Die Analyse hat aufgezeigt, dass die literarische Verarbeitung physischer Wunden und Verwundungen entgegen (immer noch) häufig anzutreffender stereotyper Vorstellungen ein breites Spektrum aufweist, das mit Schlagworten wie ‚Übertreibung‘, ‚Absurdität‘ und ‚Hyperrealismus‘ nicht adäquat beschrieben werden kann. Der Körper der patientes wird dem Rezipienten meist nur als verwundeter vor Augen geführt. Zudem werden in der Regel diejenigen Körperteile genannt, die für die jeweilige Gewaltdarstellung von Bedeutung sind. Durch die Differenzierung der dargestellten Verwundungen in ‚allgemein‘ (V[a]) und ‚detailliert‘ (V[d]) konnten dem Text unterschiedliche Zwischenstufen von Anschaulichkeit entnommen werden. Diese reichen von sehr kurzen und simplen, auf den ersten Blick oberflächlich wirkenden Momentaufnahmen (z.B. Szene 4 der additiven Massenkampfszene in der Pharsalus-Schlacht, vgl. Abschnitt 6.4.2) bis hin zu umfangreich und ausführlich gestalteten, teils bis ins Detail mikroskopisch aufgelösten Ekphraseis (Lycidas, s. Abschnitt 4.4.5). Allen Darstellungen gemein ist jedoch die Vermittlung erhöhter Dynamik und Intensität. Dies wird insbesondere dadurch erzielt, dass der (primäre oder sekundäre) Erzähler eher selten den Kampfverlauf zwischen den Aktanten (mit Ausnahme des Ringkampfes zwischen Hercules und Antaeus/Tellus, vgl. Abschnitt 5.4), sondern meist den Verwundungsvorgang oder

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die bereits zugefügte Wunde in den Fokus rückt. In den Motiven der Amputation und Durchbohrung zeigt sich, dass die Entgrenzung der Gewalt in der Desintegration der Körpergrenze verdichtet und widergespiegelt ist. Innen und außen scheinen dabei häufig ineinander überzugehen und sich eindeutigen Zuweisungen zu entziehen. Die ‚synekdochische Auflösung‘ des Körpers – ob auf fabula- oder story-Ebene – weist eine besondere Nähe zu dem von Bachtin formulierten Konzept der Groteske auf. Denn neben Fragmentierung und Verunschärfung konnte bisweilen eine Verdinglichung der patientes festgestellt werden, die mit einer Reduzierung auf deren reine Körperlichkeit einhergeht und somit einen Prozess der Dehumanisierung beschreibt (s. etwa Marius Gratidianus in Abschnitt 2.4.3 und der massilische Zwilling in 4.4.4.4). Anhand von Popitz’ Kriterien der Verletzungsoffenheit und -mächtigkeit ließ sich weiter feststellen, dass die Gewalt erleidenden Körper einerseits verletzungsoffen, wenn nicht sogar teils ‚überempfindlich‘, andererseits in hohem Maße verletzungsmächtig sind – auch über den Tod hinaus, wie bei der Massenhinrichtung unter Sulla gezeigt werden konnte. In Anknüpfung an die von Hübner und Bartsch angestellte Beobachtung der ‚Subjekt-Objekt-Inversion‘ ist die Verletzungsmächtigkeit der patientes auch gegenüber ihrem eigenen Körper nachgewiesen worden, wie beispielsweise in Szene 1 der PharsalusSchlacht (Abschnitt 6.4.2). Schließlich lässt sich in beinahe allen untersuchten Partien eine hohe Dynamik der Bewegung beobachten, die zur Wirkung der dargestellten Gewalt wesentlich beiträgt. Durch das narrative Mittel des Zooming äußern sich Geschwindigkeit und Unübersichtlichkeit des Geschehens in der fiktiven Erzählwelt (s.u. zum Aspekt der Zeit). So gewinnt die Schilderung sowohl stumpfer Gewalteinwirkung als auch klaffender Wunden zusätzlich an Plastizität und Ausdruckskraft. (c) Zeit. Die hohe Dynamik der untersuchten Gewaltdarstellungen konstituiert sich wesentlich in der narrativen Gestaltung der Zeit, die insbesondere unter den erzähltheoretischen Kriterien Ordnung und Dauer analysiert wurde. Zur Ordnung: Prinzipiell vermittelt die Erzählstimme den jeweiligen Ablauf der Gewalt entsprechend ihrer Ausführung auf fabula-Ebene. Bemerkenswert ist allerdings der Gebrauch proleptischer Verweise, die den Rezipienten auf in der fabula erst später stattfindende Ereignisse, wie z. B. Verstümmelung oder Eintritt des Todes, aufmerksam machen. Insbesondere Vorhalte prägen die Erzählung atmosphärisch vor und entfalten ihre Wirkung auf den Leser erst im weiteren Verlauf der Lektüre.1 Dies konnte etwa in der Zerstückelungsszene

1 Zur Begriffsbestimmung des Terminus’ ‚Vorhalt‘ s. Anm. 75 auf S. 106.

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des Marius anhand des Vorhaltes quid sanguine manes | placatos Catuli referam? (2.173–174) nachgewiesen werden (Abschnitt 2.4.2). Obwohl während der anschließenden expliziten Gewaltdarstellung von Blutvergießen keine Rede mehr ist, geht die daraufhin geschilderte Folter mit der Realisierung eines regelrechten Blutbades einher. Auf subtilere Weise wird das tödliche Schicksal des Seefahrers Telo durch das Attribut miseri (3.592) angekündigt, und auch der namenlose massilische Zwilling wird vom Erzähler bereits als truncus (3.615) bezeichnet, obwohl erst in den nachfolgenden Versen berichtet wird, dass ihm die rechte Hand sowie der linke Arm abgetrennt werden (vgl. die Abschnitte 4.4.2.4 und 4.4.4.4). Vorhalte tragen zugleich zur Erzeugung von suspense bei. Sie richten die Erwartungen des Rezipienten auf das folgende Ereignis aus, indem implizit die Frage aufgeworfen wird, wie (und nicht ob) es sich ereignet. Aus der verkehrten Anordnung der Ereignisse resultiert bisweilen der Eindruck erhöhter Geschwindigkeit, wie sich bei der Durchbohrung des Gyareus gezeigt hat (Abschnitt 4.4.3.4). Auf Ebene der story wird dem Soldaten das Eisen zuerst durch die Eingeweide gestoßen, woraufhin er die Waffe in seinem Unterleib ‚empfängt‘ (excipit). Ein derart beschleunigtes Erzähltempo hat eine beträchtliche Verringerung der Anschaulichkeit zur Folge. Ein ähnlicher Effekt wird durch einen variablen Tempusgebrauch erzeugt, wie sich in der Darstellung der Pharsalus-Schlacht gezeigt hat (Abschnitt 6.4.3). Eine Vorstellung vom chronologischen Verlauf durch präzise Wiedergabe von Vor- und Gleichzeitigkeit scheint auf diese Weise (wenn überhaupt) nur eingeschränkt möglich. Umso intensiver ist jedoch die (über)fordernde Wirkung der Gewalt auf den Rezipienten. Zur Dauer: Lucanische Gewalt ist wesentlich vom Verhältnis erzählte Zeit – Erzählzeit geprägt. Die im Werk konstatierte Bandbreite reicht von elliptischen Auslassungen über Zeitraffung, -deckung, -dehnung bis hin zum Stillstand der erzählten Zeit mittels Pause. Erhöhte Erzählgeschwindigkeit resultiert nicht nur aus dem Gebrauch proleptischer Verweise, sondern auch durch Ellipse der konkreten Gewalttat, d. h. des Zustoßens, sodass dem Rezipienten lediglich die bereits geschlagene Wunde vor Augen geführt wird. Durch die Vermittlung von ‚Snapshots‘ bzw. Momentaufnahmen ist die Erzählzeit häufig kürzer als die erzählte Zeit. Dadurch ist der Erzähler in der Lage, die meist hohe Bewegungsdynamik der Gewalthandlung auf story-Ebene abzubilden. Ebenso lässt sich etwa der Eindruck von Gleichzeitigkeit und Unübersichtlichkeit der Massenschlacht narrativ abbilden. Zeitdehnung lässt sich häufig bei der Darstellung des Verwundungs- oder Sterbeprozesses beobachten. Dadurch dass die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit ist, gewinnt die Schilderung körperlicher Zerstörung zusätzlich an

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Schärfe und Intensität. Mit diesem ‚Zeitlupeneffekt‘ korrespondiert häufig ein Zoom In, sodass die Aufmerksamkeit des Lesers ganz auf das Körperinnere der patientes gelenkt wird. Zeitdehnung sowie Pausen sind auch als wesentliche Elemente zur Erzeugung von suspense herausgearbeitet worden. So wird der Ausgang des Ringkampfes zwischen Hercules und Antaeus durch Retardierung hinausgezögert, um einen höchstmöglichen Grad an suspense zu generieren. Richtet man den Blick auf das disparate Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit der jeweiligen episodischen Einschübe, lässt sich die Funktionsweise der gesamten Partie noch präziser beschreiben (Abschnitt 5.4.4). Besonders wirkungsvoll erscheint Zeitdehnung im Zusammenspiel mit zuvor in die Erzählung eingestreuten Vorhalten, wie etwa in der Telo-Szene (4.4.2.4). Von zentraler Bedeutung für die Dynamik der meisten Gewaltszenen ist das abrupte Wechselspiel zwischen geraffter und gedehnter Darstellung. Erst im wechselhaften Erzählrhythmus konstituiert sich die enorme Intensität Lucanischer Gewalt. Rapide geschilderte Ereignisse gewinnen vor dem Hintergrund entschleunigten Erzählens an Eindringlichkeit, wie etwa die Zwillingspartie erkennen lässt. Im scharfen Kontrast zwischen umfangreicher Vorbereitung zum Angriff und anschließender gerafft dargestellter Amputation beider Hände äußert sich etwa die übersteigerte Verletzungsoffenheit des sich im Kampf abmühenden patiens (vgl. Abschnitt 4.4.4). Diese Beobachtung lässt sich auch unter verkehrten Vorzeichen machen, wenn eine zeitlich gedehnte Darstellung auf eine gerafft erzählte oder gar elliptische ausgelassene Gewalttat folgt. Gewaltszenen, die Zeitdeckung aufweisen, können je nachdem, in welchen zeitlichen Kontext sie eingefügt sind, entweder be- oder entschleunigend wirken. Isochron berichtete Gewalthandlungen prägen die kontrastive Zeitstruktur entscheidend mit, wenn auf eine Pause der erzählten Zeit ein isochron geschildertes Gewalterleiden, etwa als Augenzeugenbericht, folgt. Zeitdeckendes Erzählen wird auch eingesetzt, um einen auf fabula-Ebene lange andauernden Sterbeprozess entsprechend umfangreich auf Ebene der story abzubilden, sodass beispielsweise Lycidas’ extensiver Todeskampf im Vergleich zum rapiden Akt der Entzweiung eine Entschleunigung des Erzähltempos bewirkt (4.4.5). (d) Erzählraum. Wie eingangs der Studie erläutert, kann der Erzählraum im Bellum Civile nicht als eine von Handlung und Figuren losgelöste Hintergrundfolie angesehen werden. Die Analyse der exemplarisch herangezogenen Partien hat bestätigt, dass der Erzählraum vielmehr relational zur Gewalt aufzufassen ist und häufig sogar einen Gewalt konstituierenden Faktor darstellt. Strökers und Lotmans Dreiteilung des Raumes – einerseits in Anschauungs-, Aktions- und gestimmter Raum, andererseits in einen topographischen, topologischen und semantischen Raum – erwiesen sich als zentrale interpretatorische

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Ausgangspunkte. Die Szenen lassen unterschiedliche Gewichtungen erkennen, wobei der Erzähler insbesondere Aktions- und Anschauungsraum in den Vordergrund rückt. Dynamische Wechselwirkungen zwischen Aktionsraum und Gewalthandlung ließen sich beispielsweise bei der Massenhinrichtung unter Sulla beobachten (Abschnitt 3.4.4). Die Enge des Marsfeldes prägt den Verlauf der ausufernden Gewalt dadurch, dass die Bewegungsfreiheit der agentes eingeschränkt ist und sie dem erdrückenden Gewicht der getöteten patientes letztlich nicht entkommen können. Später werden Leichname und Blut selbst zu Komponenten des Erzählraums, als der Tiber sich in einen reißenden Blutstrom verwandelt und über das Ufer tritt. In der Seeschlacht-Erzählung konnte ein gegenläufiges Verhältnis zwischen erhöhter Bewegungsdynamik und verringerter Reichweite der jeweiligen Aktionen (und vice versa) festgestellt werden. Mobilität und Immobilität der Gewaltaktanten werden hier teils kontrastiv gegenüberstellt (Abschnitt 4.4 passim). Am nachdrücklichsten kommt die Dynamisierung des Erzählraums in der Personifikation von Tellus zum Ausdruck, die als particeps auf den Ringkampf zwischen Hercules und Antaeus direkt Einfluss nimmt. Zugleich erfolgt über den beschriebenen Anschauungsraum der libyschen Landschaft eine Charakterisierung des Riesen, sodass der Verweis auf dessen Gefährlichkeit zur Erzeugung von suspense beiträgt (5.4.4). Bemerkenswert ist zudem, dass der Erzählraum nicht nur charakterisierende, sondern auch eine Spiegelfunktion aufweist. Die häufig dichotomische Struktur, d.h. die binäre Aufteilung in kontrastive topologische und topographische Teilräume ist im Prozess der physischen Verwundung abgebildet, wie sich am deutlichsten bei der Analyse der Catus-Partie gezeigt hat (4.4.1). Auch das dekonstruktive Wechselspiel zwischen Anwesendem und Abwesendem, das der Opferszene des Zwillings inhärent ist, scheint auf den Anschauungsraum am Ende der Partie übertragen, als der Erzähler detailreich auf den Untergang des römischen Schiffes eingeht (4.4.4.3). Für die dynamischen Relationen innerhalb des Erzählraums ist zudem die Semantisierung der Teilräume von großer Bedeutung, wie sich hinsichtlich der Überschreitung der meist offenen und fluiden Grenzen gezeigt hat. (e) Grenze. Im Bellum Civile geht die Überwindung topographischer und topologischer Grenzen häufig mit strukturauflösenden Prozessen einher. Die Verwischung von Oppositionen wie z.B. Land – Fluss, diesseits – jenseits etc. korrespondiert dabei mit der Verdichtung semantischer Teilräume (vgl. Abschnitt 3.4.4). So ließ sich im Zuge der Transgression meist auch eine ‚Verunschärfung‘ der Trennlinie zwischen Leben und Tod beobachten. Das Sterben markiert einen eigenständigen, ambivalenten Grenzbereich des ‚Dazwischen‘, in dem beide Modi verdichtet erscheinen und nicht voneinander zu differenzieren sind. Zahlreiche Gewaltdarstellungen sind von Auflösungs- und

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Übergangsdynamiken geprägt, sowohl hinsichtlich der körperlichen Fragmentierung als auch in der narrativen Repräsentation von Wunden und Verwundungsprozessen. Dies spiegelt sich in Marius’ Akroteriasmos an Catulus’ Grab wider (2.4.2) sowie in der Enge der Massenhinrichtung unter Sulla, der Tiberflut (3.4), als auch in Catus’ Körpergrenze, die zwischen Körperinnerem und -äußerem oszilliert (4.4.1.4), der permanenten Grenzüberschreitung des massilischen Zwillings zwischen den verkeilten Schiffen (4.4.4.3), Lycidas’ Entzweiung und extensivem Todeskampf (4.4.5) und schließlich im Ringkampf zwischen Hercules und Antaeus, deren Körper bisweilen ineinander überzugehen scheinen (5.4.3). Insgesamt kann festgehalten werden, dass Gewalthandlungen, die sich im Bellum Civile mit Grenzüberschreitung decken, eine bemerkenswerte Steigerung von Dynamik und Intensität erkennen lassen. Die Formen und Modalitäten der untersuchten Gewaltdarstellungen lassen sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner kürzen. Deren Facettenreichtum ist zu vielfältig, als dass sich ein einzelnes Attribut finden ließe, das dieses ausreichend beschreiben könnte. Die Annäherung aus verschiedenen Blickrichtungen zeigt jedoch erst, dass alle Szenen von bemerkenswerter Dynamik und Intensität geprägt sind, ob diese dem Rezipienten nun detailreich vor Augen geführt werden oder eine geringe Anschaulichkeit aufweisen. Meist in einen Kontext greller Kontraste eingeflochten, erweist sich Lucans Darstellung körperlicher Gewalt als ein offenes und bewegliches Grenzphänomen, als Unmaking, das sich im Spannungsfeld von Gewaltaktanten, Zeit und Erzählraum konstituiert. (2) Der analytische Blick auf das ‚Wie?‘ Lucanischer Gewalt öffnet das Sichtfeld auf deren entgrenzendes, eigendynamisches Wirkungspotential auch in Bezug auf die narrative Repräsentation. Die offenen, beweglichen Gewaltstrukturen in der fiktiven Erzählwelt gehen ein Entsprechungsverhältnis mit den sie darstellenden narrativen Strukturen ein. Dass Gewalt/Unmaking sowohl in der fabula als auch in der story zum Ausdruck kommt, ließ sich anhand der einzelnen Kapitel demonstrieren, die unter die Kategorien (a) Zerstückelung, (b) Verdichtung, (c) Tension, (d) Suspense und (e) Exzess gefasst wurden. (a) Zerstückelung. In der Marius-Partie kommt der Aspekt der Sprachlosigkeit nicht alleine durch die abgeschnittene, stumm schlagende Zunge zum Ausdruck, sondern spiegelt sich über die fabula hinaus als narrative Unschärfe in der story wider. Zudem sind αἴσθησις als Beschreibung der Sinnesorgane sowie der sinnlichen Wahrnehmung selbst und Ästhetik der Erzählung eng miteinander verwoben, so im herausgedrehten Auge, das – zum ‚selbstreflexiven‘ Akt gezwungen – die Wunden des eigenen Körpers in den Blick nimmt. (b) Verdichtung. Die Darstellung des Massensterbens und der Tiberflut führt dem Rezipienten den Aspekt der Verdichtung zum einen durch die Anhäu-

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fung der Leichenberge im sich bis zur Überflutung stauenden Tiber vor Augen, zum anderen lässt die narrative Gestaltung der Partie ein Verschmelzen der Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen erkennen. Auf stilistischer Ebene ist Verdichtung in syntaktischer Verwobenheit, Wortwiederholungen und – analog zum geschilderten Leichenberg – in einer Verskumulation abgebildet. (c) Tension. Insbesondere die Seeschlacht vor Massilia ist auf Ebene der fabula von Unübersichtlichkeit und Bewegungsdynamik geprägt – infolge des intensiv geführten Fernkampfes. In der story sind die Geschwindigkeit und Wucht, mit denen in der fiktiven Erzählwelt Geschosse geschleudert und Wunden geschlagen werden, mittels narrativer Mittel wie Zooming und SnapshotTechnik ausgedrückt, sodass insgesamt ein hohes Erzähltempo vorliegt. Umso deutlicher treten dabei entschleunigende Passagen in das Bewusstsein des Rezipienten. Diese können mit dem phänomenologisch eigenständigen Modus der Gewaltzeit identifiziert werden, der für den jeweiligen patiens einen aus der Zeit gefallenen Moment der Plötzlichkeit bzw. Lähmung darstellt. Die auf den Leser irritierende Wirkung konstituiert sich auf Ebene der narrativen Repräsentation über Zeitdehnung, interne bzw. polymodale Fokalisierung bei gleichzeitigem Zoom In. Sei es, dass der Blutfluss für einen kurzen Augenblick zum Stehen kommt, um anschließend aus den Wunden zu schießen, sei es dass die subjektiv wahrgenommene Zeit zusammen mit einer abgetrennten Hand erstarrt oder, wie in Lycidas’ Fall, nach ungestümer Zweiteilung des Körpers das Blut nur zögerlich aus allen Gefäßen rinnt. Das Motiv der eigenen Opferung für einen oder mehrere Gefährten korrespondiert, wie in der Erzählung des massilischen Zwillings sichtbar gemacht wurde, auf Ebene der story mit einer Ästhetik der Abwesenheit. Das Prinzip des ‚Anstelle‘ bzw. des ‚Anwesenden im Abwesenden‘ wurde dabei mittels der Aspekte Emotionalität, Anonymität, Aristie und hypothetische Erzählung in den Fokus gerückt. (d) Suspense. Auch der Ringkampf zwischen Hercules und Antaeus ist vom dynamischen Wirkungspotential Lucanischer Gewalt geprägt. Die Verschlingung der beiden Körper im Nahkampf äußert sich etwa in einer unscharfen Vermittlung durch den Erzähler, sodass die beiden Kämpfer für den Rezipienten zeitweise nicht voneinander zu trennen sind. Erhöhte Bewegungsdynamik und vertikale Ausrichtung des Ringkampfes, die aus dem Bewegungsmuster Stehen – Hochheben – Fallen resultieren, spiegeln sich in der Lenkung des Leserblicks. Während dieser zunächst erratisch von einem Körperteil auf den anderen gerichtet wird, ist anschließend ein Blickverlauf entlang des Körpers von oben nach unten festzustellen, worin Antaeus’ Sturz narrativ abgebildet ist. Einen zentralen Aspekt stellt zudem Antaeus’ Kampfstrategie der Obstruktion dar, die lediglich eine Neutralisierung der gegen ihn gerichteten Angriffe

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bezweckt. Dieses In-die-Länge-ziehen der Auseinandersetzung in der fabula zeichnet sich mittels drei episodischer Einschübe, die den konkreten Ringkampf in den Hintergrund rücken lassen, auch in der story ab. Parallel dazu korreliert Hercules’ Lernprozess mit der erzählerisch sukzessiven Vermittlung der direkten Gewaltpartizipation durch Tellus, die Antaeus per Bodenkontakt stets mit neuer Kraft ausstattet. Schließlich spiegelt sich das für einen Ringkampf uncharakteristische Ende, das Hochhalten des Gegners in die Luft, in der Durchbrechung bzw. vorzeitigen Auflösung der zuvor vom Erzähler behutsam aufgebauten Konfliktspannung wider. (e) Exzess. Bei der Untersuchung der Pharsalus-Schlacht ist deutlich, dass der dargestellte Exzess der Gewalt zugleich als Exzess der narrativen Repräsentation zu deuten ist. Denn die quantitativ und qualitativ eskalierenden Ausmaße der Gewalt sind in der graduellen Ausweitung der Erzähler-Perspektive auf die Gewaltaktanten sowie auch in intertextueller Hinsicht in der kontrafaktischen Steigerung homerischer Gewaltdarstellungen abgebildet. Andererseits ließ sich der Exzess der Erzählung anhand des Ausbaus von Praeteritio zu Percursio und Evidentia nachverfolgen. Unfassbarkeit und Überdimensionalität der Pharsalus-Schlacht sind mithilfe von Zeitraffung und Ellipse inszeniert. Hierbei ließ sich zudem der narrative Grundkonflikt ‚Unendlichkeit der fabula vs. Endlichkeit der story‘ beschreibbar machen. Entgrenzung findet sich auch in der Verschmelzung der literarischen Gattungen Epos und Tragödie wieder. Das enge Entsprechungsverhältnis zwischen fabula und story, deren Trennlinie sich im Zuge geschildeter Gewalt aufzulösen scheint, wurde schließlich am Motiv der Scham deutlich herausgestellt. Nicht nur die Figuren innerhalb der fiktiven Erzählwelt sind von Gefühlen der inneren Zerrissenheit betroffen, sondern auch der Erzähler selbst und damit die narrative Gestaltung. In dem Maße, in dem vor dem Hintergrund republikanischer Werte und moralischer Ansprüche Brüder von ihren Brüdern enthauptet und Väter von ihren Söhnen entstellt werden, gibt sich auch der Erzähler zwanghaft der exzessiv gestalteten Vermittlung eskalierender Gewalt hin. Unmaking konstituiert sich also in strukturauflösenden Prozessen geschilderter Gewalt, die sich jedoch nicht nur innerhalb der fiktiven Erzählwelt zu erkennen geben, sondern über deren Grenzen hinaus auch auf die narrative Repräsentation von Gewalt zurückwirken. Auf diese Weise wird die Selbstreferentialität sowohl der Gewalt als auch der Erzählung ins Bewusstsein des Erzählers gehoben. (3) Als wesentliches Merkmal Lucanischer Gewalt prägt Unmaking schließlich die ästhetische Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Text. Die Selbstreferentialität der dargestellten Gewalt ist dabei von zentraler Bedeu-

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tung, da sie dem Leser den fiktionalen Status der Erzählung vor Augen führt. Dieser Aspekt ist nicht nur im dynamischen Wechselspiel zwischen fabula und story abgebildet, sondern ließ sich insbesondere auch anhand der erzähltheoretischen Kategorie der Illusionsdurchbrechung beschreibbar machen. Mit Blick auf die narrativen Grundstrukturen Aktanten, Zeit, Raum, Grenze und Fokalisierung ist in jeder Szene entweder ein bewegliches Spiel mit oder eine deutliche Abweichung von den illusionsbildenden Prinzipien der anschaulichen Welthaftigkeit, Sinnzentriertheit, Perspektivität, Mediumsadäquatheit und Interessantheit der Geschichte beobachtet worden. Im Motiv der Gewalt bricht sich gewissermaßen die narrative Repräsentation und damit zugleich die illusionistische Wirkung der Erzählung. Nicht die Gewalt der fiktiven Erzählwelt, sondern deren Darstellung rückt so in den Vordergrund, gleich einem Lichtstrahl, der auf ein Prisma gerichtet wird: Nicht das Prisma wird durch das Licht in Szene gesetzt, sondern das Licht selbst, indem dessen Spektrum durch Auffächerung der einzelnen Lichtwellenlängen Sichtbarkeit erlangt. Durch narrative Verunschärfung, Fragmentierung, Ambivalenz und Widersprüchlichkeit sind den Gewaltdarstellungen ‚Irritationsmomente‘ inhärent, die die Imaginationsfähigkeit des Rezipienten aktivieren. In Anknüpfung an Isers Wirkungsästhetik konnte eine signifikante Häufung von Unbestimmtheitsstellen im Text identifiziert werden, die in besonderem Maße eine Realisierung vonseiten des Rezipienten erforderlich machen und so einen dynamischen, offenen Prozess der Lektüre einleiten. Als prägnantes Beispiel ist etwa die Gyareus-Partie zu nennen, die aufgrund ihrer Unschärfe und Mehrdeutigkeit ein entsprechendes Realisierungspotential aufweist und somit eine Fülle unterschiedlicher Interpretationen zulässt. Durch das imaginative ‚Ausagieren‘ narrativer Gewalt tritt der Rezipient in die Doppelfunktion als text- und gewaltproduzierende Instanz. In der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Erzählung rückt der Leser selbst in den Fokus der Lektüre und ist vom dynamischen, offenen Wirkungspotential des Lucanischen Unmaking betroffen. Diese kreative, aktive Tätigkeit hat eine erhebliche Intensivierung der dargestellten Gewalt zur Folge, die Lucanische Gewalt von Homerischer, Vergilischer oder Ovidischer Gewalt abhebt. Erst in der rhizomatischen Verflechtung desintegrierender und konstituierender Prozesse bzw. im Wechselspiel narrativer Repräsentation und Lektüre offenbart sich das ästhetische Bedingungsverhältnis Gewalt/Unmaking. Schließlich eröffnen die vorgestellten Ergebnisse der strukturalistisch-poststrukturalistisch ausgerichteten Textanalysen eine Sichtweise auf das Werkganze, die Ecos Konzeption des ‚offenen Kunstwerks‘ sehr nahe steht: ‚Die‘ Interpretation des Bellum Civile lässt sich nicht in eine eindeutige Richtung durchführen, ebensowenig wie sich ‚die eine‘ typisch Lucanische Gewaltszene

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kapitel 7

definieren lässt. Infolge der vielfältigen, mehrdimensionalen und fragmentarischen werkimmanenten Strukturen kann das Bürgerkriegsepos vom Leser aus verschiedenen, auch widersprüchlichen Perspektiven betrachtet und konkretisiert werden, jedoch „ohne jemals aufzuhören (es) selbst zu sein“.2 Es mag zwar zutreffen, dass kein literarisches Werk jemals zu Ende gelesen ist, doch scheint das Bellum Civile in besonderem Maße kontrastierende Lesarten hervorzubringen, seien es optimistische oder pessimistische, pro-caesarische oder pro-republikanische, seien es Deutungen, die Caesar, Pompeius oder Cato als Hauptfigur identifizieren – oder eben doch keinen der dreien. Legt man Hendersons Sentenz The Word at War zugrunde, oder folgt man Waldes These, bei Lucans Werk handle es sich um ein „master narrative of war, stressing the fact that war experiences cannot be narrated“, so resultiert daraus für den Rezipienten, dass dieser schließlich kaum eine andere Wahl hat als eine Lektüre zu betreiben, die selbst von Ungewissheiten, Konflikten und Brüchen geprägt ist.3 Ausgehend von der Dynamik, Offenheit und Beweglichkeit, die Lucans Gewaltdarstellungen nachgewiesen werden konnten, wurde eine entsprechend breit angelegte, interdisziplinäre und dynamische Herangehensweise an den Text entwickelt. Aus der Verknüpfung soziologischer und narratologischer sowie strukturalistischer und poststrukturalistischer Ansätze ergeben sich Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen, sowohl mit Bezug auf Gewaltdarstellungen als auch darüber hinaus. Vor dem Hintergrund teils postmoderner Charakteristika des Bellum Civile könnte sich etwa eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Kontingenz und Gewalt als ertragreich erweisen: zum einen, da zu Beginn des zweiten Buches (Lucan. 2.1–15) Determinismus und Zufall ( fors incerta, casus) im Rahmen eines philosophischen Exkurses explizit ausgehandelt werden, zum anderen, da Kontingenz als „etwas, was […] so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist“ sich im narrativen Text möglicherweise anhand der Possible-Worlds-Theory beschreibbar machen lässt.4 Unter Anwendung des gewaltaktantiellen Modells kann das Motiv des Selbstmordes nicht nur im Kontext des für das römische Volk selbstzerstörerisch wirkenden Bürgerkrieges beleuchtet, sondern auch hinsichtlich seiner

2 Eco 1973: 30. Dort heißt es weiter: „In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne dass seine irreproduzible Einmaligkeit davon angetastet würde.“ 3 Henderson 2010; Walde 2011: 285. 4 Luhmann, Niklas (1999): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main, 152.

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Verdichtung gewaltaktantieller Kategorien wie agens, patiens, zielgerichteter Gewalttat und aktivem Gewalterleiden noch eingehender dargestellt werden. Interessant wäre in diesem Fall auch der Blick auf eventuelle participes und deren Einfluss auf die gegen sich selbst gerichtete Gewalthandlung. Die Bandbreite der Analyse von Darstellungen körperlicher Gewalt ließe sich um den Aspekt explizit unterlassener Gewalttaten und Gewaltverzicht erweitern. So würde der erarbeitete methodische Ansatz, insbesondere hinsichtlich des Kriteriums der Lesererwartung, um einen Blick ex negativo ergänzt. Mithilfe der Kategorie der Gewaltzeit können auch werkübergreifend Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen gewaltdarstellenden epischen Texten aufgezeigt werden. Abgesehen von Szenen, die dem Rezipienten körperliche Gewalt vor Augen führen, rücken für das gewaltaktantielle Modell gattungsübergreifende Anwendungsgebiete in das Blickfeld. Aus dieser Perspektive gerät prinzipiell die Figur des Dritten stärker in den Fokus. So lassen sich anhand des triangulären Modells beispielsweise bukolische Dichtung und Liebeselegie auf interaktantielle dynamische Wechselwirkungen hin näher untersuchen. Insgesamt soll sich also gezeigt haben, dass Gesichtspunkte, Erkenntnisse und Methoden der Soziologie, Kulturwissenschaft sowie Erzähl- und Literaturtheorie, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts das (post-)moderne Denken wesentlich mitgeprägt haben, sowohl für die spezifische Arbeit an älteren Texten als auch im weiteren Sinne für das philologische Interesse nutzbar gemacht werden können.

Appendix: Aktanten narrativer Gewalt

abb. 2

Aktanten narrativer Gewalt

Kürzel AG: Schilderung einer allgemeinen Gewalthandlung CH1, 2, 3: Charakterisierung eines Gewaltaktanten (GA1, GA2, GA3) GA1, 2, 3: agens, patiens, particeps GA31, 2, 3: adiuvans, opponens, arbiter GA33a, GA33b, GA33c: Macht/Gebieter, Schiedsrichter, Zeuge GE(a): Schilderung des aktiven Erleidens von Gewalt GE(p): Schilderung des passiven Erleidens von Gewalt GP(d): Schilderung der direkten Partizipation an der Gewalthandlung durch einen particeps GP(ind): Schilderung der indirekten Partizipation an der Gewalthandlung durch einen particeps GT(n): Schilderung einer nicht zielgerichteten Gewalttat GT(z): Schilderung einer zielgerichteten Gewalttat IP1, 2, 3: Schilderung der Innenperspektive eines Gewaltaktanten (GA1, GA2, GA3) O: Obstruktion ST: Schilderung des Sterbeprozesses im engsten Sinne V(a): Schilderung einer Wunde bzw. Verwundung (allgemein) V(d): Schilderung einer Wunde bzw. Verwundung (detailliert, z. B. eines bestimmten Körperteils) W: Erwähnung der Waffe

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appendix: aktanten narrativer gewalt Schilderung der Waffenwirkung Vorszenenelement Schlussszenenelement

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Figuren- und Namensverzeichnis Achilles 93, 93n21, 316n23 Acilius 160n4, 199, 200, 200n125, 202n133, 220, 227, 228, 236 Antaeus 23n104, 42, 49n190, 57, 72, 235, 257, 258, 260–268, 268n44, 269, 269n46, 270, 270n53, 271n61, 272, 272n63, 272n64, 274, 274n70, 275–278, 278n80, 278n81, 279, 279n82, 280, 281, 281n85, 282, 282n88, 283, 283n91, 284n93, 285, 286n100, 286n101, 287–296, 296n132, 297, 297n133, 298, 298n138, 299, 299n140, 300, 301, 301n143, 301n144, 302, 302n148, 303, 339, 342, 343, 345 Briareus 258, 268n44, 274 Cacus 265, 302n148 Caesar, C. Julius 4, 13, 15, 19, 26n113, 88, 107, 135n45, 158, 160, 160n4, 162, 231n214, 265, 305, 309n9 Catilina 91, 97 Cato der Jüngere 13, 13n48, 13n50, 14n51, 18, 19, 88, 264 Catulus 87, 89, 90, 94n25, 97, 101n56, 102, 103, 106, 113, 344 Catus 72, 154, 158, 159, 164, 165, 165n34, 166, 167, 170–181, 181n75, 182, 183, 185, 187, 190, 190n96, 192–195, 208, 208n147, 221n179, 227, 241, 243, 245, 246n249, 252, 255, 343 Curio 23, 23n104, 260, 261, 263–265, 267, 272n63, 272n64, 274, 282n88, 284n93, 296, 302 Cynaegirus 198–200, 200n125, 201, 227, 227n200

270n51, 270n53, 271n61, 272, 272n63, 272n64, 273, 273n69, 274–281, 281n85, 282, 282n88, 283, 283n91, 283n92, 284n93, 284n94, 285, 286, 286n100, 286n101, 287–293, 293n123, 294, 294n124, 295, 296, 296n132, 297, 297n133, 298, 298n139, 299, 299n140, 300, 301, 301n143, 302, 302n148, 302n150, 303, 339, 342, 343, 345, 346 Juno 261, 276, 277n78, 279, 282, 293, 295, 298, 298n138 Larides 198, 199, 227 Lycidas 40, 68, 72, 157, 159, 193n113, 236, 237, 237n226, 238, 238n229, 238n232, 240, 240n239, 241–243, 243n244, 245, 246, 248, 248n257, 249, 250, 252–255, 319n31, 339, 342, 344, 345 Marius, C. 22n100, 88–90, 128, 129, 269n48 Marius Gratidianus, M. 3n8, 20, 22n100, 41, 58, 75, 87–90, 90n4, 91–94, 94n25, 95–101, 101n56, 101n57, 102–106, 106n79, 107–114, 114n116, 115–120, 120n128, 120n129, 121, 122, 124, 133, 136, 136n46, 140, 150, 161, 339, 341, 344 Pompeius Magnus, C. 4, 13, 19, 22n100, 23, 23n105, 26n116, 88, 107, 107n81, 129, 158, 305, 309n9 Regulus 266

Fortuna Praenestina 123, 126, 126n6, 133, 133n42, 136, 138 Gyareus 71, 155, 159, 181n77, 188–191, 191n101, 192, 193, 193n113, 194–196, 208, 208n147, 227, 227n197, 241, 243, 246n249, 256, 319n31, 341 Hercules 23n104, 42, 49n190, 57, 72, 235, 257, 260–269, 269n46, 269n48, 270,

Scaeva 6, 9n31, 22n102, 23n103, 45, 94, 95, 110, 202, 202n132, 213n154, 309n11, 326n50 Sulla, L. Cornelius 22n100, 88–90, 94, 94n25, 97, 103, 109, 122, 124–126, 126n6, 128, 129, 131, 134, 136–139, 141, 141n59, 146, 150, 151n94, 153, 269n48, 289, 338, 340

390 Tellus 57, 257, 260, 268, 276–280, 283, 283n91, 291, 294, 298n138, 300, 303, 339, 343, 346 Telo 154, 155, 159, 180, 181, 181n75, 182–185, 185n88, 186–190, 190n96, 191, 194, 195, 208, 208n147, 227, 227n197, 241, 243, 246n249, 256, 338, 341, 342 Tityos 257, 258, 268n44, 274 Typhon 257, 258, 268n44, 274, 298n138

figuren- und namensverzeichnis Vulteius 22, 23n103, 260 Zwilling, massilischer 155, 159, 163, 177, 196–202, 202n132, 202n133, 202n134, 203–206, 210–212, 215, 216, 218– 220, 220n173, 221, 221n180, 223–228, 228n202, 230–236, 241n240, 243, 252, 255, 341–343, 345

Verzeichnis gewalt-, kultur- und literaturtheoretischer Begriffe adiuvans 56, 57n216, 58, 241, 254, 268, 276, 279, 294, 338, 339, 351 agens 56–58, 90, 97, 99, 100, 103, 106, 109, 110, 113, 114, 121, 133–135, 140–144, 146, 152, 159, 164, 165, 170, 180, 186, 199, 204, 205, 207, 240, 251, 267, 272–275, 275n75, 276–279, 288, 289, 303, 311–315, 320– 322, 322n39, 322n40, 323, 324, 333, 335, 336, 338, 343, 349, 351 Aktionsraum 28, 60–62, 142, 145, 147, 148, 151, 152, 165, 181, 187, 191, 207, 208, 210, 210n149, 237, 243–245, 254, 280, 280n83, 283, 315, 319, 321, 322, 343 Ambivalenz 5, 9n30, 13, 14, 25n111, 28, 34n134, 36, 44, 45, 47, 49, 53, 60n223, 65, 68, 71n272, 80, 102, 111, 117, 143, 144, 175, 178, 189, 192–194, 196, 203, 208n147, 210, 211, 231n214, 235, 236, 252, 256, 264, 269n48, 288, 290, 337, 343, 347 Analepse 300 Anschaulichkeit 71, 107, 108, 118, 137, 151– 153, 165, 166, 169, 170n47, 175, 176n64, 178, 179, 182, 183, 188, 189, 192, 194–196, 214, 218, 218n169, 236, 241, 243, 316–318, 327, 339, 341, 344 Anschauungsraum 28, 60, 62, 63, 142, 151, 165, 208, 214, 215, 280, 283, 343 Ästhetik 4, 5, 7, 13, 19n89, 26n113, 28, 29, 47, 49, 50, 52, 69, 70, 70n269, 73, 73n279, 73n281, 74–76, 76n293, 76n294, 77, 77n297, 78n300, 78n302, 79, 80, 83, 85, 86, 86n332, 87, 90, 94–96, 101, 102, 104, 105, 107, 108, 111–113, 115, 116, 119, 120, 120n127, 121, 122, 139, 141, 153, 171, 171n49, 174, 174n61, 177, 177n74, 178, 183, 187, 188, 196, 197, 204n142, 205, 212, 213, 213n154, 214, 216, 218, 220n175, 222, 223, 223n183, 224–227, 229, 233–235, 239, 250, 250n260, 251, 256, 271, 296, 314, 317, 320, 324, 331–333, 337, 338, 344– 347 Auflösung 3, 3n8, 4, 7, 25, 26n113, 28, 30, 49, 50, 63, 67, 75, 77, 81, 81n318, 84n327, 84n328, 85, 86, 118, 130, 132, 143n63, 145,

149, 151–153, 163, 172, 177, 185, 216–218, 235, 239, 252, 253, 255, 256, 303, 311, 337, 340, 343, 344, 346 Autoreferentialität 4, 28, 29, 50, 71, 73, 74, 76, 76n294, 77, 85, 96, 104, 112, 119, 121, 122, 192, 224, 226, 236, 252, 254, 256, 303, 337, 346 Dekonstruktion 5, 12n41, 26n113, 29, 48n188, 83, 84, 84n328, 84n329, 85, 85n330, 131n34, 149n83, 152, 222, 223, 223n183, 227, 229, 231, 234n222, 235, 236, 343 Disnarrated, the 186n89, 234n223, 235n224 Ellipse 67, 117, 212, 213, 219, 219n173, 220, 228, 230, 233, 278, 294, 301, 316–318, 321, 324, 326, 330, 336, 341, 342, 346 Exzess 11, 29, 30, 44, 44n171, 94n25, 99, 103, 304, 310, 311, 313, 314, 316, 318, 323, 324, 326, 326n48, 328, 331, 335, 336, 344, 346 fabula 7, 28, 49, 53, 53n200, 53n201, 53n202, 54, 55n211, 55n213, 60, 64n239, 67, 72, 76, 85, 98, 117, 120–122, 136, 139, 143, 152, 153, 170, 173, 178, 179, 185, 207, 208, 213, 218, 219, 221, 231, 244, 245, 247, 249, 267, 279n82, 290, 291, 294n125, 295, 297, 299, 301–303, 311, 324–327, 330, 331, 333, 335–338, 340, 342, 344–347 Figurenrede 17, 17n80, 22n100, 98n46, 100, 101n56, 137, 138, 153, 232n217, 261, 280, 297, 298, 298n139, 302, 305 Fokalisierung, eingebettete 138, 139, 141, 153, 250n262, 251n262 Fokalisierung, interne 68n261, 98, 178, 211– 213, 250, 254, 331, 331n62, 333, 336, 345 Fokalisierung, Null- 17, 68, 68n261, 137–139, 190, 213, 250, 251, 331, 331n62, 333, 336 gestimmter Raum 28, 60–63, 342 Gewalt, autotelische 36, 40, 41, 76n294, 96n39, 104, 218 Gewalt, kulturelle 9, 9n32, 34

392

gewalt-, kultur- und literaturtheoretischer begriffe

Gewalt, psychische 9, 91, 93, 97, 111 Gewalt, strukturelle 9, 9n32, 10n34, 34 Gewalterleiden, aktiv 10, 58, 159, 205, 206, 319, 338, 349, 351 Gewalterleiden, passiv 10, 56, 58, 97, 98, 133, 134, 151n91, 165, 180, 181, 188, 205, 219, 274, 338, 351 Gewaltinnovateure 10, 29, 31, 33n126, 36, 37n145, 40, 45, 45n181, 46, 46n181, 49, 54, 56–58, 74n287, 75, 337 Gewaltpartizipation, direkt 56, 59, 241, 275– 279, 303, 338, 343, 346, 351 Gewaltpartizipation, indirekt 56, 59, 96, 100, 102, 103, 133, 136, 205, 206, 242, 276, 277, 279, 311, 313, 323, 339, 351 Gewalttat, nicht zielgerichtet 10, 59, 134, 135, 240, 241, 246, 338, 351 Gewalttat, zielgerichtet 10, 59, 96, 97, 99, 100, 134, 180, 181, 203, 204, 206, 207, 218, 219, 272–275, 277, 278, 311–313, 321, 322, 338, 349, 351 Gewaltzeit 4, 28, 37, 38, 40, 46, 50, 67, 75, 84n327, 174, 178, 179, 218, 222, 237, 246, 249, 251, 251n264, 253, 255, 330, 345, 349 Grausamkeit 5, 9n30, 26, 28, 30, 58, 87, 88, 91, 93, 94, 96, 96n39, 106, 111–114, 114n116, 117, 120, 120n128, 121n131, 122, 129, 139, 142, 225, 261, 270, 301n142, 314n17, 322, 326, 333, 339 Grenze 4n13, 11, 25, 26n113, 27, 28, 48, 49, 49n189, 60n223, 63, 63n236, 64, 64n239, 65, 65n242, 66, 67, 70, 72, 76, 82, 84n327, 110n98, 142, 143, 146, 146n73, 151–153, 163, 164, 166, 168n42, 169, 171n49, 172, 174–176, 176n67, 178, 179, 193, 194, 204n143, 207, 210–213, 218n168, 235, 239, 263n12, 267n41, 284, 288, 290, 303, 315, 318, 321, 323, 328, 335–338, 340, 343, 344, 346, 347 Groteske 15n65, 26, 147, 147n78, 148, 163, 176, 176n65, 176n67, 177, 210, 217, 220–222, 226, 226n193, 231, 235, 239, 308, 314, 314n17, 332n64, 340 Hypallage 25n111, 130, 144, 144n67, 148, 175, 179, 219n171, 220, 220n176, 315, 317n24, 318–320, 324, 341

Illusion 28, 30, 47, 49, 50, 67, 69, 70, 70n265, 70n266, 71, 71n269, 71n271, 72, 72n275, 73, 77, 79, 85, 86, 118, 119, 137, 164, 175, 177, 177n74, 178, 179, 187, 188, 192, 214, 221, 236, 239, 256, 303, 316, 318, 328, 337, 338, 347 Macht/Gebieter 56, 58, 97, 103, 122, 136, 338, 339, 351 Nihilismus 12, 12n42, 41, 163 Obstruktion 28, 59, 159, 205, 206, 206n145, 209, 210, 221, 230, 231, 235, 267n42, 275, 277, 279, 279n82, 280, 299, 302, 303, 345, 351 Opferung 20, 57, 87, 89, 92, 93, 97, 103, 113, 113n108, 113n110, 115, 122, 159, 197, 198, 201, 203, 205, 206, 206n145, 207, 208, 210, 211, 215, 216, 220, 222, 224, 228, 228n202, 229, 231–234, 234n222, 235, 252, 343, 345 opponens 56, 57n216, 58, 241, 254, 275, 277– 279, 294, 303, 338, 339, 351 patiens 56–58, 67, 75, 96–99, 102, 113, 114, 133–135, 140–144, 146, 152, 159, 164, 165, 168, 180, 186–188, 192, 194, 203–207, 221, 230, 240, 241, 243, 244, 247, 250–253, 255, 256, 267, 272–275, 275n75, 276– 279, 288, 289, 301, 303, 311–320, 324, 330, 331, 333, 335, 336, 338–340, 342, 343, 345, 349, 351 Pause 67, 185, 187, 194, 299, 341, 342 Plötzlichkeit 4, 39, 39n152, 40, 171n49, 174, 185, 186, 218, 237, 243, 243n243, 246, 249, 250, 250n259, 255, 273, 345 Possible Worlds Theory 186n89, 212, 212n151, 348 Postmoderne 5, 5n18, 11, 27, 50, 67, 69n264, 73, 80, 81, 81n318, 85n330, 348 Poststrukturalismus 5, 48, 48n188, 49, 49n189, 50, 67, 80, 80n312, 80n313, 80n314, 81, 82, 82n320, 82n321, 82n324, 83–85, 85n330, 337, 348 Prolepse 66, 101, 107, 118n123, 129, 129n23, 133n41, 134, 142, 144, 146n73, 196, 270, 298, 300, 302, 340, 341

gewalt-, kultur- und literaturtheoretischer begriffe

393

Realisierung 11, 28, 50, 67n254, 78, 78n303, 79, 85, 86, 104n70, 106n78, 111, 118, 120, 120n126, 121, 152, 176, 178, 183, 186, 188, 189, 192, 194–196, 208n147, 212, 214, 225, 227, 228, 233, 236, 243, 275, 289, 290, 294, 295, 310, 316, 318, 320, 341, 347

Unmaking 5n18, 7, 29, 46n183, 47, 50, 54, 66, 73, 79, 83, 84, 84n328, 85, 85n330, 119, 122, 145, 148, 149, 153, 163, 175, 179, 196, 222, 223, 303, 311, 335, 337, 338, 344, 346, 347 unzuverlässiges Erzählen 14, 16, 17, 68, 68n262, 179, 223n184, 296

Schiedsrichter 43, 55–58, 96, 97, 102, 103, 122, 339, 351 Schmerz 15n65, 26, 26n115, 37, 37n146, 37n147, 38, 38n149, 39, 40, 40n154, 84n328, 98, 102, 102n64, 113, 224n185, 225, 251, 253n270, 272n66, 321n35 Semiosphäre 28, 63n237, 64, 65, 65n242, 65n243, 65n249, 110n96, 132n40, 176n67, 210, 213, 236, 289 Snapshot-Technik 61n228, 170n47, 243–246, 254, 330, 336, 339, 341, 345 story 7, 16n72, 28, 49, 53, 53n202, 54, 55n211, 60, 62n233, 67, 72, 76, 85, 101, 115, 117, 118, 120–122, 136, 139–143, 152, 153, 166, 170, 178, 179, 185, 195, 200n125, 207, 218, 219, 222, 245, 247–249, 267, 279n82, 290–292, 295, 299–303, 311, 324–327, 331, 333, 335–338, 340–342, 344–347 Strukturalismus 21n100, 48, 48n188, 49, 49n189, 53, 54, 59, 63, 69, 79n310, 81, 82, 82n320, 82n321, 83, 85, 85n330, 337, 348 Suspense 29, 30, 101n59, 159n3, 185, 185n87, 257, 268, 268n45, 270n51, 290, 291, 291n112, 292, 292n118, 292n119, 294, 296, 297, 299, 301–303, 341–345

Verdichtung 5, 28, 29, 49, 65, 66, 123, 132, 132n40, 135, 136, 138–142, 144–146, 146n73, 151–153, 162, 172, 173, 213, 233, 236, 289, 290, 315, 316, 337, 340, 343– 345, 349 Verleiblichung 37, 102n64, 175, 184, 187, 223, 239n234, 254 Verletzungsmächtigkeit 8n26, 10, 35, 35n139, 168, 288, 340 Verletzungsoffenheit 10, 35, 35n139, 104, 112, 168, 194, 221, 230, 288, 340, 342 Verwundung, allgemein 59, 96, 240, 241, 311, 312, 339, 351 Verwundung, detailliert 59, 96, 97, 164, 165, 180, 188, 203–205, 241, 311, 312, 339, 351 Vorhalt (germe) 67, 106, 106n75, 121, 184– 186, 215, 217, 292, 340, 340n1, 341, 342

Tension 24n106, 29, 30, 154, 159, 159n3, 163, 166, 178, 179, 222, 255, 256, 290, 303, 344, 345 Thrill 295, 301

Zeitdeckung 28, 67, 186, 187, 218, 219, 248, 249, 255, 299, 342 Zeitdehnung 28, 67, 95, 108, 174, 194, 218– 220, 222, 235–238, 246–249, 251, 255, 301, 341, 342, 345 Zeitraffung 28, 67, 139, 140, 153, 184, 186, 195, 218, 222, 230, 246, 249, 251, 255, 316– 318, 324, 326, 336, 341, 342, 346 Zeuge 56, 58, 96, 97, 100–102, 111, 133, 136, 137, 139, 205, 206, 206n145, 276, 279, 311, 313, 320, 323, 324, 329–331, 333, 335, 339, 351 Zooming 105, 112, 143, 166, 170–172, 175, 178, 179, 194, 215, 218, 245, 253, 255, 284–287, 340, 342, 345

Stellenverzeichnis Lucan Bellum Civile 1.1–2 1.2 1.183–395 1.363 1.447–449 1.631–637 2.1–15 2.13–193 2.64 2.64–233 2.65 2.65–233 2.67 2.68 2.100 2.109 2.118 2.119–121 2.121–124 2.124–125 2.126–129 2.130–133 2.134 2.134–135 2.135–138 2.138 2.139–144 2.139–173 2.145–159 2.150–151 2.157–173 2.160–165 2.166–173 2.169–170 2.173 2.173–174 2.173–187 2.173–193

2.174 2.174–176

310, 335 9n31 88 287 307 117 88 124 88 91 88 88, 98 88, 124 100 88 104n69 88 88 89 89 89 89 89 135n45 89 89 89 103 89 135n45 106 89 89 136n45 90, 97, 106, 113, 120 89, 90, 101, 102 91 20, 41, 58, 67n254, 75, 87–89, 95, 104, 133, 140 89, 92, 97, 98, 101n60, 102, 113 89, 113

2.174–180 2.174–190 2.175 2.176 2.177 2.177–180 2.178 2.178–179 2.179 2.179–180 2.179/180 2.180 2.181 2.181–182 2.181–185 2.181–190 2.182 2.182–183 2.183 2.183–184 2.183–185 2.183/184 2.184 2.184–185 2.185 2.186 2.186–187 2.186–193 2.187 2.187–188 2.187–190 2.188 2.189 2.189–190 2.190–191 2.190–193 2.191 2.192 2.192–193

99n48, 107 92 89, 92, 103, 113, 118 89, 92, 103, 110, 113, 117, 118 101n60, 102, 105, 107, 120 89 97, 100, 105, 107, 136n46 136n45 92, 98, 114, 118 99, 102, 117 118 89, 98, 101, 110, 114 105, 107 92, 108, 115 90, 99, 100, 107, 108 94 100 105 97, 100 109 105 105 89, 97, 100, 105, 110, 118 121 99, 100, 104, 105, 111, 120 102 90, 106 105 105, 106 90 90 105 105, 118 90 106 90, 103 102, 105, 106 136n45 106

395

stellenverzeichnis 2.193 2.193–194 2.193–195 2.193–220 2.194 2.194–195 2.195 2.196 2.196–197 2.196–210 2.197 2.198 2.198–201 2.199 2.199–200 2.199–201 2.200 2.201 2.201–202 2.201–204 2.201–206 2.202 2.203 2.203–206 2.204 2.205 2.205–206 2.205–220 2.206 2.207 2.207–209 2.208 2.209 2.209–210 2.209–214 2.209–220 2.210 2.210–211 2.211 2.211–220 2.212 2.213 2.214 2.214–218 2.214–220 2.215 2.216

126, 136, 138 126, 133, 136 125, 133, 138, 140 123, 132, 148, 169, 233n220, 275n75 140 152 124, 140, 148 128, 129, 138, 139 125, 133, 138 141 124, 126, 127, 136n45, 138, 142, 148 140, 148 125, 137, 138, 143, 144 143, 148 124, 131 138 143 124 135n45, 142 142 125, 134, 138, 142, 153 140, 143, 144 140, 141, 151n91 134, 135 141, 144n65, 148 135n45, 141, 149, 150 151n91 151 125, 135, 141, 144, 149 125, 139 125, 136, 138, 139 138, 139 139 125, 146 125, 145 125, 128, 142 149 135n45 148 141 148, 149 148, 150 131, 150 125 147 148, 150 148–150

2.217 2.218 2.219 2.219–220 2.220 2.232–233 2.234–379 2.304 2.338–239 2.439–525 2.526–649 3.46–103 3.104–168 3.169–297 3.298–374 3.375–452 3.453–508 3.509–537 3.509–762 3.538–591 3.538–762 3.566–582 3.566–762 3.567–762 3.569 3.569–570 3.569–571 3.569–582 3.571–572 3.581–582 3.583 3.583–585 3.583–586 3.583–588 3.583–591 3.583–646 3.584 3.585 3.585–586 3.586 3.587 3.588 3.589 3.590 3.590–591 3.591

149, 150 125, 149, 150 149, 150 125 148, 150 129n23 88 113n110 140n54 88 88 158 158 158 158 158 158 158 24 221n179 158 158, 221 319 301n142 288 179 204 204 207 221 166n35, 171 164 208n147 171 154, 158, 164, 245 154 171 164, 171, 195 165, 166, 171 171, 172 165, 169, 171, 173 165, 169, 171, 183n80 165, 168, 169, 171, 174, 175, 178 165, 168, 169, 171, 173 167, 169, 244n245, 245n247 175

396 Bellum Civile (Forts.) 3.592 3.592–599 3.593 3.593–596 3.594 3.594–595 3.595 3.596 3.597 3.598 3.598–599 3.599 3.599–602 3.600 3.600–602 3.601 3.602 3.603 3.603–608 3.603–626 3.603–633 3.603–634 3.605 3.605–606 3.605–608 3.607 3.608 3.609 3.609–612 3.609–613 3.609–617 3.609–626 3.610 3.610–630 3.611 3.611–612 3.611–613 3.612 3.612–613 3.613

stellenverzeichnis

180, 181, 181n75, 183, 184, 186, 189, 208n147 154, 159, 180, 191 180, 182, 185 180, 181, 185, 187 183–185 182 182, 185 182, 183, 186, 187 181n75, 184, 186, 187, 195 180, 181, 181n75, 182, 186, 187 187 181, 183, 189 155, 159, 188, 319n31 188–190, 195 188, 190, 208n147 188, 192–196 183n80, 188, 189, 191, 194 208 197, 203, 208, 210, 222, 224, 225, 235 163 57, 155, 159, 177, 196, 202n133 228n202 196, 225 224 196 225 197, 225 204, 208, 209n148, 213 207 196, 197, 203, 216 231 225 209n148, 211 228n202 204, 208, 209n148, 216, 218 108n85, 216, 218, 219 213 204, 218 204, 218 204, 216, 218

3.614 3.614–615 3.614–616 3.614–617 3.615 3.616 3.617 3.618 3.618–619 3.618–622 3.619 3.619–620 3.620 3.620–622 3.621 3.621–622 3.622 3.622–623 3.622–625 3.622–626 3.623 3.623–625 3.624 3.624–625 3.625 3.625–626 3.626

3.627 3.627–633 3.628 3.629 3.630 3.631 3.632 3.633 3.633–634 3.633–646 3.635 3.635–636 3.635–637

212, 220, 226 212 219 196, 197, 204, 205, 216, 219 205, 212, 216, 221, 226 208, 216, 217 205, 216, 219 205, 221, 234 205, 232, 234 196, 197, 205, 206, 211, 220, 222, 231, 234 205, 211, 216, 220, 234 205, 209, 220 183n80, 205, 209, 212 217 206, 210, 211, 234 210, 231 206, 209, 211, 216, 221, 231, 232, 234 244n245 212, 221 135n45, 197, 206, 216, 219 207, 212, 216, 217 219 216, 217 220n173 209, 212, 216, 219n173, 231 207, 211, 219 207–209, 219, 219n173, 221, 228, 230, 233 214–216, 219, 228, 230, 233 197, 208, 210, 214, 242 215, 228 214, 215 215 215 215 214–216 236, 239, 242 157, 159, 236, 240, 319n31 241, 246, 246n249 243n244 236, 241, 243, 245

397

stellenverzeichnis 3.635–646 3.636 3.637 3.638 3.638–639 3.638–642 3.638–646 3.639 3.639–640 3.640 3.640–642 3.640–646 3.641 3.641–642 3.642 3.642–643 3.642–646 3.644 3.644–646 3.645 3.645–646 3.646 3.647–652 3.652–661 3.661 3.661–669 3.668 3.670–696 3.684 3.689 3.694–696 3.696–704 3.705–708 3.709–722 3.709–751 3.730–732 3.746–747 3.750–751 4.1–401 4.48–129 4.402–581 4.474–581 4.557–558 4.561–562 4.563 4.572–573 4.581–824

237, 238 183n80, 241, 247, 319n31 241 244, 247 242, 247 236, 242, 243, 245, 248 237n226 244 244n246 242, 244 242 242 244 244, 245, 247 244, 245 249, 254 236, 245, 248, 255 245 249 245 254 245, 254 159 159, 193n113 319n31 159 108n85 159 148n80 144n64, 221n179 62n230 159 159 135n45 159 183 287 244n245 24, 260 133n41 260 22 150n86 135n45 150n86 150n86 23, 260

4.589–590 4.591–660 4.592 4.593–594 4.593–597 4.593–609 4.593–611 4.593–653 4.594 4.594–595 4.595–596 4.596 4.598 4.598–609 4.599 4.601 4.601–602 4.602 4.603 4.604 4.608 4.609–610 4.609–611 4.611 4.612 4.612–616 4.612–620 4.612–652 4.613 4.614 4.615 4.616 4.617 4.617–620 4.617–629 4.617–632 4.618 4.619 4.620 4.620–621 4.620–629 4.621 4.621–644 4.622 4.622–624

296 42, 57, 233n220 260, 266, 300 283n91 260 268, 275, 294 261, 268, 281 49n190, 60, 257 282, 283 274 274 282 297 261 297 283 283 271 283 297 269 274 268, 269, 292 269, 292 270, 284n95, 293 261, 269 261 284n95 270, 271, 284n95 270, 271, 294 270, 271, 284n95, 297 270, 271, 282, 283, 284n95, 292 272, 273, 276, 278, 288, 296 261, 272, 276, 284, 285, 296 295n127 299 273, 284n95 284, 284n95 283n92, 293n123 300 261, 269, 273, 277, 284, 298, 299 273 261 274, 282, 286 289, 290

398 Bellum Civile (Forts.) 4.623 4.623–626 4.623–629 4.624 4.624–625 4.624–626 4.625 4.625–626 4.626 4.626–629 4.627 4.628 4.628–629 4.629 4.629–630 4.629–632 4.630 4.630–632 4.631 4.632 4.633 4.633–635 4.633–653 4.634 4.634–635 4.635 4.636 4.636–637 4.637 4.637–638 4.637–639 4.638 4.638–639 4.639 4.640 4.640–642 4.640–644 4.642 4.643

stellenverzeichnis

274, 282, 284n95, 286–288 285 285 274, 282, 284n95, 288, 289 282 274 274 286n101, 288 269, 273, 284n95, 289 285 274, 284n95, 289 274, 284, 284n95, 289 286n100 274, 275, 280, 282, 283, 284n95, 288 282, 286, 288 261, 275, 284, 287, 298, 299 275, 282, 284n95, 294 293 275, 282, 284n95, 288 275, 282, 284n95 280, 282, 283, 293, 297 261, 293, 297–299 300 298, 300 293 283, 295 276, 278, 294, 296, 297, 299n140 261, 276, 296, 299, 300 276 295 261, 276, 282, 284, 289, 293, 298, 299 276, 284n95, 298 288, 295 274, 284n95 277, 282, 284n95, 288, 297 297n133 261, 277, 299 277, 280, 282 284n95, 288

4.643–644 4.644 4.645 4.645–649 4.645–653 4.646 4.647 4.648 4.649 4.649–653 4.650 4.651 4.651–652 4.652 4.652–653 4.653 4.656 4.656–660 4.773 4.779 4.781–782 4.790 5.252 5.326 6.118–262 6.147–148 6.169–249 6.170–172 6.176 6.190 6.751 6.787 7.1–234 7.214–864 7.235–336 7.235–727 7.322 7.337–384 7.386–459 7.460–469 7.460–505 7.466–469 7.485–487 7.493–495 7.494 7.506–531 7.532–598

277, 283, 294 277, 279 297 261, 298, 299 261 280 280, 281, 297n135 281, 284n95, 288, 297n135 278, 281, 297n135 261, 278, 279 274, 278, 281, 284n95, 288 278 288 278, 284n95 278n81, 282 278 301n143 296n132 288 144n64 142n61 113n110 108n85 288 21n100 202n132 6, 45 135n45 108n85 288 287 129 305 24 305 305 322n40 305 305 334 305 334 334 142n61 129 305 305

399

stellenverzeichnis 7.552–555 7.552–556 7.555 7.599–616 7.617 7.617–618 7.617–619 7.617–630 7.617–631 7.617–646 7.618 7.619 7.619–620 7.619–626 7.619–630 7.620 7.621 7.621–622 7.622 7.623 7.623–624 7.624 7.625

229, 307n3 307, 326n51 329n57 305 305, 308, 308n9, 328, 329n57, 331 329n57 305, 306, 326, 330, 332 308, 314n17 1, 304–307, 308n9, 314n17, 321, 335 305 327 315, 325 306, 312, 315 306, 311, 314n17, 315, 330, 335 332 11, 306, 312, 315, 316, 320n32, 325, 330 312, 317, 320n32, 325 306, 312, 317 306, 312, 318, 320n32, 325, 330 129, 306, 312, 318– 320, 325, 330 306, 312, 319, 319n31 306, 312, 319, 320n32, 325, 330 312, 319, 320n32, 325, 330, 336

7.625–626 7.626 7.626–627 7.626–628 7.626–630 7.627 7.628 7.628–629 7.628–630 7.629 7.630 7.630–631 7.631 7.632–646 7.643 7.647–727 7.728–872 7.764–767 7.786 7.789–824 8.33–34 8.560–872 8.674–691 9.348–367 9.565–586 9.616–699 10.188 10.462

306, 312, 319, 335 313, 319, 320, 320n32, 325, 330 313, 321 9, 306, 313, 321, 324 10, 306, 311, 313, 320, 331n62, 335 313, 321, 331n62, 333 313, 321, 322 322 9, 306, 313, 322, 324 11, 313, 322, 323, 325, 331n62, 333 313, 322, 328 306, 326, 327, 329n57, 330–332 328, 331 327 308n9 305 305 334 2 129n24 129n24 23 107 263 117 263 321n35 113n110

Andere Werke Griechische Werke Ael. Arist. Pan. 88 227 Aischyl. Pers. 256–259 280–283 Aristot. Phys. 6.9.239b30

poet. 1448b

69n264

329n57 329n57

Cass. Dio 30–35, fr. 109.5 30–35, fr. 109.8 41.19 41.25

126 128 160n4 160n4

252n267

Eur. Hec. 260–263

93

400

stellenverzeichnis

Hik. 684–693 844–856 Phoen. 1335–1355 1425 Hom. h. 3.300–374 Il. 3.33 4.140 4.482 4.521–526 5.1–296 5.65–68 5.87 5.597 7.208 7.213–215 8.394 10.457 11.155 12.108 12.156 12.278–286 12.299 13.178 13.298 13.389 13.650–655 14.465–468 15.586 16.284–785 16.345–350 16.504–505 16.633 17.53 17.61 17.737

308n8 308n8 329n57 329n57

298n138 232n215 174n61 232n218 192n106 21n100 192n106, 315 230n211 232n215 230n208 230n208 231n212 216n162 230n211 231n212 231n212 231n212 230n208 232n218 230n208 232n218 302n148 302n148 232n215 229n204 317 173n55 231n212 232n218 232n218 231n212

20.164 20.403 20.413–418 20.490 21 21.218–220 23 23.175 23.250 Od. 22.329

230n208 232n218 302n148, 316 230n211 128 145n69 113n108, 113n112 113n109 113n109 216n162

Pind. N. 5.52

286n101

Plat. Parm. 156d–157a

252n266

Plut. Anton. 22.5–7 Brut. 28.1 Caes. 16

113n111 113n111 160n4, 199

Soph. Trach. 1058–1061

266

Strab. 5.4.11

126

Theokr. eid. 25.266–271

266

Xenophan. 2.5

286n101

App. civ. 1.88.404 1.93–94 1.93.432 1.94.434

128 126 127 125

Römische Werke Acc. frg. (R2) 323

130

Anth. Lat. 214.15–17

131

401

stellenverzeichnis 1.94.437–438 1.101.471 2.47 Caes. Bell. civ. 1.33.4 1.34–35 1.56–58 2.1–16 2.24–44 Catull. 63.7 63.64 64.358–359 Cic. Att. 4.18.2 5.12.1 Brut. 223 orat. 59 Sest. 35.77

126 125 160n4

160n4 160n4 160 160n4 282n88

129 129 145n69

106n77 188n90 108 109n89 128, 128n14, 130

toga cand. fr. 9 Pucc./15 Crawf. 91 Drac. Orestis tragoediae 727–728

epod. 2.13 10.8 sat. (serm.) 1.5.78–79

100n52 182n79 191

Iust. Epit. 2.9.16–19

199

Iuv. 6.421

271n60

Liv. per. 88 110

91, 109, 126 160n4

Liv. 1.32.6 24.34.10

140n54 241n240

Lucr. 3.403–405 3.408–415 3.651

92, 109n94 111n102 108n85

Mart. 7.67

271n60

Nazarius Pan lat. 4.30.1

132

Nep. Milt. 6.3

228n200

Ov. met. 5.104–106 5.109 5.123–127 5.133 6.556 6.556–557 6.556–560 6.560 7.502

216n162 108n85 192 192 108n86 216n162 116 92 140n54

93

Enn. ann. (Sk.) 222 383–384

109n92 216n162

Flor. 2.9.24 2.12.23

126 160n4

Hor. carm. 2.1.4–5 2.3.9

106n76 128

402 met. (Forts.) 8.390 8.833 9.1–88 9.4–88 9.35–36 9.120–126 9.127–130 9.129–130 11.50–51 12.327 12.330–331 13.561–564 Trist. 4.2 Plaut. Cist. 383 Men. 28 34 Plin. nat. 7.209 35–57 Prud. perist. 10.570 10.880

stellenverzeichnis

142n61 140n52 266, 284n94 293n122 271n60 298n139 167 173n55 216n162 190 192 111n102 186n89

109 225 225

241n240 228n200

93 93

Q. Cic. pet. 10

91

Quint. inst. 10.1.90 11.3.65–136

262 109n89

Sall. epist. 1.4.1 hist. frg. 1.44 1.53 3.35

Sen. benef. 5.16.3 6.22.1 6.22.1 epist. 106.4 Herc. f. 775–776 ira 3.17.3 3.18.1–2 Oed. 955–957 965–970 966–969

126n10, 127 153 132 184n83 140n52 109 91 111n102 111n102 92

Sen. Rhet. contr. 1.4

200

Sen. Thy. 740–743 1038 1038–1039

167 92 108n85

Sen. Tro. 295 298 298–299

113n112 99n47 113n112

Sil.

126 91 113n112 241n240

2.89–147 4.139 4.553 13.743 14.321–322 Stat. silv. 2.2.30 Theb. 1.109 6.848–849

21n100 165n34 142n62 145n69 241n240

191 126 271n60

403

stellenverzeichnis Suet. Iul. 34.2 68.9 Tac. ann. 6.19.3 12.47 hist. 1.49.2

160n4 199, 228

128 106n77 113n111

Val. Max. 3.2.22 9.2.1

199, 200, 228 91, 126, 126n10, 128

Verg. Aen. 1.94–101 1.98–207 1.580 2.557–558

232n217 265 129 107

3.76 5.75 5.806–808 6.33 6.494–497 7.162 8.184–305 8.485 8.500 9.339 9.413 9.433–437 9.691–777 10.390–396 10.395–396 10.432–433 10.485 10.486–487 10.525–592 georg. 1.330

188n90 113n109 145n69 108n85 109n93 128 284n94, 293n122 128 128 129 167n37 128 21n100 198 216n162 142n61 167n37 173n55 229n204 182n79