Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts: Eine grundlegende Untersuchung. Zugleich ein Beitrag zur kantischen Rechtsphilosophie [1 ed.] 9783428547005, 9783428147007

Notstand als Rechtfertigungsgrund setzt weder voraus, dass der von einer zur Notbeseitigung erforderlichen Notstandstat

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Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts: Eine grundlegende Untersuchung. Zugleich ein Beitrag zur kantischen Rechtsphilosophie [1 ed.]
 9783428547005, 9783428147007

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Schriften zum Strafrecht Band 301

Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts Eine grundlegende Untersuchung. Zugleich ein Beitrag zur kantischen Rechtsphilosophie

Von

Gunnar Helmers

Duncker & Humblot · Berlin

GUNNAR HELMERS

Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts

Schriften zum Strafrecht Band 301

Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts Eine grundlegende Untersuchung. Zugleich ein Beitrag zur kantischen Rechtsphilosophie

Von

Gunnar Helmers

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14700-7 (Print) ISBN 978-3-428-54700-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84700-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Ich bedanke mich herzlich bei dem von mir sehr geschätzten Prof. Dr. Michael Köhler für die – seit vielen Jahren währenden – fachlichen Aus­ einandersetzungen, Stellungnahmen und gemeinsamen Gespräche. Ebenso bedanke ich mich bei Prof. Dr. Reinhard Merkel. Der fachliche Austausch mit ihm hat mich, auch soweit es sich dabei teils um kontrover­ se Positionen handelte, wissenschaftlich stets gefordert und weitergebracht. Die mir ermöglichte Mitarbeit an seinem Lehrstuhl stellte zudem den äuße­ ren Rahmen zur Anfertigung dieser Dissertation dar; an diese Zeit denke ich in jeder Hinsicht sehr gern zurück. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern Uschi und Gerd Helmers sowie meinem Sohn Lukas. Rosengarten, im Oktober 2016

Gunnar Helmers

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Problemdarstellung und Formulierung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Status quo und Überblick über den Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . 19 A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung . . . . . 23 I. Unmittelbar-materialer Ansatz (Übergang vom Sein zum Sein-Sollen unmittelbar über begehrte Materie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz nach der Ausarbeitung Imma­nuels Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 III. Zusammenfassung der Ergebnisse (Notstandsrechte nach unmittelbarmaterialem und nach formalem Ansatz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 B. Auflösung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes der Generierung von Sollensbehauptungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes als alleiniger Alternative, v. a. betreffend die sich ergebenden ­Rechtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten . . . . 245 IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen und einiger Notrechtsbegründungen aus der juristischen Literatur . . . 297 V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen . . . . 352 Gesamtzusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Problemdarstellung und Formulierung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Status quo und Überblick über den Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . 19 A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung . . . . . 23 I. Unmittelbar-materialer Ansatz (Übergang vom Sein zum Sein-Sollen unmittelbar über begehrte Materie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Thomas Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Ausgangspunkt (Erkenntnistheorie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Begriff von Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Begriffe von Recht und Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 d) Übergang zum Staat (Notwendigkeit der Staatserrichtung) . . . . 35 e) Rechtsbegrifflich möglicher Inhalt staatlicher Gesetze und Rückbindung des Staates an Ausgangsprinzip bzw. -zweck . . . 37 f) Konsequenz für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten  . 40 g) Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. John Stuart Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 b) Das moralisch Richtige bzw. Falsche (Übergang zu Sollensbehauptungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 c) Mills Folgerungen aus dem „Nützlichkeitsprinzip“ . . . . . . . . . . 50 d) Abgrenzung der Ethik im engeren Sinne vom Recht und möglicher Inhalt staatlicher Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 e) Konsequenz für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten  . 55 f) Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Zusammenfassung (unmittelbar-materialer Ansatz und Konsequenz für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten) . . . . . . . . . . . . . 58 II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz nach der Ausarbeitung Immanuels Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1. Ausgangspunkt (Erkenntnistheorie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Übergang zum (Sein)Sollen (Kategorischer Imperativ / Begriff von Gut und Böse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Abgrenzung der Ethik im engen Sinne vom Recht (Begriff von Recht und Unrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Vorpositive Rechtsinhalte: „Angeborene“ und erworbene Güter . . . 114 a) Ursprüngliche („angeborene“) Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Erworbene Güter (Privatrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 c) Zusammenfassung und Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

6 Inhaltsverzeichnis 5. Übergang zum Staat: Notwendigkeit der Staatserrichtung . . . . . . . 126 6. Rechtsbegrifflich möglicher Inhalt staatlicher Gesetze (Rückbindung des Staates an Ausgangsprinzip bzw. -zweck) . . . . . . . . . . . . 133 7. Konsequenzen betreffend die Möglichkeit und den etwaigen Inhalt von Notstandsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 a) Kants Verneinung bestimmter Güter als einem Notstandszugriff zugänglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Die Bejahung bestimmter Notstandsrechte durch Kant . . . . . . . 142 8. Zusammenfassung (Notrechtskonsequenz des nicht unmittelbarmaterialen Ansatzes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Zusammenfassung der Ergebnisse (Notstandsrechte nach unmittelbarmaterialem und nach formalem Ansatz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 B. Auflösung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes der Generierung von Sollensbehauptungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes als alleiniger Alternative, v. a. betreffend die sich ergebenden Rechtsinhalte . . . 178 1. Der Einwand der Inhaltsleere der kantischen Konzeption, u. a. erhoben von Hegel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Die von Hegel angebotene (vermeintliche) Alternative . . . . . . . . . . 181 a) Hegels Gedankengang in der Interpretation Michael Pawliks (grobe Skizze)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Kritische Betrachtung des hegelschen Denkens . . . . . . . . . . . . . 183 3. Eine das Missverständnis der Inhaltsleere ausschließende Darstellung des bedürfnis- / materieunabhängigen Ansatzes . . . . . . . . . . . . 191 a) Nicht-sinnlich-bedingtes Verhaltensprinzip als Bedingung der Möglichkeit (Denkbarkeit) eines (überhaupt-)richtigen Verhaltens bzw. von „Pflicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Formulierbarkeit eines solchen als Erkenntnisgrund der Wirklichkeit eines allgemeinen Verhaltensmaßstabs (und damit des Sollens überhaupt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 c) Implikation für das Menschenbild bzw. Selbstbild . . . . . . . . . . . 200 d) Verdeutlichung: Zuordnungen von Etwas (Materie) zu Jemandem (immaterielles Subjekt) als Zustehensbeziehungen . . . . . . 207 e) Primäre (ursprüngliche) Zuordnungsmaterie (reale Person überhaupt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 f) Sekundäre Zuordnungsmaterien (sonstige Materie als erwerb­ liche Güter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 g) Möglichkeit kontinuierlicher Durchsetzung der Zustehens­ verhältnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 4. Einordnende Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 a) Zur sogen. „Metaethik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Inhaltsverzeichnis7 b) Neuere Kritik am vorgestellten Ansatz (in Aufnahme von Erkenntnissen der Hirnforschung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten . . . . 245 1. Zum interpersonalen Grundverhältnis: Möglichkeit oder gar Notwendigkeit der Bedingung des Zustehens von Etwas zur Person auf der Person externe Umstände? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 a) Das der Person ursprünglich Zustehende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 b) Erworbene Güter (erst nach willentlichem Akt der Person zustehende Objekte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Weitergehende Notstands-Zugriffsbefugnisse und korrespondierende rechtliche Duldungs- oder gar Handlungspflichten der Bürger aufgrund des notwendigen (ideellen) Staatsbegründungsaktes? . . . 270 a) Bürgerpflichten zur Rechtsdurchsetzung: Zusätzliche Notstandshilfepflichten im Rechtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 aa) Bürgerliche Pflichten im Zusammenhang mit der ­staat­lichen Aufgabe der Gefahrenabwehr, insbesondere ­Inanspruchnahmen von Nicht-Gefahrverantwortlichen (Nichtstörern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 bb) Zur Verdeutlichung / Abgrenzung: Potentielle bürger­ liche Pflichten zu aktiver Partizipation bei der staatlichen Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 (1) Allgemeine Wehrpflicht der Bürger? . . . . . . . . . . . . . . . 283 (2) Bürgerliche Pflichten im Zusammenhang mit der staatlichen Justizgewährungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . 283 (3) Sonstige aktive Mitwirkung der Bürger bei der Staatsverwaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 cc) Weitergehende soziale Gerechtigkeit (und diesbezügliche bürgerliche Pflichten) im Rechtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 3. Zusammenfassung der Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen und einiger Notrechtsbegründungen aus der juristischen Literatur . . . 297 1. Notstandsrechtsbehauptende Normen des positiven deutschen Rechts und deren Auslegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a) Zur näheren Auslegung des § 34 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 aa) Zum Erhaltungsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 bb) Zum Gefahrbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 cc) Zur Eingriffsseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Zu § 228 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c) Zu § 904 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 aa) Rechtmäßige („Aggressiv“-)Notstandszugriffe auch bei Gefahr des Verlustes bloßer Sachgüter? . . . . . . . . . . . . . . . . 322 bb) Zur Wertersatzfolge, § 904 S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 d) Einordnendes Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

8 Inhaltsverzeichnis

V.

2. Notstandsrechtsthesen und -begründungsversuche aus der ­Rechtswissenschaft (Kritik gemäß dem dargelegten Standpunkt) . . 330 a) Zu (Interessen-)Abwägungsargumentationen (am Beispiel der Ausführungen Roxins) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 b) Zur Argumentation mit einem „Solidaritätsprinzip“ . . . . . . . . . . 334 aa) Kristian Kühl und Wilfried Küper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 bb) Reinhard Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 cc) Michael Köhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 dd) Michael Pawlik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen . . . . 352 1. Zur Erhaltungsseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Zur Eingriffsseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 a) Feste Grenze: Keine ohne Willen des Inhabers erfolgende Körperverletzung, keine Nötigung zu aktiven Hilfeleistungen . 356 b) Notstandszugriffe auf erworbene Sachgüter: Konkretisierungen . 358 aa) Zerstörung einer gefahrträchtigen Sache unter § 228 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 bb) Zerstörung einer ggf. wertvollen, ungefährlichen Sache zur Abwendung von Körpergefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 cc) Beschädigung einer fremden Sache nach pflichtwidriger Mitverursachung der Notstandslage (vorangegangene rechtswidrige Provokation eines anderen und actio illicita in causa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 dd) Sonstige notbedingte Gebrauchsanmaßungen und notstandsrechtlicher Sachnutzungserwerb (Verdeutlichungs­ fälle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 c) Zur Rechtfertigung von Ordnungsnormverstößen bzw. Körpergefährdungen (über Sachnutzungserwerb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 d) Zum Verhältnis mehrerer Notbetroffener zueinander . . . . . . . . . 396 e) Rechtsgüter der Allgemeinheit (im eigentlichen Sinne) als potentielle Eingriffsgüter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 3. Anmerkungen zum Begriff eines „Defensivnotstands“ (Zurechnung einer Gefahrentstehung zu einer Person) . . . . . . . . . . . . . . . . 404 a) Zur ersten Konstellation: Auf (begangenem und / oder) drohendem rechtswidrigen Verhalten gründendes Gefahrurteil („präventive Notwehr“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 aa) Insoweit keine „Analogie“ zur Regelung des § 228 BGB . . 405 bb) Vereinbarkeit eines in zeitlicher Hinsicht erweiterten Rechtfertigungsgrundes aus Unrechtsverantwortung mit der Notwehrregelung (§§ 32 StGB, 227 BGB)? . . . . . . . . . . . . . 407 (1) Fehlannahmen von Defensivnotstandskonstellationen aus der Rechtsliteratur bzw. Rechtsprechung („Landstreicher“-Fall, „Haustyrannen“-Fall, „Spanner“-Fall) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

Inhaltsverzeichnis9 (2) Eher diskutable (Defensivnotstands-)Fallkonstellationen („präventive Notwehr“?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 b) Zweite Defensivnotstands-Konstellation: „Zurechnung“ einer Gefahr zu einer Person unabhängig von einer rechtswidrigen Handlung (sogar bei Nicht-Verhalten)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 4. Anmerkung zum Nötigungsnotstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Gesamtzusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Einleitung Das Thema lautet: Gibt eine Notlage eines Menschen diesem die Mög­ lichkeit des legitimen Zugriffs auf ansonsten – ohne diese besondere Not – ausschließlich anderen zustehende Güter? Dasselbe anders ausgedrückt: Ist ein Begriff des „rechtfertigenden Notstands“ als Rechtsbegriff möglich?

I. Problemdarstellung und Formulierung der Aufgabe § 34 StGB enthält eine als Rechtfertigungsgrund eingeordnete Norm, welche lautet: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Ge­ fahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Inter­ essen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“1. Es ist die Frage, ob hinter dieser Norm ein Rechtsprinzip steckt: Weshalb soll es Jemandem in Not erlaubt sein, auf Gegenstände, welche ansonsten ausschließlich jemand anderem zustehen, auch gegen dessen Willen zuzu­ greifen? Eine Folge der fehlenden Einsichtigkeit in ein allgemeingültiges Notstandsrechtsprinzip (wenn nicht dessen Ermangelns) ist etwa eine bloß intuitive oder eher gefühlsmäßige Auslegung der positivrechtlichen Norm (§ 34 StGB) durch Judikatur und Literatur2. 1  § 16 OWiG enthält eine dem § 34 StGB entsprechende Norm für das Ordnungs­ widrigkeitenrecht. Die §§ 904, 228 BGB enthalten Notstandsrechtfertigungen bloß für Zugriffe auf Sachgüter. 2  Beispielsweise nehmen viele eine Notstandsrechtfertigung gem. § 34 StGB (ein „wesentliches Überwiegen“ des „geschützten Interesses“ gegenüber dem beeinträch­ tigten) an, wenn jemand einen anderen unter Vorhaltung einer Waffe mittels Dro­ hung mit Leib- oder Lebensverletzungen nötigt, ihn oder einen verletzten Dritten in ein Krankenhaus zu fahren, wenn sonst kein „milderes Mittel“ zur Rettung ersicht­ lich ist. Hingegen wird die einzig lebensrettende gewaltsame (zwangsweise) Blutent­ nahme von den meisten nicht als gerechtfertigt angesehen, wobei an dieser Stelle die bloß dogmatische Frage, ob es diesbezüglich am „wesentlichen Überwiegen“ i. S. d. § 34 S. 1 StGB bei konkreter Betrachtung fehlt oder ob es sich bei der Tat nicht um ein „angemessenes Mittel“ im Sinne von § 34 S. 2 StGB handelt, unerheb­

12 Einleitung

Die prinzipielle Differenz einer solchen Notstandsregel zum Notwehrrecht ist offensichtlich: Die Notwehrlage ist ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff eines Menschen, also eine Beeinträchtigung bzw. ein Hindernis des Rechts. Die zur Beseitigung dieses Hindernisses erforderliche Handlung gegen den Angreifer ist die Beseitigung des Hindernisses des Rechts und stimmt mit diesem zusammen, ist also selbst Recht. Dieser Zusammenhang des Begriffs von Recht und der Befugnis zu zwingen (Notwehrrecht) ist analytisch (nach dem Satz des Widerspruchs logisch-zwingend)3. Der rechtswidrig Angreifende zieht sich die – aus der Handlungsperspektive objektiv ex ante beurteilt – erforderliche Abwendungshandlung und deren Folgen selbst zu4. Anders ist das bezüglich der sonstigen – gerade in Abgrenzung zur Not­ wehr gemeinten – Notstandstaten: Hier geht es um Zugriffe auf Güter von Personen, die an der Entstehung der Notlage des Zugreifenden völlig un­ beteiligt sind bzw. sein können5. Die als potentielle Rechtfertigungslage vorausgesetzte Notlage (gegenwärtige Gefahr) wird für sich nicht als Un­ rechtszustand vorgestellt: Die Notstandslage kann durch Ereignisse herbei­ geführt werden, deren Eintritt ggf. in keines Menschen Macht stand. Die Notstandslage kann sich – ggf. für jedermann – als Naturzufall6 darstellen, lich ist – das Warum? wäre entscheidend. Das menschliche Leben soll nach Ansicht vieler auf der Eingriffsseite einer „Abwägung“ generell entzogen sein. Allerdings ist dies sehr strittig, wenn von mehreren gefährdeten Menschen einige gerettet wer­ den könnten, während ansonsten voraussichtlich bzw. wahrscheinlich alle sterben müssten. 3  Dies behauptete schon Kant, MdS, RL, §§ D, E und Einleitung TL, X. und man könnte glauben, diese Aussage müsse ganz unabhängig davon Zustimmung finden, welche Vorstellung einer sein-sollenden Wirklichkeit zugrunde gelegt bzw. wie der Begriff „Recht“ formuliert wird. Das ist aber wohl nicht der Fall: Bei Hobbes etwa bleibt unklar, ob er einen prinzipiellen Unterschied einer Notwehrrechtfertigung zu sonstigen Not-Rechtfertigungsannahmen sieht oder nicht, dazu noch unten. 4  Besonderer Begründung bedarf diesbezüglich lediglich die Annahme einer Maß­ beschränkung des dem Grunde nach gegebenen Notwehrrechts trotz vorliegender Erforderlichkeit der Abwendungshandlung (oft rechtsbegrifflich unzureichend als „sozialethische Einschränkung“ betrachtet und bezeichnet, vgl. Fn. 600). 5  Selbstverständlich begründet auch der rechtswidrige Angriff (die Notwehrlage) einen Notzustand (Notstand) für den Angegriffenen. Die Rechtmäßigkeit der gegen den Angreifer gerichteten erforderlichen Abwendungshandlung resultiert aber hier (bei diesem besonderen Notstand der Notwehrlage) aus dem in der Notwehrlage implizierten Unrecht. 6  Mit „Naturzufall“ ist hier nicht gemeint, dass der für das Wohl eines oder eini­ ger Menschen empirisch-bedrohlichen Situation (deren Dasein deshalb als „Gefahr“ beurteilt und bezeichnet wird) kein Ereignis bzw. keine Ereigniskette als ihre Ursa­ che nach Naturgesetzen notwendig vorausginge: Das Zustandekommen der (Not-) Situation wäre theoretisch in den einzelnen Stadien zu bestimmen bzw. zu beschrei­ ben. Gemeint ist die Unmöglichkeit, die Situation, welche als „Gefahr“ für einen



I. Problemdarstellung und Formulierung der Aufgabe13

der für den dadurch Gefährdeten ein Unglück oder Pech ist. Ob ein allge­ meines Rechtsprinzip formulierbar ist, nach welchem dieser Zufall auf an­ dere Menschen – die für die Notentstehung eben nicht verantwortlich sind – auch gegen deren faktischen Willen (notfalls zwangsweise) durch menschliches Verhalten umgelagert bzw. abgewälzt werden kann, ist die Frage nach einem Notstandsrecht7. Oder anders formuliert: Kann eine für den unmittelbar Betroffenen zufällige Notlage eine hinreichende Bedingung des rechtlichen Zugriffs dieses Menschen auf ansonsten anderen Menschen zustehende Güter sein, wenn die Notlage für den unmittelbar Betroffenen anders nicht abwendbar ist und obwohl die Not(lagen)entstehung auch aus der Perspektive der dann von der Notstandstat betroffenen (anderen) Men­ schen zufällig ist. In den letzten Jahrhunderten sind viele Texte zur Beantwortung dieser Frage geschrieben worden. Meistens wird mehr oder weniger deutlich ver­ sucht, Notstandsrechtfertigungen – also besondere Zugriffsbefugnisse von Notleidenden und diesen korrespondierende Duldungs- oder gar Hilfspflich­ ten anderer – entweder aus einem gesamtgesellschaftlichen Nützlichkeits­ prinzip oder aber aus einem (vermeintlichen) „Solidaritäts“-Rechtsprinzip Menschen beurteilt wird, sinnvoll als durch diesen oder einen anderen Menschen in rechtswidriger Weise gesetzt oder sonst zurechungsbegründend geschaffen anzuse­ hen. „Naturzufall“ heißt hier also nicht etwa, dass der Natur etwas zufiele, was nicht Element des Inbegriffs ihrer Gegenstände wäre und auch nicht, dass das Wort „Zu­ fall“ innerhalb einer bloßen Naturerklärungsperspektive überhaupt einen Sinn hätte (denn man kann annehmen, dass dasjenige der Natur, was uns zufällig erschien oder erscheint, weil dessen wirkliche Ursache nicht nach besonderen Naturgesetzen be­ stimmt werden konnte, ein eben konkret noch unverstandener Erscheinungszusam­ menhang war bzw. ist), sondern: Dem Menschen fällt etwas aus der Natur (als In­ begriff möglicher Erscheinungen) zu. Hierbei wird der Mensch also auch in einer anderen Hinsicht (nicht nur als Phänomen der Natur) oder zumindest als besonderes Phänomen der Natur betrachtet. Diese Prämisse setzt derjenige, der sich eine Ab­ grenzung von menschlichen Werken und gänzlich äußeren Naturabläufen auch nur dunkel vorstellen kann, notwendig. Und man kann diese Prämisse bei jedem Leser normativer Texte auch voraussetzen, weil dieser selbst Mensch ist und weil jede auf Überzeugung anderer gerichtete normative Argumentation oder überhaupt nur ein Interesse daran die Setzung dieser Prämisse voraussetzt oder impliziert (dazu genau­ er dann unten). 7  Und diese Frage ist primär zu beantworten, bevor ein etwaiger Übergangsbe­ reich vom Notstand zur Notwehr begrifflich erfasst werden kann: Für diesen Über­ gang stellt sich die Frage, ob nach einem Begriff des „Defensivnotstands“ mensch­ liches, nicht-rechtswidriges Verhalten sinnvoll als unzulässige Gefahrsetzung für andere bzw. ob der Mensch sonstwie als zuständig für das Tragen der Gefahrabwen­ dungsrisiken beurteilt werden kann (wegen der Herkunft der Gefahr aus seiner Sphäre; dazu B.V.3.). Beides kommt hingegen dann nicht in Betracht, wenn keiner­ lei besondere personale Zuständigkeit des von einem Abwendungshandeln Betroffe­ nen für die Gefahrenlage oder (falls dies trennbar ist) zumindest für das Tragen der Abwendungsrisiken vorliegt.

14 Einleitung

abzuleiten. Dabei ist der inhaltliche Unterschied dieser Begründungsversu­ che entgegen dem verbalen Anschein letztlich jedoch nicht genau anzuge­ ben8. Eine umfangreiche, viele vorherige Versuche einbeziehende Arbeit stammt von Michael Pawlik aus dem Jahre 2002. Pawlik stellt einleitend die „prinzipielle Brisanz“ eines Notstandsrechts heraus, wobei er andere Autoren zitiert: „Die Charakterisierung des Notrechts gehört zu den wich­ tigsten Teilen der Rechtsphilosophie, denn sie rührt an den Grundlagen unserer ganzen Rechtsordnung“ (Kohler, 1914); die Frage der Notstandsbe­ stimmung sei „nahe verwandt … mit der Frage nach dem Wesen des Rechts überhaupt“ (Westerkamp, 1918)9. Beide zitierten Aussagen über die Grundsätzlichkeit des Themas, die für sich keine Aussage über Möglichkeit und etwaigen Inhalt eines Notstands­ rechts treffen, sind unbestreitbar wahr (von Freier spricht diesbezüglich von einer „Binsenweisheit“10). Pawliks Bemühen in seinem umfangreichen Werk 8  So meinen manche, hinter § 34 StGB stecke ein utilitaristisches Prinzip und die Pflichten des von der Notstandstat Betroffenen beruhten auf seiner Solidarität als Bür­ ger bzw. seien rechtlich-geschuldete Solidarität, so etwa Hruschka, FS-Dreher, S. 209; Eue, JZ 1990, 767. Pawlik hingegen hält dies für unvereinbar, da „solidarisch“ nur jemand handeln könne, der Bürger sei und in der Durchführung des solidarischen Akts auch Bürger bleibe, was nicht mit einer Pflicht des Inhalts zusammenstimme, sich „zum bloßen Rechnungsposten innerhalb eines utilitaristischen Gesamtkalküls degradieren zu lassen“, Pawlik, Notstand, S. 49–50, Fn. 115. Vordergründig betrachtet scheint Pawlik mit dieser Behauptung richtig zu liegen: „Ich degradiere dich“ scheint notwendig etwas anderes zu bedeuten als „Ich erkenne dich an“. Jedoch enthält jede kollektivistisch-utilitaristische Konzeption auf irgendeine Weise eine Festlegung und Unterordnung jedes einzelnen Menschen auf eine – gegebenenfalls auch äußerlich zwangsweise durchsetzbare – „Gemeinwohlförderung“ (was immer darunter auch genau zu verstehen sei). Und ob diese nun als „Solidaritätspflicht“ benannt wird oder nicht, ändert am Inhalt des Gedankengangs nichts. Ein Vertreter einer kollektivistischutilitaristischen Konzeption hätte mit einer solchen Benennung nicht einmal sprach­ liche Schwierigkeiten, da er sich bei seiner Behauptung der Festgelegtheit des Einzel­ nen auf Gemeinwohlförderung bzw. dessen Unterworfenheit unter das Gemeinwohl selbst nicht als „Degradierer“ versteht. Und auch umgekehrt muss derjenige, der „Solidaritäts-Rechtspflichten“ – deren Nichterfüllung mit Zwang entgegengewirkt werden kann – bejaht, erklären, wie dies möglich sein soll, sofern nicht eine konse­ quentalistisch-kollektivistische Position zugrunde liegt. Denn eine gewisse, wenn auch auf den Notfall bedingte Verfügbarkeit des einen Menschen bzw. die Zuordnung seines Güterbestands zur Gesellschaft (zum Gemeinwesen) oder zum Staat als sol­ chem oder zumindest zu einem ggf. ganz fremden, notleidenden anderen Menschen behauptet dieser jedenfalls auch. Die bloße Behauptung, es handele sich bei „Solida­ ritätspflichten“ (etwa Hilfspflichten) als Rechtspflichten eben um solche des aner­ kannten bzw. anzuerkennenden Bürgers, enthält der Sache nach jedenfalls keine prinzipielle Differenz zu einem utilitaristischen Gedankengang. 9  Pawlik, Notstand, S. 3, unter Bezug auf Kohler, Archiv Rechts- und Wirt­ schaftsphilosophie (1914 / 1915), 411 und Westerkamp, Notstandsrecht, S. 106. 10  von Freier, Humanforschung, S. 154.



I. Problemdarstellung und Formulierung der Aufgabe15

ist es, die Fragen zu klären, „unter welchen Voraussetzungen die Not des einen eine Rechtspflicht des anderen generieren könne“ und „ob es prinzi­ piell möglich ist, das Institut des rechtfertigenden Notstandes ohne axiolo­ gische Verwerfungen in das gegenwärtige geltende Strafrecht einzuordnen“11. Er pflichtet Küper in dessen Behauptung bei, über dem „Grundgedanken“ des rechtfertigenden Notstandes liege nach wie vor „der Schleier einer ei­ gentümlichen Unbestimmtheit, die sich an der rhetorischen Unverbindlich­ keit vieler Äußerungen“ zeige12. Wäre es Pawlik mit seinem nach der Rechtsphilosophie Hegels gestrick­ ten Werk gelungen, diesen Schleier vollständig zu heben, dann hätte es einer weiteren Arbeit zum Thema des rechtfertigenden Notstands nicht bedurft. Jedoch löst Pawliks Arbeit, auch wenn sie interessant und in mancher Hin­ sicht weiterführend ist, den selbstformulierten Anspruch einer „logischen“ und „axiologischen Widerspruchsfreiheit“, nach welchem „nicht anders als die Philosophie … auch die Strafrechtswissenschaft das, was sie als Prob­ lem begreift, als Einheit denken“ müsse13, nicht ein. Dass es bei der Frage nach der Möglichkeit eines Begriffs des rechtfertigenden Notstandes nicht, wie Pawliks Ausführungen nahe legen, um eine speziell-strafrechtliche Frage geht, wird wohl auch von Pawlik nicht bezweifelt, sodass dieser sich insoweit lediglich ungenau ausdrückt14. Erstaunlicherweise aber unterläuft Pawlik unmittelbar nach der Darlegung dieses Anspruchs ein gedanklicher Fehler: Er schreibt, die „Frage nach der Einheit von prima facie gegenläu­ figen Wertungsprinzipien kann allein derjenige angemessen behandeln, der eine Position einnimmt, die sämtlichen Einzelgesichtspunkten gegenüber systematisch übergeordnet ist“. „Zu Recht“ sei „mit Blick auf den rechtfer­ tigenden Notstand“ bemerkt worden, „gegen die Zulassung von Ausnahmen“ sei der Hinweis auf die Regel nicht triftig, denn diese werde mit der Zulas­ sung von Ausnahmen anerkannt. „Die Bedeutung der Regel wird respektiert; ihre Durchbrechung ist durch den Notfall legitimiert“15.

11  Pawlik,

Notstand, S. 5. ZStW 106 (1994), 829. 13  Pawlik zitiert hier (S. 6) Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 60. 14  Für die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten rechtswidrig ist oder nicht, ist lediglich ein gültiges und wahres bejahendes oder verneinendes recht­ liches Urteil erforderlich und nicht auch die Feststellung einer besonderen Unrechts­ qualität – schweres Unrecht bzw. Strafunrecht – im bejahenden Urteil. 15  Pawlik, Notstand, S. 6 unter Bezug auf Keller, Provokation, S. 289 sowie Meißner, Interessenabwägungsformel, S. 179. Ebensolche Gedanken auch bei Günther, FS-Amelung, S. 149: Es könne eine „Pflicht zur Aufopferung eigener Rechts­ güter … bei einem Aggressivnotstand allenfalls ausnahmsweise in Betracht kom­ men“. 12  Küper,

16 Einleitung

Es fällt schwer, eine wenigstens widerspruchslose Erklärung des Inhalts des Sprichworts „Ausnahmen bestätigen die Regel“ zu geben, welches Paw­ lik hier affirmierend verwendet. Denn: Ein Fall bestimmt sich stets nach ei­ ner Regel bzw. einem Begriff. Wenn eine ethische oder rechtliche Regel bzw. ein Begriff für einen Fall eine Bestimmung liefert, dann ist es nicht nur un­ begründet sondern inkonsistent, dem Fall „ausnahmsweise“ eine andere Be­ stimmung zu geben. Gänzlich absurd wäre es, die durch den Begriff gegebe­ ne Bestimmung in ihr Gegenteil zu verkehren und auch noch anzunehmen, dies bestätige nun die Regeln bzw. den zu Grunde gelegten Begriff. Um den Fehler in Pawliks Aussage, in der Zulassung von „Ausnahmen“ von einer Rechtsregel liege deren Anerkennung, zu erkennen, braucht nicht abschließend beurteilt zu werden, ob dem umgangssprachlichen Sprichwort für eine Verwendung in irgendeinem Kontext ein vernünftiger Sinn gegeben werden könnte, denn im Kontext des Rechts jedenfalls gilt: Wer eine „Ausnahme“ von einem rechtlichen Verhaltensgesetz – welches stets auch in Gebots- oder Verbotsformulierung vorgestellt werden kann – zulässt oder macht, der missachtet das Gesetz bzw. verstößt dagegen; das als „Ausnahme“ Bezeichnete wird notwendig mit der Annahme des Daseins des Rechtsgesetzes als etwas Nicht-Sein-Sollendes bestimmt. Und nur sofern diese Bestimmung der „Ausnahme“ als Nichtseinsollen bewusst ist, liegt bloß in diesem Bewusstsein eine gewisse Anerkennung bzw. subjektive Bestätigung der Rechtsregel. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Jemand hat betrogen und antwortet auf den Hinweis eines anderen, dass man nicht betrügen solle, „Ausnahmen bestätigen die Regel“. Dies wäre eine widersinnige Aussage, da die Beur­ teilung der Regelabweichung („Ausnahme“) als richtig die Richtigkeit der Verhaltensregel notwendig verneint. Wenn derjenige, der betrogen hat, diese Tat für sich hingegen als nicht-seinsollende „Ausnahme“ („Man tut dies nicht und es kommt nicht wieder vor“) einordnete, wäre mit einer solchen Einordnung als Nicht-Sein-Sollen der Tat und auch nur unter dieser Voraus­ setzung die Regel „Betrug ist rechtswidrig“ bzw. „Du sollst nicht betrügen“ immerhin in seiner Gesinnung anerkannt16. Wenn durch Rechtsgesetze die Unterscheidung von einerseits rechtlichunmöglichen (unrechtmäßigen, rechtlich-nicht-seinsollenden) und anderer­ 16  Und das Fehlverhalten kann ein schlechtes Gewissen auch als Phänomen zur Folge haben. Die Verwendung des o. g. Sprichwortes in Bezug auf Rechtsgesetzesoder Ethikverstöße könnte höchstens ein – eben absurder – Scherz sein. Der Umfang bzw. die Reichweite der „Ausnahme“, die ein Strafunrechtstäter vom Rechtsgesetz in seiner konkreten Verhaltensmaxime für sich selbst (subjektiv) zulässt, bestimmt entscheidend das Schuldmaß; dazu in Bezug auf das Tötungsverbot bzw. Totschlags­ unrecht Helmers, HRRS 2 / 2016, S. 90 ff.



I. Problemdarstellung und Formulierung der Aufgabe17

seits rechtlich-möglichen (rechtlich-erlaubten) Verhaltensweisen stattfindet (Recht und Unrecht bestimmt abgegrenzt wird)17, dann ist etwas als „Aus­ nahme“ von einer Rechtsregel Bezeichnetes nur konform mit der Rechts­ regel, wenn es zugleich als etwas Nicht-Sein-Sollendes bestimmt ist. Dies kann nicht ohne Selbstwiderspruch bestritten werden18. Wenn im rechtlichen Bereich von „Ausnahmen“ von Rechtsgesetzen gesprochen wird und mit dem damit gemeinten Verhalten nicht auch ein Nicht-Sein-Sollen gemeint ist, dann liegt entweder ein Denkfehler zu Grunde oder es handelt sich um eine Fehlbezeichnung für das Gemeinte. Sofern ein logischer Feh­ ler insoweit vermieden werden soll, kann das Bemühen nur dahin gehen, prinzipielle Bedingungen von Ge- oder Verboten zu fassen. Es kann der Sache nach nichts anderes angestrebt werden als bloß die allgemeingültige konkrete Gesetzesformulierung (und also gerade keine „Ausnahme“): Rechtfertigungsgründe sind prinzipielle Verbotsbedingungen und damit als allgemeingültige Erlaubnissätze notwendige Bestandteile der Formulie­ rung allgemeingültiger (rechtlicher) Verhaltensgesetze. Beispielsweise wäre es falsch, etwa den Satz „Einen Menschen zu töten ist rechtswidrig“ bzw. „Es ist verboten, einen Menschen zu töten“ für ein vollständig-formuliertes Rechtsgesetz zu halten. Diese normative Allgemeinaussage ist nämlich – in genannter Abstraktheit – unwahr. Insofern ist das Notwehrrecht nicht etwa eine „Ausnahme“ von einem Rechtsgesetz, sondern das Rechtsgesetz lautet: „Es ist rechtswidrig, einen Menschen zu töten, es sei denn, dieser zieht sich die Tötung selbst zu, weil sie das erforderliche Mittel der Verteidigung gegen seinen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ist“. Sollte es rechtlich weitere Bedingungen des Tötungsverbots geben, so wären diese hier aufzu­ 17  Durch die Unterscheidung des rechtswidrigen (rechtlich-unmöglichen) vom rechtlich-erlaubten Verhalten ist über die ethische Qualität des letzteren bis auf das Nicht-Rechtswidrig-Sein nichts ausgesagt. Die genaue Abgrenzung der Ethik vom Recht ist an dieser Stelle noch nicht relevant. Für ethische Regeln gilt in logischer Hinsicht aber unabhängig von dem Umstand, dass die durch sie vorgestellten Pflich­ ten von weiterer Verbindlichkeit sind, dasselbe (vgl. dazu Fn. 171). Ebenfalls irrele­ vant ist hier – da allgemein von menschlichem Verhalten (sei es aktives Tun oder Unterlassen) gesprochen wird – ob man sich die Unterscheidung des rechtswidrigen vom rechtlich-erlaubten Verhalten und die Befolgungsnotwendigkeit des Rechts durch Rechtsgesetzesinhalte in Verbots- oder Gebotsformulierungen vorstellt (wenn ein Verhalten rechtlich-unmöglich und somit verboten ist, ist es rechtlich geboten, dieses Verhalten zu unterlassen bzw. sollte ein aktives Verhalten rechtlich geboten sein, ist das Unterlassen dessen rechtlich-unmöglich und somit verboten). 18  Und der Satz der Identität und von der Vermeidung des Widerspruchs ist unbedingtes Wahrheitskriterium aller Aussagen überhaupt, welches als solches eben­ falls nicht bestritten werden kann (weil man sonst denkt, nicht zu denken, was sich selbst widerlegt). Auch in jeder „mehrwertigen Logik“ ist ein Widerspruch unbe­ dingt zu vermeiden (sonst liegt ein Fehler vor).

18 Einleitung

nehmen, um ein allgemeingültiges und somit wahres Rechtsgesetz betref­ fend die Tötung eines Menschen zu formulieren. Es handelt sich hier nicht etwa um einen bloßen Streit um Worte bzw. Kleinkrämerei betreffend nur die Benennung eines Gedankengangs. Denn: Letztlich muss, wenn es sich beim Recht überhaupt um etwas Verbindliches handeln und ein (widerspruchsloses) System von Rechtssätzen möglich sein soll, jedes einzelne Rechtsgesetz aus bloß einem Prinzip der Generierung gültiger normativer Aussagen überhaupt entwickelt werden können. Insofern sind eine Verbotsformulierung und die prinzipielle Bedingung des Verbotes, die dieses erst zu einem allgemeingültigen Rechtsgesetz macht, nicht zwei getrennt voneinander entwickelbare Teile, die dann erst zusammenfügt wür­ den. Der Grund eines Verbots enthält vielmehr zugleich mit seinem Inhalt die Bedingung bzw. Grenze dieses Verbots; das Rechtsgesetz – etwa in Formulierung eines Verbots mit prinzipieller Bedingung – entspringt einem Prinzip (näher dazu B.II.3. und B.III.1.). Man kann also nicht zuerst ein Rechtsgesetz formulieren und dann – aus einem anderen Grund als demje­ nigen, aus welchem man zur Formulierung des (eben bloß vermeintlichen) Rechtsgesetzes gekommen ist – noch einige „Ausnahmen“ hinzutun. Wenn Pawlik sich hingegen vorbehält, durch Ausnahmenmachen die Be­ mühung und eigentliche Aufgabe – die allgemeingültige Formulierung rechtlicher Gesetze – zu umgehen, dann legt dies einen gewissen Mangel an gedanklicher Konsequenz offen (der auch die Rechtsphilosophie Hegels durchzieht, die Pawlik seinem Konzept zu Grunde legt). Letztlich verhin­ dert dies eine rechtsbegrifflich-haltbare und vollständige Antwort Pawliks auf die Frage nach Möglichkeit und etwaigem Inhalt eines Notstandsrechts. Diese Kritik wird verdeutlicht werden (dazu unten B.II.2. und B.IV.2.b) dd)). An dieser Stelle bleibt festzuhalten: Wenn es ein Notstandsrecht geben könnte, dann müsste dieses als allge­ meingültiger Erlaubnissatz im Sinne eines notwendigen Elements gültiger Rechtsgesetze bzw. als eine prinzipielle Bedingung von Verboten formulier­ bar sein, sodass das jeweilige Verbot ohne diese Bedingung letztlich zu abstrakt und nicht allgemeingültig formuliert wäre. Es ist zu prüfen, ob dies möglich ist. Eine „Ausnahme“ vom Recht hat im Recht jedenfalls nichts verloren19. 19  Der Sinn des von Küper, Nötigungsnotstand, S. 121 und in JZ, 2004, 105 auf­ gestellten und von Pawlik übernommenen (S. 143) Satzes: „Der rechtfertigende Notstand ist … eine begrenzte Ausnahme des Rechts von sich selbst“ kann mit konsequentem Denken nicht ergründet werden. Denn die Frage, wie man oder etwas eine „Ausnahme“ von sich selbst macht oder ist, kann wohl ohne Verstoß schon gegen die Grundsätze der formalen Logik nicht weiter verfolgt werden.



II. Status quo und Überblick über den Aufbau der Arbeit19

II. Status quo und Überblick über den Aufbau der Arbeit Ein Rechtfertigungsgrund des Notstandes wird in nahezu allen wissen­ schaftlichen Texten über dieses Thema als prinzipiell-problematisch betrach­ tet. Im Jahr 1968, bevor der § 34 StGB ins Strafgesetzbuch eingefügt wurde (1975), wandte Gallas sich gegen eine „Legalisierung des bisher übergesetzlich begründeten Notstands“. Er schlug anstelle einer positiven Norm mit „unvermeidlich vagem Inhalt“, die für den Richter eine nicht zu unterschätzende Versuchung darstelle, bei der „Beurteilung von Notstands­ fällen vermeintlich sozial gebotene Entscheidungen auf Kosten des Frei­ heitsspielraums des Verletzten und der Autorität der Rechtsordnung zu treffen“, einen vollständigen Verzicht auf über die §§ 228, 904 BGB hinaus­ gehende Notstandsregelungen vor. Man solle es für Notstandsfälle bei einem „case-law“ belassen. Über Sacheingriffe hinaus könnten nur geringfügige Eingriffe in Körperintegrität und Freiheit hingenommen werden20. Lenckner hingegen hegte hinsichtlich einer solchen Vorgehensweise verfassungsrecht­ liche Bedenken, da es einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, sofern der Zugriff auf ansonsten anderen zustehende Güter als gerechtfertigt betrachtet werden solle21. In diesen Äußerungen zeigt sich einerseits der Zweifel an einer allge­ meingültigen Formulierbarkeit einer Notstandsrechtsregel (als Rechtferti­ gungsgrund) und andererseits die angenommene Notwendigkeit einer sol­ chen gesetzlichen Formulierung, wenn denn eine Notstandsrechtfertigung überhaupt möglich sein soll. Worin genau liegt die begriffliche Schwierigkeit, welche die Möglichkeit einer allgemeingültigen Formulierung eines Erlaubnisprinzips „Notstand“ zweifelhaft erscheinen lässt? Diese Schwierigkeit hat ihren Ausgangspunkt in der Grundlage des nor­ mativen Urteilens überhaupt; sie fällt – wie dargestellt werden wird – letzt­ lich mit der Rechtsbegründungsfrage zusammen. Wer die Frage beantworten will, ob „die Not des einen eine Rechts­ pflicht des anderen generieren könne“22, muss eine Vorstellung davon ha­ ben, wie überhaupt Rechtspflichten generiert werden können: Es wird ein Begriff erfordert, der es ermöglicht, von Recht und Pflicht sinnvoll zu sprechen. 20  Gallas, ZStW 80, 1(24): Es könne „ein Rechtszwang zur Solidarität“ nur inso­ weit verlangt werden, wie ein solcher mit dem „Anspruch auf Selbstbestimmung und Respektierung“ der Person des Betroffenen „noch vereinbar erscheint“. 21  Lenckner, Notstand, 204. 22  Pawlik, Notstand, S. 5.

20 Einleitung

Die Frage „Was ist Recht?“ beschäftigt die praktische Philosophie seit langem und hat verschiedene Versuche der Beantwortung hervorgebracht. Unmöglich kann auf alle diese Versuche einzeln eingegangen werden, was zur Lösung des Notstandsproblems jedoch auch nicht erforderlich ist. Vielmehr werden in einem ersten Teil (A.) vertretene normative (Rechts-) Konzepte nach demjenigen Kriterium, welches die prinzipielle Differenz in den Ansätzen ausmacht, also nach nur zwei prinzipiell-unterschiedlichen Ansätzen eingeteilt. Unter einen dieser beiden Ansätze muss sich jedes Rechtskonzept letztlich ordnen lassen. Wie sich zeigen wird ist gerade im Hinblick auf Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts die prinzipielle Differenz dieser Ansätze besonders deutlich, eben weil es sich beim Not­ standsproblem bloß um einen Ausdruck des Grundproblems handelt und aus der Auflösung des einen die Lösung des anderen resultiert. Weshalb ist eine solche Einteilung normativen Denkens nach nur zwei faktischen Ansatzmöglichkeiten vollständig und nicht bloß eine subjektive Eingrenzung? Der Grund der Möglichkeit einer solchen Einteilung normativer Konzep­ te liegt in Folgendem: Zur Aufstellung eines ethischen oder rechtlichen Ver- bzw. Gebots ist notwendig eine Sollensbehauptung zu treffen. Es ist begrifflich ein Übergang vom Sein zum (Sein-)Sollen zu vollziehen. Mit Übergang vom Sein zum (Sein-)Sollen ist nichts hier Erklärungsbedürftiges gemeint, sondern bloß jeweils diejenige Stelle in normativen Konzepten, an der die Worte „Pflicht“, „Recht“ bzw. das Wort „Sollen“ oder Worte, die auf diese Bezug nehmen oder sie implizieren, eingeführt werden23. Und bei der Konstitution von verbindlich gemeinten Sollenssätzen im Sinne von Pflicht­ behauptungen sind dem menschlichen Erkenntnisvermögen nicht viele prinzipiell-verschiedene Möglichkeiten gegeben. Wenn in normativen Konzepten primär auf die Weise geachtet wird, wie bzw. nach welchem Prinzip oder Kriterium dieser Übergang jeweils erfolgt (dass er überhaupt erfolgt ist zwingend, ansonsten handelt es sich nicht um normative Konzepte mit Verbindlichkeitsanspruch), dann ist festzustellen, dass sich jedes Konzept einem der beiden im Folgenden genannten Ansätze zuordnen lässt bzw. zuordnen lassen muss. Ein Drittes bzw. Sonstiges ist ausgeschlossen; eine etwaige Schwierigkeit der Zuordnenbarkeit eines nor­ 23  Obwohl dieser Übergang von Seinsaussagen zu Sollensbehauptungen in vielen normativen Konzepten sozusagen eher nebenbei erfolgt, sind diese Stellen oft die interessantesten Stellen (so auch Hume, Menschliche Natur, Buch III, 1. Teil, 1. Ab­ schnitt): Unter welchen Bedingungen meint der jeweilige Autor von „Pflicht“ spre­ chen bzw. schreiben zu können? Davon hängt – so banal wie wahr – alles weitere ab.



II. Status quo und Überblick über den Aufbau der Arbeit21

mativen Konzepts zu einem dieser Ansätze dürfte insofern aus einer Un­ übersichtlichkeit oder internen Verworrenheit des Konzepts resultieren. Jeder der beiden darzustellenden Ansätze der Moral- und Rechtsbegrün­ dung betrachtet sich als ausschließlich und also den jeweils anderen entweder als falsch oder als auf den eigenen zurückführbar. Dies kann auch nicht an­ ders sein, da die Frage „Was ist Recht?“ die Frage danach ist, wie ein Urteil „Jemand hat ein Recht auf x (eine Befugnis des Gebrauchs von x), womit andere die Rechtspflicht haben, ihm x als seines zu lassen“ ausgehend vom menschlichen Erkenntnisvermögen gefällt werden soll. Und die Frage, wie der Mensch sich ein solches Urteil bilden soll, fällt zusammen mit der Frage, wie der Mensch überhaupt gültig und wahr moralisch bzw. rechtlich urteilen kann. Insofern kann letztlich auch nicht gültig von zwei sich widersprechen­ den Grundpositionen ausgegangen werden; es handelt sich vielmehr um zwei Versuche der Darlegung des Ausgangspunktes von Ethik und Recht, von de­ nen mindestens einer objektiv fehlgeschlagen sein muss24. Die größte Schwierigkeit und Leistung einer rechtswissenschaftlichen Arbeit – wenn diese nicht nur empirisch sein und also bloß darlegen soll, was andere zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unter dem Wort „Recht“ bezüglich eines bestimmten Themas verstanden haben – ist es, die in den aufgestellten Sollensbehauptungen implizierte Notwendigkeit ihres Inhaltes auszuweisen, ohne welches es sich um eine bloße Meinungs­ äußerung handelte (sich Beliebiges auszudenken wäre hingegen ebenso einfach wie müßig). Zur Verdeutlichung der beiden unterschiedlichen Ansätze der Generierung normativer Urteile ebenso wie zur Verdeutlichung der Abhängigkeit der Antwort auf die Notstandsrechtsfrage von der Stellungnahme zur Rechtsbe­ gründungsfrage überhaupt werden im Folgenden einige Konzepte prakti­ schen Handels einschließlich deren jeweiliger Konsequenz für die Möglichkeit und den etwaigen Inhalt eines Notstandsrechts dargestellt (A.). Dadurch soll der Inhalt der zitierten Aussagen, die Frage nach einem Notstandsrecht und deren Antwort betreffe „die Grundlage der gesamten Rechtsordnung“ bzw. „das Wesen des Rechts“ plastisch werden: 24  Diese schlichte – logisch zwingende – Feststellung findet sich schon bei Kant in Bezug auf die Philosophie überhaupt: „Es klingt arrogant, selbstsüchtig und … verkleinerlich, dass vor dem Entstehen der kritischen Philosophie es noch gar keine gegeben habe … aber da es doch, objektiv betrachtet, nur eine Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophien geben, d. i. es ist nur ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch … philosophiert haben mag …“ (MdS, Vorrede, S. 207). Zur Kritik an Positionen, die diese logische Konsequenz anscheinend bestreiten (wohl die neuere, vermeint­ liche Disziplin der sogen. „Metaethik“) siehe noch unten, B.II.4.a).

22 Einleitung

Von der Weise, wie der Übergang von Seinsaussagen zu (Sein-)Sollens­ behauptungen faktisch vollzogen wird25, hängt direkt ab, ob und in welchem Umfang eine äußere physische Situationsveränderung, die zum Notstand des einen führt, für andere ein besonderes – ggf. auch gegen deren Willen durchsetzbares (rechtliches) – Sollen (eine Rechtspflicht) auslösen kann. In einem weiteren Teil erfolgt eine Stellungnahme zur Frage des Über­ gangs vom Sein zum (Sein-)Sollen sowie eine Verdeutlichung v. a. betref­ fend die zu entwickelnden Rechtsinhalte (B.I. und II.)26. Daraus resultiert die Antwort auf die Frage nach einem Notstandsrecht (B.III.). Von dem dann dargelegten Standpunkt ist eine kritische Auseinan­ dersetzung mit Notstandsregeln des geschriebenen Rechts sowie einiger diesbezüglicher Arbeiten zu Notrechtsgrund und -umfang aus der (Straf-) Rechtswissenschaft möglich (unter B.IV.). Hierbei wird auch auf die er­ wähnte Arbeit Pawliks einzugehen sein, welche die Rechtsphilosophie He­ gels in Bezug nimmt und den Anspruch hat, den Gegensatz der prinzipiellverschiedenen Weisen der Generierung normativer Aussagen mitsamt deren jeweiligen Konsequenzen für Möglichkeit und etwaigen Inhalt von Not­ standsrechten aufzuheben. Sofern Pawliks bzw. Hegels Ansatz nicht ohne Weiteres einem der beiden unterschiedlichen Ansätze zuzuordnen zu sein scheint, resultiert diese Schwierigkeit gerade aus einer gewissen Diffusität in der Grundlage, die sich auch in Pawliks Ausführungen zum Notstands­ recht zeigt. Der abschließende Teil (B.V.) bemüht sich um Konkretisierungen des dann dargelegten Notstandsrechtsbegriffs im Rahmen von Einzelfallbeurtei­ lungen.

25  Hier ist nicht gemeint: Wie dieser Übergang vollzogen werden soll, sodass er wirklich gelingt. 26  Eine Stellungnahme zu dieser Frage kann allerdings weder von mir, noch von irgendjemandem, der eine solche Stellungnahme abgibt, als bloß subjektive (letztlich beliebige) Alternativenwahl für das eine von beiden betrachtet werden, da die Aner­ kennung einer Position als gültiger Grundposition gerade als Einsicht in die Notwendigkeit dieses Denkens muss ausgegeben werden können und insofern letztlich alternativlos dasteht: Ansonsten enthielte die Stellungnahme – die stets eine Äuße­ rung des Inhalts „Ich stimme folgender Grundaussage zu, welche mit Notwendigkeit auftritt“ ist – eine unwahre Aussage.

A. Unterschiedliche Versuche der Moralund Rechtsbegriffsbildung Weil in allen ethischen oder rechtlichen Konzeptionen der jeweilige Autor vorstellt, wie Menschen sich verhalten sollen, geht es darin nicht bloß um die Beschreibung und Erklärung von etwas Vorhandenem. Es werden Ver­ haltensgebote bzw. -verbote aufgestellt, von denen der Autor annimmt, dass es sich dabei nicht nur um seine subjektive Meinung (sein Belieben) oder das bloße Belieben anderer handelt, sondern dass diese Regeln auch seitens anderer Personen zu befolgen sind (befolgt werden sollen) und dies nicht nur von deren Belieben (ob sie faktisch gerade wollen oder nicht) abhängt. Die Befolgungsnotwendigkeit hinsichtlich der behaupteten Verhaltensregeln wird Pflicht genannt. Die gedankliche Produktion von Verhaltensregeln mit Verbindlichkeitsan­ spruch ist nur auf zwei prinzipiell-verschiedene Weisen möglich27: Der Übergang von Seinsaussagen zu Sollensbehauptungen erfolgt entwe­ der, indem der Autor direkt bzw. unmittelbar einen materialen Grundsatz aufstellt. Dies geschieht, indem ein (mehr oder weniger) bestimmter Zweck – also ein aus den bisherigen Erfahrungsdaten bekannter und nun mittels Einbildungskraft (mehr oder weniger deutlich) vorgestellter Zu­ stand – als Ziel für menschliche Tätigkeit behauptet und die Mittel zu dessen Erreichung als Imperative formuliert werden. Die meisten normati­ ven Konzepte setzen so an. Dieser Ansatz, der mit einer – mehr oder we­ niger bestimmten – materialen normativen Prämisse beginnt, wird deshalb im Folgenden als unmittelbar-materialer Ansatz bezeichnet. Im Rahmen dieser Arbeit werden zur Verdeutlichung des Denkens bzw. Urteilens nach einem unmittelbar-materialen Ansatz die Konzepte von Thomas Hobbes und John Stuart Mill vorgestellt. Beide stehen – auf unterschiedliche Weise – exemplarisch für das Denken nach einem unmittelbar-materialen Ansatz (unter I.1. und I.2.). Was ist die Alternative zu einem solchen materialen Ansatz?

27  Die aber eben nicht beide als letztgültig nebeneinander angenommen werden können, sondern sich als Geltungsgründe moralischer bzw. rechtlicher Normen aus­ schließen (siehe oben). Sofern Hegel und Pawlik dies anders sehen, richtet sich letztlich eben dagegen meine Kritik (dazu B.II.2.b) und B.IV.2.b)dd).

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Keine Alternativen stellen jedenfalls zwei in der Geschichte der Philoso­ phie bzw. des Rechtsdenkens in verschiedenen Ausprägungen vorgetragene Konzepte dar: Weder eine strikt-rechtspositivistische noch eine objektiv-teleologische Rechtsauffassung aus voraufgeklärter Zeit sind haltbare Positio­ nen, wobei beide schon an inneren Unzulänglichkeiten oder Widersprüchen kranken: Eine rechtspositivistische Auffassung, nach welcher Recht nur ist, was fak­ tisch an einem Ort zu einer Zeit mit dem Wort „Recht“ belegt wird und mit Macht durchgesetzt werden kann, stößt schnell an ihre Grenzen: Wie jedem Juristen bekannt, ist der Anwendung von Normen deren Existenz und (Merk­ mals-)Auslegung vorausgesetzt. Auslegung als Bedeutungskonkretisierung ist oftmals nichts anderes als die Beantwortung der sich in jedem positiven Rechtssystem immer wieder stellenden Frage: Was ist – im konkreten Kontext – eigentlich das Recht? Diese Frage führt – dogmatisch verortet unter dem Terminus der „objektiv-teleologischen Auslegung“ bzw. Interpretation – notwendigerweise immer wieder auf die Frage: Was hat der Gesetzgeber vernünftigerweise mit dem geschriebenen Inhalt gemeint? Oder: Was ergibt sich aus der Ordnung, an die wir gebunden sein sollen, für diesen Fall? Und diese Frage kann stets auf die Frage zurückgeführt werden: Was ist überhaupt – und nur dementsprechend dann auch im konkreten Kontext – Recht? Oder: Was ist überhaupt – und dementsprechend im konkreten Kontext – richtiges bzw. falsches menschliches Verhalten? Damit wird also auch innerhalb eines jeden positiven Rechtssystems im­ mer wieder eine Rückbindung des positiven Rechts an Grundbegriffe in Anspruch genommen und erfordert. Und mit Rückbindung ist dabei nicht bloß eine empirische Norm auf einer höheren Stufe der Normenhierarchie gemeint, denn dieselbe Frage stellt sich bei dem dogmatisch-korrekten Rückgriff auf diese abstraktere Norm – etwa auf einen Grundgesetzarti­ kel28 – wieder. Ohne eine begriffliche Basis ist überhaupt kein System möglich; ver­ meintliche Rechtsanwendung ohne jede Möglichkeit einer Rückkehr an den Ausgangspunkt wäre nichts als Herumwurschtelei von Fall zu Fall. Auch wer sich z. B. für eine der von anderen vorgeschlagenen Antworten auf eine sich stellende Rechtsfrage entscheidet, kann diese Entscheidung letztlich nur nach einem Begriff von Recht im Sinne einer richtigen Organisation der Verhältnisse der Menschen treffen, welcher dem Entscheidenden bestenfalls 28  Die logische Rückbindung an Grundbegriffe des Rechts ist im deutschen Grundgesetz zumindest implizit in der sogen. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG im Hinblick auf Art. 1 GG und Art. 20 GG angesprochen (in deren Licht die gesamte Verfassung zu betrachten sein soll).



A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung25

auch deutlich ist. Anders ausgedrückt: Rechtliche wie auch ethische Aussa­ gen bzw. Behauptungen implizieren einen Richtigkeitsanspruch, der bloß durch den Umstand, dass überhaupt etwas entschieden bzw. getan werden muss, nicht erfüllt wird. Ein Glaube an eine bloße Ablesbarkeit des Rechts aus geschriebenen Normen wäre Aberglaube oder naive Denkunterlassung. Recht muss mehr sein als eine bloß subtilere Form der Machtausübung, was es nicht wäre, wenn – statt roher Gewalt ohne Worte – der in jeder Pflichtbehauptung implizierte Richtigkeitsanspruch letztlich gänzlich-unauf­ klärbar oder aber ein Täuschungsversuch wäre. Auch ein Mittelweg, auf welchem die Frage nach und eine Stellungnahme zu einem vorpositiven Rechtsmaßstab umgangen würde, ist nicht gegeben. Aus diesem Grund konnte auch Hans Kelsens als „Reine Rechtslehre“ benanntes Projekt, nach welchem Gerechtigkeit zwar „als ein irrationales Ideal“ betrachtet wird (ebenda, II.8.), dem „Sollen“ jedoch trotzdem eine eigenständige, nicht auf ein bloß empirisch feststellbares Wollen rückführbare Bedeutung zukommen soll (ebenda, III.11. ff.), nicht gelingen: Eine „Erkenntnis ihres Gegenstan­ des“, womit nicht der Inhalt einer speziellen empirischen Rechtsordnung, sondern „des wirklichen Rechts überhaupt“ gemeint ist (Kelsen, ebenda, I.1.), kann der Rechtslehre nur möglich sein, wenn sie einen Begriff eines – nach vorpositivem Maßstab konstruierbaren – Rechtssystems, an welches Menschen also gebunden sein sollen, immer schon voraussetzt29. Da Kelsen dies jedoch gerade nicht will, fehlt seinem Konzept ein rational erfassbarer Gegenstand überhaupt. Auch eine objektiv-teleologische Auffassung in dem Sinne, dass danach ein „objektiv Gutes“ oder ein „objektiver Zweck“ als unabhängig vom menschlichen Erkenntnisvermögen vorhanden – etwa durch ein höchstes Wesen (Gott) gegeben – und trotzdem für den Menschen verbindlich ange­ nommen würde, kann als durch Aufklärung weitgehend erledigt gelten: Die Erfüllung eines (minimalen) Rationalitätsanspruchs impliziert die genaue Darlegung der Verbindung der vorgeschlagenen bzw. behaupteten Sollens­ inhalte zum menschlichen Erkenntnisvermögen. Dem genügen jedenfalls 29  Auch prozedurale Ansätze (etwa Diskurstheorien) lösen das Grundproblem der Möglichkeit der Generierung eines verbindlichen Verhaltensmaßstabs (Sollens) nicht, weil die Notwendigkeit überhaupt und die anzunehmenden Bedingungen der (vorgestellten) Kommunikation der Teilnehmer (des erwünschten Sich-Vertragens) vorausgesetzt werden müssen. Als solche sind diese Setzungen unausgewiesen und ggf. vom Ende, also dem erwünschten (vermeintlichen) Ergebnis des Gedankenpiels ei­ nes allgemein-zugänglichen Diskurses vorbestimmt. Im Übrigen sind die behaupte­ ten Konsequenzen selbst unter den (jeweils) ersten Setzungen zweifelhaft; zur Kritik an der prozeduralen Konzeption von John Rawls siehe noch B.IV.2.b)bb) und ­Pawlik, Notstand, S. 69 ff. (treffend auch Pawliks dortige Fn. 70).

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

antike oder mittelalterliche (theologische) Konzepte nicht, so dass sie hier nicht weiter interessieren. Neuzeitliche Philosophen wandten sich insoweit zu Recht gegen unaufgeklärt-metaphysische Anmaßungen letztlich theologi­ scher Herkunft (so etwa Hobbes, siehe Fn. 45). Das vorausgesetzt bleibt nur eine Alternative zu einem unmittelbar-mate­ rialen Ansatz betreffend die Generierung von Pflichtbehauptungen: Es muss ohne Ansehung eines konkreten faktischen oder als zu haben behaupteten materialen Zwecks oder Interesses, ohne Benennung eines fak­ tisch (und sei es von Jedermann) begehrten Etwas ein anderes Kriterium als Prüfstein der Richtigkeit bzw. Falschheit (der Verwerflichkeit, Gebotenheit oder Zulässigkeit) von Verhaltensweisen, Maximen oder Gesinnungen ange­ geben werden. Dieses bzw. der formulierte Maßstab moralischer bzw. recht­ licher Beurteilung als solcher müsste demnach erfahrungsunabhängig sein, seine Überzeugungskraft30 müsste letztlich in dem Beweis der Behauptung liegen, dass nur nach einem solchen Ansatz allgemeingültige und notwendige Zustehensbehauptungen möglich werden, sodass nur nach diesem Ansatz Pflichtbehauptungen wahr sein können. Dafür müsste ein unbedingter bzw. formaler Grundsatz aufgestellt werden, dessen Gültigkeit also nicht vom faktischen Wollen von Etwas (einer Materie) abhängen dürfte, sondern der nur die allgemeinen Bedingungen anzugeben hätte, unter denen Etwas (eine Materie) faktisch gewollt werden soll bzw. legitim gewollt werden kann (oder eben normativ nicht gewollt werden kann). Betreffend das äußerliche Handeln wären demnach unabhängig von aller Betrachtung faktischer Begehren der Menschen ebenfalls nur die allgemeinen und notwendigen Be­ 30  Selbstverständlich ist jede faktische Einsichterlangung eines Menschen als Überzeugung oder Gewissheit unter Absehung bzw. wegen des Absehens von allen subjektiv-zufälligen Gründen des Fürwahrhaltens diesem nur möglich, wenn er le­ bendig ist, einige Zeit gelebt hat (Erfahrungen gemacht hat) usw. Wie kann es also etwas anderes als eine auf Erfahrung basierende Überzeugung bzw. eine andere Ursache des Überzeugtseins als die Erfahrung geben? Gemeint ist die Vorstellung von logisch-notwendigen, zeitlosen bzw. für alle Menschen zu aller Zeit – und in­ sofern unabhängig vom Dasein und Zustand eines konkreten Menschen und den jeweiligen empirischen Gegebenheiten – anzunehmenden Erkenntnisvoraussetzungen. Bezüglich der Erkenntnis des richtigen Verhaltens müsste ein neigungsunabhän­ giger, formaler Ausgangspunkt also das Dasein von Etwas (sei dieses Etwas begehrt, nicht-begehrt oder verabscheut) bloß als den Gegenstand oder Stoff ansehen, der einer (nicht auf Begehren basierenden) ethischen bzw. rechtlichen Prüfung unterzo­ gen werden muss und der ohne diese Prüfung eben soweit moralisch-unbedeutend (moralisch unmittelbar-nichtssagend) und also auch möglicherweise anders-seinsollend ist: Die Beantwortung der Frage nach dem Sein-Sollen, der rechtlichen Möglichkeit bzw. dem Nicht-Sein-Sollen von etwas Vorhandenem dürfte lediglich dadurch möglich sein, dass überprüft würde, ob das jeweilige Sein den Bedingungen eines (im Ausgangspunkt materieunabhängig-angebbaren) Sein-Sollensprinzips ge­ mäß ist oder nicht.



A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung27

dingungen anzugeben, unter denen Handlungen bzw. Unterlassungen (seien sie und ihre Folgen begehrt oder verabscheut) ge- bzw. verboten oder rechtlich-möglich (erlaubt) sind. Wie dies geschehen kann, hat v. a. Immanuel Kant zu zeigen versucht31, weshalb insoweit ein Überblick über dessen praktische Philosophie zu ge­ ben sein wird (dazu II.). Dieser Ansatz wird hier – weil mit der Behauptung der Notwendigkeit der Aufsuchung einer unbedingten Form moralischer bzw. rechtlicher Imperative bzw. eines apodiktisch-gültigen Grundsatzes beginnend, nach dem bzw. in den dann erst alle Materie (sie sei begehrt oder nicht) geordnet werden muss – dem unmittelbar-materialen Ansatz entgegengesetzt32. Von der Stellungnahme zu diesem Grundproblem der Rechtsbegründung (Generierung von Pflichtbehauptungen) hängt die Antwort auf die Not­ standsrechtsfrage direkt ab. Und zwar so, dass zu letzterer nicht ohne Be­ antwortung der ersteren fundiert Stellung genommen werden kann und an­ dererseits jede Stellungnahme zu letzterer eine Stellungnahme in der Grund­ frage (mindestens dunkel) impliziert. Insofern sollte bei der nun folgenden Vorstellung bzw. Verdeutlichung der unterschiedlichen Positionen jeweils besondere Obacht auf bestimmte Aspekte gelegt werden, nämlich auf – die Weise der Generierung von Sollenssätzen bzw. Pflichtbehauptungen überhaupt, – auf die Abgrenzung des Rechts von der Ethik im engen Sinne, welche für die Frage nach einem Notstandsrecht besonders wichtig ist. Denn etwa die Hilfe anderer in nicht-selbstherbeigeführter Notlage kann als Inhalt eines ethischen Gebotes ohne größere Schwierigkeiten – wohl nach jedem Ansatz, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung – anerkannt wer­ den. Damit ist jedoch auf die Frage nach einem Notstandsrecht im Sinne einer erforderlichenfalls zwangsweise durchsetzbaren Zugriffsbefugnis nichts gesagt: Handelt es sich etwa bei einer Nothilfe um etwas Ver­ 31  Begrifflich unzureichende Versuche eines solchen Ansatzes sind schon bei Jean-Jacques Rousseau zu finden, siehe Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, Kapitel 4. und 6. 32  Nicht hilfreich sondern eher verwirrend und in der Gefahr von Missverständnis wäre es, diese Unterscheidung als Entgegensetzung des Empirismus gegen den Rationalismus oder des Empirismus gegen eine deontologische Position zu bezeichnen (als handelte es sich dabei jeweils um klare Begriffe). Kant trennte grundlegend ebenfalls lediglich zwischen (unmittelbar-)materialem und nicht-unmittelbar-materi­ alem (formalen) Ansatz bzw. „Prinzip“ zur Aufstellung vom Sollensbehauptungen und sah dies als vollständige Einteilung möglicher Versuche, siehe Kant, Zum ewi­ gen Frieden, Anhang I., S. 376, 377 und Kant, KpV, 1. Teil, 1. Buch, 2. Hauptstck. Der Sinn dieser Einteilung kann allerdings wohl erst dann ganz einleuchten, wenn beide Ansätze und damit deren prinzipielle Differenz deutlich dargestellt wurden.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

dienstliches oder tut der Helfer bloß das rechtlich Geschuldete? Aus der möglichen Differenz der Pflichtinhalte eines ethischen und eines recht­ lichen Gesetzes resultiert, dass die „Intuition“ als Indikator – falls über­ haupt, dann hier jedenfalls – nur begrenzt tauglich ist, – auf die Überführbarkeit des begriffenen Rechts in staatliches positives Recht bzw. auf das genaue Verhältnis von vorpositivem und positivem Recht und – letztlich auf die Konsequenzen für die begriffliche Möglichkeit und den Inhalt eines Notstandsrechts.

I. Unmittelbar-materialer Ansatz (Übergang vom Sein zum Sein-Sollen unmittelbar über begehrte Materie) Dieser Ansatz beginnt also zur Aufstellung von Sollensbehauptungen mit der Benennung eines bestimmten Ziels als einem inhaltlich bestimmten oder zumindest als bestimmbar angenommenen Zustand, den es zu erreichen gelte. Von dem faktischen Haben dieser besonderen Zielvorstellung (Zweck), also von der Bewertung eines solchen vorgestellten Zustandes als ein anzu­ strebendes Sein-Sollen, hängt es ab, ob ein anderer einer solchen Prämisse wenigstens vorläufig für sich zustimmen könnte. Soll aus einem solchen materialen Ansatz eine Notwendigkeit der Befolgung einer bestimmten Ver­ haltensregel als Mittel zur Erreichung des Zieles (Zwecks) entstehen, dann ist eine Voraussetzung, dass die Zwecksetzung nicht letztlich subjektiv-be­ liebig erfolgt, sondern es müsste ein bestimmtes Ziel als notwendig ange­ strebt bzw. anzustreben betrachtet werden können33. Insofern suchen nach 33  Die logische Form der aus diesem Ansatz entspringenden Urteile ist die des hypothetischen Urteils: Wenn ein bestimmter Zustand bzw. ein bestimmtes Wohl x gewollt bzw. begehrt ist, dann ist zur Erreichung dessen a, b, c … zu tun. Allerdings ist dies allein (diese logische Form der Urteile) weder für die Beurteilung eines materialen Ansatzes der Aufstellung von Sollensbehauptungen, noch für die Darstel­ lung der prinzipiellen Differenz von unmittelbar-materialem und nicht-unmittelbarmaterialem (formalen) Ansatz ausreichend (dazu noch Fn. 129). Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil kein Autor einer im Ausgangspunkt materialen Ethikoder Rechtskonzeption sich von vornherein bloß an diejenigen Personen (potentielle Leser) wenden will, die ganz zufällig auch (wie er selbst) x begehren. Vielmehr wird stets mitbehauptet, dass x von fast allen oder gar allen begehrt werde oder begehrt werden müsse. Die im Vordersatz genannte Bedingung wird als erfüllt betrachtet; der Vordersatz im hypothetischen Urteil kann nach Ansicht solcher Autoren in eine wah­ re assertorische Aussage umformuliert werden: Bei Mill, der für x „Glück“ einsetzt, ist es die Behauptung, es sei faktisch-ausgeschlossen, letztlich etwas anderes als Glück zu begehren bzw. zu wollen. Deshalb erhebt Mills Konzeption Allgemeingül­ tigkeitsanspruch. Bei Hobbes, der für x aus Wohlergehensbegehren stammenden



I. Unmittelbar-materialer Ansatz29

einem materialen Ansatz verfahrende Autoren stets nach einer Materie, die jeder Mensch gemäß dem Vermögen, zu begehren bzw. Abneigung zu emp­ finden, faktisch will (was hier bloß heißt: begehrt), d. h. nach Begriffen von „Wohl“ oder „Übel“ als Wohl bewertet (hier darf nicht „gut“ oder „böse“ eingesetzt werden, denn solche Begriffe sind nach einem materialen Ansatz erst die Folge dieser Überlegungen). So setzt etwa Thomas Hobbes34 das Wollen des eigenen Lebens (Selbsterhaltung) und der Gesundheit sowie die Gewähr dessen für die Zukunft ein, welches dann nach pragmatischen Überlegungen hinsichtlich der Verwirklichbarkeit zum Wollen von Sicher­ heit und Frieden führen soll. Utilitaristen sprechen direkt vom Streben nach „Glück“ als notwendigem Zweck jeder Handlung. Bei der nun zur Verdeutlichung des materialen Ansatzes folgenden Vor­ stellung der normativen Konzepte von Thomas Hobbes und John Stuart Mill geht es nicht um eine Darlegung des jeweiligen Werkes in allen inhaltlichen Einzelheiten. Entscheidend ist vor allem, nach welchem Prinzip ein Verhal­ „Selbsterhalt“ einsetzt, ist es die Behauptung, allen Menschen gehe es stets um ihr Wohlergehen, womit zuvorderst ein möglichst langes und angenehmes Leben be­ gehrt werde bzw. begehrt werden müsse (etwa: Vom Menschen, 11. Kapitel, 6.). Bei Hobbes ist an dieser Stelle die normative Prämisse impliziert, jedermann solle sein Leben möglichst lange und angenehm erhalten wollen. Zwar gibt Hobbes vor, seine Konzeption auf „Betrachtungen der menschlichen Natur“ aufzubauen. Jedoch wäre die bei Hobbes im Vordersatz getroffene Allgemeinaussage – als bloß-empirische Aussage verstanden – durch auch nur einen Fall einer anderen menschlichen Ziel­ bestimmung (etwa durch eine Selbsttötung) widerlegt und damit als unwahr erwie­ sen. Das schließt Hobbes jedoch – in Kenntnis des Vorkommens etwa von Selbsttö­ tungen – offensichtlich aus. Schon nach diesen abstrakten Vorüberlegungen wird dabei folgendes Problem materialer Normativitätsansätze mit Verbindlichkeitsan­ spruch ersichtlich: Die Überzeugungskraft für andere soll daraus bezogen werden, dass eine (möglichst allgemeine) wahre Wirklichkeitsaussage getroffen wird, näm­ lich „x wird – letztlich auch von dir – begehrt“. Diese vermeintlich-empirische Aussage, aus welcher dann alles weitere folgen soll (es sei a, b, c … als Mittel zur Erreichung bzw. Erhaltung von x zu tun), hat eine relativ unbestimmte empirische Basis: Wohl kann man bestätigen, dass x unter den derzeit gegebenen Bedingungen von diesem, jenen oder gar von allen tatsächlich begehrt wird und wohl auch unter einigen vorgestellten anderen Bedingungen noch begehrt würde. Dass es aber unter den Bedingungen a, b, c … usw., die alle als Erhaltungs- bzw. Sicherungsbedingun­ gen des Zustandes x eingeführt werden sollen, dann tatsächlich noch begehrt würde, ist nicht garantiert. 34  Hobbes wird in der philosophischen Literatur (aus noch zu nennendem Grund, siehe Fn. 51) oftmals als „Vertragstheoretiker“ eingeordnet. Diese Einordnung, die einer heutzutage üblichen Einteilung ethischer Konzeptionen (i. w. S.) in Vertragsthe­ orien, Utilitarismus (bzw. „Nutzenethiken“), „Pflichtethiken“ und „Tugendethiken“ entstammt, ist im Folgenden kaum von Bedeutung: Diese Vierteilung ist gegenüber der hier vorgenommenen Einteilung in Materie- und Formansatz (entgegen dem et­ waigen ersten Anschein) eine sachlich-gröbere, da die eigentlichen begrifflichen Differenzen dabei übersehen werden können.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

ten als „Pflicht“ bzw. „Recht“ behauptet wird (wie eine Sein-Sollensbehaup­ tung eingeführt wird) und was daraus für die Möglichkeit und den etwaigen Inhalt eines Notstandsrechts folgt. 1. Thomas Hobbes a) Ausgangspunkt (Erkenntnistheorie) Thomas Hobbes ging davon aus, „demonstrative Erkenntnis a priori“ sei von solchen Dingen möglich, deren Erzeugung von menschlicher, nicht vollständig durch Natur gezwungener Willkür abhänge35. Er stellte entgegen objektiv-teleologischer Mystik den Menschen als Objektwirkungen empfin­ dendes, sich daran erinnerndes und diese beurteilendes Erkenntnissubjekt an den Ausgangspunkt des Erkennens36: Sichere Wissenschaft sei die Beschrei­ bung der eigenen Wirkweise des Menschen37. Der systematische Ausgangs­ punkt des Selbstschaffens von Erkenntnis ist nach Hobbes die Geometrie, in der die Entstehung unserer einfachsten Vorstellungen durch Bewegung von Körpern (Punkt zur Linie, Linie je nach Bewegungsrichtung zur Fläche oder zum Kreis etc.) beschrieben werde. Auf dieser Grundlage sei zu einer Untersuchung der Bewegungen von Körpern und deren Wirkungsketten und zur Physik als gemischt-mathematischer Wissenschaft überzugehen, die 35  Hobbes, Vom Körper, 25. Kapitel; Vom Menschen, 10. Kapitel, 4., 5. und 1. zur (menschlichen) Willkür in Abgrenzung zum Tier. 36  Dies war deutlich-erkennbar zumindest sein Anspruch. Ob es ihm gelang oder ob er gerade in den in seiner Systematik hinter der Naturphilosophie angesiedelten Philosophieteilen der Ethik und der Staatsphilosophie einen unmittelbaren Rückgriff auf das Postulat der (nicht demonstrablen und nicht weiter einsichtigen) Wirklichkeit Gottes als Schöpfer und Lenker der Natur für die Haltbarkeit seiner eigenen Begrün­ dung nötig hatte (wie etwa Samson meint, in: Hobbes-Gottesbegriff, S. 211 ff.; siehe auch Hobbes, Leviathan, 21. Kap.) oder implizit einen sonstigen irrationalen Glau­ ben einforderte, ist eine Frage nach der Schlüssigkeit des hobbesschen Gesamtkon­ zepts. 37  Zu Hobbes’ Methode der „Konstruktion“ siehe etwa Weiß, Hobbes-System, S. 77 ff. Bestritten ist, dass die sogen. „resolutiv-kompositive Methode“, nach wel­ cher der Untersuchungsgegenstand zunächst in seine Bestandteile zerlegt und dann daraus rekonstruiert wird, für Hobbes Philosophie von entscheidender Bedeutung ist. Bernd Ludwig nimmt an, die Fundamente von Hobbes’ gesamtem philosophischem System seien stets die jedem Menschen durch Selbstreflexion bekannten sinnlichen Empfindungen, Vorstellungen und Leidenschaften; Ludwig, Hobbes-Entwicklung, S. 114 ff. Zumindest hinsichtlich der Staatsphilosophie sah Hobbes keine relevante inhaltliche Differenz zwischen dem Fortschreiten von „den ersten Prinzipien der Philosophie nach der synthetischen Methode“ und der Beobachtung und Analyse der aus eigener Erfahrung bekannten Gefühle und „Seelenregungen“, Hobbes, Vom Kör­ per, 6. Kapitel, 7.



I. Unmittelbar-materialer Ansatz31

auch durch Erfahrung und Experiment „erlernt“ werde. Soweit sei alles in der „Naturphilosophie“ streng-beweisbar. Systematisch folge erst dann die Ethik bzw. Moral als von Menschen „durch Gesetze und Abmachungen“ selbst geschaffene „Wissenschaft von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit“, in welcher auf der Grundlage der „For­ schung“ über Bahnen der Bewegung überhaupt (Geometrie) und der „Bah­ nen der sichtbaren Bewegung“ (Naturphilosophie / Physik) die „Seelenregun­ gen“ der Menschen zu betrachten seien. Diese hätten ihre Ursachen in der sinnlichen Wahrnehmung und in der Einbildungskraft, welches Gegenstände der physischen Betrachtung seien38. Erst das Begehren von Etwas könne dessen Hervorbringung zum Ziel einer Handlung machen, danach entstehe die Vorstellung über die Mittel dazu, wobei die auf Erfahrung beruhende Beurteilbarkeit solcher zusätzlich vorausgesetzt wird. Die Lust aus dem Begehren von etwas sei „Unterstützung der Lebensbewegung“ und der Schmerz oder das Übel aus der Abneigung gegen etwas sei die Behinderung derselben. Aus einem Begehren folge das Streben, welches über einen Ner­ venimpuls und über Muskeln in eine äußere Bewegung übersetzt werde. Leidenschaften bestünden stets aus Begehren und Abneigung („Bewegungen des Herzens“); beides seien naturnotwendige Folgen des Einwirkens von Objekten auf das empfindende Subjekt. Da ein Ding aber in ein und dem­ selben Subjekt je nach Betrachtungsweise – wofür es nützen kann bzw. was es schaden kann – nach Neigung, Zeit und Ort sowohl begehrt als auch verabscheut werden könne, entstehe eine Vorstellungsreihe, hinsichtlich welcher über die Frage, wie das Angenehme zu erlangen und das Unange­ nehme zu vermeiden sei, Überlegungen entstünden. Der menschliche Wille sei der letzte Trieb in dieser überdachten Vorstellungsreihe, sofern es letzt­ lich Begehren (und nicht Verabscheuen) des Objekts ist39. b) Begriff von Gut und Böse In der Schrift „Vom Körper“ (25. Kapitel, 13.) führt Hobbes nach Dar­ stellung dieses Gedankengangs unvermittelt und nicht begründet das Wort „gut“ für dasjenige ein, dessen Genuss „reine Lust“ gewähre, wohingegen 38  Hobbes, Vom Körper, 6. Kapitel, 5., 6. und 7. und Vom Menschen, 10. Kapitel, 4. und 5. 39  Wille und Begehren sind nach Hobbes „dasselbe und nur in der Auffassung verschieden, je nachdem ob eine vorausgegangene Überlegung mitberücksichtigt wird oder nicht“. Eine „Freiheit, zu wollen oder nicht zu wollen“ hielt Hobbes für nicht denkbar, da die Ursache des jeweiligen Begehrens dieses mit Notwendigkeit hervorgebracht haben müsse. Er ging aber von einer „Freiheit des Ausführens“ einer Handlung aus, die Mensch und Tier zukomme, Hobbes, Vom Körper, 25. Kapitel, 13 und Vom Menschen, 11. Kap., 2.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

„böse“ sei, dessen Genuss „reinen Schmerz“ gewähre. Besonders auffällig ist, dass ein (hier unbestimmtes bzw. je nach Objektseinwirkung auf das jeweilige Begehrungsvermögen relativ-bestimmbares) Etwas bzw. erfahre­ nes Ding, also eine Materie, mit den Worten „gut“ und „böse“ belegt wird: Zwar pflegt man das Wort „gut“ auch als Adjektiv zur Qualifikation von Objekten als nützlich – nämlich als relativ gut geeignet als Mittel für die Erreichung dieses oder jenes Zwecks – zu verwenden. Doch etwas Unange­ nehmes oder Unbrauchbares als etwas „Böses“ zu bezeichnen, ist zumindest ungewöhnlich. Das Wort „böse“ könnte demnach nicht zum Ausdruck einer angenommenen Differenz von etwas Unangenehmem und etwas überhauptFalschem verwendet werden, sondern fände Verwendung in Aussagen ohne jeden moralischen Gehalt. Da unklar bleibt, ob Hobbes schon hier eine normative (andere) Dimension als die Escheinungsbeschreibung (Seinser­ klärung) einführt bzw. einführen will, entsteht an dieser Stelle erstmalig der Verdacht eines nicht begründeten und als solchem irrationalen Übergangs von Seinaussagen zu Sollensbehauptungen40. Jedenfalls sei „die Natur des Guten“ abhängig von den jeweiligen Umständen. Erstrebte bzw. gewünschte Dinge werden bei Hobbes Güter ge­ nannt, Abneigung bzw. Unlust hervorbringende Dinge werden als Übel be­ zeichnet. Tugendhaftigkeit ist demnach etwa das relative, subjektive Gefallen einer Handlung (die Schönheit einer Handlung). Da alle Erkenntnis über das Angenehme aus Erfahrung und Gewohnheit entstehe, könnten Erfahrene besser beurteilen, ob in einer Wirkungskette einer Handlung das Angenehme (Gute) oder das Übel überwiege. Das „ers­ te Gut“ ist nach Hobbes naturnotwendig für jeden Menschen die Selbster­ haltung. Demgemäß müsse Jeder Leben, Gesundheit und Gewähr dessen für die Zukunft wünschen und Tod, Qualen und Bedrohung vermeiden wollen. Große Macht werde so zu einem Gut, nämlich als Mittel zum Schutz (Si­ cherheit). Deshalb („da sie nützlich sind“) seien etwa Freundschaften wie auch Reichtum Güter41. Glück sei ein ständiges Fortschreiten des Verlan­ gens von einem Objekt zum anderen, wobei das jeweilige Erreichen eines Zieles immer nur der Weg zum nächsten sei. Eine „allgemeine Neigung der 40  Eine Imperativformulierung findet sich in „Vom Körper“ ebenfalls: Kinder lernten erst allmählich, „was zu begehren und was zu vermeiden sei“, 25. Kapitel, 12. Der später explizit von Hume (in: Menschliche Natur, Buch III, 1. Teil, 1. Ab­ schnitt) aufgestellten (wenn auch von diesem selbst nicht eingelösten) Rationali­ tätsanforderung, nach welcher ein Wechsel von Seinsaussagen zu Sollenssätzen als Ausdruck einer „neuen (besser: anderen, G. H.) Beziehung“ notwendigerweise be­ sonders beachtet, erklärt und als solcher begründet werden muss, genügen diese Ausführungen Hobbes’ – sollte es sich dabei nicht nur um Fehlformulierungen für Seinsaussagen handeln – jedenfalls nicht. 41  Hobbes, Vom Menschen, 11. Kapitel, 4. bis 6.



I. Unmittelbar-materialer Ansatz33

Menschheit“ sei dabei ein rastloses Verlangen nach Macht, v. a. zur Siche­ rung des bisher Erreichten und um damit „etwas anscheinend Gutes für die Zukunft zu erlangen“. Hobbes schreibt: „Die Geltung oder der Wert eines Menschen liegt, wie der aller anderen Dinge, in seinem Preis, das heißt, er wird dadurch be­ stimmt, wie viel man für den Gebrauch seiner Macht zahlen würde, und ist daher nicht absolut, sondern abhängig vom Bedarf und Urteil eines ande­ ren … . Mag sich ein Mensch (wie es die meisten tun) auch den höchsten Preis beimessen; sein wahrer Wert ist doch nicht höher, als ihn andere einschätzen“42. Unvermeidlich oder sogar begehrt sei eine Entgegensetzung der einzelnen Menschen, da fremdes Unglück etwas Angenehmes und frem­ des Glück etwas Unangenehmes sein könne. Außerdem führe Konkurrenz um (teils zufälliger-, teils notwendigerweise knappe) Güter zum Verlangen nach Tötung, Unterwerfung, Verdrängung oder zumindest Abwehr des Kon­ kurrenten43. c) Begriffe von Recht und Pflicht Das „Naturrecht“ sei „die Freiheit, die jeder Mensch besitzt, seine eigene Macht nach Belieben zur Erhaltung ... seines eigenen Lebens zu gebrauchen und folglich alles zu tun, was er … hierfür als das geeignetste Mittel an­ sieht“. In der Ausgangsidee eines Naturzustandes der in diesem Sinne stre­ benden Menschen habe jeder „ein Recht auf alles, sogar auf den Körper des anderen“; der jeweilige individuelle Nutzen sei „der Maßstab des Rechts“. „Freiheit“ im Sinne von Abwesenheit äußerer Hindernisse der beliebigen Bewegungen bzw. des subjektiv-begehrten Handelns und Verpflichtung wer­ den als sich ausschließende Gegenbegriffe eingeführt44. Diese Einführung des Wortes „Recht“ durch Hobbes muss jeden begriff­ lich-achtsamen Leser zumindest verwundern: Weshalb wird ein allseitig-sub­ jektives Selbsterhaltungs-, Glücks-, und Nutzenstreben, selbst wenn es (wie Hobbes meint) „naturnotwendig“ sein sollte, mit dem Wort „Recht“ belegt? 42  Hobbes, Leviathan, 10. Kapitel. Würdigkeit hingegen bestehe in einer besonderen Fähigkeit im Sinne einer Eignung bzw. Tauglichkeit zur Bewältigung einer bestimmten Aufgabe (der jemand dann würdig ist). Insofern sei sie als besondere persönliche Eigenschaft etwas anderes als der Wert eines Menschen. 43  Vom Menschen, 11. Kapitel, 12.; Leviathan, 11. Kapitel. 44  Vom Bürger, 1. Kapitel, 10. und Leviathan, 14. Kapitel. Siehe auch 21. Kapi­ tel: Im Akt der Unterwerfung unter eine höchste physische Macht fallen nach Hobbes dann Freiheit und Verpflichtung zusammen, weil dessen Notwendigkeit aus der notwendigen Verfolgung des Zwecks der Selbsterhaltung mit beliebigen Mitteln (relative Beliebigkeit) folge, welcher dann zum Zweck der Friedenssuche wird, so­ dass letztlich dadurch Selbsterhaltung bestmöglich realisiert werde.

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Eine psychologische (oder ggf. rhetorische) Erklärung dafür liegt sicherlich in der Ablehnung einer als Mystik betrachteten antiken oder mittelalterlichen objektiv-teleologischen Annahme einer ursprünglichen Rechtsgemeinschaft der Menschen auf (Gottes) Erden, welche mit dem in der Neuzeit stärker werdenden Bemühen um rationale wissenschaftliche Erkenntnis zunahm45. Trotzdem stellt sich schon hier, bei der Einführung des Wortes „Recht“ durch Hobbes, folgende Frage: Welcher normative Gehalt wird damit erfasst? Oder genauer: Kann auf diese Weise allgemeingültig irgendein normativer Gehalt erfasst werden46? Diese Frage ist ohne tiefschürfende Überlegungen zu ver­ neinen: Dem jeweilig als Recht des einen behaupteten Verhalten bzw. Etwas korrespondiert keine Pflicht des anderen auf Zulassung im Sinne einer Selbst­ nötigungsnotwendigkeit; dementsprechend kommt auch ein allgemeingülti­ ger Begriff von Unrecht soweit nicht vor bzw. ist nicht mitgedacht. Oder dasselbe anders ausgedrückt: Niemandem steht irgendetwas (irgendeine Ma­ terie) im Verhältnis zum anderen zu, unmöglich ist eine allgemeingültige Zu­ stehensaussage formulierbar. Man könnte meinen, diese begriffliche Unmög­ lichkeit sähe Hobbes selbst47, wenn er schreibt: „Ein solches Recht brachte den Menschen aber durchaus keinen Nutzen … denn die Wirkung eines sol­ chen Rechts ist so ziemlich dasselbe, als wenn überhaupt kein Recht bestän­ de“. Die Folge sei aufgrund der „natürlichen Gleichheit der Menschen“ und „ihrem Willen, sich gegenseitig Schaden zuzufügen“ eine Furcht und ein „Krieg aller gegen alle“, aus der bzw. dem es bei annähernd gleichem oder zumindest wandelbarem Kräfteverhältnis der Menschen untereinander kein Entrinnen gebe. In einem solchen Krieg hätten die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit keinen Platz48. Die „rechte Ver­ 45  Hobbes schreibt: „Es gibt kein solches finis ultimus (letztes Ziel) oder sum­ mum bonum (höchstes Gut), wie in den Büchern der alten Moralphilosophen er­ wähnt; Leviathan, 11. Kapitel. Meist werde der Glaube erbetten oder gefordert, dass der Mensch von Natur aus ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei; dieses Axiom sie jedoch falsch und beruhe auf einer „oberflächlichen Betrachtung der mensch­ lichen Natur“; Vom Bürger, 1. Kapitel, 2. 46  Es entspräche nicht der Intention Hobbes’, diese Einführung des Wortes „Recht“ für eine missglückte (weil bloß verwirrende) Benennung von Seinsaussagen (des be­ schriebenen Seins der Menschen) ohne jeden auf Überzeugung potentieller Leser zielenden normativen Gehalt anzusehen. Im Gegenteil wird auf diesen Ausgangspunkt von Hobbes im weiteren Fortgang seiner Arbeit die Staatsphilosophie gegründet. 47  Dies wäre jedoch ein Irrtum, wie dargestellt wird. 48  Vom Bürger, 1. Kapitel, 3. bis 15. und Leviathan, 13. Kapitel. Wohl richtig ist, wie Geismann darstellt, dass dieser von Hobbes gemeinte Kriegszustand nicht unbe­ dingt als Zustand permanenter physischer Kampfhandlungen vorgestellt werden muss. Unverständlich (weil logisch-unzutreffend) ist auf der Grundlage des Hobbesschen Denkens jedoch Geismanns Annahme, es gehe Hobbes dabei um das Darstellen der „permanenten Abwesenheit von gesichertem Rechtsfrieden“ (Geismann, HobbesRousseau-Kant, S. 4): „Rechtsfrieden“ setzt die Vorstellung von einem zu sichernden,



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nunft“ (recta ratio) gebiete den Menschen als „erstes natürliches Gesetz“, Frieden zu suchen, sobald sie darauf Hoffnung haben (ansonsten das Um­ schauen nach Hilfe für den Krieg). Durch rationale Folgenkalkulation unter dem Imperativ der Förderung des Selbsterhaltungsinteresses stellt Hobbes eine Vielzahl natürlicher Gesetze auf, zu denen u. a. gehört, im Interesse des Friedens „auf Rechte zu verzichten“ („zweites Naturgesetz“), was einen Ver­ lust von „Freiheit“ durch Übertragung per Vertrag auf einen anderen bedeute, womit bei Hobbes lediglich eine gewisse wechselseitige Festlegung des ei­ nen und des anderen entgegen der totalen subjektiven Beliebigkeit gemeint ist49. Erst nach einer solchen willentlichen „Entsagung von einem Recht“ gegenüber einem anderen sei man diesem verpflichtet, sich an seine eigene Willenserklärung zu halten. Erst dadurch entsteht bei Hobbes also eine inter­ subjektive „Pflicht“50. Die Wissenschaft von diesen natürlichen Gesetzen sei die „wahre und einzige Moralwissenschaft“. Jedoch sei die Befolgung der „natürlichen Ge­ setze“ im Naturzustand nicht zu gewährleisten. d) Übergang zum Staat (Notwendigkeit der Staatserrichtung) Zur Durchsetzung der Befolgung der „natürlichen Gesetze“ bedürfe es einer gemeinsamen höheren Macht, welche die einzelnen „durch Furcht vor Strafe leitet“. Deshalb hätten die einzelnen Menschen sich dem Willen eines richtigen Frieden und damit einen Begriff vom Recht voraus. Nach Hobbes ist jedoch dasjenige, was er als „Recht“ bezeichnet, gerade der Grund von Furcht und „Krieg“ (letztere die Wirkungen dieses „Rechts“). Etwas anderes wird von Hobbes soweit nicht als Recht vorgestellt, vielmehr seien „gut“ und „schlecht“ oder „böse“ Namen zur Bezeichnung unserer Triebe und Abneigungen, die je nach Anlage, Erfahrung und Gewohnheit von Personen (ebenso wie der Geschmack) verschieden seien. Geismanns Versuch, den Unterschied des hobbesschen Denkens von dem Kants in diesem Punkt (über die Naturzustandsidee und den Grund der Staatsbegründung) zu nivellieren, führt ihn hier zu einer Inkonsistenz (die er an anderer Stelle in seinem Text in der Kritik an Hobbes Ansatz als solche selbst aufdeckt, a. a. O., S. 8). 49  Kooperation als vorteilhafte Option, da die allein nicht aufzuhebende Unsi­ cherheit ein permanentes Vermögensminus jedes Einzelnen ist. 50  Wobei mit „Pflicht“ hier jedoch noch nicht viel gesagt zu sein scheint, denn Hobbes hält es zumindest im Leviathan für eine zusätzliche Pflicht („drittes Natur­ gesetz“), diese Verträge auch zu erfüllen. Im Übrigen liege die bindende Kraft der Selbsterklärungen nicht in „ihrer eigenen Natur, … sondern in der Furcht vor den üblen Folgen eines Wortbruchs“, Leviathan, 14. und 15. Die Naturgesetze seien im Naturzustand nicht eigentlich Gesetze, sondern Qualitäten, welche die Menschen zu Frieden und Gehorsam geneigt machten. Erst die Macht des Souveräns und die Festlegung von Strafen verpflichte die Bürger, Leviathan, 26. Kapitel, 4. Allerdings nennt Hobbes seine „natürlichen Gesetze“ bzw. „Naturgesetze“ auch seit jeher be­ stehende „Moralgesetze“, Leviathan, 26. Kapitel, 7.

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Menschen oder einer Vereinigung so zu unterwerfen, dass dessen (bzw. deren) Wille für den Willen aller stehe. Konsequenz ist für Hobbes also die Notwendigkeit der Errichtung eines Gewaltmonopols zum Schutz vor ei­ nem – für und durch jedermann – drohenden Angriff. Das geschieht durch Zurücknahme bzw. „Übertragung“ des „Rechts auf alles“ bei allen bis auf einen oder einige, die dann den Souverän darstellen. Dies sieht Hobbes als Idee eines Vertrages von jedem mit jedem anderen in Bezug auf einen oder einige51. Der Inhalt dieses ideellen Vertrages mit dem Zweck der (Vorsorge zur) jeweiligen Selbsterhaltung (Sicherheit) ist die Übertragung aller Macht auf einen oder mehrere Menschen: „Ich gebe diesem Menschen … Ermäch­ tigung und übertrage ihm mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedin­ gungen, dass du ihm ebenso dein Recht überträgst und Ermächtigung für alle seine Handlungen gibst“52. Von einer solchen Einsetzungsidee seien alle „Rechte und Befugnisse“ des Souveräns abzuleiten. Was ist nach Hobbes die Konsequenz dieser Überlegungen? Wenn die Mehrheit jemanden zum Souverän ernannt habe, müssten alle anderen – auch wenn sie damit nicht einverstanden waren – ebenfalls zustimmen oder sie würden „mit Recht vernichtet“. Protest sei unzulässig. Aus der Einset­ zung des Souveräns folge weiterhin, dass „nichts, was dieser tut, ein Un­ recht gegen einen seiner Untertanen sein kann und ihn auch keiner von ihnen der Ungerechtigkeit anklagen“ dürfe. Der Souverän entscheidet dem­ nach über alles, was für Frieden und Verteidigung seiner Untertanen erfor­ derlich ist: Eingeschlossen sei etwa auch die Entscheidung darüber, „welche Meinungen und Lehren dem Frieden abträglich und welche ihm förderlich sind“ und „wer die Lehren aller Bücher prüfen soll“. In der „guten Lenkung der Meinungen der Menschen“53 bestehe „die gute Lenkung der menschli­ chen Handlungen im Hinblick auf ihren Frieden und ihre Eintracht“. Die Souveränität als höchste Macht sei unteilbar und dem Souverän komme die höchste Ehre zu. Hobbes schreibt: „Die Souveränität ist nicht so schädlich wie ihr Fehlen; und der Schaden entsteht größtenteils, indem man nicht bereitwillig einen größeren Schaden auf sich nimmt“. Aus all dem ist abzusehen, dass die Inhalte möglicher Regelungen der Souveränität für jemand anderen als den konkreten Souverän vor faktischer 51  Hobbes, Leviathan, Kap. 17 und 18 und Vom Bürger, 5. und 6. Kapitel. So entstehe ein Gemeinwesen als eine in einer Person vereinigte Menge. Dies nennt er den „Leviathan“ bzw. den „sterblichen Gott“. Wegen dieser Vertragsidee als einer (ideellen) Übereinkunft von Gleichgeordneten wird Hobbes heutzutage als „Ver­ tragstheoretiker“ bezeichnet (zur Bedeutung dieser Bezeichnung als solcher siehe oben, Fn. 34). 52  Hobbes, Leviathan, 17. Kapitel. 53  Diese und weitere Befugnisse des Souveräns aufgezählt in Leviathan, 18. Ka­ pitel.



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Regelsetzung nach Hobbes notwendig sehr unbestimmt bleiben. Ist nach dem von Hobbes entwickelten Gedankengang bzw. Ausgangspunkt über­ haupt irgendein (rechts)notwendiger Mindestinhalt staatlicher Normen be­ stimmbar oder erschöpft sich die Legitimitätsannahme in Bezug auf den Souverän in der bloßen Behauptung einer Repräsentation der einzelnen Menschen im durch den Souverän geäußerten Willen aufgrund der von Hobbes als notwendig vorgestellten Errichtungsidee (ideeller Einsetzungs­ vertrag)? Anders formuliert: Ist der Souverän in seiner positiven Gesetzge­ bung und Durchsetzung irgendwie konkretisierbar-rückgebunden an den Zweck seiner Einsetzung54 oder herrscht er nach Belieben? e) Rechtsbegrifflich möglicher Inhalt staatlicher Gesetze und Rückbindung des Staates an Ausgangsprinzip bzw. -zweck Staatliche Gesetze sind nach Hobbes „künstliche Ketten“ und bestehen in jenen Regeln für den Untertan, die ihm das Gemeinwesen durch Wort, Schrift oder andere hinreichende Zeichen des Willens befohlen habe, damit er davon zur Unterscheidung dessen, was der Regel zuwiderlaufe und was nicht, Gebrauch mache. Der Souverän selbst ist demnach als der Befehlen­ de dem (seinem) Gesetz nicht unterworfen. Ungerecht sei nur, was einem durch den Souverän geäußerten Gesetz zuwiderlaufe. Hinsichtlich des In­ halts solcher Gesetze als auch hinsichtlich „Gewohnheitsrecht“ entscheide allein der Souverän, was vernünftig sei und was abgeschafft gehöre. Die „Freiheit der Untertanen“ bestehe nur dort, wozu die Gesetze nichts aussag­ ten, deren Zweck gerade die Begrenzung der „natürlichen Freiheit“ der Menschen sei (diese „hängt vom Schweigen des Gesetzes ab“). Deshalb gebe es „solche Freiheiten“ an manchen Orten und zu manchen Zeiten mehr bzw. weniger, „je nachdem, wie es die Inhaber der Souveränität am zweck­ mäßigsten (zur Friedens- bzw. Sicherheitsherstellung, G. H.) dünkt“. Etwa Eigentums- und Erbrechte (Privatrechte) entstehen nach Hobbes erst durch Zuteilung per staatliches Gesetz seitens des Souveräns gemäß dessen Ein­ schätzung ihrer Tauglichkeit zum Friedenserhalt. Allerdings habe der Souverän auch Pflichten: Seine Herrschaft sei zur Herstellung bzw. zum Erhalt von Frieden eingerichtet und dieser werde des Wohls wegen erstrebt: Das Wohl des Volkes sei das höchste Gesetz bzw. es schreibe das Gesetz vor. Der Herrscher habe „durch Gesetze, die 54  Es hätte nach Hobbes keinen Sinn, anstelle der Rückbindung des Souveräns an den Zweck seiner Einsetzung nach einer Rückbindung an das Prinzip seiner Einset­ zung zu fragen, denn ein solches wäre aus dem Zweck (Friedensicherung zum Selbsterhalt) entstanden: Alle Regeln der praktischen Philosophie von Hobbes sind letztlich Verwirklichungsregeln in Bezug auf diesen Zweck.

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allgemein sind“, für das Wohl im Sinne eines „möglichst glücklichen Le­ bens“ zu sorgen55. Diese Verpflichtung des Souveräns zur Einhaltung der „Naturgesetze“ (natürlichen Gesetze) bestehe allerdings gegenüber Gott. Einem Untertanen könne er hingegen „im eigentlichen Sinne“ kein Unrecht und keine Unge­ rechtigkeit antun: Selbst wenn er entgegen dem Naturgesetz der Billigkeit einen „unschuldigen Untertanen“ töte, geschehe diesem kein Unrecht. Für die Untertanen hingegen hätten die für jeden Menschen gemäß seiner Ver­ nunft und nach dem Satz: „Tue keinem anderen, was dich unvernünftig dünkt, wenn es ein anderer dir tut“ erkennbaren natürlichen Gesetze im Staat auch ohne Bekanntmachung die Bedeutung von Gesetzen. Die Ausle­ gung staatlicher Gesetze sei verbindlich nur durch vom Souverän eingesetz­ te Personen (letztlich Richter) möglich56, die dessen Willen bzw. den Inhalt der natürlichen Gesetze berücksichtigten, wobei das Naturgesetz der Billigkeit als Wille des Souveräns anzusehen und zur Auslegung heranzuziehen sei, wenn der Wortlaut nicht eindeutig ist57. Gibt es nach Hobbes irgendetwas, was dem Untertanen bzw. Bürger rechtlich zusteht und diesem also letztlich nicht einseitig rechtlich genommen werden kann? Hobbes schreibt: „Es versteht sich, dass die Verpflich­ tung der Untertanen gegen den Souverän so lange und nicht länger dauert, wie die Macht dauert, mit deren Hilfe er sie schützen kann. … Der Zweck des Gehorsams ist der Schutz …“58. Daraus ergibt sich für Hobbes ein nicht entsagbares Recht des Untertanen auf Selbstverteidigung in Lebensgefahr: Der Untertan habe die „Freiheit, nicht zu gehorchen“, wenn der Souverän (und sei es „gerechterweise“) ihm befiehlt, sich zu töten oder zu verletzen. Er habe auch die Freiheit, Widerstand gegen vom Souverän befohlene An­ griffe (und seien diese rechtmäßig) auf sein Leben zu leisten. Der Untertan könne niemals verpflichtet sein, sich selbst wegen eines Verbrechens „anzu­ klagen“ bzw. anzuzeigen oder dessen Begehung zu gestehen. Außerdem bestehe eine rechtmäßige Ungehorsamsmöglichkeit des Untertanen bzw. Bürgers gegen eine Aufforderung, in den Krieg zu ziehen, es sei denn, dieser hatte sich vorher „freiwillig als Soldat gemeldet“ oder aber die Ver­ teidigung des Gemeinwesens erfordere umgehend Hilfe aller Waffenfähigen. Allerdings könne der Souverän eine solche nicht-ungerechte Weigerung rechtmäßig mit dem Tode bestrafen59. 55  Hobbes,

Vom Bürger, 13. Kapitel, 1. bis 4. könnten hierbei auch irren; deshalb binde ihr Urteil nur die jeweils Be­ teiligten für diesen Fall, niemals andere Richter oder sie selbst in Zukunft; Levia­ than, 26. Kapitel. 57  Hobbes, Leviathan, 21. bis 23. Kapitel. Vom Bürger, 6. Kapitel. 58  Hobbes, Leviathan, 21. Kapitel. 56  Diese



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Hier zeigt sich erneut die schon seit der Einführung des Wortes „Recht“ bei Hobbes bekannte Weise, Gegensätzliches jeweils als „Recht“ zu be­ zeichnen. Das Recht einer Person ist bei ihm nicht das Zustehen von Etwas zu dieser Person im Verhältnis zu anderen, sondern nach dem Ansatz das jeweils nach subjektivem Begehren und Urteilen zur eigenen Selbsterhal­ tung Taugliche bzw. Nützliche. Im Staat unter einem Souverän mit höchster Macht ist diese relative Beliebigkeit als Konsequenz pragmatischer Selbst­ erhaltungs- und Nutzenüberlegungen stark reduziert; lediglich in (wie auch immer entstandener) Lebensnot bleibe dem Bürger bzw. Untertan die prag­ matische Selbstbeurteilung und das Handeln danach als „sein Recht“ mög­ lich. Jedes Ge- bzw. Verbot hat bei Hobbes die Form und den Inhalt: „Wenn du sicher leben willst, dann tue bzw. unterlasse … (x)“, ist also bedingt auf den faktischen Selbsterhaltungswillen und dessen Durchsetzbarkeit (hypo­ thetischer Imperativ60), sodass in Lebens- und höchster Leibesnot alle zur Rettung tauglichen Mittel „Recht“ sind. Recht und Ethik im engeren Sinne werden von Hobbes begrifflich nicht klar getrennt werden: Hobbes schreibt lediglich, es sei ebenso ein Fehler, zu wenig staatliche Gesetze zu erlassen, als auch ein Übermaß an Gesetzen zu schaffen. Die Bürger würden, wenn sie ohne „Erlaubnis der Gesetze nichts mehr unternehmen dürften, geistig erstarren“, Gesetze könnten zu „Fallstricken“ werden. Es sollten nicht mehr Gesetze sein, als zum „Wohl der Bürger und des Staates unbedingt erforderlich“61. Im Leviathan definiert Hobbes „Sünde“ als Gesetzesübertretung und Missachtung des Gesetzge­ bers. Eine solche könne nicht nur in einer Tat gegen das Gesetz liegen, sondern auch im „Vorsatz oder der Absicht, das Gesetz zu übertreten“. Ein „Verbrechen“ als besondere Sünde liege hingegen erst beim Gesetzesverstoß durch eine äußerliche Handlung („durch Tat oder Wort“) vor. Es ist anzu­ nehmen, dass Hobbes, der jede positivrechtlich-vorgesehene Gesetzessank­ tion, welche ein Übel für den Betroffenen darstellt, als „Strafe“ bezeichnet, mit „Verbrechen“ hier jedes Unrecht meint. Demnach dürften rein-innere „Sünden“ – nämlich nach Hobbes Entschlüsse zu Unrechtstaten – als bloßunethisches Verhalten wie das gesamte sonstige „forum internum“ keine Gegenstände staatlicher Gesetze bzw. Sanktionen sein62. 59  Hobbes, Leviathan, 21. Kapitel. Im Fall der Kriegsgefangenschaft des Unterta­ nen, aus welcher dieser nur durch Unterwerfung unter den Souverän des anderen Staates entkommen kann, ist eine solche nach Hobbes ebenfalls rechtlich möglich. 60  Siehe aber oben Fn. 33. 61  Hobbes, Vom Bürger, 13. Kapitel, 15. 62  Hobbes, Leviathan, 27. Kapitel und zur „Strafe“ 28. Kapitel. Nach Hobbes ist nur spezial- und generalpräventiv ausgerichtete Gesetzessanktion Strafe; Bestrafung nur wegen des Verbrechens wäre demnach nicht möglich, sondern eine „feindselige Handlung“. Allerdings sieht Hobbes „keinen Grund“, weshalb der Souverän nicht

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f) Konsequenz für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten Hobbes hält im Kapitel „Von Verbrechen, Rechtfertigungsgründen und mildernden Umständen“ dem dargestellten Gedankengang gemäß jede Tat unter „Bedrohung mit unmittelbarem Tod“ für „völlig gerechtfertigt“, da kein Gesetz einen Menschen verpflichten könne, seine Selbsterhaltung auf­ zugeben. Selbst wenn es ein solches staatliches Gesetz gäbe, könnte doch jeder Mensch argumentieren: „Wenn ich es nicht tue, sterbe ich sofort, wenn ich es tue, sterbe ich später: deshalb verlängere ich mein Leben, wenn ich es tue: also zwingt ihn die Natur zu dieser Tat“. Ein rechtfertigender bzw. richtiger „Zwang der Natur“ (d. h.: durch die Natur) ist nach Hobbes die Folge einer Überlegung („also“; Konklusion), somit die Ableitung die­ ses Urteils der Notwendigkeit der Notstandstat aus einem Imperativ der Selbsterhaltung. Dass das Unterlassen einer das eigene Leben rettenden Notstandstat faktisch vorkommen kann, wird wohl von Hobbes nicht bestrit­ ten: Es handelte sich dabei nach Hobbes dann jedoch um einen falschen Gebrauch der „recta ratio“ (der Terminus „Zwang der Natur“ bezeichnet bei Hobbes also keine strikte äußere Determination). Als Beispiele für gerechtfertigte Notstandstaten nennt Hobbes Raub und Diebstahl von Nahrung zur Errettung aus Hungersnot; auch wenn jemand „aus Notwehr einem anderen das Schwert entreißt, ist er aus dem zuvor angeführten Grund völlig gerechtfertigt“63. Bemerkenswert ist, dass nach der hobbesschen Argumentation und seinen beispielhaft gegebenen Fallbe­ urteilungen das Lebensnotstands-Recht soweit keinen prinzipiellen Unter­ schied zum Notwehrrecht gegen rechtswidrige Angriffe zu enthalten scheint. Was ergibt sich nach Hobbes’ Überlegungen als Antwort auf die Frage nach richtigem Verhalten in weniger einschneidenden Situationen als dem Lebensnotstand? Eines der im Staat als staatliche Gesetze geltenden „natür­ lichen Gesetze“ fordert vom Einzelnen als Ableitung aus dem pragmatischen Gebot, Frieden zu suchen, dass er sich „den übrigen anpasst“ und sich „den anderen gefügig erweise“, um nicht als „hartnäckig, ungesellig und unlenk­ sam“ bzw. „lästig“ angesehen zu werden und in der Gefahr zu sein, wie „ein Stein, der … wegen seiner Härte nicht leicht geglättet werden kann religiöse Lehren und Gottesdienste, die seiner Ansicht nach dem „ewigen Heil der Bürger“ abträglich sein könnten, verbieten und die von ihm für richtig gehaltenen religiösen Lehren „verbreiten und üben … lassen“ sollte, Vom Bürger, 13. Kapitel, 5. Hier scheint mit der Annahme einer möglichen Rechtspflicht zum „Üben“ be­ stimmter religiöser Lehren (exklusiv) von Hobbes doch ein Eindringen in das forum internum für rechtlich möglich gehalten zu werden. 63  Hobbes, Leviathan, 27. Nach Hobbes muss die Handlung zur Rechtfertigung stets in dem Sinne erforderlich sein, dass weniger belastende Aktionen nicht zur Abwendung der Not führten.



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und den Bau behindert, von den Bauleuten als unnütz und störend wegge­ worfen“ zu werden64. Hier wird also ein unbestimmtes (letztlich pragmati­ sches) Anpassungs- und Hilfsgebot formuliert. Der Souverän habe seine Pflicht, durch allgemeine Gesetze für das Wohl der Bürger im Sinne eines „möglichst glücklichen Lebens zu sorgen“, erfüllt, wenn er dafür gesorgt habe, „dass es durch heilsame Einrichtungen so vielen wie möglich und so lange wie möglich gut gehe und dass es niemandem schlecht gehe, ausge­ nommen durch seine eigene Schuld oder durch einen Zufall, dem man nicht vorbeugen konnte. Mitunter erfordert aber das Wohl der meisten, dass es denen, die schlecht sind, auch schlecht gehe“65. Hier differenziert Hobbes nun doch zwischen Notwehr und Notstand, letzterem sei bestmöglich vorzubeugen bzw. Abhilfe zu schaffen. Wenn Hobbes im zweiten Satz des Zita­ tes von „schlechten“ Menschen spricht, sind damit nicht nur rechtswidrig Angreifende gemeint, sondern auch dem Gemeinwesen konkret Unnützliche bzw. dieses Störende. Das ergibt sich aus Hobbes’ Argumentationsgang und aus dem Zusammenhang der Sätze („… niemandem schlecht gehe, ausge­ nommen durch seine eigene Schuld … Mitunter erfordert aber  …“). Mög­ licherweise wird hiermit ein in besonderen Notlagen grenzenloses Notstandsrecht des Souveräns behauptet, das auch Tötungen von an der Notla­ geentstehung Unbeteiligten erfasst. Zwar hat nach Hobbes der Untertan diesem kein Recht übertragen, gewaltsam Hand anzulegen – aber darin sieht Hobbes eben keinen Widerspruch: Der Untertan habe bei bevorstehender Tötung stets das Recht auf Selbstverteidigung, auch gegen rechtmäßige Angriffe (siehe oben). Aus der Perspektive des Souveräns ist jedoch in die Kalkulation (gemäß der recta ratio) eine wahrscheinliche Kampfbereitschaft des Untertanen zur Verhinderung seines Verletztwerdens als ein dem Frie­ den abträglicher Umstand (Subtrahend vom jeweiligen Sicherheitszustand) einzubeziehen, sodass jedenfalls Notstandstötungen nur zur Abwendung extremer Notlagen vorgenommen werden sollten. Hans Ryffel erblickt in Hobbes’ Ausführungen die „Argumentationsfigur“ der „Güterabwägung“66. Demnach wäre also die Statuierung von Hilfspflichten einzelner für in Not geratene andere und ein besonderes Zugriffsrecht derer aufgrund ihrer (zu­ fälligen) Not ohne weiteres denkbar. Jedenfalls ist die Antwort auf die Frage nach Inhalt bzw. genauer Formu­ lierung und Grenze eines Notstands-Rechtfertigungsgrundes als staatliches 64  Leviathan,

15. Kapitel und Vom Bürger, 3. Kapitel, 9. Bürger, 13. Kapitel, 3. und 4. 66  Ryffel, Rechtfertigung des Staates, S. 207 mit Bezug auf Leviathan, 14. Kapitel und Vom Bürger, 2. Kapitel, 18. und 5. Kapitel, 1. Er nimmt jedoch entgegen Hobbes an, mit diesem Argument könnten sich die Bürger auch von der Gehorsampflicht unter gewissen Voraussetzungen „lossprechen“, etwa sei der gewaltsame Tod für denjenigen, der „höhere Werte kenne“, nicht das größte Übel. 65  Vom

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positives Gesetz nach Hobbes notwendig dem (jeweiligen) Souverän vorbehalten, welcher sie nach seiner Effizienzeinschätzung zum Friedens- bzw. Sicherheitserhalt oder zu dessen Herstellung entwirft. g) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Hobbes eine Rechtfertigung von Notstandstaten zum Nachteil Unbeteiligter nicht nur kein begriffliches Problem darstellt, sondern zumindest für Taten in Lebensnotlagen aus dem Ansatz folgt. Eine über einen gesetzlichen Rechtfertigungsgrund für Lebensnotstands­ situationen hinausgehende Regelung ist nach Hobbes zwar keine für den Erhalt des Gemeinwesen unbedingt erforderliche Voraussetzung (kein „grundlegendes Gesetz“), ist aber gemäß dem Selbsterhaltungsstreben unter der Kontrolle der recta ratio rechtlich geboten und sollte somit als staat­ liches Gesetz gelten und vom Souverän als solches zum Ausdruck gebracht werden. Inhalt und Grenze ist dabei für den Untertanen a priori unbestimmbar, nämlich als Ergebnis von Zweckmäßigkeitserwägungen im Hin­ blick auf Friedensherstellung bzw. -erhalt seitens des Souveräns notwendig diesem überlassen. Bei Hobbes bedeutet die Rückbindung des Souveräns an das „Recht der Menschen“ dessen Pflicht (vor Gott), einen für die je­ weilige (allseitige) Selbsterhaltung richtigen Frieden herzustellen. Es ist zu beachten, dass es auf der Grundlage der hobbesschen Argumentation also sogar widersprüchlich wäre, als Bürger in einem Staat zu glauben, Not­ standsrechte inhaltlich allgemeingültig näher bestimmen zu können, als gerade dargestellt. Denn dadurch würde die nach Hobbes notwendige Auf­ gabenverteilung und damit das Verhältnis Souverän-Bürger zumindest in der Gesinnung in Frage gestellt67. Dieser Umstand kann auch nicht etwa als unfertiger Gedanke oder Detailfehler an-sich-hobbeskonform hinwegoder uminterpretiert werden, denn dies hieße, Hobbes’ Konzept (entgegen der verbalen Vorgabe) nicht ernst zu nehmen. Die Untertanen können zwar die „goldene Regel“ als Prüfkriterium anwenden. Nach Hobbes, der nicht deutlich zwischen Ethik im engeren Sinne und Recht trennt, ergibt sich demnach wohl, dass Entgegenkommen und gegenseitige Hilfe anzustreben und auch als Rechtsforderungen durchzusetzen sind, weil sonst der 67  Der „Naturzustand“, den es zu überwinden gelte, besteht für Hobbes gerade in der (fast) totalen Beliebigkeit der Einzelnen, für sich zu entscheiden, was jeweils „Recht“ ist. Die „Entsagung“ davon und die „Übertragung“ dieses „Rechts“ bzw. dieser „Macht“ auf den Souverän kann und soll nicht zurückgenommen werden: Der Versuch, dem Souverän konkrete gedankliche Vorgaben zu machen, müsste nach Hobbes als Rückfall in den Naturzustand zumindest in der Gesinnung beurteilt wer­ den.



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„Schutz“ des Notleidenden (der man auch selbst einmal sein könnte) ge­ ring sei und dieser damit ungebunden und auf seine „Freiheit zur Selbst­ verteidigung“ verwiesen wird. Bestimmung von Inhalt und Grenze einer Notstandsrechtfertigungsregel muss aber notwendig dem Souverän vorbe­ halten bleiben. Eine Notstandsregel entsprechend § 34 StGB ist nach Hob­ bes’ Konzept ohne Schwierigkeiten als staatliches Gesetz denkbar (ebenso das Fehlen einer solchen Norm). Im Folgenden wird als weiteres Beispiel einer unmittelbar-material anset­ zenden Theorie der Generierung von Sollensbehauptungen eine utilitaristi­ sche Position vorgestellt. Dafür werde ich mich im Wesentlichen auf die Ausführungen von John Stuart Mill aus seinem Werk „Der Utilitarismus“ beziehen. Mill hielt den Utilitarismus für die einzig-mögliche rationale nor­ mative Position. Es haben sich zwar im Laufe der Zeit im Detail verschie­ dene utilitaristische Konzepte herausgebildet. Jedoch sind die jeweiligen Unterschiede unter dem die gedankliche Basis betreffenden, hier primär interessierenden Aspekt der Weise der Generierung von Sollenssätzen (dem Übergang von Seinsaussagen zu Sollensbehauptungen) und dessen Konse­ quenz für Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts unbedeutend: Alle utilitaristischen Einzelkonzepte können unter den unmittelbar-materialen Ansatz geordnet werden. Man möge bei der folgenden Darstellung auf Ge­ meinsamkeiten und Unterschiede zur Konzeption von Thomas Hobbes achten. 2. John Stuart Mill a) Ausgangspunkt Mill sah sich im Anschluss an Locke, Hume und Bentham als strikten Empiristen (kritisch gegen alle als ideologisch betrachtete Metaphysik)68. Man habe lediglich Kenntnis von Phänomenen und diese sei relativ: Sie bzw. die Bestimmung der Erscheinungen, welche Bewusstseinszustände seien, entstehe durch Vergleichung untereinander. Aus der Verknüpfung dieser Vorstellungen resultierten alle mentalen Eindrücke, Gefühle und Ur­ teile (etwa Eigenschaftszuschreibungen). Durch Erinnerung und Assoziation würden die verschiedenen Erscheinungen bzw. ungeordneten Vorstellungen in eine Reihenfolge geordnet. Diese Verstandesleistungen (logischen Prozes­ se) seien ausschließlich abhängig von jeweils subjektiver Erfahrung, die generalisiert werde: Jedes erkenntniserweiternde Urteil ist nach Mill not­ 68  Auch die Logik, die Mathematik und die (seine) Erkenntnistheorie betrachtete er als empirische Wissenschaften.

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wendig ein Induktionsurteil69. Die Verallgemeinerung des besonderen Gege­ benen (der subjektiven Erfahrung) zu allgemeinen Regeln bzw. Gesetzmä­ ßigkeiten sei die einzig mögliche Weise der Erkenntnisproduktion: Mill bezeichnet diese Verallgemeinerung als „Schluss“70 vom Besonderen auf ein Allgemeines. Die Induktion bzw. das Induktionsverfahren resultiere aus ei­ ner natürlichen Neigung des Geistes, seine Erfahrungen zu generalisieren71. Das Ich sei eine Assoziation einzelner Zustände (Empfindungen und deren Abbildern in den Vorstellungen). Der Ausgangspunkt von Erkenntnis bzw. Erfahrung (Mill setzt dies gleich) seien stets beobachtete Einzelfälle, die verglichen würden. Der Verstand schließe dann induktiv (durch Verallge­ meinerung der Umstände dieser Fälle) auf Gesetze bzw. Gesetzeshypothe­ sen. Das Axiom der Induktion liegt nach Mill in der Annahme, dass der Gang der Natur gleichförmig verlaufe (ähnliche oder gleiche Phänomenrei­ henfolgen beobachtet werden können), diese gleichförmige Aufeinanderfol­ ge nennt er das „Kausalgesetz“. Dies gelte in dem Maße wie bzw. soweit es durch Erfahrung belegt werde. Dieses Axiom bzw. „Kausalgesetz“ soll dabei selbst auf Induktion, nämlich der Verallgemeinerung von (erfahrenen) gleichlaufenden Fällen beruhen. Damit wird, wie Lawen schreibt, die Erfah­ rung „zu ihrem eigenen, immer wieder neuen fundamentalen Prüfstein ge­ macht“, wobei „die daraus resultierende Tendenz, zukünftige Tatsachen aus dem bereits Erkannten zu schließen, nicht mehr und nicht weniger als eine Erwartung“ darstelle, welche „die Gewohnheit des Aufeinanderfolgens lehrte“72.

69  Mill,

Logik, Buch III, Kapitel 5, 1 ff. formallogische Begründung solcher „Schlüsse“ ist unmöglich. Bestritten ist, dass es sich dabei überhaupt um logische Schlüsse handelt. Etwa Sachsse hält die Bezeichnungen „induktive Logik“ und „logischer Schluss“ für irreführende Fehl­ bezeichnungen: Die Induktion ergäbe bloße Arbeitshypothesen; als „Schlüsse“ be­ trachtet handele es sich stets um den Fehlschluss von „es gibt“ auf „alle sind“, Sachsse, Kausalität, S. 61. 71  Mill schreibt, er könne lediglich bezüglich des Aktes der Vergleichung von Phänomenen zur Bildung allgemeiner Vorstellungen einen „geringen Kern von Wahrheit“ in der (gemeint: kantischen, G. H.) Lehre erkennen, nach welcher „die Vorstellungen, durch welche der Geist die Vorstellungen ordnet und ihnen Einheit verleiht, vom Geist selbst geliefert werden müssen“, Logik, Buch IV, II. Kapitel, § 3. Es stellt für ihn keinen Widerspruch dar, wenn er sodann schreibt: „… die auf hinreichender natürlicher Begabung beruhende Gewohnheit des genauen Beobach­ tens und Vergleichens …“ – für ihn ist das Begreifen von Erscheinungen mittels vergleichendem Denken („Geist“) also insgesamt eine auf Begabung bzw. Neigung beruhende Gewohnheit des Menschen. 72  Lawen, Konzeptionen der Freiheit, S. 45, 46. Lawen gibt in diesem Werk einen interessanten Überblick über Leben und Werk von John Stuart Mill. 70  Eine



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b) Das moralisch Richtige bzw. Falsche (Übergang zu Sollensbehauptungen) Seine moralisch-praktischen Überlegungen beginnt Mill mit der These, dass das einzig-rationale Grundprinzip der Moral das „Prinzip der Nützlich­ keit“ bzw. „des größten Glücks“ sei. Dies sei ein stets wirksamer Maßstab, selbst wenn er als solcher nicht anerkannt werde73. Alle „Apriori-Moralisten, die das Argumentieren überhaupt noch für notwendig“ hielten, würden letzt­ lich ebenfalls auf die Folgen und deren Bewertungen nach empirischen Begriffen von Wohl und Freude bzw. Übel und Leid (pleasure / happiness bzw. pain / unhappiness) abstellen (gegen Kant und einen formalen Pflicht­ ansatz). „Moralisch richtig“ sind nach dem utilitaristischen Prinzip Handlungen „insoweit und in dem Maße … als sie die Tendenz haben, Glück zu beför­ dern … und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Ge­ genteil von Glück zu bewirken“. Der „Maßstab für Recht und Unrecht“ sei die Nützlichkeit. Nützlichkeit sei die Lust selbst (pleasure – es gibt mehrere Übersetzungsmöglichkeiten für dieses Wort). Glück wird als „Lust und das Freisein von Unlust“ definiert, „Unglück“ ist demnach „Unlust und das Fehlen von Lust“. Lust und das Freisein von Unlust seien „die einzigen Dinge, die als Endzwecke wünschenswert sind“. Der utilitaristische Argumentationsgang setzt also beim jeweils einzelnen Menschen mit der Behauptung an, niemand wünsche letztlich etwas anderes als „Lust“ bzw. „Freisein von Unlust“ und könne auch nichts anderes wün­ schen (das „größte Glück“ sei „der letzte Zweck“)74. Mill will dabei alle „Formen des Lustvollen, des Schönen, des Gefälligen oder des Vergnüg­ lichen“ einbeziehen. Es sei fehlerhaft, den Ausdruck „utilitaristisch“ so zu gebrauchen, als impliziere er eine „Erhebung über das Frivole und die Lust des Augenblicks“. Zwar stoße eine solche Lebensauffassung bei vielen Menschen auf eine eingewurzelte Abneigung; viele wendeten ein, es hande­ 73  Mill nimmt generell an, dass „die Lehrsätze, die man letztlich zu den ersten Prinzipien einer Wissenschaft erklärt, … im Grunde die letzten Ergebnisse einer philosophischen Analyse der grundlegenden Annahmen, mit denen die Wissenschaft operiert …“ seien, welche sich „zur Wissenschaft nicht wie das Fundament zum Gebäude, sondern wie die Wurzeln zum Baum“ verhielten, die „ihre Aufgabe ja auch erfüllen, wenn sie niemals ausgegraben und dem Tageslicht ausgesetzt wer­ den“. Allerdings, so Mill, sollte man hinsichtlich eines „Maßstabs für Recht und Unrecht“ meinen, ein solcher sei „ein Hilfsmittel zur Feststellung von Recht und Unrecht … und nicht erst das Ergebnis einer solchen Feststellung“, Utilitarismus, 1. Kapitel. 74  Mill, Utilitarismus, 1. und 2. Kapitel. Im 4. Kapitel schreibt Mill, es sei „eine physische und metaphysische Unmöglichkeit, etwas anderes als in dem Maße zu begehren, in dem die Vorstellung von ihm lustvoll ist“.

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le sich um „eine Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre“. Mills Reak­ tion auf einen solchen denkbaren Einwand hebt seine Position z. B. von der utilitaristischen Position Jeremy Benthams ab. Während Bentham Handlun­ gen bzw. deren Folgen unter dem Postulat des maximalen Gesamtnutzens (bzw. -glücks) ohne qualitative Bewertung verschiedener Freuden vorneh­ men wollte75, schreibt Mill: Wie es sinngemäß die Epikureer schon heraus­ gestellt hätten, werde bei obigem Einwand, der „die menschliche Natur in entwürdigendem Lichte erscheinen lasse“, unterstellt, dass „Menschen kei­ ner anderen Lust fähig sind als der, der auch Schweine fähig sind.“ Wäre dem so, wäre dem Einwand nichts entgegen zu halten, es handelte sich dann jedoch nicht mehr um einen Einwand. Allerdings werde die Lust des Tieres der menschlichen Vorstellung von Glück nicht gerecht: „Die Menschen haben höhere Fähigkeiten als bloß tierische Gelüste und vermögen, sobald sie sich dieser bewusst geworden sind, nur darin ihr Glück zu sehen, worin deren Betätigung eingeschlossen ist.“ Eine Ableitung der Konsequenzen aus dem utilitaristischen Prinzip habe viele stoische und christliche Elemente einzubeziehen. Den „Freuden des Verstandes, der Empfindung und Vorstel­ lungskraft sowie des sittlichen Gefühls“ sei ein weitaus höherer Stellenwert zuzuschreiben als denen der bloßen Sinnlichkeit, wobei die Überlegenheit der geistigen über die körperlichen Freuden allerdings im Wesentlichen nur in der größeren Dauerhaftigkeit, Verlässlichkeit, Unaufwendigkeit usw. be­ stehe, also nicht in ihrer „inneren Beschaffenheit“, sondern letztlich in ihren äußeren Vorteilen. Mill schreibt: „Die Anerkennung der Tatsache, dass einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere, ist mit dem Nütz­ lichkeitsprinzip durchaus vereinbar. … Es wäre unsinnig anzunehmen, dass der Wert einer Freude ausschließlich von der Quantität abhängen sollte, wo doch in der Wertbestimmung aller anderen Dinge neben der Quantität auch die Qualität Berücksichtigung findet. Fragt man, was ich meine, wenn ich von der unterschiedlichen Qualität von Freuden spreche und was eine Freu­ de – bloß als Freude, unabhängig von ihrem größeren Betrag – wertvoller als eine andere macht, so gibt es nur eine mögliche Antwort: Von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die 75  Bentham teilt zwar „verschiedene Arten der Lust oder Unlust“ (als „Rechnungs­ ablage von unseren Empfindungen“) nach einfachen und zusammengesetzten Lust­ empfindungen ein. Diese seien hinsichtlich jedes „Einzelwesens“ nach Intensität, Dauer, Gewissheit, Nähe, sowie „Fruchtbarkeit“ und „Reinheit“ (womit Fortwirkung ohne üble Nebenwirkungen gemeint ist) zu bewerten und diese Einzelposten seien dann zu addieren. Die Maßnahme, für die sich eine größere Summe an „Gesamt­ glück“ ergäbe, sei durchzuführen. Eine weitergehende qualitative Bewertung ver­ schiedener Freuden lehnt Bentham aber ab, Bentham, Gesetzgebung, v. a. 6.–8. Kapi­ tel.



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beide erfahren haben – ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus mora­ lischen Gründen vorziehen zu müssen – entschieden bevorzugt wird. Wird eine von zwei Freuden von denen, die beide kennen und beurteilen können, so weit über die andere gestellt, dass sie sie auch dann noch vorziehen, wenn sie wissen, dass sie größere Unzufriedenheit verursacht, und sie gegen noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könnten, nicht eintauschen möchten, sind wir berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschrei­ ben, die die Quantität so weit übertrifft, dass diese im Vergleich nur gering ins Gewicht fällt“. Bemerkenswert daran ist, dass solche „Freuden höherer Qualität“ nach Mill auch „größere Unzufriedenheit“ bewirken können und trotzdem vorzugswürdig sein sollen. Ein höher begabtes Wesen verlange mehr zu seinem Glück und sei auch dem Leiden „sicherlich in höherem Maße ausgesetzt als ein niedrigeres Wesen“, aber trotz dieser Gefährdungen werde es „niemals in jene Daseinsweise absinken wollen, die es als niedri­ ger empfindet“. Dies könne man „dem Stolz“, der „Freiheitsliebe“, dem „Streben nach Unabhängigkeit“ oder „der Liebe zu Macht“ zuschreiben, am besten werde es aber als „ein Gefühl der Würde“ beschrieben. Nur wer „beide Seiten“ – die der sinnlichen und der geistigen Freuden – kenne, könne sich von „den Vollkommenheiten“ eine Vorstellung machen und wer­ de sich durch Vergleichung damit der Unvollkommenheit erst bewusst76. Fraglich ist, ob hier nicht intern-widersprüchlich mit der Beurteilung von etwas subjektiv Beliebigem als „wünschenswerter und wertvoller“ doch eine „Erhebung über das Frivole und die Lust des Augenblicks“ stattfindet. Mill scheint deshalb keinen Widerspruch zu sehen, weil er keinen Inhalt einer beliebigen Vorstellung oder deren Ausleben als an sich falsch, sondern nur in Ansehung aller Folgen als falsch beurteilt. Die „Erhebung“ (oder Über­ heblichkeit) liegt jedoch darin, dass aus der Reaktion von in körperlichen und geistigen Freuden Erfahrenen bzw. von deren Beurteilung dieser Erfah­ rungen bzw. Handlungen als „wünschenswert“ bzw. „wertvoll“ abhängen soll, ob bestimmte Erfahrungen bzw. Handlungen überhaupt wünschenswert oder wertvoll sind. Der Maßstab einer solchen Qualitätsbeurteilung – und damit deren Ein­ sehbarkeit nach Mills Ansatz – bleibt dunkel: Geht Mill von einer Art „Normalität“ im Sinne einer empirischen Häufigkeit von gleichlautenden Urteilen über das Wünschenswerte bzw. Wertvolle seitens in körperlichen und geistigen Freuden Erfahrener aus und gibt bei einer gewissen quantita­ 76  „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur eine Seite der Ange­ legenheit kennen. Die andere Partei kennt beide Seiten.“, Mill, Utilitarismus, 2. Ka­ pitel.

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tiven Signifikanz des Vorzuges geistiger Freuden diesen deswegen den Vorzug überhaupt? Oder behauptet er, aus dem „Nützlichkeitsprinzip“ selbst, also durch Beurteilung aller Folgen als lustbringend bzw. -mindernd, seien qualitative Unterschiede von Freuden abzuleiten? Letzteres muss er behaup­ ten, wenn er dem Nützlichkeitsprinzip nicht einen ungenannten anderen Maßstab zugrunde legen bzw. einen solchen auf undefinierte Weise hinein­ mischen will. Allerdings bleibt unverständlich, wie sich eine solche gedank­ liche Operation der Qualitätsbestimmung von Freuden als ein gedanklicher Akt der „Erfahrenen“ genau vollziehen soll, ohne dass einer bestimmten „Freude“ doch ein „innerer Wert“ oder „Wert an sich“ beigelegt würde (was nach dem utilitaristischen Prinzip ausgeschlossen ist). Wenn auch der Beginn von Mills beim subjektiven Lustempfinden des Einzelnen ansetzender Argumentation für das utilitaristische Prinzip (und gegen als anmaßend und letztlich-irrational empfundene „Apriori-Moralis­ ten“) an die hobbessche Überlegung zum menschlichen Willen als letztem Trieb in einer überdachten Vorstellungsreihe (sofern er Begehren ist) erin­ nert, so gibt es spätestens bei der Behauptung einer anderen, nämlich „hö­ heren Qualität“ bestimmter (ggf. sogar unzufriedener machender) Freuden eine Differenz: Hobbes versucht einen Maßstab richtigen Handelns zu fin­ den, indem er nach seiner Überzeugung in einer bewusst doppeldeutigen Weise77 „natur-notwendige Zwecke“ (primär Selbsterhalt) behauptet und zu entfalten versucht, welche konkreten Handlungsanweisungen bzw. Imperati­ ve sich daraus gemäß der „rechten Vernunft“ (bei ihm rational-pragmatische Folgenkalkulation) ergeben. Mill versucht einen Maßstab zu bilden, indem er den weitaus unbestimmteren Zweck des „Glücks“ bzw. der „Lust“ (in einem weiten Sinne) als einen Sammelbegriff für ganz verschiedene einzel­ ne Empfindungen und Vorstellungen zum notwendigen Zweck des Men­ schen erklärt. Daraus folgt bei ihm nicht bloß ein pragmatischer Rat an die Einzelnen (leicht einsehbar etwa wäre folgender Ratschlag: „Prüfe alle Folgen deiner Handlungen und ob du diese wirklich faktisch willst“). Mit der Behauptung der Möglichkeit einer Bestimmung „wertvollerer Freuden“ von „höherer Qualität“ ohne Ausweis des genauen gedanklichen Prozesses des Zustandekommens solcher Urteile verlässt Mill selbst den Standpunkt des rational auf Überzeugung anderer gerichteten Wissenschaftlers. Er führt – zunächst mehr oder weniger implizit – ein unbegründetes Postulat der notwendigen Unterordnung unter das Urteil einer idealerweise in allen möglichen, nicht näher definierten oder in ihrer Qualitätsdifferenz erkenn­ 77  Doppeldeutig insofern, als Hobbes selbstverständlich von der faktischen Mög­ lichkeit und Wirklichkeit des Zuwiderhandelns bzw. zumindest der Nichtbeschrei­ tung des von ihm als notwendig vorgestellten Weges weiß (etwa vom Vorkommen von vorsätzlichen Selbsttötungen), was ihn eben nicht hindert, bestimmte Zwecke als „naturnotwendig“ zu behaupten.



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baren körperlichen und geistigen Freuden erfahrenen vermeintlichen Elite als Verhaltensgebot ein78. Die genaue Weise des Zustandekommens solcher Qualitätsurteile der Erfahrenen bezüglich ihrer Erfahrungen bzw. Handlun­ gen bleibt ungenannt und ist anscheinend nach Mills Konzeption nicht näher anzugeben. Diese Dunkelheit zeigt sich auch darin, dass nach Mills Ausfüh­ rungen nicht klar wird, ob diese Qualitätsurteile lediglich „mit dem Nütz­ lichkeitsprinzip vereinbar“ sind, oder aber sich selbst irgendwie aus diesem ergeben, also daraus abgeleitet sein sollen. Diese – letztlich sehr schlichten – Überlegungen zur Qualitätsdifferenz von Freuden sind nach Mill zur Annahme des utilitaristischen Prinzips al­ lerdings auch „nicht unbedingt erforderlich“, denn „die Norm des Utilitaris­ mus ist nicht das größte Glück des Handelnden selbst, sondern das größte Glück insgesamt; und wenn es vielleicht auch fraglich ist, ob ein edler Charakter durch seinen Edelmut glücklicher wird, so ist doch nicht zu be­ zweifeln, dass andere durch ihn glücklicher sind und dass die Welt durch ihn unermesslich gewinnt …“. Das hiermit angelegte (sozial-)pädagogische Element des Utilitarismus wird explizit, wenn Mill schreibt: „Der Utilitaris­ mus kann sein Ziel daher nur durch die allgemeine Ausbildung und Pflege eines edlen Charakters erreichen …“79.

78  „Gegen dieses Urteil der einzig zuständigen Richter kann es, meine ich, keine Berufung geben. Darüber, welche von zwei Befriedigungen es sich zu verschaffen am meisten lohnt oder welche von zwei Lebensweisen ungeachtet ihrer moralischen Eigenschaften und ihrer Folgen dem menschlichen Empfinden am meisten zusagt, kann nur das Urteil derer, die beide erfahren haben, oder, wenn sie auseinander gehen sollten, das der Mehrheit unter ihnen als endgültig gelten … Welche Instanz als das Urteilsvermögen der Erfahrenen sollte uns sagen können, ob es sich auszahlt, für eine bestimmte angenehme Empfindung eine bestimmte unangenehme Empfin­ dung in Kauf zu nehmen …“. Der „Maßstab, an dem Qualität gemessen wird“, sei die „Bevorzugung derer, die ihrem Erfahrungshorizont nach … über die besten Vergleichsmöglichkeiten verfügen“, Mill, Utilitarismus, 2. Kapitel (Hervorhebungen von mir, G. H.). 79  Mill, Utilitarismus, 2. Kapitel. Dies klingt auch an, wenn Mill davon spricht, die „Fähigkeit, edlere Gefühle zu empfinden“, sei „in den meisten Naturen eine äußerst zarte Pflanze, die nicht nur an widrigen Einflüssen, sondern schon an man­ gelnder Pflege zugrunde gehen kann; und bei den meisten jungen Leuten verküm­ mert sie sehr früh …“, sodass viele Ältere zu höheren Freuden „nicht mehr fähig sind“. Solche Überlegungen gegen „widrige Einflüsse“ bei der Ausbildung eines „edlen Charakters“ lagen Mills politischen Bemühungen etwa um ein allgemeines Wahlrecht und einen Ausgleich aufkommender sozialer Spannungen zugrunde, Über­ blick etwa bei Lawen, Konzeptionen der Freiheit, S. 27 ff. „Allein die Erbärmlichkeit der gegenwärtigen Erziehung und die elenden gesellschaftlichen Verhältnisse verhin­ dern, dass es (ein Leben in Glückseligkeit, G. H.) für alle erreichbar ist“. Menschen sollten ihre Vorstellungen und Erfahrungen darüber, was nützlich ist, ihren Kindern beibringen.

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c) Mills Folgerungen aus dem „Nützlichkeitsprinzip“ Die utilitaristische Auffassung als Norm der Moral definiert Mill als „Gesamtheit der Handlungsregeln und Handlungsvorschriften, durch deren Befolgung ein Leben der angegebenen Art für die gesamte Menschheit im größtmöglichen Umfang erreichbar ist; und nicht nur für sie, sondern, so­ weit es die Umstände erlauben, für die gesamte fühlende Natur.“ Den „Geist der Nützlichkeitsethik“ finde man auch ausgesprochen in der „Goldenen Regel“, die Jesus von Nazareth aufgestellt habe: „Die Forderungen, sich dem anderen gegenüber so zu verhalten, wie man möchte, dass er sich ei­ nem selbst gegenüber verhält und den nächsten lieben wie sich selbst, stellen die utilitaristische Moral in ihrer höchsten Vollkommenheit dar“. Im unvollkommenen Zustand der Welt könne Bereitschaft der Opferung zur Rettung bzw. zur Beförderung des Glücks anderer demnach als höchste Tugend gelten. Es sei sogar konform mit dem Utilitarismus, sich eine Hal­ tung der Bereitschaft, ohne Glück auszukommen, zuzulegen, weil eine solche Haltung „im gegenwärtigen Zustand der Welt“ wohl am ehesten geeignet sei, ein Maximum an erreichbarem Glück zu bewirken: Die „Moral der aufopfernden Hingabe“ stehe den Utilitaristen ebenso zu wie den Stoikern und den „Transzendentalisten“ – das Opfer selbst sei aber an sich kein Gut, sondern nur wenn und soweit es „den Gesamtbetrag an Glück“ erhöhe; nur die „Hingabe an das Glück anderer“ sei zulässig. Dies entspreche der „Gol­ denen Regel“. Es sei Sache der Ethik, Pflichten vorzustellen. Aus welchem Motiv aber jemand eine pflichtgemäße Handlung vollziehe, sei für deren Beurteilung als richtig nicht relevant. Zwar sei nach utilitaristischer Ethik die Vermeh­ rung der Glücks der Zweck der Tugend, allerdings habe der Einzelne seine Gedanken in der Regel nicht auf „vage Allgemeinheiten wie die Welt oder die Gesellschaft als Ganze“ zu richten, sondern auf das Wohl einzelner In­ dividuen. Und er brauche über das Wohl der direkt von seinem Handeln Betroffenen nur insoweit hinauszublicken, wie es zur Vermeidung der Ver­ letzung von Rechten anderer im Sinne von deren „berechtigten und gesetz­ lich legitimierten Erwartungen“ erforderlich sei. Er habe nur dann die Pflicht zur Berücksichtigung des öffentlichen Nutzens, wenn er in seltenen Fällen – oder aber als Regierender – die Macht habe, ein öffentlicher Wohl­ täter zu sein. Das Nützlichkeitsprinzip fordere erstens, dass „Gesetze und gesellschaftliche Verhältnisse das Glück oder (wie man es in der Praxis auch nennen kann) die Interessen jedes Einzelnen so weit wie möglich mit den Interessen des Ganzen in Übereinstimmung bringen; und zweitens, dass Erziehung und öffentliche Meinung, die einen so gewaltigen Einfluss auf die menschlichen Gesinnungen haben, diesen Einfluss darauf verwenden, in der Seele jedes Einzelnen eine unauflösliche gedankliche Verknüpfung her­



I. Unmittelbar-materialer Ansatz51

zustellen zwischen dem eigenen Glück und dem Wohl des Ganzen … Wenn das Nützlichkeitsprinzip zu irgendetwas gut ist, dann muss es … sich wi­ derstreitende Nützlichkeiten gegeneinander abwägen und die Bereiche ein­ grenzen können, in denen die eine oder die andere überwiegt“. Dabei seien alle Folgen einzubeziehen, wobei es nicht nur auf unmittelbaren Nutzen ankomme, sondern auch darauf, ob die „in Frage stehende Handlung zu einer Klasse gehört, die, allgemein praktiziert und aufs Ganze gesehen schädlich wäre“, sodass sich ihr zu enthalten sei80. Jedoch müsse eine solche Abwägung nicht in jedem Fall und von Jeder­ mann direkt nach dem Nützlichkeitsprinzip durchgeführt werden, sondern es könnten „sekundäre Prinzipien“ – etwa die bisher praktizierten Regeln – als Wegweiser auf dem Weg der Erzielung des größten Glücks insgesamt ein­ bezogen werden. Handlungsregeln könnten aufgrund „der Verwickeltheit der Verhältnisse“ nicht so formuliert werden, dass sie „ohne Ausnahmen“ aus­ kämen. Es seien unter dem Nützlichkeitsprinzip Problemfälle denkbar und wirklich, in denen „Pflichten eindeutig einander widerstreiten“. Die Richt­ schnur zur Auflösung solcher Widersprüche „sekundärer Prinzipien“ sei das Nützlichkeitsprinzip; die „Anwendung dieser Norm“ bereite dann zwar Schwierigkeiten, sie sei aber besser, als gar keine81. Im Dritten Kapitel setzt Mill die Sanktion einer Norm mit dem Motiv, sie zu befolgen gleich; dies seien die Umstände, aus welchen der „verpflichten­ de Charakter“ einer Norm entspringe bzw. „woher sie ihre Verbindlichkeit“ beziehe82. Nach Mill stehen dem Nützlichkeitsprinzip einerseits äußere 80  Mill wird wegen des Hervorhebens solcher möglicher mittelbarer Folgewirkun­ gen von nur kurzfristig nützlich scheinenden Handlungen, die aber durch Nachah­ mung anderer und Gewöhnung daran dem Gesamtglück bzw. -nutzen auf längere Sicht abträglich sein könnten, heutzutage oft dem sogenannten „Regelutilitarismus“ in Abgrenzung zum „Handlungsutilitarismus“ zugeordnet. Dabei handelt es sich je­ doch um eine Einteilung, der keine prinzipielle Bedeutung zukommt: Der Regeluti­ litarismus bezieht die etwaige Wirkung einer Handlung auf andere im Sinne eines etwaig nachzuahmenden Beispiels ein und kommt deshalb öfter zur Beurteilung einer kurzfristig angenehm wirkenden Handlung als falsch. Die Differenz zum ­ Handlungsutilitarismus ist jedoch gar nicht prinzipiell anzugeben: Welche empiri­ schen Folgen einer Handlung einzubeziehen sind, ist nach utilitaristischer Auffas­ sung eine empirische Frage bzw. eine auf empirische Daten zu stützende Prognose, sodass die Differenz bei der Einschätzung darüber liegen dürfte, nicht in der utilita­ ristischen Regel als solcher. Auch bei Mill werden die von ihm so genannten „Aus­ nahmen“ einer Regel nicht als allgemeine Regel (etwa als prinzipielle Verbotsbedin­ gung) formuliert, sondern sollen letztlich von den Umständen des Einzelfalles (be­ urteilt unter dem Gesamtnutzenpostulat einschließlich qualitativer Freudendifferenzen) abhängen. 81  Mill, Utilitarismus, 2. Kapitel. 82  Dieser Gedankengang folgt aus jedem materialen Ansatz: Eine Rechtsnorm wird einerseits in Tatbestand und (Rechts-)Folge eingeteilt, andererseits soll aber die

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Sanktionen „zu Gebote“, wie u. a. „Hoffnung auf die Gunst“ bzw. „Furcht vor der Ungunst unserer Mitmenschen und des Herrschers des Alls“. Man werde sich zur Durchsetzung der utilitaristischen Moral „die ganze Wirk­ samkeit äußerer Belohnung und Bestrafung, ob körperlich oder seelisch … zunutze machen können …“. Die innere Sanktion der Befolgung bzw. Nichtbefolgung des Nützlich­ keitsprinzip sei das „Gewissen“ als ein mehr oder weniger starkes Gefühl der Unlust bei Nichtbefolgung: „Die fundamentale Sanktion der Sittlichkeit ist somit (abgesehen von den äußeren Motiven) ein subjektives inneres Gefühl“. Von diesem „natürlichen moralischen Gefühl“ nimmt Mill an, dass es nicht „angeboren“, sondern „erworben“ sei. Sein „unerschütterliches Fundament“ seien „die Gemeinschaftsgefühle der Menschen“. Diese ge­ dankliche und gefühlsmäßige Verbindung der Menschen sei umso „unauf­ löslicher, je weiter sich die Menschheit vom Zustand roher Selbstgenügsam­ keit entfernt“. Mit „der Verbesserung des menschlichen Geistes“ und „fortschreitender Kultur“ würden „die Keime dieses Gefühls durch die Ansteckungskraft der Sympathie und den Einfluss der Erziehung bewahrt, genährt und durch die gewaltige Macht der äußeren Sanktionen mit einem Gewebe stützender Vorstellungen umgeben“. Das Gemeinschaftsgefühl sei zwar „bei den meisten weniger stark, als die egoistischen Regungen, oft­ mals fehlt es ganz“. Aber für den, der es empfinde, habe es „alle Eigen­ schaften eines natürlichen Gefühls“. Die bisher eher implizit angeklungene Erhebung einer (vermeintlichen) Elite über die Mehrheit der gewöhnlichen Menschen wird explizit, wenn Mill schreibt, die „Überzeugung“ vom Vorgetragenen lasse „jeden Men­ schen mit ausgebildeten Gefühlen in Übereinstimmung (statt in Widerstreit) mit den äußeren Motiven für die Sorge um die anderen … handeln“. Der Utilitarismus beginnt argumentativ als vermeintlich individualethi­ scher Ansatz und wird bei Mill (zunächst eher implizit) mit der Einführung von Freuden „höherer Qualität“, die nur von besonders erfahrenen oder befähigten Menschen als solche erkannt werden können, und immer deutli­ cher mit der Einführung erforderlicher „Gemeinschaftsgefühle“, die durch Erziehung, öffentliche Meinung und staatliche Gesetze gefördert bzw. ge­ schaffen werden müssen, zu einer Handlungsanweisung für eine Regierung zur Organisation der Gesellschaft (Gesellschaftssteuerung). Der rasche und im Einzelnen nicht dargelegte bzw. nachvollziehbare Übergang von Indivi­ dualzwecken (den jeweils beliebigen Glücksvorstellungen) zu einem ver­ als Rechtsfolge bezeichnete Sanktion der Grund der Verbindlichkeit der Norm sein. Ob dies haltbar ist oder ob darin eine Verkehrung von Grund und Folge bzw. in dem unter ungenannten Umständen möglichen Changieren dazwischen ein Widerspruch enthalten ist, ist an anderer Stelle zu klären.



I. Unmittelbar-materialer Ansatz53

meintlich Allgemeinen findet sich auch in folgender Argumentation Mills, die zeigt, wie der Einzelne von vornherein auf das Haben eines diese An­ nahme überhaupt erklärlich machenden „Gemeinschaftsgefühls“ festgelegt wird bzw. werden muss: Wenn niemand etwas anderes als Glück begehren könne und das Glück jedes Einzelnen für diesen ein Gut sei, dann sei „das allgemeine Glück ein Gut für die Gesamtheit der Menschen“83. Auf diesen vermeintlichen Schluss ist zurückzukommen84. d) Abgrenzung der Ethik im engeren Sinne vom Recht und möglicher Inhalt staatlicher Gesetze Mill sieht das Prinzip des größten Glücks als vorpositiven Maßstab, der dem Einzelnen „moralische Rechte“ gewähre und beim anderen korrespon­ dierende Pflichten begründe (und „Gesetze, die gelten sollten“ vorgebe). Er formuliert jedoch keine strikte Trennlinie zwischen Ethik (im engeren Sinne) und Recht. Zwar komme es für die Richtigkeit einer Handlung auf das einem pflichtgemäßen Verhalten zugrunde liegende Motiv nicht an, jedoch findet damit keine Trennung zwischen einem (jedem selbst überlassenen) foro inter­ no und rechtlich relevantem äußerem Verhalten statt, da Erziehung zum Uti­ litarismus (bzw. zum Gemeinschaftsfühlen) und Steuerung der den Einzelnen lenkenden öffentlichen Meinung durch die Regierung gemäß dem utilitaristi­ schen Prinzip sogar geboten ist. Mill schreibt dazu: „Glauben wir, dass je­ mand der Gerechtigkeit nach verpflichtet ist, etwas zu tun, pflegen wir zu sagen, dass man ihn zwingen sollte, es zu tun. Es wäre durchaus recht, wenn die Erfüllung der Pflicht durch jemanden, der die Macht dazu hat, erzwungen würde. Sehen wir, dass es unklug wäre, die Pflicht durch die Gesetze erzwin­ gen zu wollen, finden wir dies bedauerlich und halten es für ein Übel, dass die Ungerechtigkeit straflos ausgeht; wir versuchen dafür Ersatz zu schaffen, indem wir dem Schuldigen die eigene und die allgemeine Missbilligung sei­ nes Tuns nachdrücklich spüren lassen.“ Ob durch Gesetz (Mill bezeichnet jede vom Betroffenen als Übel empfundene Gesetzessanktion, selbst eine Notwehrreaktion, als „Strafe“) oder durch öffentliche Meinung werde so schrittweise der Begriff der Gerechtigkeit weiterentwickelt. Die „Pflicht der 83  Mill,

Utilitarismus, 4. Kapitel (zum „Beweis … für das Nützlichkeitsprinzip“). dazu B.II.3.; dabei ist auch die Frage zu beantworten, ob die von Mill im 5. Kapitel getroffene Annahme zutreffend ist, auch Kant gestehe mit der Erklä­ rung des Prinzips: „Handle so, dass die Regel deines Handelns von allen vernünfti­ gen Wesen als Gesetz angenommen werden kann“ zum Grundprinzip der Moral „unausdrücklich zu, dass derjenige, der gewissenhaft entscheiden will, ob sein Han­ deln moralisch richtig ist, die Gemeinschaftsinteressen der Menschheit oder zumindest die Interessen jedes einzelnen Menschen in gleichem Maße berücksichtigen muss“. 84  Siehe

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Gerechtigkeit“ könne nicht von der „moralischen Pflicht im Allgemeinen“ unterschieden werden. Die Vorstelllungen von „Strafwürdigkeit“ und „Straf­ losigkeit“ seien für die Unterscheidung von Recht und Unrecht grundle­ gend85. Zwar könnten Pflichten in „vollkommene Pflichten, … durch die eine oder mehrere Personen ein entsprechendes Recht erwerben“ und „unvoll­ kommene Pflichten, denen kein solches Recht gegenübersteht“, eingeteilt werden. „Niemand hat einen Rechtsanspruch auf unsere Großmut und unsere Wohltätigkeit, da wir nicht moralisch verpflichtet sind, diese Tugenden je­ dem Individuum gegenüber zu üben.“ Das „Gerechtigkeitsgefühl“ habe zwei Bestandteile: Erstens „den Wunsch nach Bestrafung desjenigen, der ein Un­ recht getan hat“ und zweitens „das Wissen oder den Glauben, dass es ein bestimmtes Individuum oder bestimmte Individuen gibt, denen das Unrecht angetan worden ist. … Wenn wir von dem Recht einer Person sprechen, mei­ nen wir damit, dass die Person von der Gesellschaft verlangen darf, im Besitz dieses Rechts durch gesetzliche Gewalt bzw. durch den Einfluss der Erzie­ hung und der öffentlichen Meinung geschützt zu werden“. Die Frage nach einem Recht der Person sei die Frage danach, was „die Gesellschaft“ dem Einzelnen schützen sollte. Dies hängt nach Mill davon ab, was „allgemein nützlich“ sei: Die Geltung der „Gerechtigkeit“ beruhe letztlich auf dem zu­ grunde liegenden Nützlichkeitsprinzip. Nach Mill können einander wider­ sprechende „Gerechtigkeitsnormen“ alle „wahr“ sein – dann sei zur Entschei­ dung auf die zugrunde liegende Gesamtnützlichkeit abzustellen. Treibend sei „das Interesse an Sicherheit, das wesentlichste unter allen Interessen“. Dieses bewirke Gefühle, die „so viel stärker sind als die, die sich an gewöhnliche Fälle von Nützlichkeit heften, dass der Unterschied des Grades wie so oft in der Psychologie zu einem Unterschied der Art“ werde (hier ist der Bezug zur Psychologie explizit, anscheinend sieht Mill seine Ethik- und Rechtskonzep­ tion als ein Teilgebiet der Psychologie). Die „Moralvorschriften“, die für „das menschliche Wohlergehen unmittelbar bestimmend und deshalb unbe­ dingter verpflichtend sind als alle anderen Regeln des praktischen Handelns“, seien der „wesentliche Bestimmungsgrund für die Gemeinschaftsgefühle der Menschen“. Die höhere Verbindlichkeit solcher Normen sei im „Rechtsan­ spruch eines Individuums gegenüber einem anderen“ (dem „Wesen der Ge­ rechtigkeitsvorstellung“) ausgesprochen86. 85  Mill, Utilitarismus, 5. Kapitel. Gemessen an sauberer juristischer Terminologie der heutigen Zeit, in der die „Strafe“ als Reaktion auf schuldhaft begangenes schwe­ res Unrecht klar von sonstigen Sanktionen bzw. anderen Rechtsfolgen unterschieden werden muss, erscheint diese Ausdrucksweise Mills laienhaft-ungenau. Allerdings ist nach einer strikt-utilitaristischen Rechtskonzeption gar keine qualitative Trennung zwischen Strafunrecht und anderen Unrechtsformen und damit auch nicht von deren Rechtsfolgen möglich. 86  Mill, Utilitarismus, 5. Kapitel.



I. Unmittelbar-materialer Ansatz55

Weil Mill es unterlässt, allgemeingültige Voraussetzungen bzw. Kriterien anzugeben, unter denen in seiner Terminologie ein menschliches Verhalten für „strafwürdig“ (zwangsweise sanktionierbar) zu halten ist und durch welche Form des äußeren Zwanges es ggf. sanktioniert werden solle, bleibt sowohl der Maßstab für Recht und Unrecht, als auch die Abgrenzung der Ethik im engeren Sinne vom Recht weitgehend unbestimmt (nämlich je­ weils abhängig von den Urteilen einer erfahrenen Elite gemäß dem Gesamt­ nutzenprinzip). e) Konsequenz für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten Lässt sich trotz dieser Unbestimmtheiten etwas über die Inhalte eines Notstandsrechts nach einer utilitaristischen Position sagen? Mill selbst schreibt, die Menschen hätten „die stärksten und unmittelbarsten Beweg­ gründe“, sich die moralischen Regeln einzuprägen, etwa an der „gegensei­ tigen Ermahnung zur Wohltätigkeit haben sie ein unverkennbares Interesse“. Zwar hätte niemand einen direkten Anspruch abstrakt auf die Wohltätigkeit eines anderen (siehe oben), von der Befolgung der Moralvorschriften hänge aber ab, ob „ein Mensch in der Lage ist, als Glied der Gemeinschaft von Menschen zu leben; denn davon hängt ab, ob er denen, mit denen er zu­ sammenlebt zur Plage wird oder nicht“. Die „hervorspringendsten Fälle von Ungerechtigkeit, diejenigen, die der Empfindung des Widerwillens, durch die das Gerechtigkeitsgefühl charakterisiert ist, jene spezifische Färbung verleihen, sind Akte des widerrechtlichen Angriffs … sowie Fälle, in denen jemandem das ihm Zustehende widerrechtlich vorenthalten wird – beides Fälle, in denen jemandem ein echter Schaden zugefügt wird, das eine Mal in Form des unmittelbaren Leidens, das andere Mal in Form der Vorenthal­ tung eines Gutes, mit dem er begründeterweise rechnen konnte … Wer eine Wohltat empfangen hat und sie im Bedarfsfall nicht zurückerstattet, fügt dem anderen einen echten Schaden zu, indem er nämlich eine höchst natür­ liche und berechtigte Erwartung enttäuscht …“. Aus den Grundsätzen der „Gleichheit und Unparteilichkeit“ folge, dass „wir jeden gleich gut behan­ deln sollen, solange es keine höhere Pflicht verbietet“. Das „Nützlichkeits­ prinzip“ wäre nur „eine Folge bedeutungsloser Worte, wenn nicht das Glück der Person bei gleichem Grade (und angemessener Berücksichtigung der Art) für genauso viel gelten würde, wie das Glück jeder anderen“ gemäß „Benthams Diktum: Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen“. Dem­ gemäß habe „in den Augen des Ethikers wie des Gesetzgebers“ jeder den gleichen Anspruch auf die Mittel zum Glück, außer insoweit, als die unausweichlichen Bedingungen des menschlichen Lebens und das Gesamtinteresse, in dem das Interesse jedes Einzelnen enthalten ist, dieser Maxime Grenzen setzen; und diese Grenzen sollen so eng wie möglich gezogen

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werden. Wie jeder Grundsatz der Gerechtigkeit gilt auch dieser keinesfalls ausnahmslos; im Gegenteil, er passt sich den jeweils verschiedenen Vorstellungen vom sozial Nützlichen, wie ich bereits bemerkt habe, an … Alle Menschen haben ein Recht auf gleiche Behandlung, außer dann, wenn ein anerkanntes Gemeinschaftsinteresse (d. h. nach dem Vorangegangenen: fak­ tisch-aktuell von den meisten bzw. einer besonders erfahrenen Elite aner­ kanntes Interesse, G. H.) das Gegenteil erfordert … Um jemandem das Leben zu retten, ist es unter Umständen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, die nötige Nahrung oder Arznei zu stehlen oder gewaltsam davon Besitz zu ergreifen oder den einzigen Arzt, der helfen könnte, gewaltsam zu entführen und zur Hilfeleistung zu zwingen …“87. f) Zusammenfassung Nach utilitaristischem Ansatz ist die begriffliche Möglichkeit eines Not­ standsrechts unproblematisch gegeben: Ein solches ist demnach nichts an­ deres als eine Konsequenz der Anwendung des „Prinzips des Gesamtnut­ zens“ auf Notsituationen. Demgemäß unbestimmt ist auch der mögliche Inhalt solcher Notrechte: Ein sich an die jeweiligen Umstände und die wandelnden Vorstellungen von „sozialer Nützlichkeit“ anpassendes Not­ standsrecht kann nach utilitaristischem Ansatz jedenfalls keine zur Notbehebung erforderliche Abwendungshandlung kategorisch ausschließen – also auch keine Eingriffe in das menschliche Leben (Tötungen). Ausgeschlos­ sen sein müsste nach dem von Mill benannten „Gebot der Gleichheit und Unparteilichkeit“ zwar etwa die Opferung eines Menschen (dessen Tötung) zur Rettung eines anderen zumindest dann, wenn dem Geretteten keine (im Vergleich mit dem Getöteten) höhere Gesellschaftsbedeutung bzw. -nütz­ lichkeit zukommt. Falls aber doch oder falls etwa die Anzahl der Gerette­ ten größer als die der Geopferten ist, ist die utilitaristische Antwort auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Notstandstötung nur abhängig von den jeweils (als besonders erfahren geltenden) Beurteilenden bzw. dem Er­ gebnis ihres in den einzelnen gedanklichen Stadien nicht vorgegebenen Abwägungsprozesses (wie etwa ihrer Ansicht darüber, ob hier auf der ei­ nen oder anderen Seite „anerkannte Gemeinschaftsinteressen“ im Spiel sind). Eingriffe in Eigentum und Besitz, etwa eine Umverteilung von äu­ ßeren Gütern – Mill nennt Nahrung und Medikamente – auch gegen den Willen der bisher Gebrauchsberechtigten zur Hilfe anderer in Not hält Mill jedenfalls „unter Umständen“ für ebenso geboten wie die Entführung Hilfsfähiger, um diese dann zur Hilfeleistung zugunsten des Verletzten zu nötigen. 87  Mill,

Utilitarismus, 5. Kapitel.



I. Unmittelbar-materialer Ansatz57

Zwar sollen die „Grenzen“, die das Gesamtinteresse dem Anspruch des Einzelnen auf „gleiche Behandlung“ setzt, nach Mill „so eng wie möglich“ sein. Damit ist jedoch kein enger Notstandrechtsbegriff gemeint, sondern es sollen faktische Notsituationen, in denen der Einzelne aufgrund überwiegen­ der Gesamtinteressen keinen „Anspruch auf gleiche Behandlung“ hat, mög­ lichst vermieden werden (etwa durch Gefahren- bzw. Daseinsvorsorge). Abschließend lässt sich sagen, dass eine Norm wie § 34 StGB nach uti­ litaristischer Position – nämlich als direkter Ausdruck des Prinzips des Gesamtnutzens gelesen – als Norm staatlichen Rechts nicht nur ohne Schwierigkeiten möglich, sondern sogar geboten ist. Die festgestellte Un­ klarheit des dahinter stehenden Prinzips und damit auch der genauen Aus­ legung wäre hinzunehmen bzw. müsste als unvermeidlich betrachtet werden: Die Erfahrung müsste die Menschen über etwaige Fehler belehren, wobei jedoch jede Notsituation eine neue ist und jeweils auch so empfunden wird, sodass insofern keine strikte Auslegungstendenz in eine bestimmte Richtung zu erwarten wäre. Lediglich eine – sich allein aus dem Wortlaut des § 34 StGB auch nicht notwendig ergebende – Dogmatik, die etwa das mensch­ liche Leben generell einer Abwägung entzieht oder eine zwangsweise Blut­ entnahme zur Lebensrettung ablehnt (so die heute ganz überwiegende Sichtweise, siehe oben) müsste als irrational verworfen werden: Mit stei­ gender Not für eine Vielzahl von Menschen sinkt nach utilitaristischem Prinzip der Wert eines Menschenlebens proportional, wenn durch dessen Opferung die Not beseitigt werden kann (wenn die für eine Rettung anderer zu Opfernden sowieso auch in Not und insofern in Unglück sind, fällt ihr Wert entsprechend steiler). Um auch bei Notstandsrechtfertigungen der „Ge­ rechtigkeit ihren Unangreifbarkeitscharakter“ zu belassen und uns vor der „Verlegenheit“ zu bewahren, „lobenswerte Ungerechtigkeiten“ annehmen zu müssen, schlägt Mill folgenden Sprachgebrauch vor: „Das, was im gewöhn­ lichen Fall gerecht ist“, ist „im besonderen Fall wegen eines anderen Prin­ zips nicht gerecht“. Dieses permanente Vorbehalten „anderer“ (sekundärer) Prinzipien, deren vollständige und deutliche Formulierung niemals ganz möglich sein wird (nach dem Ansatz nicht sein kann), sondern deren Inhalt eben von den je­ weiligen Umständen abhängt, erinnert an die stetige Bedingung von Verbo­ ten auf „wesentlich überwiegende Interessen“ durch § 34 StGB in seiner derzeitigen Formulierung. Allerdings ist nach utilitaristischer Position we­ der die Bedingung des Rechtfertigungstatbestandes auf den Notstand (Not­ fall) und erst recht nicht das Erfordernis des „wesentlichen“ Überwiegens des Erhaltungsinteresses angezeigt88. 88  Vorausgesetzt, der Gedankengang der Abwägung von Interessen bzw. Gütern sei trotz des Umstandes, dass es sich um Gegenstände bzw. Empfindungen verschie­

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

3. Zusammenfassung (unmittelbar-materialer Ansatz und Konsequenz für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten) Die Annahme eines Notstandsrechts ist nach einem unmittelbar-materialen Ansatz begrifflich unproblematisch möglich: Sollenssätze werden demnach aufgestellt, indem ein mehr oder weniger bestimmter, aus der bisherigen Erfahrung bekannter und mittels Einbildungskraft vorgestellter Zustand als notwendiges Ziel jedes menschlichen Verhaltens behauptet wird: Bei Hob­ bes ist dies Selbsterhalt, aus dem dann die Vorstellung von Frieden im Sinne physischer Gesichertheit vor empirischen Übeln folgt. Bei Mill ist es „Glück“ zunächst als Sammelbegriff für subjektiv Begehrtes. In Situationen, in denen taugliche Weisen der Erreichung dieses Zustan­ des für einen Menschen stark eingeschränkt sind (Not) und die Erreichung des Zustandes nur durch Zugriff auf andere Menschen aussichtsreich er­ scheint, ist dieser Zugriff nach dem Ansatz jedenfalls möglich. Dies führt bei Hobbes dazu, dass in Situationen der Lebensnot mehrerer das „Recht“ auf beiden bzw. allen sich wechselseitig ausschließenden, nur alternativ verwirklichbaren Seiten ist (darin sieht Hobbes keinen begrifflichen Wider­ spruch). Hier habe der Souverän durch staatliches Gesetz zu entscheiden, wobei er das einzige Mittel zum Lebenserhalt niemals rechtlich ausschließen könne, auch wenn er eine Person bei Zuwiderhandlung gegen ein solches staatliches Gesetz rechtmäßig „bestrafen“ könne. Die genaue Formulierung eines Notstand-Rechtfertigungsgrundes muss nach Hobbes notwendig dem Souverän und seiner Einschätzung über das richtige Mittel zur Förderung oder Stabilisierung der Sicherheitslage vorbehalten bleiben. Eine Norm wie § 34 StGB könnte demnach als Ergebnis einer solchen Einschätzung be­ trachtet werden. Nach der utilitaristischen Position ist eine weite, die Interessenabwägung unter dem Postulat des „größten Glücks insgesamt“ (Nützlichkeitsprinzip) bloß zum Ausdruck bringende Notstandsrechtfertigungsnorm wohl sogar als geboten anzusehen. In Situationen, in denen Glücksvorstellungen verschie­ dener Menschen nicht allesamt verwirklicht werden können, ist durch erfah­ rene Menschen zu entscheiden, welche Lösung das höchste Glück hervor­ bringt (oder in Mills Terminologie könnte man auch sagen: „das allgemeine Glück“ fördert, obwohl dies der Prämisse der bloß alternativen Erreichbar­ keit der subjektiven Glücksvorstellungen direkt zu widersprechen scheint). dener Menschen handelt, überhaupt durchführbar: Weshalb soll nicht stets ein – ggf. auch nur knappes – Überwiegen des Erhaltungsinteresses bzw. -gutes ausreichen? Eine Darstellung der schon internen Schwierigkeiten und häufigen Inkonsequenzen utilitaristischer Konzeptionen liefert Pawlik, Notstand, S. 37 ff.



I. Unmittelbar-materialer Ansatz59

Was Hobbes als „widerstreitende Rechte“ der Einzelnen bezeichnet, ist in Mills Terminologie benannt als „widerstreitende“ sekundäre Prinzipien der Nutzenmaximierung, welche nach dem Postulat der Gesamtnutzen- bzw. -glücksmaximierung im Einzelfall oder in Bezug auf den jeweiligen Einzel­ fall „abzuwägen“ sein sollen. Eine Norm wie § 34 StGB ist demnach ohne weiteres möglich oder sogar geboten; lediglich ein sich nicht aus Gesamt­ nutzenerwägungen ergebender kategorischer Ausschluss etwa der Tötung von an der Notentstehung unbeteiligten Menschen bzw. gewisser sonstiger Behandlungen (etwa zwangsweise Blutentnahme) ist nach utilitaristischer Position als falsch zu beurteilen (siehe auch Fn. 88). Das aktuell geltende positive Recht in der Auslegung durch die heute überwiegende Rechtslehre und -praxis verfährt also mit der Annahme ge­ wisser, nicht aus Gesamtnutzenerwägungen abgeleiteter Unverfügbarkei­ ten – trotz utilitaristisch anmutender „Abwägungs“-Terminologie – ganz offensichtlich nicht nach einem rein-utilitaristischen Prinzip und mit der Annahme möglicher Unrechtsbegehung selbst in für den Betroffenen sonst tödlichen Lebensnotstandssituationen anscheinend überhaupt nicht rein nach irgendeinem materialen Ansatz. Es bleibt darzustellen, nach welchem anderen (nicht unmittelbar-materia­ len) Ansatz sich demgegenüber eine besondere begriffliche Schwierigkeit einer Notstandsrechtfertigung zeigt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die Arbeiten Immanuel Kants, der als erster einen sol­ chen prinzipiell-anderen, nämlich vom sinnlichen Begehren dieser oder je­ ner Materie unabhängigen Ansatz der Generierung von Sollensbehauptun­ gen, die ihren Inhalt also erst nach bzw. durch Prüfung auf Konformität mit der als notwendig behaupteten angegebenen Form erhalten, deutlich ausge­ arbeitet hat89.

89  Diesen Ansatz allerdings als „kantische“ Position und danach verfahrende Per­ sonen als „Kantianer“ zu bezeichnen, ist eine zur groben Verständigung wohl taug­ liche, aber streng genommen unsachliche Benennung: Der von Kant als denknotwendig zur Erschaffung wahrer Sollensaussagen überhaupt vorgestellte formale Ansatz müsste als solcher eingesehen werden können, was ganz unabhängig von den Ar­ beiten einer bestimmten Person möglich sein müsste. Wenn in diesem Ansatz der Geltungsgrund von Ethik und Recht läge, könnte dieser jedenfalls nicht als Werk eines bestimmten Autors betrachtet werden (seine Verdeutlichung allerdings schon). Somit kann auch niemand sich selbst letztlich in irgendeiner bedeutsamen Weise als „Kantianer“ verstehen.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz nach der Ausarbeitung Immanuels Kants 1. Ausgangspunkt (Erkenntnistheorie) Kant war sich sicher, dass eine allgemeingültige Beantwortung der Frage „Was soll ich tun?“ jedenfalls nicht ausgehend von einer (vermeintlich gewissen) konkreten Seinserkenntnis gelingen kann. Die Antwort bzw. der zur Antwort erforderte Verhaltensmaßstab könne letztlich nur in reiner Vernunft bzw. im menschlichen Erkenntnisvermögen selbst gefunden werden. Inso­ fern sei nach den Bedingungen der Möglichkeit wirklicher – sowohl theo­ retischer als auch praktischer – Erkenntnis überhaupt zu suchen. Dies laufe in zunächst theoretischer Hinsicht, nämlich zur Beantwortung der Frage „Was kann ich wissen?“, hinaus auf eine Untersuchung mit dem Ziel der vollständigen Bestimmung des „ganzen Umfangs der reinen Ver­ nunft in seinen Grenzen, sowohl als seinem Inhalt … nach allgemeinen Prinzipien …“. Eine solche müsse zwar mit einem Zweifel an der Mög­ lichkeit der Auflösung beginnen, sei aber motiviert durch ein „Interesse der allgemeinen Menschenvernunft“, die nicht aufhöre, danach zu fragen90. Es gehe dabei nicht um eine empirische Wissenschaft, sondern um Er­ kenntnis a priori aus reinem Verstande und reiner Vernunft. Die Prinzipien der Metaphysik als Wissenschaft seien weder aus äußerer Erfahrung (Quel­ le der Physik), noch aus innerer (Quelle der empirischen Psychologie) zu schöpfen. Metaphysische Erkenntnis müsse lauter Urteile a priori enthal­ ten. Kant unterscheidet analytische Urteile, die im Prädikat bloß erläutern, was im Subjekt schon (dunkel) lag von synthetischen Urteilen, die die im Begriff des Subjekts enthaltene Erkenntnis durch das Prädikat erweitern. Als Beispiel für ein analytisches Urteil nennt er etwa den Satz: „Alle Körper sind ausgedehnt“; hier werde mit dem Prädikat nur verdeutlicht, was not­ wendig im Begriff des Körpers liege (der Grund- bzw. Allgemeinbegriff eines Körpers impliziere bzw. sei die Vorstellung eines ausgedehnten Et­ was). Eine Erkenntniserweiterung finde durch analytische Urteile nicht statt: Jeder Analyse müsse eine Synthese vorausgegangen sein, diese werde nur deutlich. Hingegen sei der Satz „Einige Körper sind schwer“ ein syntheti­ sches Urteil, da hier eine Erkenntnis zu der Vorstellung eines bzw. mehrerer Körper hinzugetan werde. Analytische Urteile beruhten alle auf dem Satz des Widerspruchs und seien „ihrer Natur nach Erkenntnisse a priori“, unab­ hängig davon, ob ihre Begriffe empirisch sind oder nicht: Weil das Prädikat eines bejahenden analytischen Urteils im Subjektsbegriff impliziert ist, 90  Kant,

Vorrede KrV und Vorwort Prolegomena.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz61

könne es ohne Widerspruch nicht vom Subjekt verneint werden und das Gegenteil des zugesprochenen Prädikates werde in einem analytischen ver­ neinenden Urteil notwendig von dem Subjekt verneint. Deshalb seien alle analytischen Sätze Urteile a priori91. Synthetische Urteile hingegen beruhten auf einem anderen Prinzip. Sie könnten einerseits auf Empirie beruhen, wobei dadurch niemals strenge Notwendigkeit in Urteile käme. Allerdings gebe es synthetische Urteile a priori, bei welchen eine nicht im Subjektbegriff enthaltene Vorstellung als Prädikat mit Notwendigkeit zur Subjektvorstellung hinzukomme. Die Frage, was aus reiner Vernunft (zum Zwecke ihres richtigen Gebrauchs) erkannt werden kann, laufe auf die Frage „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ hinaus92. Der im Folgenden skizzierte Gedankengang Kants ist sein Versuch der Beantwortung dieser Frage durch Darlegung der apriori­ schen Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens bzw. -subjekts ins­ gesamt bzw. der Formen der einzelnen Erkenntnisvermögen und der Weise ihres Zusammenwirkens, denen alle Erkenntnisobjekte gemäß sein müssen93: 91  Kant, KrV, Einl. IV. und §§ 2, 3 Prolegomena. Anzumerken ist, dass allgemeine und erläuternde analytische Urteile mit empirischem Subjektbegriff nur gebildet werden können, wenn (mindestens) ein Oberbegriff bzw. Gattungsbegriff und bes­ tenfalls die spezifische (artbildende) Differenz bekannt sind (wenn nur ein Oberbe­ griff bekannt ist, kann zwar ein allgemeines analytisches Urteil gebildet werden, allerdings ist fraglich, inwiefern dessen Nennung als Prädikat wirklich erläuternd bzw. verdeutlichend ist – etwa: Gold ist Metall). Das von Kant gebildete Beispiel für ein analytisches Urteil a priori mit empirischen Begriffen – „Gold ist ein gelbes Metall“ (§ 2 Prolegomena) – ist insofern unbefriedigend. Verstanden als allgemeines analytisches Urteil setzte es den Glauben des Urteilenden daran voraus, dass alles Gold gelb erscheint (was eine Fehlvorstellung wäre). Wie Kant es bezüglich dieses Beispiels hätte tun sollen, wird man bei der Analyse eines empirischen Begriffs meistens bemerken, dass einem zwar wohl ein Oberbegriff (wenn auch oft nicht einmal der nächsthöhere) bekannt ist, aber man mangels Kenntnis eines allen Ge­ genständen der Art zukommenden spezifischen Merkmals kein allgemeines und wirklich verdeutlichendes wahres Urteil formulieren kann. Dass man – mangels spezieller Fachkenntnisse – bei empirischen Subjektbegriffen nur selten allgemeine und über die Benennung eines Oberbegriffs hinaus verdeutlichende bzw. erläuternde Urteile durch Analyse zustande bringt, ist jedoch kein Einwand gegen die von Kant dargestellte allgemeine Einteilung der Urteile. 92  Diese zerteilt Kant in vier Fragen: 1. Wie ist reine Mathematik möglich? 2. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? 3. Wie ist Metaphysik überhaupt mög­ lich? 4. Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?, KrV, Einl. VI. und § 5 Prol. 93  Die Umkehr der Perspektive von der Annahme eines bloßen passiven Annä­ herns bzw. Ablernens der menschlichen Erkenntnis an bzw. von einem eigentlich schon vorhandenen Gegenstand (nach welcher Erkenntnis a priori oder zumindest Erkenntniserweiterung durch Begriffe a priori unmöglich wäre – eine Position, die Mill noch radikaler als Hume vertrat) zur Annahme der Konstitution des erkannten Gegenstandes erst durch die darzulegenden, bei jedem Erkenntnisakt immer wieder vorauszusetzenden Formen und apriorisch-verbindenden Leistungen des Erkenntnis­

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Kant findet synthetische Urteile a priori in der reinen Mathematik, von der er annimmt, dass sie eine Erkenntnis a priori (apodiktisch gewisse Ur­ teile, mit absoluter Notwendigkeit gültig) und dabei synthetisch (erkennt­ niserweiternd) sei. Dieser lägen synthetische Urteile a priori zu Grunde, auch wenn die Schlüsse nach dem Satz der Vermeidung des Widerspruchs fortgehen: Nach dem Satz des Widerspruchs könnten synthetische Sätze eingesehen werden, aber nur so, dass ein anderer synthetischer Satz voraus­ gesetzt werde, bei dem ein Prädikat mit Notwendigkeit zur im Subjekt enthaltenen Vorstellung hinzukomme. Etwa sei der Satz: „Die gerade Linie zwischen zwei Punkten ist die kürzeste“ ein synthetischer Satz a priori, da die Vorstellung einer geraden Linie nur eine Qualität, aber nichts von Grö­ ße enthalte, sodass die Bestimmung als Kürzeste mit Hilfe der Anschauung hinzukomme. Synthetische Urteile a priori seien also zumindest in der reinen Mathema­ tik wirklich, worin ihre Möglichkeit impliziert sei. Hingegen wären synthe­ tische Urteile a priori unmöglich, wenn unser Erkenntnisvermögen von ihm völlig unabhängige Gegenstände erkennen müsste. Somit müsse es anders­ herum sein: Nicht unsere Erkenntnis richte sich nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände (für uns) richteten sich nach der Verfasstheit unseres Erkenntnisvermögens, welches somit die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis enthalte. So sei reine Mathematik nur möglich, wenn der Mathematik eine „reine Anschauung“ zum Grunde liege, in der sie ihre Begriffe in concreto konst­ ruieren könne. Wie die empirische Anschauung es möglich mache, unseren Begriff von einem Objekt der Anschauung durch neue, von der Anschauung dargebotene Prädikate zu erweitern, so müsse es auch die reine Anschauung tun, aber mit dem Unterschied, dass dabei das synthetische Urteil a priori subjekts wird heutzutage oft als „Kopernikanische Wende“ in der Philosophie be­ zeichnet. Dies ist angeregt durch Kants zur Verdeutlichung seines Gedankens an­ gestellten Vergleich desselben mit der kopernikanischen Neuordnung des Systems der Himmelskörper: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie etwas a priori auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Meta­ physik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Mög­ lichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstän­ de, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso als mit dem ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Er­ klärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das gan­ ze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ …“, KrV, Vorrede.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz63

gewiss und apodiktisch sei (während es immer auch zufällig sei, was in der empirischen Anschauung angetroffen werde, § 7 Prolegomena). Es sei „nur auf eine einzige Art möglich, dass Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe und als Erkenntnis a priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts anderes enthält als die Form der Sinnlichkeit, die im Subjekt vor allen wirklichen Eindrücken vorhergehe, wodurch dieses von Gegen­ ständen affiziert werde. Denn dass Gegenstände der Sinne dieser Form der Sinnlichkeit gemäß allein angeschaut werden können, könne man a priori wissen. Hieraus folge, dass „Sätze, die bloß diese Form der sinnlichen An­ schauung betreffen, von Gegenständen der Sinne möglich und gültig sein werden“ und dass „umgekehrt … Anschauungen, die a priori möglich sind, niemals andere Dinge als Gegenstände unserer Sinne betreffen können“ (§ 9 Prolegomena). Die Anschauungsformen, in die jede empirische Anschauung gesetzt werden müsse, seien Raum und Zeit. Bei Abstraktion von allem Empirischen der Erscheinungen, die dadurch zustande kämen, dass die Vor­ stellungsfähigkeit des Subjekts durch Objekte affiziert werde, blieben Raum und Zeit übrig, wodurch man sie als notwendige Vorstellungen a priori, die keine Begriffe, sondern eben reine Anschauungen seien, erkenne94. Was die reine Mathematik angeht, so lege diese Formen der Sinnlichkeit ihren Erkenntnissen und Urteilen zum Grunde. In dieser „reinen Anschau­ ung“ müssten alle Begriffe der reinen Mathematik konstruiert werden (§ 10 Prolegomena). Für die Geometrie sei die „reine Anschauung des Raumes“ die Form, in der Konstruktionen stattfänden. Die Arithmetik sei die sukzes­ sive Hinzusetzung von Einheiten, die Zahlbegriffe entstünden also durch Synthese von einfachen Einheiten in der Zeit. Die reine Mechanik könne ihre Begriffe von Veränderung und Bewegung (Veränderung des Ortes im Raum) nur vermittelst der Vorstellung der Zeit zu Stande bringen: Die Möglichkeit einer Veränderung als einer Verbindung kontradiktorisch-entgegengesetzter Prädikate (z. B. das Sein an einem Ort und das Nichtsein ebendesselben Dinges an demselben Ort) in ein und demselben Objekt sei nur unter Zugrundelegung der Vorstellung der Zeit möglich, indem man die entgegengesetzten Bestimmungen des Dinges als nacheinander anzutreffen annimmt (§§ 2–5 KrV). Da auch die Vorstellun­ gen äußerer Gegenstände zu Objekten der innerer Wahrnehmung werden, sei die Zeit mittelbar die Form aller Anschauungen (§ 6 KrV). 94  Kant, KrV, I., 1. Teil und §§ 6–12 Prolegomena. Der Raum habe „drei Abmes­ sungen“ (Dimensionen), was auf dem Satz gründe, dass sich in einem Punkt nicht mehr als drei Linien rechtwinklig schneiden können. Wenn man in der Mathematik verlange, eine Linie solle ins Unendliche gezogen werden oder eine Reihe von Ver­ änderungen solle ins Unendliche fortgesetzt werden, so setze man die an sich durch nichts begrenzte Vorstellung des Raumes und der Zeit voraus, § 12 Prolegomena.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Der „innere Sinn seiner Form nach“ sei die „Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellungen, mithin durch sich selbst affiziert“ werde. Das Bewusstsein seiner selbst sei die einfache Vorstellung des Ich, wobei man sich ebenfalls nur innerlich anschauen kön­ ne, wie man sich in der Zeit erscheine (§ 8 KrV). Durch den „äußeren und inneren Sinn“ des Subjektes, sein Vermögen, a priori anzuschauen, welches nicht die Materie der Erscheinung, sondern nur die Form der Erscheinung „aus uns selbst“95 (Form der Sinnlichkeit bzw. reine Anschauung a priori oder Form unserer sinnlichen Vorstellungskraft) betreffe, seien uns „bloße Verhältnisvorstellungen“ gegeben: Der äußere Sinn enthalte „nur das Verhältnis eines Gegenstandes auf das Subjekt in seiner Vorstellung“, die innere Anschauung enthalte Verhältnisse des Vor- und Nacheinander und des Zugleichseins und dessen, was „mit dem Nacheinan­ der zugleich“ sei (des Beharrlichen). Alles Mannigfaltige, was durch diese „Sinne“ (in den Formen der Sinnlichkeit) vorgestellt werde, sei damit „jeder­ zeit Erscheinung“ für uns und also weder „Ding an sich“, noch bloßer Schein (§ 8 KrV und §§ 9–13 Prolegomena). Zwar müsse notwendig angenommen werden, dass Etwas völlig außer mir wirklich sei („Ding an sich“ als das Et­ was, was macht, dass ich Erscheinungen erhalte). Dieses bleibe aber als sol­ ches – als „Ding an sich“ – unvermeidlich unbekannt: Verstandesgemäß be­ stimmbar seien nur Erscheinungen. „Ding an sich“ sei das (nur in der Art, wie es erscheint, zugängliche und deshalb als solches unzugängliche) Etwas, dessen „Eigenschaften nicht in meine Vorstellungskraft hinüber wandern können“ (§§ 9, 13 Prolegomena). Im Nachlass findet sich zum Verhältnis des Dings in der Erscheinung zum „Ding an sich“ folgende Erklärung: „Der Un­ terschied der Begriffe von einem Dinge an sich und dem in der Erscheinung ist nicht objektiv, sondern bloß subjektiv. Das Ding an sich (ens per se) ist nicht ein anderes Objekt, sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vor­ stellung auf dasselbe Objekt …“ (Opus post., XXII, S. 26). Die notwendig anzunehmende „Idealität“ des äußeren und inneren Sinnes (von Raum und Zeit) könne damit gerade nicht als reiner Idealismus bzw. Subjektivismus bezeichnet werden, da dieser in der Behauptung bestehe, dass es keine anderen als denkende Wesen gebe; die übrigen Dinge wären demnach nur Vorstellungen in den denkenden Wesen ohne korrespondieren­ den Gegenstand. Da aber Dinge als außer uns befindliche, uns unbekannte Gegenstände (Dinge an sich) notwendig angenommen werden müssten, handele es sich um etwas anderes96. Auch verwandele die Annahme der 95  Kant,

§ 11 Prol. möchte seine Theorie „transzendentalen“ oder „kritischen Idealismus“ nennen, § 13, Anm. III Prol. Transzendentalphilosophie (in zunächst theoretischer Hinsicht) ist für Kant die systematische und nach seiner Überzeugung vollständige 96  Kant



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz65

Idealität von Raum und Zeit die Sinnenwelt nicht etwa in lauter Schein: Die (in den Formen der Sinnlichkeit) wahrgenommenen Eindrücke müssten durch den Verstand beurteilt werden, indem sie durch diesen verknüpft und unter Regeln gebracht und dadurch allgemeingültig bestimmt und erklärt werden, sodass sie in einer Erfahrung beisammen stehen können (woran es z. B. im Traum fehle). Dem Verstand komme somit die Aufgabe zu, aus den Erscheinungen objektive Erfahrungsurteile zu machen. Solange dies nicht geschehen sei, könne man von einer Wahrnehmung in einem subjektiven Urteil lediglich wahrheitsgemäß sagen: „Es scheint x der Fall zu sein“ – nicht jedoch „x ist der Fall“. „Schein“ in Abgrenzung zur wahren Wirklichkeitsvorstellung könne also lediglich durch unzureichenden Gebrauch sinnlicher Vorstellun­ gen durch den Verstand entstehen97 und habe mit dem Ursprung der sinnli­ chen Vorstellungen (Erscheinungen) samt ihrer Formen (Raum und Zeit) nichts zu tun. Der Verstand als das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, sei neben der Sinnlichkeit (Fähigkeit unseres Gemütes, durch Gegenstände af­ fiziert zu werden und so Vorstellungen zu empfangen) die zweite Quelle von Erkenntnis, wobei beide zusammenwirken müssten: Erfahrung werde erst durch verstandesgemäße Bearbeitung des sinnlich Gegebenen hervorge­ bracht, indem dieses unter Begriffe gebracht werde. Weder Sinnlichkeit noch Verstand allein könnten Erkenntnis produzieren – „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. Neben den in der „transzendentalen Ästhetik“ vorgestellten „Prinzipien der Sinnlichkeit a priori“ (Anschauungsformen) versucht Kant in der „tran­ Darlegung der apriorischen (nicht-empirischen) Voraussetzungen von Erkenntnis (Be­ dingungen der Möglichkeit von Erkenntnis) bzw. der Weise, wie Vorstellungen a pri­ ori auf Gegenstände der Erfahrung bezogen werden können (und müssen). Noch in der zweiten Auflage der KrV (1787) wollte Kant die seiner Überzeugung nach eben­ falls apriorischen Grundsätze bzw. Grundbegriffe der Moralität (die gesamte Moralund Rechtsphilosophie) nicht zur Transzendentalphilosophie zählen, da im Pflichtbe­ griff auf zu überwindende Naturanreize und damit auf Begriffe empirischen Ursprungs Bezug genommen werden müsse. Diese soweit nicht wirklich einsichtig begründete Differenzierung gab Kant später auf, siehe etwa ders. Opus post., AA XXI, S. 93: „… Transzendentalphilosophie als das Bewusstsein des Vermögens, vom System sei­ ner Ideen in theoretischer so wohl als praktischer Hinsicht Urheber zu sein …“. 97  „Empirischer Schein“ durch Verleitung bzw. Verwirrung der Urteilskraft durch die durch Wahrnehmungen beeinflusste Einbildungskraft. Zum „transzendentalen Schein“ durch Anwendung reiner Verstandesbegriffe auf etwas anderes als Erschei­ nungen, wodurch (nur vermeintlich-transzendentale, nämlich) als Seinsbehauptungen überschwänglich-transzendente Urteile entstünden, siehe unten zur transzendentalen Dialektik als durch Vernunft aufzudeckendes bzw. aufzulösendes (wenn auch da­ durch nicht verschwindendes) Vernunftprodukt.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

szendentalen Logik“ die Form des Denkens durch reine Verstandesbegriffe darzulegen. Die allgemeine Logik als Form des Denkens überhaupt (Anga­ be, wie gedacht werden soll bzw. nur gedacht werden kann) sei nur der „Vorhof“ aller Wissenschaften. In der transzendentalen Logik gehe es um die Darlegung der Gesetze des Verstandes und der Vernunft, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen werden, wodurch der Ursprung, Umfang und die objektive Gültigkeit aller Erkenntnis a priori bestimmt werde (KrV, transz. Logik, Einleitung II). Kant versucht, die reinen Verstandesbegriffe (weder von anderen abgelei­ tete, noch zusammengesetzte Elementarbegriffe) aufzufinden, indem er das Verstandesvermögen zergliedert: Begriffe beruhten auf Funktionen des Verstandes und damit auf der „Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellun­ gen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“ Der Verstand könne keinen anderen Gebrauch von Begriffen machen, als dadurch zu urteilen. Keine Vorstellung gehe unmittelbar auf einen Gegenstand, sondern (auf eine An­ schauung oder) auf eine andere Vorstellung. Somit sei das Urteil die mittel­ bare Erkenntnis eines Gegenstandes, nämlich die Vorstellung einer Vorstel­ lung desselben. Alle Urteile seien also „Funktionen der Einheit unter unse­ ren Vorstellungen“. Alle Handlungen des Verstandes ließen sich auf Urteile zurückführen, sodass dieser „als ein Vermögen zu urteilen“ bzw. „zu denken“ vorgestellt werden könne. Denken sei die „Erkenntnis durch Begriffe“, wo­ bei Begriffe als Prädikate möglicher Urteile auf Vorstellungen von noch unbestimmten Gegenständen bezogen seien. Die Funktionen des Verstandes könnten dadurch gefunden werden, dass man die Funktion der Einheit in den Urteilen – alle möglichen Urteilsarten bzw. -formen – vollständig darstelle (KrV, transz. Analytik, erstes Buch, erster Abschnitt). Die einzige Verstandeshandlung (Urteilen) unterscheide sich nur durch „verschiedene Modifikationen oder Momente …, das Man­ nigfaltige der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu brin­ gen“ (§ 39 Prolegomena). Bei Abstraktion von allem Inhalt stellt Kant eine Tafel der Urteilsarten auf, die er als vollständige Darstellung der möglichen Arten, Vorstellungen in einem Bewusstsein zu vereinigen98, ansieht. Diesem in vier Klassen mit jeweils drei Momenten eingeteilten System der Urteilsarten bzw. -formen ordnet Kant dann die „reinen Verstandesbegriffe“ (Kategorien) zu: „Ich bezog endlich diese Funktionen zu urteilen auf … die Bedingungen, Urtei­ 98  Die Vollständigkeitsbehauptung sah Kant zumindest als unwiderleglich an. Reich hält die Vollständigkeit der Urteils- und Kategorientafel sogar für „beweis­ bar“, da die Einheit der Apperzeption nur so möglich und (unter Bezugnahme auf eine kantische Formulierung) „andere Arten des Selbstbewusstseins“ ausgeschlossen seien, siehe Reich, Urteilstafel, S. 87 ff.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz67

le als objektiv-gültig zu bestimmen, und es entsprangen reine Verstandesbe­ griffe“ (§ 39 Prolegomena). Reine Verstandesbegriffe sind demnach die jeder empirischen Begriffsbil­ dung vorausgesetzten bzw. vorauszusetzenden (in den Urteilsarten gefunde­ nen) Grund- bzw. Elementarbegriffe der Seinserkenntnis (apriorische For­ men der Synthese von sinnlichen Daten zur Bewusstseinseinheit). Die Zuordnung der Kategorien zu den Urteilsarten nach Kant sieht aus wie folgt: 1. Quantität der Urteile, nämlich einzelne, besondere, allgemeine – 1. Ka­ tegorie der Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit; 2. Qualität der Urteile, nämlich bejahende, verneinende und unendliche99 – 2. Kategorie der Quali­ tät: Realität, Negation, Limitation; 3. Relation der Urteile, nämlich katego­ rische, hypothetische, disjunktive – 3. Kategorie der Relation: Substanz, Ursache, Gemeinschaft; 4. Modalität der Urteile, nämlich problematische, assertorische, apodiktische – 4. Kategorie der Modalität: Möglichkeit, Wirk­ lichkeit, Notwendigkeit. Die jeweils dritte Kategorie jeder Klasse der Kategorientafel ergebe sich durch jeweilige Verbindung der ersten mit der zweiten Kategorie jeder Klas­ se, sie sei aber trotzdem ein unabgeleiteter Stammbegriff, da dieser Akt des Verbindens selbständig sei. In Anwendung der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) auf das Man­ nigfaltige der Anschauung vermittelst eines Schemas zu jedem Begriff als einem Verfahren bzw. einer Regel der Einbildungskraft, sich durch eine allgemeine stellvertretende Vorstellung den Inhalt des Begriffs in der Zeit anschaulich zu machen (durch Kategorien vorgegebenes Verfahren der ge­ danklichen Synthese möglicher Anschauungsdaten), erhalte man apriorische Grundsätze als Bedingungen der Naturwissenschaft: Wenn auch die einzel­ nen Erkenntnisse der Naturwissenschaft nur mittels Empirie gewonnen werden könnten, so ließen sich doch die „allgemeinsten Formen“ zur Ord­ nung der Erscheinungen a priori erkennen100. „Natur in materieller Bedeu­ tung“ (der Anschauung nach) als Inbegriff der Erscheinungen in Raum und 99  Ein „unendliches Urteil“ ist für Kant ein der Form nach bejahendes Urteil mit verneinendem Prädikat, wodurch das Subjekt in die unendliche, lediglich durch das verneinende Prädikat beschränkte „Sphäre des Möglichen“ gesetzt werde. Beispiel: S ist ein Nicht-P. S wird in diesem bzw. durch dieses Urteil in eine unendliche Menge von Gegenständen gesetzt, die nur insofern beschränkt ist, als sie die Gegen­ stände, die P sind, nicht enthält. 100  Vernunft (i. w. S.) suche notwendige Gesetze des Zusammenhangs der Erschei­ nungen und sehe nur das ein, was sie selbst nach eigenem Entwurf hervorbringe (den entworfenen Seins-Thesen gemäß würden Versuchsanordnungen und Experi­ mente durchgeführt). So verhalte sich der Mensch zur Natur als dem Inbegriff der

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Zeit entstehe also durch „Rührung“ unserer Sinnlichkeit und Einordnung der Wahrnehmungen in deren Formen. „Natur in formeller Bedeutung“ sei der „Inbegriff der Regeln, unter denen Erscheinungen stehen müssten, wenn sie in einer Erfahrung verknüpft gedacht werden“ und diese sei aufgrund der Beschaffenheit unseres Verstandes möglich. Produktion von Erfahrung (empirischen Erfahrungsurteilen) beruhe also nicht vollends auf Empirie, sondern stets müssten Wahrnehmungen (nicht „Dinge an sich selbst“) gemäß allgemeinen Bedingungen der Anschauung („transzendentale Zeitbestimmung“ durch Schemata) unter Verstandeskate­ gorien subsumiert werden (§ 18 Prolegomena). Erfahrung bestehe aus An­ schauungen (der Sinnlichkeit angehörig) und Urteilen (Verstandeshandlun­ gen). Erfahrungsurteile setzten sich demnach zusammen durch erstens Wahrnehmung von Erscheinungen, zweitens Vergleichung und Verknüpfung dieser Vorstellungen mit anderen Vorstellungen im eigenen Bewusstsein und drittens Hinzufügung dessen, was das Urteil notwendig und allgemeingültig macht, indem die Vorstellungen – gemäß den möglichen Arten der Vereini­ gung von Vorstellungen – in einem Bewusstsein überhaupt notwendig ver­ einigt werden. Da die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) Bedingungen der notwendigen Vereinigung gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein seien, welche die Urteilskraft als Grundsätze101 auf Erscheinungen anwende, handele es sich bei diesen apriorischen Grundsätzen möglicher Erfahrung um „allgemeine Gesetze der Natur“. Reine Naturwissenschaft, die ein Natursystem ausmache und jeder empi­ rischen Naturerkenntnis vorhergehe, sei dadurch möglich (§ 23 Prolegome­ na). Ein „allgemeines Naturgesetz“ sei etwa der Grundsatz der Beharrlich­ keit von Etwas (Substanz) in Raum und Zeit bei allem Wechsel seiner Zu­ stände: Die Quantität der Materie bleibe bei allen Veränderungen der Er­ scheinungen unverändert. Im Begriff der Materie sei bloß das Dasein von Etwas im Raum gedacht (also dessen Erfüllung insoweit dadurch). Die Annahme der unveränderlichen Gesamtquantität denke man hinzu, aber nicht aufgrund empirischer Daten, sondern notwendig nach reinem Verstand gemäß dem Substanzbegriff102. Auch der Begriff der Kausalität bzw. das Kausalgesetz (alles, was geschieht ist jederzeit durch eine Ursache be­ Erscheinungen bzw. der Gegenstände der Erfahrung wie ein Richter zu Zeugen, durch die er belehrt werde, indem diese auf seine Fragen antworteten. 101  Mit „Grundsätzen“ sind hier aus dem Verstand entspringende bzw. aus dem Verhältnis der Kategorien zur Sinnlichkeit zu entnehmende Regeln für die Urteilskraft zur Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen gemeint, siehe Kant, KrV, 2. Teil. 1. Abteil., 2. Buch, v. a. 2. Hauptstck. 102  Kant, KrV, transz. Analytik, 2. Buch, erste Analogie der Erfahrung. Der Ener­ gieerhaltungsgrundsatz impliziert den genannten Materieerhaltungsgrundsatz bzw. setzt diesen voraus.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz69

stimmt) und der Satz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung (Wir­ kungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegenge­ setzter Richtung) seien reine allgemeine Naturgesetze (§ 15 Prolegomena). Die Wahrnehmung von Erscheinungen und deren Verknüpfung durch den Menschen liefere soweit bloß Wahrnehmungsurteile von „subjektiver Gül­ tigkeit“. Solle daraus ein objektiv gültiges Erfahrungsurteil werden, müsse das Urteil für uns jederzeit und eben für jedermann gültig sein: Alle Urtei­ le über einen Gegenstand müssten untereinander in einem zumindest ideel­ len Bewusstsein übereinstimmen können. Objektive Gültigkeit eines Urteils bedeute nichts anderes als dessen notwendige Allgemeingültigkeit bzw. umgekehrt ausgedrückt: Notwendige Allgemeingültigkeit des Urteils (für jedermann) bedeute Objektivität, dies seien „Wechselbegriffe“. Erst durch ein allgemeingültiges Urteil werde es sinnvoll möglich, eine Eigenschaft dem Objekt selbst beizulegen (und nicht nur der jeweiligen Wirkung auf das jeweilige Subjekt und damit nur dessen besonderem Zustand). Ein Urteil mit Objektivitätsanspruch müsse allgemeingültig und notwendig sein; sei dies nicht der Fall, dann könne das Urteil nicht vom Objekt gelten, sondern enthalte nur eine Aussage über den besonderen Zustand des aussagenden Subjektes (§§ 18, 19 Prolegomena, vgl. auch §§ 18, 19 KrV). Hier ist ein prinzipieller Unterschied etwa zu Mills Konzept besonders deutlich, der schon die Erkenntnistheorie betrifft und sich in der praktischen Philosophie (wie sich zeigen wird) noch stärker auswirkt: Mill sieht im Anschluss an Hume „Verallgemeinerung“ als subjektive Gewohnheit. Für Kant hingegen ist Allgemeingültigkeit von Urteilen Bedingung für deren Objektivität. Daraus folgt für Kant ein geltungslogischer Imperativ für das Vorgehen bei der konkreten naturwissenschaftlichen Erkenntnisproduktion bzw. der Urteilsformulierung auch im naturwissenschaftlichen Bereich: Der Satz, dass Erfahrungsurteile Notwendigkeit in der Synthesis der Wahrneh­ mungen enthalten sollten, stimme mit dem Satz, dass Erfahrung als Er­ kenntnis a posteriori bloß zufällige Urteile geben könne, zusammen: Bloß durch Wahrnehmung werde man belehrt und könne beobachtete Abläufe beschreiben, die Annahme der Notwendigkeit eines bestimmten Gesche­ henszusammenhangs (das Gesetzliche der Erfahrung) werde jedoch erst durch den Zusatz des Verstandesbegriffs erzeugt103. 103  Siehe Kant, Prol., Fn. zu § 22. In diesem Sinne setzen nach Kant auch Erfah­ rungsurteile synthetische Urteile a priori voraus. Siehe auch § 14 KrV und § 29 Prol. gegen Hume: Dieser bezweifelt die in den Begriffen (etwa der Kausalität, aber auch Substanz, Wechselwirkung) enthaltene Notwendigkeit und damit diese Begriffe über­ haupt, da sie niemals aus der Erfahrung entlehnt werden könnten. Kant stimmt der Unmöglichkeit der Entlehnung solcher Begriffe aus der Erfahrung zu; dies bedeute aber gerade nicht, dass sie aus bloßer Gewohnheit resultierende Scheinbegriffe seien, sondern eben vor aller bestimmten Seinserkenntnis stehende formale bzw. reine Be­

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Der aus der Kategorie der Quantität fließende Grundsatz sei ein Prinzip der Anwendung der Mathematik auf Erfahrung, wodurch alle (in die For­ men von Raum und Zeit gesetzten) Erscheinungen unter den Begriff der Größe subsumiert würden. Aus der Kategorie der Qualität fließe (als „zwei­ te Anwendung der Mathematik auf Naturwissenschaft“) der Grundsatz, dass das Reale aller Erscheinungen Grade habe. Die Bestimmung des Verhältnis­ ses (der Relation) der Erscheinungen bzw. Wahrnehmungen erlange objek­ tive Gültigkeit durch Subsumtion der Wahrnehmungen unter die nicht-em­ pirischen, sondern durch den Verstand gedachten Begriffe der Substanz (Begriff vom Dasein eines Dinges als Bedingung jeder Bestimmung dessel­ ben und somit von Vorstellungen als Subjekten in Beziehung auf Prädikate) sowie unter den Begriff einer Wirkung in Beziehung auf eine Ursache (nach dem Kausalitätsbegriff) oder unter den Begriff der Gemeinschaft (Vorstel­ lungen als Teile eines Ganzen). Durch die Kategorie der Modalität werde die Erkenntnis der Übereinstimmung und Verknüpfung der Erscheinungen (nicht untereinander, sondern) zur Erfahrung überhaupt gewonnen, indem ein (vorgestellter) Erscheinungszusammenhang als möglich, wirklich oder notwendig beurteilt werde (dies sei enthalten in der Unterscheidung der Annahme einer naturgesetzlichen Wahrheit von einer Hypothese). Die Verstandeskategorien dienten somit zum „Buchstabieren“ der Erschei­ nungen, um diese „als Erfahrung lesen zu können“. Allgemeine Naturgesetze seien demnach „Gesetze des Verstandes“; Erfahrung leite sich davon ab bzw. werde demgemäß produziert, nämlich durch Synthese der Wahrnehmungen gemäß den reinen Verstandesbegriffen (bzw. als „Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit“)104. Die allgemeingültige Verknüpfung von Vorstellungen von Gegenständen zu einem ideellen Bewusstsein bzw. die „nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstän­ de der Sinne“105 werde nur mittels der Kategorien konstituiert, die Kategori­ dingungen derselben. M. Baum drückt das Gemeinte prägnant wie folgt aus: Nach Kant gebe eine Wahrnehmung „nur dadurch (möglicherweise) ein Objekt zu erken­ nen …, dass sie in einem System von Erscheinungen ihren durch eine Synthesis des Verstandes bestimmten Platz findet. Das erkennende Subjekt, nach dem sich das er­ kannte Objekt richtet, ist dasjenige, was die Objektivität des Objekts zustande bringt, indem es ihm einen Platz in der ihrer Form nach von ihm selbst gemachten Natur anweist“. Kants „grundlegende These über die Verbindung“ von Vorstellungen durch den Verstand bedeute „eine Rückführung der Erkenntnis auf ein selbsttätiges Machen“ des Subjekts; Baum, Erkennen und Machen, S. 161 ff., 169, 177. 104  Kant, §§ 25–34 Prolegomena. Die Sinnlichkeit gebe nicht etwa die Verstan­ desbegriffe; diese müssten mittels Schemata als Grundsätze auf Erscheinungen an­ gewandt werden. Jedem Gegenstand müsse eine mögliche Anschauung entsprechen bzw. jedem Begriff müsse eine Anschauung unterlegt werden können, unser Verstand könne Gegenstände nämlich nicht „unmittelbar anschauen“. 105  Kant, GMS, 3. Abschnitt, S. 455.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz71

en seien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Der Verstand sei der „Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur“, indem er alle Erscheinungen unter seine eigenen – im Verstand selbst liegenden – Gesetze fasse (der Natur die Gesetze „vorschreibe“), und so allererst Erfahrung zustande bringe (§ 38 Prolegomena). Die Verstandeskategorien seien allerdings nur dann richtig ge­ braucht, wenn sie (als Grundsätze und mittels Schemata) lediglich auf Er­ scheinungen und nicht etwa auf ideelle bzw. transzendente Gegenstände – etwa Gott bzw. ein höchstes Wesen – bezogen würden. Das Vermögen, die mannigfaltigen Vorstellungen zu einem Selbstbewusstsein zu verbinden (synthetische Einheit der Apperzeption) ermögliche es, diese als meine Vorstellungen zu haben und sogar die Identität des Selbst­ bewusstseins in diesen Vorstellungen zu finden (analytische Einheit der Apperzeption). Die synthetische Einheit der Apperzeption sei als der höchs­ te Punkt aller Bedingungen der Möglichkeit meiner Erkenntnis transzenden­ tale Einheit des Selbstbewussteins: Das „Ich denke“ muss alle meine Vor­ stellungen begleiten können. Das heißt: In jedem Denken bzw. Denkakt muss Ich der einheitsermögli­ chende Bezugspunkt aller dadurch meiner Vorstellungen sein. Diese Vorstel­ lung sei ein „Aktus der Spontaneität“, also nichts, was als von irgendwoher empfangen beurteilt werden könne, wobei der Satz „Ich bin mir meiner selbst bewusst“ schon ein „zweifaches Ich …, das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt“ enthalte106. Das „Mannigfaltige gegebener Vorstellungen“ durch den Verstand zu verbinden und so „unter die Einheit der Apperzep­tion zu bringen“ sei der oberste Grundsatz der ganzen menschlichen (theoreti­ schen) Erkenntnis (§§ 16 ff. KrV). Wie aber die „eigentümliche Beschaffenheit unser Sinnlichkeit selbst oder die unseres Verstandes und der ihm bei allem Denken zum Grunde liegen­ den Apperzeption möglich sei, lässt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nötig haben“107. 106  Kant, Fortschritte, 1. Abt., S. 270. „Die Apperzeption ist selbst der Grund der Möglichkeit der Kategorien, welche ihrerseits nichts anderes vorstellen, als die Syn­ thesis des mannigfaltigen der Anschauung, sofern dasselbe in der Apperzeption Einheit hat. Daher ist das (ergänzt: reine, G. H.) Selbstbewusstsein überhaupt die Vorstellung desjenigen, was die Bedingung aller Einheit und doch selbst unbedingt ist“, Kant, erste Auflage der KrV, AA S. 250. Auf das einfache Ich, die absolute Einheit der Apperzeption, bezieht sich alle Verbindung und Trennung, welche das Denken ausmacht. Dieses logische bzw. intellektuelle Ich sei zu unterscheiden vom „empirischen Ich“, welches in Abgrenzung zum „reinen Ich“ eine als Gegenstand des inneren Sinns gegebene Erscheinung sei. 107  Kant, KrV, I., 2. Teil, 1. Abteil., 2. Buch, 3. Hauptstck. Anhang, Anm.: „Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Die Vernunft selbst (im engeren Sinne) sei das dem Verstand (i. e. S.) noch übergeordnete „Vermögen der Prinzipien“, welches die (Anwendung der) Verstandesbegriffe zur Einheit bringe. Einerseits beschränke sie den reinen Verstand bzw. dessen unmittelbare Anwendung auf den Erfahrungsgebrauch. Allerdings erfülle dies nicht ihre ganze Bestimmung: Die Vernunft enthalte in sich den Grund zu Ideen. Dies seien notwendige Begriffe, deren Gegenstand trotzdem in keiner Erfahrung gegeben werden könne. Die Beschäftigung der Vernunft mit diesen „reinen Vernunftbegriffen“, deren Wahrheit oder Falschheit durch keine Erfahrung aufgedeckt werden könne, und damit mit sich selbst sei der Teil der Meta­ physik, welcher den „wesentlichen Zweck derselben ausmache“. Jede ein­ zelne Erfahrung sei „nur ein Teil von der ganzen Sphäre“ ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung hingegen sei „selbst keine Erfahrung und dennoch ein notwendiges Problem für die Vernunft“ (§ 40 Prolegomena). Wie die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) im Verstand selbst gele­ gen seien und in den vier logischen Funktionen aller Urteile aufgefunden werden könnten (siehe oben), so seien die Vernunftideen bzw. Vernunftbe­ griffe in den drei Funktionen der Vernunftschlüsse als der Vernunfthandlung zu suchen und zu finden, die bloß die Form bzw. das Logische der Ver­ nunftschlüsse betreffe: Vernunftschlüsse seien in kategorische, hypothetische und disjunktive einzuteilen. Die auf sie gegründeten Ideen enthielten erstens die Idee des vollständigen Subjekts („psychologische“ Idee), zweitens die Idee der vollständigen Reihe der Bedingungen („kosmologische“ Idee) und drittens die Bestimmung aller Begriffe in der vollständigen Idee des Mög­ lichen („theologische“ Idee, § 43 Prolegomena). Die Gegenstände dieser Ideen seien Seele, Welt und Gott108. Merkwürdig sei, dass die Vernunft­ideen kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde. Jene transzendentalen Fragen aber, die über die Natur hinausgehen, würden wir bei allem doch niemals be­ antworten können, wenn uns die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüt mit einer anderen Anschauung als der unseres inne­ ren Sinnes zu beobachten. Denn in demselben liegt das Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit. Ihre Beziehung auf ein Objekt und was der transzendentale Grund dieser Einheit sei, liegt ohne Zweifel zu tief verborgen, als dass wir sogar uns nur durch inneren Sinn, mithin als Erscheinung kennen, ein so unschickliches Werk­ zeug unserer Nachforschung dazu brauchen könnten, etwas anderes, als immer wieder Erscheinungen, aufzufinden, deren nichtsinnliche Ursache wir doch gern erforschen wollten“. „Der Ausdruck: Ich denke (dieses Objekt), zeigt schon an, dass ich in Anse­ hung der Vorstellung nicht leidend bin, dass sie mir zuzuschreiben sei, dass von mir der Gegenstand abhange …“, Kant, Nachlass, AA XVII, S. 463. 108  Die Idee der Seele ergebe sich als Ergebnis der Suche der Vernunft nach demjenigen Gegenstand, der selbst nicht Prädikat eines Urteils sein kann und damit vollständiges Subjekt sei: Das „Vehikel aller Begriffe“ sei „das Urteil: Ich denke“,



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz73

zum Gebrauch des Verstandes in Ansehung der Erfahrung unmittelbar über­ haupt nichts zu nutzen, sondern soweit als völlig entbehrlich bzw. die „Ma­ ximen der Vernunfterkenntnis der Natur sogar entgegen und hinderlich“ scheinen könnten: Ob etwa die Seele eine einfache Substanz sei oder nicht, könne uns, da wir uns den Begriff eines einfachen Wesens durch keine mögliche Erfahrung sinnlich und damit „in concreto verständlich“ machen könnten, ganz egal sein109. Ebenso wenig könne die kosmologische Idee vom Weltanfang bzw. der Weltewigkeit zur Erklärung irgendeiner besonde­ ren Erscheinung in der Welt taugen. Auch müsse man sich nach einer rich­ tigen Maxime der Naturphilosophie aller Erklärung der Natureinrichtung aus dem Willen eines höchsten Wesens enthalten, weil dies nicht mehr Naturphilosophie sei, sondern „ein Geständnis, dass es damit zu ende gehe“. Trotzdem seien die Vernunftideen in anderer Absicht als bloße Natur­ erkenntnis notwendig und es müsse „zwischen dem, was zur Natur der Vernunft und des Verstandes gehört, Einstimmung sein“. darin bin „Ich, als denkend, … ein Gegenstand des inneren Sinns und heiße Seele“. Der Gegenstand der kosmologischen Idee (Welt) ergäbe sich durch ideelle Vollstän­ digkeit der Verbindung aller Erscheinungen beim Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung. Die theologische Idee mit dem Gegenstand Gott entstehe durch die Frage nach der „absoluten Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens überhaupt“ (vollständige Disjunktion), Kant, KrV, 2. Teil, 2. Abteilung. 109  Zwar sei die Seele Gegenstand einer notwendigen Idee, aber dieser Gegen­ stand habe insofern keine „objektive Realität“, als er unmöglich in einer Anschau­ ung gegeben werden könne: Damit handele es sich nicht um einen Gegenstand theoretischer Erkenntnis. Die Seinserkenntnis werde durch diese Idee nicht erwei­ tert: Eine „rationale Psychologie“, die als Seinserkenntnis auf einen solchen Gegen­ stand aufbaue, gründe auf einem Trugschluss und sei unmöglich. Der Trugschluss bzw. „Paralogismus“ bestehe darin, dass auf einen Gegenstand einer notwendigen Idee (Vernunftbegriff) bzw. auf das transzendentale (logische) Ich (Subjekt) unmit­ telbar der Substanzbegriff (als richtigerweise bloß auf Erscheinungen zu beziehende Verstandeskategorie) bezogen werde und so dasjenige, was relativ auf das Denken stets Subjekt sei, unmittelbar zum weiter bestimmbaren Objekt des Denkens werde. Dies sei erschlichen bzw. ein Irrglaube, Kant, KrV, transz. Dialektik, 2. Buch, erstes Hauptstck. Auf der anderen Seite gebe unser Erkenntnisvermögen in theoretischer Hinsicht immerhin einen negativen Begriff von „unserem denkenden Wesen: dass nämlich keine seiner Handlungen und Erscheinungen des inneren Sinns (letztlichbloß, G. H.) materialistisch erklärt werden könne“, Kant, KU, § 89. In praktischer Hinsicht könnten die Vernunftideen und ihre Gegenstände allerdings in einer Analogie zum (unmittelbar-unmöglichen) Erfahrungsgebrauch und damit gerade im Bewusstsein der fehlenden Erweiterung einer Seinserkenntnis Bedeutung erlangen, Kant, KrV, transz. Dialektik, 2. Buch, erstes Hauptstck. Dies erfordere mittelbar eine anschauliche Darstellung einer möglichen seinsollenden Wirklichkeit nach der Vor­ gabe eines dieser Vernunftbegriffe in Bezug auf den Menschen (siehe dazu B.II.3.) und eröffne mittelbar ein anderes Feld von Begriffen und möglicher Erfahrung, das aber eben als solches keine besondere Seinserkenntnis enthalte und damit keine Erweiterung theoretischer Erkenntnis sei.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Die Vernunftideen hätten eine andere Gebrauchsbestimmung als die Ver­ standesbegriffe: Die Vernunft fordere Vollständigkeit des Verstandesgebrauchs im Zusammenhang der Erfahrung als Vollständigkeit (nicht von Anschauungen und Gegenständen, sondern) der Prinzipien. Um sich jene bestimmt vorzustellen, denke sie sich solche als die Erkenntnis eines in Ansehung jener Regeln vollständig bestimmten Objekts, welches aber nur eine Idee sei, um die dadurch bezeichnete Verstandeserkenntnis der Voll­ ständigkeit so nahe wie möglich zu bringen. Die Idee habe regulative Funktion in Bezug auf den Verstandesgebrauch. Diese eigentliche Aufgabe der Vernunft zu erkennen, setze folgende Selbstreflexion voraus: Bei dem Ver­ such der Vernunft, durch Ideen „absolute Vollständigkeit der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“ herzustellen, ergebe sich eine Antinomie in Gestalt vier dialektischer Behauptungen als bloß scheinbarer Grundsätze der reinen Vernunft, von denen sowohl These als auch Antithe­ se für sich „beweisbar“ schienen. Die Auflösung dieser Widersprüche führe zur eigentlichen Selbsterkenntnis der Vernunft. Die dialektischen Behauptungen lauten: 1. Die Welt hat einen Anfang in Zeit und Raum vs. Die Welt ist der Zeit und dem Raum nach unendlich, 2. Alles in der Welt besteht aus dem Einfachen vs. Es ist nichts Einfaches, alles ist zusammengesetzt, 3. Es gibt in der Welt Ursachen durch Freiheit vs. Es ist keine Freiheit, alles ist Natur, 4. In der Reihe der Weltursachen ist irgendein notwendiges Wesen vs. Es ist in ihr nichts notwendig, sondern in dieser Reihe ist alles zufällig110. Diese durch die Vernunft selbst aufgeworfene, sich im Widerspruch der Sätze zeigende Unrichtigkeit müsse und könne nur durch die Vernunft selbst aufgelöst werden: Zwei einander widersprechende Sätze über denselben Gegenstand könnten nicht beide falsch sein, es sei denn, der Begriff ist selbst widersprechend und damit logisch unmöglich (durch einen solchen Begriff werde gar nichts gedacht). Wäre Vernunft notwendig mit sich selbst entzweit, gäbe es keine Erkenntnis („der Skeptiker frohlockt“, § 52 Prole­ gomena). Die Auflösung der dialektischen Behauptungen (des Scheins) ge­ linge jedoch wie folgt: Den ersten beiden Antinomien, die sich mit der Hinzusetzung oder Tei­ lung des Gleichartigen beschäftigten („mathematische“), liege tatsächlich ein widersprechender Begriff zum Grunde; nämlich der einer Erfahrung an 110  Kant, KrV, I., 2. Teil, 2. Abteil. 2. Buch, 2. Hauptstück., Auflösung im 9. Ab­ schnitt, siehe auch ders., § 51 Prol.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz75

sich selbst bzw. einer für sich existierenden Sinnenwelt als einem Inbegriff der Erscheinungen an sich selbst. Die Rede sei in den beiden ersten dialek­ tischen Behauptungen (1. und 2.) nämlich von Gegenständen in Raum und Zeit, also in den sinnlichen Vorstellungsarten des Subjektes (Formen der Sinnlichkeit) und also von Gegenständen in der Erscheinung (siehe oben). Deshalb sei die Aussage über die Weltgröße (1. dialektische Behauptung), sie sei unendlich ebenso unmöglich, wie die Gegenteilige (sie sei endlich): Weder der unendliche erfüllte Raum bzw. die unendliche Zeit, noch der durch einen leeren Raum begrenzte Raum bzw. die begrenzte Zeit seien (mögliche) Erfahrungen, sondern „nur Ideen“. Dasselbe gelte in Bezug auf die zweite dialektische Behauptung über die Teilung bzw. (Un-)Teilbarkeit der Erscheinungen: Wenn man annähme, dass etwa ein erscheinender Kör­ per vor aller Erfahrung damit alle Teile an sich selbst enthalte, zu denen eine mögliche Erfahrung gelangen könne, so hieße dies, einer bloßen Er­ scheinung, die nur in der Erfahrung existieren könne, eine eigene vor aller Erfahrung vorhergehende Existenz zu geben oder zu sagen, dass bloße Vorstellungen da sind, ehe sie in der Vorstellungskraft angetroffen werden. Dies widerspricht sich. Die diesen dialektischen Behauptungen zu Grunde liegenden Ideen hätten bloß regulative Funktion in Bezug auf den Verstan­ desgebrauch, ohne dass ihr Gegenstand selbst eine mögliche Erfahrung sei. Wer hingegen Erscheinungen der Sinnenwelt für Dinge an sich selbst halte, könne den Widerspruch unmöglich auflösen und produziere bloß dogmati­ schen Schein (§§ 52, 52b, 52c Prolegomena). Hinsichtlich der übrigen dialektischen Behauptungen (3. und 4., von Kant als „dynamische“ Klasse der Antinomie bezeichnet) bestehe der Fehler da­ rin, dass beide Behauptungen wahr seien und nur „durch Missverstand“ einander entgegengesetzt werden. Während Naturnotwendigkeit (Antithese zu 3.) nur auf Gegenstände als Erscheinungen zu beziehen sei, bliebe die Annahme von Kausalität aus Freiheit als einer anderen Art von Kausalität (mit der These) von Dingen an sich selbst zumindest denkmöglich. In der Erscheinung sei jede Wirkung eine Begebenheit in der Zeit, die bzw. deren Eintritt durch eine vorhergehende Begebenheit (als Ursache) nach einem Naturgesetz bestimmt sei und so weiter. „Freiheit“ als eine „Eigenschaft gewisser Ursachen der Erscheinungen“ wäre in Hinblick auf letztere ein „Vermögen, sie von selbst anzufangen“, ohne also dass die Kausalität dieser Ursache selbst anfangen dürfte und daher kein anderer Grund anzugeben nötig sei. Indem man „Verstandeswesen“ einen solchen Einfluss auf Er­ scheinungen gedanklich zugestehe, seien die naturnotwendige Verknüpfung der Erscheinungen in der Sinnenwelt und die nicht-sinnliche Ursache für sich („Freiheit“ als Spontaneität bzw. Vermögen, eine Begebenheit von selbst anzufangen) hinsichtlich desselben Dinges eben in verschiedener Beziehung ohne Widerspruch denkbar: Der Mensch habe ein Vermögen,

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

welches „nicht bloß mit seinen subjektiv bestimmenden Gründen, welche die Naturursachen seiner Handlungen sind, in Verknüpfung steht und so fern das Vermögen eines Wesens ist, das selbst den Erscheinungen angehört, sondern auch auf objektive Gründe, die bloß Ideen sind, bezogen wird …, welche Verknüpfung durch Sollen ausgedrückt wird. Dieses Vermögen heißt Vernunft …“. Man könne also ohne Widerspruch sagen: Alle Handlungen vernünftiger Wesen, sofern sie Erscheinungen sind, stehen unter der Natur­ notwendigkeit; eben diese Handlungen aber bloß im Hinblick auf das ver­ nünftige Subjekt bzw. auf dessen „Vermögen, nach … Vernunft zu handeln, sind frei“. Die Vernunft könne nicht als durch Sinnlichkeit bestimmbar an­ gesehen werden und sei damit stets „frei“. Sie hindere aber nicht das „Na­ turgesetz der Erscheinungen, so wenig wie dieses der Freiheit des prakti­ schen Vernunftgebrauchs, der mit Dingen an sich selbst als bestimmenden Gründen in Verbindung steht, Abbruch“ tue. Der Widerspruch der vierten Antinomie (4.) könne auf dieselbe Weise gehoben werden: In der Sinnenwelt finde keine schlechthin notwendige Ursache statt, und trotzdem sei es denkbar (wenn auch prinzipiell-unerkenn­ bar), dass diese Welt dennoch mit einem notwendigen Wesen als ihrer Ur­ sache von anderer Art (bzw. nach einem anderen Gesetz als dem Naturge­ setz) verbunden sei: Diese Idee sei etwa hilfreich, indem man danach die Welt sehen könne, als ob sie nach einem Plan entworfen sei und somit „Begreiflichkeit der Verknüpfung, Ordnung und Einheit“ in der Erfahrung gedanklich herstellen könne (KrV, I., 2. Teil, 2. Abteil. 2. Buch, 3. Haupt­ stck., Anhang und § 55 Prolegomena). Diese Fragen, die uns die Vernunft durch Ideen in Gestalt der Antinomie vorlegt, seien uns somit nicht „durch … Gegenstände, sondern durch bloße Maximen der Vernunft um ihrer Selbstbefriedigung willen aufgegeben“. Der Gegenstand aller Fragen sei letztlich die unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen und läge also nur in unserem Denken. Die Fragen müss­ ten durch Vernunft selbst beantwortet werden. Dies geschehe, indem man zeige, dass die Ideen „Grundsätze sind, unseren Verstandesgebrauch zur durchgängigen Einhelligkeit, Vollständigkeit und synthetischen Einheit zu bringen“. Ein System als eine besondere Art der Einheit in Abgrenzung zum bloßen „Stückwerk“ werde erst durch die Idee eines Ganzen der Erkenntnis, welches als solches keine Erfahrung sei, ermöglicht (Vernunft als „Prinzip der systematischen Einheit des Verstandesgebrauchs“). Das Gesetz, welches die Vernunft dem Verstand (im engen Sinne) durch ihre Ideen vorschreibe, sei für uns begreiflich, weil es das Produkt der Vernunft selbst ist111. 111  Ein der menschlichen Vernunft unbegreiflicher Begriff hingegen sei unmög­ lich. Insofern sei es nur scheinbar paradox, zu sagen, in „der Natur sei uns vieles unbegreiflich, wenn wir aber noch höher steigen und selbst über die Natur hinaus­



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz77

Als besonders relevant bleibt nach alledem insoweit festzuhalten, dass nach Kant in der Beschränkung des Verstandes als Prinzip möglicher Erfah­ rung (gegen transzendenten Gebrauch) bei notwendiger Annahme eines (leeren und unbestimmbaren) Begriffs des Dinges an sich zugleich eine Grenzbestimmung der Vernunft auch in Ansehung ihres empirischen Gebrauchs liegt: Auch wenn man über alle mögliche Erfahrung hinaus keinen bestimmten Begriff von Dingen an sich jemals werde geben können, so sei man niemals frei von der Nachfrage nach solchen. Erfahrung tue der Ver­ nunft niemals völlig genüge, da sie uns in Beantwortung der Fragen immer weiter zurückweise und uns bezüglich des völligen Abschlusses der Erfah­ rung stets unbefriedigt lasse: „… Eine jede nach Erfahrungsgrundsätzen gegebene Antwort gebiert eine neue Frage, die eben so wohl beantwortet sein will und dadurch die Unzulänglichkeit aller physischen Erklärungsarten zur Befriedigung der Vernunft deutlich dartut …“ (Hervorhebungen von mir, G. H.). Die Entwicklung des Skeptizismus habe begonnen mit der „polizeilosen Dialektik“ in der Metaphysik im Sinne eines unkontrollierten gedanklichen Herumschwirrens in Ideen ohne Bestimmung ihrer Quelle und ihrer Stelle innerhalb der Erkenntnis. Die Kritik daran etwa seitens Hume sei begründet gewesen. Da man sich aber bald eines apriorischen Anteils auch an der Erfahrung bzw. der Anwendung derselben Grundsätze, welche zu transzen­ denten Behauptungen anreizten, bewusst geworden sei, habe man nun ge­ glaubt, alles sei Schein und (sichere) Erkenntnis sei überhaupt unmöglich. Dies sei ein Fehler: Die richtige und notwendige Konsequenz aus dem Befund einer „Verwirrung“ in der Metaphysik sei die „aus Grundsätzen gezogene Grenzbestimmung unseres Vernunftgebrauchs“ (§ 57 Prolegome­ na). Durch die Ideen der Vernunft entstehe eine Berührung des „vollen Raums der Erfahrung“ mit dem leeren als eine wirkliche Verknüpfung des Bekannten mit dem immer bzw. notwendig Unbekannten. Diese Grenze gehöre ebenso zum Feld der Erfahrung als dem der Gedankenwesen: „Wir sollen uns denn ein immaterielles Wesen, eine Verstandeswelt und ein höchstes aller Wesen (lauter Noumena) denken, weil die Vernunft nur in diesen als Dingen an sich selbst Vollendung und Befriedigung antrifft, die sie in der Ableitung der Erscheinungen aus ihren gleichartigen Gründen niemals hoffen kann, und weil diese sich wirklich auf etwas von ihnen Unterschiedenes (mithin gänzlich Ungleichartiges) beziehen, indem die Er­ scheinungen doch jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen und also darauf Anzeige tun … Die Sinnenwelt ist nichts als eine Kette nach allge­ gehen, so werde uns wieder alles begreiflich“, Kant, § 56 Prol. Zum Sinn der aus Vernunft entspringenden Dialektik ders., KrV, I., 2. Teil, 2. Abteil. 2. Buch, 3. Hauptstck., Anhang.

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meinen Gesetzen verknüpfter Erscheinungen, sie hat also kein Bestehen für sich, sie ist eigentlich nicht das Ding an sich selbst und bezieht sich also notwendig auf das, was den Grund dieser Erscheinung enthält …“ (§ 57 Prolegomena, S. 354, 355). Das erkenntnistheoretische Verbot transzenden­ ter Urteile könne entgegen dem ersten Anschein mit dem „Gebot, zu Be­ griffen außerhalb des empirischen Feldes hinauszugehen, bestehen, aber nur gerade auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs; denn diese gehört eben so wohl zum Felde der Erfahrung, als dem der Gedankenwesen; und wir werden dadurch zugleich belehrt, wie jene so merkwürdigen Ideen le­ diglich zur Grenzbestimmung der menschlichen Vernunft dienen, nämlich einerseits Erfahrungserkenntnis nicht unbegrenzt auszudehnen, sodass gar nichts mehr als bloß Welt von uns zu erkennen übrig bliebe, und andererseits dennoch nicht über die Grenze der Erfahrung hinausgehen und von Dingen außerhalb derselben als Dingen an sich urteilen zu wollen. Wir halten uns auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil bloß auf das Verhältnis einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntnis liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sind“ (§ 57 Prolegomena, S. 357). Wir seien also durch Vernunft selbst (mittelbar) schon zum Zwecke des Begreifens der Erscheinungswelt genötigt, die Welt so zu sehen, als ob sie durch unbekannte, uns nur in Ideen vorgestellte Gedankendinge beeinflusst sei (etwa: das nach einem Plan entworfene Werk eines höchsten Wesens sei)112. Diese „als ob“-Sicht sei eine Erkenntnis nach der Analogie, was eine vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähn­ lichen Dingen bedeute113. Dadurch würden wir die Gegenstände der Ideen (etwa ein einfaches Wesen, Freiheit als absolute Spontaneität oder ein höchstes Wesen), welche nicht in einer möglichen Erfahrung gegeben wer­ 112  Ein gewisser „symbolischer Anthropomorphismus“ etwa bezüglich eines höchsten Wesens (Gott) sei nicht vermeidbar, betreffe aber lediglich die Sprache (den Ausdruck), dem Objekt selbst werde gedanklich dadurch keine Eigenschaft beigelegt. 113  Obwohl es Kant soweit um die Bedingungen von theoretischer Erkenntnis geht und er die Bedeutung der Ideen in moralisch-praktischer Hinsicht zunächst beiseite lassen will, bildet er folgendes Beispiel zur Verdeutlichung einer AnalogieErkenntnis: Eine Analogie bestehe zwischen dem rechtlichen Verhältnis menschli­ cher Handlungen und dem mechanischen Verhältnis bewegender Kräfte, indem man formuliere, gegen einen anderen niemals etwas tun zu können, ohne ihm ein Recht zu geben, unter entsprechenden Bedingungen dasselbe gegen einen selbst zu tun, wie kein Körper auf den anderen wirken könne, ohne dass der andere ihm eben­ soviel entgegenwirke, Kant, § 58 Prol. (dortige Fußnote). Der auf die Idee der Freiheit in Bezug auf den Menschen gegründete Begriff des Rechts und dessen Konstruktion in einer Anschauung ist Thema der praktischen Philosophie (siehe dazu A.II.3. und B.II.3.).



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz79

den können und die insofern in theoretischer Hinsicht zumindest keine be­ stimmbare objektive Realität hätten, weder an sich selbst noch gar als Er­ scheinungen bestimmen. Trotzdem erhielten wir einen hinlänglich bestimm­ ten Begriff dieser Gedankendinge bzw. notwendigen Vernunftvorstellungen durch die Bestimmung ihres Verhältnisses auf die Welt bzw. auf uns. Die Vernunftideen hätten also in theoretischer Hinsicht (zur Gewinnung von Erkenntnis des Seins) keine konstitutive, sondern lediglich regulative Funk­ tion für den Verstandesgebrauch. Mehr sei weder nötig, möglich, noch sinnvollerweise erwartbar. Dadurch, dass die Vernunft sich bis zur Grenze zwischen dem Inbegriff der Erscheinungen und dem leeren Raum mittels ihrer Ideen erweitere, ge­ winne sie eine „wirkliche positive Erkenntnis“ (§ 59 Prolegomena). Der Zweck der Ideen sei somit der richtige Vernunftgebrauch bzw. Gebrauch des Erkenntnisvermögens innerhalb des Feldes möglicher Erfahrungen, nämlich nach Prinzipien größtmöglicher Einheit (sowohl in theoretischer, als auch in praktischer Hinsicht) durch die Beziehung des gedachten Grundes der Er­ fahrung auf die Sinnenwelt. Die psychologische Idee von der Einfachheit der menschlichen Seele etwa liefere keine Einsicht in die „Natur der menschlichen Seele“, mache aber wenigstens die Unzulänglichkeit einer Erklärung bloß nach Erfahrungsbegriffen deutlich und bewahre vor plattem Materialismus114. Die kosmologische Idee zeige die Unmöglichkeit, eine vollständig abschließende Naturerkenntnis zu liefern und die Vernunft in ihrer Nachfrage zu befriedigen und bewahre so vor einem die Natur für sich selbst genügsam ausgebenden Naturalismus. Die theologische Idee von ei­ nem höchsten notwendigen Wesen bewahre vor Fatalismus in Ansehung einer „blinden Naturnotwendigkeit“ als einer Zufälligkeit für uns ohne ers­ tes Prinzip. So dienten die transzendentalen Ideen dazu, „die frechen und das Feld der Vernunft verengenden Behauptungen des Materialismus, Natu­ ralismus und Fatalismus aufzuheben und dadurch den moralischen Ideen außer dem Felde der Spekulation Raum zu verschaffen …“. So könne man, wenn man denn die unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft wiederum mittels Analogie als eine zweckmäßige Naturanlage des Menschen betrachten und nach ihrem praktischen Nutzen fragen wolle, sich sogar ihren Zweck erklären. Der spekulative Gebrauch der Vernunft in der Metaphysik müsse „mit dem praktischen in der Moral notwendig Einheit haben“ (§ 60 Prolegomena).

114  Dazu

auch Fn. 107 und Fn. 115.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

2. Übergang zum (Sein)Sollen (Kategorischer Imperativ / Begriff von Gut und Böse) Auf der Grundlage dieser Grenzbestimmung durch reine Vernunft, kon­ kret der Beschränkung der Verstandesgebrauchs bei der Produktion von Seinsaussagen auf Erscheinungen in der (Vernunft-)Erkenntnis, dass dies nicht alles sei115, versucht Kant die Basis eines anderen Feldes von Begrif­ fen als das der Naturbegriffe darzulegen, nämlich zum Bereich des SeinSollens überzugehen. Seine Überlegungen zur Durchführbarkeit bzw. zu den Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Übergehens (der Eröffnung ei­ nes anderen Feldes notwendiger Begriffe) sind sein Versuch der Beantwor­ tung der Frage „Was soll ich tun?“ beginnend mit der „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“116. In seinen Schriften zur praktischen Philosophie, v. a. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS, 1785) und der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, 1787), möchte Kant zeigen, dass reine Vernunft für sich praktisch sein kann117. Ein anderes Feld von Begriffen als das der Naturbe­ 115  Wer hingegen alles über die „Sphäre der Anschauung“ hinausgehende als bloß irrationalen Schein verneinte (wie im sogen. Empirismus oft bzw., wenn Menschen nur durch eine solche Geisteshaltung als Empiristen bestimmt wären, dann immer der Fall), verfalle selbst in den „Fehler der Unbescheidenheit“ und behaupte intern widersprüchlich etwas als Wissen, das man eben nicht wissen könne. Wenn ein Empirist sich hingegen damit begnügte, dass man nichts wisse und stets nur aus Erfahrung lerne, so vermiede er zwar diese Anmaßung, vernichte aber gedanklich die Möglichkeit jeder Wissenschaft im eigentlichen Sinne, Kant, KrV, 2. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstck., 3. Abschnitt. 116  Kant, GMS, Vorrede, S. 392. Die folgenden Ausführungen sollen den aus dem Inbegriff der kantischen Werke insgesamt zu entnehmenden – letztendlichen – kan­ tischen Gedankengang darstellen bzw. skizzieren und gehen nicht auf Entwicklungs­ stufen (etwaige Erweiterungen der Überlegungen etwa von der GMS zur KpV) und etwaig zunächst gemachte und dann behobene Fehler oder Unsauberkeiten Kants in besonderer Weise ein. 117  Etwa Kant, KpV, Vorrede. Hier wird „praktisch“, wenn nicht als Gegenbegriff zur theoretischen Erkenntnis, mit deren Voraussetzungen sich die KrV beschäftigt, so doch als ein zur deutlichen Unterscheidung der Anwendungsbereiche der letztlich einen Vernunft taugliches Wort betrachtet. Anzumerken ist, dass genau genommen diese wohl auf Aristoteles zurückgehende und in der Philosophie übliche Bezeich­ nung (theoretische – praktische Philosophie) zur Unterscheidung so pauschal nicht sinnvoll ist: Auch die KrV enthält die Annahme der Möglichkeit eines richtigen und eines falschen Gebrauchs der Vernunft bei der Aufstellung von Seinsbehauptungen (siehe etwa auch § 5 Prol.) und damit die Forderung des richtigen Vernunftge­ brauchs, nämlich der Konstitution des Gegenstandes gemäß den (bestenfalls als solchen deutlichen) Bedingungen der Möglichkeit von (objektiver) Erkenntnis (eines Systems). In diesem Sinne sind alle Wissenschaften als solche praktisch; so auch Kant, Logik, I. zum Begriff der Logik: Allgemeine Logik sei nicht die Erkenntnis, wie wir denken, sondern „wie wir denken sollen“ und II. zu Einteilungen der Logik:



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz81

griffe setze eine andere Art von Gesetzlichkeit voraus als die in der KrV aufgezeigte, durch Verstandesbegriffe in ihrem Verhältnis zur Sinnlichkeit konstituierte Gesetzgebung des Verstandes für Grundsätze der Natur (bzw.: für die Naturerkenntnis). Denn: Solange es um Bestimmung der Erscheinun­ gen geht, ist in dem jeweiligen Produkt – einer Seinsaussage – kein Sollen und es kann auch keines hineinkommen118. Kant hatte in der KrV eine andere Art von Kausalität („Kausalität aus Freiheit“) außerhalb der naturgesetzlich konstituierten Reihe möglicher Er­ scheinungen in der Zeit als gedachte „absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen“ als immerhin denkmöglich dargestellt. Die (reine) Vernunft führe diese Idee selbst bei der Ausmessung ihres Erkenntnisvermögens in theoretischer Hinsicht herbei, um die (dritte) Antinomie auflösen zu können und nicht wegen der Notwendigkeit der Ursachenbestimmung nach dem Kausalitätsbegriff bzw. Kausalgesetz in Bezug auf Erscheinungen und der Unmöglichkeit, dabei im Felde der Erscheinungen jemals Vollständigkeit herzustellen, in Skeptizismus zu verfallen119. Schon in der KrV findet sich die Behauptung Kants, wir hätten als Men­ schen aufgrund von „a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Ge­ setzen des reinen Vernunftgebrauchs Veranlassung, uns völlig a priori in An­ sehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch „Wir können … jede Wissenschaft eine praktische Logik nennen, denn in jeder müssen wir eine Form des Denkens haben“; siehe auch Kant, KpV, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstck., III. und M. Baum, Erkennen und Machen, oben Fn. 103. Gemeint ist im hiesigen Kontext: Moralisch-praktische Vernunft bzw. Vernunfteinsicht in das Gesollte überhaupt in Abgrenzung zur Bestimmung der apriorischen Erkenntnisvor­ aussetzungen und Grenzen zur Aufstellung gültiger Seinsaussagen (so sinngemäß auch Kant, KrV, I., 2. Teil, 2. Abteil., 2. Buch, 9. Abschn., III. zur Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit sowie KrV, transz. Methodenlehre, 2. Hauptstck., 1. Abschnitt; derselbe, Logik, Anhang zu allgem. Bemerkungen, Von dem Unter­ schiede des theoretischen und des praktischen Erkenntnisses; derselbe KU, Einlei­ tung, S. 171–173 und auch MdS, RL, Einl. II, S. 217–218.). Der Prozess der Sys­ tembildung durch praktischen Vernunft im engen Sinne verläuft allerdings in entge­ gengesetzter Richtung (herabsteigend von bzw. beginnend mit Ideen) zur Weise der Systembildung durch „theoretische“ Vernunft („Betrachtungen des Physischen der Weltordnung zu der architektonischen Verknüpfung derselben … nach Ideen hinauf­ zusteigen …“), vgl. Kant, KrV, S. 202. 118  Bezüglich der Weise der Konstitution der Seinsaussagen (Weise der Gegen­ standskonstruktion) hatte Kant allerdings ein richtiges (notwendiges, gesolltes) Ver­ fahren in der KrV aufgezeigt bzw. zumindest als solches behauptet (A.II.1.). 119  Kant bezeichnet die von ihm angenommene Notwendigkeit der Idee der Frei­ heit im Sinne eines logisch-ersten Anfangs einer Reihe von naturgesetzlich verknüpf­ ten Erscheinungen als „Bedürfnis der Vernunft“, KrV, I., 2. Teil, 2. Abteil., 2. Buch, 2. Hauptstck., 2. Abschn., Anm. zur Antithesis der 3. Antinomie.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

selbst bestimmend vorauszusetzen …“, wodurch „sich … eine Spontanität entdecke“ … und wir „innewerden, dass im Bewusstsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligible (nur gedachte Welt) zu bestimmen dienen kann“. Wäh­ rend man bei den sonstigen Naturgegenständen, die der Mensch zunächst als Erscheinungen wahrnehme, keinen Grund dafür finde, sich deren Vermögen „anders als bloß sinnlich bedingt“ zu denken, erkenne „allein der Mensch … sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen …, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann …“. Er ist sich damit „einesteils Phänomen, anderenteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermö­ gen, ein intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“. Die Verbindung von ge­ gebenen Vorstellungen durch den Verstand zur Einheit eines Bewusstseins sei ein Akt der Selbsttätigkeit dieser Einheit und das Bewusstsein dieses Verbin­ dens von Vorstellungen sei das Sich-Bewusst-Werden der Identität seiner selbst. Der Satz „Ich bin mir meiner selbst bewusst“ enthalte schon ein „zweifaches Ich …, das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt, wobei „… nur Ich, der ich denke und anschaue … die Person“ sei, „das Ich aber des Objek­ tes, das von mir angeschaut wird, ist gleich anderen Gegenständen außer mir, die Sache“120. Die von „empirischbedingten Kräften“ zu unterscheidenden Vermögen dieses eigentlichen Subjekts seien also der Verstand, vor allem aber die Vernunft, da diese „ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der dann von seinen (zwar auch reinen) Be­ griffen einen empirischen Gebrauch macht“. 120  Kant, Fortschritte, 1. Abt., S. 270. Bei diesen Ausführungen geht es Kant nicht um normative Erkenntnis bzw. um das Zustehen von etwas zur Person; eine Zuordnung eines Objektes zu einem vorausgesetzten immateriellen Subjekt ist je­ doch inhaltlich in diesem Satz über die Subjekt-Objekt-Struktur des begrifflich er­ fassenden Bewusstseins impliziert. Zum Verhältnis des transzendentalen zum empi­ rischen Bewusstsein drückt sich Kant in der ersten Auflage der KrV wie folgt aus: „… Es ist aber nicht aus der Acht zu lassen, dass die Vorstellung Ich in Beziehung auf alle andere (deren collective Einheit sie möglich macht) das transcendentale Bewusstsein sei. Diese Vorstellung mag nun klar (empirisches Bewusstsein) oder dunkel sein … die Möglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses beruht not­ wendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem Vermögen“. Diese Behauptung kann so verstanden werden, dass für jeden denkenden Menschen sein (klares) empirisches Selbstbewusstsein eine Individualisierung eines vorausgesetzten transzendentalen Selbstbewusstseins ist: „Alles empirische Bewusstsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales (vor aller besonderen Erfahrung vorhergehendes) Bewusstsein, nämlich das Bewusstsein meiner selbst als die ­ursprüngliche Apperception  …“, Kant, KrV, AA IV, Anm. S. 87, dazu auch oben A.II.1. und Longuenesse, Selbstbewusstsein, S. 870–873, vgl. auch Heimsoeth, Per­ sönlichkeitsbewusstsein, S.  237 ff.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz83

Wenn also nach Kant – soweit zusammenfassend – der Mensch sich als Erkenntnissubjekt sehen muss und durch seinen Verstand nur Erscheinungen bestimmen kann, zugleich mit dieser Einordnung aber weiß, dass Etwas (als solches Unerkennbares) als existierend gedacht werden müsse, das erscheint, dann habe er Grund, sich selbst als nur einerseits Erscheinung, andererseits aber als gedachte reine Ursache seiner willentlichen (inneren und äußeren) Bewegungen zu betrachten, welche er dadurch als seine (inneren und äuße­ ren) Handlungen beurteilen kann und muss121. Beide Perspektiven bzw. Standpunkte könnten vereint werden, indem der Mensch die Beschreibun­ gen bzw. Erklärungen des Seins beschränke auf die Erscheinungen (auch seiner selbst, etwa in der Biologie), sich in jeder seiner inneren und äußeren Handlungen aber trotz der theoretischen Möglichkeit, ihre Ursachen in der Erscheinung nach Naturgesetzen anzugeben, sieht als ob bloß er selbst (als Subjekt) sie hervorbringe. Wenn Kant diese Sichtweise bzw. gedankliche Strukturierung als für den Menschen notwendig behauptet, dann glaubt er nicht etwa nur, dass sich jeder denkende Mensch faktisch so beurteilt (im Sinne einer vermeintlich empirischen Behauptung), sondern: Jeder müsse sich selbst so beurteilen, 121  Aufgrund seines Urteils-, Begriffs- und Schlussvermögens (Verstand und Ver­ nunft) bzw. der Fähigkeit, überhaupt zu denken, wird der Mensch als denkendes Subjekt vorausgesetzt. Dazu besteht auch keine Alternative: Die Annahme, dass Vorstellungen zu (jeweils) einem Bewusstsein geordnet bzw. verbunden werden (passiv) ist aus der Perspektive dieses Bewusstseins nichts anderes als ein SelbstUrteilen (aktiv). Insofern ist eine Annahme dahingehend, es werde irgendetwas ge­ dacht, ohne dass ein sich selbst bewusstes Denksubjekt vorhanden ist, welches dieses etwas denkt, absurd und damit unmöglich. Anders ausgedrückt: „Urteilsfrei­ heit“ bloß im Sinne von angenommener Spontaneität eines Subjekts beim Urteilen muss notwendig angenommen werden, weil die Verbindung von Vorstellungen nur innerhalb eines Selbstbewusstseins (das sich selbst Ich nennen kann), dem sie vor­ gestellt werden bzw. dessen Vorstellungen sie zumindest durch den Akt der Verbin­ dung werden, möglich ist. Auch aus der Perspektive eines einen solchen Vorgang beschreibenden anderen Subjekts wäre der Urteilende ebenfalls als Subjekt anzuse­ hen, sofern der andere überhaupt über Urteilen als Verbinden von Vorstellungen in einem Bewusstsein nachdenkt und das Geschehen nicht bloß als biochemischen bzw. elektrischen (letztlich physikalischen) Vorgang modellhaft beschreiben will – im letzteren Fall müsste er die Bewusstseinseinheit allerdings wiederum im Hinblick auf sich selbst voraussetzen und könnte sie zumindest in dieser Beziehung nicht etwa bloß für eine Reihe elektrischer Prozesse halten, sondern für das, was u. a. die Vorstellung einer Reihe elektrischer Prozesse ermöglicht. Insofern ist unmöglich ein vollständig materialisiertes Weltbild vorstellbar, formulierbar oder beschreibbar. Auch eine vollständig passiv formulierte Theorie wirft die Frage auf, wem deren Inhalt denn vorgestellt wird und die Antwort darauf ist: Dem Menschen, der es sich nach seinem Erkenntnisvermögen so vorzustellen und sich somit notwendig als Sub­ jekt zu setzen hat (denn eine Theorie ist ein Gedankenwerk, das nicht rezeptiv empfangen, sondern aktiv gestrickt wird). Siehe auch Fn. 107 und 115 und M. Baum, Erkennen und Machen, S. 161 ff.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

um sich nicht mit sich selbst in – unter Umständen unbemerkte – Wider­ sprüche zu verwickeln. Demnach sei zwar die menschliche Willkür durch Sinneneindrücke stets beeinflusst („affiziert“), diese machten eine Handlung aber nicht notwendig, sondern dem Menschen wohne – in praktischer Hinsicht überhaupt – ein Vermögen bei, sich „unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen“. Diese Kausalität drücke sich durch Imperative als Sollen aus: Naturanreize könnten stets nur ein bedingtes Wollen, jedoch niemals ein Sollen hervorbringen. Der Grund einer gesollten Handlung müsse letztlich in einem bloßen Begriff und nicht in einer Erscheinung liegen. Die Vernunft schaffe sich „mit völliger Spontaneität“ eine eigene Ordnung nach Ideen, in welche sie die „empirischen Bedingungen hinein­ passt“, wobei sie voraussetze, dass sie (die Vernunft durch ihre Ideen) in Beziehung auf Handlungen Kausalität haben könne122. Fraglich ist, was dadurch an Einsicht in Moralität und Recht gewonnen ist: Auch wenn der Mensch weiß, dass er sich in seinen ihm bewussten und mit seinem Willen zugänglichen bzw. beeinflussbar-erscheinenden Bewe­ gungen stets auch sehen muss, als ob er selbst (gedanklich abstrahiert von etwaig-bestimmenden Erscheinungen als Naturursachen) eine Kette von Erscheinungen anfange (handeln kann und muss), weiß er noch nicht, wie er handeln soll. Kant nimmt an, dass solange diese Frage nur abhängig von einem kon­ kreten Zweck (einer konkreten Zielvorstellung für ein Handeln) beantwortet werden kann, welcher durch die bisherige Erfahrung bzw. nur unter Rück­ griff auf sinnliche Daten gesetzt werden kann, als Antwort ein deshalb zu­ fälliger bzw. bloß bedingt gültiger Imperativ folge. Solche Gebote, deren Befolgungserfordernis von einer konkreten Zwecksetzung abhängt, nennt Kant deswegen hypothetische Imperative (technische bzw. pragmatische 122  Kant, KrV, 2. Teil, 2. Abteil., 2. Buch, 2. Hauptstck., 9. Abschnitt, III. Diese Überlegungen seien vernunftnotwendig, führten aber eben keine Erweiterung der Seinserkenntnis herbei (siehe soweit auch GMS, 3. Abschnitt, S. 458), sondern enthielten eine bloß-analoge Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf „die Frei­ heit und das Subjekt derselben“ in praktischer Absicht. Diese werde durchgeführt, indem man „bloß die logischen Funktionen des Subjekts und Prädikats, des Grundes und der Folge darunter verstehe, denen gemäß die Handlungen oder Wirkungen je­ nen Gesetzen gemäß so bestimmt werden, dass sie zugleich den Naturgesetzen, den Kategorien der Substanz und der Ursache alle Mal gemäß erklärt werden können, ob sie gleich aus ganz anderem Prinzip entspringen“, KrV, I., 2. Teil, 2. Abteil., 2. Buch, 1. Hauptstck., Allgem. Anmerkung. Siehe zur Analogie-Erkenntnis in Bezug auf Vernunftbegriffe in praktischer Hinsicht (nämlich ohne angenommene ­ Erweiterung theoretischer Erkenntnis / ohne angenommene objektive theoretische Realität des Begriffs) auch ders., KU, § 88 und § 59.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz85

Imperative). Durch hypothetische Imperative werde letztlich keine andere Ebene als bloß die Seinsebene erreicht: Da ihre Gültigkeit abhänge von der konkreten Zwecksetzung, welche soweit bloß aus Erfahrungsdaten nach Vorstellungen vom jeweils Angenehmen erfolgen und nicht allgemein not­ wendig sein könne, könnten solche hypothetischen Imperative („Wenn du dir x als Zweck gesetzt hast, den vorgestellten Gegenstand x also wirklich machen willst, dann musst du y tun“) niemals verpflichtend sein: Eine Vor­ stellung von seinsollendem Verhalten, die vom faktisch Begehrten abweicht, sodass sich jemand trotz entgegenstehendem sinnlichen Begehren unbedingt unter sie zu nötigen hätte (Pflicht als Selbstnötigungsnotwendigkeit) kann es nach bloß hypothetischen Imperativen nicht geben. Denn der Grund des hypothetischen Imperativs ist das jeweilige eigene sinnliche Begehren (Pro­ dukt des Begehrungsvermögens bzw. der Rezeptivität in Wechselwirkung mit den jeweiligen äußeren Umständen123). Die Gebotenheit der Befolgung eines Satzes wie: „Du sollst in der Weise y handeln, um x zu erreichen“ hängt bloß davon ab, dass x unter diesen Umständen (y) immer noch (ak­ 123  Begehrungsvermögen definiert Kant als „Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“, MdS, Einl., S. 211 ff. Inso­ fern es dabei um willkürliches Handeln nach Vorstellungen und also um Hervorbrin­ gung von wirklichen Gegenständen durch unsere Handlungen als Mittel dazu geht, geht es auch um ein Aufstellen praktischer Sätze und damit auch um eine Verstandes- und Vernunfttätigkeit, bei welcher der Mensch als aktives Subjekt betrachtet wird. Man mag finden, dass dies in der obigen Ausdrucksweise nicht deutlich wird. Worauf es hier jedoch ankommt: Der Bestimmungsgrund des jeweiligen praktischen Satzes bzw. hypothetischen Imperativs ist letztlich die durch sinnliche Daten kons­ tituierte Begierde. Was begehrt wird, hängt ab von (der prognostischen Abschätzung) einer Lustempfindung bei Existenz des Gegenstandes der jeweiligen Vorstellung und von den jeweiligen äußeren Umständen, insofern nur unter Einbezug derer die Re­ alisierbarkeit bzw. Chance auf Verwirklichung des Gegenstandes der Vorstellung beurteilt werden kann (mitentscheidend für die Frage, ob seine Hervorbringung als Zweck des eigenen Handelns gesetzt wird oder nicht). Der Bestimmungsgrund des Handelns ist also empirisch: Wegen eines Lustgefühl und verstandesmäßig zu beur­ teilender Wahrnehmung als vorfindbares Dasein werden diese Handlungsgrundsätze, die deshalb bloß subjektive Maximen sind (siehe hierzu auch Fn. 124), gewählt. Das Gefühl als die „Fähigkeit, Lust oder Unlust zu empfinden“ bestimmt Kant dadurch als einen besonderen Teil der Rezeptivität, dass durch diese Empfindungen „nichts am Objekte“ ausgedrückt werden könne, sie also keinem äußeren Objekt als Eigen­ schaften beigelegt werden könnten. Dies ist zutreffend; der beiläufigen Anmerkung Kants, Gefühle seien nicht einmal Erkenntnisstücke, was unseren eigenen Zustand angeht, kann man allerdings widersprechen: Die Auffindung von bestimmten (Ab-) Neigungen ist empirisch und nur durch Feststellung bestimmter Wahrnehmungen (Gefühle) möglich; sie trägt so zur Bestimmung des aktuellen eigenen Zustandes bei. Alle materialen praktischen Sätze, das sind solche, die ein Objekt bzw. eine Materie als letztlich-ausschlaggebenden Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, dienten bloß der Befriedigung des eben nicht durch reine Vernunft bestimmten (deshalb unteren) Begehrungsvermögens; dazu Kant, MdS, Einl., S. 211 ff. und KpV, §§ 3 ff. und Vorrede Anm. 4.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

tuell) begehrt wird. Wenn dies jedoch nicht der Fall ist – wenn also jemand urteilte: „Y ist mir zu anstrengend; ich begehre x unter dieser Bedingung nicht mehr und will x jetzt nicht mehr erreichen“ – wäre die Annahme einer trotzdem bestehenden (Selbstnötigungs-)Notwendigkeit irrational. Hypothetische Imperative könnten nur Geschicklichkeitsregeln oder Ratschläge sein, bei denen eben das Begehren eines bestimmten vorgestellten Zustandes als besonderem Zweck vorausgesetzt werden müsse124. Ein sie befolgender Wille sei nur in der jeweiligen Absicht „gut“, nämlich als Mit­ tel zur Erreichung des jeweiligen Zwecks. Eine moralische Beurteilung finde soweit gar nicht statt. Im moralischen Sinne gut sei nur dasjenige, was praktisch notwendig und damit neigungsunabhängig sei (das Haben zwar nicht von Neigungen überhaupt, aber von bestimmten Neigungen sei dem jeweiligen Menschen zufällig und könne niemals unmittelbar als überhauptgesollt beurteilt werden). In einer Natur- bzw. Schöpferanalogie (siehe zur Analogie-Bedeutung oben A.II.1.) könne man sagen: Die „wahre Bestim­ mung“ der Vernunft als praktisches Vermögen sei die Hervorbringung eines an sich guten Willens, d. i. ein solcher, der ohne Einschränkung für gut gehalten werden muss. Der Pflichtbegriff enthalte den Begriff eines unbe­ dingt guten Willens bzw. die Notwendigkeit der Nötigung eines nicht not­ wendig guten Willens unter ein objektives Gesetz der Vernunft und damit also das Verhältnis des objektiven Vernunftgesetzes zur subjektiven Be­ schaffenheit des (jeweiligen) Willens: Solange der Wert einer Handlung lediglich abhänge von der Tauglichkeit zu einer Zweckerreichung, also von 124  Kant, GMS, 2. Abschnitt, S. 415 ff.; siehe zu der für die Frage nach unbeding­ tem bzw. eigentlichem Sollen nicht relevanten Unterscheidung zwischen technischen Imperativen als „Regeln der Geschicklichkeit“ und pragmatischen Imperativen als „Ratschlägen der Klugheit“ unten Fn. 129. Die in Gestalt von Imperativen ausge­ drückte praktische Notwendigkeit, also ein Sollen im eigentlichen Sinne, enthalte die Vorstellung eines objektiven (allgemeingültigen und notwendigen) Prinzips (Geset­ zes), sofern es für einen aufgrund seiner subjektiven Beschaffenheit nicht notwendig diesem Prinzip gemäßen Willen nötigend ist, GMS, 2. Abschnitt, S. 413, 414. Hy­ pothetische Imperative seien zwar „praktische Vorschriften“ und insofern sie „Hand­ lungen als Mittel zur Wirkung als Absicht“ vorschreiben auch „Produkte der Ver­ nunft“, aber mangels wirklicher Notwendigkeit keine praktischen Gesetze: Kant nimmt an, dass das sinnliche Begehren (bei dem der Mensch anfangs als empfin­ dendes Wesen passiv ist) zwar auch in einem laxen Sinne zu Notwendigkeiten füh­ ren könne, diese seien aber eben stets „nur subjektiv bedingt“ (soll heißen: durch das jeweilige sinnliche bzw. untere Begehrungsvermögen in Wechselwirkung mit äußeren Einflüssen herbeigeführt und für sich unmittelbar weder sein-sollend, noch nicht-seinsollend). Empirisch-bedingte praktische Sätze bzw. Handlungsregeln seien (als Maximen) stets bloß subjektiv-gültig: Empirische Gesetze der praktischen Vernunft sind demnach unmöglich, denn: Empirisch bedingte (von einem festgestellten sinnlichen Begehren anhebende) praktische Sätze sind demnach keine Gesetze, son­ dern höchstens „Anratungen zum Behuf unserer Begierden“; Kant, KpV, 1. Teil, 1. Buch, 1. Hauptstck., §§ 1–3.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz87

ihrer Wirkung und damit von durch Sinne vorgegebenen – und sei es auch verstandesmäßig beurteilten – „Gegenständen des Begehrungsvermögens“, sei ein Pflichtbegriff unmöglich („Pflicht … ein leerer Wahn und chimäri­ scher Begriff“)125. Anders als Hobbes, Mill und alle Vertreter eines materialen Ansatzes nimmt Kant somit an, dass eine allgemeingültige Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ unmöglich gefunden werden kann, wenn man begriff­ lich bei hypothetischen Imperativen verharrt. Auch wenn versucht wird, diese allgemeingültiger126 zu machen, indem die in die Form hypotheti­ scher Imperative als Zweck einzusetzende (anzustrebende) Materie so ge­ wählt wird, dass möglichst viele Menschen sie faktisch sinnlich-begehren: Die Gültigkeit solcher Imperative bleibe zufällig. Wo „ein Objekt des Wil­ lens zum Grunde gelegt werden muss, um diesem die Regel vorzuschrei­ ben, die diesen bestimme, da ist die Regel nichts als Heteronomie …“. Demnach „gäbe eigentlich die Natur das Gesetz, welches … an sich zu­ fällig ist …“127. Vertreter eines materialen Ansatzes sehen darin kein begriffliches Prob­ lem, sondern versuchen die möglichen und ganz unterschiedlichen Vorstel­ lungen bzw. Begehren der einzelnen Menschen, die einander in Auslebung häufig sogar widersprechen (deren Verwirklichung sich also oft wechselsei­ tig ausschließt), trotzdem irgendwie unter einen Oberbegriff zu ordnen: Wie dargestellt setzt Hobbes als allseitig subjektiv begehrte Materie das Leben bzw. die Selbsterhaltung ein und leitet daraus die Notwendigkeit der Einset­ zung eines allmächtigen Souveräns mit der Aufgabe möglichst allseitiger Lebenssicherung ab, während Mill meint, alle subjektiven Glücksvorstellun­ gen unter dem Terminus des „allgemeinen Glücks“ zusammenfassen zu können128. Zwar, so Kant, hätten tatsächlich alle Menschen „die Absicht auf Glückseligkeit“. Insofern sei ein Imperativ, der die Notwendigkeit der Handlung als Mittel zu diesem Zweck vorstellte zwar hypothetisch, aber für den Menschen als „zu seinem Wesen“ gehörend assertorisch. Ein Verpflich­ 125  Kant, GMS, 1. Abschnitt, S. 395–402 und 2. Abschnitt, S. 411 ff. Zum Ver­ hältnis der Begriffe „Gesetz“, „Imperativ“ und „Wille“ auch ders., Theorie und Praxis, S. 282 ff., 288 und 298. 126  Dieser den Gedankengang beschreibende Komparativ enthält schon eine Ab­ surdität. 127  Kant, GMS, 2. Abschnitt, S. 443, 444: Ein „fremder Antrieb“ gebe dem Wil­ len vermittelt über das sinnliche Begehrungsvermögen des jeweiligen Menschen die Regel. Dies sei zur apodiktisch-praktischen Regel bzw. zu einer moralischen (Selbst-) Gesetzgebung untauglich. 128  Dabei ist die Rückbindung an den von Mill als solchen behaupteten Aus­ gangspunkt, nämlich das konkret zufällige aktuelle sinnliche Begehren jedes Einzel­ nen äußerst zweifelhaft (bzw. nicht mehr gegeben, siehe oben A.I.2.).

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tungsgrund könne jedoch auch ein solcher Imperativ nicht sein: Zum einen sei der Zweck der Glückseligkeit als solcher notwendig für jeden Menschen unbestimmt, weil „alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehö­ ren, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden …“. Damit zusammenhängend und eigentlich entscheidend sei, das ein auf Glückseligkeit gerichteter pragmatischer Imperativ prinzipiell mit dem bloß-technischen Imperativ identisch sei: Es könne sich letztlich und bestenfalls um einen bloßen Ratschlag an den jeweiligen Menschen han­ deln, sofern dieser sich nach seinem individuellen Glückskonzept (Belieben) einen konkreten Zweck gesetzt hat oder sich frage, was wohl zur Glück­ seligkeit beitrage129. Der Begriff der Pflicht im Sinne einer Selbstnötigungs­ notwendigkeit – und sei es trotz oder gerade wegen eines stark entgegen­ stehendem Begehren aus Neigung – entstehe so nicht. Das Gute sei vom Angenehmen „als demjenigen, was nur vermittelst der Empfindung aus bloß subjektiven Ursachen, die nur für diesen oder jenen Sinn gelten, und nicht 129  In diesem Sinne sind zumindest die technischen hypothetischen Imperative analytische praktische Sätze (Urteile): Wenn ein bestimmter Zweck gesetzt wurde (ein faktisches Wollen bzw. Begehren eines Gegenstandes, der deshalb durch eige­ nes Handeln wirklich werden soll, vorausgesetzt ist), dann impliziert dieses Wollen die Anwendung der dafür erforderlichen Mittel. Von den zur Zweckerreichung tauglichen Mitteln (Handlungen) ist eine dieser möglichen Handlungen zur Zweckerreichung notwendig. Dies ist aber keine wirkliche praktische Notwendig­ keit, sondern bloß die Umformulierung eines theoretischen Satzes über eine Ursa­ che-Wirkungs-Beziehung in einen praktischen Satz (Urteil) über eine Mittel-ZweckBeziehung. Insofern können technische Imperative notwendige Mittel zur Errei­ chung zufälliger Zwecke (die je nach subjektiver, aufgrund empirischer Daten mittels Einbildungskraft erzeugter Glückseligkeitsvorstellung gesetzt werden) vor­ stellen. Gebietend können hypothetische Imperative insofern sein, als die zur ge­ wollten Verwirklichung einer bestimmten Vorstellung (Zweck) erforderlichen Mittel (zumindest bei nur durch mehrere Handlungen zu erreichenden Zwecken) faktisch nicht auch stets gewollt werden, sodass, solange der Zweck gesetzt bleibt, die Mit­ tel als geboten vorgestellt werden müssen. Allerdings hat dies unmittelbar mit Pflicht als Selbstnötigungsnotwendigkeit trotz oder gerade wegen eines entgegen­ stehenden sinnlichen Begehrens nichts zu tun. Siehe ausführlicher zur Bedeutung hypothetischer Imperative Beck, S. 87 ff., der zutreffend darauf hinweist, dass die von Kant zur Darstellung des Gemeinten (letztlich der Unterscheidung von Sein und Sein-Sollen) benutzte Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategori­ schen Sätzen und damit der Imperative nach ihrer Form nicht deutlich ist bzw. missverständlich sein kann: Beck meint, diese Unterscheidung habe (zumindest auch) die Modalität der Urteile einzubeziehen (assertorisch – apodiktisch). Die anscheinend von einigen Interpreten getroffene Annahme, es komme für die von Kant gemeinte prinzipielle Differenz zwischen den sogen. hypothetischen und ei­ nem kategorischen Imperativ auf die sprachliche Darstellung einer Aufforderung an, wäre ein allen Erkenntnisgewinn verhindernder Irrtum (Beck: „töricht“, S. 91), zu diesem Aspekt siehe noch unten B. (mit einer anderen, auf den Terminus des „hypothetischen Imperativs“ nicht angewiesenen Darstellung desselben Gedanken­ gangs).



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als Prinzip der Vernunft, das für jedermann gilt, auf den Willen Einfluss hat“, zu unterscheiden130. Kant ist sich sicher, dass die Frage „Was soll ich tun?“ allgemeingültig und damit in der durch die Fragestellung selbst verlangten Weise nur durch Formulierung eines kategorischen – unbedingt gültigen bzw. apodiktischgewissen – Imperativs beantwortet werden kann. Ein solcher müsse den Willen durch ein formales Prinzip a priori ohne Ansehung materialer Zwecke bzw. Gegenstände des Begehrungsvermögens bestimmen und von Glückseligkeitsratschlägen prinzipiell (qualitativ bzw. „der Art nach“131) unterschieden sein. Da jedoch jede bewusste willkürliche Handlung einen Zweck als Gegen­ stand bzw. Materie der Willkür habe, frage sich, wie es möglich sei, eine Handlung letztlich nicht doch bloß von einer bestimmten Zweckvorstellung bzw. einem bestimmten Begehren abhängig zu machen. Solange das Begeh­ rungsvermögen nicht durch Vernunft bestimmt werde, sei die jeweilige Handlungsmaxime ein unvermeidlich bloß subjektives Prinzip des Wollens. Ein objektives Prinzip des Wollens sei nur möglich durch die in „vernünf­ tigen Wesen“ existente Vorstellung eines Gesetzes überhaupt als (mittelba­ rem) Bestimmungsgrund der Willkür, indem von allen durch Neigung ge­ setzten materialen Zwecken abgesehen werde (der „Wille aller Antriebe beraubt“ bzw. „von allem zu bewirkendem Zweck abstrahiert“ werde) und als sein Prinzip nur „die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlung“ übrig bleibe: „Ich soll niemals anders verfahren, als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“. Die Ausfüh­ rung jeder Maxime als subjektivem Handlungsprinzip („Regel des Handeln­ den, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht“) bzw. 130  Kant, GMS, 2. Abschnitt, S. 412–419 und KpV, 1. Teil, 1. Buch, 1. Haupt­ stck., §§ 2, 3 und 2. Hauptstck. Die Bedürfnisse und Neigungen, deren „Befriedi­ gung unter dem Namen der Glückseligkeit“ zusammengefasst werden könne, seien ein „mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, woraus ein Hang entspringen könne, gegen die Gesetze der Pflicht zu vernünfteln … um sie unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben“, GMS, 1. Abschnitt, S. 405. Zu unterscheiden sei zwischen dem Handeln aufgrund eines „pathologischen“ Interesses am Gegenstand der Handlung (also eines letztlich durch Rezeptivität entstandenen und technisch-rational verfolgten Begehrens) und dem Nehmen eines praktischen Interesses an der Handlung selbst bloß in Abhängigkeit von Prinzipien der Vernunft, GMS, Fußnote S. 413 (alle Her­ vorhebungen von mir, G. H.). Eine geschickte Bedürfnisbefriedigung könne man evtl. in technischer Hinsicht bewundern, man könne aber niemals Achtung dafür haben. Wer alles auf bloße Klugheitsregeln (Ratschläge zur Glückseligkeit) grün­ den wolle, müsse bestreiten, dass Moral überhaupt möglich sei bzw. dass es diese überhaupt geben könne (letzteres deutlich in: Zum ewigen Frieden, Anhang I.). 131  Kant, Theorie und Praxis, S. 282 ff.

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die Setzung einer möglichen Maxime zur wirklichen sei auf die Bedingung der Tauglichkeit der Maxime zum allgemeinen (objektiv-gültigen) Gesetz zu bedingen: Der Mensch habe sich notwendig bei allem Handeln zu denken, als sei er durch seine Maxime allgemein gesetzgebend132. Dieser kategori­ sche Imperativ sei nicht aus der „menschlichen Natur“ abgeleitet und grün­ de nicht auf Erfahrung (sei nicht durch Rückgriff auf empirische Anthropo­ logie oder Psychologie zu gewinnen). Der kategorische Imperativ als oberstes „Prinzip der Sittlichkeit“, der Pflichtbegriff überhaupt und somit alle moralischen Begriffe hätten ihren Ursprung und Sitz „völlig a priori in der Vernunft“. Dieser Imperativ gelte „für alle vernünftigen Wesen“ und sei schon mit dem Begriff des Willens eines vernünftigen Wesens verbunden: Der Wille – in Abgrenzung zur bloß vorgefundenen Begierde – „wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß, sich selbst zum Handeln zu bestimmen“. Er sei „eine Art von Kausalität lebendiger Wesen, sofern sie vernünftig sind“. Zu jeder möglichen konkreten Willens- und Handlungsbe­ stimmung diene zwar die Vorstellung der subjektiv-seinsollenden durch das eigene Handeln verwirklichbaren zukünftigen Wirklichkeit (unter Einbezug mehr oder weniger vollständig und deutlich vorgestellter Naturgesetze bzw. -regeln) als Zweck der Handlung. Jedoch dürfe diese Materie nicht die letztendliche Bedingung der Annehmung (Zwecksetzung) und Ausführung sein: Dies müsse stets die mögliche und zu wollende Allgemeinheit der Maxime – der konkreten Handlungsregel – als Gesetz sein (diese Form der Maxime)133. Denselben Gedankengang stellt Kant zur Verdeutlichung auf folgende Weise ausführlicher dar: Wenn ein Zweck durch bloße Vernunft gegeben wäre, müsste er für „alle vernünftigen Wesen gleich gelten.“ Ein solcher Zweck könne unmöglich in subjektiven Gründen des Begehrens (Trieb­ 132  Kant, GMS, 1. Abschnitt, S. 400 ff. Es bestehen weitere (sprachliche) Formu­ lierungsmöglichkeiten für dasselbe, siehe GMS, S. 428–437 und KpV, § 7. Der ka­ tegorische Imperativ betrifft also nicht unmittelbar die Materie der Handlung und ihre Folgen, sondern „die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt und das Wesentlich-Gute besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle“, GMS, 2. Abschnitt, S. 416 ff. und S. 437 und MdS, Einl. IV, S. 224–226. 133  Kant, GMS, 2. Abschnitt und KpV, 1. Teil, 1. Buch, 1. Hauptstck., § 8 An­ merkung. Kant fasst „Wille“ in KU, § 10 als „Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d. i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist …“. „Zweck“ ist der „Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund der Möglichkeit) angesehen wird; und die Kausalität eines Begriffs in Ansehung seines Objekts ist die Zweckmäßigkeit (forma fina­ lis)“,§ 10 KU. Zum „Zweck“-Begriff auch MdS, TL, Einl. I., S. 380 ff.: Zweck als „Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung, diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird“.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz91

federn) gefunden werden, die ihren Wert nur durch das Verhältnis auf das jeweilige „besonders geartete Begehrungsvermögens des Subjektes“ erhiel­ ten. Solche „nach Belieben“ vorgesetzten materialen Zwecke seien insge­ samt also „nur relativ“, weshalb jeder unmittelbar-materiale Ansatz der Moralitätsbegründung (nach hypothetischen Imperativen) zum Scheitern verurteilt bzw. prinzipiell-verfehlt sei134. „Der Grund eines möglichen kate­ gorischen Imperativs“ könne nur in etwas liegen, dessen Dasein einen ab­ soluten Wert hat. Der Wert aller Gegenstände der Neigung und der Wert der Bedürfnisquellen selbst und damit der Wert aller durch unsere Handlungen zu erwerbenden Gegenstände sei jedoch jederzeit bedingt. Bei Abstraktion von „allem zu bewirkenden Zwecke“ bliebe aber das Subjekt aller möglichen Zwecke als selbständiger Zweck bzw. Zweck an sich selbst übrig. Der Mensch stelle sich notwendig sein Dasein vor (ist sich selbst bewusst), „sofern ist es also subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben dessel­ ben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden“. Und so könne man auch formulieren: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“. Das vernünftige Wesen schränke als Zweck an sich selbst (Person), der in Abgrenzung zu Sachen niemals bloß als Mittel gebraucht werden und „an dessen Statt kein anderer Zweck ge­ setzt werden kann“, insofern alle Willkür ein135. Die Menschheit könne 134  „… Wert (der materialen, nach Belieben bzw. sinnlichem Begehren vorgesetz­ ten Zwecke, G. H.), der daher keine allgemeinen für alle vernünftigen Wesen und auch nicht für jedes Wollen gültigen und notwendigen Prinzipien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben kann …“, Kant, GMS, 21. Abschnitt, S. 427, 428. Deut­ lich auch GMS, 2. Abschnitt, S. 432–433 und 440 ff. und KpV, 1. Teil, 1. Buch, 1. Hauptstck., §§ 2, 3, 4 und 8 und MdS, Einl. II., S. 215–217: „… die Begriffe und Urteile über unser Tun bedeuten gar nichts Sittliches, wenn sie das, was sich bloß von der Erfahrung lernen lässt enthalten, und wenn man sich etwa verleiten lässt, etwas aus der letzteren Quelle zum moralischen Grundsatze zu machen, so gerät man in Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrtümer …“. Eine Metaphysik der Sitten müsse ihren Ursprung a priori haben und dann „auf Anthropologie angewandt werden …“. Undeutliche Kritik gegen einen unmittelbar materialen Ansatz bei der Aufstellung von Sollensbehauptung (etwa gegen Hobbes) und bruchstückhafte Über­ legungen zu einem prinzipiell-anderen (formalen) Ansatz finden sich auch schon bei Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, Kapitel 4. und 6. (allerdings begrifflich unzureichend und deshalb letztlich auch in den Konsequenzen nicht wesentlich von den kritisierten Positionen verschieden). 135  Kant, GMS, 2. Abschnitt, S. 427–429. Ohne diese Annahme könne „überall gar nichts von absolutem Werte angetroffen werden“ und es könne „für die Vernunft kein oberstes praktisches Prinzip“ geben (S. 428). Der Mensch sei als Zweck an sich „Per­ son“. Im Personenbegriff ist der Mensch als die Einheit von reinem (nach der Idee der

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

somit als „objektiver Zweck“ betrachtet werden, der, „wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung subjektiver Zwecke ausmachen soll“. Da der Grund aller praktischen Gesetzgebung objektiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz … zu sein fähig macht …, subjektiv aber im Zwecke“ liege, das „Subjekt aller Zwecke“ aber jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst sei, folge als oberste Bedingung der Zusammenstimmung des Willens vernünftiger Wesen mit der allgemei­ nen praktischen Vernunft die „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“. Der Wille sei dabei „also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, dass er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muss“. Diese Selbstgesetzgebung der Vernunft (Autonomie des Willens) gründe sich auf kein Interesse und gebiete „alles aus der Maxime seines Willens als eines solchen zu tun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstande haben könnte“. Alle Pflicht als neigungs- bzw. interessenunabhängige (unbedingte) Selbstnötigungsnotwendigkeit beruhe auf der Selbstgesetzgebung der Ver­ nunft bzw. „bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zueinander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetz­ gebend betrachtet werden muss, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte“. Diese gedankliche Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche (allgemeine) Gesetze nennt Kant auch ein „Reich der Zwecke“136. Freiheit im Sinne von Spontaneität bloß ideal-angenommenem) Subjekt und seinem erscheinenden Körper einschließlich des inneren Erlebens gemeint. Die in praktischer Hinsicht überhaupt gegebene Notwendigkeit der Einschränkung von jedermanns Willkür auf solche Handlungen, durch die Personen nicht zum bloßen Mittel gemacht werden, impliziert die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen einer bloß inner­ lichen (in Gedanken als einer inneren Handlung, etwa einer nicht geäußerten Maxi­ men bzw. Gesinnung bleibenden) Achtung bzw. Missachtung des anderen bzw. auch der eigenen Person und solchen Weisen von Achtung bzw. Missachtung, die sich in äußeren Handlungen manifestieren: Diese Unterscheidung ist relevant für die Abgren­ zung der Ethik (i. e. S.) vom Recht (siehe unten A.II.3.). Ebenfalls impliziert im Be­ griff der Person als einem zu achtenden Gegenstand (wirkliches Subjekt) ist das Urteil der Verantwortlichkeit der Person für ihr Handeln (mit der Folge des sich Zuziehens von Gewissenssanktionen im Falle von ethischen Verfehlungen und auch von äußeren legitimen Reaktionen bzw. Sanktionen im Falle rechtlicher Verfehlungen, siehe dazu A.II.3.). Siehe auch MdS, Einl. IV., S. 223–227: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“, welches also „als Urheber einer Handlung, die alsdann Tat heißt … angesehen wird“.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz93

Die Idee der Würde eines vernünftigen Wesens bestehe somit darin, dass „es keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt“. Alles habe „entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ (einen „inneren Wert“). Jedes vernünftige Wesen bzw. jeder Mensch als Person müsse sich als gesetzgebendes Glied in einem allgemeinen „Reich der Zwecke“ betrachten bzw. betrachtet werden und sei als Subjekt ein Gegenstand der Achtung und von aller übrigen Natur bzw. von allen bloßen Objekten prinzipiell zu unterscheiden. Die „Zweck-an-sich-selbst-Formel und der kategorische Imperativ seien „im Grunde einerlei: Denn, dass ich meine Maxime im Gebrauche der Mit­ tel zu jedem Zwecke auf die Bedingung der Allgemeingültigkeit als eines Gesetzes für jedes Subjekt einschränken soll, sagt ebensoviel, als: das Sub­ 136  Kant, GMS, 2. Abschnitt, S. 433 ff. Das Reich der Zwecke sei „eine prakti­ sche Idee“: In theoretischer Hinsicht erwäge man „zur Erklärung dessen, was da ist in einer Analogie eines Schöpfers in Bezug auf sein Werk die Natur als ein Reich der Zwecke. In der Moral denke man ein „mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur“, gehe umgekehrt auf das, was faktisch nicht (notwendig) da ist, aber da sein soll, um dieses gemäß der Idee zustande zu bringen. Ein solches „Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zustande kommen, wenn sie allge­ mein befolgt“ würden, GMS, S. 438, 439. Klesczewski betrachtet diejenige Formel des kategorischen Imperativs, die jedem Menschen bzw. jedem vernünftigen Wesen gebietet, so zu handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre (Reich-der-Zwecke-Formel), als eine Vereinigung der vermeintlich von jeder Materie abstrahierenden Naturgesetzformel und der die einheitliche Materie jeder Maxime nennenden Selbstzweckformel, mit deren Hilfe erst ein „abschließendes System von Handlungsgrundsätzen hergeleitet wird“ bzw. mit deren Elementen erst in der Vereinigung eine vollständige Bestim­ mung aller Maximen geleistet werde, Klesczewski, Gerechtigkeitsbegriff, S. 79–84. Dem ist sicherlich auch mit Kant insofern zuzustimmen, als die Bedingung der Maxime auf ihre zugleich mit ihrer Setzung bzw. Ausführung gegebene Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz (für jedes vernünftige Wesen gültig) sowie die Notwendig­ keit, jeden Menschen jederzeit immer auch als Zweck-an-sich-Selbst zu behandeln, in der Reich-der-Zwecke-Formel zusammen deutlich genannt werden. Kant schreibt jedoch, es folge aus dem Umstand der eigentlichen Identität des Regelungsgehaltes der allgemeinen Formel des kategorischen Imperativs und der Selbstzweckformel „unstreitig … dass jedes vernünftige Wesen sich in Ansehung aller Gesetz, denen es immer unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend ansehen könne“ und von anderen so angesehen werden müsse. Kant geht also – anders als Klesczewski – wie selbstverständlich davon aus, dass in allen Formeln des kategorischen Imperativs alle Elemente der Reich-der-Zwecke-Formel (mit Klesczewskis Worten das „Formelement allgemeiner Gesetzgebung“ einerseits und das „materiale Element der Selbstzweckhaftigkeit“ andererseits) entweder enthalten oder zumindest ohne weiteres daraus herzuleiten seien, vgl. Kant, GMS, S. 437, 438.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

jekt der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, muss niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden“137. Es sei für den Menschen notwendig, sich seinem ihm erscheinenden Be­ wusstsein von sich selbst (empirisches Ich) vorangehend ein (reines) Ich bzw. Subjekt als „noch etwas anderes“ als bloß eine Zusammensetzung „aus lauter Erscheinungen“ (sondern etwas dieser Zugrundeliegendes, als solches theoretisch Unerkennbares, siehe auch Fn. 120) zu denken, welches die im phä­ nomenalen Menschen erscheinenden Begierden verstandesmäßig fasst und einem Gesetz der Vernunft unterwirft, das sich für den Menschen insgesamt (als Einheit von intelligiblem und phänomenalem Gegenstand bzw. als Sub­ jekt-Objekt-Einheit) als kategorischer Imperativ in Form eines Verfahrens darstellt, alle Maximen, die kein allgemeines Gesetz der Freiheit werden kön­ nen bzw. die man nicht zugleich als solche wollen könne, zu verwerfen138. Aus Einsicht in dieses Prinzip und nicht nur äußerlich-scheinbar gemäß diesem Prinzip zu handeln, d. i. bloß aus Achtung vor diesem Gesetz bzw. „aus Pflicht“ zu handeln, sei dasjenige, was das Handeln erst zum ethischrichtigen (überhaupt-guten) Verhalten mache139. 137  Kant, GMS, 2. Abschnitt, S. 437, 438. Obwohl man allein dadurch, dass man selbst seine Pflicht erfülle, faktisch nicht damit rechnen könne, dass alle anderen dies auch täten, so bleibe doch der kategorische Imperativ „in seiner vollen Kraft“ (S. 438, 439). Das durch den kategorischen Imperativ geforderte gedankliche Prüf­ verfahren zur allgemeingültigen normativen Beurteilung von Maximen ähnelt dem Verfahren der Anwendung der von Kant sogen. „Maximen des gemeinen Menschen­ verstandes“ (KU, § 40) bzw. der „Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrtums überhaupt“ (Logik, Ende des VII. Abschnitts) in Bezug auf Zustehensfragen. Diese Regeln lauten: 1. Selbstdenken 2. an der Stelle jedes anderen denken (bzw. „sich an der Stelle jedes anderen zu denken“) 3. dabei „jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“. 138  Selbstnötigungsnotwendigkeit und dementsprechendes Vermögen des Men­ schen, „nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig erkennt“. Dabei scheine zwar die Erfahrung der Wahl zwischen Handlungsoptionen ein Beispiel für die Freiheit der Willkür zu sein, aber das „Ver­ mögen der Wahl“ sei kein „Erklärungsprinzip“ des Begriffs der Freiheit der Willkür, weil „Erscheinungen kein übersinnliches Objekt, dergleichen die freie Willkür ist, verständlich machen können“, Kant, MdS, S. 226, 227. In diesem Hinweis Kants steckt folgende Behauptung: Sollte das, was ein Mensch als seine Handlungsent­ scheidung beurteilt, in der Erscheinung auch nach Naturgesetzen erklärt werden können (etwa als eine Kette biochemisch-elektrischer Prozesse), sodass die Wahler­ fahrung als bloßes Phänomen eine Illusion zu sein scheine, dann wäre trotzdem die Behauptung, dass Freiheit der Willkür eine Illusion sei, eine überhebliche Scheinbe­ hauptung: Denn darin wird der erscheinende Mensch – wie es auch notwendig ist – als eine Ursache an sich selbst betrachtet und damit als jemand, der selbst will und tut, was er will.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz95

Der Begriff der Sittlichkeit könne letztlich auf die Idee der Freiheit (in Bezug auf uns selbst) zurückgeführt werden bzw. die Idee der Freiheit sei mit dem Begriff der Autonomie als Vernunftgesetzgebung notwendig ver­ bunden, diese trete in Form des kategorischen Imperativs als „allgemeinem Prinzip der Sittlichkeit“ auf. Freiheit in negativer Formulierung als Unab­ hängigkeit von bestimmenden Ursachen der Sinnlichkeit und positiv als (gedachte) Spontaneität, eine Reihe von Erscheinungen von selbst anzufan­ gen, sei die „Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“. Der freie Wille sei ein „Wille unter sittlichen Gesetzen“. Ein jedes Wesen, dass „nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Geset­ ze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde“140. Kant behauptet, dass wir „jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen“ müssten, unter der allein es handeln kann: „Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewusstsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem externen Antriebe die Bestimmung der Urteilskraft zuschrei­ ben. Sie muss sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muss sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden, d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muss also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden“ (siehe dazu auch Fn. 117 und 103). Die Freiheit erscheine uns also in Form des kategorischen Imperativs, dieser sei der letztendliche Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) der Freiheit, letztere der Seinsgrund (ratio essendi) des kategorischen Imperativs. Freiheit bzw. Autonomie im eigentlichen Sinne (Selbstgesetzgebung / „eigene Gesetz­ 139  Siehe zur Abgrenzung der Ethik (im engeren Sinne) vom Recht als zwei Tei­ le einer allgemeinen Pflichtenlehre überhaupt unten A.II.3. 140  Allerdings wird auch theoretische Erkenntnis gerade durch die KrV im wei­ testen Sinne als Handeln im Sinne von Selbsttätigkeit ausgewiesen, siehe dazu M. Baum, Fn. 117 und 103. Im „Vehikel aller Urteile“, dem „Ich denke“, ist ein Sichals-letztliches-Subjekt-Beurteilen (wenn auch nicht als solches Anschauen-Können) impliziert, siehe Fn. 120 und Fn. 121. Wenn also auch Erkennen Handeln ist und Handeln nur „unter der Idee der Freiheit“ möglich ist, dann zeigt das die Unmög­ lichkeit, sich als denkender (urteilender) Mensch anders als „unter der Idee der Freiheit“ zu denken (auch wenn „Freiheit“, „Willensfreiheit“ oder „Freiheit der Willkür“ mangels Anschaulichkeit keine Gegenstände theoretischer Erkenntnis sein können).

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gebung des Willens“ / letztendliche Selbstbestimmung) trete insofern für den Menschen und in Bezug auf diesen in Gestalt eines unbedingten Gebots (kategorischer Imperativ) auf: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselseitig aufeinander zurück“141. Das Bewusstsein dieses „Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft“ nennt Kant ein „Faktum der Vernunft“ bzw. „Selbstbewusstsein der reinen praktischen Vernunft“, wobei „unsere Erkenntnis des Unbedingt-Praktischen“ vom moralischen Gesetz – und nicht unmittelbar vom positiven Begriff der Freiheit – anhebe. Das moralische Gesetz könne nicht aus „vorhergehenden Datis …, z. B. dem Bewusstsein der Freiheit herausvernünftelt“ werden142. Freiheit könne nicht unmittelbar erfahren werden, aber der Mensch kann, wie Beck es ausdrückt, die „verpflichtende Kraft eines allgemeinen Gesetzes unmittelbar 141  Kant, KpV, Anmerkungen 1. und 1. Teil, 1. Buch, 1. Haupstck., § 6 Anmer­ kung. Nochmals: „Freiheit“ wird dadurch kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis, der Mensch sei jedoch logisch-genötigt, sich praktisch für frei zu halten. Die „ob­ jektive Realität“ des Begriffs der Freiheit werde „durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen“ (die „Idee offenbart sich durchs moralische Ge­ setz“), Freiheit sei damit „die Einzige unter allen Ideen der praktischen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen“, Kant, KpV, Vorrede und KpV, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstck., III., siehe auch Reflexionen II., S. 248. Die Vernunft zeige das Vermögen, „durch die bloße Idee der Qualifikation einer Maxime zur Allgemeinheit eines praktischen Gesetzes die Willkür zu bestimmen“ und so „eine Eigenschaft der Willkür zuerst kund zu machen, auf die keine speku­ lative Vernunft … durch irgendeine Erfahrung geraten hätte, und wenn sie darauf geriet, ihre Möglichkeit theoretisch durch nichts dartun könnte, gleichwohl aber jene praktischen Gesetze diese Eigenschaft, nämlich die Freiheit, unwidersprechlich dar­ tun: so wird es weniger befremden, diese Gesetze gleich mathematischen Postulaten unerweislich und doch apodiktisch zu finden, zugleich aber ein ganzes Feld von praktischen Erkenntnissen vor sich eröffnet zu sehen, wo die Vernunft mit derselben Idee der Freiheit, ja jeder anderen ihrer Ideen des Übersinnlichen im Theoretischen alles schlechterdings vor ihr verschlossen finden muss“, MdS, Einl. IV., S. 224–226 (siehe zum „Theoretischen“ A.II.1.). 142  Kant, KpV, 1. Teil, 1. Buch, 1. Hauptstck., § 6 Anmerkung und § 7. Das Gesetz „Ein jedes vernünftiges Wesen handelt so, dass die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“ ist für den Menschen als stets auch sinnlich-beeinflußtem Vernunftwesen bzw. vernünfti­ gem Naturwesen ein (kategorischer) Imperativ. Das moralische Gesetz sei „die oberste Bedingung“ allen Handelns und werde vom Begriff eines höchsten Guts als solche mit eingeschlossen, sodass „die Vorstellung der durch unsere praktische Ver­ nunft möglichen Existenz“ des Gesetzes „zugleich der Bestimmungsgrund des rei­ nen Willens“ sei und das moralische Gesetz (und kein anderer Gegenstand) „nach dem Prinzip der Autonomie den Willen bestimme“. So werde die Zusammenstim­ mung von Freiheitsgesetzlichkeit mit einer in der Erscheinung nach Naturgesetzen determinierten Welt möglich; diese sei auch notwendig, weil „man sich sonst selbst missversteht und sich zu widersprechen glaubt, wo doch alles in der vollkommens­ ten Harmonie nebeneinander steht“, Kant, KpV, 1. Teil, 2. Buch, 1. Hauptstck.



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erfahren; denn sie ist uns in unserem Bewusstsein des moralischen Gesetzes gegenwärtig“143. Oder mit Kants Formulierung aus dem Nachlass: Wenn „Freiheit … eigentlich nur die Selbsttätigkeit, deren man sich bewusst ist“ ist, dann gelangt man zum sicheren Bewusstsein dieser Selbsttätigkeit durch Anerkennung des moralischen Gesetzes144. Zur Befolgung des kategorischen Imperativs (Vollzug des unbedingt Ge­ sollten) treibe unmittelbar kein sinnliches Interesse, und doch sei es notwen­ dig, daran ein Interesse zu nehmen: Sich dem kategorischen Imperativ un­ terworfen zu denken sei Voraussetzung dafür, einen „Wert bloß in unserer Person“ zu finden (GMS, S. 449–451). Die Idee der Freiheit und – damit in Bezug auf den Menschen verbunden – der Pflicht (formuliert im kategori­ schen Imperativ) gebe dem Menschen einen „inneren Wert“ (Würde); die Befolgung des kategorischen Imperativs sei die Bedingung der Würdigkeit, glücklich zu sein und könne ein Gefühl der Achtung hervorbringen (als „moralisches Gefühl“). So wirke reine Vernunft in praktischer Hinsicht in die Erfahrung. Wenn der Mensch sich durch die Idee der Freiheit als a priori wirkende Ursache denke, eröffne sich eine andere Perspektive bzw. „ein anderer Standpunkt“ (GMS, S. 109), als wenn er sich bloß als Wirkung 143  Beck, S. 77–78. So führe das sittliche Gesetz „unvermeidlich zu der Annahme, dass Freiheit wirklich ist“ bzw. wirklich sein soll und kann. Im Sich-VerpflichtetGlauben bzw. im Glauben, „eine allgemeine Gesetzgebung in sich zu haben“ sei die Anerkennung von (praktischen) Prinzipien a priori – das Bewusstsein des kategori­ schen Imperativs und das Haben einer Metaphysik der Sitten – impliziert und „jeder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art, in sich“, Kant, MdS, Ein. II., S. 216, 217. Der kategorische Imperativ sei ein synthetischer Satz a priori: Durch bloße Zergliederung der in ihm enthaltenen Begriffe könne „nicht bewiesen werden“ dass der Wille jedes vernünftigen Wesens an ihn notwendig gebunden sei. Allerdings könne durch Analyse von Sittlichkeits- bzw. Pflichtbehauptungen gezeigt werden, dass „Autonomie des Willens“ diesen „unvermeidlich anhänge“, sodass zumindest derjenige, der „Sittlichkeit für etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält“ (jeder, der von Pflicht spricht, ohne dabei mit der implizierten Notwendigkeitsbehauptung bewusst die Unwahrheit zu sagen), zugleich den katego­ rischen Imperativ bzw. den gesamten dargestellten Gedankengang einräumen müsse, Kant, GMS, 1. und 2. Abschnitt, explizit S. 440, 445. 144  Kant, Reflexionen I, N 4220, S. 462. Das Phänomen des Sollens könnte zwar theoretisch stets auch bloß auf empirischen Gründen beruhen. Es müsste dann als Selbsttäuschung betrachtet werden, wenn es nicht als Ausdruck oder Wirkung eines unbedingten Vernunftgebotes ausgewiesen werden könnte. Aber eben „in objektiv notwendigen Urteilen a priori“ bzw. im kategorischen Imperativ sei sich „die Ver­ nunft ihrer Freiheit bewusst“, Reflexionen II, N 5413, S. 176. Ob der kategorische Imperativ bzw. „das Sittengesetz“ die Freiheit i. S. d. Notwendigkeit des Urteils auf die Wirklichkeit der Spontaneität des Menschen bzw. der Vernunft letztlich erst er­ kennbar mache oder ob das Freiheitsbewusstsein durch (reine praktische) Vernunft entstehe und die Formulierbarkeit des kategorischen Imperativs und dessen Wirkun­ gen (Phänomene der Selbstnötigung und der Achtung) bewirke, sei letztlich einerlei.

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anderer Erscheinungen nach Naturgesetzen denke. Diese Einteilung des menschlichen Erkenntnisvermögens in das Vermögen der Eröffnung von zwei Perspektiven (Seinserklärung und Sollensbestimmung) enthalte auf­ grund des in der KrV als notwendig vorgestellten Unterschiedes zwischen Erscheinungen und Dingen an sich (siehe A.II.1.) nicht nur keinen Widerspruch (sei also möglich), sondern sei notwendig: Der Mensch sei zwar einerseits für sich selbst Erscheinung und könne sich nicht „erkennen, wie er an sich selbst sei“, müsse aber „notwendigerweise … sein Ich“ als (rei­ nes) Subjekt denken, welches dem erscheinenden Ich zugrunde liege. Der Mensch müsse sich vernunftnotwendig einerseits bloß in Absicht auf Welt­ erklärung durch die Gesetzgebung des Verstandes in Bezug auf Erscheinun­ gen zur Sinnenwelt zählen, andererseits in Ansehung einer notwendig anzu­ nehmenden „reinen Tätigkeit“ in ihm („dessen, was gar nicht durch Affizie­ rung der Sinne … zum Bewusstsein gelangt“) zu einer intellektuellen Welt unter der Gesetzgebung der Vernunft (GMS, 3. Abschnitt, S. 451, 452; Hervorhebungen von mir, G. H.). Freiheit sei „nur eine Idee der Vernunft“, Natur sei „ein Verstandesbe­ griff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muss“. Daraus entspringe eine „Dialektik der Vernunft“ als „Scheinwiderspruch“. Dieser werde „getilgt“, indem gezeigt werde, dass es sich nicht um einen „wahren Widerspruch“ handele, da bezüglich derselben menschlichen Handlung das Subjekt sich „in unterschiedlichen Verhältnis­ sen“ denke: Einerseits nur als Erscheinung und insofern als bloßes Objekt in einer nach Naturgesetzen gegebenen Kausalkette, andererseits als „erster Anfang“ bzw. als Urheber der von seinem Willen ausgehenden (verstandes­ mäßig verknüpften) Erscheinungen unter Vernunftgesetzen. „Freiheit ist die Unabhängigkeit der Kausalität von den Bedingungen des Raumes und der Zeit, also die Kausalität des Dinges an sich selbst. Natur­ mechanismus und Freiheit widerstreiten einander nicht, weil die Kausalität (bzw. der Gegenstand, der als eine Ursache betrachtet wird, G. H.) nicht in einem Sinne genommen wird. … Die Kausalität eines Wesens, in Ansehung der Erscheinungen sich unabhängig von bestimmenden Gründen der Sinnen­ welt zu gedenken, ist kein Widerspruch, wenn das Wesen nur unter einem Begriffe einer Sache an sich selbst gegeben ist. Nun ist ein vernünftig Wesen als Intelligenz als ein solches Gegeben; mithin lässt sich an demsel­ ben Freiheit denken. Dagegen lässt sich von dem Intelligibelen der (sonsti­ gen, G. H.) Körper keine Kausalität denken, denn ihre Erscheinungen ver­ raten keine Intelligenz, also lässt sich von ihrem substrato intelligibili auch keine Freiheit denken, und wir kennen es durch kein einziges Prädikat …“145. Die Vernunft (als oberes Erkenntnisvermögen) sei „als reine Selbsttätig­ 145  Kant,

Reflexionen II, N 5608, S. 250.



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keit … über den Verstand erhoben“, weil letzterer nur Begriffe hervorbringe, die bloß dazu dienen, „sinnliche Vorstellungen unter Begriffe zu bringen“; die Vernunft zeige durch ihre Ideen „reine Spontaneität“ und schreibe durch Aufzeigung zweier Felder von Begriffen bzw. Erkenntnis dem Verstand die Schranken vor (Vernunft- und Verstandesgesetzgebung146 als die zwei Arten von Gesetzlichkeit). „Die Vernunft ist nicht in der Kette der Erscheinungen und ist in Anse­ hung aller derselben in Ansehung ihrer eigenen Kausalität frei (die Hand­ lungen der Vernunft selber sind auch keine Erscheinungen, sondern nur ihre Wirkungen sind es)“. Im kategorischen Imperativ sei sowohl das Urteil auf die faktische Mög­ lichkeit der unter ihm stehenden Subjekte impliziert, das Gesollte zu tun, als auch entgegen dem Gebot zu handeln (Verwerfliches zu tun)147. Sich als frei denken impliziere, sich als Glied in die „Verstandeswelt“ zu versetzen; sich dabei als verpflichtet denken heiße, sich auch als zur Sinnenwelt gehö­ rig anzusehen. „Wäre alles durch Vernunft bestimmt, so wäre alles notwen­ dig, aber auch gut. Wäre es durch die Sinnlichkeit bestimmt, so wäre nichts Böses oder Gutes, überhaupt nichts Praktisches. Nun sind die Handlungen durch Sinnlichkeit großen Teils veranlasst, aber nicht gänzlich bestimmt; denn die Vernunft muss ein complement der Zulänglichkeit geben … Frägt man nun, ob der Verstand selbst (i. w. S. als oberes Erkenntnisvermögen bzw. Inbegriff der reinen Erkenntnisfunktionen, G. H.), an sich selbst als sowohl in Ansehung dessen, was er tut oder unterlässt, nicht bestimmt sei, so müssen wir sagen: keine einzige mögliche Erfahrung, weil die doch immer nur Erscheinung sein würde, kann dieses geben. Der Verstand (im weiten Sinne, G. H.) ist selbst kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung. Über die Erfahrung hinaus aber gilt die Bestimmbarkeit durch andere Ursa­ chen nicht, weil über diese Grenze der Verstand nur als Ursache kann vorgestellt werden (oberster Verstand) und der Begriff der Ursache nur zum principio des synthesis der Erscheinungen, nicht aber der Handlungen des Verstandes dient“148. „In der Sinnenwelt ist nichts begreiflich, als was durch vorhergehende Gründe necessitirt ist. Die Handlungen der freien Willkür sind phaenomena; aber ihre Verknüpfung mit einem selbsttätigen Subjekt 146  Die Gesetzgebung des Verstandes im engeren Sinne durch Kategorien, „durch welche Erfahrung überhaupt möglich ist“, gehöre auch „zur Autonomie“, alle besonderen Erfahrungsgesetze wegen der Abhängigkeit von gegebenen Wahrnehmungen aber „zur Heteronomie“, Kant, Reflexionen II, N 5608, S. 250. 147  Dazu auch Kant, MdS, TL, Einleitung, S. 379–380: Der Mensch müsse „zu­ gleich mit dem Gedanken“ der Pflicht urteilen, vermögend zu sein, „das zu können, was das Gesetz unbedingt befiehlt, dass er tun soll“ sowie ders. KpV, 1. Teil, 1. Buch, 1. Hauptstck., § 6 Anmerkung. 148  Kant, Reflexionen II, N 5611, S. 252.

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und mit (dem Vermögen) der Vernunft sind intellectual; demnach kann die­ se Bestimmung der freien Willkür den legibus sensitivus nicht submittirt werden. Die Frage, ob Freiheit möglich sei, ist vielleicht mit der einerlei, ob der Mensch eine wahre Person sei und ob das Ich in einem Wesen von äußeren Bestimmungen möglich sei“149. Dementsprechend ist die Würde des Menschen – im Sinne der Notwen­ digkeit des Urteils, dem Menschen sei ein innerer Wert als Subjekt bzw. Person eigen – auch nicht auf die empirisch-anthropologische Feststellung besonderer Qualitäten eines wirklichen Menschen bedingt, sondern kommt jedem Menschen zu. Luf schreibt, die Würde des Menschen sei (nach Kant) „eine Qualität des Menschen als homo noumenon“ und müsse „jedem sinn­ lich begegnenden Menschen zugesonnen werden. Der Mensch ist für den anderen sowohl intelligibles Ich als auch empirische Affektion und daher in seiner spezifisch leiblichen Existenz Repräsentant eines intelligiblen Reichs der Zwecke …“150. „Das moralische Sollen ist … eigenes notwendiges Wollen als Glied einer intelligiblen Welt und wird sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“151. Freiheit als not­ 149  Kant,

Reflexionen I, N 4225, S. 464, 465. Menschenwürde, S. 311. Dieses Urteil ist nach Kant hinsichtlich aller Menschen notwendig, sodass demnach dieser ursprüngliche innere Wert etwa auch schwer-geisteskranken oder stark geistig-behinderten Menschen zukommt. Unter welchen Bedingungen allerdings Etwas zum Menschen überhaupt werde, ist damit noch nicht definiert und ist hinsichtlich der frühen Stadien eines Prozesses begin­ nend mit der Zusammenkunft eines Spermiums und einer Eizelle und endend mit der Geburt eines Menschen möglicherweise auch nicht mit absoluter Notwendigkeit bestimmt anzugeben (notwendige Kriterien für die Weise, wie ein solches Urteil zustande kommen muss, lassen sich allerdings benennen). Kant legte sich diesbe­ züglich nicht eindeutig fest: „… da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen, so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz rich­ tige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt haben …“, MdS, RL, § 28. Da es Kant im Kontext möglicherweise nur um die Begründung von Pflichten der Eltern gegenüber dem geborenen Kind geht, ist der Inhalt dieses Satzes nicht notwendig so zu verstehen, als sei nach Kant schon ab Zeugung eine wirkliche Person auf der Welt (eine solche mögliche Deutung u. a. ablehnend Geismann, Le­ bensrecht, 460 ff., siehe dazu auch Fn. 308). 151  Kant, GMS, S. 455. Der Begriff einer „Verstandeswelt“ sei also „nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu neh­ men, um sich selbst als praktisch zu denken“. Erinnert sei, dass schon beim Versuch der Beantwortung der Frage „Was kann ich wissen?“ in der KrV durch Aufwerfung des (vermeintlichen bzw. notwendig aufzulösenden) Widerspruchs durch die Ver­ nunft letztlich diese selbst zu einer bestimmten unhintergehbaren Zurechtlegung des Erkenntnisvermögens zwinge: Man könne in der Metaphysik deshalb, weil man 150  Luf,



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wendige Idee der Vernunft sei also „als negative Bestimmung … zugleich mit einem (positiven) Vermögen und sogar mit einer Kausalität der Ver­ nunft verbunden …, welche wir einen Willen nennen, so zu handeln, dass das Prinzip der Handlungen der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunft­ ursache, d. i. der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime als eines Gesetzes gemäß sei“. Der „Wille, der auf nichts anderes als bloße Geset­ ze … und unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlun­ gen (also die praktische Vernunft selbst) geht“ sei „schlechterdings not­ wendig“. Gewiss sei nach alledem, dass die „Allgemeinheit der Maxime als Ge­ setz“ nicht deshalb für uns Gültigkeit habe, weil sie uns als etwas Angeneh­ mes interessiere. „Denn das wäre Heteronomie und Abhängigkeit der prak­ tischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte“. Sie interessiert uns, weil der kategorische Imperativ „für uns als Menschen gilt“, da er „unserem Willen als Intelligenz, mithin unserem eigentlichen Selbst (Her­ vorhebung von mir, G. H.) entsprungen ist …“152. 3. Abgrenzung der Ethik im engen Sinne vom Recht (Begriff von Recht und Unrecht) Die Ethik im weiten Sinne eines Systems einer allgemeinen Pflichtenleh­ re sei gedanklich zu unterteilen in die „Rechtslehre (ius), welche äußerer darin niemals durch Erfahrung widerlegt werden könne, „in mancherlei Weise her­ umpfuschen“, wenn man sich nur nicht selbst widerspreche (auch § 52b Prol.). Aber die Vernunft produziere die Antinomie und löse sie nur in der (unter A.II.1.) vorge­ stellten Weise auf, wodurch das gesamte theoretische Erkenntnisvermögen a priori (in der unter A.II.1. dargestellten Weise) vollständig abgesteckt werde. Impliziert sei die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen (unbestimmbaren) Dingen an sich und Erscheinungen sowie die Notwendigkeit, sich das „Subjekt der Freiheit“ nicht wie die übrigen Dinge der Sinnenwelt als bloße Erscheinungen vorzustellen (ansons­ ten sei der Widerspruch unvermeidlich und sichere Erkenntnis unmöglich). Schon in den Schriften zur theoretischen Philosophie stellt Kant fest: „Hierdurch wird also praktische Freiheit, nämlich diejenige, in welcher die Vernunft nach objektiv-bestim­ menden Gründen Kausalität hat, gerettet, ohne dass der Naturnotwendigkeit in An­ sehung eben derselben Wirkungen als Erscheinungen der mindeste Eintrag ge­ schieht“, Kant, § 53 Prolegomena. Jeder Anfang respektive auf objektive bestim­ mende Gründe (Ideen) sei „ein erster Anfang“ (kein Zeitverhältnis, sondern bloß logisch), obwohl dieselbe Handlung in der Reihe der Erscheinungen nur ein sub­ alterner Anfang ist. 152  „… was aber bloß zur Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet“, Kant, GMS, 3. Ab­ schnitt, S.  460 ff.

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Gesetze fähig ist“ und die Tugendlehre (ethica / Ethik im engen Sinne), die „deren nicht fähig ist“153. Die nach Kant strikt durchzuführende Abgrenzung des Bereichs der Ethik (im engen Sinne) vom Bereich des Rechts hat erhebliche praktische Konse­ quenzen, ohne dass diese Bereiche etwa prinzipiell-unterschiedlichen Über­ legungen entsprängen: Alles Folgende basiert auf dem dargestellten Aus­ gangspunkt des Sollens überhaupt (A.II.2.). Die Abgrenzung des Rechts von der Ethik ist insbesondere von wesentlicher Bedeutung für die Antwort auf die Frage nach Möglichkeit und etwaigem Inhalt eines Notstandsrechts nach diesem Ansatz. Und vorab sei Fol­ gendes angemerkt: Wenn das kantische Gesamtwerk gegliedert werden kann in kritische Schriften, die die formalen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis untersuchen und darzulegen versuchen (so für die theoretische Erkenntnis die KrV und für die praktische Erkenntnis die GMS und die KpV) und systematische Schriften, die ein inhaltlich angereichertes System der Erkenntnis nach allgemeinen Grundsätzen darlegen sollen (so die Meta­ physischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften in theoretischer und die Metaphysik der Sitten in praktischer Hinsicht), dann ist diese Gliederung nur bei gedanklichem Zusammenhalten dieser Gesamtwerksabschnitte mög­ lich bzw. sinnvoll (in dem Sinne, dass die System-Schriften die sogen. kritischen Überlegungen bzw. -schriften voraussetzen und sich aus diesen ergeben)154. So habe die Ethik i. w. S. anders als die Seinserkenntnis mit Darlegung des formalen Grundsatzes zu beginnen und von diesem alle Be­ griffe abzuleiten155: Eine praktische Philosophie, die nicht Natur, sondern 153  Kant, u. a. MdS, Einleitung zur Tugendlehre, S. 379. Kant macht an dieser Stelle explizit deutlich, dass es ihm auf die Benennung der Systemteile nicht an­ kommt (die in anderen Ethik-Konzeptionen ähnlich ausfallen kann, aber ggf. etwas ganz anderes meint). Entscheidend sei der gedankliche Unterschied zwischen Tu­ gend- und Rechtspflichten. Zur Bedeutung der Eigenschaft des Rechts, einer „äuße­ ren Gesetzgebung fähig“ zu sein siehe unten Zusammenfassung c) und Fn. 170. 154  Diese Anmerkung ist vorsorglich, aber in Anbetracht von Behauptungen aus einer neueren – vermeintlich eigenständigen – Disziplin der „Metaethik“ angebracht: Darin wird versucht, „formale Aspekte“ moralischer Urteile auf einer „metaethi­ schen Ebene“ (dies soll ein Ansatz „eine Stufe tiefer“ sein, Scarano, in: Düwell / Hü­ benthal / Werner, Ethik, S. 27 ff.) herauszuarbeiten, wobei daraus für die Frage, wel­ che Ethik man vertrete, gar nichts folge, sondern eine „metaethische Position“ im Grunde beliebig mit „einer normativen Ethik“ kombiniert werden könne, siehe etwa Ernst, Moral, 2.1. und 2.3. Zu einem solchen, letztlich unmöglichen Gedankengang siehe noch unten B.II.4.a). 155  Denn: Eine unmittelbar „moralische Anschauung“ sei unmöglich. Kant, u. a. KpV, 1. Teil, 1 Buch, 2. Hauptstck. Der „Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral“ sei gewesen, dass diese „einen Ge­ genstand des Willens aufsuchten, um ihn zur Materie und dem Grunde eines Geset­ zes zu machen (welches alsdann nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das



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„die Freiheit der Willkür zum Objekt hat“, müsse weitergehend bzw. kon­ kretisierend eine Metaphysik der Sitten als ein „System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen“ und Prinzipien enthalten, deren „Ursprung a priori“ in der Vernunft liege und die dann auf Erfahrung (oder „auf Anth­ ropologie“) angewandt werden. Die Rechtswissenschaft als „systematische Kenntnis der natürlichen Rechtslehre“ müsse die „unwandelbaren Prinzipien“ jeder wirklichen Ge­ setzgebung (des positiven Rechts) vorstellen156: Kant beginnt in der MdS nicht zufällig mit der Rechtslehre und kommt erst dann (im zweiten Teil) zur „Tugendlehre“: Die Erkenntnis bzw. Einsicht in das und die Einhaltung des bloß rechtmäßigen Verhaltens ist allem (dar­ über hinausgehenden) ethisch-verdienstlichen Verhalten quasi als minimalgebotene Pflichterfüllung vorausgesetzt. Oder anders ausgedrückt: Der Rechtsbegriff und das Rechtsprinzip ermöglichen die Bestimmung der allem tugendhaften Verhalten vorausgesetzten Minimal-Pflichtinhalte157. Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes der Bestimmungsgrund des Willens sein sollte), anstatt dass sie zuerst nach dem Gesetz hätten forschen sollen, das a priori und unmittelbar den Willen und diesem gemäß allererst den Gegenstand bestimmte … So war ihr Grundsatz allemal Heteronomie, sie mussten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem (ergänzt, G. H.: deshalb bloß vermeintlich-) moralischen Gesetze stoßen …“. Die Frage, wie aus dem formalen Grundsatz bzw. Sittengesetz konkrete normative Begriffe gültig abzuleiten bzw. zu gewinnen sind, bleibt jedoch zu beantworten. 156  Kant, MdS, § A. Kant verwendet den Terminus „Naturrecht“ (Bezugnahme darauf auch im Terminus der „natürlichen Rechtslehre“ impliziert) für die a priori aus reiner Vernunft vorstellbaren Prinzipien des Rechts in Abgrenzung zu einer in bestimmtem Raum und Zeit verwirklichten Gesetzgebung (positives Recht), MdS, RL, Einteilung B.1. Dies muss deutlich sein; ansonsten birgt der Terminus die Ge­ fahr eines Missverständnisses. Denn Ethik und Recht haben nach der kantischen Konzeption in der Gesetzgebung der reinen Vernunft ihren Ausgangspunkt und sind gedanklich zu trennen von der Gesetzgebung des Verstandes zur Konstitution von Erfahrung (Naturbestimmung bzw. -erklärung, siehe A.II.1.). Die Gesetzgebung des Verstandes dient in praktischer Absicht bzw. zur Konstitution des Sollens als „ver­ mittelndes Vermögen“ bei der Anwendung des Sittengesetzes auf Gegenstände der Natur, KpV, 1. Teil, 1 Buch, 2. Hauptstck. („Von der Typik der reinen praktischen Vernunft“) und 2. Buch, auch MdS, RL, § 7. 157  Kant, MdS, Einl. II. und zu letzterem sinngemäß MdS, Einl. III, S. 219–221: Die Ethik enthält sämtliche Pflichten, also sowohl Pflichten, die auch Rechtspflich­ ten sind, aber mit der weitergehenden Anforderung, die Idee der Pflicht selbst (die Einsicht in die Notwendigkeit des Gesetzes und nicht etwa bloß äußere Anreize) zur Triebfeder der Ausführung der (rechts-)pflichtgemäßen Handlung zu machen, als auch in der Rechtslehre gar nicht enthaltene Erweiterungspflichten in Bezug auf sich selbst und andere (durch Formulierung von Gesetzen, die die Erweiterung der Per­ son als ethisch geboten vorstellen und demgemäß gewisse Zwecke formulieren, die in Maximen aufzunehmen sind), siehe MdS, TL, Einl. I.–X.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Die rechtliche Verbindlichkeit bezieht sich in Abgrenzung zur ethischen Verbindlichkeit nur auf das äußere praktische Verhältnis einer Person zu einer anderen, soweit ihre Handlungen als Fakta aufeinander Einfluss haben können. Recht ist nach Kant der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann (§ B MdS)158. Eine besondere Materie der Willkür oder bestimmte Bedürfnisse der Menschen kommen für die rechtliche Beurteilung unmittelbar gar nicht in Betracht, sondern es wird nur nach „der Form im Verhältnis der beiderseitigen Will­ kür“ gefragt, d. i. ob die äußere Handlung des einen mit der Willkür jedes anderen nach einem allgemeinen Zustehensgesetz (Gesetz der Freiheit) zu­ sammen bestehen kann (die jeweiligen Zwecke mögen sein, welche sie wollen). Demnach ist eine Handlung rechtmäßig, wenn sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann (all­ gemeines Rechtsprinzip). Dabei kommt es – mit obigem zusammenhän­ gend – auch nicht darauf an, welche Maxime der Handlung zugrunde liegt: Für die Rechts- und Unrechtsbestimmung als Abgrenzung der äußeren Handlungssphären der Personen ist die konkrete Triebfeder oder Maxime (das konkrete Motiv) zum jeweiligen Verhalten nicht relevant (für die ethi­ sche Bewertung kommt hingegen alles auf die Triebfeder an)159. 158  Kant, MdS, Einl. III., S. 218 ff. und Einl. Rechtslehre, §§ B–E. Willkür bedeu­ tet die bewusste (Handlungs-)Möglichkeit zur Verwirklichung eines vorgestellten Gegenstandes (eines – und sei es bloß nach Belieben gesetzten – Zwecks). Im Recht geht es um die Bestimmung der allseitig rechtlich-möglichen Willkür. Wünsche von Personen als „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objektes“ (Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, 1. Teil, § 73) sind rechtlich unmit­ telbar irrelevant, §§ B ff. MdS. Dieses Kriterium hängt zusammen mit der Beschrän­ kung der rechtlichen Beurteilung bloß auf das äußere Verhältnis der Personen, siehe noch unten. 159  Kant, MdS, § C. In der Rechtslehre sei „die Absicht nicht … Tugend zu leh­ ren, sondern nur, was recht sei vorzutragen … Das Rechtshandeln mir zur Maxime zu machen ist eine Forderung, die die Ethik an nicht tut“. Den aus diesem Grund nur sekundär relevanten Teil der kantischen Formulierung des Rechtsprinzips („… Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns …“) habe ich deshalb auch bei der obigen Darstellung weg­ gelassen. Deutlich muss sein, dass erst die Kenntnis des konkreten Motivs bzw. des Beweggrundes des Handelns eine vollständige ethische Bewertung ermöglicht: Han­ delt jemand aus Einsicht in die Notwendigkeit des Gesetzes („aus Pflicht“) oder letztlich bloß aus Neigung bzw. Abneigung (und deshalb bloß mehr oder weniger zufällig rechtmäßig)? Für die Beantwortung der Frage nach Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Handelns ist dies jedoch irrelevant. Und um etwaige Missver­ ständnisse auszuschließen: Die heutige strafrechtsdogmatische Unterscheidung von subjektiven Unrechtsmerkmalen und (ggf. für die Schuldbeurteilung relevanten) Gesinnungsmerkmalen ist nicht nur mit dieser Beschränkung des Rechts auf das



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Recht wird also als eine sich zwischen mehreren Subjekten gemäß dem allgemeinen Rechtsbegriff und -prinzip entwerfende Gesamtheit von ver­ bindlichen Normen zur Bestimmung und wechselseitigen Abgrenzung der normativ-möglichen äußeren Handlungssphären der Personen und somit als Basis zu deren – ethisch allgemein gebotener – wechselseitiger Freiheitsver­ wirklichung gedacht (siehe zum Verhältnis von Rechtsprinzip bzw. Rechts­ gesetz und kategorischem Imperativ zur Maximenprüfung unten). Unrecht ist demnach das nicht mit Jedermanns Willkür nach einem all­ gemeinen Gesetz der Freiheit zusammenstimmende äußere Verhalten. An­ ders ausgedrückt: Ein Verhalten ist demnach rechtswidrig, wenn es im Verhältnis der Personen zueinander, in welchem der Wille eines Jeden je­ derzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muss, ein äußeres Ver­ halten ist und die dadurch gegenüber anderen zum Ausdruck kommende Zustehensbehauptung als solche nicht verallgemeinerbar und damit als solche nicht allgemeingültig ist (MdS, §§ B, C, siehe auch TL, X. und noch unten B.II.3.). Unrecht könne als ein „Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Geset­ zen“ betrachtet werden. Der einem solchen Hindernis entgegen gesetzte Zwang sei als „Verhinderung (besser: Beseitigung, G. H.) eines Hindernisses der Freiheit“ mit dieser zusammenstimmend und damit selbst Recht. Mit dem Recht sei also nach dem Satz des Widerspruchs eine Befugnis ver­ knüpft, den rechtswidrig Angreifenden zu zwingen: Das Notwehrrecht als das Recht zum Herausdrängen des Angreifers aus der ihm nicht zustehenden Bahn. Insofern könne das strikte, völlig auf äußere Handlungen beschränk­ te und nicht mit Tugendvorschriften illegitim vermengte Recht bzw. der Begriff des Rechts auch als „die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechsel­ seitigen Zwanges“ vorgestellt werden. Recht und eine (gemäß dem katego­ rischen Imperativ) mit jedermanns Freiheit bzw. Selbstzweckhaftigkeit oder Personalität zusammenstimmende Zwangsbefugnis „bedeuten also einerlei“. Das „Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmen­ den wechselseitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit“ sei „die Konstruktion des Begriffs (des Rechts, G. H.), d. i. Darstellung äußere Verhältnis konform, sondern setzt sie – soll die Unterscheidung überhaupt sinnvoll und nicht bloß beliebig sein – voraus: Der Tatbestandsvorsatz als auf äußere Handlungssphärenverletzung (Verwirklichung des objektiven Tatbestandes) gerichteter Wille und solche inneren Handlungsvorstellungen, die eine besondere weitere Beeinträchtigung des tatbestandlich erfassten Rechtsgutes enthalten (die den konkreten Tatwillen konstituierende Vorstellungen) sind gerade durch das Kriterium der Gerichtetheit auf das äußere Verhältnis als Unrechtsmerkmale zu identifizieren und dadurch von Gesinnungsmerkmalen (besonderen Schuldmerkmalen) abzugren­ zen, Helmers, ZStW 2009, 520 sowie HRRS 02 / 16, S. 93.

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desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Mög­ lichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung“ (§ E MdS). Durch die „Konstruktion“ der Rechtsbegriffs (einem Vernunftbegriff) vermittelst des Verstandes in einer Anschauung a priori könne man – entsprechend mathematischen Gegen­ standsbestimmungsverfahren – konkrete Rechtsverhältnisse vorstellen bzw. bestimmen. Die vorpositive Rechtslehre habe jedem das Seine mit ideell mathematischer Genauigkeit zu bestimmen, als wenn man zwischen Kör­ pern „den Raum von beiden Seiten gleich“ abteile160 (dazu genauer B.II.3.). Zum Verhältnis von kategorischem Imperativ (der durch verschiedene Formulierungen vorgestellt werden kann, siehe oben A.II.2.) und allgemei­ nem Rechtsgesetz („Handele äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann …“, MdS, S. 230, 231) sei Folgendes angemerkt: Des Rechtsgesetz bzw. der Rechtsimperativ, wonach die äußere Willkür aller auf die Bedingung der Übereinstimmung mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz eingeschränkt sei bzw. (als Imperativ) werden müsse, kann aus dem kategorischen Imperativ entnommen werden. Die allseitige Selbstnötigungsnotwendigkeit, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, durch die man zugleich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, enthält (minimal) die Forderung, äußerlich nur die Handlung auszuführen, die mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zuste­ hensgesetz zusammen bestehen kann. Dasselbe anders ausgedrückt: Die Notwendigkeit allseitiger Selbstnötigung gemäß dem kategorischen Impera­ tiv impliziert interpersonal die Befugnis gegenüber anderen, äußerlich zu handeln und dabei von diesen nicht zwangsweise eingeschränkt zu werden, wenn und soweit nur das Verhalten mit deren äußerer Willkür nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann161 (Verdeutlichung dessen unter B.II.3.). 160  Kant, MdS, §§ B–E. Siehe zur Möglichkeit einer Darstellung des Inhaltes von Vernunftbegriffen durch Analogien als Entsprechungen von Verhältnissen zwischen auch ganz unähnlichen Gegenständen Prol., §§ 58, 59 und KpV, 1. Teil, 1. Buch, 2. Hauptstck. (Typik, die den Verstand als vermittelndes Vermögen benennt). 161  Das heißt also nicht, dass ein rechtlich mögliches (rechtmäßiges) Handeln oder Unterlassen nicht trotzdem eine ethische Pflichtverletzung darstellen kann: Gemäß dem kategorischen Imperativ werden Maximen auf ihre Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz der Freiheit geprüft und damit also auch vorgestellte (faktischmögliche) äußere Handlungen. Nach dem Rechtsprinzip werden nur (vorgestellte) äußere Handlungen auf die Allgemeingültigkeit der darin liegenden Zustehensbe­ hauptung betreffend das äußere Verhältnis der Personen geprüft (ohne Ansehung der Maxime). Ein äußeres Verhalten kann (nach dem Rechtsprinzip) rechtmäßig, gemäß dem kategorischen Imperativ in Bezug auf die zugrunde liegende (innere) Maxime bzw. Gesinnung aber trotzdem ethisch verwerflich sein. Es kann aber kein Verhalten geben, das nach dem Rechtsprinzip rechtswidrig, ethisch unter dem kategorischen



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Insofern ist es zutreffend, wenn Kersting schreibt, das Rechtsgesetz sei eine „auf die Begründung von Pflichten, denen Zwangsbefugnisse korrespondie­ ren, spezialisierte Version des kategorischen Imperativs“ und stelle vor, unter welchen Voraussetzungen die Erzwingbarkeit schuldiger Handlungen durch andere moralisch (gemäß dem kategorischen Imperativ) nur möglich sei162. Ganz falsch ist aber seine Annahme, dass Rechtsgesetz sei weder ein kategorischer, noch ein hypothetischer Imperativ, sondern trotz der impera­ tiven Formulierung Kants gar kein Imperativ, da sein Befolgungsmodus weder kategorisch noch hypothetisch, sondern „zufällig“ sei163: Rechts- und Tugendlehre leiten die Verbindlichkeit ihrer Gesetze aus dem kategorischen Imperativ und damit mittelbar aus dem positiven Begriff der Freiheit („Ver­ mögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein“) her. Sowohl ethische Gesetze als auch das allgemeine Rechtsgesetz und alle damit kon­ formen bzw. daraus abzuleitenden „juridischen“ Gesetze sind für den Men­ schen aufgrund seiner sinnlich affizierten Willkür kategorische Imperative164. Imperativ aber nicht als verwerflich zu beurteilen ist (MdS, TL I–VII, S. 379–391). Allerdings sind „Kollisionen von Pflichtgründen“ bzw. Notlagen (sodass in der zu­ grundeliegenden Maxime keine besondere Überheblichkeit über andere impliziert ist) für die Frage der Vorwerfbarkeit eines solchen – rechtswidrigen – Verhaltens relevant, im Strafrecht etwa für die Schuldbeurteilung: Das ist jedoch keine „Pflich­ tenkollision“, denn „zwei einander entgegengesetzte Regeln können nicht zugleich notwendig sein“, MdS, S. 223–224, siehe dazu noch A.II.7. 162  Kersting, S. 104. 163  So irrend Kersting, S. 83  ff. Ähnlich Ralf Ludwig, S.  209 ff. Kant schreibt: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann“, MdS, RL, S. 239. Wohl auch nicht weiterführend für die Bestimmung des Verhältnisses von Ethik (i. e. S.) und Recht ist der von Kant nicht verwendete Terminus der „doppelten Gesetzgebung der Vernunft“ (Kersting, S. 139 ff.), weil eine Vernunft die praktischen Gesetze formuliert, wobei durch Rechtsgesetze äußere Handlungen bzw. Unterlas­ sungen als notwendig vorgestellt werden ohne Ansehung der Triebfeder (die ethisch bzw. moralisch-kategorisch die Einsicht in das Rechtsprinzip sein soll, ohne dass dies selbst Rechtspflichtinhalt wäre und schon durch das Fehlen dieser Einsicht ir­ gendeinem anderen etwas ihm äußerlich Zustehendes genommen würde oder diese Einsicht überhaupt erzwingbar wäre). 164  Gegen Kerstings Behauptung treffend auch Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, S. 96 ff.: Kersting unterstelle fälschlicherweise, dass schon zum Begriff des Impera­ tivs die Idee der Pflicht als (einziger) Triebfeder gehöre, sodass ethisches Gesetz und kategorischer Imperativ Synonyme wären. Auch Geisman bezeichnet das Rechtsgesetz selbst als kategorischen Imperativ, in: Kant-Studien 89, 90(91). Noch­ mals deutlich: Alle aus dem kategorischen Imperativ abzuleitenden praktischen Gesetze sind für den (ihnen faktisch nicht notwendig gemäß handelnden) Menschen wiederum kategorische Imperative. Rechtsgesetze, die gemäß dem „allgemeinen Rechtsprinzip“ (§ C MdS) bzw. dem „allgemeinen Rechtsgesetz“ zustande kommen,

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Da die kantische Abgrenzung der Ethik im engen Sinne vom Recht von enormer Bedeutung für das gesamte Rechtskonzept und insbesondere ent­ scheidend ist, was die Antwort auf die Frage nach ggf. zwangsweise durchsetzbaren Notrechten angeht, sei sie im Folgenden verdeutlichend zu­ sammengefasst: a)  Rechtspflichten sind Pflichten (auch) gegen andere und betreffen nur das äußere Verhältnis (äußere Handlungen) der Personen, soweit ihre Hand­ lungen als Fakta aufeinander Einfluss haben können. Folgende Anmerkung erscheint insoweit angebracht: „Person“ ist nach Kant dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind (MdS, RL, Einl. IV., S. 223). Der Begriff der Person wird in den Ausführungen der §§ B–E MdS auch schon anschaulich vorgestellt, dem Begriff wird also eine Anschauung gegeben. Der Terminus des äußeren Verhältnisses einer Person gegen eine andere impliziert bzw. fordert eine räumliche Darstellung des Inhalts des Personenbegriffs: Die Vorstellung eines immateriellen – als solchem unan­ stellen vor, wie Menschen sich äußerlich verhalten sollen (oder eben nicht verhalten sollen) bzw. geben an, was dem einen im Verhältnis zum anderen äußerlich zusteht (und was nicht): Rechtspflichterfüllung, also recht(sgesetz)mäßiges Handeln, ist nichts anderes als das Geschuldete, d. i. das minimal-Gebotene oder dasjenige, wozu sich jeder minimal und primär selbst zwingen muss. Rechtspflichterfüllung ist aber auch trotz einer zugrunde liegenden bloß äußeren Triebfeder möglich bzw. durch äußere Antriebssetzung seitens anderer auch legitim zu erwirken (und es ist legitim möglich, das rechtswidrige Handeln eines anderen zwangsweise zu beenden). Nur vor diesem Hintergrund ist die Aussage Kants verständlich, aus dem kategorischen Imperativ könne „das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts entwickelt werden“ (MdS, RL, S. 237), wobei allerdings der Terminus des „Fremd­ verpflichtungsvermögens“ in diesem Kontext ein ungenauer Ausdruck bleibt, da es zumindest hinsichtlich des „angeborenen“ Rechts bzw. inneren Meinen bzw. Deinen gar nicht um das einseitige willentliche Konstituieren bestimmter Pflichten für an­ dere geht, sondern nur um äußere Er- oder Bewirkungsmöglichkeiten der Minimalpflichterfüllung (die jeweilige Person ist der Grund der rechtlichen Verpflichtung aller anderen, sinngemäß Kant, MdS S. 237, siehe auch B.II.3.). Bernd Ludwigs Satz allerdings, das Recht könne „per definitionem nicht von mir verlangen, dass ich ihm unabhängig vom Zwang Folge leiste“ ist mindestens missverständlich: Recht im kantischen Sinne ist begrifflich nur unter dem Postulat allgemeiner Achtung der Personen möglich bzw. ist das Postulat (zumindest) der äußerlichen Respektierung des anderen. Einen Fehler macht Bernd Ludwig, wenn er den kantischen allgemei­ nen Rechtsbegriff abändert, indem er schreibt, Recht sei „der Inbegriff der Bedin­ gungen, unter denen erzwingbare (also Rechts-)Pflichten auch erzwungen werden …“ (Ludwig, Kants Rechtslehre, S. 99–100, Hervorhebung von mir, G. H.): Die Triebfeder kommt bei der rechtlichen Begutachtung unmittelbar gar nicht in Be­ tracht; d. h. heißt, es kann auch die Idee der Pflicht sein; die Wirklichkeit von Zwang ist für den Begriff des Rechts vollkommen irrelevant. Zwangsbefugnis bedeutet eben die ethische und rechtliche Möglichkeit des Zwanges bloß im Falle des rechtswid­ rigen Verhaltens (man muss also nicht erst wirkliche Unrechtsbegehung vorausset­ zen, um zu wissen, was Recht ist).



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz109

schaulichen – Subjekts und dessen (ihm selbst und anderen) erscheinenden Körper (insgesamt: Mensch als Person). Nur dadurch ist einsehbar, was das „äußere Verhältnis“ der Personen in Abgrenzung zu einem bloß internen bzw. inneren Verhältnis (einer Person zu anderen und sich selbst in ihren Gedanken bzw. in ihrer Gesinnung) bedeuten soll. Der Terminus des „äuße­ ren Verhältnisses von Personen“ enthält die Vorstellung mehrerer Subjekte in einer Anschauung in dem Sinne, dass diese als solche unanschaulichen Subjekte (in einer Analogie zu einer theoretisch-realen Substanz) als in je­ weils einem erscheinenden Körper enthalten vorgestellt werden: Die er­ scheinenden Menschen werden als Personen (Subjekt-Objekt-Einheiten, wobei das jeweilige „eigentliche Selbst“ oder reine Subjekt als ein Immate­ rielles notwendig stets unanschaulich ist) an verschiedenen Orten in den Raum und, da nach der transzendentalen Ästhetik die Zeit als innerer Sinn die Form aller Anschauungen ist (siehe A.II.1.), mittelbar auch in diese gesetzt vorgestellt. Konkret gemeint ist: Das äußere Verhältnis von verschie­ denen Menschen auf Erden165. 165  Deren Handlungen (und deren Wirkungen) analog der Anwendung des Kau­ salitätsbegriffs auf Erscheinungen als Folgen des immateriellen „bestimmenden Selbst“ (intelligible Substanz) in Wechselwirkung (Gemeinschaft) mit anderen be­ trachtet werden. Siehe dazu noch unten 4.a) und v. a. B.II.3., sowie Sänger, S.  180 ff. (185, 186); Deggau, Aporien, S. 35–45 und S. 135; Beck, S. 145. Kant sah dies der Sache nach schon so in KrV, 2. Teil, 2. Abteil. 2. Buch, 1. Hauptstck., wobei er in der „Auflösung des psychologischen Paralogismus“ und seiner Kritik am „dialekti­ schen Scheine der rationalen Psychologie“ deutlich darauf hinweist, dass die prakti­ sche (besser: ethische oder Sollens-)Perspektive die theoretische (Natur-)Erkenntnis um nichts erweitere, sondern eben ein aliud sei. Wer hingegen glaubte, man könne die kantische Rechtslehre sozusagen ganz unanschaulich weiterverfolgen, müsste dem Terminus des äußeren Verhältnisses von Personen einen Sinn geben, der in keiner Weise eine Raumvorstellung impliziert. Wer dies zu tun versucht, wird fest­ stellen, dass er in dem Terminus gar keinen Sinn finden wird und dabei gar nichts denkt: Das einem Gegenstand Äußere kann zwar auch bloß das von diesem Gegen­ stand Unterschiedene heißen. Aber das einem Personenverhältnis Äußere gibt hier in dieser Bedeutung keinen Sinn (es hieße ja: Recht betrifft nur das von einem Personenverhältnis Unterschiedene – dies wäre Unsinn). Vielmehr ist die Annahme von dem Menschen ursprünglich bzw. bedingungslos zustehenden („angeborenen“) Gütern bzw. Rechtsinhalten in den kantischen Ausführungen in §§ B–E MdS impliziert: Denn dies ist eins mit der räumlichen (auch anschaulichen) Darstellung des Personenbegriffs, in welcher der Körper der jeweiligen Person als etwas dieser not­ wendig Zugeordnetes angenommen wird und jeder Mensch als die Einheit eines intelligiblen und phänomenalen Charakters betrachtet wird; siehe dazu unter Bezug­ nahme bloß auf die KrV auch Longuenesse, Selbstbewusstsein, S. 868 ff. Kant spricht dies deutlich aus in MdS, § E und in TL, X.: Zwangsbefugnis sei analytisch aus „Freiheit“ im äußeren Verhältnis zu nehmen. In der heute relativ üblichen Ver­ wendung des Terminus des „Rechtskreises einer Person“ ist diese anschauliche Konstruktion des Rechtsbegriffs ebenfalls impliziert. Bei Kant findet sich dies auch, wenn er das rechtliche Verhältnis einzig und allein als „ein Verhältnis von Menschen zu Menschen“ bestimmt und nicht etwa zu einem „Wesen, was lauter Rechte aber

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

b) Rechtspflichten sind notfalls zwangsweise durchsetzbar bzw. die Fol­ gen einer rechtlich geschuldeten Handlung können notfalls zwangsweise hergestellt werden. Jeder kann zur Einhaltung der Mindestpflichtinhalte, also der Wahrung des äußeren (seinsollenden) Verhältnisses zu anderen von diesen gezwungen werden. Das Notwehrrecht ist demnach mit dem Begriff des Rechts notwendig verbunden bzw. Recht und die Befugnis zu zwingen bedeuten „einerlei“ (Kant, § E MdS). Die ggf. empirisch einschneidenden, zur Abwehr gegen den rechtswidrig handelnden Angreifer erforderlichen Maßnahmen sind legitim bzw. gerechtfertigt, weil dieser sie sich selbst durch sein Handeln zuzieht. Die Aussage, die Person sei „dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“ impliziert zugleich mit der Annahme des Subjektstatus des Menschen als Würdeinhaber dessen Verantwortlichkeit als Person (Träger von Rechten und Pflichten) und damit auch das Tragenmüssen der Verantwortung. Kant geht, was das Maß des Notwehrrechts angeht, in seiner ersten Verdeutlichung des rechtlichen Un­ terschiedes des Notwehrrechts gegen den rechtswidrig Angreifenden zu ei­ ner Notstandsmaßnahme gegen einen nicht-rechtswidrig Angreifenden sogar soweit, zu behaupten, jede „Anempfehlung der Mäßigung“ an den Verteidi­ ger in einer Notwehrsituation gehöre lediglich zur Ethik, nicht zum Recht. Eine Beschränkung des Notwehrrechts auf das zur Angriffsbeendigung erforderliche Maß ist dabei selbstverständlich gemäß den Ausführungen der §§ D und E MdS vorausgesetzt166. c)  Das Motiv eines Verhaltens ist für die Rechts- / Unrechtsbestimmung irrelevant. Eine Materie bzw. bestimmte zu habende Zwecke kommen erst in der Ethik (im engeren Sinne) in Betracht: Zwar hat jede bewusste Hand­ lung einen Zweck, doch hängt es davon unmittelbar nicht ab, ob sie recht­ lich möglich ist oder nicht. Während es die Rechtslehre „bloß mit den formalen Bedingungen der äußeren Freiheit zu tun hat“, geht die Ethik darüber hinaus und nennt – neben der Forderung, sich das Rechtshandeln keine Pflicht hat (Gott)“, weil dies „kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist“ und einem solchen Gedankendinge „kein äußeres verpflichtendes Subjekt korrespondie­ rend gegeben werden kann“: Nur der Mensch sei als wirklich existierende Person zu betrachten, MdS, RL, S. 241–242 und MdS, TL, § 16. 166  Kant, MdS, Einl. RL II., S. 235–236; derselbe zur Notwehr im Staatenverhält­ nis („… um das Seine zu behaupten …“), § 60 MdS. Erforderlichkeit des Notwehr­ mittels soll hier heißen: Das zur sofortigen und endgültigen Angriffsbeendigung geeignete Mittel, wobei von mehreren dazu gleich geeigneten das für den Angreifer Mildeste zu wählen ist. Siehe zum Begriff des Rechtszwangs nach Kant (und Fich­ te) auch Köhler, Rechtszwang, S. 93 ff., der schreibt, rechtsbegrifflich „dürfen Ge­ walt und Zwang dem Grund und dem Maß ihrer Anwendung nach nur korrespon­ dieren dem in der Handlung je geäußerten Grund und Maß der partikulär mangeln­ den Rechtsvernunft. Insofern dürfen sie nur das exakt fehlende Schlußstück sein …“ (S. 120).



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zur Maxime zu machen – noch gewisse stets in Maximen aufzunehmende Zwecke, die jedoch nicht unmittelbar dem Begehren aus Neigungen (dem Angenehmen) entnommen werden können (denn dies gäbe keine Pflichtsät­ ze / -inhalte), sondern die aufgrund ihrer Entgegengesetztheit gegen die selbstsüchtige Neigung gesetzt werden sollen, nämlich fremdes legitimes Glücklichsein und eigene Weiterentwicklung („Vollkommenheit“)167. „Was jemand mehr tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum), was er nur dem letzteren angemessen tut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger tut, ist Verschuldung (deme­ ritum)“ (MdS, RL, S. 227). Diese Einteilung drückt Kant auch wie folgt aus: Schuldigkeit = 0, Verschuldung < 0 und Verdienst > 0. Der verdienst­ lichen Handlung sind die angenehmen („guten“) Folgen zurechenbar wie der Verschuldung, also hier der unrechtmäßigen Handlung, die „schlimmen Folgen“ zugerechnet werden können. Die guten oder schlimmen Folgen einer bloß schuldigen (also: rechtmäßigen) Handlung für andere können dieser rechtlich ebenso wenig zugerechnet werden, wie die Folgen der Un­ terlassung einer verdienstlichen Handlung; sie sind nicht das Werk der rechtmäßig handelnden Person (MdS, S. 227–228). Die Ethik gibt Gesetze für Maximen, das Recht für Handlungen. Die Befolgung der letzteren ist rechtlich bloße Schuldigkeit (= 0)168. 167  Kant, MdS, Einl. TL, S. 379–399; derselbe, GMS, S. 71, 72. Als Beispiel ei­ ner ethischen Pflicht zur Beförderung fremder legitimer Glückseligkeit, deren Erfül­ lung Verdienst ist, nennt Kant die Hilfe zugunsten eines anderen, der „mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen hat“ (GMS, S. 423, 424) bzw. die Rettung „eines mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Not“ (MdS, Einleitung IV., S. 228). Eine (Unterlassungs-)Verpflichtung gegen sich selbst stellt das Verbot der Selbsttötung aus Überdruss vor (GMS, S. 421, 422 und MdS, TL, § 6). Positive (Handlungs-)Verpflichtungen unter dem Zweck der Beförderung eigener Vollkommenheit sind die Ausbildung von Fähigkeiten und Talenten (GMS, S. 422, 423). Auch wenn Kant die Vorsorge für das Alter (Sparen fürs Alter) an­ scheinend bloß als einen praktischen Ratschlag bzw. eine subjektiv-bedingte Regel und damit gar nicht als eine (auch nur ethische) Pflicht ansah (KpV, § 1, Anmer­ kung: Es werde bei dem Satz, Jemand müsse in seiner Jugend arbeiten und sparen, vorausgesetzt, dass er begehre, im Alter nicht zu darben – jedoch müsse man dieses Begehren oder auch das Setzen auf andere Hilfsquellen oder gar die Annahme, gar nicht alt zu werden, jedem selbst überlassen), kann man die Altersvorsorge nach dem Ansatz als eine (wenn auch weite) ethische Pflicht unter dem Pflichtzweck der eigenen „Vollkommenheit“ einordnen. Eine Rechtspflicht ist es schon allein auf­ grund des fehlenden Bezuges zum anderen jedenfalls nicht. 168  Rechtmäßiges Handeln zur zusätzlichen Beförderung anderer Personen legiti­ mer Glückserreichung oder auch eigener Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten bzw. von bestimmten Fähigkeiten ist ebenso wie rechtmäßiges Handeln aus Achtung des Rechts verdienstlich („Handle pflichtgemäß aus Pflicht“): Das Richtige der ein­ gesehenen Richtigkeit wegen tun, ist tugendhaft, Kant, Einl. TL VII., dazu auch MdS TL, S. 382 ff.: Erst die Ethik ist das „System der Zwecke der reinen prakti­ schen Vernunft“ bzw. die „Lehre der Zwecke“, d. h. aller Pflicht korrespondiert ein

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Das Kriterium des Rechts, dass diesbezüglich „eine äußere Gesetzgebung möglich“ sei, beschreibt ebenfalls die Relevanz des Motivs einer Handlung für deren ethische Beurteilung in Abgrenzung zur Irrelevanz des Motivs zur Entscheidung der Frage, ob die Handlung rechtmäßig oder rechtswidrig ist: Jemand kann zwar in äußeren Handlungen durch Zwang beeinflusst werden, er kann aber nicht gezwungen werden, Prinzipien als Handlungsmaximen zu verinnerlichen (Kant, § C MdS). Pflichterfüllung ist begrifflich hinsichtlich ethischer Pflichten überhaupt nicht durch eine äußere Triebfeder (etwa Zwangsandrohung) herstellbar, sondern nur hinsichtlich Rechtspflichten, da zur Beurteilung der Rechtspflichterfüllung die konkrete Triebfeder gar nicht in Betracht kommt, während die ethische Pflicht beim Handeln aus äußeren Antrieben gar nicht erfüllt würde. In diesem Sinne kann die Triebfeder169 also tatsächlich nur bei der Rechtspflichterfüllung auch eine äußere sein. Allerdings kommt es, was den möglichen Inhalt von Rechtsgesetzen (mit dem allgemeinen Rechtsbegriff und -prinzip konformen besonderen Geset­ zen) und deren Durchsetzung angeht nicht etwa bloß auf faktische „Mach­ barkeit“, sondern auf moralische Möglichkeit des Zwanges an: Rechtsgeset­ ze müssen bestimmen, was dem einen im Verhältnis zum anderen äußerlich zusteht und was nicht; eine Zwangsbefugnis besteht erst beim Überschreiten dieses äußeren Verhältnisses zum anderen. Das Kriterium der Fähigkeit zur äußeren Gesetzgebung enthält für sich also keinen vollständigen Sachgrund zur Trennung von Ethik (i. e. S.) und Recht170. Recht, als Befugnis betrachtet, aber nicht aller Pflicht korrespondieren Rechte eines anderen (facultas iuridica), jemanden zu zwingen. Siehe auch Beck, S. 116 (b) und c)) und S. 118–120. 169  Als das neben dem Gesetz, welches eine Handlung als notwendig vorstellt, zweite Element von „Gesetzgebung“ im Sinne der MdS, Einl. III., S. 218, 219. 170  So auch Steigleder, S. 136 ff. und Beck, S. 281, dort Fn. 49. Einsicht gewalt­ sam zu erzwingen ist zwar schon eine begriffliche Unmöglichkeit. Diejenigen ethi­ schen Pflichten zu erfüllen, die über den Begriff der „äußeren Freiheit“ (Kant, MdS, TL X., S. 395–396) dadurch hinausgehen, dass sie über den notwendigen Selbst­ zwang zur Wahrung des (Rechts-)Verhältnisses zum anderen hinaus noch die Verfol­ gung bestimmter Zwecke (materiale Gehalte, nämlich „eigene Vollkommenheit“ und „fremde Glückseligkeit“) als geboten vorstellen (direkt-ethische Pflichten), kann zwar ebenso wenig erzwungen werden, da wirkliche ethische Pflichterfüllung auch hier Einsicht in die Richtigkeit voraussetzt. Allerdings ist die gewaltsame Nötigung zur Ausführung von durch diese bloß-ethischen Pflichten gebotenen äußeren Hand­ lungen faktisch durchaus möglich. Dies trotzdem als rechtlich-unmöglich auszuwei­ sen nimmt letztlich Bezug auf die moralische Unmöglichkeit des Zwanges in solchen Fällen. Ludwig betont wiederholt schon die begriffliche Unmöglichkeit des äußeren Zwanges zur ethischen Pflichterfüllung überhaupt. Was die direkt-ethischen (materi­ alen) Pflichten angeht, stützt er sich dabei darauf, dass diese Pflichten letztlich „weite Pflichten“ seien, sodass nur das Haben einer Maxime, aber keine bestimmten äußeren Handlungen direkt geboten würden, Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, S. 88 ff., Fn. 14, 17. Das ist für sich alles richtig. Was dabei aber nicht ausreichend



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d) Rechtspflichten stellen dem Anspruch nach vollkommene Pflichten vor. Das soll heißen: Konkrete Handlung werden entweder als verboten oder als erlaubt vorgestellt, (ideell entsprechend „mathematischer Genauig­ keit“, § E MdS). Angemerkt sei, dass die Unterscheidung von vollkomme­ nen und unvollkommenen (weiten) Pflichten nichts mit der Annahme von „Ausnahmen“ bei der Pflichterfüllung zu tun hat: Vollkommene Pflichten gebieten bestimmte bzw. genau bestimmbare Handlungen bzw. Unterlas­ sungen; durch unvollkommene Pflichten wird das Haben gewisser Maximen(inhalte) als geboten vorgestellt, ohne dass ganz bestimmte Einzel­ handlungen bzw. Unterlassungen dadurch schon direkt ge- bzw. verboten wären. So folgt aus der Akzeptanz des ethischen Gebotes der Förderung fremder legitimer Glückserreichung nicht etwa notwendig, dass beispiels­ weise einem Straßenmusiker – auch wenn dessen Musik gefällt – ein (be­ stimmter) Geldbetrag zu geben wäre. Das hat mit „Ausnahmen“ der Pflicht­ erfüllung jedoch nichts zu tun, sondern bedeutet „nur die Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere“, sodass man „nicht bestimmt angeben kann, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zwecke, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle“171. berücksichtigt wird ist die faktische Möglichkeit, weitreichende Hilfeleistungshand­ lungen oder beispielsweise auch bloße Höflichkeitsgebaren durch äußere Gesetze als geboten vorzustellen und die Unterlassung – etwa mit pädagogischer Intention – mit Sanktionen zu bedrohen. Dies wären im kantischen Sinne keine möglichen Rechtsgesetzesinhalte (somit rechtliche Unmöglichkeiten), zu einem Zwang bestünde eben­ so wenig eine Befugnis wie zu einer nachträglichen rechtlichen Sanktion bei Unter­ lassung. Und dies liegt nicht primär daran, dass die Einzelhandlungen gar nicht als ethisch geboten vorgestellt werden können (denn das können sie; dies evtl. implizit nachliefernd Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, S. 95, Fn. 23: „… obwohl es z. B. Pflicht ist, wohltätig zu handeln, ist es dennoch nicht rechtens, dazu gezwungen zu werden …“). 171  Kant, MdS, TL, Einl. VII, S. 390. Verfehlt bzw. zumindest inkonsequent die Ausführungen von Beck, S. 144–145, der meint, die „Regeln der Ausnahmen“ seien bei „unvollkommenen Pflichten zu finden“. „Unvollkommene Pflichten“ sind Pflich­ ten des Habens bestimmter Maximen, auf deren Innehaben bzw. Nicht-Haben nicht sicher aufgrund einer bestimmten Handlung bzw. Unterlassung geurteilt werden kann (weite Handlungspflichten) – das ist aber keine „Ausnahme“ von der gebote­ nen Maxime (unklarer Ausdruck auch noch bei Kant, KpV, 1 Buch, 2. Hauptstck., Kategorientafel und MdS, § E, S. 70). Zutreffend kritisch gegen eine „Ausnahmen“Annahme bei der Formulierung praktischer Gesetze (allerdings in anderem Kontext) auch Kant, Zum ewigen Frieden, S. 347 in dortiger Fußnote: „… die Erlaubnis aber nicht als einschränkende Bedingung (wie es sein sollte) in jenes Gesetz mit hinein gebracht, sondern unter die Ausnahmen geworfen wird … da Erlaubnisse nur zufäl­ ligerweise, nicht nach einem Prinzip, sondern durch Herumtappen unter vorkom­ menden Fällen zum Gesetz hinzukommen …“. Demgemäß könnte man sagen, die Pflichtzwecke der Tugendlehre sind in Maximen aufzunehmen (tautologisch), aber die Beurteilung konkreter Einzelhandlungen bzw. -unterlassungen als ethisch-ver­ werflich oder verdienstlich ist aufgrund der wechselseitigen Einschränkung der

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

In einem sich nach Grundbegriffen entwerfenden System praktischen Handelns (in einer Metaphysik der Sitten) ist also die Bestimmung dessen, was dem einen im Verhältnis zum anderen äußerlich zusteht und was nicht (die Bestimmung des bloß äußerlich allseitig-wechselseitig Geschuldeten bzw. des immerhin Legalen) der systematisch primäre, weil gedanklich al­ lem Weiteren – etwa einer „Tugendlehre“ bzw. eigentlichen Sittlichkeitsbe­ stimmung – vorausgesetzte Schritt. Dies geschieht nach Kant durch gedankliche „Konstruktion“ oder Darstel­ lung des genannten Begriffs des Rechts bzw. des Begriffs der „allgemeinen Freiheit“ (§ E MdS) in einer (reinen) Anschauung a priori. Die darin impli­ zierten bzw. daraus zu entwickelnden Rechtsinhalte, also die inhaltliche Konkretisierung der Annahme des Zustehens von Etwas zur Person (ver­ deutlichend noch B.II.3.), teilt Kant dann weiter ein in einerseits das von ihm sogen. „angeborene (innere bzw. ursprüngliche) Mein und Dein“ und andererseits das Haben von Etwas Äußerem (äußeres Mein und Dein als das erworbene Recht). 4. Vorpositive Rechtsinhalte: „Angeborene“ und erworbene Güter Das angeborene Recht sei „dasjenige, welches unabhängig von allem rechtlichen Akt jedermann von Natur zukommt“, woraus bestimmte Rechts­ inhalte als angeborenes Mein und Dein folgten. a) Ursprüngliche („angeborene“) Güter Kant schreibt: „Das angeborene Recht ist nur ein einziges“, nämlich Frei­ heit als Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen beste­ hen kann“. Darin (im „Prinzip der angeboren Freiheit“) impliziert sei „eine angeborene Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von Pflichtmaximen oft nicht sicher möglich. Da keines dieser Gebote allgemeingültig so konkretisiert werden kann, dass alle möglichen Handlungen bzw. Unterlassungen sich darunter als ge- bzw. verboten bestimmen, ist die Rede von „Ausnahmen“ von diesen Regeln jedoch verständlich, wenn auch letztlich begrifflich-unsauber. Anders ausgedrückt: Pflicht bedeutet „praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung“ (Kant, GMS, IV, S. 425), diese geht bei „unvollkommenen Pflichten“ bloß auf die Aufnahme der relativ abstrakten Zwecke (Förderung fremder Glückseligkeit und eigener Vollkommenheit) in Maximen bzw. in die Gesinnung. Der Begriff der Pflicht impliziert also die durch kein Belieben bedingte Notwendigkeit eines Verhaltens – strenggenommen gäbe es also, wenn es eine „Ausnahme“ von einer Pflicht gäbe, diese Pflicht nicht.



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anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbin­ den kann“. Damit einher gehe notwendig die Annahme „der Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein, imgleichen die eines unbe­ scholtenen Menschen (iusti), weil er vor allem rechtlichen Akt keinem Unrecht getan hat“ und „die Befugnis, das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das ihre nicht schmälert“ (das anderen äußerlich nichts nimmt)172. In diesem einzigen ursprünglichen Recht impliziert bzw. daraus abzulei­ ten sind die folgenden materialen Rechtsinhalte: Dem jeweiligen Menschen als Person steht der Körper, in dem er geboren wird, zu, was eine allseitige Rechtspflicht zur Belassung des Lebens und überhaupt der körperlichen Integrität des jeweils anderen bedeutet; das schließt das rechtliche Zustehen aller bloß-inneren Handlungen, etwa Gedanken, ein (siehe dazu genauer unten B.II.3.). Weiterhin ist die rechtliche Befugnis gegeben, äußerlich zu handeln, sofern die Handlungen mit jedermanns Willkür nach einem allge­ meinen Gesetz zusammen bestehen können (rechtliche äußere Handlungs­ freiheit). Diese Rechtsinhalte stellen das innere Mein und Dein dar173. Mit Klesczewski gesprochen konkretisiert sich im ursprünglichen Menschenrecht „der materiale Grundgehalt der Selbstzweckformel in Anwendung auf das äußere Verhältnis der Menschen zueinander“. Das Rechtsprinzip beziehe „die Person und das, was sie als solche konstituiert, als Grundgehalt ein und bestimmt dies als das ursprünglich Ihre“, wobei abgesehen sei „von der von der Person trennbaren Gegenstandssphäre …“174. Das allgemeine Rechtsgesetz bzw. -prinzip stellt die Notwendigkeit bzw. das kategorische Gebot der bloß-äußerlichen Respektierung des anderen als 172  Kant,

MdS, RL, S. 237–239. fasst diese Inhalte als „Leben, Leib und Handlungsfreiheit“ zusammen, Vigilantius-Mitschrift, AA Band 27, 479 ff. und 593 ff. Siehe zum rechtlichen Haben des Körpers auch oben A.II.3.a) und unten B.II.3. – die „Konstruktion“ des Begriffs des Rechts in einer Anschauung zeigt diese Gehalte an bzw. impliziert sie. Insofern ist es nicht sinnvoll, wenn Bernd Ludwig abweichend von Kant schreibt, die aus dem Begriff der Freiheit „resultierenden Rechte des einzelnen“ seien „durch das allgemeine Rechtsgesetz in keiner Weise inhaltlich bestimmt“ und das angeborene Mein und Dein gehöre „der Sache nach in das Privatrecht“, Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, S. 101: Ein „in keiner Weise“ inhaltlich bestimmtes bzw. sicher be­ stimmbares inneres Mein und Dein ist gar nichts; die benannten Gehalte können zwar i. w. S. auch als Elemente des Privatrechts bezeichnet werden, sie sind aber eben primäre Gehalte des Rechts überhaupt. Eine wesentliche inhaltliche Differenz zu Bernd Ludwigs Ausführungen scheint aber letztlich nicht zu bestehen, denn auch Ludwig stellt fest: „Ich bin demzufolge in einem … rechtlichen Besitz meines Kör­ pers … und aller Dinge, die mit mir so verbunden sind, dass der Zugriff eines an­ deren meine Willkür direkt affiziert“, Ludwig, a. a. O., S. 104, 105. 174  Klesczewski, Gerechtigkeitsbegriff, S. 84–86. Bernd Ludwig schreibt: „… Ge­ genstände kommen hier … in den Blick … bloß sofern sie mit meinem Körper physisch verbunden sind …“, Kants Rechtslehre, S. 105. 173  Kant

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

das jeder Person minimal-Geschuldete vor. Wichtig ist, dass dies auch ein Zulassen des Sich-ethisch-verwerflich-Verhaltens anderer beinhaltet, wenn und soweit deren äußeres Verhalten immerhin mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann: Demnach enthielte ein physischer Zwang zum überhaupt Guten, wenn damit mehr als bloß das rechtmäßige Verhalten gemeint wäre, einen Widerspruch in sich. Durch ei­ nen solchen vermeintlich-pädagogischen Akt würde nichts Gutes, sondern nur Unrecht in die Welt gesetzt; er wäre selbst ethisch verwerfliches Ver­ halten. So schreibt Kant im Nachlass: „Die Freiheit der Willkür besteht in der (subjektiven) Unabhängigkeit der Willkür von allem, was auf unsere Sinne innerlich und äußerlich einfließt. Das Recht ist die objektive Unab­ hängigkeit unserer Willkür von fremder, d. i. die Einschränkung jeder Will­ kür durch die Bedingung der wechselseitigen Einstimmung und die Not­ wendigkeit der Handlungen, die aus diesen Bedingungen fließen. Der wei­ seste und gütigste Mensch, der alles auf unser Bestes anlegte, hat darum nicht ein Recht über uns …“175 (dazu noch B.II.3.). Und vorgreifend mag man an dieser Stelle schon Folgendes bedenken: Nach diesem Ansatz ist die Ausübung physischen Zwangs auf einen anderen eben nur dann gerechtfertigt (erlaubt), wenn diese Einwirkung letztlich mit dem Subjektstatus bzw. mit dem Personsein dieses anderen konform gedacht werden kann. Dies ist unproblematisch der Fall bei Selbstzugezogenheit der Einwirkung aufgrund eines rechtswidrigen Angriffs (Notwehrrecht; hier abgesehen von der Frage, ob auch subjektiv-unzurechnungsfähige Personen, etwa Kleinkinder bzw. Schuldunfähige sich die ggf. physisch-einschneiden­ den Verteidigungsmaßnahmen selbst zuziehen). Auch die Einwilligung des Betroffenen, etwa eines Patienten zu einer Operation, ist als Akt dieser 175  Kant, Reflexionen I, N 4549, S. 590. Hinzugefügt werden kann: Wenn ein Mensch von sich glaubt, aufgrund seiner Weisheit oder Güte auch dann eine Zwangsbefugnis über einen anderen zu haben, wenn dieser andere niemandem Un­ recht tut (seine äußere Willkür also nicht über den mit jedermanns Willkür nach allgemeinen Zustehensgesetzen zusammenstimmenden Bereich hinaus ausdehnt – dazu noch B.II.3. und B.III.), dann fehlt dem ersteren sowohl Weisheit, als auch Güte (vom Verhältnis der Eltern zu ihren minderjährigen Kindern hier abgesehen). Rechtswahrung ist „unbedingte, schlechthin gebietende Pflicht“; „Menschenliebe“ ist nur unter dieser Bedingung als ethische Pflicht gegeben; ethisches Handeln ist nur unter Berücksichtigung dessen möglich; siehe auch Kant, Zum ewigen Frieden, An­ hang II, S. 385–386. Zum Verhältnis des Rechtsgesetzes zum kategorischen Impera­ tiv (Verhältnis des Rechts zur sittlichen Autonomie) und der besonderen Bedeutung des Rechtsgesetzes als Ausdruck des „Herrschaftsanspruchs der Vernunft“ (S. 122) siehe auch Müller, Verhältnis Recht und sittliche Autonomie, S. 135 ff. und 181 ff. (der allerdings auch einige Unsauberkeiten produziert, z. B. mit der Aussage, Rechts­ gesetz und Sittengesetz wendeten sich an „verschiedene Bereiche menschlicher Praxis“ – es muss heißen: Ermöglichen zusammen die Konstruktion bzw. Verwirk­ lichung einer sein-sollenden äußeren und inneren Praxis überhaupt).



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Person ohne gedankliche Schwierigkeiten ein Unrechtsausschlussgrund (Rechtfertigungsgrund, hier abgesehen von der Frage, welchen Anforderun­ gen eine faktische Einwilligung genügen muss, um als Akt der Personalität zu gelten und damit normativ-wirksam zu sein, siehe dazu noch unten Fn. 315). Ein (etwaiges) anderes Prinzip als Notwehr und Einwilligung als Rechtsfertigungsgrund muss sich nach diesem Ansatz daran messen lassen, ob demnach der Zugriff auf die Person – obwohl gerade nicht als selbstzu­ gezogen bzw. als willentlicher Akt der Selbstbestimmung zu betrachten – irgendwie anders mit dem Verbot, den anderen als bloßes Mittel oder Objekt zur eigenen Zweckerreichung zu benutzen, zusammenstimmt. Wenn dies hinsichtlich einer Notstandsrechtfertigungsbehauptung nicht gesagt werden könnte, dann genügte diese nicht dem Rechtsprinzip und widerspräche direkt der Würde der Person: Sie würde dann kein Rechtsprin­ zip benennen (dazu dann unten B.III.). b) Erworbene Güter (Privatrecht) Das Privatrecht (i. e. S.) handelt von „der Art, etwas Äußeres als das Sei­ ne zu haben“. Jemand hätte dann einen äußeren Gegenstand als den Seinen, wenn er durch den Gebrauch, den ein anderer von diesem Gegenstand macht, in seinem Recht verletzt (lädiert) werden könnte, § 1 MdS. „Der Ausdruck: ein Gegenstand ist außer mir, kann aber entweder soviel bedeu­ ten als: er ist ein nur von mir (dem Subjekt) unterschiedener176, oder auch ein an einer anderen Stelle (positus) im Raum oder in der Zeit befindlicher Gegenstand“ (§§ 1, 3, 5 MdS). Im Folgenden wird der – in der Basis einfach einzusehende – kantische Gedankengang in vereinfachter Weise dargestellt177: 176  Mit „von mir unterschiedenen“ Gegenständen ist hier aus der Perspektive jedes einzelnen Menschen alle nicht zu seinem Körper (Leib) gehörende Materie gemeint, siehe oben A.II. 3. und 4.a) zum „inneren Mein“. Siehe etwa auch MdS, RL, § 17 und TL, § 16: Die Person als verpflichtetes und verpflichtendes Subjekt ist „als Gegenstand der Erfahrung gegeben“ (Mensch in Raum und Zeit), davon unter­ schieden ist die Gesamtheit der „unpersönlichen“ Gegenstände, nämlich alle „außer­ menschliche“ Materie. 177  So werden in der Sekundärliteratur häufig vorkommende, unnötige Verkom­ plizierungen vermieden. Man kann, was die Einfachheit und Notwendigkeit des kantischen Gedankengangs angeht, wohl behaupten, dass dieser Gedankengang von Jedermann, der überhaupt einen Begriff von Privatrecht hat, letztlich dunkel voraus­ gesetzt bzw. vollzogen wird. Kant selbst gelang es in der MdS allerdings nicht, den Gedankengang auf das Wesentliche zu reduzieren und dies klar darzustellen. Eine gewisse Unsauberkeit ist schon in dem obigen Zitat aus § 1 MdS enthalten, das verstanden werden könnte, als behauptete es eine Alternativität bzw. Exklusivität der möglichen Bedeutungen des Terminus „äußerer Gegenstand“, die unzutreffend wäre

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Die rechtliche Möglichkeit des Subjekts, einen von ihm selbst (der wirk­ lichen Person) unterschiedenen äußeren Gegenstand als seinen zu haben, ist schon in der Notwendigkeit der Annahme einer wirklichen Person (dazu Fn. 176; genauer noch B.II.3.e)) und der rechtlichen Befugnis, äußerlich zu handeln enthalten (und damit bejaht): Äußeres Handeln ist eine in Raum und Zeit stattfindende äußere Bewegung des als Subjekt betrachteten Men­ schen, sodass dabei Orte im Raum – etwa auf der Erdoberfläche – mit dem jeweiligen eigenen Körper besetzt werden müssen. Die Befugnis des äuße­ ren Handelns überhaupt impliziert also die rechtliche Möglichkeit, äußere Gegenstände als die Seinen zu haben. Anders ausgedrückt: Jedermann ist rechtlich befugt, äußerlich zu handeln, sofern dieses Handeln mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann – dies wäre eine Befugnis zu gar nichts, wenn nicht die Möglichkeit, äußere (vom Subjekt unterschiedene) Gegenstände mit seinem Körper ein­ zunehmen (irgendeinen Platz auf Erden als den Seinen zu nehmen und zu haben) mitgedacht wäre. Soweit ist der Gedankengang banal; man denkt noch nichts, was über das mit dem inneren Mein und der äußeren Hand­ lungsbefugnis Verbundene hinausginge178. und auch von Kant nicht gemeint war: Selbstverständlich kann ein „äußerer Gegen­ stand“ ein von mir als Subjekt unterschiedener und ein an einem anderen Ort im Raum befindlicher Gegenstand bedeuten. 178  Die rechtliche Möglichkeit, etwas Äußeres im Sinne eines vom Subjekt unterschiedenen Gegenstandes überhaupt als das Seine zu haben, ist an dieser Stelle also schon bejaht. „Der Satz vom empirischen rechtmäßigen Besitz“ (§ 6 MdS) geht zwar nicht über die aus dem angeborenen Recht sich ergebenden Gehalte (Befugnisse und korrespondierende Pflichten) hinaus, enthält aber gerade notwendig auch die bejahende Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit, etwas Äußeres überhaupt als das Seine zu haben; deutlich auch Kant in den Vorarbeiten zur MdS zum rechtlichen empirischen Besitz als Konsequenz der Notwendigkeit der Darstellung einer wirk­ lichen Person: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht, an irgendeinem Orte der Erde zu sein, denn sein Dasein ist noch kein factum, folglich auch nicht iniustum  …“, AA XXIII, S. 279; siehe dort auch S. 317, sowie S. 310, ähnlich S. 294 und S. 237, sehr deutlich auch S. 229; ebenso auch Geismann, Hobbes-RousseauKant, S. 14. Dies scheint Bernd Ludwig zunächst zu verkennen (siehe die in sich inkonsistente Fußnotenanmerkung 42 auf S. 105 in seinem Werk „Kants Rechtsleh­ re“). B. Ludwig liefert diese Aussage versteckt nach (a. a. O., S. 118, Fn. 62). Kersting produziert diesbezüglich ebenfalls eine Inkonsistenz: Er schreibt, „zweifellos“ treffe „die Definitionsbestimmung des rechtlich Meinen auf Gegenstände zu, die eine Person in den Händen hält“ (Kersting, S. 179), womit aber über die Möglich­ keit, etwas Äußeres als das Meine zu haben, noch gar nichts gesagt sei. Auch Kersting liefert dann (in einer Fußnote versteckt) die mit dieser unverständlichen Be­ hauptung nicht konforme Anmerkung nach, ein physischer Besitz sei nur unter der Voraussetzung einer rechtmäßigen Erwerbung immer auch ein rechtlicher (Kersting, S. 181, Fn. 9). Diese gewisse Verwirrung ist mitveranlaßt durch Kant selbst, der sich in § 7 MdS unsauber ausdrückt: Es geht Kant dort um die „Anwendung des Prinzips der Möglichkeit des äußeren Mein und Dein auf Gegenstände der Erfahrung“, d. i.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz119

Das Wesentliche und – entgegen dem Anschein der etwas ungeordneten Darstellung in der MdS – nicht schwer Einzusehende der kantischen Besitzund Erwerbstheorie ist nun Folgendes: Der mit dem inneren Mein und der Befugnis, äußerlich zu handeln notwendig verbundene bzw. der durch Kon­ struktion des allgemeinen Rechtsprinzips in einer Anschauung sich darstel­ lende Begriff des empirischen Besitzes (der physischen Innehabung) des äußeren (vom Subjekt unterschiedenen) Gegenstandes als eines rechtlichen verweist auf die Möglichkeit, einen sich an einem anderen Ort (als dem eigenen Aufenthaltsort) befindlichen Gegenstand zu dem Seinen machen zu können, wobei die physische Inbesitznahme nur ein mögliches Zeichen bzw. eine mögliche aber nicht notwendig die einzige Erwerbsweise im Hinblick auf äußere Gegenstände ist: Dem Privatrecht zugrunde liegt als notwendiger Rechtstitel letztlich der bloß rechtliche Begriff des Habens von etwas Äußerem, also die allseitigwechselseitige Anerkennung des Zustehens von äußeren Gegenstände zu Personen (nach deren willentlichem Erwerb, aber noch ganz unabhängig von konkreten Erwerbsregeln). Kant nennt diesen bloß rechtlichen Habens­ begriff „intelligibler Besitz“: Ein Besitz, der die notwendige Anerkennung des Zustehens eines Gegenstandes zu einer Person seitens aller anderen179 ist, unabhängig von bestimmten physischen Verhältnissen in Raum und Zeit wie der physischen Innehabung bzw. Gewalthabung über den Gegenstand (§§ 4, 5 MdS). Dieser Begriff des intelligiblen Besitzes ist es, der eine allseitige Erweiterung der Zustehensbeziehungen der Personen ermöglicht: Nach Absonde­ rung aller Bedingungen des empirischen Innehabens als soweit eine den Begriff des rechtlichen Besitzes äußerer Gegenstände einschränkende Be­ dingung bleibt bloß der rechtliche Begriff des Habens einer äußeren Sache übrig, d. i. die notwendige allseitige Anerkennung, dass eine äußere Sache einer bestimmten Person zum Gebrauch zusteht („possessio noumenon“). Den Satz: Ein Gegenstand kann auch dann von einer Person besessen wer­ den, wenn er nicht in der Gewalt dieser Person ist (die Person kann einen von ihr unterschiedenen Gegenstand auch dann wirklich als den ihren ha­ um Möglichkeit und Wirklichkeit, ein das angeborene Recht erweiterndes Äußeres als das Seine zu haben. Dass man aber im Sinne von § C MdS die Befugnis, äußer­ lich zu handeln, sofern dieses Handeln mit jedermanns Willkür nach einem allge­ meinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann, denken kann, ohne die Mög­ lichkeit, etwas Äußeres überhaupt als das Seine zu haben, zu bejahen, behauptet Kant dort der Sache nach nicht. Dies lässt sich auch gar nicht vorstellen. 179  Das Sachenrecht ist primär zu entwickeln. Zu Sonderschuldverhältnissen etwa mit dem Gegenstand einer besonderen Leistung einer anderen Person, welche nur abgeleitet vom Willen dieser Person (vertraglich) erworben werden kann, siehe un­ ten.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

ben, wenn dieser Gegenstand an einer anderen Stelle im Raum ist) betrach­ tet Kant als einen synthetischen Rechtssatz a priori, weil er über das mit dem angeborenen Recht notwendig Verbundene bzw. die daraus abzuleiten­ den Rechtsinhalte hinausgeht und einerseits die Rechtssphäre jedes Einzel­ nen erweitert, andererseits „allen anderen eine Verbindlichkeit“ auferlegt, die „sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände der Willkür zu enthalten, weil wir sie zuerst180 in unseren Besitz genommen haben“ (§ 2 MdS). Kant bezeichnet den Satz „Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegen­ stand meiner Willkür als das Meine zu haben“ (kein Gegenstand der menschlichen Willkür kann als objektiv-herrenlos seinsollend betrachtet werden181, sondern ist objektiv mögliches Mein bzw. Dein) als ein „recht­ liches Postulat der praktischen Vernunft“. Dieses, die mit dem angeborenen Recht verbundenen Rechtssphären der Personen erweiternde Postulat bzw. „Erlaubnisgesetz“ der praktischen Vernunft, geht auf Gegenstände nicht nur der Gewalt (empirischer Besitz als rechtlicher), sondern auch der Macht (physischen Möglichkeit), also auf Gegenstände der menschlichen Willkür überhaupt. Demnach kann es hinsichtlich keines Gegenstandes der Willkür ein absolutes (allgemeines) rechtliches Verbot des Gebrauchs überhaupt geben. Gewalt über Gegenstände ist nicht das Rechtskriterium des Habens dieser Gegenstände: Empirischer Besitz ist nicht der entscheidende Begriff, son­ dern intelligibler Besitz (gedachtes Zustehen im Sinne des Anerkennens einer Zuordnung) ist der Begriff, nach dem die rechtlichen Sphären der Personen über die im angeborenen Recht implizierten Gehalte (inneres Mein) hinaus erweitert werden182. 180  Das „zuerst“ setzt in § 2 MdS etwas voraus, das Kant erst an späterer Stelle begründen wird, nämlich dass die rechtliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes zur Begründung von (intelligiblem) Privatbesitz in der anschaulichen Welt nur dar­ gestellt bzw. konstruiert werden kann als Bezug des Willens eines Subjekts auf einen nicht im Privatrecht anderer befindlichen Gegenstand und damit nach dem Grund­ satz der Priorität in der Zeit, § 10 MdS; siehe dazu – allerdings verkomplizierend – auch Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, S. 118. „Der physische Besitz, die Inhabung, muss bloß das Schema des intellektuellen Besitzes (des Rechts) sein …“, Kant, Nachlass, AA XXIII, S. 274. Der intelligible Besitz liege notwendig zu Grunde und werde schematisch in eine Anschauung übersetzt, vgl. auch Kant, AA XXIII, S.  211 ff. 181  Dies widerspräche dem allgemeinen Rechtsprinzip (§ C MdS) und implizierte die unsinnige Annahme, die Gegenstände selbst erlegten uns eine Verbindlichkeit auf, deutlich Kant im Nachlass, AA XXIII, S. 273. 182  Physische erste Besitznehmung (etwa eines Teils des Bodens) in der Zeit wäre eine allseitig jedenfalls zu akzeptierende Erwerbsweise, wenn andere Erwerbsweisen nicht allgemein vorgesehen wären: Im gedachten (vorstaatlichen) Naturzustand wäre



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz121

„Auf solche Weise ist z. B. die Besitzung eines absonderlichen Bodens eine Art der Privatwillkür, ohne doch eigenmächtig (hier im Sinne von unzulässig, G. H.) zu sein“ (§ 6 MdS). Kant behauptet einhergehend mit diesem Gedankengang Folgendes: Der „Boden“ – womit alle von Menschen jeweils erreichbare Weltsubstanz mit Ausnahme der Materie, die zum „inneren Meinen“ von jemandem gehört, gemeint ist – befinde sich notwendig in einem „ursprünglichen Gesamtbe­ sitz“. Die Idee dieses ursprünglichen Gesamtbesitzes enthalte „a priori den Grund der Möglichkeit eines Privatbesitzes überhaupt – ihr entspreche der allgemeine Wille eines erlaubten Privatbesitzes: Das Haben eines Gegen­ standes seitens einer Person ist als Rechtsverhältnis kein Verhältnis von Subjekt und Objekt (Gegenstände sind keine Pflichtsubjekte), sondern ein Verhältnis einer Person zu anderen Personen in Bezug auf Gegenstände183 – dem allseitigen Etwas-für-sich-Haben (Privatbesitz) liege notwendig die Idee des ursprünglichen Gesamtbesitzes zugrunde. „Ein jeder Boden kann ursprünglich erworben werden, und der Grund der Möglichkeit dieser ­Erwerbung ist die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens überhaupt“ (§ 13 MdS; siehe zum Terminus des „Bodens“ bzw. „Erdbodens“ sogleich und Fn. 184). Diese Behauptung Kants dürfte zutreffen: Wer sie bezweifelte und sich etwa fragte, weshalb vor einer rechtlich möglichen Erwerbung der jeweili­ ge Gegenstand denn nicht niemandem zustehe, zugleich aber gemäß dem eine erste physische Besitznehmung und -innehabung (empirischer Besitz) die Auf­ stellung einer jedenfalls einsichtigen Erwerbsregel (§ 6 MdS), stimmte mit dem allgemeinen Rechtsprinzip (§ C MdS) zusammen und hätte „die rechtliche Präsum­ tion für sich …, ihn (den empirischen Besitz) durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung zu einem rechtlichen zu machen und gilt in der Erwartung komparativ für einen rechtlichen …“, §§ 8, 9 MdS. 183  Kant spricht von einem „intellektuellen Verhältnis zum Gegenstande“, womit aber ein allgemeines Verhältnis wechselseitiger Befugnisse und Verbindlichkeiten der Personen gemeint ist, §§ 7, 17 MdS. Deutlich auch § 11 MdS, in welchem sich Kant mehr oder weniger direkt lustig macht über die in der vermeintlichen Bestim­ mung des Sachenrechts als eines rechtlichen Verhältnisses der Willkür unmittelbar zu einem körperlichen Gegenstand implizierte Vorstellung, eine Sache sei verpflich­ tet. Diese offensichtlich absurde Vorstellung taucht trotzdem auch heutzutage noch in juristischer Lehre und Rechtsprechung auf; so etwa in der Besitzlehre, sofern dieser als bloß das unmittelbare Verhältnis einer Person zu einer Sache gekennzeich­ net wird oder in der Definition eines „Rechtsverhältnisses“ im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO durch das BVerwG: „Unter einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von natürlichen oder juristischen Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht“, etwa BVerwG, NJW 1990, 2046.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

allgemeinen Rechtsprinzip annimmt bzw. annehmen muss, dass rechtlich nicht eine einzelne Person alles erwerben kann, der räumte damit zugleich seinen Zweifel aus dem Weg. Denn er nähme an, dass Gegenstände (Ma­ terie) vor jedem Erwerbsakt allen zur Gesamthand zustehen, sodass der eigenmächtige Ausschluss einzelner Personen von äußeren Gegenständen überhaupt seitens anderer ein rechtswidriger Akt sein kann (siehe auch § 11 MdS). Die Idee des ursprünglichen – d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür bestehenden – rechtlichen Gesamtbesitzes (§ 13 MdS) bzw. des „angeborenen Gemeinbesitzes des Erdbodens“ wird somit für notwen­ dig erklärt (§ 6 MdS), wobei „Erdboden“ verstanden werden muss als Einheit aller von Menschen erreichbaren äußeren Weltmaterie184 (1797 war dies lediglich etwas vom „Erdboden“, schon heute sind Teile des sonstigen Weltalls physisch erreichbar). Alle beweglichen Sachen sind daraus ent­ standen bzw. geformt. „Nichts (ergänzt: besonderes, G. H.) Äußeres ist ursprünglich mein“, sondern es bedarf eines Erwerbsakts der Person, durch welchen ein äußerer Gegenstand speziell ihrer wird (§ 10 MdS). In der Formulierung Kants widerspricht dieser Satz genau genommen der Idee vom ursprünglichen Gesamtbesitz, sodass es eben heißen muss: „Nichts besonderes Äußeres ist ursprünglich mein“ oder „Nichts Äußeres ist ursprünglich lediglich mein bzw. zum speziellen Sondergebrauch mir zustehend“. Besonderer Privatbesitz an äußeren Gegenständen muss erworben werden, wobei der „Boden“ bzw. die in ursprünglichem Gemeinbesitz seiende, physisch-erreichbare Weltmaterie als Einheit die Substanz der primären Erwerbung ist: Der erste Akt der Erwerbung ist ein jeweils einseitiger Wil­ lensakt und geht auf einen Teil des ursprünglich im Gemeinbesitz seienden Bodens, alle beweglichen Sachen werden als dessen Inhärenz bzw. „inhärie­ rende Akzidenzen“ verstanden (§§ 12, 17 MdS). Durch die einseitige Erklä­ rung des Inhalts „Dieser Gegenstand ist mein“ wird „allen anderen … eine Verbindlichkeit auferlegt, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs desselben zu enthalten“ (§ 7 MdS). Gemäß dem allgemeinen Rechtsgesetz bzw. -prinzip ist darin auch die Erklärung enthalten, selbst „jedem anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Ent­ haltung verbunden zu sein … (Reziprozität der Verbindlichkeit)“, § 8 MdS. Der Erwerb von besonderen äußeren körperlichen Gegenständen durch einen willentlichen Erwerbsakt enthält also eine gedankliche Verbindung eines jeden mit jedem anderen, dies ist die Idee eines allgemeinen Willens zu einem erlaubten Privatbesitz äußerer Gegenstände bzw. die Idee „vom 184  Oder wie M. Köhler es ausdrückt: „Sachsubstanz Welt“ (in: Ursprüngliches Erwerbsrecht, S. 319) oder „formbare Weltsubstanz“ (in: Gerechtigkeit als Grund der Politik, S. 35), näher dazu derselbe in: Ursprünglicher Gesamtbesitz, S. 260 ff.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz123

Besitze (possessio noumenon) als einer allgemeingeltenden Gesetzgebung“ (§ 7 MdS): Jede Person muss gemäß dem allgemeinem Willen des erlaubten Privatbesitzes Äußeres besitzen können. Den systematisch-primären Privatrechtsakt nennt Kant den ursprünglichen Erwerb, d. h. ohne dass dieser Erwerb vom Willen eines bestimmten anderen abgeleitet wäre (somit nicht vertraglich). Er begründet kein Sonder­ schuldverhältnis, sondern Unterlassungsverpflichtungen aller anderen ge­ genüber dem Erwerber im Hinblick auf das Erwerbsobjekt. „Das Prinzip der äußeren Erwerbung ist nun: Was ich (nach dem Gesetze der äußeren Frei­ heit) in meine Gewalt bringe, und wovon als Objekt meiner Willkür Ge­ brauch zu machen ich (nach dem Postulat der praktischen Vernunft) das Vermögen habe, endlich, was ich (gemäß der Idee eines möglichen verei­ nigten Willens) will, es solle mein sein: das ist mein“. Darin enthalten ist also eine Herstellung einer physischen Erreichbarkeit des Gegenstandes185, ein das Besitzenwollen bezeichnender Akt und schließlich die „Zueignung“ im Sinne eines ideellen Aktes eines „allgemein gesetzgebenden Willens … durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird“ (§ 10 MdS). Mit dem Begriff des Sachenrecht wird also eine gedankliche Verbindung eines jedem mit jedem anderen im Hinblick auf möglichen Erwerb aller (durch Menschen physisch erreichbaren) Weltmaterie hergestellt: Die erste Erwerbung geht zwar vom einseitigen Willen aus, muss zur rechtlichen Wirksamkeit aber konform mit dem allgemeinen Willens sein bzw. als Akt des allgemeinen Willens dargestellt werden können (§§ 16, 17 RL MdS). Privatrechtserwerb bezüglich äußerer Gegenstände kann aufgrund der not­ wendigen Gemeinbesitzidee in der Basis auch als ein Loslassen anderer von einer sonst gemeinsam-rechtlich-besessenen Materie betrachtet werden. Dies ist die Vernunftidee einer a priori (notwendig) vereinigten Willkür aller zur 185  Erste physische Besitznehmung (Bemächtigung nach „Priorität in Ansehung der Zeit“, § 14 MdS). Nicht gemeint ist hiermit, dass hinsichtlich der Erwerbung körperlicher Gegenstände zwingend erst eine physische Besitznehmung im engen Sinne (Gewalterlangung) erforderlich ist zur rechtlich-wirksamen Zueignung. Das physische Gewalthaben im engen Sinne hat als Rechtsbegriff betreffend den (auf Grundlage der allseitig-einseitigen Teilung des Gemeinbesitzes erfolgenden) abgeleiteten Erwerb letztlich keine große Bedeutung (so auch heute etwa bei der vom Willen eines anderen abgeleiteten Zueignung von Sachen nach der derzeitigen Aus­ legung der §§ 929 ff. BGB, nach welchen zu einer wirksamen Übereignung beim Voreigentümer kein Besitz verbleiben darf, was jedoch nicht bedeutet, dass der Voreigentümer faktisch keine Macht mehr über die Sache haben kann oder der Er­ werber notwendig Gewalt im engen Sinne darüber haben müsste). Siehe auch Kant, § 21 MdS: Es könne zwischen Veräußerer und Erwerber vor unmittelbarer Besitz­ nehmung durch letzteren ausgemacht werden, in wessen „physischem Besitz (Inha­ bung) diese Sache … sein solle“.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Bestimmung der konkreten Rechtsverhältnisse der Menschen bezüglich des jeweiligen äußeren Mein und Dein. Bei der Entwicklung des Privatrechts bezüglich äußerer Gegenstände ist das Sachenrecht der systematisch bzw. begrifflich primäre Teil: Körperliche Gegenstände (Sachen) als „inhärierende Akzidenzien“ der ursprüngliche gemeinsam besessenen „Sachsubstanz Welt“ (Köhler, Fn. 184) sind Gegen­ stände, auf welche etwa in Tauschverträgen Bezug genommen werden kann, sodass sie also schon vor allem Tausch das seine von Jemandem müssen sein können186. Kant macht erst nach Darlegung von Möglichkeit und Notwendigkeit des Sachenrechts Ausführungen zum „persönlichen Recht“ (Schuldrecht), des­ sen Gegenstände Leistungen von Personen sind („Besitz der Willkür eines anderen“ bzw. „äußeres Mein und Dein in Ansehung der Kausalität eines anderen“). Ein rechtlicher Anspruch auf personale Leistungen kann lediglich vertraglich (abgeleitet vom Willen des jeweils anderen), also durch Verspre­ chen bei übereinstimmenden Willenserklärungen erworben werden: „Die Erwerbung eines persönlichen Rechts kann niemals ursprünglich und eigenmächtig sein (denn eine solche würde nicht dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß, mithin unrecht sein) … Die Erwerbung durch die Tat eines anderen ist jederzeit von dem Seinen des anderen abgeleitet … Der Akt der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des einen auf den anderen übergeht, ist der Vertrag …“ (§ 18 MdS). Das so begründete persönliche Recht ist ein Recht „gegen eine bestimm­ te physische Person und zwar auf ihre Kausalität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten, nicht ein Sachenrecht gegen diejenige moralische Person, welche nichts anderes als die Idee der a priori vereinigten Willkür aller ist“, wodurch allein ein Recht in einer Sache erworben werden kann (§ 20 MdS, siehe zu letzterem oben). In Tauschverträgen über Sachen ist der Vertragsgegenstand stets der personale Akt der rechtlichen Übertragung der Sache und der Übergabe (i. w. S., siehe Fn. 185); deren Zustehen zum anderen ist dann kein Sonderschuldverhältnis mehr, sondern ein Recht ge­ gen Jedermann187. Dabei wird begrifflich (implizit) also wieder die Ge­ meinbesitzidee und die ursprüngliche Teilung zu allgemeinen bzw. „abso­ luten“ Schuldverhältnissen in Bezug auf Sachen (d. i. Sachenrecht) vorausgesetzt. 186  Kant, § 15 MdS, siehe auch § 49 allgem. Anm. B.: Möglicher Besitz äußerer Sachen als „das erste erwerbliche Recht“. 187  Weshalb Eigentum auch als „absolutes Recht“ bezeichnet wird, etwa Bassenge, in: Palandt, vor § 854, Rn. 2; Henrich, in: MüKo, 6. Band, 5. Auflage, § 194 Rn. 35.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz125

Die von Kant mit „das auf dingliche Art persönliche Recht“ bezeichneten und in einem gesonderten Abschnitt vorgestellten besonderen Rechtsverhält­ nisse (Familienrecht / besondere Dauerschuldverhältnisse, §§ 22 ff. MdS) sind für das Thema nicht weiter von Bedeutung. Erwähnt sei lediglich, dass im Familienrecht originäre (nicht durch übereinstimmende Willenerklärun­ gen begründete) Sonderschuldverhältnisse denkbar sind, nämlich im Ver­ hältnis der leiblichen Eltern zu ihren noch nicht-selbständigen Kindern („… die Kinder als Personen haben … ein ursprünglich-angeborenes … Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern, bis sie vermögend sind, sich selbst zu erhalten …“) und mit begrenztem Pflichtinhalt auch umgekehrt (§§ 28, 29 MdS)188. c) Zusammenfassung und Konsequenz Nach Kant ist also auch das Privatrecht im Hinblick auf äußere Gegen­ stände ein auf Prinzipien a priori fußendes vorpositives Recht: Das „Seine von jemandem“ ist rechtlich auch hinsichtlich äußerer Gegenstände möglich und notwendig. Die ideell in ursprünglichem Gemeinbesitz seiende Sach­ substanz der Welt muss durch allseitig-einseitigen Zugriff erworben werden (Privatrechtsbegründung). Dieser ursprüngliche Erwerb ist eine normative Voraussetzung von Austauschverträgen (des vom Willen des jeweils anderen abgeleiteten Erwerbs). Die Konsequenz ist: Im wirklichen (Rechts-)Staat bleibt die Gesetzgebung auch daran rückgebunden. Privatrechte bezüglich äußerer Gegenstände werden also nicht etwa erst im Staat konstituiert, son­ dern durch diesen nur durch Aufstellung bestimmter öffentlicher allgemeiner Gesetze (etwa Erwerbsregeln) und Garantierung von deren Durchsetzbarkeit konkret-bestimmt und gesichert189. Rechtlich-ideell teilt der Staat nicht ori­ 188  Kant spricht auch von einer „Naturpflicht der Eltern“ gegen ihre minderjähri­ gen (nicht selbständigen) Kinder, § 49 MdS allgem. Anm. D. In seiner „Rechtferti­ gung des Begriffs von einem auf dingliche Art persönlichen Recht“ versucht Kant die Erforderlichkeit und Eigenständigkeit dieses „befremdlichen, neu hinzukommen­ den Rechtstitels in der natürlichen Gesetzeslehre“ auszuweisen (MdS Anhang zu RL, 2. und 3., S. 358 ff.). Dabei bestreitet er, dass die damit gemeinten Rechtsverhältnis­ se als hinsichtlich der Leistungen relativ-unbestimmte Dauerschuldverhältnisse zu­ treffend bezeichnet wären. Man kann zumindest dann, wenn man ein eigenes Recht der Eltern auf Rückforderung des ihnen seitens eines Dritten genommenen eigenen minderjährigen Kindes annimmt, Kants Behauptung der Eigenständigkeit dieses Ti­ tels der Rechtsverhältnisse nicht von der Hand weisen. Denn es besteht dann nicht nur eine Pflicht des Kindes aus dem ursprünglichen Dauerschuldverhältnis zur Rückkehr zu seinen Eltern, sondern auch eine Vindikationslage gegen den Dritten in Bezug auf das Kind, wobei dieses den Eltern zugeordnet ist – entsprechend dem Zustehen einer Sache zum Eigentümer. 189  Kant: „… denn bürgerliche Verfassung ist allein der Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

ginär zu, nimmt und gibt nichts, sondern setzt nur bestehendes Recht durch: Der Zustand des öffentlichen Rechts „enthält nicht mehr oder andere Pflich­ ten der Menschen unter sich, als in jenem (vorstaatlichen Zustand, G. H.) gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist ebendieselbe in beiden“190. In einen staatlichen Zustand („Zustand des öffentlichen Rechts“) zu treten sei allerdings ebenfalls notwendig: Ohne staatliche Rechtsdurchsetzungsins­ tanzen seien Privatrechte nur „provisorisch-rechtlicher Besitz“, d. i. ein Be­ sitz in Erwartung eines staatlichen – in Abgrenzung zum Naturzustand auch „bürgerlich“ genannten – Zustandes. Weshalb dies nach Kant so ist und woraus sich die behauptete Notwendigkeit, mit anderen in einen Staat zu treten ergeben soll, ist darzustellen191. 5. Übergang zum Staat: Notwendigkeit der Staatserrichtung Ein „kollektiv-allgemeiner Wille“, der ideell im Begriff des Privatrechts als einer gedanklichen Verbindung aller Personen mit dem Inhalt der Aner­ kennung des Zustehens von äußeren Gegenstände zu einzelnen Personen impliziert ist (siehe oben), müsse wirklich und machthabend sein und „der Zustand … unter einer allgemeinen äußeren (d. i. öffentlichen), mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche“. Das „Postulat des öffentli­ chen Rechts“ fordert von Jedermann „im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen“ (§ 42 MdS), mit diesen in einen Zustand unter öffentlichen Gesetzen (unter eine wirklich-öffentliche Verfas­ sung) zu treten. Das ist „dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein ein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann“. Und „das formale Prinzip der Möglichkeit“ eines solchen bürgerlichen Zustandes „nach der Idee eines allgemein gesetzgeben­ den Willens betrachtet … heißt die öffentliche Gerechtigkeit“ (§ 41 MdS). Gerade weil nach Kant Jedermann a priori vernunftgemäß Rechtssubjekt ist mit dem Anspruch, auch etwas Äußeres als das Seine haben zu können, müssten die Realisierungsbedingungen dafür eingerichtet werden: „Wenn es wird“, § 9 MdS. Eine Erwerbung im „natürlichen Zustand“ habe „noch nicht die Sanktion des öffentlichen Gesetzes für sich, weil sie durch keine öffentliche (distri­ butive) Gerechtigkeit bestimmt und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesi­ chert ist“, § 44 MdS. 190  Kant, § 41 MdS. Siehe auch Bartuschat, S.  18 ff. 191  Kant behauptet, diese Notwendigkeit sei nicht primär eine faktische, auf em­ pirische Daten zu stützende (wie Hobbes meint), sondern es gebe einen Vernunft­ grund dafür (d. h. die Staatsgründung sei in einem von unbedingt-gültigen Grundbe­ griffen ausgehenden, sich nach Vernunftprinzipien aufbauenden Rechtssystem ein notwendiges Element).



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz127

rechtlich möglich sein muss, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben, so muss es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen … zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten“ (§ 8 MdS). Zwar kann im Naturzustand192 „doch ein wirkliches, aber nur provi­ sorisches äußeres Mein und Dein statthaben“. Dieses wird im bürgerlichen Zustand (unter öffentlichen staatlichen Gesetzen) nur garantiert, denn: „Al­ le Garantie setzt … das Seine von Jemandem voraus. Mithin muss vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden, und zugleich ein Recht, jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nötigen, mit uns in eine Verfassung zusammenzutreten, worin jenes gesichert werden kann … Ein Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also zu der Möglichkeit des letzteren zusammenstimmt, ist ein provisorisch-rechtlicher Besitz193, wogegen derjenige, der in einem solchen 192  „Naturzustand“ ist hier nicht als ein historischer bzw. real-existenter Zustand zu verstehen. Im Kontext ist der Gegenbegriff der des „bürgerlichen Zustandes“ im Staat als einer Menge von Menschen unter öffentlichen allgemeinen und durchsetz­ baren Rechtsgesetzen (nur insoweit ein Gegenbegriff). Bartuschat formuliert tref­ fend: „Beide Zustände sind nicht Zustände, in denen auch das Recht eine Rolle spielt, sondern Zustände, über die das Recht selbst charakterisiert wird“ (Bartuschat, S. 18). Oder anders ausgedrückt: Beim Bemühen um die Entwicklung unbedingtgültiger begrifflicher Grundlagen zur Bearbeitung jeglicher rechtlicher Problematik ist es nach Kant erforderlich, zunächst den Begriff des Rechts und die daraus abzu­ leitenden Inhalte (siehe oben A.II.4.a)) sowie apriorischen Erweiterungen der Rechtsbeziehungen zwischen den Menschen in Bezug auf alle überhaupt-erreichba­ ren äußeren Gegenstände (A.II.4.b)) gedanklich vorzustellen (als dasjenige, was den Menschen unabhängig von allem bzw. logisch vor allem positiven Recht zusteht). Das Absehen von allen zu einer Zeit an einem Ort wirklichen Rechtsbehauptungen, also das Absehen von allem wirklich-öffentlichem Gesetz ist dasjenige, was den sogen. „Naturzustand“ qualifiziert bzw. vom sogen. „bürgerlichen“ unterscheidet. Die Behauptung der Notwendigkeit, trotz apriorischer Rechtsverhältnisse in einen Zustand unter wirklich-öffentlichen Gesetzen einzutreten bzw. in einem solchen zu sein, kann erst auf der Basis dieser Ausführungen begründet werden (sodass die Begriffe des „Naturzustandes“ und des „bürgerlichen Zustandes“ letztlich nur dazu dienen, sich der Einsicht in ein ideell-vollständiges Vernunftsystem des Rechts an­ zunähern). Die von Kant in § 41 MdS verwendete Qualifikation des Naturzustands als eines „nicht-rechtlichen Zustands“ dient ihm im Kontext eindeutig zwar nur zum Ausdruck des Mangel einer nicht positivierten (nicht in allgemein-öffentlichen Ge­ setzen ausgedrückten) Rechtsidee im Vergleich mit einem Zustand im ideellen Rechtsstaat; sie ist trotzdem unglücklich, weil dem bloßen Wortsinn nach direkt widersprüchlich zu der sich anschließenden Bezeichnung des Naturzustandes als Zustand des Privatrechts und etwa der Überschrift von § 9 MdS („Im Naturzustande kann doch ein wirkliches, aber nur provisorisches äußeres Mein und Dein stattha­ ben“). 193  „Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen Zustand gar keine Erwer­ bung, auch nicht einmal provisorisch für rechtlich erkennen, so würde jener selbst

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

wirklichen Zustande angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein wür­ de …“ (§ 9 MdS). Erst der letztere hat „die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich“ und ist „durch eine öffentliche (distributive) Gerechtig­ keit bestimmt“ und durch eine „dies Recht ausübende Gewalt gesichert“ (§ 44 MdS). Aber was genau ist nach Kant der Grund der behaupteten Staatserrich­ tungs-Notwendigkeit? Die Gefahr der Missachtung der Rechte anderer bestehe permanent auf­ grund der „Neigung der Menschen überhaupt, über andere den Meister zu spielen …, wenn sie sich der Macht oder List nach diesen überlegen füh­ len“. Diese Neigung könne jedermann „in sich selbst hinreichend wahrneh­ men“, es bedürfe dafür nicht einmal der Belehrung durch eine „traurige Erfahrung“. Diese Argumentation Kants aus § 42 MdS erinnert teilweise an die Hobbes’, nämlich insofern Kant hier auf entgegengesetzte Neigungen der unterschiedlichen Menschen als Grund einer permanenten Unsicherheit abstellt. Allerdings liegt der fundamentale Unterschied zu Hobbes darin, dass das Recht der Menschen bei Kant als eine (kategorische) Respektierungsnotwendigkeit im Hinblick auf den jeweils anderen dargestellt wird und es demnach grundlegend feststeht, was dem einen im Verhältnis zum anderen zusteht, während sich hinter dem Wort „Recht“ bei Hobbes kein allgemeingültiger Begriff verbirgt („Rechtssicherheit“ bedeutet deshalb auf der letztlich empiristischen Basis von Hobbes bloß größtmögliche Lebensund Leibessicherheit, siehe oben A.I.1. und Fn. 48). Der eigentliche Grund der Notwendigkeit der Staatserrichtung bzw. der Positivierung des Rechts im wirklichen Staat sei jedoch kein bloß empiri­ scher: Es sei „nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich-gesetzlichen Zwang notwendig macht“, sondern selbst wenn die Menschen „so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will“, so liege a priori in der Vernunftidee eines Zustandes ohne öffentliche Gesetze, dass es darin keine Sicherheit vor Gewalttätigkeiten untereinander geben könne (§ 44 MdS). Die Unauflöslichkeit von nicht zu vermeidenden Konflikten im nicht-staat­ lichen Zustand (Naturzustand) sei nicht abhängig von besonderen empiri­ schen bzw. anthropologischen Voraussetzungen, sondern sie sei durch einen unmöglich sein. Denn der Form nach enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, sofern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird: nur dass im letzteren die Bedin­ gungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Ge­ rechtigkeit gemäß) gelangen. – Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechtspflichten in Anse­ hung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen“ (§ 44 MdS). Siehe zur besonderen Bedeutung des empirischen Besitzes als eines rechtlichen im Naturzustand auch oben und Fn. 182.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz129

Zustand ohne öffentliche allgemeine Gesetze und ohne daran gebundene Durchsetzungsinstanzen selbst vorgegeben. Warum kann im Naturzustand selbst bei hypothetischer „Gutartigkeit und Rechtliebendheit“ der Menschen niemand vor Gewalttätigkeiten sicher sein? Kant nennt als Grund „jedes … eigenen Rechte, zu tun, was ihm recht und gut dünkt und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen“. Gemeint ist Folgendes: Rechtskontroversen, also Unsicherheiten über das Mein und Dein, sind niemals gänzlich vermeidbar bzw. auszuschließen und bei solchen Rechtsstreitigkeiten hat keine „Erwerbung … die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich“ und es kann (allein schon deshalb) „kein kompetenter Richter“ gefunden werden (§ 44 MdS): Selbst wenn die Betei­ ligten sich hypothetisch über das, was sie abstrakt für Recht hielten, einig wären, könnten Konflikte bei der Anwendung im konkreten Fall entstehen, die prinzipiell rechtlich-unauflöslich wären. Kant braucht nicht so verstan­ den zu werden, als wolle er sagen, im (gedachten) Naturzustand müsse eine Konfliktlösung stets mit roher physischer Gewalt bewirkt werden194. Ent­ scheidend ist, dass selbst bei vorstellbar „gutartigen und rechtliebenden“ Menschen in einem Zustand ohne öffentliche Gesetze und Durchsetzungs­ instanzen jeder in einem Rechtskonflikt sich im Recht Glaubende urteilen müsste, damit die Zwangsbefugnis auf seiner Seite zu haben (siehe A.II.3.). Diese Situation ist im „Naturzustand“ rechtlich unauflöslich. Obwohl die Gesetze im Naturzustand, der logische Voraussetzung des bürgerlichen Zustandes ist195, der Form nach dasselbe enthalten wie die des – nach reinen Vernunftbegriffen gedachten – bürgerlichen Zustands, habe die Einrichtung von Rechtsdurchsetzungsinstanzen somit unabhängig von bestimmten empirischen Umständen (vernunftnotwendig) zu erfolgen. Fraglich kann noch sein, weshalb Kant die – ausgeschlossene – Alternative zum Eintritt in den bürgerlichen Zustand so absolut als die „Entsagung aller Rechtsbegriffe“ bezeichnet und den Naturzustand (missverständlich) einen „Zustand der Rechtlosigkeit“ nennt196. Der Grund dafür ist Folgender: Wenn man sich – im Sinne einer gedanklichen Probe – innerhalb eines Zustands ohne öffentliche allgemeine Gesetze Konflikte über das äußere Mein und Dein vorstellt (ein solcher Zustand ist zumindest für die meisten Menschen keine wirkliche Erfahrung), so stehen sich einseitige Willen gegenüber (§ 9 MdS). Die Möglichkeit, etwas Äußeres als das Meine zu erwerben und zu haben, bedingt die Verpflichtung aller anderen zur Enthaltung bei wechsel­ 194  Der Begriff der Gewalt wird hier im Kontext als Gegenbegriff zum Recht verwendet (§ 42 MdS). Siehe insoweit auch Kant, Zum ewigen Frieden, Einleitung des zweiten Abschnitts. 195  Ebenso Haensel, S. 38. 196  Kant, § 44 MdS: Siehe dazu auch Fn. 192.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

seitiger Selbstverpflichtung. Das ist die notwendige Idee einer vorstaatlichen rechtlichen Gesamtverbindung aller (siehe A.II.4.b)). Wird aber im Naturzu­ stand das Meine bzw. dasjenige, was ich für das rechtmäßig Meine halte, in Frage gestellt durch andere, die es für das rechtmäßig ihre halten, entsteht ein Konflikt zwischen einseitigen Willen ohne (unabhängigen) Richter. Des­ sen Unauflöslichkeit bedingt wegen der Identität von Recht und Zwangsbe­ fugnis (vgl. A.II.3.) die wechselseitige Nichtrespektierung insoweit und diese lässt auch die jeweilige Selbstverpflichtung entfallen. Damit zerplatz­ te sozusagen die Idee eines Gesamtsystems und es bliebe das, was Kant in § 47 MdS „wilde, gesetzlose Freiheit“ nennt (wegen der Doppelbesetzung von „Freiheit“ allerdings eine unsaubere Formulierung197). Gerhard Lufs Formulierung, durch jeden rechtswidrigen Eingriff im Naturzustand werde „das rechtliche Band zwischen den betroffenen Personen zerstört“, drückt die Essenz dieses Gedankengangs gut aus: Soll überhaupt ein rechtliches Verhältnis über den einzelnen Konfliktfall hinaus bestehen, was nach ver­ nunftrechtlichen Prinzipien so gedacht werden muss, so muss jedem die Befugnis zustehen, jeden, mit dem es zum Streit über das Mein und Dein kommt oder kommen kann, zum Eintritt in eine bürgerliche Verfassung zu nötigen198. Der bürgerliche Zustand wird zur Pflicht, da ansonsten die Rea­ lisierung von beständigen Rechtsbeziehungen, welche selbst Pflichtcharakter hat, unmöglich wäre199. Dies ist die kantische Begründung der Notwendigkeit der Einführung einer austeilenden Gerechtigkeit, welche als Positivierung der Idee des all­ gemeinen, vereinigten Willens aller betrachtet werden könne200 und deshalb die Kompetenz habe, verbindliche (richterliche) Entscheidungen zu treffen. 197  Kant drückt sich besser aus, wenn er schreibt, es werde bei Eintritt in den bürgerlichen Zustand nicht etwa eine „angeborene äußere Freiheit einem Zwecke aufgeopfert“, sondern jedermann finde „seine Freiheit überhaupt in einer gesetzli­ chen Abhängigkeit“ (d. h.: wirkliche Selbstbestimmung) erst in diesem Zustand, wobei „diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“, § 47 MdS. 198  Luf, Freiheit und Gleichheit, S. 85. 199  Siehe dazu auch Herb / Ludwig, Kant-Studien 84, 283(305). 200  Kant nennt die Idee des Aktes, „wodurch sich ein Volk selbst zu einem Staat konstituiert“ den „ursprünglichen Kontrakt“, durch welchen die Bedingungen allge­ meiner Rechtsdurchsetzung eingerichtet werden, sodass jeder seine „Freiheit über­ haupt“, nämlich in gesetzlicher Abhängigkeit finden kann (§ 47 MdS). Nur auf diesen „ursprünglichen Vertrag“, d. h. auf diese Idee könne „allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemei­ nes Wesen errichtet werden“, Kant, Theorie und Praxis, S. 298 ff. Der nur als Veranschaulichungshilfe dienende Terminus vom „ursprünglichen Vertrag“ tut sachlich dem dargestellten Gedankengang allerdings nichts hinzu, weshalb er im Haupttext gar nicht erwähnt wird (zur Missverständlichkeit dieses Terminus siehe noch unten B.III.2.). Kant wegen dessen gelegentlicher verbaler Anlehnung an vorherige Auto­



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz131

Die Forderung der Staatserrichtung durch Positivierung von Recht und Staatsverfassung (öffentliches Recht als System von Gesetzen für ein Volk) ergebe sich aus Vernunft a priori. Somit ist verständlich, was Kant meint, wenn er schreibt, es könne nur im bürgerlichen Zustand „jeder seines Rechts teilhaftig werden“ (§ 41 MdS): Der wirkliche Staat (Positivierung und Durchsetzung des Rechts der Menschen in öffentlichen Gesetzen unter einer Staatsverfassung) kann als rechtslogisch-notwendige (vernunftnotwendige) Institution der Rechtsdurchsetzung betrachtet werden und basiert damit ideell – anders als bei Hob­ bes – nicht bloß auf einer (vermeintlich) ökonomisch vorteilhaften Entschei­ dung aller201. Der Staat ist demgemäß „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (§ 45 MdS). „Rechtsgesetze“ sind hier die aus den entwickelten Rechtsbegriffen (allgemeiner Rechtsbegriff und Privatrechte) „von selbst“ folgenden und deshalb a priori notwendigen, die den „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“ konstituieren, wel­ cher „jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im In­ neren) zur Richtschnur (norma)“ dienen müsse (§ 43 MdS). Ein Staat müsse, entsprechend „den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluss“ drei Gewalten enthalten: Gleich „dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und den Schlusssatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkom­ menden Falle Recht ist“. Die drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judi­ kative) nennt Kant auch „Staatswürden“. Sie „enthalten das Verhältnis eines allgemeinen Oberhauptes (der nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein ande­ rer als das vereinigte Volk selbst sein kann)“ zu den Einzelnen als Unterta­ nen. Letztere müssen also „zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit“ behandelt werden, d. h. so, dass „jeder sich selbst besitzt und nicht von einem absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm abhängt“202. Ideell könne nur „der übereinstimmende und ren (was den Staatsbegründungsakt angeht) als „Vertragstheoretiker“ zu bezeichnen, wie es in der Sekundärliteratur hin und wieder geschieht, ist bestenfalls überflüssig. 201  Die Notwendigkeit des öffentlichen Rechts besteht nach Kant prinzipiell auch im Verhältnis der Staaten zueinander (Staatenrecht), wobei die Weise der Umsetzung eine andere sein soll (kein Staatenstaat und zumindest nicht notwendig ein Weltstaat, sondern ein fester Bund selbständiger Republiken), Kant, §§ 43, 53 ff. MdS und v. a. Zum ewigen Frieden, 2. Definitivartikel. 202  § 49 MdS. Kant nennt die „zur Gesetzgebung vereinigten Glieder … eines Staates“ Staatsbürger. Diesen müsse das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit zukommen, wodurch sie die Fähigkeit zur Stimmgebung bei Wahlen und Abstim­ mungen erhielten. Nicht-selbstständige und deshalb nicht-wahlberechtigte Glieder

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“ (§ 46 MdS). Die drei Staatsgewalten ergänzten einander „zur Vollständigkeit der Staatsverfassung“, wobei aber jeder eine andere Funktion zukomme, die „nicht zugleich die Funktion der anderen … usurpieren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat“ (§ 48 MdS). Die Regierung und alle sonstigen Teile der Exekutive dürften stets nur nach dem schon als feststehend angenommenen Gesetz handeln und sich nicht etwa von Fall zu Fall zum Gesetzgeber auf­ schwingen – dies wäre Despotismus. Der Regent „steht unter dem Gesetz“ (§ 49MdS). Die drei Gewalten seien „Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens und eine reine Idee von einem Staats­ oberhaupt …“. Das Oberhaupt (der Souverän) sei begrifflich ein das gesam­ te Volk vorstellendes Gedankending, welches durch eine oder mehrere wirkliche Personen dargestellt bzw. verwirklicht werden müsse (§ 51 MdS). Die möglichen „Staatsformen sind nur der Buchstabe (littera) der ursprüng­ lichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande“, wobei „der Geist des (ideellen, G. H.) ursprünglichen Vertrages“ fordere, „die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen“. Dies laufe durch Reformen (allmähliche, kontinuierliche Veränderungen – keine Umstürze) auf die „reine Republik“ hinaus, welche „allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges“ mache: Das Gesetz müsse letztlich selbstherrschend sein und an keiner besonderen Person hängen, nämlich „als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, ver­ mittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen“203. des Staates nennt Kant „Staatsgenossen“; diese passiven Glieder des Staates hätten aber ein Recht auf Schaffung der Voraussetzungen von Teilhabe. Soweit wird man dem nicht widersprechen können. Allerdings fasst Kant den Begriff der „bürger­ lichen Selbständigkeit“ im Kontext zeitbedingt (aufgrund bloß empirischer Umstän­ de seiner Zeit, etwa damaliger Bildungsdefizite einiger Gruppen im Volk) zu eng: Neben unmündigen Kindern fehle eine solche auch bei abhängig Beschäftigten und Frauen, § 46 MdS und Theorie und Praxis, S. 295 ff. Letzteres ist, sollte im 18. Jahr­ hundert überhaupt etwas daran gewesen sein, jedenfalls überholt. 203  Kant, §§ 51, 52 MdS sowie Theorie und Praxis, S. 296 und Zum ewigen Frieden, 1. Definitivartikel. Es ist demnach also zumindest gedanklich eine Drei­ teilung und Auseinanderhaltung der Staatsgewalten und ihrer Funktionen unbedingt erforderlich (sonst eo ipso Despotismus). Die faktische Ausführung bzw. Umset­ zung oder Darstellung mag zwar auch im autokratisch geführten Staat möglich bzw. zumindest nicht ganz unmöglich sein (obwohl die autokratische Staatsform „so sehr einladet“ zum Despotismus, dass das Recht stets in Gefahr sei), wenn auch klarerweise defizitär gegenüber personaler Trennung und Repräsentation jedes Einzelnen durch Abgeordnete bei der Gesetzgebung, §§ 51, 52 MdS. Solange nicht



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz133

Diese (gesollte) Staatsform bzw. Regierungsart wird heute als repräsentative Demokratie bezeichnet. 6. Rechtsbegrifflich möglicher Inhalt staatlicher Gesetze (Rückbindung des Staates an Ausgangsprinzip bzw. -zweck) Die Termini „Rechtsstaat“ oder „Staat in der Idee“ bedeuten primär die Bindung allen Staatshandelns an vorpositiv-existentes Recht: Der Staat ge­ neriert nach Kant nicht erst Rechtsverhältnisse, sondern ist nur – aber eben auch vernunftnotwendig – Rechtsdurchsetzungsinstanz. Jeder wirkliche Gesetzgeber204 ist demnach ideell stets rückgebunden an die im Grundver­ hältnis entwickelten Rechtsbegriffe: „… Was das gesamte Volk nicht über sich beschließen kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht über das Volk beschließen …“. Der „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentli­ chen Gesetzes“ ist, ob das Gesetz aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes habe entspringen können und jeder Untertan dabei so angesehen werden könne, als ob er dazu zugestimmt habe“ bzw. „ob das Gesetz auch mit dem Rechtsprinzip zusammenstimme“, sodass „der ausgeübte Zwang rechtmäßig ist“205. Auf irgendeinen materialen Zweck kommt es weder für die Rechtsbeur­ teilung, noch für die Staatsbegründung an: Einziger Zweck des Staates ist Rechtsdurchsetzung („zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung“206). Dies ist das einzig angebbare notwendig-gemeinsame Interesse des gemei­ nen Wesens207. Insofern ist ideell vor jedem Akt des wirklichen Gesetzgebers (Gesetzge­ bung) zu klären, was dem einen gegenüber dem anderen im rechtlichen Grundverhältnis zusteht (dasselbe gilt für die Gesetzesauslegung durch Ju­ „das Volk … die entscheidende Stimme im Staat habe“, bestehe auch eine erhöhte Gefahr des Krieges im internationalen Verhältnis, Kant, ­Theorie und Praxis, S.  390 ff. (391). 204  Dasselbe gilt damit selbstverständlich auch für die nach dem Gesetz verfah­ rende Exekutive sowie die Judikative. 205  Kant, Theorie und Praxis, S. 297–305: Jeder positive (wirkliche) Staat ist an Freiheit und Gleichheit gebunden (siehe auch A.II.2.–4.). Siehe auch Kant, § 49 MdS, allgem. Anm. C, S. 327–328. 206  Kant, Theorie und Praxis, S. 297; derselbe § 43 MdS. 207  „Gemeines Wesen“ ist hier ein normativer Begriff, nämlich Zusammensein aller Menschen im Staate unter Rechtsgesetzen, in welchem jede Person bzw. jeder Wille repräsentiert ist, siehe Kant, Theorie und Praxis, S. 298 ff. Die damit verbun­ dene Rückbindung des Staates an das Recht jeder Person ist im heutzutage oft (und oft unreflektiert) verwendeten Terminus der „Allgemeininteressen“ nicht notwendig enthalten.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

dikative und Exekutive). Die entwickelten Grundlagen müssen dem wirk­ lichen Staat stets als Richtschnur dienen208. Diese Rückbindung gilt demnach selbstverständlich auch für die Abgren­ zung von Ethik und striktem Recht (für die Unterscheidung von Moralität und Legalität, siehe A.II.3.). Das bedeutet, dass nur Rechtspflichtverletzun­ gen, also äußere Überschreitungen der eigenen (rechtlichen) Handlungs­ sphäre im Verhältnis zum anderen, eine Zwangsbefugnis gegen den Über­ schreitenden begründen (Notwehr- bzw. Notwehrhilferechte, §§ D, E MdS; zum „Defensivnotstand“ siehe noch unten B.V.3.). Eine – nach diesem Kriterium mögliche – Einsichtigkeit des vom positiven Recht ausgeübten Zwangs bzw. der demgemäß stattfindenden Gewalt sei stets notwendig, an­ sonsten fände eine Schikane der Bürger statt209. Staatliche vermeintliche Sittenwächter, die bloß-ethische Pflichterfüllung durch Zwang (vermeintli­ che Rechtsgesetze) erreichen wollten, verhielten sich direkt-widersprüchlich und erschwerten die Verwirklichung ethischen Verhaltens (wenn sie sie nicht gar unmöglich machten). Jeder wirkliche Gesetzgeber müsse seine 208  § 45 MdS. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die derzeitige BVerfG-Dog­ matik der „mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“, nach der Grundrechte primär im Verhältnis Bürger – Staat als „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“ ge­ dacht werden und nur sekundär bzw. mittelbar „im Verhältnis der Bürger wirken“ (dazu etwa BVerfGE 7, 198), demnach als rechtsbegrifflich-verfehlt gekennzeichnet werden müsste. Im Ergebnis mag sich diese – jedenfalls dogmatische – Differenz der Gedankengänge nicht besonders auswirken, weil das BVerfG annimmt, dass „grundrechtliche Wertesystem“ bzw. die im Grundgesetz verkörperte „objektive Wertordnung“ beeinflusse das einfache Recht und die demnach gefällten konkreten Urteile betreffend die Personen zueinander. Aber der Unterschied zwischen diesen Sichtweisen bezüglich des rechtlichen Verhältnisses der einzelnen Menschen als Personen zueinander und zum Staat ist schon erstaunlich. 209  Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang I., S. 377 ff. Rechtswahrung (Wahrung des äußeren rechtlichen Verhältnisses zum anderen) ist stets unbedingte Pflicht und ethisches Handeln ist nur unter dieser Bedingung möglich. Kant nennt als Beispiele der Grenze zwischen Ethik und Recht etwa die Religionsfreiheit bei einem lediglich „negativen Recht“ des Staates, „den Einfluss der öffentlichen Lehrer auf das sicht­ bare politische gemeine Wesen, der der öffentlichen Ruhe nachteilig sein möchte, abzuhalten, … welches ein Recht der Polizei ist …“, MdS, Anm. C zu § 49, S. 327, 328. Das „böse Beispiel“, das eine Person einer anderen selbständigen Person gebe, sei keine Läsion dieser Person (Kant, Zum ewigen Frieden, 5. Präliminarartikel). Insofern ist Kants Annahme (MdS, Anm. B zu § 49), es läge bei öffentlichem bloß ethisch verwerflichen oder anstößigen Verhalten schon Ordnungsunrecht (Ordnungs­ widrigkeit) vor, dessen Vermeidung auch die Abstumpfung des moralischen Sinns vermeiden solle, in dieser Abstraktheit grenzwertig. Allerdings kann bzw. muss das von Kant dort beispielhaft genannte öffentliche Verhalten („öffentliche Wollust“, „Lärmen auf Straßen“) als unzulässiger Sondergebrauch allgemeiner öffentlicher Plätze angesehen werden – insoweit ist die Bejahung von Ordnungswidrigkeiten diesbezüglich zutreffend und nicht auf das vermeintliche Zusatzargument der Ab­ stumpfungsvermeidung angewiesen.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz135

ideelle Rückgebundenheit bloß an das rechtliche Grundverhältnis berück­ sichtigen, was auch heiße, sich darauf zu beschränken. Auch die Glückssuche der Bürger, die individuell verschieden sei, gehe den Staat unmittelbar nichts an; Glücksmaximierung könne rechtlich nicht Ziel und Maßstab des Staatshandelns sein („… im Recht … allein ist die Vereinigung der Zwecke aller möglich“210). Die Menschen seien primär nur nach der Rechtsidee zu behandeln und nicht etwa nach (vermeintlichen) Klugheitsregeln „in Ordnung zu halten“. Zwangsweise durchsetzbare Rechtsgesetze (striktes Recht) können demnach also primär weder bezwe­ cken, eine moralische Besserung der Bürger zu erzielen, noch diese glück­ lich zu machen. Ansonsten fände ein „salto mortale“ statt, sodass es eigent­ lich nicht mehr um Recht ginge (Theorie und Praxis, S. 306). Pflichttheorie darf bzw. kann in Umsetzung generell nicht auf Erfahrung bedingt werden. Eine väterlich-bevormundende Regierung, die die Staats­ bürger als Kinder sieht, wäre die „am meisten despotische“ (§ 49 MdS und Theorie und Praxis, S. 290, 291). Wenn sie versuchte, den Untertanen vor­ zuschreiben, wie diese glücklich sein sollen, sei dies „der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)“. Das „Heil des Staates“ heißt nicht „das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit …, denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustand oder auch unter einer des­ potischen Regierung viel behaglicher und erwünschter ausfallen, sondern der Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien … als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kate­ gorischen Imperativ verbindlich macht …“ (Ende § 49 MdS). Auch fürsorg­ liches Staatshandeln ohne Anbindung am rechtlichen Grundverhältnis ist demnach illegitim211.

210  Kant,

Zum ewigen Frieden, Anhang II., S. 385–386. auch Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang I., S. 377 ff. Man mag an dieser Stelle überlegen, wie diskutierte oder teilweise umgesetzte Gesetzgebungsvor­ schläge, etwa ein Rauchverbot in privaten, lediglich inhabergeführten Gaststätten oder ein (der Intention bestimmter populistischer Politiker nach sogar strafbewehr­ tes) Verbot der Herstellung oder gar der privaten Verwendung bestimmter fiktionaler Videospiele (sogen. „Killerspiele“) durch vollverantwortliche Bürger demnach zu beurteilen sind. Auch sogen. Pflichtversicherungen bloß zur Selbstvorsorge (Kran­ kenversicherungspflicht oder auch Renteneinzahlungspflicht, siehe auch Fn. 167) sind demnach zumindest bezüglich volljähriger mündiger Bürger rechtlich-zweifel­ haft. Zwar kann Ethik öffentlich gelehrt werden (Kant, Theorie und Praxis, S. 288), aber eine auf Einsicht bzw. Einsehbarkeit (auch des Zwanges als Rechtszwang) aufbauende Pflichtkonzeption kann selbstverständlich nicht gegen die Theorie um­ gesetzt werden (ein solcher Versuch wäre evident absurd). 211  Siehe

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Abschließend bleibt anzumerken, dass, obwohl der Staat in seinem Han­ deln notwendig an das rechtliche (vorpositive) Grundverhältnis rückgebun­ den ist, es trotzdem nach Kant bei Nichterfüllung dieser Staatspflicht kein Gewaltwiderstandsrecht der Bürger gegen Staatshandeln geben kann212: Das Eintreten in den Staat, d. h. die Unterwerfung unter bzw. die Anerkennung von allgemeinen Instanzen zu verbindlichen Entscheidungen erfolgt gerade, um Rechtsverwirklichung über den Konfliktfall hinaus zu ermöglichen (sie­ he oben A.II.5.). Insofern wäre es ein Widerspruch, sich selbst vorzubehal­ ten, das Recht allgemeinverbindlich (notfalls) gewaltsam durchzusetzen auch gegenüber der gerade für diese Aufgabe (ideell) eingesetzten Instanz (letztlich dem Staat selbst)213. Dieses Gewaltwiderstandsverbot steht aller­ dings neben dem rechtlichen Verbot der Beteiligung an rechtswidrigem Staatshandeln214. Zwar besteht demnach also kein Zwangsrecht des Bürgers gegen rechtswidriges Staatshandeln, aber – explizit gegen Hobbes – kom­ men den Menschen als Bürgern im Staat bleibende, nicht relativ beliebig umdefinierbare Rechte zu. Auch bleibt es dem Bürger ungenommen, ein für 212  Kant, MdS, § 49 Allgem. Anmerkung A und Theorie und Praxis, S. 298 ff. („nie aber wörtlicher oder tätlicher Widerstand“ soll heißen: Kein Aufruf zur Gewalt und erst recht keine Gewaltanwendung; das Ansprechen eines möglichen Unrechts­ handelns des Staates steht dem Bürger nach Kant hingegen stets zu, siehe oben und Fn. 215) und derselbe, Zum ewigen Frieden, Anhang II., S. 382. 213  Kant, Fn. 212 und Zum ewigen Frieden, Anhang II., S. 382. Die rigoros vor­ getragene Ablehnung eines Gewaltwiderstandsrechts, die sicherlich auch mitbeein­ flusst war durch Kants ambivalente Eindrücke der französischen Revolution („… die Republik in ihrem Werden ist die Büchse der Pandora, auf ihrem Boden sitzt die Hoffnung … Sie zu beginnen ist Frevel. Wenn aber das Schicksal sie herbeiführt, ist es ein noch größerer, ihm nicht zu folgen …“, Kant, Reflexionen II., S. 247), hat ihm viel Kritik eingebracht: Gibt es, auch wenn das obige logische Argument zu­ treffend ist, denn nicht doch eine Grenze des Gewaltwiderstandsverbotes? Eine all­ gemeingültige Antwort auf diese Frage – also eine allgemeingültig-abstrakte, aber konkretisierbare Formulierung dieser Grenze – ist allerdings schwierig. Einfacher fällt die Kritik an Kants empiristischer und zeitbedingter Argumentation über die höchste Gewalt (Zum ewigen Frieden, S. 382), aus der auch folgen soll, dass ein ehemaliges Staatsoberhaupt nach Absetzung nicht zur Verantwortung gezogen wer­ den können soll: Dies ist zwar unbestreitbar richtig, heißt doch aber nicht, dass der Mensch, der ehemals das Staatsoberhaupt vorstellte, nicht wegen schwerer (vorsätz­ licher) Pflichtverletzungen nach vorher formulierten Gesetzen und einem feststehenden rechtlichen Verfahren zur Verantwortung gezogen werden könnte. Denn: Das Recht ist ideell selbstherrschend und hängt an keiner bestimmten Person. 214  Kant, MdS, Einteilung der Rechtspflichten, S. 236, 237: „2. Tue niemandem Unrecht (neminem laede), und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit anderen herausgehen und alle Gesellschaft meiden müssen (lex iuridica) … 3. Tritt (wenn du letzteres nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit anderen, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann …“. Ein quasi „passives Wider­ standsrecht“ – sich nicht, auch nicht durch den Staat, zu rechtswidrigem Handeln einspannen zu lassen – ist darin impliziert.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz137

unrechtmäßig gehaltenes Staatshandeln unterziehen215. Diese Meinungsfreiheit der Aufstellung einer auf Prinzipien Staatstheorie, „ohne Einstimmung mit in Anspruch.

öffentlich einer sachlichen Kritik zu nahm Kant selbst mit dem Versuch a priori gegründeten Rechts- und welcher keine Praxis gültig“ sei216,

7. Konsequenzen betreffend die Möglichkeit und den etwaigen Inhalt von Notstandsrechten Kant selbst hat keine (vollständige) Theorie über Möglichkeit und etwai­ gen Inhalt von Notstandsrechten entwickelt. Kurze explizite Ausführungen oder Stellungnahmen dazu finden sich in der MdS und eher fragmentarische oder bloß beispielhafte Anmerkungen in anderen Texten (etwa in Reflexio­ nen zur MdS). Darüber hinaus finden sich einige Passagen, in denen Kant der Sache nach über ein Notrecht schreibt, ohne diesen Terminus zu ver­ wenden. In der Sekundärliteratur ist manches davon zwar einzeln, kaum aber alles zusammengenommen betrachtet worden. Es gibt zwar einige Auseinandersetzungen mit der kantischen Notrechtsauffassung, die versu­ chen, den Gang des kantischen Überlegungsprozesses diesbezüglich über den Lauf der Jahre nachzuzeichnen, ohne allerdings die Bruchstücke zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzusetzen217. Mutmaßungen über Ver­ 215  Kant, Theorie und Praxis, S. 304. Der von Kant zum Ausdruck dessen ver­ wendete Terminus, die „Freiheit der Feder“ sei „das einzige Palladium der Volks­ rechte“ ist bei wortwörtlichem Verständnis zu eng. Weshalb mündliche Stellungnah­ men unzulässig sein sollten, wenn schriftliche Äußerungen zulässig sind, wäre schlichtweg uneinsehbar (so eng war es sicher nicht gemeint). Zumindest heutzutage wird wohl auch eine durch Verfassung und einfaches Gesetz garantierte Rechtsschutzmöglichkeit zumindest gegen Exekutivakte (teilweise mit Suspensiveffekt) als wesentlicher Bestandteil eines Rechtsstaates angesehen. Solche gegebenen Möglich­ keiten sind Annäherungen an den „Staat in der Idee“, wie er nach reinen Rechtsprin­ zipien sein soll. 216  Kant, Theorie und Praxis, II., S. 306. 217  Siehe etwa Busch, Kants Rechtsphilosophie, S. 150 ff. Auch Reinhard Brand (Erlaubnisgesetz, S. 244 ff.) beschäftigt sich v. a. mit Reflexionen Kants darüber, dass faktisch-unabänderliche, nicht durchgängig rechtliche Gewalt zur Staatsbegründung der Rechtsverwirklichung faktisch vorangehen könne bzw. sogar meist gegan­ gen sei oder gehen werde. Was von diesen fragmentarischen Stellungnahmen Kants später übrig blieb, findet sich in § 49 MdS (allgem. Anm. A, S. 318 ff.), § 52 MdS und in Zum ewigen Frieden, S. 347. Knapp gesagt geht es dabei bloß um die Not­ wendigkeit, bei der Umsetzung der Rechtsidee bzw. -theorie wirkliche Verhältnisse in einem Staat (bzw. im internationalen Staatenverhältnis) als einen – und sei es defizitären, vorläufigen – Rechtszustand zu akzeptieren und vom jeweiligen status quo ausgehend an einer kontinuierlichen, gewaltlosen Reform in Richtung auf den „Staat in der Idee“ (bzw., was das internationale Verhältnis betrifft, auch auf ein Staatenrecht in der Idee) zu arbeiten, anstatt etwa einen revolutionären gewaltsamen

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lauf und Wandel des kantischen Gedankenganges zu dieser Frage interessie­ ren hier weniger. Hier soll lediglich das festgehalten werden, was Kant ab etwa 1790 als sichere Erkenntnis in der Notstandsrechtsfrage zu haben glaubte (eine vollständige formulierte Theorie kam dabei, wie gesagt, nicht mehr heraus). a) Kants Verneinung bestimmter Güter als einem Notstandszugriff zugänglich Ein Notstandsrecht in Lebensnot zur Tötung eines anderen Menschen, der keinen rechtswidrigen Angriff durchführt, ist nach Kant jedenfalls nicht gegeben – auch nicht bei Erforderlichkeit zur Rettung des eigenen Lebens. Eine solche Tat sei rechtlich-unmöglich. Im mit „Das Notrecht“ überschrie­ benen Abschnitt in der MdS grenzt Kant das nach seinem Ansatz mit dem Begriff des Rechts notwendig (a priori) verbundene Notwehrrecht (siehe A.II.3.) gegen eine rechtswidrig angreifende Person strikt ab gegen ein nur „vermeintes Recht … im Falle der Gefahr des Verlustes meines eigenen Lebens einem anderen, der mir nichts zuleide tat, das Leben zu nehmen“. Letztgenannte Tat sei rechtswidrig, auch wenn der Täter nicht zu bestrafen sei (diese Unstrafbarkeit beruht auf dem konkret entschuldigend wirkenden Notstand, sodass „vor Gericht Nachsicht“ erlangt werden könne). Wer eine solche Tat aber für rechtmäßig halte, dem unterlaufe eine „wunderliche Verwechslung“ von subjektiver Straflosigkeit218 mit objektiver Gesetzmä­ Neuanfang der Staatsgründung (bzw. der Staatenrechtsverhältnisse) zu versuchen oder zu fordern (was verallgemeinert dauerhafte Rechtsverwirklichung unmöglich machte). Für die Frage nach der Möglichkeit und dem etwaigen Inhalt eines allge­ meinen interpersonalen vorpositiven und dann u. U. staatlich anzuerkennenden Not­ standsrechts sind diese allgemeinen Rechtsverwirklichungs- bzw. Ideeumsetzungs­ vorgaben Kants, auch wenn dieser in den von Brandt herangezogenen Reflexionen mehrfach das Wort „Not“ verwendet, völlig irrelevant. 218  Kants in der MdS (S. 235–236) gegebene Begründung dieser „subjektiven Straflosigkeit“ ist innerhalb seines Systems missverständlich: Bestraft werden könne der Tötende deshalb nicht, weil „die durchs Gesetz angedrohte Strafe … nicht grö­ ßer sein“ könne, als „die des Verlustes des Lebens“. So könne ein Strafgesetz, das einem in Lebensnot Tötenden den Tod androhe, „die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben“. Unbefangen gelesen stehen diese Ausführungen in direktem Wider­ spruch zu Kants (ebenfalls unvollständiger, fragmentarischer) Straftheorie (wenn man denn trotz des fragmentarischen Charakters von „Theorie“ sprechen kann): Demnach ist jemand nur deshalb zu bestrafen, „weil er verbrochen hat“. Er müsse „vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe eini­ gen Nutzen für ihn selbst oder einen Mitbürger zu ziehen“, Kant, MdS, § 49, allg. Anm. E, S. 331–332. Demnach kann also rechtlich nicht Prävention (irgendein Nut­ zen durch Übelvermeidung) der primäre Grund eines Strafgesetzes sein – dieses kann keinen präventiven Zweck haben („beabsichtigen“). Diese vermeintlich-wider­



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ßigkeit; darin sei „ein Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst“ enthal­ ten. Diese Rechtswidrigkeitsbehauptung bezüglich einer solchen Notstands­ tat pointiert Kant mit der tautologischen Aussage, es könne „keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte“219. Kant bildet zur Verdeutlichung einer solchen Notstandssituation das Bei­ spiel zweier Schiffbrüchiger, von denen einer den mit ihm „in gleicher Lebensgefahr“ schwebenden anderen von dem Brett stößt, worauf dieser sich gerettet hat, um sich selbst zu retten220. Das ist so zu verstehen, dass der Weggestoßene das Brett, welches nur einen tragen kann, vor dem anderen oder (theoretisch) zeitgleich mit diesem erreicht hat bzw. erreicht. In früheren Stellungnahmen Kants zu dieser besonderen Notstandskonstellation wird deutlich, dass nach Kants Auffassung der das Brett zuerst physisch Erreichende dieses zum Gebrauch rechtlich erwirbt – weshalb der Zweite beim den lebensrettenden Gebrauch des Ersten bedrohenden Zugriff zum rechtswidrig Angreifenden wird: Der später Zugreifende habe kein Recht zur Besitznahme, „weil eben der zu Depossedierende schon im Besitz war, wodurch er sein Leben schützt: die Not des anderen kann nie ein Zwangs­ recht geben, insofern der Grund der Handlung nicht schon vorher auf einem rechtsgültigen Zwangsrecht beruht; denn sonst würde der andere eben das Zwangsrecht haben müssen und dies ist unmöglich“221. sprüchlichen Ausführungen in der MdS sind allerdings inhaltlich dann konsistent, wenn man den Grund der Unstrafbarkeit des im Lebensnotstand Tötenden als Fehlen einer materiellen Strafbarkeitsvoraussetzung – und zwar der Schuld – ausweisen kann. Insofern ist das Heranziehen eines „Strafgesetzes“ im Notrechtskapitel durch Kant bloß im Sinne einer Analogie (als ob eine rechtswidrige Nottat eines am Erhalt seiner Güter Interessierten notwendig eine dem im begangenen Unrecht enthaltenen empirischen Übel entsprechende Einbuße bei sich selbst zur Folge hätte) zu verste­ hen, um so einen Indikator des Schuldmaßes bzw. ein Maß normativer – nicht nur psychologischer – Verständlichkeit zu gewinnen. So war es von Kant wohl dort gemeint. Andernfalls stünde tatsächlich, wie Janka schreibt, die Annahme einer „schuldvoll strafbefreiten Tat“ zur „absoluten Strafe in offener Empörung“, und es müsste, „sollte die Notstandshandlung aus der eisernen Umklammerung des katego­ rischen Imperativs (gemeint ist hier wohl der konkrete Imperativ für Staatshandeln: Wer verbrochen hat, ist zu bestrafen; G. H.) befreit werden, … dieser vorher in Trümmer zerschlagen werden“, Janka, Notstand, S. 88. Eine faire Interpretation kann kaum davon ausgehen, Kant sei hier innerhalb eines Werkes ein solcher direk­ ter Widerspruch unterlaufen. Janka nahm dies aber anscheinend an und glaubte demgemäß, Kant habe sich „mit seinem Notstande offenbar selbst in einer Notlage“ befunden (a. a. O., S.  88). 219  Kant, MdS, Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre, S. 235–236. 220  Dieser oft normativ beurteilte Sachverhalt geht evtl. auf den Griechen Kar­ neades (214–129 v. Chr.) oder auf noch frühere Schriftsteller zurück, siehe Angaben diesbezüglich bei Küper, FS-Wolff, 285(298). 221  Vigilantius-Mitschrift, AA Band 27, 516. Ganz offensichtlich wäre der Erwerb einer (lebensrettenden) rechtlichen Gebrauchsbefugnis bezüglich des Brettes seitens

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Für den später oder (theoretisch) zeitgleich Zugreifenden komme ein Notrecht zur Tötung nicht in Frage, weil der andere kein rechtswidrig An­ greifender ist. Er ist demnach rechtlich verpflichtet, sowohl das Wegstoßen des anderen vom Brett, als auch einen den rettenden Gebrauch des Brettes seitens des anderen unmöglich machenden Zugriff darauf zu unterlassen222. Die Erhaltung des eigenen Lebens sei keine Rechtspflicht, sondern als Pflicht nur gegen sich selbst eine Tugendpflicht, welche zumindest bedingt sei darauf, dass der Lebenserhalt „ohne Verbrechen geschehen kann“223. Der Erstzugreifende (rechtliche Besitzer) habe ein Notwehrrecht gegen den des später Zugreifenden nach Kant allerdings dann nicht ausgeschlossen, wenn das Brett auch diesen tragen könnte. In genannter Vorlesungsmitschrift findet sich eine – wie Reinhard Brandt meint – gegenüber den Ausführungen in MdS abweichende Beurteilung der Situation, dass noch keiner im empirischen und deshalb auch nicht im rechtlichen Besitz des Brettes ist (Brandt, Erlaubnisgesetz, S. 245): Hier müsse, so Kant in der Vorlesung, Gewalt zulässig sein, „um dadurch ein Recht zur Erhal­ tung des Lebens zu stiften …“ (S. 516). Genau genommen wird diese Situation in MdS zwar nicht explizit beurteilt („… worauf dieser sich gerettet hat …“). Sachlich liegt Brandt aber richtig mit seiner Einschätzung, dass Kants spätere Auffassung diesbezüglich eine andere war. Ich werde eine Theorie des Notstandsrechts vorstel­ len, von der ich behaupte, dass sie dunkel den späteren kantischen fragmentarischen Stellungnahmen zum Grunde lag. Danach wird der Grund der Positionsänderung Kants bezüglich dieses Punktes ersichtlich oder wenigstens begründet mutmaßbar sein (siehe dazu B.III.1.). 222  Insofern formuliert Küper widersprüchlich, wenn er schreibt, Kant habe, in­ dem er die Notstandstötung für rechtswidrig aber straflos gehalten habe (worunter auch Küper eine Zuordnung zum entschuldigenden Notstand versteht) ein „Notrecht“ als „Recht im weiteren Sinne (ius latum)“ anerkannt, durch welches eine an sich „sträfliche“ Nottat „in der Praxis eine als Recht anerkennbare Bedeutung gewinnen“ könne (Küper, JZ 2005, 108 und Notrecht in Kants Rechtslehre, S. 49 ff.). Denn Küper spielt hier in missverständlicher Weise mit einer von Kant in der MdS kriti­ sierten und überhaupt logisch zu kritisierenden Äquivokation: Es ergibt keinen Sinn, ein Recht zu einer Unrechtstat anzunehmen. Zwar mag es richtig sein zu sagen, jemand habe einen Rechtsanspruch darauf, dass bei der strafrechtlichen Aburteilung seiner Unrechtstat berücksichtigt werde, dass diese Tat in einer und motiviert durch eine extreme Notlage begangen wurde. Dies ist jedoch gerade kein „Notrecht“ im Sinne einer interpersonalen rechtlichen Not-Sonderbefugnis, sondern setzt deren Fehlen voraus. In einer Fußnote von „Theorie und Praxis“ (1793) formulierte Kant allerdings selbst noch ähnlich verfehlt mit der Verwendung des Terminus der „recht­ lichen Befugnis“ einer Nothilfe, um auszudrücken, dass eine solche Tat rechtswidrig, aber straflos sei. Auch der Satz, es gebe keinen Fall der Not, außer wenn unbeding­ te und bedingte Pflichten „gegeneinander streiten“ (alles in Theorie und Praxis, S. 300), enthält eine Ungereimtheit, wie Kant später selbst feststellt: Es kann keine „Pflichtenkollision“ geben, denn „zwei einander entgegengesetzte Regeln können nicht zugleich notwendig sein“, Kant, MdS, S. 223–224. Ein „Streit“ zwischen Pflichten ist gerade wegen der Bedingtheit der einen der die Pflichten vorstellenden Verhaltensregeln (zumindest) auf die Einhaltung der anderen logisch-ausgeschlossen. Deshalb kann man nicht zu zwei sich konkret wechselseitig-ausschließenden Verhal­ tensweisen zugleich verpflichtet sein.



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zweiten, denn dieser greife ihn durch seinen Zugriff auf das Brett rechts­ widrig an. Verneint hat Kant auch eine Befugnis, bei bloß wirtschaftlicher Not auf Eigentum anderer zuzugreifen: Jemand, der ohne sein Verschulden im „gänz­ lichen Verfall seiner Glückumstände“ und mit einer „durch Mangel niederge­ drückten Familie“ ein ihm anvertrautes, wertvolles Gut behalte (unterschla­ ge), begehe Unrecht, selbst wenn er sich und seine Familie durch das Behal­ ten (Zueignen) des Gutes sofort aus dieser Not (den „bedrängten Umstän­ den“) ziehen könnte. Zwar müsse von Rechts wegen eine Chancengleichheit in dem Sinne gewährleistet werden, dass Jeder sich vom jeweiligen status quo aus nach seinem „Talent, … Fleiß“ und auch Glück emporarbeiten könne und nicht von anderen etwa durch ein „erbliches Prärogativ“ niedrig gehalten werde. Aber große Differenzen hinsichtlich der Menge an „Glücksgütern“ – etwa große Unterschiede von „Menge und Graden ihres Besitztums“ und auch körperliche oder geistige Über- bzw. Unterlegenheiten – könnten durch­ aus konform sein mit einer rechtlichen Gleichheit aller Bürger224. Auch allgemeine Hilfspflichten als Rechtspflichten begründet die beson­ dere zufällige Not einer Person nach Kant nicht: Einem anderen durch Rat oder Tat in der Not zu helfen sei zwar ethisch geboten, aber nicht rechtlich geschuldet (sondern verdienstlich)225. Eine – im Falle der Unterlassung zwangsweise durchsetzbare – rechtliche Befugnis zur Bestimmung der Will­ kür eines anderen zur Hilfeleistung entsteht durch eine Notsituation nach Kants Auffassung also nicht226. Hier spiegelt sich wider, was Kant zum 223  Kant, Theorie und Praxis, S. 300. Es sei „… die Erhaltung des Lebens nicht die höchste Pflicht, sondern man muss oft das Leben aufgeben, um ehrenwert gelebt zu haben, … und obgleich die Juristen sagen, dass die Erhaltung des Lebens die größte Pflicht ist und dass man in casu necessitatis verbunden sei, für sein Leben zu stehen, so gehört die Sache gar nicht vor die Jurisprudenz, die soll nur die schuldigen Pflichten gegen andere entscheiden, aber nicht die Pflichten gegen sich selbst …“, Vorlesungsmitschriften von Mrongovius, AA 27, 1505 ff. (1509). Auch Kant, Moralphilosophie, AA XIX., S. 268: „Wenn ich nicht länger als ehrlicher Mensch leben kann, so kann ich nicht länger leben … Das Leben ist an sich nicht ein Gut, sondern sofern man dessen würdig ist“. 224  Kant, Theorie und Praxis, S. 286, 287 und S. 291, 292. 225  Kant, MdS, TL, §§ 30, 31: Obwohl es „nicht von selbst in die Augen“ falle, dass ein Gesetz, anderen Menschen wohlzutun, „überhaupt in der Vernunft liege“, sondern „die Maxime: Ein jeder für sich, Gott (das Schicksal) für uns alle“ die „natürlichste zu sein“ scheine, sei es ethische Pflicht („verdienstliche Pflicht“), „an­ deren Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit … beförderlich zu sein“. Siehe auch GMS, 2. Abschnitt, S. 423, 424 und MdS, Einleitung Rechtslehre IV., S. 227– 228: Verdienst sei „z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Not rette“. 226  Kühl beschäftigt sich in FS-Hirsch, S. 268 ff., mit Versuchen der argumentati­ ven Begründung bzw. Herleitung einer (ethischen) Hilfspflicht in Notfällen: Er meint

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Privatrechtserwerb im Hinblick auf personale Leistungen ausgeführt hat (siehe A.II.4.b)): Ein rechtlicher Anspruch auf personale Leistungen könne (abgesehen von einseitig erzeugten Sonderschuldverbindungen im Familien­ verhältnis) lediglich vertraglich erworben werden: „Die Erwerbung eines persönlichen Rechts … gegen eine bestimmte physische Person und zwar auf ihre Kausalität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten …“, „kann niemals ursprünglich … sein“, sondern ist stets vom Willen des jeweils anderen abzuleiten („… der Akt der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des einen auf den anderen übergeht, ist der Vertrag …“, § 18 MdS). Die Ablehnung eines Gewalt-Widerstandsrechts gegen rechtswidriges Staatshandeln seitens Kant ist schon erwähnt worden (A.II.6.). Dies braucht hier nicht weiter zu interessieren, da es sich dabei materiell um eine Be­ schränkung des dem Grunde nach (siehe oben A.II.3. und §§ D, E MdS) an sich gegebenen Notwehrrechts gegen rechtswidrige Akte handelt, welche wegen der Bedeutung und Funktion des Staates als allgemein-verbindlicher Rechtsdurchsetzungsinstanz insoweit notwendig sei (siehe dazu oben A.II.6.). Für die Frage nach einer Not-Befugnis zum Zugriff auf Güter von an der Notlagenentstehung Unbeteiligten ist dieser Punkt irrelevant (siehe auch Fn. 217). b) Die Bejahung bestimmter Notstandsrechte durch Kant Manche Autoren glauben, aus den vorgenannten Stellungnahmen Kants oder auch schon aus einer dieser Stellungnahmen die Annahme ableiten zu können, Kant habe ein Notstandsrecht überhaupt verneint: Küper etwa meint, es werde von Kant „nach der Logik des Gedankenganges … ein Notrecht ausnahmslos und nicht allein für die angesprochene Konstellation des Lebensnotstandes zurückgewiesen“. Kühl schreibt, Kant erkenne keinen rechtfertigenden Notstand an – „zumindest für die Kollision Leben mit Leben ist dies eindeutig, aber der Begründung nach gilt dies auch für die abschließend, eine „solidarische Hilfspflicht in Notfällen“ werde „unter Moralphilo­ sophen“ nahezu einheitlich anerkannt, wobei er dann offen lässt, ob es sich dabei auch um eine Rechtspflicht handeln könne. Eine solche bedürfe jedenfalls „zusätz­ licher Voraussetzungen“ (S. 274, 275). Für unser Thema – die Frage nach einem Notstandsrecht etwa auch auf die Willkür eines anderen zur Tat – kommt es jedoch genau auf diesen Punkt an. Auch Kühl wollte eigentlich zur Klärung der Begriffe „Freiheit und Solidarität bei den Notrechten“ beitragen, was ihm allein schon wegen der Unterlassung einer klaren und einsichtigen Differenzierung von nur-ethischen und auch-rechtlichen Pflichten nicht wirklich gelingen konnte. Die kantische Posi­ tion diesbezüglich ist eindeutig, nämlich eine ethische Pflicht bejahend, eine Rechts­ pflicht ablehnend (siehe oben).



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Kollision eine höherwertigen mit einem minderwertigen Rechtsgut, denn auch hier bleibt die Frage, wie die Not zu Recht machen kann, was Unrecht ist“227. Auch abgesehen von den Unsauberkeiten in den Ausführungen Kühls228 sind diese pauschalen Behauptungen inhaltlich unzutreffend: Im Folgenden sollen bejahende Notrechtsbehauptungen Kants dargestellt werden, die den genannten, ablehnenden (bloß fallbezogenen) Stellungnahmen inhaltlich nicht widersprechen, aber deutlich machen, dass die pauschalen Verallge­ meinerungen Küpers und Kühls nicht zulässig sind. Im dritten Definitivartikel der Schrift „Zum ewigen Frieden“ über das „Weltbürgerrecht“ bejaht Kant in einem kurzen Einschub eindeutig ein Not­ standsrecht: Jeder Mensch habe ein „Besuchsrecht“ als ein Recht, sich an­ deren Menschen auch in fremden Staaten „zur Gesellschaft anzubieten“ und allein deshalb (Betreten des „Bodens eines anderen“) „von diesen nicht feindselig behandelt zu werden“. Der Rechtsgrund dieser Besuchsbefugnis sei das Recht „des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, son­ dern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht als der andere“ ha­ be229. Der fremde Bodeninhaber könne das Angebot ausschlagen und den Ankömmling „abweisen“ – letzteres allerdings nur, „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann“. Dasselbe anders ausgedrückt: Kein Ankömm­ ling kann vom Boden eines anderen rechtlich-wirksam abgewiesen und notfalls zwangsweise entfernt werden, wenn dies seinen „Untergang“ als Person bedeuten würde. Das heißt nichts anderes als: Jedermann hat das Recht des Zugriffs auf den Boden eines anderen (Aufenthalt), wenn und soweit er zum Selbsterhalt auf der Welt auf diesen Boden angewiesen ist. Das ist ein Notstandsrecht230. Im Sinne heutiger Strafrechtdogmatik heißt 227  Küper, FS-Wolff, S.  288 und Kühl, FS-Lenckner, S. 146 und FS-Hirsch, S. 265. 228  Unrecht ist Unrecht – die Frage wäre, ob in einer Notsituation eine auf diese Situation reagierende Handlung erlaubt sein kann, während sie ohne die Not uner­ laubt ist. Im Übrigen können nach der kantischen Konzeption nicht „Rechtgüter“ kollidieren, denn es können nicht einander widersprechende Handlungsbefugnisse unterschiedlicher Personen zugleich bestehen (dazu A.II.3.). 229  Kant, Zum ewigen Frieden, 3. Definitivartikel. Der Terminus des „Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes“ enthält, wenn man Besitz im kantischen Sinne als „intelligible“ (rechtliche) Zuordnung versteht, eine Tautologie, die wohl nur verdeut­ lichen soll, dass es hier um eine rechtliche Zuordnung (Zustehensbeziehung) und nicht bloß um gemeinsame faktische Anwesenheit geht. 230  Jedenfalls wenn man mit „Notstandsrecht“ meint, dass eine (in bestimmter Weise qualifizierte und) aus der Perspektive des Betroffenen zufällige Notlage eine hinreichende Bedingung des rechtlichen Zugriffs dieser unmittelbar notbetroffenen

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das: Die Gebrauchsanmaßung hinsichtlich fremden Bodens bzw. das Betre­ ten des befriedeten Besitztums eines anderen231 kann auch nach Kant aufgrund Notstands gerechtfertigt sein. Irrelevant ist es insoweit, dass sich diese Ausführungen Kants in der Schrift zum internationalen Frieden (zum Staatenverhältnis) finden und das „Weltbürgerrecht“ betreffen: Das Weltbürgerrecht ist ein aus dem Grundver­ hältnis entwickeltes Recht zwischen Bürgern unterschiedlicher Staaten und zwischen Bürgern und Staaten; der von Kant gelieferte Grund des Besuchsund auch des Notstandsrechts, nämlich der ursprünglich-gemeinschaftliche rechtliche Besitz des Erdbodens hat seinen Platz im Systemaufbau (in der Herleitung) im notwendig-vorstaatlich bzw. abstrahiert von staatlichen Ver­ hältnissen zu denkenden Privatrecht (siehe dazu A.II.4.b)). Volker Gerhardt formuliert unsauber, wenn er schreibt, jeder Mensch, „ganz gleich woher er kommt und welche Ziele er verfolgt“, habe nach dem Weltbürgerrecht gegen die Regierung eines anderen Landes einen „positiven Anspruch … auf befristete Duldung, Unterstützung und Schutz“. Von Un­ terstützungs- und Schutzansprüchen ist im dritten Definitivartikel nicht die Rede. Es ist nach der Herleitung des Weltbürgerrechts als allgemeinem, nicht-vertraglichen Besuchsrecht aus dem Gemeinbesitz des Erdbodens auch verfehlt, den Ausführungen Kants die Statuierung aktiver Unterstützungsund Schutzpflichten (Hilfspflichten) anderer als Rechtspflichten entnehmen zu wollen. Möglicherweise meint Gerhardt dies auch gar nicht. Was aber nach Kant sicher gegeben ist, ist die rechtliche Notwendigkeit einer zumin­ dest kurzzeitigen Duldung (Besuch zum Anbieten zur Gesellschaft), deren Dauer sich im Falle großer Not (Untergang bei Abweisung, also Bedrohung der personalen Selbständigkeit durch Lebens- oder schwere Leibesgefahr aufgrund äußerer Umstände) zeitlich ausdehnt. Wirtschaftliche Gründe (und sei es wirtschaftliche Not) allein berechtigen demnach allerdings nicht zum längerfristigen Bleiben232. Person auf ansonsten anderen Personen zustehende Güter ist, sofern die Notlage anders nicht abwendbar ist und obwohl die Notlagenentstehung auch aus der Pers­ pektive der dann von der Notstandstat betroffenen (anderen) Personen zufällig ist. 231  Angemerkt sei, dass allein das Betreten eines fremden Bodens, und sei es befriedetes Besitztum, ohne Verletzung einer besonderen Privatsphäre auch außer­ halb einer Notstandstandssituation nach diesen Überlegungen Kants zwar wohl als Gebrauchsanmaßungs-Unrecht, aber nicht als schweres (strafwürdiges) Unrecht an­ zusehen ist. Kritisch gegen eine – verbreitete – weite Auslegung des Hausfriedens­ bruchs-Straftatbestands (§ 123 StGB) auch Köhler, AT, S. 30. Tatbestände, die allein den unerlaubten Aufenthalt eines Ausländers im Staatsgebiet unter Strafe stellen (siehe § 95 Abs. 1 AufenthG), trifft diese Kritik erst recht. 232  Insoweit zutreffend Gerhardt, Kants Entwurf, S. 106. Ob man dieses Not­ standsrecht im internationalen Verhältnis „Asylrecht“ nennt oder nicht (Gerhardt möchte den Terminus anscheinend eher nicht verwenden, S. 106), ist vollkommen



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Ein solches Notstandsrecht zum Betreten von fremdem Boden erwähnt Kant (eher implizit) auch in § 17 MdS: Sachen auf meinem Boden gehören dann mir, „wenn sie sonst keines anderen sind“, ohne dass zu diesem Er­ werb ein besonderer Akt erforderlich wäre, weil sie als „der Substanz inhä­ rierende Akzidenzen betrachtet werden können“. Das Stranden von Menschen oder von Sachen anderer Personen am Ufer eines gewässeranliegenden Bodens kann aber „als unvorsätzlich von dem Strandeigentümer nicht zum Erwerbsrecht gezählt werden; weil es nicht Läsion (ja überhaupt kein Fak­ tum) ist, und die Sache, die auf einen Boden geraten ist, der doch irgend einem angehört, nicht als res nullius behandelt werden kann“. Für das hie­ sige Thema interessiert hieran vor allem das Stranden von Menschen auf fremdem Boden. Darunter fällt sowohl das passive Angespültwerden von Personen, als auch das aktive Sich-ans-Ufer-Retten von auf See verunglück­ ten Menschen: „Als unvorsätzlich“ bedeutet hier nicht etwa, dass Fälle ausgeschlossen werden sollen, in denen die Strandenden vorsätzlich ans Ufer schwimmen, sondern, dass Fälle gemeint sind, in denen die Notlage, aus welcher sich Personen retten, nicht durch diese vorsätzlich herbeigeführt wurde. Die Ausdrucksweise Kants ist gemessen an heutiger (sauberer) juris­ tischer Terminologie an dieser Stelle insoweit ungenau; das Gemeinte wird jedoch deutlich. Anzunehmen, Kant beziehe sich hier nur auf Fälle, in denen ohnmächtige oder sonst handlungsunfähige, aber noch lebendige Personen an fremdes Ufer gespült werden (also ohne diesen ihr Leben rettenden Pro­ zess auch nur verhindern zu können), wäre verfehlt. Auch der Satzteil „… weil es keine Läsion (ja überhaupt kein Faktum) ist …“ macht deutlich, dass beides gemeint ist: „Es“, das Stranden ist als Angespültwerden von handlungsunfähigen Personen und Sachen „überhaupt kein Faktum“ (kein Gemachtes), das aktive Sich-an-Land-Retten (etwa schwimmend) ist „keine Läsion“. Das heißt: Das Betreten fremden Bodens in Not (Gefahr für Leib oder Leben) als Mittel zur Rettung aus dieser Not ist rechtmäßig. Hier wird also wiederum eine Notstandsrechtfertigung der Gebrauchsanmaßung zu­ mindest bezüglich fremden Erdbodens in Fällen von Leibes- und Lebensnot von Kant bejaht. Möglicherweise hielten viele Leser dieser Passage (§ 17 MdS) ein solches Recht (eine solche Zugriffsbefugnis) für so selbstver­ ständlich, dass ihnen nicht einmal auffiel, dass es sich hier um eine bejahende Notrechtsbehauptung seitens Kant handelt233. irrelevant. Kleingeld spricht von Flüchtlingsrecht oder von Flüchtlingsrechten („re­ fugee rights“), Kant-Studien 2003, 302; vgl. noch Fn. 786. 233  Dass im Karneades-Beispiel die im Eigentum des ehemaligen Schiffseigentü­ mers befindliche Planke (wenn man denn nicht einen Eigentumsverlust hinsichtlich aller Schiffsmaterialien schon durch den Schiffbruch annimmt) dem Erstzugreifen­ den überhaupt zum rettenden Gebrauch zusteht, wird stets (auch von Kant) voraus­ gesetzt. Aber auch dies ist wohl ein Notstandsrecht (wenn das Dasein dieser Befug­

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Es bleibt also festzuhalten: Not kann nicht das, was Unrecht ist, gesetz­ mäßig machen (soweit ein banaler analytischer Zusammenhang). Aber an­ scheinend kann Notstand – begrenzt und noch offen nach welchem Prinzip genau – nach Kant bestimmte rechtliche Güterzuordnungen bzw. zumindest die Gebrauchsbefugnisse am Erdboden verändern, sodass im Notstand im­ merhin einiges Recht ist, was sonst (ohne die besondere Not) Unrecht wäre. Welches Prinzip diesem (nach Kant) wohl engen, aber immerhin existenten Notstandsrecht zugrunde liegen kann bzw. zugrunde liegt, sodass auch sämtliche ablehnenden Äußerungen Kants konsistent dazu sind und was konkret aus diesem Prinzip folgt, das bleibt zu klären. Küper meint, Kant selbst habe Gründe der strikten Ablehnung eines Not­ standsrechts gesucht, wobei das Ergebnis (die Ablehnung) für ihn von vornherein festgestanden habe. Wenn der unbestreitbar wahre Satz, Not könne nicht gesetzmäßig machen, was unrecht ist, ein inhaltliches Argument in den Blick nehmen wollte, dann müsste „die Beurteilung der Tat als un­ rechtlich oder gesetzmäßig … unabhängig von der Not nach anderen, ihr schon vorausliegenden Kriterien getroffen werden; die Not als solche darf, wenn sie nicht aus einem „ungerechten Angriff“ resultiert, auf „die Beurtei­ lung keinen Einfluss haben“. Das Bedürfnis bzw. die Neigung zur Selbster­ haltung begründe für sich jedenfalls kein Recht (keine Pflicht anderer); das Selbsterhaltungsbedürfnis hebe die „Trennung und wechselseitige Begren­ zung der Freiheitssphären nicht auf“. Allerdings habe Kant verschiedenen mögliche Gründe, zu denen wohl auch der Gedanke gehört habe, dass die „Ehre“ ein höheres Gut als das Leben sei, „nicht koordiniert und sie nicht in ein System gebracht, sodass die Frage offen bleibe, warum ein Not­ standsrecht überhaupt abzulehnen sei. Es fehle eine Verbindung der Not­ stands-Reflexion mit den Grundprinzipien der kantischen Rechtslehre, so­ dass der Leser sich und Kant fragen müsse, woran es liege, dass „Not schlechthin kein Recht soll begründen können, auch nicht bei höchster Lebensgefahr“234. Diese pauschale Verallgemeinerung Küpers ist zwar, wie gesehen, unzutreffend. Die Frage nach dem Prinzip, nach welchem Notstand offensichtlich (entgegen Küper und Kühl) einen gewissen Einfluss bzw. eine gewisse Bedeutung für einen bestimmten Bereich von Zustehensbezie­ hungen hat und auf einen anderen gar nicht (wie in Kants beispielhaften Stellungnahmen impliziert235), bleibt soweit allerdings tatsächlich weitge­ hend offen. Die Begründung dessen bzw. die Antwort auf diese Frage ist nis auch noch so klar und banal zu sein scheint). Deutlicher wird der Notrechtssta­ tus einer solchen angenommenen Gebrauchsbefugnis, wenn man anstelle des vorübergehenden Gebrauchs einer treibenden Schiffsplanke etwa an den Verzehr von als Fracht geladenen Lebensmitteln durch einen schiffbrüchigen Nicht-Eigentümer als die zum Überleben erforderliche Maßnahme denkt. 234  Küper, FS-Wolff, S. 289–290 und S. 303–305.



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jedoch, wie Küper zutreffend vermutet, in der Herleitung des kantischen Rechtssystems zu finden236 (dazu B.III.). Pawlik formuliert, der freiheitsgesetzliche (kantische) Rechtsbegriff schließe einen „Rechtsanspruch auf Herstellung bzw. … Erhaltung der Re­ albedingungen von Handlungsmächtigkeit“ und „rechtliche Solidaritäts­ pflichten“ aus237. Dies ist durch die genannten Beispiele nicht widerlegt, denn es bleibt unklar, welche Pflichtinhalte Pawlik sich unter „Herstellung und Erhaltung der Realbedingungen …“ vorstellt (allgemeine Rechtspflichten zu aktiver Hilfe gegenüber Notleidenden bestehen nach Kant jedenfalls nicht). Aber gewiss ist, dass Kant Befugnisse (Rechte) des Zugriffs auf ei­ gentlich fremde Güter aufgrund Not (Notstand) angenommen hat238, auch wenn dies nur in vereinzelten Beispielen und nicht nach einer formulierten Theorie zum Ausdruck kommt. 235  Anscheinend hat Notstand (im Sinne einer zufällig entstandenen Notsituation) nach Kant zumindest auf die Beurteilung der Rechtswidrigkeitsfrage bezüglich Tö­ tungen tatsächlich keinerlei Einfluss bzw. keine Bedeutung. Aber da auch Kant ein Notstandsrecht zur Bodennutzung bejaht hat, ist anzunehmen, dass demnach (zumin­ dest was die Gebrauchsbefugnisse hinsichtlich des Erdbodens angeht) eine äußere Situationsveränderung hin zur Lebens- oder schweren Leibesnot für einen oder mehrere Menschen für die Beurteilung dessen, was konkret Recht ist (was dem ei­ nen im Verhältnis zum anderen zusteht) nach einem apriorischen Prinzip (nach ei­ nem allgemeingültigen und notwendigen Prinzip der Konstitution von Rechtsbezie­ hungen) miteinzubeziehen ist. 236  Nicht sachhaltig ist es, wenn Küper im Anschluss an Pawlik schreibt, die Einheit von Recht und Zwangsbefugnis schließe ein „aus dem Zufall physischer Not abgeleitetes Zwangsrecht prinzipiell aus“ (JZ 2005, 109 und FS-Wolff, S. 293): Wenn nach Kant die besondere Not des einen diesem Zugriffsbefugnisse auf ohne diese Not nur anderen zustehende Güter gibt (zumindest auf fremden Boden, siehe oben), dann kann dieser rechtlich an dem Zugriff nicht gewaltsam bzw. zwangswei­ se gehindert werden. Gegen einen solchen Hinderungsversuch stünde dem in Not Zugreifenden also selbstverständlich (§§ D, E MdS) ein Notwehrrecht zu. 237  Pawlik, Notstand, S. 19 ff. 238  Auch bei Pawlik findet sich die insofern unzutreffend-pauschale Aussage, Kant musste „nach der Logik seines Systems ein Notrecht überhaupt verneinen“, Pawlik, Notstand, S. 26. Unter der Voraussetzung, dass Pawlik sich nur auf rechts­ widrige Zugriffe auf Güter anderer bezieht, ist es zutreffend, wenn er schreibt, es gebe nach Kant „ebenso wenig wie es jemals eine tugendhafte Handlung sein kann, einem anderen um den Preis eines Rechtsbruchs aus der Not zu helfen, … eine Tugendpflicht des Inhalts, den Eingriff dieses anderen zu dulden“. Denn es könne „keine Förderung der Tugend sein, das untugendhafte Verhalten eines ande­ ren dadurch zu fördern, dass man es stillschweigend hinnimmt“ (S. 26). Was aber die von Kant für rechtlich-erlaubt gehaltenen (Notstands-)Zugriffe auf Güter ande­ rer angeht, besteht selbstverständlich eine korrespondierende allgemeine Rechtspflicht der Duldung des Zugriffs (deren Erfüllung schon aus Einsicht in sie die Forderung einer Tugendpflicht ist; siehe zur Abgrenzung von Rechts- und Tugend­ pflichten oben A.II.3.).

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Wenn Kühl schreibt, Kant habe ein Notstandsrecht generell abgelehnt, da nicht nur bezüglich Tötungen im Lebensnotstand, sondern überhaupt die Frage unbeantwortet bleibe, „wie die Not zu Recht machen kann, was Un­ recht ist“, dann erwartet er mit dieser Frage als Antwort eine Unmöglich­ keit: Selbstverständlich kann daseiendes Unrecht nicht durch Not zu Recht gemacht werden. Banal ist auch, wenn Kühl ausführt, Kant habe die Frage, „ob Notstand überhaupt ein Recht dazu geben kann, die Rechtsgüter eines an der Gefahrenlage Unbeteiligten zu verletzen … dezidiert verneint“. Das ist bei Stringenz mit den eigenen Begrifflichkeiten ebenfalls bloß ein ana­ lytischer Zusammenhang: Wer die rechtliche Möglichkeit der Verletzung des Rechtsgutes eines anderen bejaht, widerspricht sich, weil er doch zugleich das Dasein eines solchen Rechtsguts (d. h. einer bestimmten Güterzuord­ nung als durch andere einseitig rechtlich-unantastbar) verneinte239. Es bleibt also nach Betrachtung der kantischen Überlegungen zum Not­ standsrecht die Frage bzw. Suche nach einem (dunkel) im kantischen Rechtssystem liegenden Prinzip, nach welchem zufällige – und sei es schwere – Not von Menschen bestimmte Zustehensbeziehungen (Rechtsgü­ ter) nicht beeinflusst, während sie anscheinend die Zuordnung anderer Güter bzw. zumindest die diesbezüglich bestehenden Gebrauchsbefugnisse konkret verändert (diejenigen des Notleidenden erweitert und dadurch etwa die ei­ nes Bodeneigentümers einschränkt). 8. Zusammenfassung (Notrechtskonsequenz des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes) Kants Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis so­ wohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht führt ihn zu den 239  Genannte Kühl-Zitate aus FS-Lenckner, S. 146–149 im Anschluss an Küper, JuS 1987, 81(86). Küper spricht in JuS 1987, 81 hingegen anstatt von Kollisionen von Rechtsgütern unter Bezugnahme auf Schmidhäuser (AT – Studienbuch, S. 85) von Kollisionen von „Rechtsgutsobjekten“: Damit sollen die tatsächlichen Lebens­ sachverhalte gemeint sein, die abstrakt betrachtet Rechtsgütergegenstände sind und von denen man sich vorstellen kann, dass in Notsituationen nur einer von mehreren solcher Sachverhalte bzw. Zustände erhalten werden kann, während ein anderer ver­ ändert wird (etwa im Schiffbrüchigen-Beispiel kann nur das Leben einer Person erhalten bleiben, was strenggenommen ebenso wenig eine „Kollision von Rechtsgü­ tern“ bedeutet, wie etwa der altersbedingte natürliche Tod eines Menschen ein „Rechtsgutsverlust“ ist). Auch eigene Formulierungen Kühls – wonach etwa ein geringerer „Rechtsverlust“ hinzunehmen sei (Kühl, FS-Lenckner, S. 154) bzw. man rechtmäßige Eingriffe in seine „rechtlich geschützte Freiheitssphäre“ dulden müsse (S. 150) – enthalten aus kantischer Perspektive unsaubere Gedankengänge bzw. sind genau genommen widersprüchlich. Solche Formulierungen können nur aus einem unmittelbar-materialen Rechtskonzept entspringen.



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz149

elementaren Erkenntnisleistungen des Subjekts, welches dadurch Erkenntnis schaffe (und nicht etwa unabhängig von diesen Akten vorhandene Erkennt­ nis ablerne oder empfange). In theoretischer Hinsicht behauptet Kant, jede empirische Disziplin, so­ fern sie Wissenschaft sein wolle, sei auf „reine“, aus dem Subjekt stam­ mende, zur Erfahrungsproduktion erforderliche und nicht materialisierbare Erkenntnisformen angewiesen bzw. müsse diese voraussetzen: Raum und Zeit als Formen der Anschauung; die Verstandeskategorien als Elementar­ begriffe zur Ordnung des Anschauungsmaterials und die Vernunftbegriffe, nämlich Ideen (bzw. die ideellen Gegenstände ohne „objektive Realität“) in theoretischer Hinsicht zur Regulierung des Verstandes bzw. Beschrän­ kung desselben auf Ordnung von Gegenständen der Anschauung im Wis­ sen, dass dies nicht alles sei. Wir hätten, so nimmt Kant schon in der KrV an, als Menschen aufgrund von „a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs Veranlassung, uns völ­ lig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen“… wodurch „sich … eine Spontanität entdecke“… und wir „innewerden, dass im Bewusst­ sein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz doch in Ansehung eines gewissen inne­ ren Vermögens in Beziehung auf eine intelligible (nur gedachte Welt) zu bestimmen dienen kann“. Während man bei den sonstigen Naturgegenstän­ den, die der Mensch zunächst wahrnehme und bestimme, keinen Grund dafür fände, sich deren Vermögen „anders als bloß sinnlich bedingt“ zu denken, erkenne „allein der Mensch … sich selbst auch durch bloße Ap­ perzeption, und zwar in Handlungen …, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann …“. Er ist sich damit „einesteils Phänomen, anderenteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“. Schon in theoretischer Hinsicht sei alle Erkenntnis eine Leistung bzw. ein Produkt des Subjekts, das diese(s) aber nicht zufällig-beliebig zustande bringe, sondern gemäß aller Erkenntnis vorausgesetzten (reinen) Erkenntnis­ formen schaffe. „Objektivität“ bedeutet demnach notwendige Allgemeingül­ tigkeit des Urteils (notwendige und allgemeingültige Ordnung aller Wahr­ nehmungen bzw. Erscheinungen gemäß den Kategorien zu einem ideellen Selbstbewusstsein). In praktischer Hinsicht überhaupt eröffne der Begriff der Freiheit, der uns durch den kategorischen Imperativ erkennbar werde, ein anderes Feld von Begriffen als das der Naturbegriffe. In Ethik bzw. Recht fehle es an gegebenen unmittelbaren Anschauungen (Erscheinungen) des richtigen (in­

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

neren und äußeren) Handelns. Dasjenige, was ein Verhalten zum Richtigen mache, sei unanschaulich. Deshalb müsse das richtige – nicht notwendig mit dem vorhandenen Sein übereinstimmende – Verhältnis der Menschen erst in einer Anschauung dargestellt bzw. konstruiert werden. Das überhauptrichtige Verhalten könne nur durch Beachtung der Bedingungen der Mög­ lichkeit von verbindlicher Normativität (ethischer und rechtlicher Erkennt­ nis) beim Bilden normativer Urteile mit Verbindlichkeitsanspruch als solches eingesehen und durch Umsetzung dieser Einsicht verwirklicht werden. Wenn die Selbstbeurteilung als Subjekt (vernunft)notwendig sei, reine Vernunft also für sich praktisch müsse sein können, dann könne der aus­ schlaggebende Grund einer gesollten Handlung nicht ein als angenehm empfundenes bzw. beurteiltes Objekt (Materie) sein. Alle materialen praktischen Sätze, das sind solche, die ein Objekt bzw. eine Materie als letztlich-ausschlaggebenden Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, dienten bloß der Befriedigung des eben nicht durch reine Vernunft bestimmten (deshalb unteren) Begehrungsvermögens. Wo „ein Objekt des Willens zum Grunde gelegt werden muss, um diesem die Regel vorzuschreiben, die diesen bestimme, da ist die Regel nichts als Heteronomie …“ Demnach „gäbe eigentlich die Natur das Gesetz, welches … an sich zufällig ist …“. Ein „fremder Antrieb“ gebe dabei dem Willen vermittelt über das jeweilige sinnliche Begehrungsvermögen des jeweiligen Menschen die Regel. Dies sei zur apodiktisch-praktischen Regel bzw. zu einer moralischen (Selbst-)Gesetzgebung untauglich. Empirisch-bedingte praktische Sätze bzw. Handlungsregeln seien (als Maximen) also stets bloß subjektiv-gültig: Empirische Gesetze der praktischen Vernunft sind demnach unmöglich; d. h. empirisch bedingte – von einem festgestellten sinnlichen Begehren anhebende – praktische Sätze sind demnach keine Gesetze, sondern höchs­ tens „Anratungen zum Behuf unserer Begierden“. Im moralischen Sinne „gut“ sei nur dasjenige, was praktisch notwendig und damit neigungsunabhängig sei. Solange der Wert einer Handlung ledig­ lich abhänge von der Tauglichkeit zu einer Zweckerreichung, also von ihrer Wirkung und damit von durch Sinne vorgegebenen (und sei es auch ver­ standesmäßig beurteilten) „Gegenständen des Begehrungsvermögens“, sei ein Pflichtbegriff unmöglich („Pflicht … ein leerer Wahn und chimärischer Begriff“). „… Die Begriffe und Urteile über unser Tun bedeuten gar nichts Sittliches, wenn sie das, was sich bloß von der Erfahrung lernen lässt ent­ halten, und wenn man sich etwa verleiten lässt, etwas aus der letzteren Quelle zum moralischen Grundsatze zu machen, so gerät man in Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrtümer …“. Der Begriff der Pflicht im Sinne einer Selbstnötigungsnotwendigkeit – und sei es trotz bzw. gerade wegen



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz151

eines stark entgegenstehenden Begehrens aus Neigung – entstehe so nicht. Das Gute sei vom Angenehmen „als demjenigen, was nur vermittelst der Empfindung aus bloß subjektiven Ursachen, die nur für diesen oder jenen Sinn gelten, und nicht als Prinzip der Vernunft, das für jedermann gilt, auf den Willen Einfluss hat“, zu unterscheiden. Die Frage „Was soll ich tun?“ könne allgemeingültig nur durch Formu­ lierung eines kategorischen (unbedingt gültigen bzw. apodiktisch-gewissen) Imperativs beantwortet werden. Ein solcher müsse den Willen durch ein formales Prinzip a priori ohne Ansehung materialer Zwecke bzw. Gegenstände des Begehrungsvermögens bestimmen und von Glückseligkeitsrat­ schlägen prinzipiell (qualitativ bzw. „der Art nach“) unterschieden sein: „Ich soll niemals anders verfahren, als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ bzw. „Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein all­ gemeines Gesetz werde.“ „Der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs“ könne nur in et­ was liegen, dessen Dasein einen absoluten Wert hat. Der Wert aller Gegen­ stände der Neigung und der Neigungen bzw. Bedürfnisquellen selbst und damit der Wert aller durch unsere Handlungen zu erwerbenden Gegenstände sei jederzeit bedingt. Bei Abstraktion von „allem zu bewirkenden Zwecke“ bliebe aber das Subjekt aller möglichen Zwecke als selbständiger Zweck bzw. Zweck an sich selbst übrig. Und so könne man auch formulieren: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“. Das vernünftige Wesen schränke als Zweck an sich selbst (Person), der in Abgrenzung zu Sachen niemals bloß als Mittel oder Objekt gebraucht werden dürfe und „an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann“, insofern alle Willkür ein. Alle Pflicht als neigungs- bzw. interessenunabhängige (unbedingte) Selbstnötigungsnotwendigkeit sei begrifflich nur durch die Annahme eines wegen der Selbstgesetzgebung der Vernunft bzw. der für ein vernünftiges Wesen bestehenden Notwendigkeit, sich durch alle Maximen seines Wil­ lens als allgemein gesetzgebend zu betrachten, möglich und beruhe „bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zueinander, in welchem der Wil­ le eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muss, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte“. Freiheit in negativer Formulierung als Unabhängigkeit von bestimmenden Ursachen der Sinnlichkeit und positiv als (gedachte) Spontaneität, eine Rei­ he von Erscheinungen von selbst anzufangen, sei die „Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Die Freiheit erscheine uns also in Form des kategorischen Imperativs, dieser sei der letztendliche Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) der Freiheit, letztere der Seinsgrund (ratio essendi) des kategorischen Imperativs. Freiheit bzw. Autonomie im eigentlichen Sinne (Selbstgesetzgebung / „eigene Gesetz­ gebung des Willens“ / letztendliche Selbstbestimmung) trete insofern für den Menschen und in Bezug auf diesen in Gestalt eines unbedingten Gebotes (kategorischer Imperativ) auf: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselseitig aufeinander zurück“. „Freiheit“ wird dadurch kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis, der Mensch sei jedoch logischgenötigt, sich praktisch für frei zu halten bzw. sich als unter dem kategori­ schen Imperativ stehend zu betrachten. Der kategorische Imperativ sei ein synthetischer Satz a priori: Durch bloße Zergliederung der in ihm enthalte­ nen Begriffe könne „nicht bewiesen werden“ dass der Wille jedes vernünf­ tigen Wesens an ihn notwendig gebunden sei. Allerdings könne durch Analyse von Sittlichkeits- bzw. Pflichtbehauptungen gezeigt werden, dass „Autonomie des Willens“ diesen „unvermeidlich anhänge“, sodass zumin­ dest derjenige, der „Sittlichkeit für etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält“ (jeder, der von Pflicht spricht, ohne dabei mit der implizierten Notwendigkeitsbehauptung bewusst die Unwahrheit zu sagen), zugleich den kategorischen Imperativ bzw. den gesamten dargestellten Ge­ dankengang einräumen müsse. Dem Menschen als Person komme ein „innerer Wert“ (Würde) zu, er sei als Subjekt bzw. Subjekt-Objekt-Einheit ein Gegenstand der Achtung: Sich dem kategorischen Imperativ unterworfen zu denken sei Voraussetzung da­ für, einen „Wert bloß in unserer Person“ zu finden. Die Idee der Freiheit und damit in Bezug auf den Menschen verbunden der Pflicht (formuliert im kategorischen Imperativ) gebe dem Menschen einen „inneren Wert“ (Wür­ de) und die Befolgung des kategorischen Imperativs sei die Bedingung der Würdigkeit, glücklich zu sein und könne ein Gefühl der Achtung hervor­ bringen (als „moralisches Gefühl“). So wirke reine Vernunft in praktischer Hinsicht in die Erfahrung. Die Ethik im engeren Sinne müsse strikt vom Bereich des Rechts unter­ schieden werden. Das Recht enthalte bloß die Minimalanforderungen wech­ selseitiger Respektierungsnotwendigkeit (Bestimmung des äußerlich Ge­ schuldeten): Recht ist nach Kant der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann. Besondere Zwecke bzw. eine besondere Materie der Willkür oder Bedürfnisse der Menschen oder deren Motivationen kommen für die rechtliche Beurteilung unmittelbar nicht in Betracht, sondern es wird demnach nur nach „der Form im Verhält­ nis der beiderseitigen Willkür“ gefragt, d. i. ob die äußere Handlung des einen mit der Willkür jedes anderen nach einem allgemeinen Zustehensge­



II. Nicht-unmittelbar-materialer Ansatz153

setz (Gesetz der Freiheit) zusammen bestehen kann (die jeweiligen Zwecke mögen sein, welche sie wollen). Der Rechtsbegriff und das Rechtsprinzip ermöglichen mit der Bestimmung der – allem tugendhaften Verhalten vor­ ausgesetzten – Minimal-Pflichtinhalte zugleich die Unterscheidung des rechtmäßigen vom rechtswidrigen Verhalten. Damit ist das Recht auch systematisch der gegenüber der Tugendlehre primäre Teil: Es enthält die Pflichten gegen andere, d. i. die Notwendigkeiten der Wahrung der äußeren Zustehensverhältnisse zwischen den Menschen als Personen, deren Erfül­ lung bloße Schuldigkeit (= 0) ist und die erforderlichenfalls auch (legitim) durch äußeren Zwang bzw. mittels Gewalt seitens anderer durchsetzbar sind. Die primären bzw. ursprünglichen Rechtsinhalte bzw. die jedem Men­ schen als Person „unabhängig von allem … Akt“ („von Natur“) zustehenden Güter sind der eigene Körper (beinahe tautologisch) und damit das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Handeln überhaupt, sofern dieses mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann (was bei rein-inneren Handlungen, etwa Gedanken240, stets der Fall ist). Alle gegenüber diesem „inneren Mein“ äußeren Gegenstände müssten, um einer Person gesondert zuzustehen, erworben werden (Privatrecht). Er­ werb ist zumindest hinsichtlich jedes Gegenstandes der Willkür, der nicht zum inneren Mein von irgendjemandem gehört, theoretisch möglich. Dem zugrunde liegt der (ideelle) ursprüngliche Gemeinbesitz der „Sachsubstanz Welt“ (Terminus von M. Köhler). Privatrecht hinsichtlich äußerer Gegen­ stände (Sachen) beginnt systematisch mit der (ideellen) Aufteilung der ge­ meinsam-besessenen Materie durch allgemein-einseitigen Zugriff (Erwerbs­ akt) konform mit dem allgemeinen Willen des erlaubten Privatbesitzes. Dies wird etwa in Tauschverträgen über Sachen vorausgesetzt. Leistungen von Personen hingegen könnten „niemals ursprünglich und eigenmächtig“, son­ dern nur vertraglich erworben werden: Nur vermittelt über den Willen des jeweils anderen könne es zu „Besitz der Willkür eines anderen“ bzw. zu „äußerem Mein und Dein in Ansehung der Kausalität eines anderen“ kom­ men. Sowohl „angeborene“, als auch erworbene Rechte werden von Kant als auf Vernunftbegriffen bzw. auf Prinzipien a priori beruhende vorpositive Rechte vorgestellt. Deren Beachtung – die Wahrung des gemäß dem Rechts­ begriff konstruierten äußeren Verhältnisses zum jeweils anderen – ist die allem tugendhaften Verhalten vorausgesetzte, primär-gebotene Mindest- oder Minimalrespektierungsnotwendigkeit des Menschen. 240  Diese mögen aufgrund ihres Inhaltes ethisch auch noch so verwerflich sein: Zumindest solange sie innerlich bleiben (nicht willentlich geäußert werden), sind sie kein Unrecht.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Der Staat als Positivierung der „Idee des allgemein vereinigten Willens aller“ konstituiert demnach also nicht erst Rechtsverhältnisse, sondern setzt solche nur durch (was Privatrechte bezüglich äußerer Gegenstände angeht, werden diese durch allgemeine öffentliche Gesetze erst konkret-bestimmt). Der Staat ist nach Kant die dazu vernunftnotwendige Instanz und als solche ein notwendiges Element im Gesamtsystem des Rechts, das die verbindliche Auflösung von Konflikten in Rechtsfragen (Zustehensfragen) zwischen ein­ seitigen Willen ermöglicht. Der einzige Zweck des Staates ist Rechtsdurch­ setzung, das impliziert eine Rückbindung allen Staatshandelns an das rechtliche (vorpositive) Grundverhältnis inklusive der Trennung von Ethik und Recht. Eine vollständige Theorie über Möglichkeit und Inhalt von Notstands­ rechten hat Kant nicht ausgearbeitet. Klar ist nach dem Ansatz – eben weil demnach ein sinnliches Begehren nicht das entscheidende Kriterium zur Konstitution und Beurteilung von Recht und Unrecht ist – dass die als notwendig behauptete Anerkennung des Menschen als Person (Würdeinha­ ber) es ausschließt, die Zuordnung bestimmter Erscheinungen als Güter zur jeweiligen Person durchgängig auf die (Not-)Angewiesenheit anderer darauf (also auf deren Bedürfnis) zu bedingen: Jedenfalls abgelehnt hat Kant ein Notstandsrecht zur Tötung anderer selbst bei nicht anders abwendbarer Lebensnot. Auch ein Recht zur Unterschlagung fremder Sachen bei bloß-wirtschaftlicher Not gibt es nach Kant nicht. Ebenfalls bestehen nach Kant keine Rechtspflichten zur (aktiven) Hilfeleistung gegenüber anderen in Not (dies sei eine ethische Pflicht). Bejaht hat Kant hingegen ein Notstandsrecht zur Gebrauchsanmaßung bezüglich fremden Bodens in Lebens- und schwerer Leibesnot (bei drohen­ dem „Untergang“ als Person). Dies wird in der einschlägigen Sekundärlite­ ratur oftmals übersehen. Undeutlich bleibt bei den Ausführungen Kants allerdings, welches Prinzip dem anscheinend engen Notstandsrecht nach Kant zugrunde liegt.

III. Zusammenfassung der Ergebnisse (Notstandsrechte nach unmittelbar-materialem und nach formalem Ansatz) Sollenssätze entstehen nach materialem Ansatz abhängig vom sinnlichen Begehren des (jeweiligen) Subjekts, d. h. durch Bewertung von Erfahrungen nach Begriffen von Wohl und Übel. Notstandsrechte ergeben sich unproblematisch aus diesem Ansatz: So setzt Hobbes eben im Ansatz das Gute mit dem Angenehmen und das Böse mit dem Unangenehmen bzw. Schmerzhaften gleich. Die „Natur des



III. Zusammenfassung der Ergebnisse155

Guten“ sei somit stets abhängig von den jeweiligen Umständen. Demgemäß ist das „Recht“ eines Menschen zunächst nichts anderes als dessen jeweili­ ges Belieben („Jeder hat ein Recht auf alles …“). Eine allgemeine Pflichtaussage betreffend das Verhältnis des einen zum anderen Menschen wird soweit nicht getroffen; „Freiheit“ im Sinne von Abwesenheit äußerer Hindernisse der beliebigen Bewegung bzw. des sub­ jektiv-begehrten Handelns und Verpflichtung werden als sich ausschließen­ de Gegenbegriffe eingeführt. Die Menschen strebten nach Glück, wobei das erste bzw. höchste Gut ihr Leben bzw. ihr Selbsterhalt sei. Alle Mittel, den eigenen Selbsterhalt zu sichern, seien gut bzw. recht. Insofern sei Macht ein entscheidendes Gut. Das allseitige Glücks- bzw. Selbsterhal­ tungsstreben bzw. dieses „Recht“ führe jedoch zu Unsicherheit bzw. Un­ frieden. So müssten die Menschen einsehen, dass die Unterwerfung unter eine höchste Macht, die größtmöglichen (bestenfalls allgemeinen) Selbster­ halt sichert, geboten sei. Diese Unterwerfung sei das einzige Mittel der effektiven Selbsterhaltungssicherung für Jedermann. Erst dadurch kommt bei Hobbes der Begriff bzw. zumindest das Wort „Pflicht“ ins Spiel, näm­ lich als die Notwendigkeit, sich an sein ideell abgegebenes Unterwerfungs­ versprechen gegenüber allen anderen und dem Souverän zu halten. Für den Souverän bzw. die höchstes Macht sei „das Wohl des Volkes“ das höchste Gesetz241. Für den einzelnen Bürger im Staat ist die Wahl der Glückser­ reichungsmittel durch die vom Souverän gesetzten (positiven) Gesetze im Vergleich zum „Naturzustand“ aufgrund seiner Unterwerfung stark einge­ schränkt. Allerdings könne niemand dazu verpflichtet sein bzw. werden, sein Leben aufzugeben, sodass in Lebensnotsituationen für den Betroffenen jedes erforderliche Mittel zur Rettung recht sei: Jedes positive Ge- bzw. Verbot (etwa: Du darfst nicht töten …), ist nach dem Ansatz jedenfalls bedingt auf die Möglichkeit des eigenen Selbsterhaltes (… es sei denn, du kannst nur dann überleben). Ein Notstandsrechtfertigungsgrund über Lebensnotsituationen hinaus ist nach Hobbes zwar kein „grundlegendes Gesetz“; es ist dem Souverän je­ doch ohne weiteres möglich, eine dem § 34 StGB inhaltlich entsprechende Norm zu setzen. Gewisse absolute Unverfügbarkeiten, wie heutzutage in Auslegung des § 34 StGB meist angenommen (etwa keine rechtmäßigen Tötungen von an der Notentstehung Unbeteiligten; keine zwangsweisen Blutentnahmen selbst bei Erforderlichkeit zur Lebensrettung), ergeben sich 241  Der unmittelbar-materiale Ansatz Hobbes’, den dieses „Gesetz“ für den Sou­ verän aufnimmt, zeigt sich übrigens schon in der Reihenfolge der Begriffe, die im Untertitel von Leviathan „The Matter, Form and Power of a Commonwealth eccle­ siastical and civil“ aufgezählt werden.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

nach Hobbes’ Konzeption jedoch nicht: Der Souverän kann bzw. muss etwa in einer Situation, in der immerhin einige gerettet werden können, wenn dafür andere getötet werden, während ansonsten alle zu Tode kämen, diese Tötungen veranlassen. Dies folgt aus seiner Bindung an das Wohl des Vol­ kes bzw. an die Sorge um ein möglichst glückliches Leben für möglichst viele Menschen. Dass die Opfer nach Hobbes dann ein Selbstverteidigungs­ recht hätten und nicht zur Hingabe (Opferung) verpflichtet wären (A.I.1.), stellt für ihn keinen Widerspruch dar. Pflichtbehauptungen als Selbstnöti­ gungsnotwendigkeitsbehauptungen enthält die hobbessche Konzeption inso­ fern, als die sich aus pragmatischem Nutzen- bzw. Selbsterhaltungskalkül ergebende Unterwerfung (und das Unterworfenbleiben) unter die höchste Macht als allgemein geboten behauptet wird. Diese Notwendigkeitsbehaup­ tung beruht in der Basis auf dem als allgemein-menschlich betrachteten Streben nach Glück, welches Hobbes dann allgemeingültig zu einem mög­ lichst effektiven Streben zumindest nach Selbsterhalt (am-Leben-Bleiben) konkretisieren zu können glaubt (dies sei „naturnotwendig“ – hier führt Hobbes implizit und wohl bewusst doppeldeutig eine normative Prämisse ein, denn als empirisches allgemeines Urteil wäre diese Aussage unwahr, wie jedermann aufgrund vorkommender Selbsttötungen weiß). Nach Mill als dem zweiten hier vorgestellten Vertreter eines unmittelbarmaterialen Ansatzes entsteht Erkenntnis überhaupt durch eine „natürliche Neigung des Geistes“, seine Erfahrungen zu generalisieren. Erfahrungen werden im Praktischen – soweit wie bei Hobbes – bewertet nach Begriffen von Wohl bzw. Übel. Entscheidend für alle Menschen sind nach Mill die Erfahrungsbewertungen einer erfahrenen Elite, d. h. diese werden für alle Menschen zum Maßstab ihres Handelns erklärt. Gesetze bezögen ihre Ver­ bindlichkeit – zumindest für andere als die gesetzgebenden Menschen – aus allgemeiner Sympathie und aus durch Erziehung erworbenen Gemein­ schaftsgefühlen sowie den äußeren Sanktionen (letztere werden in heutiger juristischer Terminologie demgegenüber als Rechtsfolgen bezeichnen). Jedermann hat nach Mill „den gleichen Anspruch auf die Mittel zum Glück, außer insoweit, als die unausweichlichen Bedingungen des menschlichen Lebens und das Gesamtinteresse, in dem das Interesse jedes Einzelnen enthalten ist, dieser Maxime Grenzen setzen; und diese Grenzen sollen so eng wie möglich gezogen werden. Wie jeder Grundsatz der Gerechtigkeit gelte auch dieser keinesfalls ausnahmslos; im Gegenteil, er passt sich den jeweils verschiedenen Vorstellungen vom sozial Nützlichen … an … Alle Menschen haben ein Recht auf gleiche Behandlung, außer dann, wenn ein anerkanntes Gemeinschaftsinteresse (ein aktuell von den meisten bzw. einer besonders erfahrenen Elite anerkanntes Interesse, G. H.) das Gegenteil er­ fordert … Um jemandem das Leben zu retten, ist es unter Umständen nicht



III. Zusammenfassung der Ergebnisse157

nur erlaubt, sondern sogar geboten, die nötige Nahrung oder Arznei zu stehlen oder gewaltsam davon Besitz zu ergreifen oder den einzigen Arzt, der helfen könnte, gewaltsam zu entführen und zur Hilfeleistung zu zwin­ gen …“. Das Verhältnis Bürger – Staat nach utilitaristischer Position ist als konträr zu dem nach dem kantischem Ansatz zu bezeichnen (zur Zusammenfassung dessen siehe A.II.8.): Der Staat hat im Utilitarismus nicht die Aufgabe, ver­ bindliche Zustehensverhältnisse zwischen den Menschen durchzusetzen, son­ dern den gesamtgesellschaftlichen Nutzen bzw. das Wohl des Volkes zu maximieren. Materiale bzw. zumindest utilitaristische Konzepte laufen somit darauf hinaus, die „Gesellschaft“ als den eigentlichen Rechtsinhaber zu ­ ­betrachten. Pawlik formuliert treffend, die Gesellschaft werde in Gesamt­ nutzenerwägungen stets als „einheitliches Großsubjekt“ betrachtet242. Die Annahme eines für sich interessierten Großsubjekts tritt deutlich hervor, wenn Mill etwa von den „Interessen des Ganzen“ spricht243. Nach der utilita­ ristischen Position Mills ist eine weite, die Interessenabwägung unter dem Postulat des „größten Glücks insgesamt“ (Nützlichkeitsprinzip) bloß zum Ausdruck bringende Notstandsrechtfertigungsnorm somit wohl als geboten anzusehen. In Situationen, in denen Glücksvorstellungen verschiedener Men­ schen nicht alle verwirklicht werden können, ist durch erfahrene Menschen zu entscheiden, welche Lösung das höchste Glück hervorbringt (oder in Mills Terminologie: „das allgemeine Glück“ fördert – obwohl dies der Prämisse der bloß alternativen Erreichbarkeit der subjektiven Glücksvorstellungen di­ rekt zu widersprechen scheint). Was Hobbes als „widerstreitende Rechte“ bzw. Zwecke der Einzelnen bezeichnet, wäre in Mills System bzw. Termino­ logie zu benennen als Pflichtenkollisionen bzw. „widerstreitende sekundäre 242  Pawlik, Notstand, S. 33. Reinhard Merkel bezeichnet die „Nutzen- und Inter­ essenverrechnungen“ des Utilitarismus „ohne Rücksicht auf personale Grenzen zwi­ schen Individuen“ sinngemäß als das Bemühen, die Nutzenverteilung zwischen verschiedenen Personen darzustellen durch eine Analogie, „nämlich der Art, wie eine vernünftige Einzelperson Fragen der Wahrnehmung, Verschiebung und Unter­ drückung verschiedener Interessen innerhalb ihres eigenen Lebens ordnet und löst …“, in: Zaungäste, S. 189. Da Merkel diese Analogieannahme bzw. -bildung für verfehlt hält, sieht er hierin allerdings einen prinzipiellen Einwand gegen den Utili­ tarismus (ebenda). 243  Bei Hobbes ist die Vorstellung eines einheitlichen Großsubjekts enthalten in dem direkten Ins-Verhältnis-Setzen von möglichen Zwecken und deren Abwägung unter dem Gebot der Volkswohlförderung durch den Souverän, so als handele es sich um eine einzige betroffene Person, die für sich entscheidet, was sie konkret mag bzw. will (sofern mehreres zugleich nicht möglich ist; bildlich dargestellt auf dem Cover der Erstausgabe zu Hobbes’ „Leviathan“ von 1651). Es macht demge­ genüber inhaltlich keinen relevanten Unterschied, wenn die Regeln zur jeweils al­ ternativ-möglichen Zweckerreichung mit Mill als „Prinzipien“ bezeichnet werden, welche dann im Einzelfall gegeneinander abwogen werden.

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Prinzipien der Nutzenmaximierung“, welche nach dem Postulat der Gesamt­ nutzen- bzw. -glücksmaximierung im Einzelfall oder in Bezug auf den jewei­ ligen Einzelfall „abzuwägen“ wären. Eine Norm wie § 34 StGB ist demnach ohne weiteres möglich und – als Positivierung bzw. Konkretisierung des uti­ litaristischen Prinzips für Notsituationen gelesen – sogar geboten. Ein sich nicht aus Gesamtnutzenerwägungen ergebender kategorischer Ausschluss et­ wa der Tötung von an der Notentstehung unbeteiligten Menschen bzw. ge­ wisser sonstiger Behandlungen (etwa zwangsweise Blutentnahme) ist nach utilitaristischer Position hingegen als falsch zu beurteilen. Absolute Unver­ fügbarkeiten des Menschen bestehen demnach nicht. Ein Notstandsrecht bzw. eine Norm, nach der in Notsituationen die bis­ herige Gegenstandsaufteilung / Güterzuordnung verändert wird, ist nach materialem Ansatz der Aufstellung von Sollensbehauptungen also nichts prinzipiell Problematisches: Es wäre bezüglich eines nach materialem An­ satz entworfenen positiven Rechtssystems unerklärlich, wenn dieses keine Interessenabwägungsregel auch bzw. gerade für Notsituationen enthielte. Ein unbedingtes Zustehen von Etwas zur Person bzw. den Begriff der Per­ son als Zweck an sich und Inhaber einer inneren Würde kann es nach ma­ terialem Ansatz nicht geben, sodass auch die Annahme gewisser absoluter Unverfügbarkeiten (also selbst im Notstand) demnach als irrational zu be­ zeichnen wäre. Nur nach dem nicht vom sinnlichen Begehren abhängigen Ansatz (Zu­ sammenfassung unter A.II.8.) ist die Möglichkeit eines Notstandsrechts überhaupt zweifelhaft: Die Notwendigkeit der Anerkennung des Menschen als Person (Würdeinhaber) schließt es jedenfalls aus, die Zuordnung be­ stimmter Erscheinungen als Güter zur jeweiligen Person durchgängig auf die (Not-)Angewiesenheit anderer darauf – also auf deren Bedürfnis – zu bedingen. Alle Rechtsauffassungen, die ein Notrecht für etwas prinzipiell Problematisches ausgeben, müssen zumindest dunkel auf einen solchen, nicht-bedürfnisabhängigen Ansatz Bezug nehmen. Obwohl alle hier vorgestellten Autoren erkenntnistheoretisch insoweit zunächst rational beim Subjekt der Erkenntnis ansetzen, werden die Unterschiede in den Grundpositionen gerade im praktischen bzw. normativen Bereich mit Verbindlichkeitsanspruch besonders deutlich: Die angenommene Wirklichkeit des Gegenstandes „Recht“ impliziert eine Richtigkeits- bzw. Notwendigkeitsbehauptung, hinsichtlich welcher sich die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit wohl mit noch größerer Dringlichkeit bzw. Relevanz stellt, als hinsichtlich theoretischer Erkenntnis. Denn wenn die kantische Erkenntnistheorie eine allgemeingültige und not­ wendige Verknüpfung aller Erscheinungen zu einem (ideellen) Selbstbe­ wusstsein für notwendig erklärt und damit auf transzendentale Erkenntnis­



III. Zusammenfassung der Ergebnisse159

bedingungen rekurriert (A.II.1.), dann hängt davon zwar vieles oder gar alles ab, was den Status bzw. die Einordnung von Erkenntnis und damit auch das Verhältnis des Menschen zu den Gegenständen seiner Vorstellun­ gen angeht244. Jedoch sind die konkreten empirischen Wissenschaften in ihrer Arbeit darauf nicht unmittelbar angewiesen245. Im Bereich des norma­ tiven Urteilens mit Verbindlichkeitsanspruch hingegen ist jedes positive Recht(ssystem) gemäß den bestenfalls deutlichen Grundbegriffen (oder: Bedingungen seiner Möglichkeit) zu erschaffen bzw. zu konstruieren und umzusetzen (gedachtes Seinsollen zu verwirklichen). Ansonsten gäbe es den Gegenstand „Recht“ und den korrelierenden Pflichtbegriff gar nicht, son­ dern höchstens diese Worte bzw. die entsprechenden Worte in anderen Sprachen als Bezeichnung faktisch-erzwingbarer, letztlich beliebiger (sub­ jektiver) Verhaltensforderungen, aber eben ohne dass damit ein Begriff festen Inhalts bezeichnet wäre. Eine implizierte Notwendigkeitsbehauptung 244  Geert Keil verkennt in seinem Werk „Willensfreiheit“ und in DZPhil, 55 (2007) 6, 929 ff. die Bedeutung dieser Frage und der Antwort darauf auch für die praktische Philosophie, wenn er glaubt, er könne „Willensfreiheit“ entgegen Kant nur denken, indem er die sich aus kantischer Erkenntnistheorie ergebende Determi­ nismusvorstellung für den Bereich der Erscheinung(serklärung) verwerfe. Dabei negiert Keil mit der Zurückweisung der (transzendentallogischen) Notwendigkeits­ forderung bzw. des Gesetzesbegriffs im eigentlichen Sinne die kantische Annahme einer reinen Gesetzgebung des Verstandes (konkret: den Verstandesbegriff der Kau­ salität), in deren ideeller Konsequenz ja die Determinismusvorstellung für den Be­ reich der Erscheinungserklärung liegt. Keil hält es entgegen Kant für angebracht, „einen Humeschen Gesetzesbegriff einzusetzen“ (DZPhil, S. 941). Dabei bemerkt Keil nicht, dass er bei bloßer Übertragung seiner wohl ergebnisorientiert auf empi­ rische Umstände gestützten Argumentation mit dem Ziel der Widerlegung des De­ terminismus (den Keil für nicht verträglich mit der Annahme der Willensfreiheit hält) auch die Annahme einer reinen Gesetzgebung der Vernunft hinsichtlich des praktischen (normativen) Bereichs mit Verbindlichkeitsanspruch, auf welche nach Kant Ethik und Recht überhaupt gegründet werden, nicht ohne weiteres akzeptieren könnte. 245  Abgesehen vielleicht von der Erkenntnis der Müßigkeit gewisser von vornhe­ rein zum Scheitern verurteilter Projekte, etwa der empirischen Suche nach „Gott“ (nach einem höchsten Subjekt bzw. Wesen, das nur Gegenstand einer Vernunftidee ohne Realität in theoretischer Hinsicht sei). Allerdings wäre ein solches Vorhaben wohl nicht nur nach kantischer Erkenntnistheorie als evident-absurd zu bezeichnen. Was den Ideengegenstand Freiheit (Unabhängigkeit von Ursachen der Natur) angeht, sah und sieht nicht jedermann die nach Kant a priori erkennbare Müßigkeit einer empirischen Suche danach ein; so war wohl die Intention des Physiologen Benjamin Libet bei Durchführung des zuletzt auch populärwissenschaftlich diskutierten sogen. „Libet-Experiments“ aus dem Jahr 1979 das Auffinden eines physikalisch nachweis­ baren, aber freien Willensrucks. Anzunehmen ist, dass die im Anschluss daran bis in die heutige Zeit in ähnlicher Richtung fortgesetzte Hirnforschung in Teilen (und ebenso untauglich) das Ziel verfolgte, die Freiheits-Annahme in Bezug auf den menschlichen Willen zu widerlegen (siehe dazu noch unten, B.II.5.b)).

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

müsste dann absurd erscheinen (oder – wie Kant es ausdrückt – als „leerer Wahn und chimärischer Begriff“ ohne Wahrheit). Kant hält einen unmittelbar-materialen Ansatz (über eine begehrte Materie) für überhaupt untauglich zur Aufstellung wahrheitsgemäßer Notwendigkeits­ behauptungen und damit für untauglich zu Pflicht- und Rechtsbehauptungen, sodass materiale Konzeptionen im Ansatz verfehlt seien. Während etwa in Mills Konzept keine klare Trennung der Moral- bzw. Rechtswissenschaft von den Naturwissenschaften (etwa der Psychologie) möglich ist, eröffnet nach Kant nicht die Generalisierung bzw. Pauschalisierung von Erfahrungen, son­ dern die Denkmöglichkeit und Formulierbarkeit einer anderen Gesetzlichkeit als der Naturgesetzlichkeit und die strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit eines Gesetzes (Gesetzesform im Sinne einer allgemeingültigen Zustehens­ aussage) erst das Feld der Moral- und Rechtsbegriffe (Freiheitsbegriffe). Die Konformität eines Verhaltens mit einem allgemeinen Zustehensgesetz – des­ sen Gesetzesgemäßheit als solche – ist Richtigkeits- bzw. Wahrheitskriterium normativer Behauptungen; dies ist etwas anderes Glücksmaximierungsurteile einer Mehrheit bzw. einer erfahrenen Gruppe von Menschen (welche etwa nach Mill den Maßstab abgeben sollen)246. Nach dem bedürfnisunabhängigen Ansatz ist somit auch die Rede von „widerstreitenden Rechten“ (Hobbes) und „Kollisionen von Pflichten“ bzw. widerstreitenden (sekundären) Prinzi­ pien (Mill) als Ausdruck eines Widerspruchs in den eigenen Begriffen von „Recht“ und „Pflicht“ zu qualifizieren247. 246  Nach materialen Ansätzen sei, so Kant, diese Notwendigkeitsbehauptung nicht einsichtig zu machen bzw. sogar absurd. Die „reine a priori gesetzgebende Vernunft“ nehme auf „keinen empirischen Zweck (dergleichen alle unter dem allgemeinen Namen Glückseligkeit begriffen werden) Rücksicht … als in Ansehung dessen und worin ihn ein jeder setzen will, die Menschen gar verschieden denken, sodass ihr Wille unter kein gemeinschaftliches Prinzip … gebracht werden kann“, Kant, The­ orie und Praxis, II., S. 290, siehe auch KpV, § 3 Anm. II: Unmittelbar-material be­ gründete praktische Vorschriften „können niemals allgemein sein“. Zudem sei die Abschätzung aller Folgen einer Handlung im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile nach Begriffen von Wohl und Übel schwankend und unsicher, siehe etwa GMS, S. 402 und Theorie und Praxis, I.: „Der Wille also nach der Maxime der Glück­ seligkeit schwankt zwischen seinen Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg, und der ist ungewiß …“. Die fundamentale Differenz des Denkens zieht sich durch alle Bereiche; sie zeigt sich etwa schon beim Begriff der Wahrheit: Während nach Kant formales Kriterium der Wahrheit die Übereinstim­ mung des Urteils mit den Gesetzen des Denkens ist und demgemäß eine theoretische Aussage wahr ist, wenn sie eine allgemeingültige Erklärung einer Erscheinung nach Verstandesbegriffen zu bzw. in einem (idealen) Bewusstsein überhaupt liefert, ist nach sogen. „pragmatischer Wahrheitstheorie“ dasjenige wahr, was nützlich bzw. erfolgreich (wunschbefriedigend) ist. 247  Ein so beschriebener Gedankengang enthält demnach einen gedanklichen Feh­ ler: Allgemeingültige Prinzipien abzuwägen ist ebenso eine unmögliche, sich selbst widersprechende Vorstellung, wie die der Kollision von Rechten, Pflichten bzw.



III. Zusammenfassung der Ergebnisse161

Man kann die Differenz zwischen den Ansätzen (unmittelbar-material vs. bedürfnisunabhängig) betreffend die Weise der Bildung normativer (ethischer und rechtlicher) Begriffe verdeutlichen, indem man einige Beispiele konkreter Begriffsbestimmungen betrachtet. Zu dieser Verdeutlichung tau­ gen alle Begriffe der Ethik im weiten Sinne, sodass die im Folgenden ge­ nannten Beispiele nicht ausschließlich Rechtsbegriffe benennen: Man nehme etwa den mit dem Wort „Würde“ bezeichneten Begriff: Nach Kant hat alles „entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ im Sinne eines vor allem Akt bzw. vor (unabhängig von) irgendeiner besonderen Leistung ihm zukommenden „inneren Wertes“. Jeder Mensch als Person248 müsse sich als gesetzgebendes Glied in einem allgemeinen „Reich der Zwecke“ betrachten bzw. betrachtet werden und sei als Subjekt ein Gegenstand der Achtung und von aller übrigen Natur bzw. von allen bloßen Objekten prinzipiell zu unterscheiden. Bei Hobbes hingegen hängt der Wert eines Menschen für den jeweils anderen von seinem „Preis“ (dem Betrag, den man für den Gebrauch seiner Macht zahlen würde) ab: „Die Geltung oder der Wert eines Menschen liegt, wie der aller anderen Dinge, in seinem Preis, das heißt, er wird dadurch bestimmt, wie viel man für den Gebrauch seiner Macht zahlen würde, und ist daher nicht absolut, sondern abhängig vom Bedarf und Urteil eines an­ deren. … Mag sich ein Mensch (wie es die meisten tun) auch den höchsten Preis beimessen; sein wahrer Wert ist doch nicht höher, als ihn andere einschätzen“ (Leviathan, 10. Kapitel). Würdigkeit hingegen bestehe in einer besonderen Fähigkeit im Sinne einer Eignung bzw. Tauglichkeit zur Bewäl­ tigung einer bestimmten Aufgabe (der jemand dann würdig ist). Insofern ist sie nach Hobbes als besondere persönliche Fähigkeit zwar etwas anderes als der durch andere bestimmte Wert eines Menschen, hat allerdings als Taug­ lichkeit bzw. Geschicklichkeit zur Bewältigung einer beliebigen Aufgabe keinen ethischen oder rechtlichen Gehalt (etwa die Tötung einer gut be­ wachten Person erfordert ggf. besondere Fähigkeiten; wer einer solchen Tat fähig ist, ist im hobbesschen Sinne dann einer solchen möglichen Aufgabe „würdig“). Nach Mill ist „Würde“ ein Gefühl, das aus der Erfahrung von „Freuden höherer Qualität“ entsteht, wobei der so erfahrene Mensch trotz durch diese Erfahrungen ggf. größer werdender Unzufriedenheit „niemals in jene Daseinsweise wird absinken wollen, die er als niedriger empfindet“. Rechtsgütern. Wenn man sich hingegen fragt, was dem einen im Verhältnis zum jeweils anderen zusteht, sieht man sofort, dass niemandem etwas ausschließlich zu­ stehen und dasselbe auch ausschließlich jemand anderem zustehen kann. 248  Siehe auch oben A.II.2. ff. und Fn. 150.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

Insofern ist bei Mill eine Vergleichung mit anderen Menschen und die Fest­ stellung, diese handelten in „niedrigeren Daseinsweisen“ für das Haben des „Gefühls der Würde“ vorausgesetzt. Die Differenz einer ergebnis- bzw. zweck- oder nutzenorientierten Bil­ dung normativer Begriffe (nach materialem Ansatz) zu der Begriffsbildung nach dem nicht-materieabhängigen Ansatz kann auch am Beispiel des Be­ griffs der „Freundschaft“ gut deutlich gemacht werden: Nach Hobbes ist Freundschaft die Verbündung mehrerer Menschen, wenn und soweit diese nutzt (wechselseitig Macht erweitert). Sie existiert also letztlich zum Zweck des wechselseitigen Nutzens bzw. existiert sie nur, wenn und soweit sie beidseitig nutzt (nur insoweit ist sie gut). Nach Kant gäbe es Freundschaft gar nicht, wenn diese so begründet wä­ re: Freundschaft sei als „Vereinigung zweier Personen durch gleiche wech­ selseitige Liebe und Achtung“ ein „Ideal der Teilnehmung und Mitteilung an dem Wohl eines jeden dieser durch den moralischen Willen Vereinigten“. Es könne keine „auf wechselseitigen Vorteil abgezweckte Verbindung sein“, sondern die Verbindung müsse „rein moralisch“ sein und nicht primär auf Gefühl, sondern auf wechselseitiger Achtung beruhen. Durch Überprüfung eines wirklichen Verhältnisses zwischen Personen darauf, ob es sich bei diesem Verhältnis handelt um ein „völliges Vertrauen zweier Personen in wechselseitiger Eröffnung ihrer geheimen Urteile und Empfindungen“, so­ weit dieses Verhältnis „mit beiderseitiger Achtung gegeneinander bestehen kann“, wird ein solches Verhältnis ganz unabhängig von irgendeinem sonstigen (auch zufallsabhängigen) Nutzen als Freundschaft bzw. Nicht-Freund­ schaft bestimmt. „Reine Redlichkeit in der Freundschaft“ sei von der Ver­ nunft auferlegte ethische Pflicht, das Vernunftideal gebe die Richtschnur vor, und „hin und wieder“ existiere wirklich eine Freundschaft in ihrer Vollkommenheit249. Nach materialem Ansatz kann eine solche Vorstellung hingegen nicht als Ideal anerkannt werden, sondern müsste als nicht-gewollt verworfen wer­ den. Und dies nicht deshalb, weil die Verwirklichung schwierig ist, sondern deshalb, weil es nach materialem Ansatz letztlich um die in eigenem oder fremdem Nutzen messbaren Ergebnisse von Handlungen geht und der Be­ griff der Achtung der Person (jedenfalls primär) keine Rolle spielt: Aner­ kennungsverhältnisse, die letztlich nicht auf Nutzenkalkül basieren, haben in einem materialen Konzept keinen Platz. Zwar können zumindest nach 249  Kant, MdS, TL, §§ 46, 47, S. 469 ff. und GMS, S. 407, 408: „Reine Redlich­ keit in der Freundschaft“ könne „von jedem Menschen gefordert werden, wenn es gleich bis jetzt gar keinen redlichen Freund gegeben haben möchte …“. Wenn eine solche Verbindung zwischen Menschen nicht wirklich sei, dann sei Freundschaft ein Vernunft-Wunsch (eben kein einseitig-erreichbarer Willkürgegenstand).



III. Zusammenfassung der Ergebnisse163

dem Utilitarismus solche demnach irrationalen Vorstellungen, soweit sie dem sogen. „allgemeinen Glück“ im Sinne einer irgendwie bestimmbaren Gesamtglückssumme zutragend sind, als „gut“ bezeichnet werden. Denn es kann der Vorstellungsinhaber dann trotz bzw. sogar wegen seiner von ihm nicht erkannten Irrationalität nützlich bzw. zweckdienlich für andere sein; nur der strikte Utilitarist selbst wäre bei innerer Anerkennung von nichtnutzenbasierten Anerkennungsverhältnissen im Selbstwiderspruch. Demgegenüber darf bzw. kann nach dem nicht-bedürfnisfundierten (nicht unmittelbar-materialen) Ansatz der Konstitution von Sollensbehauptungen dasjenige, was nach materialem Ansatz „das Gute“ an einer Wirklichkeit ist (das Angenehme bzw. der Nutzen) nicht das primär Relevante sein, sondern sollte – der Hoffnung nach – zwar der Verhaltensbestimmung gemäß dem Rechtsgesetz und dem kategorischem Imperativ (siehe zum Verhältnis oben) nachfolgen, aber eben ohne in einer Zweckbestimmung ausschlaggebender Grund der Handlungen zu sein (somit sekundär, d. h. ohne dass die Verhal­ tensbestimmung davon abhinge). Dieselbe prinzipielle Differenz zwischen unmittelbar-materialem und nicht-bedürfnisabhängigem Ansatz zeigt sich (mehr oder weniger deutlich) bei der Bildung aller anderen ethischen und rechtlichen Begriffe. Für das konkrete Thema der Notstandsrechte entscheidend ist die Diffe­ renz der Begriffsbildung hinsichtlich des Begriffs „Recht“ bzw. „Rechts­ pflicht“: Während nach unmittelbar-materialem Ansatz das dadurch gedach­ te seinsollende Verhältnis der Menschen letztlich vom (jeweiligen) Bedürfnis abhängt250, behauptet Kant demgegenüber, dass damit in der Basis gar nichts anderes als ein bloßes Sein (verstandesmäßig erklärliche empirische Umstände) ausgedrückt wäre und ein allgemeingültiger Begriff von Recht und Pflicht demnach unmöglich sei (es diese Begriffe dann gar nicht gäbe). Nur nach einem prinzipiell-anderen, nämlich materieunabhängigen Begriffsbildungsansatz sei die in Pflicht- und Rechtsbehauptungen implizierte Rich­ tigkeits- bzw. Notwendigkeitsbehauptung wahrheitsgemäß möglich, sodass ein Ethik- und Rechtssystem auch nach diesen deutlich gemachten Bedin­ gungen seiner Möglichkeit zu konstruieren bzw. zu schaffen sei. Wenn also nach dem nicht-bedürfnisabhängigen Ansatz das unbedingte Zustehen von Etwas zu einem Subjekt im Begriff der Person bzw. des Menschen als Rechtssubjekt bzw. Würdeinhabers (Zweck an sich selbst) impliziert ist 250  Man könnte hier auch sagen „abhängen soll“, denn aus dem Dasein von be­ stimmten Bedürfnissen bzw. Wohlzuständen folgt selbstverständlich nicht einfach deren Daseinsollen. Insofern beruht jeder materiale Ansatz auf zumindest einer nor­ mativen Prämisse, die ist: Das Angenehme (das Wohl) soll sein (ist gut). Ob diese Prämisse im Sinne der humesschen Rationalitätsforderung (siehe oben Fn. 23 und Fn. 40) zureichend begründet oder wenigstens begründbar ist, das steht in Frage.

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A. Unterschiedliche Versuche der Moral- und Rechtsbegriffsbildung

(dazu genauer B.II.3.), dann scheint eine durchgängige Bedingung der rechtlichen Güterzuordnung auf gänzlich externe Umstände (die zufällige Not anderer) unmöglich. So verneinte Kant kategorisch ein Notstandsrecht zur Tötung selbst bei Erforderlichkeit zur Rettung des eigenen Lebens eben­ so wie ein Recht der notbedingten Bestimmung der Willkür eines anderen zu einer Tat (aktive Hilfspflichten). Bejaht hat Kant hingegen ein Notstands­ recht zur Gebrauchsanmaßung bezüglich fremden Bodens in Lebens- und schwerer Leibesnot (bei drohendem „Untergang“ als Person). Weshalb nach Kant ein Notrecht in Lebensnot zumindest bezüglich der Gebrauchsanmaßung betreffend fremde Sachen gegeben ist (eine solche Güterzuordnungsbedingung rechtlich möglich und sogar notwendig ist; im­ merhin ein – wenn auch enges – Notrecht), bleibt bei ihm jedoch im Detail offen. Es bleibt hier, wie Küper zutreffend fordert (Fn. 236), „eine Verbin­ dung“ der Notrechts-Reflexionen Kants mit den „Grundprinzipien“ seiner Rechtslehre in aller Deutlichkeit herzustellen. Dies soll im nächsten Teil – nach Stellungnahme zur Frage der Bildung allgemeingültiger normativer Begriffe (mit Verbindlichkeitsanspruch), also zum Dissens zwischen unmittelbar-materialem und nicht bedürfnisabhängi­ gem Ansatz – versucht werden.

B. Auflösung der Aufgabe Eine Sollensbehauptung beruht entweder auf einem sinnlichen Begehren (sei es das Begehren desjenigen, der diese Behauptung aufstellt oder das Begehren der meisten Menschen im konkreten Fall oder dasjenige einer erfahrenen vermeintlichen Elite) oder nicht. Wenn ja, wenn also eine Sol­ lensbehauptung letztlich unmittelbar-material begründet wird, aber nicht nur subjektiv für die faktisch-zufällig im Sinne des Forderungsinhalts Begehren­ den gelten soll251, dann ist der Zugriff des einen auf den anderen Men­ schen – und sei es eben nur in Notsituationen – jedenfalls prinzipiell möglich: Der Gedanke bereitet keine Schwierigkeit, weil ein wie auch im­ mer qualifiziertes sinnliches Begehren anderer den Zugriffsgrund darstellt. Wenn sinnliches Begehren hingegen keine Bedingung für die Gültigkeit von Verhaltensgeboten darstellt, dann kann das nur der Fall sein, wenn Materie (sinnlich-begehrt oder nicht) nach einem allgemeingültigen unbedingten Vernunftprinzip zugeordnet wird zu nicht-materialisierbaren Subjek­ ten als Würdeinhabern („Zwecken an sich selbst“), also solchen Gegenstän­ den, denen etwas im Sinne einer durch alle anderen anzuerkennenden Zu­ ordnung ohne Bedingung auf externe Umstände für sich zusteht. Und auch wenn das gedankliche Verfahren dieser Zuordnungen genauer bzw. deutli­ cher darzustellen wäre, als es Kant getan hat, kann bezüglich dieses Ansat­ zes zumindest folgende Aussage schon getroffen werden: Da dieses apriori­ sche Vernunftprinzip (der kategorische Imperativ bzw. das Rechtsgesetz) aus uns selbst kommt und nicht etwa bloß seitens des Menschen aus der übrigen Natur empfangen wird (hinreichender Erkenntnisgrund der Selb­ ständigkeit des Menschen ist), sind demnach wir selbst die Pole dieser Zuordnungen (Menschen als Personen) und diese Zuordnungen von Etwas zu Jemandem können nicht etwa durchgängig bedingt sein auf – und sei es besondere – Bedürfnisse anderer. Ansonsten handelte es sich um einen ma­ terialen Ansatz in ggf. bloß anderem sprachlichen Gewand. Dementsprechend kann die Frage nach Möglichkeit und Inhalt von Not­ standsrechten nur derjenige befriedigend beantworten, der sich über diese 251  Ansonsten wäre die „Sollensbehauptung“ als solche per se unsinnig, weil eine Behauptung wie „Tue / Unterlasse x“ (bzw. „Man soll x tun / unterlassen“) entweder stets umzuformulieren wäre in die tautologische Seinsaussage „Es begehrt x, wer x begehrt“ oder aber die normative Prämisse „Tue stets, was du gerade zufällig be­ gehrst“ unbegründet voraussetzte.

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B. Auflösung der Aufgabe

Grundfrage Klarheit verschafft hat. Ohne dies bleiben auch alle Einordnun­ gen und Auslegungen der Notstandsregeln des geltenden Rechts und erst recht etwaige Einzelfallbeurteilungen ohne Verbindlichkeit. Etwa die Rege­ lung des § 34 StGB mit ihrer unbefangen anmutenden Abwägung von Inte­ ressen scheint vor diesem Hintergrund zunächst ein Ausdruck eines unmit­ telbar-materialen (wenn auch nicht rein-utilitaristischen, siehe oben) Ansat­ zes zu sein. Jedoch rekurrieren sowohl Rechtsprechung als auch überwie­ gende Literatur bei der Auslegung der Norm offensichtlich, nämlich mit der Annahme gewisser absoluter Unverfügbarkeiten (nicht dem Notstandszugriff zugänglicher Güter, etwa des Lebens) implizit auf den nicht-unmittelbar materialen Ansatz. Denn nur demnach kann sich die Annahme solcher ab­ soluter Unverfügbarkeiten ergeben (siehe oben). Das positive deutsche Recht drängt jedenfalls durch Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar …“) einen solchen Rekurs auf den nicht unmit­ telbar-materialen Ansatz auch geradezu auf. Aus der Perspektive eines nicht-unmittelbar-materialen Ansatzes ist dann allerdings die Formulierung des § 34 StGB nicht verständlich, weil sie so jedenfalls keine grundbegriff­ lich angebundene Konkretisierung eines etwaig herleitbaren Notstandsrechts enthält (wie man es ideal von jedem Element einer positiven Rechtsordnung erwarten müsste). Da die beiden Ansätze der Generierung verbindlicher Sollenssätze sich wechselseitig ausschließen (im Sinne einer vollständigen Disjunktion252) ist eine deutliche Positionierung in der Grundfrage angezeigt. Ein auf – dann eben unklaren – Voraussetzungen beruhendes Gemisch führt in keiner Wei­ se weiter, weil es nichts anderes wäre, als Äußerung einer unzureichend gebildeten Meinung.

I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes der Generierung von Sollensbehauptungen Ein materialer Ansatz ist logisch-untauglich zur Generierung von Pflichtbehauptungen (nicht von Notwendigkeitsbehauptungen in hypothetischer Form, aber eben von Pflichtbehauptungen): Wenn etwa Hobbes „Recht“ mit dem einseitig bzw. subjektiv-relativ-belie­ bigen „Angenehmen“ gleichsetzt, dann will er damit zwar mehr zum Aus­ druck bringen als den banalen (weil tautologischen) Satz: Das Angenehme ist 252  Kant formulierte den Gegensatz auch als Frage entweder der durchgängigen Unterordnung des Glückseligkeitsprinzips bzw. des „Prinzips der Selbstliebe“ unter das Pflichtprinzip (nicht-materialer Ansatz) oder demgegenüber der Herrschaft des Glückseligkeitsprinzips (ohne eigentliche Pflichtvorstellung – Ziel materialer Ansät­ ze), KpV, §§ 2 ff.



I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes167

gut (bzw. Recht) und gut (Recht) heißt angenehm. Vielmehr setzt er eine normative Prämisse, die nichts anderes aussagt als: Jeder handele ganz nach seinem Belieben. Der Satz Hobbes’ „Jeder hat ein Recht auf alles, den Kör­ per des anderen nicht ausgenommen“ (siehe A.I.1.) bedeutet eben dies. Eine solches Statement mag, wenn es wie bei Hobbes von jemandem kommt, der sich etwa als durch uneinsichtige, objektiv-teleologische bzw. theologische (mystische) Sozialkonzepte eingeengt sieht und solchen eben­ falls irrationalen Vorstellungen scharf entgegentreten will, psychologischverständlich sein. Begrifflich sinnvoll oder bei strenger Prüfung überhaupt haltbar ist es nicht: Denn wenn man annimmt, jedem stehe es zu, sein sinnliches Belieben bedingungslos auszuleben (jedermann stehe alles zu), ohne insoweit also schon besondere Rücksicht etwa auf das Belieben ande­ rer zu nehmen, dann verneint man damit zugleich notwendig die Annahme (der Möglichkeit) interpersonaler Zustehensbeziehungen (die somit aller­ dings immerhin dunkel angedacht werden, eben weil mit dem Ansatz etwas anderes bzw. mehr zum Ausdruck gebracht werden soll, als entweder tauto­ logische oder aber unwahre Seinsbehauptungen). Die unmittelbare und schlichte Konsequenz dessen zieht Hobbes – eben­ so wie alle Vertreter eines unmittelbar-materialen Ansatzes – nicht: Wenn dies so ist, dann wird zugleich auch die Möglichkeit verneint, es könne der eine dem anderen gegen dessen faktisches Begehren vorstellen, was zu tun sei. Dies ist das unauflösbare Dilemma jedes unmittelbar-materialen „Rechts“-Konzepts mit Theorieanspruch, denn ein solches wendet sich ei­ nerseits an einzelne Menschen, um diese zu überzeugen, wobei die Über­ zeugungsbildung nicht darauf gehe soll, dass das Angenehme angenehm sei, sondern dass das Angenehme den Maßstab des Handelns liefere. Insofern werden andere Menschen als kommunikative Interaktionspartner demnach immerhin für relevante Gegenstände bzw. für urteilende Subjekte in Ab­ grenzung zu verstandeslosen (bloßen) Objekten gehalten. Andererseits muss aber jede nach einem unmittelbar-materialen Ansatz gebildete Verhaltens­ ordnung, die über das Propagieren eines rein-subjektiven Hedonismus hin­ ausgeht (und eben Verhaltensordnung sein will), die vielen zufälligen und somit oft in Auslebung gegensätzlichen Vorlieben der Menschen jedenfalls im Großen und Ganzen auf eine einheitliche Linie bringen und die vorge­ stellte Ordnung ggf. auch zwangsweise – also entgegen dem Belieben ein­ zelner – durchsetzen können. Der Glaube, dass dies zu tun sei und von allen aufgrund irgendeiner Selbstbindung zu akzeptieren sei, widerspricht nun aber der Prämisse des Beliebigen, die – ernstgenommen – eben die Möglichkeit verbindlicher, allgemeingültiger inhaltlich bestimmbarer Ver­ haltensanforderungen verneint. Wenn Hobbes, für den unter dem Einfluss des englischen Bürgerkriegs (1642 bis 1649) der Selbsterhalt bzw. eine diesbezügliche Sicherheit das wichtigste Gut war, diese Vorstellung zur

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B. Auflösung der Aufgabe

allgemeinen erhebt und daraus ein relativ bestimmtes, im Falle des Wider­ standes auch erzwingbares Verhaltenskonzept gemäß einer als Anwendung einer „recta ratio“ bezeichneten Überlegung entwickelt, dann widerspricht er seiner eigenen Prämisse. Hier liegt der interne und nicht behebbare Wi­ derspruch bei Hobbes (der sich entsprechend in allen material-ansetzenden Normativitätskonzepten findet bzw. finden muss): Der als anzustrebend behauptete, konkrete Zweck (bei Hobbes eben Selbsterhalt) stammt nach dem Ansatz notwendig aus der Erfahrung (eines oder vieler oder – unwahr­ scheinlich – sogar aller Menschen) und kann somit unmöglich als von allen Menschen zu aller Zeit gewollt (höchstens als bisher stets gewollt) behaup­ tet werden. Die allgemeine Behauptung des Daseins dieses Zustandes ist somit eine normative Prämisse, die lautet: „Alle sollen bzw. müssen x wollen“ (bei Hobbes ist x Selbsterhalt im Sinne von Am-Leben-Bleiben). Diese strenge Allgemeinheit ist nach einem solchen materialen Ansatz nicht begründet, sondern es dürfte nach dem eigenen, kritisch gegen objektiv-te­ leologische oder metaphysische Vorstellungen gesetzten (vermeintlich-ratio­ nalen) empiristischen Anspruch stets nur heißen: „Wenn ich x will, dann sollte ich a, b, … tun“. Und hinsichtlich solcher angedachter hypothetischer Imperative gilt: Ob sich jemand einen durch ihn beeinflussbaren zukünftigen Zustand als an­ genehm vorstellt und sich dessen Hervorbringung als Zweck setzen will, das hängt (vom sinnlichen Begehren und damit) für einen pragmatischrational urteilenden Menschen (nach dem Ansatz soll Pragmatik verbindli­ che Normativität erzeugen) auch ab vom Wollen der dann konkret-aufzu­ wendenden Mittel zur Erreichung sowie der Inkaufnahme der Risiken da­ bei (bewertet nach Begriffen von „Wohl“ oder „Übel“). Der Zweck kann als solcher – als wirklich und nicht als bloß möglicherweise anzustreben­ der Gegenstand – rational gar nicht in Unkenntnis der dazu erforderlichen Mittel gesetzt werden. Andernfalls kann man sich nicht sicher sein, einen bestimmten Zustand anzustreben, dessen Erreichung (als Wohl) den zur Erreichung erforderlichen Mittelaufwand (als Übel) nicht wert ist (sich ökonomisch nicht lohnt). Ob man also Etwas will und als eigenen Zweck setzt (Willkür in Abgrenzung zum Wunsch der Zwecksetzung unter er­ wünschten anderen Bedingungen), das steht pragmatisch betrachtet mit dem Wollen der aufzuwendenden Mittel in einem Proportionalitätsverhält­ nis: Je geringer der Mittelaufwand zur Erreichung von x, desto eher setze ich x als meinen Zweck bzw. je wichtiger der potentielle Zweck, desto größer kann der Mittelaufwand zu dessen Erreichung sein, sodass es sich für mich (noch) lohnt253. Der gedankliche Prozess vollzieht sich demnach 253  Schon Rousseau kritisierte, Hobbes habe dies nicht ausreichend berücksich­ tigt: „Auf diese Weise wird die menschliche Art in Viehherden aufgeteilt, deren



I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes169

strukturell stets wie folgt: Die Handlung a führt zu x, aber auch zu z. Ich stelle mir das Dasein von x als angenehm vor, das Dasein von z aber als unangenehm. Was erscheint mir letztlich für mich angenehmer? Wenn es trotz der Anstrengung der Handlung a und ihrer Folge z x ist, dann soll ich a tun: Das in Kenntnis aller Folgen Begehrte und das Gesollte fallen zusammen und das Sollen hat bloß subjektive bzw. damit eigentlich gar keine über das jeweilige Begehren hinausgehende Bedeutung. Denn nach der Ausgangsprämisse gilt: Wem das jeweils vorgestellte Konzept (etwa das von Hobbes) bekannt ist, ohne dass es ihm gefällt und er ihm folgen möchte, den bindet es nicht (sodass ein erhobener Allgemeingültigkeitsan­ spruch einen internen Widerspruch darstellte): Wenn es keine allgemeinen interpersonalen Zustehensverhältnisse (Rechtsverhältnisse) gäbe, dann könnten solche auch nicht im bzw. durch einen Staat durchgesetzt werden, sodass staatliche Herrschaft (etwa im Sinne Hobbes’), wie Geismann es treffend ausdrückt, „ohne Rechtsgrund, ihr Gehorsamsanspruch ohne Legitimation“254 wäre. jede ihr Oberhaupt hat, das sie bewacht, um sie zu verschlingen“ (Gesellschafts­ vertrag, 1. Buch, 2. Kapitel). Und derselbe: „… Es wäre nicht vernünftiger zu glauben, dass die Völker sich zunächst bedingungslos und unwiderruflich einem absoluten Herrscher in die Arme geworfen hätten und dass das erste Mittel, für die allgemeine Sicherheit zu sorgen, darin bestanden hätte, sich in die Sklaverei zu stürzen. Warum nämlich haben sie sich Höherstehende gegeben, wenn nicht dafür, dass diese sie gegen Unterdrückung verteidigen und ihr Hab und Gut, ihre Freiheit und ihr Leben schützen, welche sozusagen die konstitutiven Elemente ihres Da­ seins sind? Nun ist in den Beziehungen von Mensch zu Mensch das Schlimmste, was dem einen widerfahren kann, sich der Willkür des anderen ausgeliefert zu sehen; wäre es dann nicht wider den gesunden Menschenverstand gewesen, wenn sie sich zunächst in den Händen eines Oberhauptes der einzigen Dinge entledigt hätten, für deren Erhaltung sie seiner Hilfe bedurften? Welchen Gegenwert hätte jener ihnen für die Überlassung eines so schönen Rechts anbieten können; und wenn er es – unter dem Vorwand, sie zu verteidigen – zu fordern gewagt hätte, würde er nicht sogleich die Antwort aus der Fabel erhalten haben: ‚Was könnte uns der Feind Schlimmeres antun?‘ …“ (in: Ungleichheitsabhandlung S. 96–97). Selbstverständlich war Hobbes diese simple Funktion bewusst: Sein Fehler bestand aber eben darin, das von ihm selbst nach seinen individuellen Erfahrungen und Bedürfnissen begehrte Konzept – widersprüchlich zu seiner Grundannahme eines bloß aus Erfahrung ermittelbaren Verhaltensmaßstabs – als allgemein zu Begehren­ des zu behaupten. 254  Geismann, Hobbes-Rousseau-Kant, S. 8. Geismann schreibt: „All diejenigen, die Hobbes wegen seiner staatsrechtlichen Konsequenzen kritisieren und selber eine Idee von ‚materialer Gerechtigkeit‘ vertreten, … sehen nicht, dass auch sie wie Hobbes dem desaströsen Irrtum erliegen, Recht aufgrund von möglichen menschli­ chen Zwecken bestimmen zu können …“. Nach Geismann entgehen diese Kritiker „wie schon Locke und Mill“ den von Hobbes dargestellten Konsequenzen „nur da­ durch, dass sie keine Grundsätzen haben oder sich nicht daran halten“, Geismann, Hobbes-Rousseau-Kant, dort in Fn. 34.

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B. Auflösung der Aufgabe

Mills materialer Normativitätsbegründungsversuch schlägt mindestens ebenso fundamental fehl: Wenn Mill behauptet, jedermann begehre „Glück“, so kann man dem zwar zustimmen. Denn der Sache nach wird damit überhaupt nicht mehr behauptet als: „Jedermann begehrt etwas“ bzw. „Jedermann begehrt das, was er begehrt“. „Glück“ in diesem Sinne ist nämlich bloß ein Sammelbe­ griff für jedes begehrte Etwas. Mills Fehler besteht nun darin, zu glauben, es könne aus einer solchen Ausdrucksweise (Etwas als Gegenstand eines Begehrens durch das Wort „Glück“ zu ersetzen) ein allgemeiner Maßstab für richtiges Handeln entwickelt werden. Die Zusammenfassung aller mög­ lichen subjektiven Begierden unter dem demgemäß unbestimmten Begriff „Glück“ ohne weiteren Konkretisierungsversuch – etwa wie bei Hobbes die Behauptung, das Selbsterhaltungsbegehren im Sinne des Am-Leben-Bleibens sei ein allgemeines – führt Mill (und alle Utilitaristen) zunächst zu gar keinem Verhaltensgebot, nicht einmal zu einem pauschalen oder besonderen praktischen Ratschlag. Welcher sollte das auch sein? Die weitergehende Behauptung Mills, die von ihm als Konsequenz des allgemeinen („Glücks“-)Begehrens ausgegeben wird, es begehre jedermann („also“) das „allgemeine Glück“, enthält dann eine Zusammennahme aller subjektiven Glücksvorstellungen unter den Terminus des „allgemeinen Glücks“. Irgendein greifbarer (fester) Inhalt steckt hinter diesem Terminus nicht; ein verbindliches normatives Prüfprinzip für menschliches Verhalten ist insoweit immer noch nicht ersichtlich. Erst die kollektivistische GlücksAdditionsbehauptung, nach welcher subjektive Begehren unterschiedlicher Menschen zum „allgemeinen Glück“ summiert werden sollen (bzw. alle Leiden als negative Größen davon subtrahiert werden), gibt dem Konzept überhaupt eine regulative Funktion. Diese Additions-Annahme über Indivi­ duumsgrenzen hinweg lässt jedoch „die Gesellschaft“ im Sinne eines ein­ heitlichen Großsubjekts zum eigentlichen Rechtsinhaber werden: Derjenige, auf den es eigentlich ankommt bzw. dem etwas für sich zusteht ist dann die (Fiktion der) Gesellschaft, der die als „allgemeines Glück“ bezeichnete Summe der einzelnen Glückspositionen als Gut zugeschrieben wird. Eben diese Verrechnungsannahme ist nach dem eigenen subjektiv-mate­ rialen Ansatz Mills, den er gerade gegen „Apriori-Moralisten“ für einen rationalen hält, zunächst gar nicht einsichtig. Die Rückbindung an den Ausgangspunkt des jeweiligen subjektiven Begehrens wird von Mill dann erschlichen durch die subtil einfließende Behauptung von anerzogenen bzw. anzuerziehenden „Gemeinschaftsgefühlen“, durch die also die Ver­ knüpfung des Gesellschaftswohls (des „allgemeinen Glücks“) mit dem Be­ gehren jedes einzelnen Menschen hergestellt werden soll. Erst bei einem in diesem Sinne richtig fühlenden Menschen korrespondiert der Zweck der



I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes171

Gesellschaftswohlförderung mit dem subjektiven Begehren. Schon darin ist eine Überhebung einiger Menschen über andere ebenso wie die wohl allen utilitaristischen Konzepten innewohnende pädagogische Grundhaltung auch gegenüber ganz fremden Menschen impliziert. Bei Mill schlägt sich diese Überheblichkeit in der Behauptung nieder, eine gesellschaftssteuernde uti­ litaristische, ideal in allen möglichen Tätigkeiten erfahrene Elite könne und müsse stets verbindlich beurteilen, was das Gesellschaftswohl konkret am meisten mehrt (bzw. am geringsten mindert), da die erfahrenen Menschen insoweit die besten Beurteilungsmöglichkeiten hätten. Wie diese Menschen selbst aber ihre jeweiligen Erfahrungen normativ bewerten sollen und wes­ halb solche Bewertungen auch für andere bindend sein sollten, bleibt ganz und gar offen. Somit steuert nach Mill zwar jeder den anderen, jedoch steuert keiner sich selbst. Obwohl sich angesichts dieses Befundes geradezu aufdrängt, dass ein materialer Ansatz nicht zur Konstitution wahrer allgemeiner Sollenssätze taugen kann, weil eine allgemein begehrte Materie schon nicht gefunden werden kann und die Zusammenfassung aller subjektiven Begierden unter dem Namen „Glück“ keinerlei Erkenntnisgewinn bringt, versucht Mill das utilitaristische Prinzip zu „beweisen“. Dieser vermeintliche „Beweis“ des utilitaristischen Prinzips wiederholt – wie nicht anders zu erwarten – diesel­ ben Fehler: Mill schreibt, ebenso wie der Beweis, dass ein Ton hörbar sei, dadurch geführt werden könne, dass man ihn hört255, könne bewiesen werden, dass etwas wünschenswert sei, dadurch dass man es wünscht. Schon dies ist unzutreffend: Die Behauptung der Möglichkeit der Wahrnehmung von Et­ was kann durch wirkliche Wahrnehmung (Feststellung der beschriebenen Erscheinung zu einer bestimmten Zeit an einem Ort) bewiesen werden. Hingegen kann das Da-Sein-Sollen von Etwas unmöglich bloß durch die Feststellung des Daseins von Etwas (eines empirisch festgestellten subjekti­ ven sinnlichen Begehrens) bewiesen werden (insoweit zwingend Hume, Fn. 23). Gegen diesen sich aufdrängenden Einwand will Mill seinen „Beweis“ fortführen, indem er (implizit) behauptet bzw. zu zeigen versucht, dass letztlich nichts anderes als Glück begehrt werden könne. Alle vermeintli­ chen anderen Zwecke wie etwa Geld oder Tugend seien zunächst Mittel zur Erreichung von „Glück“ gewesen: Durch Gewöhnung stelle sich das Glück 255  Diese Ausführung enthält eine begriffliche Schludrigkeit: Die Bejahung des Daseins eines Tons impliziert schon die Bejahung der akustischen Wahrnehmbarkeit dieses als Ton bezeichneten Etwas.

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B. Auflösung der Aufgabe

dann jedoch schon bei der Mittelbeschaffung (Gelderhalt / tugendhaftem Handeln) ein, sodass die Mittel dann nicht mehr bloß zur Zweckerreichung, sondern auch als Teile des Zwecks selbst begehrt würden (Utilitarismus, S. 111 ff.). Mill hält dies für „psychologisch richtig“ (S. 115) bzw. für eine „psychologische Tatsache“ (S. 121). Demgemäß meint er: Auch „wer die Tugend um ihrer selbst willen erstrebt, erstrebt sie entweder deshalb, weil das Bewusstsein, sie zu besitzen, lustvoll ist oder weil das Bewusstsein, sie nicht zu besitzen, unlustvoll ist bzw. aus beiden Gründen zugleich … Emp­ fände man das eine nicht als lustvoll, das andere nicht als unlustvoll, hätte man keinen Grund, nach Tugend zu streben, es sei denn um irgendwelcher anderer Vorteile willen, die sie einem selbst oder anderen, an denen einem gelegen ist, verschafft … Wenn die Auffassung psychologisch richtig ist – wenn die menschliche Natur so beschaffen ist, dass sie nichts begehrt, was nicht entweder ein Teil des Glücks oder ein Mittel zum Glück ist, dann haben wir keinen anderen Beweis dafür, dass dies die einzigen wünschens­ werten Dinge sind. In diesem Fall ist Glück der einzige Zweck menschli­ chen Handelns und die Beförderung des Glücks der Maßstab, an dem alles menschliche Handeln gemessen werden muss, da ja der Teil im Ganzen enthalten ist“ (S. 116, 117). „Glück“ ist dabei aber, wie gesagt, nur ein Sammelbegriff für alle sub­ jektiven angestrebten, angenehmen Empfindungen oder Gedanken und könnte durch „begehrtes Etwas“ ersetzt werden. Insofern sagt Mill auch insoweit inhaltlich nicht mehr als: Wenn der Mensch überhaupt handelt, dann strebt er nach irgendetwas und dieses Etwas (was immer es sei) nen­ ne ich „Glück“. Daraus folgt bei rationaler Betrachtung – entgegen Mill – rein gar nichts. Mill fährt fort: „Ich bin sicher, dass die unvoreingenommene Prüfung dieser Evidenzquelle (Erfahrung hinsichtlich des Begehrens nur solcher Gegenstände, die Lust bzw. Abwesenheit von Unlust hervorbringen) erge­ ben würde, dass etwas zu begehren und es lustvoll zu finden, vor etwas zurückzuweichen und es für unlustvoll zu halten gänzlich untrennbare Phä­ nomene oder vielmehr zwei Seiten desselben Phänomens sind – genau ge­ nommen: zwei verschiedene Formulierungen für die psychologische Tatsa­ che, dass etwas (abgesehen von den Folgen) für wünschenswert zu halten und es für lustvoll zu halten ein und dasselbe ist und dass es eine physische und metaphysische Unmöglichkeit ist, etwas anderes als in dem Maße zu begehren, in dem die Vorstellung von ihm lustvoll ist … was man hiergegen einwenden wird, ist nicht, dass sich das Begehren möglicherweise statt auf Lust und das Freisein von Unlust auf einen anderen Endzweck richten kön­ nen, sondern dass der Wille etwas anderes ist als das Begehren; dass ein tugendfester Mensch bzw. jeder der weiß, was er will, seine Absichten verwirklicht, ohne auf die Befriedigung zu achten, die ihm der Gedanke an



I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes173

sie verschafft oder die er von ihrer Ausführung erwartet, und auch dann weiterhin diesen Absichten gemäß handelt, wenn diese Befriedigung durch Veränderungen in seinem Charakter oder das Nachlassen seines Empfin­ dungsvermögens stark gemindert ist oder durch die Mühe, die ihm die Verfolgung seiner Ziele bereitet, aufgewogen wird. Alles das gebe ich im vollen Umfang zu … Der Wille ist das aktive Prinzip, ist etwas anderes als das Begehren, der Zustand passiver Reizbarkeit, und obgleich er im Begeh­ ren entspringt, kann er mit der Zeit eigene Wurzeln schlagen und sich von der Mutterpflanze so vollständig lösen, dass wir in Fällen gewohnheitsmä­ ßiger Zwecke etwas häufig nicht deshalb wollen, weil wir es begehren, sondern deshalb begehren, weil wir es wollen – ein Beispiel für jene altver­ traute Tatsache: die Macht der Gewohnheit … So verstanden, ist die Unter­ scheidung zwischen Wille und Begehren eine unleugbare und überaus wichtige psychologische Tatsache; eine Tatsache allerdings, die allein darauf beruht, dass der Wille wie alle anderen Bestandteile der Natur der Gewohn­ heit unterworfen ist und wir nicht mehr um seiner selbst willen begehren, oder es nur deshalb begehren, weil wir es wollen. Deshalb ist es jedoch nicht weniger wahr, dass der Wille ursprünglich gänzlich ein Produkt des Begehrens ist – darin eingeschlossen die Anziehungskraft der Lust und die Abstoßungskraft der Unlust“ (S. 119–121). Mit dieser Argumentation, die für Mill keine Erklärung der Möglichkeit eines nach einem vorausgesetzten, prinzipiell-anderen Maßstab zu bestim­ menden moralisch-richtigen Verhaltens auch ohne jederzeitige bewusste Prüfung bzw. letztbegründete Einsicht in dessen Richtigkeit ist (als solche wäre die Annahme Mills wohl haltbar256), sondern das Nützlichkeitsprinzip (Glücksprinzip bzw. utilitaristische Prinzip) selbst als Letztmaßstab der moralischen Beurteilung von menschlichem Verhalten „beweisen“ soll (dies 256  L. W. Beck betont zwar zutreffend, dass das Sittengesetz bzw. der kategorische Imperativ (hier gemeint mit „prinzipiell-anderem Maßstab“) nur bei Bewusstma­ chung die Triebfeder einer Handlung sein könne (Beck, S. 208, 209). Das insoweit erforderliche Bewusstsein kann aber – sowohl bezüglich kategorischem Imperativ selbst, als auch bezüglich konkreter, daraus abgeleiteter Verhaltensgebote – ein eher dunkles sein: Man muss den kategorischen Imperativ nicht notwendig deutlich for­ muliert und in alle Zusammenhänge konkretisiert haben, um überhaupt durch ihn normativ zu urteilen. Deshalb spricht Kant auch (zwar ungenau) davon, das „mora­ lische Gesetz“ selbst sei die Triebfeder zu ethisch-korrekten Handlungen. Genau genommen muss es heißen: Ein zumindest dunkles Bewusstsein des moralischen Gesetzes …, siehe auch Kant, MdS, Ein. II., S. 216, 217: Im Sich-VerpflichtetGlauben bzw. im Glauben, „eine allgemeine Gesetzgebung in sich zu haben“ sei die Anerkennung von (praktischen) Prinzipien a priori (das Bewusstsein des kategori­ schen Imperativs und die Annahme des Habens einer Metaphysik der Sitten) impli­ ziert und „jeder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art, in sich“.

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B. Auflösung der Aufgabe

ist etwas ganz anderes), vernichtet Mill für seine Konzeption – ohne es zu bemerken – gedanklich die Möglichkeit von Moralität und Recht257: Unbestritten ist, dass alles bewusste Handeln im Handlungssubjekt Urtei­ le und Empfindungen nicht nur voraussetzt, sondern auch mit sich bringt. Die Empfindungen beim Handeln kann man auch als Lust bzw. (Abwesen­ heit von) Unlust bezeichnen. Insofern könnten auch die Empfindungen beim Aufsichnehmen von empirischen Unbequemlichkeiten aus (nach einem prinzipiell anderen Ansatz überhaupt erst denkbarer) Pflicht im Sinne von Selbstnötigungsnotwendigkeit im Wissen um die moralische Richtigkeit des Handelns als Lust bezeichnet werden. Dies wäre dann die Lust aus der Selbstbestimmung bzw. Achtung des Menschen (der Person)258. Aber dies aus einem unmittelbar-sinnlichen Begehren ableiten zu wollen, bedeutete die Annahme eines unmittelbar-sinnlichen Begehrens von personaler Achtung bzw. Selbstbestimmung und machte die Begriffe Selbstbestimmung bzw. Achtung der Person unmöglich, da es sie zugleich als irrationale, weil widersprüchliche Scheinbegriffe auswiese. Es lieferte auf die Frage Wie ist Selbstbestimmung bzw. Moralität und Recht möglich? die Antwort: Gar nicht, dies sind faktische Vorstellungen, welche aus dem sinnlichen Begeh­ 257  Dem entspricht in theoretischer Hinsicht (hinsichtlich der Erkenntnistheorie) die schon genannte Kritik Kants an Hume bezüglich der Einordnung der Verstandes­ begriffe, etwa des Begriffs der Kausalität: Begriffe durch Gewöhnung erschlichen, in der Allgemeingültigkeitsbehauptung unwahr und als solche nicht vorhanden (so Hume) vs. notwendige (reine) Verstandesbegriffe zur Konstitution von Erfahrung, dieser also notwendig vorausgesetzt (so Kant), siehe dazu A.II.1., Fn. 103. 258  In diesem Sinne und damit konträr zum Gedankengang Mills behauptete Kant sogar, die Befolgung des kategorischen Imperativs sei die einzige sichere Basis von „Glückseligkeit“ (also nicht nur Bedingung der Würdigkeit zur Glückseligkeit, son­ dern sogar Bedingung ihrer Möglichkeit): Die Glückseligkeit im eigentlichen Sinne bestehe nämlich „im Wohlbefinden, sofern es nicht äußerlich zufällig ist …“. Sie sei „nicht die größte Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewusstsein seiner Selbstmacht“. Wir selbst könnten Moralität „als Urheber … unangesehen der empirischen Bedingungen (welche nur particuläre Lebensregeln geben können) her­ vorbringen“, diese führe „Selbstzufriedenheit bei sich“ als notwendige – wenn auch nicht für sich hinreichende – Bedingung wirklicher „Glückseligkeit“: Erst mit dem deutlichen Bewusstsein seines eigenen Wertes als Person und der Erfüllung der da­ mit verbundenen Verhaltensge- bzw. -verbote habe der Mensch „das Vermögen, auch ohne Lebensannehmlichkeiten zufrieden zu sein …“. Damit wird materielle Glück­ seligkeit zugleich als sekundär bestimmt, denn moralisches Handeln ist jedenfalls die Bedingung der Willkürausübung auf Konformität mit einem allgemeinen Zustehensgesetz (Gesetz der Freiheit) und dessen Verinnerlichung als überhaupt-richtig (Vergnügen bzw. Lust sollen also niemals außerhalb dieser Bedingungen stattfinden); Zitate von Kant aus Nachlass, siehe AA XIX, S. 276–278. Achtung sei ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl …, welche bloß das Bewusstsein der Unterordnung meines Willens“ unter den kategorischen Imperativ sei. In diesem Sinne sei Achtung für eine Person „eigentlich … Achtung fürs Gesetz (der Recht­ schaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt …“, GMS, S. 402, Fußnote.



I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes175

ren von Etwas (x) durch Gewöhnung entstehen. Der Gegenstand eines sol­ chen Begehrens (x) kann nach einem materialen Ansatz unmöglich aufge­ klärt oder gefunden werden und die Möglichkeit von Ethik und Recht (als etwas anderes als nur subjektiv-beliebig setzbare Wünsche) müsste verneint werden. Dasselbe drückt Kant aus, indem er schreibt: „… der Begriff der Pflicht kann davon (vom moralischen Gefühl) nicht abgeleitet werden, sonst müssten wir uns ein Gefühl eines Gesetzes als eines solchen denken und das zum Gegenstand der Empfindungen machen, was nur durch Vernunft gedacht werden kann; welches, wenn es nicht ein platter Widerspruch wer­ den soll, allen Begriff der Pflicht ganz aufheben und an deren Statt ein mechanisches Spiel feinerer, mit den gröberen bisweilen in Zwist geratenen Neigungen setzen würde …“259. Der Grund, etwa weshalb bei tugendwidrigem Verhalten ein schlechtes Gewissen entstehen kann und dies nicht als ein psychologisch-pathologi­ sches Phänomen beurteilt werden muss, ist immer schon dunkel vorausge­ setzt, wenn die gesamte Konzeption nicht völlig irrational (in sich wider­ sprüchlich) sein soll. Der Versuch der Beantwortung der Frage Wie sind verbindliche Sollenssätze (wahre Pflichtbehauptungen) möglich? muss anders durchgeführt werden: Wie ist ein dem aktuellen Sein potentiell nicht entsprechendes Sein-Sollen allgemeingültig zu denken, d. i. wie kann ein fehlerhafter SeinSollens-Übergang überhaupt vermieden werden? Wie ist etwas anderes als das Sein, also als unsere Erkenntnisproduktion nach Naturgesetzen (nach 259  Kant, KpV, § 8 Anm. II. und GMS, S. 442–443: „Gefühl urteilt nicht“. Siehe auch KpV, I., 1. Buch, §§ 2, 3 (nach „Prinzip der Selbstliebe“ … „gar keine prak­ tischen Gesetze“ … „sondern nur Anratungen“…) und 2. Hauptstck.: Zunächst den Begriff des Guten als einen Gegenstand eines dann bloß vermeintlich-moralischen Gesetzes zu bestimmen sei der „Grund aller Verirrungen der Philosophen“; ein Un­ terschieben eines sinnlichen Interesses nach Neigungen „rotte Sittlichkeit in Gesin­ nungen mit der Wurzel aus“, und im 3. Hauptstck.: Sittlichkeit auf Glückseligkeit aufzubauen mache diese unmöglich, da sie sie „in ihrer Quelle verunreinige“. Es könne kein Gefühl im Subjekt vorhergehen, welches auf Moralität gestimmt wäre. Treffende Formulierung auch von L. W. Beck, S. 209: „Das Gefühl der Achtung setzt das Gesetz und unser Bewusstsein des Gesetzes voraus, bzw. es ist nichts anderes als dieses Bewusstsein“. Beck benennt deutlich die zwei vorläufigen Alternativen: „Wir müssen entweder diese Merkmale der moralischen Verpflichtung weginterpre­ tieren, indem wir sie als illusorische Produkte eines psychischen Mechanismus aufweisen, oder wir müssen die These, dass reine Vernunft praktisch sein kann, d. h. dass sie ein Gesetz geben kann, dessen Erkenntnis ein hinreichendes Motiv unseres Handelns sein kann und sein soll, akzeptieren“, Beck, S. 78. Die erste (eben bloßvermeintliche) Alternative muss man wohl schon deshalb verwerfen, weil es un­ denkbar (logisch-unmöglich) ist, allgemein anzunehmen, dass mögliche Motive stets nichts anderes als sinnliche Begehren bzw. diese auslösende (bio-)chemische oder elektrische Prozesse sind (dazu noch B.II.4.b)).

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B. Auflösung der Aufgabe

Erscheinungen verstandesgemäß ordnenden allgemeingültigen Regeln), überhaupt möglich260? Dies verweist auf eine andere Gesetzlichkeit, die nach einem materialen Ansatz nicht gedacht werden kann, sondern nur durch einen (bedürfnisun­ abhängigen, in diesem Sinne „reinen“) kategorischen Imperativ vorgestellt werden könnte. Die Zweck-an-sich-selbst-Formel ist eine Formulierung ei­ nes solchen kategorischen Imperativs261: Alles Denken, alle Zwecksetzung bzw. alle Maximen implizieren das Dasein des Denkers, Setzers bzw. Inne­ habers als Subjekt (die jeweilige eigene ordnende Einheit als die oberste Form aller eigenen Erkenntnis und praktischen Orientierung). Die allseitig notwendige Anerkennung der Subjekthaftigkeit bzw. Selbstzweckhaftigkeit des eigenen Daseins ermöglicht die allgemeingültige Aussage: Jeder Mensch ist in seinem Denken und sonstigen Handeln für sich Zweck an sich selbst. Wenn jedermann sich in seinem Handeln stets – auch im Verhältnis zu an­ deren – als Zweck an sich selbst beurteilen muss, dann ist als allgemeine Aussage bzw. objektives Prinzip formulierbar: Jeder Mensch ist stets und überhaupt als Zweck an sich selbst und nicht als bloßes Mittel bzw. Objekt zu betrachten und zu behandeln. Die Anerkennung der Subjekthaftigkeit und 260  Mill sucht sozusagen im Sein (empirisch) nach einer höherwertiger (anzustre­ benden) Materie des Begehrens (welche dies sei, müsse eben durch Erfahrene beur­ teilt werden), während Kant einsieht, dass auf diese Weise eine prinzipiell-andere Qualität von Sollenssätzen bzw. -behauptungen (nämlich Pflichtaussagen) gar nicht zu denken möglich wird. 261  „Nun sage ich, der Mensch (und überhaupt jedes vernünftige Wesen) existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck be­ trachtet werden … Die Neigungen selber als Quellen der Bedürfnisse haben so wenig einen absoluten Wert, um sie selbst zu wünschen … Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kate­ gorischen Imperativ geben soll, so muss es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Prinzips ist: Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“, Kant, Grundlegung MdS, S. 428–429. Siehe zum Verhältnis der ver­ schiedenen Formeln des Sittengesetzes als Bedingung der Möglichkeit einer anderen Gesetzlichkeit als der Naturgesetzlichkeit oben A.II.2. und unten B.II.3.



I. Die Verfehltheit eines unmittelbar-materialen Ansatzes177

damit auch der Personalität des Menschen ist (allseitig-wechselseitig) not­ wendig. Dieser Herleitung der Zweck-an-sich-Formel durch Kant scheint Mills (vermeintliche) Folgerung auf den ersten Blick strukturell zu entsprechen, die lautet „Das Glück jedes Einzelnen ist für diesen ein Gut und … daher das allgemeine Glück ein Gut für die Gesamtheit der Menschen“ (Utilita­ rismus, S. 107). Die Ähnlichkeit der Argumentation Mills zu der Kants, die darin liegt, dass eine subjektiv notwendige Vorstellung als allen Subjekten gemein und deshalb als intersubjektiv-allgemein und damit objektiv behaup­ tet wird, ist jedoch nur scheinbar: Während Kant das urteilende Subjekt selbst als Basis und Zielvorstellung aller normativen Urteile bestimmt (zur beim Erkenntnissubjekt ansetzenden Erkenntnistheorie überhaupt siehe oben, A.II.1., v. a. Fn. 103, 117, 121 und 140), findet bei Mill der Sache nach keinerlei Bestimmung einer allgemei­ nen Basis oder Zielvorstellung für praktisches Handeln statt: Etwas allen Gemeines ist durch eine Übereinanderlegung der subjektiven Empfindungen bzw. sinnliche Begehren in Richtung auf subjektives Glück nicht garantiert und wäre rein zufällig. Der Gedankengang bedeutet nämlich nichts anderes, als für jeden Menschen eine Menge möglicher oder wirklicher Glücksemp­ findungen aufzustellen – dies hat nach dem Ansatz durch jeden Einzelnen selbst zu geschehen – und dann Schnittmengen zu suchen, welche es, da die Glücksverwirklichungsvorstellungen verschiedener Menschen ganz unter­ schiedlich sind (wie Mill selbst feststellt), überhaupt nicht geben muss. Entsprechend könnte der obige Satz Mills („… das allgemeine Glück ist ein Gut für die Gesamtheit der Menschen …“) höchstens bedeuten: Der Inhalt einer zufälligen Schnittmenge von faktischen Sollens- bzw. Begehrensvor­ stellungen aller Einzelnen wäre ein allen zumindest momentan gemeinsames Gut (faktisch-gewolltes Etwas). Und dies ist nichts anderes als die banale Aussage: Das von allen begehrte Etwas ist ein begehrtes Etwas für die Gesamtheit dieser Menschen. Aber gerade dann, wenn normative Differen­ zen bzw. Streitigkeiten zwischen Menschen auftreten, sodass sich die Frage nach Recht und Unrecht (bzw. danach, was dem einen im Verhältnis zum anderen – notfalls erzwingbar – zusteht) entscheidungserheblich stellt, ist das Fehlen eines in diesem Sinne „allgemeinen Glücks“ vorausgesetzt262. 262  L. W. Beck schreibt: „Wenn ein Philosoph das Streben nach Glückseligkeit zum bestimmenden Grund der Moralität macht, so kann er daraus keine allgemeinen Vorschriften ableiten. Denn jeder Mensch hat … seine … Vorstellung von seiner Glückseligkeit und die Vorstellung … wechselt von Zeit zu Zeit …“, Beck, S. 76. Dies heißt nichts anderes, als: Man kommt auf die Weise begrifflich gar nicht zur Moralität. Wenn Kant schreibt, im Recht „allein ist die Vereinigung der Zwecke aller möglich …“, dann behauptet er das „Recht“ (also die primär-bedürfnisunab­ hängig zu denkenden und durchzusetzenden interpersonalen Zustehensbeziehungen

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B. Auflösung der Aufgabe

Es führt kein Weg darum herum: Eben weil es ein Widerspruch in sich ist, sich unter sein sinnliches Begehren zu nötigen oder gar nötigen zu müssen / sollen, taugen unmittelbar-materiale normative Ansätze unmöglich zur Generierung von Normativität mit Verbindlichkeitsanspruch. Vielmehr gilt: Wenn jemand von „Recht“ spricht und damit nicht allgemeingültige (nicht auf sinnlichem Begehren basierende) interpersonale Anerkennungsbzw. Zustehensbeziehungen meint, dann spricht er bloß über das für ihn oder für manche der Erfahrung nach Angenehme (wofür das Wort „Recht“ als Bezeichnung verunklarend ist).

II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes als alleiniger Alternative, v. a. betreffend die sich ergebenden Rechtsinhalte So scheint es, als bliebe nur der von Kant dargestellte, nicht auf irgend­ einem sinnlichen Begehren gründende Ansatz als einzig-tauglicher (mögli­ cher) Ausgangspunkt der Generierung verbindlicher Sollensbehauptungen. Es bliebe dann zu beantworten, was denn genau daraus für die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit und den Inhalt von Notstandsrechten folgt. Wie gesehen blieben Kants Ausführungen insoweit fragmentarisch (dazu oben A.II.7.). Zunächst möchte ich aber auf eine Kritik eingehen, die oftmals gegen die kantische Konzeption vorgebracht wird: Eine vom kategorischen Imperativ anhebende normative Konzeption sei inhaltsleer oder (deshalb) mit beliebi­ gem Inhalt ausfüllbar. Prägnant formuliert hat diesen Einwand etwa Hegel (dazu 1.). Die Kritik ist unbegründet. Eine Skizze der von Hegel angebotenen Alternative zur betreffend die äußeren Verhältnisse der Menschen, d. i. die Eingeschränktheit der Willkür eines jeden auf die Zusammenstimmung mit der Willkür jedes anderen nach einem allgemeinen Zustehensgesetz) sogar als die Voraussetzung bzw. Bedingung der Möglichkeit von allgemeingültigen Zweckvereinigungsvorstellungen, in: Zum ewigen Frieden, Anhang II., S. 386. Die Erreichung des Ziels, den Übergang von Seinsaussagen zu wahren (allgemeingültigen) Sollensbehauptungen zu vollziehen, gelingt jedenfalls weder durch die Suche nach faktisch-zufällig übereinstimmenden Willensinhalten verschiedener Menschen, noch durch die Setzung von unmittelbarmaterialen (letztlich auf sinnliches Begehren gegründeten) normativen Prämissen. Der Begriff „Gerechtigkeit“ kann somit ebenfalls nicht historisch-zufällig (beliebig) mit Inhalt gefüllt werden, sondern bedeutet, wie M. Köhler es unter Bezug auf das von Kant formulierte Rechtsprinzip und dessen Konsequenzen (siehe oben A.II.3.) formuliert, „Haltungen, Handlungen, Handlungs- und Organisationszusammenhän­ ge“ dem Rechtsprinzip gemäß zu bestimmen, Köhler, Gerechtigkeit als Grund der Politik, S. 28. Zur anschaulichen Konstruktion des Rechtsbegriffs siehe noch unten B.II.3.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes179

Frage der Möglichkeit und Weise der Konstitution verbindlicher Sollensbe­ hauptungen (Pflichtaussagen) entlarvt die hegelsche Position vor dem ent­ wickelten Hintergrund als letztlich-bedürfnisabhängigen (unmittelbar-mate­ rialen) Ansatz und zeigt die Unmöglichkeit, die Grundfrage zu umgehen (dazu 2.). Dabei ist auch oder gerade die Notstandsrechtsbegründung durch Hegel kennzeichnend für seine eigentliche Position. Von der Tragfähigkeit der hegelschen Überlegungen hängt selbstverständlich unmittelbar auch die Tragfähigkeit der nach der Philosophie Hegels konzipierten Notstands­ rechtstheorie Pawliks ab, die in dem Sinne vermittelnd sein soll, dass sie den fundamentalen Unterschied der Ansätze aufhebt. Im Anschluss werde ich die Weise verdeutlichen, wie nach der hier für alternativlos gehaltenen Konzeption Inhalt in die Form des Sollens gelangt, ohne dass dabei irgendeine Beliebigkeit bestünde. Diese Verdeutlichung kann zugleich als eine weitere knappe, aber das (u. a. hegelsche) Missver­ ständnis der Inhaltsleere ausschließende (andere) Darstellung des kantischen Konzepts betrachtet werden (dazu 3.), wodurch auch die Auflösung der bei Kant teilweise offen gebliebenen Notstandsrechtsfrage direkt vorbereitet wird. Damit ist dann der Ansatz auf festen Boden gestellt (als notwendig ausgewiesen), so dass im folgenden Teil (B.III.) bloß die Konsequenz gezo­ gen und also beantwortet werden kann, was genau daraus für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten resultiert. 1. Der Einwand der Inhaltsleere der kantischen Konzeption, u. a. erhoben von Hegel Der Einwand Hegels gegen die kantische, vom kategorischen Imperativ bzw. der Zweck-an-sich-selbst-Formel anhebende Konzeption lautet: „So wesentlich es ist, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben, … so sehr setzt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunktes … diesen Gewinn zu einem leeren Formalismus und die moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen herunter“. Wolle man auf „besondere Pflichten kommen“, so müsse man „von außen her wohl einen Stoff hereinnehmen“. Aus „der Be­ stimmung der Pflicht als dem Mangel des Widerspruchs, der formellen Übereinstimmung mit sich selbst … kann nicht zur Bestimmung von beson­ deren Pflichten übergegangen werden, noch wenn ein … besonderer Inhalt für das Handeln in Betrachtung kommt, liegt ein Kriterium in jenem Prin­ zip, ob er eine Pflicht sei oder nicht. Im Gegenteil kann alle unrechtliche und unmoralische Handlungsweise auf diese Weise gerechtfertigt werden … Dass kein Eigentum stattfindet, enthält für sich ebensowenig einen Wider­ spruch, als dass dieses oder jenes einzelne Volk, Familie usf. nicht existiere oder dass überhaupt keine Menschen leben. Wenn es sonst für sich fest und

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B. Auflösung der Aufgabe

vorausgesetzt ist, dass Eigentum und Menschenleben sein und respektiert werden soll, dann ist es ein Widerspruch, einen Diebstahl oder Mord zu begehen; ein Widerspruch kann sich nur mit etwas ergeben, das ist, mit einem Inhalt, der als festes Prinzip zum voraus zugrunde liegt. In Bezie­ hung auf ein solches ist erst eine Handlung entweder damit übereinstim­ mend oder im Widerspruch. Aber die Pflicht, welche nur als solche, nicht um ihres Inhalts willen gewollt werden soll, … ist eben dies, allen Inhalt und Bestimmung auszuschließen“263. Hegel verbindet hier zwei Vorwürfe miteinander, wobei im konkreten Kontext eben v. a. der Einwand der Inhaltsleere der kantischen Konzeption interessiert264.

263  Hegel, Grundlinien, §  135. Erläuterung sowie Kritik des hegelschen „Formalismus“-Einwands bei von Freier, Kantstudien 1992, 304 ff. 264  Hegels zweiter, in obiger Ausführung implizierter Vorwurf gegen die kantische Konzeption lautet, man müsse danach wirkliche Pflichterfüllung stets als ein Übel empfinden. So werde „eine Ansicht der Moralität“ hervorgebracht, nach der „diese nur als feindseliger Kampf gegen die eigene Befriedigung perenniere – die Forde­ rung: mit Abscheu zu tun, was die Pflicht gebeut“ (Grundlinien, § 124). Hegel nimmt dabei Bezug auf Schiller, der Kant missverstand, als er schrieb: „Gerne dien’ ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein andrer Rat, du musst suchen sie zu ver­ achten, und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut“, Friederich von Schiller, Xenien 388 und 389 (auch online veröffentlicht in digbib.org). Zu diesem schlichten Missverständnis ist nicht viel zu sagen: Pflichtgemäßes Handeln „aus Pflicht“ ist die Selbstunterordnung des eigenen materialen, also bedürfnisgetragenen und damit zufälligen Glücksstrebens unter allgemeine Zustehens- bzw. Anerken­ nungsgesetze. Um einen wirklichen Prüfstein der Pflichtbindung (also einer solchen Gesinnung bzw. zumindest der Verinnerlichung wenigstens eines konkreten ethi­ schen Imperativs) zu haben, müssen Handlungssachverhalte erlebt bzw. zumindest gedacht werden, in denen das sinnliche Begehren (die Lust) oder ein egoistischpragmatisches Kalkül nicht (zufällig) mit dem durch den ethischen Imperativ als geboten vorgestellten Verhalten kongruiert. Etwa einem anderen aus einer misslichen Lage zu helfen – und sei es auch keine wirkliche Notlage, etwa die Hilfe beim Umzug eines Freundes – geschieht nur dann aus Pflicht, wenn ich sie unabhängig davon durchführe, ob ich zur konkreten Handlung gerade Lust habe, ob der andere mir danach später in irgendeiner Hinsicht nützlich sein soll oder ob ich ansonsten irgendeinen Tadel seitens mir ggf. nützlicher anderer zu befürchten hätte. Selbst wenn alle diese äußeren Vorteile (bzw. die Vermeidung äußerer Nachteile) in einem solchen Fall der Hilfe wirklich gegeben bzw. wahrscheinlich wären, kann diese pflichtgemäße Handlung aus Pflicht geschehen; um sie aber als solche bestimmen zu können, muss sicher darauf geurteilt werden können, dass die Handlung eben auch gegen eine Unlust und ohne (zufälligen) äußeren Nutzen durchgeführt worden wäre. Demgemäß sind auch Kants zur Verdeutlichung des Beurteilungsprinzips die­ nenden Beispiele so konstruiert, dass darin die sinnliche Lust bzw. ein bloß egois­ tisch-pragmatisches Kalkül dem pflichtgemäßen Handeln entgegensteht oder zumin­ dest nicht zum pflichtgemäßen Handeln jeweils anreizt.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes181

2. Die von Hegel angebotene (vermeintliche) Alternative Hegel geht davon aus, dass weder ein unmittelbar-materialer Ansatz, aus dem lediglich subjektiv-gültige (hypothetische) Imperative entspringen können, noch der von Kant vorgestellte, mit der Form verbindlicher Sol­ lenssätze beginnende Ansatz zur Generierung verbindlicher Normativität taugten, da die durch den kategorischen Imperativ vorgestellte Form inhalt­ lich beliebig ausfüllbar sei. Dieses (angenommene) Problem möchte Hegel lösen. a) Hegels Gedankengang in der Interpretation Michael Pawliks (grobe Skizze) Der Inhalt von Pflichtaussagen müsse „von außen“ (Hervorhebung von Hegel selbst) herein geholt werden. Materiale Sein-Sollens-Annahmen – et­ wa in Bezug auf das menschliche Leben – müssten als extern-begründet vorausgesetzt werden. Ein allgemeingültiges, vollständiges und deutliches Prinzip, nach wel­ chem der Inhalt in die Form des Sollens gelangt, nennt Hegel allerdings nicht. Nach seiner Ansicht habe die Entwicklung normativer Begriffe mit Verbindlichkeitsanspruch in Stufen zu erfolgen. Ausgedrückt wird diese stufenweise Begriffsentwicklung bei Hegel durch Worte, die ein Zeitverhält­ nis darzustellen scheinen wie „zunächst noch“, „noch nicht“, „jetzt schon“ oder „nicht mehr“. Für die Kurzdarstellung der Basis des in den „Grundlinien der Philoso­ phie des Rechts“ vorgestellten hegelschen Rechtskonzepts rekurriere ich auch auf die diesbezügliche Zusammenfassung Pawliks (Notstand, S. 85 ff.): „Zunächst“ trete der „Wille als unmittelbarer auf; sein Begriff ist daher abstrakt, die Persönlichkeit …“. Dies bezeichnet Hegel als den Bereich des abstrakten Rechts. Die „Person des abstrakten Rechts“ mit der Fähigkeit zum reinen Selbstbezug steht als rechtsfähiges Subjekt unter dem Gebot „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“ (Hegel, Grund­ linien, § 36). Hier, also im formalen bzw. „abstrakten Recht“, sei kein Raum für ein inhaltlich-konkretes Element, etwa eine Notlage eines anderen. In­ sofern sei die Person des abstrakten Rechts gegenüber Besonderheiten des jeweils anderen oder dessen Notlagen blind (Pawlik, S. 86): „Weil die Be­ sonderheit der Person noch nicht als Freiheit vorhanden ist, so ist alles, was auf die Besonderheit ankommt, hier ein Gleichgültiges“ (Hegel, Zusatz zu § 37). Diese Persönlichkeit jedes Einzelnen als solche sei „eines der Mo­ mente, die in der Notstandssituation miteinander kollidieren …“ (Pawlik, S. 86).

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B. Auflösung der Aufgabe

Dieses „abstrakte Recht“ als das eine Moment einer „komplexen Rechts­ idee“ werde jedoch dialektisch negiert durch das andere Moment: „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden …“ (Hegel, § 124), von Hegel als „Recht des Wohls“ bezeichnet. Diese Annahme eines Rechts auf Wohlergehen hat bei Hegel, wie Pawlik darstellt, zur Konse­ quenz, dass „der besondere Wille … jetzt legitimerweise verlangen“ könne, „gerade auch in seiner Bedürftigkeit als berechtigt anerkannt zu werden“ (Pawlik, S. 87). Man möge die folgenden, auf die hegelsche Konzeption aufbauenden Ausführungen Pawliks darauf prüfen, ob sie tatsächlich eine sachliche Differenz zu einem unmittelbar-materialen Ansatz, den weder Hegel noch Pawlik zu haben glauben, enthalten: Da ein nach dem „abstrakten Recht“ legitimes „Interesse der Rechtsge­ nossen“ eines Notstandstäters bestehe, von dessen Eingriffen verschont zu bleiben, sei eine Rechtfertigung desselben nur denkbar, wenn „der Eingrei­ fende auch seinerseits ein prinzipiell-legitimes Freiheitsinteresse in die Waagschale werfen“ könne. „Solange der Eingriffsadressat noch nicht zur Einsicht in die Freiheitsbedeutung des Wohl durchgedrungen ist, sondern den Kategorien des abstrakten Rechts verhaftet bleibt, muss ihm jede Rechtsverletzung … inkommensurabel erscheinen“ (Pawlik, S. 105). Nach dem „Recht des Wohls“ aber habe der Notstandstäter ein „Recht auf den Zweck“ der Wohlbeförderung. Durch „die Annahme eines Rechts auf das eigene Wohl“ werde „das faktische Glückseligkeitsstreben in einem gewis­ sen Umfang gleichsam geadelt“ (Pawlik, S. 113). Die „Kontrahenten“ im Konflikt „zwischen Recht und Wohl“ nähmen „einander wechselseitig als Antipoden wahr“, ihre „erhobenen Ansprüche“ stünden im „Verhältnis wechselseitiger Negation“. „Einer den Besonderheiten der konkreten Notla­ ge gegenüber unempfindlichen Betrachtungsweise stellt der Notstandstäter demzufolge eine Position entgegen, die sich ebenso ausschließlich eben jenen Besonderheiten verschreibt: Die Hitze der konkreten Notlage lässt die abstrakt rechtlich vorgesehene Verteilung von Rechten buchstäblich dahin­ schmelzen“. Das „kontextunsensible Recht der Person … gegen das sach­ lich-situative Recht auf das eigene Wohl“ – dies sei „die kürzeste Formel zur Kennzeichnung des Notstandskonfliktes bei Hegel“ (Pawlik, S. 88, wobei dieser Konflikt eigentlich nicht nur in Notstandssituationen im enge­ ren Sinne bestehe, sondern permanent). Dieser Konflikt müsse aufgelöst werden. Bei Hegel wird dies versucht im zweiten Teil seines Werkes, den er „Die Moralität“ nennt. Pawlik hingegen kritisiert diese systematische Verortung und meint, der Konflikt sei erst auf der dritten Systemstufe der „Sittlichkeit“ in äußeren Institutionen bzw. im Staat auflösbar. Bei Hegel findet sich dazu in den Grundlinien zunächst



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes183

die – nach dem vorangegangenen allerdings wohl sachleere – Aussage, „eine Absicht meines Wohls sowie des Wohls anderer … kann nicht eine unrechtliche Handlung rechtfertigen …“ (§ 126). Es bestehe aber bei Le­ bensgefahr und „in Kollision mit dem rechtlichen Eigentum eines anderen … ein Notrecht (nicht als Billigkeit, sondern als Recht) …, indem auf der einen Seite die unendliche Rechtlosigkeit, auf der anderen Seite nur die Verletzung eines einzelnen beschränkten Daseins der Freiheit“ stehe (Grund­ linien, § 127). Pawlik ist davon überzeugt, dass Hegel damit jedoch nicht weitergehende Notrechte verneinen wollte: „Ein Wohl, welches nur in dem nackten Leben bestünde, wäre nämlich in seiner Totalität sehr defekt“, so­ dass (auf der Eingriffsseite allerdings begrenzte) Notstandsrechte bestünden nicht nur bei Gefahr von „existentiell bedeutsamen Rechtsgütern“, sondern auch wenn jemand „mit der Gefahr konfrontiert werde, Güter zu verlieren, derer er bedarf, um die Biografie, in der er sich objektiviert hat, ohne nen­ nenswerten Bruch fortsetzen zu können“265. b) Kritische Betrachtung des hegelschen Denkens Der materiale Einschub durch das, was Hegel „Recht des Wohls“ nennt und dass „nun“ also „Rechtsverletzungen“ bzw. „Freiheitsverletzungen“ gestatte, ist kein Füllen einer festen Form für Zustehensbehauptungen bzw. Pflichtaussagen mit Inhalt nach einem einsichtigen allgemeingültigen Prin­ zip. Vielmehr handelt es sich um einen sprachlich mystifizierten, materialen Ansatz: Ein einsichtiger normativer Gehalt, der einem Verbindlichkeitsan­ spruch gerecht würde, wird weder durch das, was als „abstraktes Recht“ bezeichnet wird, und schon gar nicht durch das sogenannte „Recht des Wohls“ ausgedrückt. Auch das Prinzip einer etwaigen Synthese dieser – anscheinend kontradiktorischen – Gegensätze wird nirgends dargestellt. Eine „Abwägung“ von nach „Freiheitsbedeutung“ bewerteten Interessen unter­ schiedlicher Personen stellt ein solches jedenfalls nicht dar, sondern setzte es voraus (wer aus „Ja“ und „Nein“ als den möglichen Antworten auf eine einfache und eindeutig gestellte Frage bloß ein „Jein“ macht, beantwortet die Frage nicht). Wenn man beide „Momente“ dadurch „aufhebt“ (um einen hegelschen Terminus zu verwenden), dass man endlich alle in den einzelnen Bereichen („abstraktes Recht“, „Recht des Wohls“) getroffenen Aussagen Hegels (und seiner Anhänger) zusammenschiebt bzw. übereinanderlegt, indem man die 265  Pawlik, Notstand, S. 107. Zwar, so Pawlik, bestehe insoweit „lediglich die Möglichkeit …, sich im Willen anderer wiederzufinden, … deren Realisierung im Einzelfall dem Zufall anheimgestellt bleiben“ müsse. Diese „inhaltliche Diffusität, ja Beliebigkeit, die hier sichtbar wird“, sei jedoch unvermeidbar.

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B. Auflösung der Aufgabe

einem Leser, der den Gedanken jetzt und hier verstehen möchte, unver­ ständlichen – weil auf zeitliche Verhältnisse rekurrierenden – Worte wie „zunächst“, „noch nicht“ usw. wegdenkt, dann entstehen eben lauter unauf­ lösliche Widersprüche, von denen sich lediglich die Frage stellt, weshalb sie überhaupt produziert wurden. Was aber beim Studium des hegelschen Konzepts jedenfalls deutlich wird, ist eine stetige Bedingung des Zustehens von etwas zu Jemandem auf ein faktisches Interesse. Dieses Identifikationskriterium eines unmittelbar-materialen Rechtskonzepts wird bei Hegel an unterschiedlichen Stellen explizit: In § 47 der „Grundlinien“ etwa heißt es: „Ich bin lebendig in diesem organischen Körper, welcher … die reale Möglichkeit alles weiter bestimm­ ten Daseins ist. Aber als Person habe ich zugleich mein Leben und Körper, wie andere Sachen, nur, insofern es mein Wille ist … Ich habe diese Glie­ der, das Leben nur, insofern ich will; das Tier kann sich nicht verstümmeln oder umbringen, aber der Mensch …“. Hier ist deutlich, dass, obwohl „mein Körper unmittelbar Mein“ sein soll (nachgereicht von Hegel im Zusatz zu § 51 der Grundlinien), das weitere Innehaben dessen bzw. des Lebens bei Hegel schon im Selbstverhältnis auf ein faktisches Wollen bedingt wird. Denn ein normatives Wollen im Sinne eines nur Wollenkönnens (Wollen­ müssens) als Person kann nicht gemeint sein: Auch „als Person“ habe ich nach Hegel den Körper eben nicht stets, sondern nur sofern eine weitere, sich nicht schon aus dem Personsein ergebende Bedingung erfüllt ist, näm­ lich dieses (damit zusätzliche) Wollen. Die beispielhaft angeführte Verstüm­ melungs- bzw. Selbsttötungsfähigkeit266, also die faktische Möglichkeit, von Körperteilen bzw. vom Leben abzulassen, sollen das Wollen des Körpers bzw. Lebens aufzeigen. Insofern scheint es kaum bestreitbar zu sein, dass Hegel mit diesem „Wollen“ hier ein bewusst gemachtes faktisches Begehren des Lebens meint, dessen – eben dem Personenbegriff externes – Dasein nach Hegel Bedingung des weiteren (nachgeburtlichen) Habens des Körpers (also Bedingung von dessen Zugeordnetsein zur Person) ist267. 266  Die Tieren abgesprochen wird, was, insofern es als empirische Aussage hei­ ßen soll, dass Tierverhalten niemals selbst-verstümmelnd oder selbst-tötend ist, unwahr ist. Die Begriffe „Verhalten“ und „selbst …“ habe ich hier bloß in Analogie zur Bedeutung dieser Worte bezüglich des Menschen verwendet (entsprechend Kant, KU, § 90, erste Fußnotenanmerkung). 267  Man müsste demgemäß annehmen, dass wenn Hegel in § 65 der „Grundlini­ en“ die Möglichkeit, sich seines Eigentums zu entäußern, damit begründet, dass „es das meinige nur ist, insofern ich meinen Willen darein lege …“, dasselbe konse­ quent auch für den Körper und damit für das Leben gelten müsste. Konsequenz im Denken ist allerdings nicht Hegels Maxime und so wird dann in den §§ 70 i. V. m. 66, 67 widersprüchlich zu § 47 behauptet, das Leben sei „gegen die Persönlichkeit … kein Äußerliches“ und deshalb auch weder veräußerlich, noch habe der Mensch ein Recht, sich zu töten (da „die einzelne Person … allerdings ein Untergeordnetes“



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes185

Die eigentlich-materiale Basis des hegelschen Konzepts bestätigt sich durch viele weitere hegelsche Annahmen268: So argumentiert Hegel etwa, arme Mitglieder der bürgerlichen Gesell­ schaft bedingungslos zu finanzieren, um sie „auf dem Stande ihrer ordent­ lichen Lebensweise zu erhalten“, sei „gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und das Gefühl ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre …“ (Grundlinien, § 245): Für Hegel ist nicht entscheidend, ob der dargestellte Gesellschaftszustand (große Unterschiede im Vermögen der Mitglieder) bzw. die genannte Weise der Abhilfe von Armut der „Selbstän­ digkeit und Ehre“ der Armen widerspricht; entscheidendes Kriterium ist anscheinend vielmehr ein in seinen Voraussetzungen ungenanntes „Gefühl“ von „Selbstständigkeit und Ehre“. Eine entsprechende Ähnlichkeit zum Gedankengang Mills (siehe oben), sowohl was die Gefühlsbasiertheit des Ansatzes angeht, als auch die Ver­ kehrung vom Recht jedes Einzelnen und dessen bloßer Durchsetzung im Staat hin zu einer Konzeption, in der Gesellschaft und Staat die eigentlichen Rechtsinhaber sind, findet sich bei Hegel im Zusatz zu § 240 der „Grund­ linien“: Insofern jeder Mensch von der bürgerlichen Gesellschaft „die Sub­ sistenz“ verlangen könne, „muss sie ihn auch gegen sich selbst schützen. Es ist nicht allein das Verhungern, um was es zu tun ist, sondern der weitere Gesichtspunkt ist, dass kein Pöbel entstehen soll. Weil die bürgerliche Ge­ sellschaft schuldig ist, die Individuen zu ernähren, hat sie auch das Recht, dieselben anzuhalten, für ihre Subsistenz zu sorgen“. Hier werden von He­ gel unbegründet wechselseitige Hilfs-Rechtspflichten (im Verhältnis Einzel­ ner – Gesellschaft) behauptet, deren eigentlicher Grund bzw. deren eigentliches Ziel die Vermeidung der Entstehung eines gesellschaftsschädlichen und staatsfestigkeitsabträglichen „Pöbels“ zu sein scheint. Meine Behauptung, es werde bei Hegel kein einsichtiges (festes) Prinzip formuliert, nach welchem sich die Frage beantworten ließe, was dem einen als Person im Verhältnis zum jeweiligen anderen eigentlich zusteht und was nicht, wird bestätigt durch viele weitere Aussagen Hegels zur „Sitt­ lichkeit“ und zum Staatsrecht: „Das Sittliche, insofern es sich an dem in­ dividuellen durch die Natur bestimmten Charakter als solchem reflektiert, ist die Tugend, die insofern sie nichts zeigt als die einfache Angemessen­ sei, müsse sie sich ggf. „dem sittlichen Ganzen weihen“; womit hier totales Opfern gemeint ist, Zusatz zu § 70). 268  Einige der im Folgenden genannten und viele weitere zweifelhafte Behaup­ tungen Hegels hat Kiesewetter herausgearbeitet, in: Machtstaatsideologie, Kapitel II, 3.–11. Er gelangt in benanntem Werk sogar zu der Überzeugung, Hegel habe letzt­ lich eine totalitäre Machtstaatstheorie entwickelt, die der nationalsozialistischen Ideologie jedenfalls auch einen Boden bereitet habe.

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B. Auflösung der Aufgabe

heit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört, Rechtschaffenheit ist. Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist …“ (Grundlinien, § 150). Die hier von Hegel geforderte Anpassung an aktuelle – aus der Perspektive des Einzelnen eher zufällig vorhandene – (Mehrheits-)Sittlichkeitsvorstellungen ist Resultat des Ermangelns eines festen Vernunftmaßstabs zur Verhaltensbeurteilung (einer einsichtigen Ethik überhaupt). Und aus dem Staatsrecht bei Hegel: „Der Staat ist als Wirklichkeit des substantiellen Willens … das an und für sich Vernünftige. Diese substanti­ elle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein … Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen …“ (Grundlinien, § 258). Vom „abstrakten Recht“ der Menschen als Personen scheint, wenn damit denn überhaupt irgendetwas Verständli­ ches gesagt worden wäre, im Staat (bzw. auf der Stufe der „Sittlichkeit“) anscheinend nicht viel übrig zu bleiben. In einem Zusatz zu § 145 der „Grundlinien“ heißt es: „Ob das Individuum sei, gilt der objektiven Sitt­ lichkeit gleich, welche allein das Bleibende und die Macht ist, durch wel­ che das Leben der Individuen regiert wird. Die Sittlichkeit ist daher den Völkern als die ewige Gerechtigkeit, als an und für sich seiende Götter vorgestellt worden, gegen die das eitle Treiben der Individuen nur ein an­ wogendes Spiel bleibt“. Es mangelt als unmittelbare Konsequenz der hegelschen Prinzipienlosig­ keit eben an einer einsichtigen Rückbindung des Staates an ein – unabhän­ gig vom Staatsdasein gedachtes – Recht der Menschen. Hegel schreibt (auch gegen Kant gerichtet): „Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm an­ gemessen ist und für dasselbe gehört“ (Grundlinien, § 274). Auch wenn die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ beginnen mit dem sogen. „abstrakten Recht“ der Person, so rückt Hegel auf vermeintlich höherer Stufe der Einsicht die Gesellschaft und den Staat als solche in den Mittelpunkt seiner Konzeption: Etwa müssten Qualität und Quantität eines begangenen Unrechts und dessen Sanktion wesentlich mitbestimmt werden durch „die Gefährlichkeit“ der Tat „für die bürgerliche Gesellschaft … Ist



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes187

die Gesellschaft noch an sich wankend, dann müssen durch Strafen Exem­ pel statuiert werden …“ (Grundlinien, § 218). Auch sei „die wahrhafte Tapferkeit gebildeter Völker … das Bereitsein zur Aufopferung im Dienste des Staates, sodass das Individuum nur eines unter vielen ausmacht. Nicht der persönliche Mut, sondern die Einordnung in das Allgemeine ist hier das Wichtige“ (Zusatz zu § 327). Da „die einzelne Person … ein Untergeordne­ tes“ sei, müsse sie sich „dem sittlichen Ganzen weihen“, womit hier totales Opfern (Lebensopfer) gemeint ist (Zusatz zu § 70)269. Was Pawlik als „freiheitstheoretische“ Konzeption bezeichnet, halten deshalb andere für ein verquast-obrigkeitshöriges oder gar totalitäres Staats­ denken (so Kiesewetter, Fn. 268). Lorenz von Stein schrieb: „Die große Bedeutung Hegels liegt darin, das allgemeine Leben der Welt und der Per­ sönlichkeit als Ganzes zu begreifen, das sich in seinen Momenten organisch entfaltet, und in welchem daher das Einzelne nichts für sich, alles nur als Glied an diesem Ganzen ist. Demzufolge ist in jenem absoluten Communis­ mus die Menschheit selbst die einzige wahre Persönlichkeit, an der das 269  Im Gegensatz zur Auffassung Hegels zur Strafe ist als Konsequenz des kan­ tischen Ansatzes jemand nur deshalb zu bestrafen, „weil er verbrochen hat“. Er müsse „vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder einen Mitbürger zu ziehen“, Kant, MdS, § 49, allg. Anm. E, S. 331–332. Eine Person zu bestrafen (oder: in besonderer Wei­ se zu bestrafen), nur um für andere ein abschreckendes Exempel zu statuieren (wie von Hegel gefordert), wäre demnach rechtsfehlerhaft. Auch die Beurteilung eines Berufssoldatentums bzw. einer dabei zu habenden Gesinnung fällt bei Hegel (Zusatz zu § 327) geradezu konträr aus gegenüber der Position Kants. Kant schreibt: Zur latenten Bedrohung anderer Staaten durch stehende Heere komme hinzu, „dass zum Töten oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Men­ schen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines anderen (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen lässt“, Kant, Zum ewigen Frieden, 3. Präliminarartikel. Das was Kant als ethische Pflichtverletzung (Verletzung des „Rechts der Menschheit in der eigenen Person“) beurteilt, diese verinnerlichte Gesinnung der eigenen Unbe­ deutendheit im Dienste eines vermeintlichen Staatswohls, wird von Hegel als Ideal („wahre Tapferkeit“) geradezu glorifiziert. Die von ihm geforderte „Einordnung in das Allgemeine“ ist begrifflich gar nicht klar zu trennen von der utilitaristischen Forderung der Unterordnung unter ein – von erfahrener Elite als solches bestimm­ tes – „allgemeines Glück“ (nach Kiesewetter nicht einmal von der nationalsozialis­ tischen Ideologie, nach der der Einzelne nichts, die Volksgemeinschaft hingegen alles zähle, siehe Fn. 268). Auch die von Hegel (Grundlinien, § 162) pauschal und ohne Begründung als „objektive Bestimmung“ des Menschen behauptete „sittliche Pflicht …, in den Stand der Ehe zu treten“ (formuliert ohne konkrete Voraussetzun­ gen, etwa: „Wenn die Bedingungen x, y, z erfüllt sind, dann trete …“) bleibt aus der Perspektive eines auf Selbstbestimmung gründenden Ansatzes uneinsichtig. Auch diese Pflichtbehauptung ist wohl nur mit einer – zumindest von Hegel ange­ nommenen – gesellschaftsstabilisierenden Bedeutung der Familie zu erklären. Auch das ähnelt sehr einer utilitaristischen Position.

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B. Auflösung der Aufgabe

Einzelne … ein verschwindendes Glied, und daher alle Einzelnen wesent­ lich dadurch gleich sind, dass sie, … als Individuen gleich wenig bedeuten“270. Mancher, der der hegelschen Position etwas mehr abgewinnen kann oder dies jedenfalls glaubt, erwidert auf eine entsprechende Kritik des obrigkeitsstaatlichen Denkens bei Hegel, auch nach Kant laufe es wegen des vom ihm postulierten Gewaltwiderstandsverbots gegen rechtswidriges Staatshandeln (siehe dazu oben A.II.6.) unter Umständen im Ergebnis auf etwas ähnliches hinaus. Dies verkennt jedoch den ganz fundamentalen Unterschied: Das (kantische) Gewaltwiderstandsverbot betrifft bloß die Rechtsdurchsetzung und gerade nicht die Rechtsdefinition: Die Errichtung des Staates bzw. das Eintreten in den Staat ist notwendig, um Rechtsverwirklichung über den Konfliktfall hinaus zu ermöglichen (siehe oben A.II.5.). Insofern wäre es ein Widerspruch, sich selbst vorzubehalten, das Recht allgemeinverbindlich und notfalls gewaltsam durchzusetzen auch gegenüber der gerade für diese Aufgabe eingesetzten Instanz (letztlich dem Staat selbst). Das – wider­ spruchsfrei neben dem rechtlichen Verbot der Beteiligung an rechtswidrigem Staatshandeln stehende – Gewaltwiderstandsverbot hat diese besondere, die Rechtsdurchsetzungsinstanz „Staat“ betreffende Begründung aber gerade aufgrund der Prämisse der Möglichkeit eines (als solchem auch bestimmba­ ren) rechtswidrigen Staatshandelns. Das Verbot besagt: Auch wenn ein konkretes Staatshandeln rechtswidrig ist, darf der Bürger nicht mit privater Gewalt dagegen vorgehen. Bei Hegel ist hingegen das Beurteilungsprinzip überhaupt, durch welches letztlich271 Recht und Unrecht bestimmt wird, als solches gar nicht vorhanden. Demnach kann kein Mensch ein Verhalten eindeutig als (ethisch oder rechtlich) erlaubt oder gar geboten bzw. als ver­ boten bestimmen. Wenn Hegel selbst, meist ohne einen einsichtigen Be­ gründungsversuch, konkrete Rechtsbehauptungen aufstellt, dann beruht das anscheinend auf einem Glauben an einen (mystischen) persönlichen Sonder­ empfang des Weltgeistes. Der Unterschied zur kantischen Konzeption ist fundamental (prinzipiell) und wird durch die – allerdings noch nicht zu Ende gedachte272 – Gewaltwiderstandsverbotsbehauptung Kants bezüglich rechtswidrigem Staatshandeln in keiner Weise nivelliert. 270  Lorenz von Stein, Der Begriff der Arbeit und die Prinzipien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnisse zum Socialismus und Communismus, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 3 (1846), S. 233 ff. (239). 271  Also in hegelscher Terminologie auf der höchsten Stufe der Einsicht, wenn endlich alle Einzelmomente der behaupteten „komplexen Rechtsidee“ (Pawlik) zu­ sammengenommen bzw. aufgehoben wurden. 272  Irgendeine Grenze des rechtlichen Gewaltwiderstandsverbots gegen rechtswid­ riges obrigkeitliches Handeln muss es geben – und sei es, dass die Formulierung einer solchen eben darin bestünde, die Bedingungen allgemeingültig anzugeben,



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes189

Inwiefern die hegelsche Rechtsphilosophie in irgendeiner Hinsicht als Erkenntnisquelle dienen kann, braucht hier nicht beurteilt zu werden. Je­ denfalls ist Einsichterlangung in ein klares Rechtsprinzip bei Hegel nicht zu erwarten; im Gegenteil findet sich ein reichhaltiger Fundus komplizier­ ter Worte und Sätze, dienend der Verschleierung eines Mangels an Prinzip. Die allen besonderen Rechtsfragen zugrundeliegende eigentliche Frage ist stets: Was steht wem im Verhältnis zum jeweils anderen nach einem allgemei­ nen Prinzip zu; wie also sind Zustehensverhältnisse mit Verbindlichkeits­ anspruch (Rechte bzw. Befugnisse und korrespondierende Rechtspflichten) überhaupt allgemeingültig zu denken? Die Beantwortung dieser Frage lie­ fert Hegel nicht; ein fester Grundsatz ist bei ihm nirgends einsichtig vor­ handen. Letztlich handelt es sich bei der hegelschen Konzeption (wie sich jedenfalls als Rückschluss aus den konkreten Urteilen bzw. Ergebnissen Hegels eindeutig bestimmen lässt) um einen unmittelbar-materialen Ansatz, der sich nur dadurch etwa von einer utilitaristischen Position unterscheidet, dass er, um deren ungeliebte Konsequenzen zu vermeiden, ein „abstraktes Recht“ ohne Form und Inhalt behauptet, aus welchem aber – jedenfalls nach Pawlik – gewisse Grenzen auf der Eingriffsseite resultieren sollen (zu Pawliks Bemühungen, diese Grenzen aufzustellen, siehe noch unten B.IV.2.b)dd)). Vor diesem Hintergrund bleibt auch unverständlich, was das Wort „frei­ heitstheoretisch“, welches Pawlik des Öfteren bemüht, im Kontext eigent­ lich heißen soll. Das, was Pawlik mit Hegel als im wechselseitigen Negati­ onsverhältnis einander entgegengesetzte „Freiheitsansprüche“ bezeichnet, ist letztlich gar nicht von einer nach materialen Ansätzen üblichen Abwägung von (sei es material-gewichtigen) subjektiven Begierden trennbar. Das Wort „Freiheit“ ist dabei ebenso überflüssig, ungenau oder gar widersprüchlich wie das Wort „Anspruch“ (im Sinne eines Rechtsanspruchs als der Befugnis und Rechtsmacht, vom anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen). Ein in sich schlüssiges freiheitliches Rechtskonzept kann ebenso wenig eine unter denen die herrschende Gewalt nicht mehr als „Staat“ (also in keiner Weise als Rechtsdurchsetzungsinstanz) bzw. zumindest das konkrete Handeln der vermeintli­ chen Obrigkeit gar nicht als Staatshandeln betrachtet werden kann. Allerdings ist eine allgemeingültige Formulierung einer solchen Grenze – d. i. also letztlich auch erst die genaue allgemeingültige Formulierung des Gewaltwiderstandsverbots bezüg­ lich obrigkeitlichen Handelns – schwierig (siehe dazu Fn. 213, Fn. 214; vgl. insoweit auch die Vorschläge zur Bestimmung der Kriterien zur Beurteilung der Rechtmäßig­ keit bzw. -widrigkeit einer Vollstreckungshandlung im Sinne des Rechtfertigungsoder jedenfalls Strafausschließungsgrundes betreffend eine Widerstandshandlung gegen Vollstreckungsbeamte im Sinne des § 113 Abs. 3 S. 1 StGB, dazu statt vieler Küper, BT, Definitionen mit Erläuterungen, 6. Auflage, S. 414 m. w. N.).

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B. Auflösung der Aufgabe

Abwägung von in eine Waagschale geworfenen, legitimen aber sich in Ver­ wirklichung ausschließenden „Freiheitsinteressen“ enthalten, wie darin die Möglichkeit von jeweils legitimen, aber kontradiktorisch entgegengesetzten „Rechtsansprüchen“ verschiedener Personen gegeneinander angenommen werden kann. Zur Vermeidung zu befürchtender Verwirrung werde ich auf die Verwen­ dung des oft missbrauchten und deshalb missverständlichen Wortes „Freiheit“273 im Folgenden – wenn möglich – verzichten.

273  Wenn man versuchte, bloß zu beschreiben, welche Vorstellungen sich hinter dem Wort „Freiheit“ in verschiedenen Texten jeweils verbergen, würde man wohl eine große Menge ganz unterschiedlicher, meist irgendwie positiv besetzter (affir­ mierender) Vorstellungen erhalten. Innerhalb des Feldes bzw. Bereiches theoretischer Erkenntnis hat das Wort „Freiheit“ keinen Platz; d. h. damit wäre, wenn es denn verwendet würde, etwas gemeint, dass sich präziser anders beschreiben lassen müsste. Die häufige Verwendung des Wortes „Freiheit“ in normativen Texten weist auf eine Besonderheit normativer Texte hin: Diese besteht in einer mehr oder we­ niger dunklen Bezugnahme auf eine andere Gesetzlichkeit als die Naturgesetzlich­ keit, ohne welche normative Texte mit Verbindlichkeitsanspruch, also Texte, die nicht letztlich nur ein bloßes Sein beschreiben oder implizit eine faktische Haltung oder ein subjektives Gefühl des Autors zum Ausdruck bringen sollen, gar nicht sinnvoll möglich wären. Allerdings besteht die Gefahr einer Verwirrung durch eine unreflektierte Laxheit in der Umgangsweise mit diesem Wort. Wenn sich dahinter kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis verbirgt, stellt sich die Frage Was dann?. Gemeint muss richtigerweise sein die notwendige Idee der Unabhängigkeit von Naturbedingtheiten in Bezug auf uns selbst, d. i. in positiver Formulierung die Not­ wendigkeit der Annahme des Vermögens des Menschen, eine Reihe von Erschei­ nungen von selbst anzufangen. Das ist die Notwendigkeit eines denkenden Subjekts (etwas, das sich selbst als „Ich“ zur Basis aller deshalb seiner Urteile nehmen muss, wenn es denkt), sich selbst und sonstige denkende (urteilende) Wesen zu­ mindest in praktischer Hinsicht so zu betrachten, als ob deren bewusste Willensäu­ ßerungen durch sie selbst anfingen – das denkende Wesen also handelt. Schon die Kritik der reinen Vernunft impliziert diese Notwendigkeitsbehauptung, indem sie auch Erkennen als Handeln (M. Baum: „selbsttätiges Machen“, Fn. 103; siehe ge­ nauer A.II.1.) des Menschen als Subjekt ausweist. Die Frage „Was soll ich tun?“ und die Antwort darauf mit der Formulierung des Sittengesetzes bzw. des kategorischen Imperativs sind dann für sich hinreichender Erkenntnisgrund der Notwen­ digkeit dieser (praktischen, eigentlich primären) Perspektive (denn: Erkennen ist ja eine besondere Weise des Handelns), die also durch ihre Möglichkeit wirklich ist. Leider werden aber in der Literatur – sei es der philosophischen, der juristischen oder sonstwie klassifizierten Literatur – die Implikationen dieses Erkenntnisgrundes der (denknotwendigen) Freiheit(sannahme) bzw. die daraus resultierenden begrifflichen Konsequenzen oft nicht beachtet, sondern das Wort „Freiheit“ wird mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen besetzt. Dies ist unglücklich, weil es eine zur Ver­ ständigung taugliche Verwendung dieses Wortes, nämlich zur Bezeichnung eines festen Grundsatzes und eines daraus entspringenden Systems normativer Begriffe, unmöglich macht.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes191

3. Eine das Missverständnis der Inhaltsleere ausschließende Darstellung des bedürfnis- / materieunabhängigen Ansatzes Träfe die hegelsche Kant-Rezension inhaltlich zu und wäre also die Kritik der Inhaltsleere begründet, dann erschiene jede genauere Beschäftigung mit der kantischen praktischen Philosophie mehr oder weniger müßig. Dem ist nicht so. Es soll im Folgenden eine das Missverständnis der Inhaltsleere274 ausschließende Darstellung desselben Gedankenganges versucht werden, die deutlicher ist, bloß was die Weise angeht, wie die Form des Sollens mit Inhalt zu füllen ist (also ohne externe materiale, normative Prämissen vor­ auszusetzen, vgl. aber auch schon oben A.II.2.–4.). Die als notwendig be­ haupteten gedanklichen Akte werden als ein Zusammenhang mehrerer Thesen vorgestellt. Im Anschluss daran werden dann die – sich unmittelbar ergebenden – Konsequenzen dieser Position betreffend Inhalt und Grenze von Notstands­ rechten dargestellt werden (B.III.). a) Nicht-sinnlich-bedingtes Verhaltensprinzip als Bedingung der Möglichkeit (Denkbarkeit) eines (überhaupt-)richtigen Verhaltens bzw. von „Pflicht“ Die Beantwortung der Frage nach einem überhaupt-richtigen Verhalten („Was soll ich tun?“) ausgehend von einem unmittelbar-materialen, auf sinnlichem Begehren gründenden Ansatz scheitert notwendig (siehe dazu oben): Die „Pflicht“-Behauptung ist eine apodiktische Notwendigkeitsbe­ hauptung, die, sollte sie letztlich auf sinnlichem Begehren der Menschen beruhen, absurd und damit unwahr wäre275. Entscheidend ist insoweit nicht, 274  Ein ähnliches Missverständnis der kantischen Position wie bei Hegel findet sich übrigens auch bei Kelsen, (Reine Rechtslehre, II.8.: „… der kategorische Impe­ rativ ist ganz inhaltslos …“), was bei Kelsen im Kontext verbunden ist mit der Behauptung, es ergäben sich durch diesen auch keine allgemeinen Pflichtinhalte. Dasselbe Missverständnis zeigt sich auch bei Mill, wenn dieser behauptet, auch Kant stelle uneingestanden auf die Folgen ab, sobald er konkrete moralische Pflichten aus dem kategorischen Imperativ herleiten wolle, Mill, Utilitarismus, 1. Kapitel, S. 15. Wenn der begriffliche bzw. fundamentale (prinzipielle) Unterschied zu materialen Ansätzen noch nicht deutlich geworden ist, so wird er dies hoffentlich durch die sogleich gegebene andere Darstellung des kantischen Gedankenganges – ganz sicher aber zumindest dann, wenn man die jeweiligen Konsequenzen der unterschiedlichen Ansätze (der verschiedenen Weisen, normative Urteile zu bilden) für die Möglich­ keit und den Inhalt von Notstandsrechten betrachtet (siehe unten B.III.). 275  Wie man als konsequent-denkender Mensch in relativ-aufgeklärter Zeit nicht daran glauben kann (und sowieso nicht sollte), dass etwa einige Menschen direkten

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B. Auflösung der Aufgabe

ob jemand oder wie viele einem auf sinnlichem Begehren (dieser oder jener Menschen) aufbauenden normativen Konzept faktisch folgen wollten oder würden. Entscheidend ist, dass niemand dies im Sinne einer Selbstnöti­ gungsnotwendigkeit (Pflicht) wird tun müssen, sodass jeder Zwang lediglich äußerlich bliebe und auf diese Weise prinzipiell nicht legitimierbar ist. Und es besteht nicht etwa die Alternative, nach einer auf sinnliches Begehren gründenden (unmittelbar-materialen) normativen Konzeption den Begriff „Pflicht“ umzudefinieren, ohne den eigentlichen Begriff der Selbstnötigungsnotwendigkeit vorauszusetzen. Man könnte nach einem solchen Konzept höchstens versuchen, auf die Verwendung des Wortes „Pflicht“ – und dann eben auch auf die Verwendung des Wortes „Recht“ – mangels sinnvoller Bedeutung gänzlich zu verzichten. Das jedoch tat bisher niemand, weil eine Verhaltensordnung ohne einen Glauben an deren jedenfalls basale Richtig­ keit nicht funktionierte (also keine wäre). Wird das Wort Pflicht verwendet, dann suggeriert es etwas, dass nach materialen Konzepten nicht gemeint sein kann, nämlich eben Selbstnötigungsnotwendigkeit anstelle von bloßer Androhung faktischen Zwanges. Ein Rechtssystem im Sinne einer anzuer­ kennenden Verhaltensordnung ist nach unmittelbar-materialen Ansätzen nicht möglich: Das, was in früher Zeit die bloß-faktische Durchsetzung des Stärkeren gewesen sein mag (als „Recht des Stärkeren“ nur mit ironischer Konnotation bezeichenbar), ist demnach dann die bloß-faktische Durchset­ zung des Geschickteren, der mit einigen anderen eine große Menge von Menschen durch Täuschung – über deren eben bloß vermeintliche Selbstge­ bundenheit – in die für ihn nützliche Richtung steuerte. „Recht“ wäre besonderen Kontakt oder Zugang zu einem höheren Wesen (man bezeichne es als „Gott“ oder als „Weltgeist“ oder sonstwie) haben und schon deshalb wüssten, wie Menschen sich verhalten sollen, so kann (und sollte) man ebenso wenig unmittelbarmaterialen (auf sinnlichem Begehren aufbauenden) Normativitätskonzept Glauben schenken. Denn dies wäre nichts anderes, als letztlich doch einer der Irrationalität objektiv-teleologischer Konzepte entsprechenden Irrationalität zu verfallen. Unmit­ telbar-materiale Konzeptionen unterscheiden sich prinzipiell nicht wesentlich von sogen. objektiv-teleologischen. Und man kann nicht sagen, eine prinzipielle Diffe­ renz fehle trotz empiristischer Basis, sondern sie fehlt gerade wegen der empiristischen Basis unmittelbar-materialer Normativitätskonzepte (aus welcher unmöglich allgemeingültige Sollenssätze entnommen oder irgendwie hergeleitet werden kön­ nen). Und um Missverständnisse auszuschließen: Das Irrationale daran ist nicht notwendig schon der Versuch einer bloß-empirischen Beschäftigung mit dem Men­ schen (etwa „Betrachtungen der menschlichen Natur“ anstellen zu wollen – wie Hobbes es tat – oder sich mit der menschlichen Psyche zu beschäftigen, wie Mill es tat). Das Irrationale ist der Glaube, dass bloß-dadurch ein Maßstab für überhauptrichtiges Handeln zu gewinnen sei. Ein solcher Glaube unterscheidet sich nicht prinzipiell vom beliebigen – unkontrollierbaren und letztlich grundsatzlosen – Her­ umschwirren der Einbildungskraft in Ideengegenständen (etwa der Idee von einem höheren Wesen).



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes193

Schein276. L. W. Beck schreibt treffend, man müsste nach einem bedürf­ nisabhängigen Ansatz die „Merkmale der moralischen Verpflichtung wegin­ terpretieren, indem wir sie als illusorische Produkte eines psychischen Mechanismus aufweisen …“. „Weginterpretieren“ hieße, Pflicht überhaupt zu verneinen, da ein Begriff einer nicht-auch-moralischen Pflicht unmöglich ist277. Als Ausgangspunkt eines normativen Denkens mit Verbindlichkeitsan­ spruch bzw. zum gedanklich ersten konstruktiven Schritt der Beantwortung der Frage „Was soll ich tun?“ (Gibt es ein überhaupt-richtiges Handeln?) kann somit festgehalten werden: Wenn es überhaupt einen Pflichtbegriff und damit Ethik und Recht geben könnte, müsste ein unbedingt gesolltes bzw. verbotenes Verhalten gedacht werden können (wodurch dann auch das rechtlich- oder ethisch-Erlaubte bestimmt werden könnte). Das Auffinden oder Herstellen eines unbedingten (allgemeingültigen und notwendigen) Ge- bzw. Verbots ist zumindest eine notwendige Bedingung der Möglichkeit einer Ethik im weiten Sinne eines verbindlichen Systems der Bewertung menschlicher Willensäußerungen als überhaupt-richtig bzw. überhaupt-falsch (und dadurch auch als rechtlich oder ethisch ggf. neutral / indifferent). Das heißt übrigens auch: Wer an ein System ethischer und rechtlicher (normativer) Begriffe im gerade genannten Sinne – also mit Verbindlichkeitsanspruch – glaubt, der glaubt notwendig (wenn auch ggf. dunkel) an ein zugrundeliegendes unbedingtes Verhaltens­ prinzip278.

276  Wer Menschen kennt, die sich selbst etwa als Utilitaristen bezeichnen, kennt damit noch nicht Menschen, die nicht letztlich und dunkel doch eine Pflichtvorstel­ lung haben, wie sie sich aus utilitaristischen Konzepten oder überhaupt unmittelbarmaterialen Ansätzen nicht ergeben kann. Sogar Utilitaristen der ersten Stunde (wie etwa Bentham) wollten bestimmte mögliche, aber als extrem empfundene Konse­ quenzen ihrer Position ausschließen (etwa die abschreckende vorgebliche Bestra­ fung Unschuldiger, welche dem Volk mit großer Sicherheit als schuldig vorgestellt werden könnten). Dies dürfte letztlich ein dunkler Einfluss der – wenn auch von Utilitaristen abgestrittenen und nur bezüglich Extremfällen hervortretenden – Vor­ stellung von einer Selbstbindung an eine Würde des Menschen als Person sein. 277  Siehe Beck, S. 78. Und zur Unmöglichkeit eines nicht-auch-moralischen Be­ griffs von „Pflicht“ derselbe, S. 147–148 und Kant, MdS, TL, § 2. 278  Sachlich eine entsprechende Äußerung bei Kant, MdS, Einl. II, S. 216, 217: Ohne „Prinzipien a priori“ könne der Mensch keine „allgemeine Gesetzgebung in sich zu haben glauben“.

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B. Auflösung der Aufgabe

b) Formulierbarkeit eines solchen als Erkenntnisgrund der Wirklichkeit eines allgemeinen Verhaltensmaßstabs (und damit des Sollens überhaupt) Ein solches Verhaltensprinzip könnte nur durch einen nicht-bedürfnisabhängigen und deshalb kategorischen Imperativ vorgestellt werden. Da ein solcher Grundsatz durch das menschliche Erkenntnisvermögen nur im menschlichen Erkenntnisvermögen selbst (ohne also empirische Daten vor­ auszusetzen) gefunden werden könnte, fiele übrigens diesbezüglich ein Auffinden mit einem Selbst-Herstellen279 sachlich vollkommen zusammen (es wäre dasselbe). Wenn wir von ethischen bzw. rechtlichen Ge- oder Verboten sprechen wollen, dann ist der Terminus „kategorischer Imperativ“ eigentlich (gemäß These 1, a)) tautologisch. Denn ein „hypothetischer Imperativ“ in dem Sin­ ne, wie Kant den Terminus verwendet – nämlich sofern die Prämisse eine nach Begriffen von Wohl und Übel bewertete (begehrte) Materie als Zweck enthält (eine solche also zum Gebundensein vorausgesetzt ist, d. h. voraus­ gesetzt ist, damit aus der gedachten, möglichen Mittel-Zweck-Relation überhaupt ein Imperativ wird) – erreicht gar nicht die Pflichtebene (die Sein-Sollens-Ebene)280. Es handelt sich vielmehr um einen bloß technischen 279  Da man dafür jedenfalls keinerlei besondere empirische Daten zu erheben und durch den Verstand zu bewerten hat (dies gäbe eben keine allgemeingültigen und notwendigen Sollenssätze, weil ein Objekt bzw. eine Materie als letztlich-ausschlag­ gebender Bestimmungsgrund des Willens vorausgesetzt würde), müsste dazu also (reine) Vernunft an und für sich selbst praktisch sein. Kant will ein solches etwaiges Vermögen der reinen Selbsttätigkeit deshalb das „obere Begehrungsvermögen“ nen­ nen (in Abgrenzung zum auf äußere Beeinflussung angewiesenen „unteren Begeh­ rungsvermögen“, siehe Fn. 123). 280  Vgl. etwa Kant, KU (Einleitung), S. 171–173. Dasselbe stellt Beck heraus, indem er zutreffend darauf hinweist, dass die Unterscheidung der prinzipiell-verschiedenen Imperative nach hypothetischer oder kategorischer Gestalt (bloße Klug­ heitsregeln vs. ethische bzw. rechtliche Gesetze) zwar nicht ungenau, aber eben für sich nicht hinreichend deutlich (nicht eindeutig) zur Bezeichnung der eigentlichen Differenz ist: „Entscheidend ist nicht … eine bestimmte grammatische oder logische Form“, sondern „… wir haben darauf zu achten, dass kein Imperativ moralisch gül­ tig ist, wenn er sich lediglich an eine Person mit einem spezifischen Begehren richtet“. Ein moralischer (oder rechtlicher) Imperativ kann nicht „assertorisch“ sein, also bloß gültig für denjenigen, der gerade „ein durch die Befolgung dieses Impe­ rativs zu befriedigendes Verlangen hat“. Ethische oder rechtliche Imperative zeich­ nen sich durch ihre apodiktische Modalität aus, sind notwendig für jeden Menschen als Person (für jedes Subjekt) gültig. Das ist, wie Beck banaler- und richtigerweise herausstellt, unabhängig von der sprachlichen Form; am Beispiel eines konkreten kategorischen Imperativs: „Halte dein Versprechen“ oder „Wenn du ein Versprechen gegeben hast, dann halte es“, Beck, S. 90–91. Mit „hypothetischen Imperativen“ (in Abgrenzung zu kategorischen) bezeichnet Kant sachlich-dementsprechend stets sol­



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes195

bzw. pragmatischen Ratschlag, der ohne Inhaltsverlust bzw. Inhaltsänderung in eine Seinsaussage umformuliert werden kann. So lässt sich jede hypothe­ tische imperative Formulierung wie folgt fassen: Wenn jemand x unter den gegebenen Bedingungen wirklich machen will (den Zweck x erreichen will), dann impliziert dies das Wollen von y, z … als den notwendigen Bedingungen dessen (sofern diese Bedingungen bekannt sind) bzw. umge­ kehrt: Wenn jemand die notwendigen Bedingungen zur Hervorbringung des Gegenstandes x, die y, z … sind, kennt und nicht ausführen will, obwohl er es könnte, dann will er x nicht wirklich machen (setzt sich x also nicht als Zweck)281. Das in Frage stehende / gesuchte unbedingte Sollen wäre also ein solches, dass ein Verhalten ohne Rücksicht auf eine begehrte Materie bzw. einen Zweck ge- bzw. verbietet. Wenn die Suche oder das Postulieren besonderer (etwa angenehmer) Zwecke untauglich zur Generierung von Sollenssätzen im eigentlichen Sinne (Pflichtbehauptungen) und damit auszuschließen ist, che, die nur unter einer nicht-notwendigen (empirischen, zufälligen) Bedingung gültig und damit keine wirklich-allgemeingültigen Imperative sind, sodass zumindest hinsichtlich eines verständigen Handlungssubjekts auch umgekehrt aus dem Nicht­ befolgen eines möglichen hypothetischen Imperativs auf das Fehlen im Sinne des Nicht-Wirklichseins des konkreten sinnlichen Begehrens als der bloß für möglich gehaltenen Gültigkeitsbedingung geurteilt werden kann. Ein kategorischer Imperativ hingegen ist in dem Sinne apodiktisch, als er unter keiner zufälligen bzw. damit eigentlich unter gar keiner (nicht stets auch gegebenen) Gültigkeitsbedingung steht. Und um Missverständnisse vorsorglich auszuschließen: Konkrete kategorische Impe­ rative, etwa der Rechtsimperativ „Fahre innerhalb geschlossener Ortschaften mit einem Kfz nicht schneller als 50 km / h“, sind nur unter Einbezug empirischer Umstände so konkret formulierbar (bezüglich des konkreten Gebots etwa der Umstand, dass es faktisch möglich ist, schneller als 50 km / h zu fahren, dass es geschlossene Ortschaften gibt usw.). Letztlich handelt es sich aber bloß um eine Konkretisierung des allgemeinen Rechtsprinzips der Einschränkung der Willkür auf die Zusammen­ stimmung mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz, also des allgemeingültigen Rechtsgebots, äußerlich unverletzt aneinander vorbeizukom­ men: Dieses ist für einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit konkretisiert worden. Und damit ist es ein bedürfnisunabhängig gültiger („kategorischer“) Imperativ: Auch wenn es bei niemandem ein Bedürfnis gäbe, schnell mit einem Kfz zu fahren oder (fernliegend) in einem Ort von Lebensmüden bei jedermann ein Bedürfnis bestünde, überfahren zu werden, ließe sich ideell ethisch und rechtlich bestimmen, an welchen Stellen welche Maximalgeschwindigkeit des Fahrens mit (Kraft-)Fahrzeugen im Verhältnis zu anderen Verkehrsteilnehmern bzw. Mitmenschen zulässig wäre; näm­ lich nur diejenige, die ein Einstellen aller anderen auf das Verhalten ermöglicht, so dass das Rechtsgebot des Unverletzt-Aneinander-Vorbeikommens gewahrt ist. 281  Das gilt zumindest dann, wenn für x nicht ein vager und unbestimmter Begriff wie etwa „Glückseligkeit“ eingesetzt wird. Ansonsten ließe sich unmittelbar gar nichts Bestimmtes folgern bzw. formulieren (wegen der prinzipiellen Unmöglichkeit der Bestimmung aller dafür notwendigen Bedingungen, falls es diese überhaupt gäbe).

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B. Auflösung der Aufgabe

dann bleibt nur übrig, das Prinzip der Handlungen (die Maximen) darauf zu überprüfen, ob es „der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunftursache“, nämlich „der Bedingung der Allgemeingültigkeit … als eines Gesetzes ge­ mäß sei“: Handle nur nach einer faktisch-möglichen Handlungsregel, sofern diese ihre allgemeine Gültigkeit für jedes vernünftige Wesen zugleich in sich enthält. Das ist „einerlei“ mit der Forderung: „Handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen (auf dich und andere) so, dass es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte“. Auf (allein) diese Weise wird es möglich, eine Gesetzlichkeit der „Freiheit“ zu denken bzw. zu erkennen; das heißt: Nur so stößt man auf allgemeine Regeln, die letztlich nicht bloß Erklärungen oder Ausdrücke des Seins sind, sondern die angeben, was dem einen – unabhängig davon, welche Begierden dieser hat – im Verhältnis (zu sich selbst und) zum jeweils anderen – irrelevant, welche Begierden dieser auch habe – zusteht. Das „Subjekt der Zwecke“ ist notwendig „oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck allen Maximen der Handlungen zum Grunde“ zu legen. Hieraus folgt zwingend: „Jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst“ muss sich in Ansehung aller (dadurch im vorpositiven Sinne ethischen bzw. recht­ lichen) „Gesetze, denen es immer nur unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend“ ansehen können, weil „eben diese Schicklichkeit seiner Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeichnet, imgleichen, dass dieses seine Würde (Prärogativ) vor allen bloßen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkt seiner selbst, zugleich aber auch jedes anderen vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen) nehmen müs­ se“. Die Form aller Maximen ist demnach notwendig die Allgemeinheit282: Sie müssen als Zustehensaussagen betrachtet „wie allgemeine Naturgeset­ ze“ gelten können, das heißt: zugleich mit ihrer Annehmung als allgemein­ gültig gewollt werden können (siehe zum Terminus „Zustehensaussage“ die folgenden Ausführungen, insbesondere unter d) und e)). Die einzig-allen Maximen bzw. allen Handlungen gemeinsame Materie ist der (jeder) Mensch bloß als Subjekt bzw. als Zweck-an-sich-selbst betrachtet. So müssen alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen (gedachten) Reich der Zwecke als einem Reich der Natur zusammenstimmen (GMS, S. 437– 438). Bezüglich äußerer Handlungen impliziert das, diese auf die Zusam­ menstimmung mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz be­ treffend das Zustehen von Etwas zu Jemandem zu bedingen283.

282  „… ist

sein.

… notwendig …“ heißt hier: Soll gemäß kategorischem Imperativ

283  Zur Möglichkeit mehrerer Formeln „ebendesselben Gesetzes“ siehe oben A.II.2. (Fn. 136) und Kant, GMS, S. 435 ff. Zum Verhältnis dieses Gesetzes für



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes197

Dieser kategorische Imperativ (dessen Gültigkeit) hängt von keinerlei nach Begriffen von Wohl und Übel bewerteten Wahrnehmungen / Empfin­ dungen / Erscheinungen (sinnlichen Begehren bzw. Bedürfnissen) ab. Er gilt nicht, weil er irgendwie extern interessierte, sondern er interessiert uns notwendig, weil er als Verhaltensforderung (Ge- bzw. Verbot) unbedingt gilt: Es gibt keine nicht auch stets gegebene Gültigkeitsbedingung, weil die einzige sprachlich-formulierbare Gültigkeitsbedingung dieses grundlegenden Sittengesetzes (kategorischen Imperativs) eine bloß vermeintliche ist, näm­ lich: Wenn es überhaupt-richtiges Verhalten geben könnte und soll, dann müss­ te ein vom sinnlichen Begehren unabhängiger, deshalb kategorischer Impe­ rativ möglich sein. Ein solcher kategorischer Imperativ ist möglich (formu­ lierbar), sodass gilt: Wenn es überhaupt-richtiges Handeln gibt, dann ist dieses, nur nach der­ jenigen Maxime zu handeln, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Ge­ setz machen kann bzw. in welcher jeder Mensch stets auch als Zweck an sich selbst (als auch-gesetzgebendes Glied in einem „Reich der Zwecke“) vorkommt. Dies ist die einzige Möglichkeit, den kategorischen Imperativ bloßsprachlich (ohne Veränderung seiner Bedeutung) in eine hypothetische Form zu bringen („Wenn du überhaupt-richtig handeln willst, dann …“284). ­ aximen von Handlungen zum Rechtsgesetz (dem Gesetz für äußere Handlungen) M siehe Kant, MdS, RL, § C und TL, X. sowie oben A.II.3. und noch unten c). 284  Insofern kann man diese Darstellung auch als eine teleologische Darstellung des kantischen Gedankengangs betrachten, bei welcher jedoch die Irrationalität ob­ jektiv-teleologischer Konzeptionen vermieden wird. Eine teleologische Ausdrucksweise (die aber eben keine irrational-objektiv-teleologische oder sonst auf materiale Zwecke gründende Konzeption in Bezug nimmt) findet sich übrigens auch bei Kant hin und wieder: Zur theoretischen Philosophie siehe etwa KrV, Vorrede zur zweiten Auflage: „… in Ansehung meines Hauptzwecks … weil die Frage immer bleibt, was und wieviel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen …“ Auch in § 5 Prol.: Suche nach den Quellen der Wissenschaften in der Vernunft selbst, um dadurch … den Wissenschaften nicht was ihren Inhalt, sondern bloß was ihren richtigen Gebrauch betrifft, einen Gewinn zu verschaffen. In theoretischer Hinsicht kann man das Auffinden der (reinen) Bedingungen und Grenzen einer Er­ klärung des Seins überhaupt – die richtige Bestimmung des Status von theoretischer Erkenntnis im Sinne der Erklärung des Wahrgenommenen bzw. der Erscheinungen durch das menschliche Erkenntnisvermögen – als den Zweck betrachten: „Das Inte­ resse ihres (der Vernunft, G. H.) spekulativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objektes bis zu den höchsten Prinzipien a priori …“, Kant, KpV. 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstck., III., S. 120. Dem entspricht für den allgemeinen normativen („praktischen“, siehe aber Fn. 117) Bereich mit Verbindlichkeitsanspruch die Beantwortung der Frage nach einem richtigen (bzw. falschen) Verhalten überhaupt (ohne sonstigen vorausgesetzten Zweck). Kant schreibt sogar: „Die ganze Zurüstung der

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B. Auflösung der Aufgabe

Das Kategorische bzw. Apodiktische wird dadurch nicht tangiert (siehe auch Fn. 280). Denn der Satz: „Das unbedingt Gesollte-Sein soll nicht-unbedingt sein“ ist widersprüchlich. Mit anderen Worten: Wenn ein solches unbedingtes Gebot bzw. Verbot gedacht werden könnte (möglich wäre), dann wäre es aufgrund seiner Eigenschaft, notwendige Bedingung der Be­ stimmung von überhaupt-richtigem bzw. falschem Verhalten und damit notwendige Bedingung eines rationalen Glaubens an einen bestehenden Maßstab der Beurteilung und somit erst des Begriffs von einem überhauptrichtigen Verhalten zu sein, als verbindender Maßstab auch wirklich (als wirklich-geltend zu betrachten)285. Zwar ist eine notwendige Bedingung nicht stets auch eine hinreichende. Weitere Bedingungen gibt es jedoch hier nicht: Der kategorische Imperativ als Bedingung der Möglichkeit (weil einzig-möglicher Maßstab) der Be­ stimmung von überhaupt-richtigem bzw. falschem (und damit auch von er­ laubtem) Verhalten setzt das Können wie gesollt ebenfalls als notwendig. Das heißt: Die Annahme, der Mensch sei zur Befolgung des durch den kategorischen Imperativ als richtig vorgestellten Verhaltens gar nicht im­ stande, enthielte jedenfalls in dieser Allgemeinheit und Abstraktheit einen Widerspruch in sich, weil es den kategorischen Imperativ voraussetzte und zugleich als solchen negierte. Dementsprechend kann das Urteil fehlender Verantwortlichkeit bzw. von Unzurechnungsfähigkeit auch nur aus dem Vernunft in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur … gerichtet … aufs Moralische …“, KrV, II., 2. Hauptstck., 1. Abschnitt, S. 520. Und: „Alles läuft zuletzt auf das Praktische hinaus; und in dieser Tendenz alles Theoretischen und aller Spekulation in Ansehung ihres Gebrauchs besteht der prak­ tische Wert unsers Erkenntnisses. Dieser Wert ist aber nur alsdenn ein unbedingter, wenn der Zweck, worauf der praktische Gebrauch des Erkenntnisses gerichtet ist, ein unbedingter Zweck ist. – Der einzige unbedingte und letzte Zweck (Endzweck), worauf aller praktische Gebrauch unsers Erkenntnisses zuletzt sich beziehen muss, ist die Sittlichkeit, die wir um deswillen auch das schlechthin oder absolut Prakti­ sche nennen …“, Kant, Logik, S. 87. Und GMS, S. 402: „Alles moralische soge­ nannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz“ (zur „Achtung“ siehe Fn. 258). 285  Kant fasst Notwendigkeit in § 11 der KrV wie folgt: „Notwendigkeit (ist) nichts anderes, als die Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben wird“. Dass, wenn nach einem Vernunftprinzip ein überhaupt-richtiges bzw. -falsches menschliches Verhalten als eine auf ein Subjekt zurückführbare innere oder äußere Selbstbewegung (Willenstätigkeit) bestimmbar wäre, jedes Verhalten sich an diesem Maßstab messen lassen müsste (der Maßstab also aufgrund seiner Möglichkeit als stets-wirklich-gültig und unmöglich nur bedingt bzw. manchmal gültig betrachtet werden könnte), kann wohl kaum ohne Widerspruch bestritten werden. Vgl. auch Kant, KpV, S. 67: „… die Kategorien der Modalitäten den Übergang von prakti­ schen Prinzipien überhaupt zu denen der Sittlichkeit, aber nur problematisch einlei­ ten, welche nachher durchs moralische Gesetzsetz allererst dogmatisch dargestellt werden können“.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes199

Vorliegen besonderer Umstände beim konkreten Handlungssubjekt (etwa Schwachsinn) genommen werden (dazu noch B.II.4.b)). Somit ist es eigentlich unmöglich, das Können wie gesollt zu bestreiten, eben es sei denn, man hält das konkrete Handlungssubjekt für geistig-be­ hindert bzw. krank. „Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der End­ zweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjekts des Sinnenwesens, nämlich der Mensch), vorausgesetzt wird …“ (Kant, KU, Einl. IX.). Das ist auch impliziert in Kants Behauptung, (transzenden­ tale) „Freiheit“ als Selbsttätigkeit der Vernunft sei ratio essendi der Frage bzw. Suche nach einem überhaupt-gültigen Verhaltensmaßstab (kategori­ schen Imperativ) und des Auffindens bzw. des Sich-Bewusstseins eines solchen (letzteres dann endgültiger Erkenntnisgrund): Diese Eigenschaft muss – in praktischer Hinsicht überhaupt – bei jedem Menschen, der mehr oder weniger dunkel glaubt, nach normativen Begriffen mit Verbindlich­ keitsanspruch urteilen zu können (also eine Pflichtvorstellung hat) oder sich auch nur fragt, ob dies wohl möglich sei, als gegeben angenommen werden (siehe dazu auch oben A.II.2. und unten Fn. 288 und zur Auseinanderset­ zung mit neuerer Kritik an dieser Ansicht – etwa seitens Reinhard Mer­ kels – noch unten 4.b)). Auch sonstige Gültigkeitsbedingungen des kategorischen Imperativs gibt es nicht: Insbesondere dürfen keine begehrten Inhalte – nach dann notwen­ dig bloß Begriffen vom Angenehmen bzw. Wohl, also subjektiv-material – vorausgesetzt werden. Vielmehr muss Materie (Inhalte) nach einem mitgedachten allgemeingültigen Verfahren in die Form des Sollens einfügbar sein, sodass dadurch allgemeingültige ethische und rechtliche Begriffe – insgesamt ein normatives System mit Verbindlichkeitsanspruch – schlüssig generiert286 und darstellbar werden (dazu sogleich unter c)). Ansonsten würde der kategorische Imperativ ebenfalls als solcher (nämlich, was sei­ ne Gültigkeit angeht, vom sinnlichen Begehren unabhängiger) zugleich mit seiner Bejahung verneint (was bei Hegel der Sache nach geschieht, B.II.2.b)).

286  Nichts anderes meint Kant letztlich, wenn er schreibt, der „Begriff des Guten und Bösen“ könne unmöglich dem moralischen Gesetz zugrundegelegt werden, son­ dern müsse „nur … nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden“, KpV, 1. Teil, 1. Buch, 2. Hauptstck. (Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen prak­ tischen Vernunft). Siehe auch Kant, KpV, § 8, Anm. I: „… die bloße Form eines Gesetzes, welche die Materie einschränkt, muss zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen …“. Eine deutliche Darstellung des Verfahrens gelingt ihm allerdings in der KpV nicht (siehe dazu unten).

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B. Auflösung der Aufgabe

Wie gehaltvolle Sollenssätze gemäß dem kategorischen Imperativ zu bil­ den sind, wie also konkrete normative (ethische und rechtliche) Begriffe daraus herzuleiten sind, das ist der von Hegel unverstandene oder missach­ tete, aber alles entscheidende Punkt. Denn nochmal: Wenn unmittelbarmateriale, normative Prämissen vorausgesetzt werden, dann wird der kate­ gorische Imperativ auf das Haben bestimmter sinnlicher Begehren bedingt, welche unmöglich wahrheitsgemäß als notwendig-gegeben behauptet werden können; der kategorische Imperativ wird dabei negiert. c) Implikation für das Menschenbild bzw. Selbstbild Impliziert im kategorischen Imperativ (in allen Formeln desselben) ist die Notwendigkeit, den Menschen in zwei Hinsichten zu betrachten, näm­ lich als Einheit von einem erscheinenden Wesen (Phänomen) und einem („eigentlichen“, „absoluten“ bzw. reinen) immateriellen Subjekt an sich selbst. Oder in Kants Worten: „… dass er (der Mensch, G. H.) sich selbst … auf zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste (zur Sinnenwelt gehöriges Ding in der Erscheinung) betrifft, auf dem Be­ wusstsein seiner selbst als durch Sinne affizierten Gegenstandes, was das zweite anlangt auf dem Bewusstsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken …“. Das rei­ ne Subjekt bzw. „das eigentliche Selbst“ muss sich so denken bzw. in praktischer Hinsicht überhaupt so gedacht werden, dass es jedem empiri­ schen Menschen, der deshalb „Erscheinung seiner selbst“ ist, zugrundeliegt (Kant, GMS, S. 457–458). Das reine Subjekt ist in praktischer Hinsicht überhaupt ein apodiktisch-notwendiges (vernunftnotwendiges) Element des Begriffs der Person das als solches („intelligible Substanz“) also nicht em­ pirisch bestimmbar oder experimentell-erklärlich sein kann287. Diese zwei 287  Kant schreibt: „Dadurch, dass praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte“. Das reine Subjekt bzw. der Begriff einer bloßen Verstandeswelt ist „nur ein negativer Gedanke in Ansehung der Sinnenwelt“, GMS, S. 458. Auch der Satz „Ich bin mir meiner selbst bewusst“ enthält schon ein „zweifaches Ich …, das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt, wobei „… nur Ich, der ich denke und anschaue … die Person“ sei, „das Ich aber des Objektes, das von mir angeschaut wird, ist gleich anderen Gegenständen außer mir, die Sache“. Zu beachten ist dabei: Dem reinen Subjekt bin ich mir nur als empirisches Ich bewusst, weil ich Erscheinung des Ich habe, siehe dazu auch Longuenesse, S. 868 ff., siehe auch Fn. 120. Die in der KpV aufgestellte Behauptung Kants, der kategorische Im­ perativ sei der „Erkenntnisgrund von Freiheit“ (siehe oben A.II.2.) impliziert dem­ gemäß: Wenn wir auch sonst keinen Anlass dafür fänden, auf die Wirklichkeit von Spontaneität eines Gegenstandes bzw. auf das Vermögen eines Gegenstandes zu urteilen, eine Reihe von Erscheinungen ganz von selbst zu beginnen, dann wäre dieser Anlass zumindest durch die Frage nach einem überhaupt-richtigen Verhalten



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes201

Perspektiven der (einen) Vernunft sind notwendig (unvermeidbar; siehe zur Beschränkung des unmittelbaren Verstandesgebrauchs auf den Bereich der Erscheinungen durch reine Vernunft oben A.II.1.), um sich nicht mit sei­ nem Erkenntnisvermögen bzw. mit sich selbst in Widersprüche zu ver­ wickeln288. Die folgenden Erläuterungen sind von Bedeutung, um ein Missverständ­ nis wie das hegelsche oder eine Fehlanwendung des kategorischen Impera­ tivs auszuschließen: Die notwendige Beurteilung des Menschen als Einheit von noumenalem und phänomenalem Wesen enthält die Einheit eines (jeweiligen) imma­ teriellen „Selbst“ und eines (jeweiligen) anschaulichen Körpers (in Raum und Zeit befindlichen Objekts). Dies ist auch impliziert, wenn jemand vom Menschen als „Subjekt-Objekt-Einheit“ spricht289, denn dabei wird bzw. nach einem kategorischen Imperativ und das Finden (Herstellen) eines solchen in Bezug auf uns selbst als Subjekte (demgemäß eben nicht nur Erscheinungen) hinreichend gegeben. Der kategorische Imperativ bzw. schon die Frage nach dem Sollen überhaupt kann nur durch „Freiheit“ im Sinne von Spontaneität der Vernunft auftauchen bzw. würde sich uns ohne „Freiheit“ (als deshalb „ratio essendi“) nicht stellen. Gegenstände theoretischer Erkenntnis können „Freiheit“ oder die „intelligi­ ble Substanz“ (das Subjekt in bzw. „hinter“ der Erscheinung, GMS, S. 459, 460 bzw. das „intelligible Substrat in uns“, KpV, I., 1. Buch, 3. Hauptstck.) jedoch eben des­ halb, weil es insoweit „negative Gedanken“ sind, nicht sein. 288  Sich als frei und doch in Selbstnötigungsnotwendigkeit unter dem kategori­ schen Imperativ zu denken, ist nicht nur kein Widerspruch, sondern der sich erschei­ nende (eben auch „sinnlich-affizierte“) Mensch erkennt sich durch den kategorischen Imperativ (der den Pflichtbegriff ermöglicht) als „frei“ und als zum Können des unabhängig von Affektion durch Sinnlichkeit Gesollten fähig. Dasselbe impliziert Kants Behauptung der Vereinbarkeit von Naturgesetzlichkeit und Freiheitsgesetzlich­ keit, da „man sich sonst selbst missversteht und sich zu widersprechen glaubt, wo doch alles in der vollkommensten Harmonie nebeneinander steht“, Kant, KpV, 1. Teil, 2. Buch, 1. Hauptstck. Wenn Kant schreibt (GMS, S. 458), „der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken …“, dann ist dies insofern missverständlich formuliert, als es der Vernunft bzw. dem Menschen mit seinem Erkenntnisvermögen ohne Widerspruch nicht möglich ist, einen Standpunkt bloß innerhalb der Erscheinungen einzunehmen, ohne einen anderen (nämlich: sich selbst als Nicht-nur-Erscheinung) vorauszusetzen. Jeder andere Glau­ be enthielte eine Selbsttäuschung. In theoretischer Hinsicht hat diese Notwendigkeit (das Bewusstsein reiner Erkenntnisvoraussetzungen, insbesondere des transzendenta­ len und logischen Ichs) allerdings, was die Produktion konkreter Erkenntnisse angeht, keine unmittelbare Bedeutung. 289  Siehe etwa Köhler, AT, S. 9–10. Siehe auch Kant, KpV, 1. Teil, 1. Buch, 3. Hauptstck.: Durch „von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen“ sei der Mensch „als zur Sinnenwelt gehörig“ der „eigenen Persönlichkeit unterworfen“. Und aus dem Nachlass: Es sei „unser moralisch bestimmter Wille selbst ein Beispiel einer Idee von Freiheit und intelligibler Substanz und zwar da­

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B. Auflösung der Aufgabe

nicht etwa angenommen, das Subjekt sei bloß ein Element des Objektes bzw. eine diesem anhängende physikalische Eigenschaft oder ein Epiphä­ nomen. Diese Notwendigkeit, sich als Mensch als Subjekt-Objekt-Einheit unter dem kategorischen Imperativ stehend anzunehmen, impliziert die Notwendigkeit der Herstellung bzw. Wahrung der Mindestbedingungen eines sein­ sollenden Verhältnisses zwischen den Menschen (als den Pflichtsubjekten unter dem kategorischen Imperativ) in einer Anschauung. Zwar ist das ei­ gentlich Moralische (Gute) eines Verhaltens als solches notwendig unan­ schaulich, weil es bloß der innere Akt ist, die Ausführung der Handlung von der Tauglichkeit der Maxime zum allgemeinen Gesetz für jedes Subjekt der Zwecke (vernünftige Wesen) abhängig gemacht zu haben. Aber da der ka­ tegorische Imperativ in Gestalt des Rechtsgesetzes (Rechtsimperativs) jedem im eigentlichen Sinne ethischen Verhalten die Wahrung des bloß äußeren (Rechts-)Verhältnisses voraussetzt, fordert er eben insoweit eine (anschauli­ che) Darstellbarkeit der Mindestbedingungen eines überhaupt-seinsollenden Personenverhältnisses (das ist dann eins mit der anschaulichen Darstellbar­ keit auch von Handlungen außerhalb eines seinsollenden Verhältnisses, also von Übertretungen oder Verletzungen). Kant benennt das, wenn er etwa ausführt, in der Moral denke man ein „mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur“, gehe also durch diese „praktische Idee“ (umgekehrt dem Verfahren theoretischer Erkenntnis290) auf das, was faktisch nicht (zumin­ dest nicht notwendig) da ist, aber da sein soll, um dieses „der Idee gemäß zustande zu bringen“291. Ein mögliches Reich der Zwecke „als ein Reich durch, dass er Folgen, die sich in der Erfahrung geben lassen, an Bestimmungsgrün­ de über Erfahrung hinaus knüpft …“ (abgedruckt in AA XXIII, S. 71). Und nur in Betrachtung des Menschen als Einheit von phänomenalem und noumenalem Charakter hat es überhaupt Sinn, von Pflichten (Selbstnötigungsnotwendigkeiten) zu spre­ chen, Kant, MdS, TL, §§ 3, 4. 290  In theoretischer Hinsicht erwäge man „zur Erklärung dessen, was da ist“ (in einer Analogie eines Schöpfers in Bezug auf sein Werk) die Natur als ein Reich der Zwecke. 291  Ein solches „Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zustande kommen, wenn sie allgemein befolgt“ würden, GMS, S. 438, 439. Das impliziert die Behauptung eines allgemeinen Verfahrens einer auch anschaulichen Darstellbarkeit (Konstruierbarkeit) eines seinsollenden bzw. nichtseinsollenden Verhältnisses der Menschen als Personen (Subjekt-Objekt-Einheiten bzw. Zwecke an sich selbst). Sie auch KpV, I., 1. Buch, § 8, I.: Das moralische Gesetz „soll der Sinnenwelt als einer sinnlichen Natur … die Form einer Verstandeswelt … verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanismus Abbruch zu tun … das moralische Gesetz … als … Grundge­ setz einer übersinnlichen Natur und einer Verstandeswelt …, deren Gegenbild in der Sinnenwelt … existieren soll“. Die genaue Weise dieser notwendigen Darstellung (Konstruktion) wird im Folgenden erläutert.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes203

der Natur“ zu erwägen heißt: Es als eine erscheinende Wirklichkeit (in Zeit und Raum) zu erwägen292. In der KrV sprach Kant (im Zuge seiner Kritik an der Möglichkeit einer sogen. „rationalen Psychologie“) implizit schon die Weise einer eben teil­ weise auch-anschaulichen Darstellbarkeit eines durch das moralische Gesetz vorgestellten seinsollenden Verhältnisses wie folgt an: „… Anschauungen können mir aber über das Feld der Erfahrung niemals hinaushelfen. Indes­ sen würde ich doch diese Begriffe (dort genannt die Verstandesbegriffe Substanz und Ursache, G. H.) in Ansehung des praktischen Gebrauchs, welcher doch immer auf Gegenstände der Erfahrung gerichtet ist, der im theoretischen Gebrauch analogischen Bedeutung gemäß auf die Freiheit und das Subjekt derselben anzuwenden befugt sein, wodurch ich „mich … als Subjekt der Gedanken oder als Grund des Denkens“ bzw. „als das We­ sen selbst“ im Sinne einer Substanz bloß in der Idee nehme, indem ich bloß die logischen Funktionen des Subjekts und des Prädikats, des Grundes und der Folge darunter verstehe, denen gemäß die Handlungen oder die Wirkun­ gen jenen (ethischen bzw. rechtlichen, G. H.) Gesetzen gemäß so bestimmt werden, dass sie zugleich mit den Naturgesetzen, den Kategorien der Sub­ stanz und der Ursache alle Mal gemäß erklärt werden können, ob sie gleich aus ganz anderem Prinzip entspringen“293. So sei der empirische Charakter der Willkür bzw. der Handlungen des Menschen in praktischer Hinsicht überhaupt „bloß die Erscheinung“ bzw. „das sinnliche Schema“ des „intel­ 292  Siehe auch GMS, S. 436: Die Verschiedenheit der „Formeln ebendesselben Gesetzes“ sei „zwar eher subjektiv als objektiv-praktisch …, nämlich um eine Idee der Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen Analogie) … näher zu bringen“. Siehe auch KpV, 1. Teil, 1. Buch, 3. Hauptstck.: Die Bindung an den kategorischen Imperativ erhebe „den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt)“ und knüpfe ihn an eine „Ordnung …, die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit … unter sich hat“. 293  Der „Paralogismus“ (Trugschluss) der rationalen Psychologie bestehe hinge­ gen darin, dass von dem logischen Subjekt (reines Ich / „bloße Apperzeption“ als Einheitsgrund aller Vorstellungen) unmittelbar – also nicht nur in „analogischer Bedeutung“ – auf die wirkliche Existenz einer (realen) Substanz geschlossen werde, indem „für Anschauung“ das transzendentale Subjekt als Objekt genommen wird, welche dadurch zum bestimmbaren Objekt zu werden scheine (obwohl es sich als „das bestimmende Subjekt“ um ein bloß logisches – immaterielles – handele). Der Glaube an eine auf diese Weise mögliche Erweiterung theoretischer Erkenntnis be­ ruhe also auf einem Fehler, siehe KrV, I., 2. Teil, 2. Abteil., 2. Buch, 1. Hauptstck. In der ersten Auflage der KrV (AA IV, S. 221) schreibt Kant, man könne das reine (transzendentale) Ich bzw. unseren Begriff der Seele auch als „Substanz in der Idee“ bezeichnen, wenn man sich dabei bewusst ist, dass dies eben keine Substanz „in der Realität“ sei. Insofern wird in dem Verbot, den Menschen als bloßes Mittel zu einem Zweck zu behandeln, die schon in der KrV herausgestellte Unmöglichkeit, das Ich als Prädikat eines Urteils zu gebrauchen, durch die analoge Anwendung des Subs­ tanz- und Kausalitätsbegriffs mit normativer Bedeutung wieder aufgenommen.

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B. Auflösung der Aufgabe

ligiblen Charakters“ (seiner Denkungsart als kausales Subjekt unter Vernunftgesetzgebung)294. In der KpV (1. Teil, 1. Buch, 2. Hauptstck.) gelang es Kant allerdings nicht, die Weise, wie der „Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ (das Gute und das Böse) erst durch das moralische Gesetz (den kategorischen Imperativ) möglich gemacht und bestimmt werden soll, so darzustellen, dass ein Missverständnis wie das hegelsche ausgeschlossen wäre: Die „Bestimmungen einer praktischen Vernunft“ könnten nur „in Bezie­ hung auf die Sinnenwelt“ stattfinden, „folglich zwar den Kategorien des Verstandes gemäß, aber nicht in der Absicht eines theoretischen Gebrauchs desselben“ (also nicht, um „das Mannigfaltige der Anschauung“ in einem Bewusstsein a priori zu ordnen), „sondern nur um das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewusstseins einer im moralischen Gesetze gebietenden Vernunft oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen“ . Dies ist noch deutlich. Bei „der Subsumtion einer mir in der Sinnenwelt möglichen Handlung unter einem reinen praktischen Gesetze“ gehe es nicht um „die Möglichkeit der Handlung als einer Begebenheit in der Sinnen­ welt“, sondern eben um die ethische Möglichkeit (soweit unmissverständ­ lich). Dem „Gesetze der Freiheit als einer gar nicht sinnlich-bedingten Kausalität“ könne „keine Anschauung, mithin kein Schema“ als ein allge­ meines Verfahren der Einbildungskraft, einen „reinen Verstandesbegriff den Sinnen a priori darzustellen“ zum Behuf seiner Anwendung in concreto unterlegt werden. Es gehe „um das Schema (wenn das Wort hier schicklich ist) eines Gesetzes selbst“. Dafür komme nur der Verstand als „die Anwen­ dung des Sittengesetzes auf Gegenstände der Natur“ (Erscheinungen) mög­ lich machendes („vermittelndes“) Vermögen in Betracht: Dieser unterlege einer „Idee der Vernunft“ ein „Naturgesetz, aber nur seiner Form nach“, 294  Kant, KrV, 2. Teil, 2. Abteil., 2. Buch, 2. Hauptstck., III., S. 366 ff., 372 ff. (374); L. W. Beck schreibt: „Eine Handlung müssen wir als Tätigkeit eines einzigen unveränderlichen Subjekts denken, dem die Handlung zugerechnet wird, und dieses Subjekt ist die Person. Wenn wir daher eine freie Handlung denken, so müssen wir sie in Beziehung auf eine Person als Handlungsträger denken, auch wenn wir von dieser Substanz keine theoretische Erkenntnis besitzen können“, Beck, S. 139, 140; entsprechend Kant, MdS, S. 223 und 227. Der Ausdruck „… eines … Subjekts …, dem die Handlung zugerechnet wird …“ ist allerdings ungenau: Eine innere (näm­ lich gedankliche) oder auch äußere Bewegung des Menschen als Bewegung eines Subjekts zu beurteilen, ist das Urteil: Der Mensch handelt. Es gibt also keinen sinn­ haltigen Begriff einer Handlung losgelöst vom Subjekt, sodass eine Erscheinung nicht zunächst als Handlung bestimmt und erst dann – in einem weiteren Akt – einem Subjekt zuzurechnen sein kann. Ein Objekt handelt nicht (ähnliche Aus­ drucksweise wie bei L. W. Beck allerdings auch bei Kant, MdS, S. 223: „Der Han­ delnde wird … als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusamt der Handlung selbst können ihm zugerechnet werden …“).



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes205

welches man „den Typus des Sittengesetzes nennen kann“. Somit sei die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der praktischen Vernunft: „Frage dich selbst, ob du die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem allgemei­ nen Gesetze der Natur, von der du ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest?“. Das damit Gemeinte bleibt teilweise undeutlich295 und reizt tatsächlich zu einer Kritik wie der hegelschen an: Zwar kann so – mit Kant (KpV, S. 69) – etwa die ethische Unmöglichkeit von Lüge und Betrug bestimmt werden, weil ich nicht Vertrauen im Rahmen von interpersonaler Kommunikation in Anspruch nehmen und zugleich allgemein die (potentielle) Unwahrheit aller Äußerungen wollen kann (oder allgemeiner: nicht an ein Sich-Verständigen mittels konstanter Begriffe oder Wortbedeutungen glauben und zugleich beliebige, einseitige Umdefinitionen der Bedeutungsgehalte der verwende­ ten Worte für möglich halten kann). Weshalb aber sollte demnach – also ohne dass zusätzliche externe Prä­ missen eingefügt werden – beispielsweise die Selbsttötung aus Überdruss ethisch ausgeschlossen sein, wie Kant es ebenfalls behauptet (ebenda)? Das Ungeschickte (Missverständliche) an diesen Ausführungen Kants ist, dass sie nicht auch verdeutlichen, was mit der Notwendigkeit, den Men­ schen als das unter dem moralischen Gesetz („Gesetz der Freiheit“) stehen­ de Pflichtsubjekt (eben als Subjekt-Objekt-Einheit) zu begreifen, an Mindestinhalt verbunden ist bzw. zu verbinden ist. In §§ B–E der MdS spricht Kant, ohne die kompliziert-anmutenden und schon damals als unverständlich rezensierten Ausführungen aus der KpV 295  Auch einige Teile der bei Kant vorangehenden Ausführungen über die „Kate­ gorien der Freiheit“ bleiben unklar; Beck nennt sie „dunkel“, S. 134. Beck gelingt es allerdings auch nicht, in diese Passagen der KpV Licht zu bringen; siehe die Aus­ führungen Becks auf den S. 142 ff. Dies sieht Beck selbst und schreibt: „Damit sind wir am Ende unserer schwierigen Erörterung der Kategorientafel angelangt. Ich lege sie nur zögernd vor; denn sie enthält mehr Fragen als Antworten, mehr Vermutungen als endgültige Klärungen“, S. 150. Vgl. diesbezüglich auch Sänger, die meint, dass vielmehr dem kantischen Rechtsbegriff „die Übergangsfunktion vom Apriorischen zum Empirischen“ zukomme (S. 119), S. 110 ff. (122 ff.), S. 174 ff. und 180 ff. Von Freier (Kantstudien 1992, 311 ff.) zeichnet das durch den kategorischen Imperativ geforderte Prüfverfahren dagegen deutlicher (unmissverständlicher) nach, indem er, fragend nach einem „notwendigen Verhältnis (der Subjektivität, G. H.) zur Materie“ (S. 312), das „moralisch reflektierende und urteilende (wollende) Subjekt“ als Zweck an sich selbst und „notwendiges metaphysisches Fundament“ des kategorischen Im­ perativs ausweist (S. 317) und diese Vorstellung als notwendig (und ausschließlich) dem Menschen beizulegend begreift. Unter dieser von Kant trotz seiner ungeschick­ ten Explikationen stets mitgedachten Voraussetzung kann – entgegen Hegels Ein­ wand – ein Wille, beurteilt unter dem kategorischen Imperativ, sich selbst widerspre­ chen; vgl. von Freier, a. a. O., S.  320 ff.

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B. Auflösung der Aufgabe

explizit aufzunehmen, wohl auch wegen der inzwischen vertieften Überle­ gungen zur Abgrenzung der Ethik im engeren Sinne vom Recht deutlicher aus, was jedenfalls zu tun ist, um aus dem kategorischen Imperativ konkrete normative Begriffe herzuleiten (ohne also externe materiale Prämissen einzuschieben) bzw. wie die Form des Sollens mit Inhalt zu füllen ist: Der allgemeine Begriff des Rechts als Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allge­ meinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann (§ B) bzw. das Rechtsgesetz296 sei zu konstruieren, d. h. „in einer reinen Anschauung a priori“ darzustellen. „Sowie wir nun in der … Mathematik die Eigenschaf­ ten eines Objekts nicht unmittelbar vom Begriffe ableiten, sondern nur durch Konstruktion des Begriffs entdecken können, so ist’s nicht sowohl der Begriff des Rechts als vielmehr die Vorstellung eines unter allgemeine Ge­ setze gebrachten, mit ihm zusammenstimmenden, durchgängig wechselsei­ tigen und gleichen Zwangs, der die Darstellung jenes Begriffs möglich macht“. Die Vernunft habe den Verstand „mit Anschauungen a priori zum Behuf der Konstruktion des Rechtsbegriffs“ versorgt. „Das Rechte (rectum) wird als das Gerade teils dem Krummen, teils dem Schiefen entgegenge­ setzt“. Analog einer Senkrechten zu einer geraden Linie zwischen zwei Punkten (entsprechend: den Personen bzw. den Subjekten des moralischen Gesetzes), die „den Raum von beiden Seiten gleich abteilt“, wird in der Rechtslehre jedem das Seine mit ideell mathematischer Genauigkeit be­ stimmt297.

296  „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“, § C MdS. Dies ist der kategorische Imperativ, der darin aber insofern konkretisiert und zugleich beschränkt ist, als er hier (als Rechtsimperativ) nur diejenigen (Minimal-) Pflichten vorstellen soll, deren Erfüllung seitens anderer (legitim) zwangsweise durchgesetzt werden kann, sodass eine vollständige ethische Beurteilung eines Ver­ haltens durch das Rechtsgesetz wegen des Absehens von der jeweiligen Triebfeder nicht möglich ist, siehe dazu oben A.II.3.. Eine bessere (sauberere) Formulierung des Rechtsgesetzes ist: „Handele äußerlich so, dass der Gebrauch deiner Willkür mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann“. 297  Kant, MdS, § E. Eine solch genaue Bestimmung dessen, was dem einen im Verhältnis zum anderen zusteht, könne von der Tugendlehre hingegen nicht erwartet werden. Dies ist unbestreitbar wahr, es heißt ja nichts anderes als: Die (Minimal-) Pflichtinhalte bezüglich äußerem Handeln können genau bestimmt werden, während man für die Ethik zwar in Maximen aufzunehmende Pflichtzwecke formulieren kann, aber nicht alle äußeren Handlungen und Unterlassungen schon dadurch stets sicher als (ethisch) ge- bzw. verboten oder erlaubt bestimmen kann. Die Formulie­ rung Kants, es bestehe in der Tugendlehre „ein gewisser Raum zu Ausnahmen“ ist aber, wie gesagt, ungenau (siehe oben A.II.3., Fn. 171).



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes207

Das Recht stellt auf diese – noch zu verdeutlichende Weise – diejenigen (Mindest-)Pflichtinhalte vor, die seitens anderer erforderlichenfalls (legitim) zwangsweise durchgesetzt werden können (§ D MdS) und unter deren Be­ achtung nur im eigentlichen Sinne ethisches (verdienstliches) Verhalten möglich ist. Dies sind also keine Pflichtinhalte, die irgendwie neben denen stünden, die der allgemeine kategorische Imperativ gebietet, sondern es sind die durch diesen in Form des („konstruierten“) Rechtsbegriffs vorgestellten Mindestpflichtinhalte überhaupt. Es soll nun eine unmissverständliche Darstellung der Weise gegeben werden, wie Inhalt allgemeingültig in die Form des Sollens zu bringen ist bzw. konkrete normative Begriffe letztlich aus dem kategorischen Imperativ herzuleiten sind. Darauf kommt es in diesem letzten Teil vor Behandlung des konkreten Themas (des Notstandsrechtsproblems, B.III.) maßgeblich an, weil das Folgende zur deutlichen Auflösung des Notstandsrechtsproblems erforderlich ist: d) Verdeutlichung: Zuordnungen von Etwas (Materie) zu Jemandem (immaterielles Subjekt) als Zustehensbeziehungen Ein Raum kann „von beiden Seiten gleich“ abgeteilt werden etwa durch Einziehen einer Senkrechten durch den Mittelpunkt einer geraden Verbin­ dungslinie zwischen zwei Punkten (A und B)298 oder durch gleichmäßiges einander Annähern (aufeinander Zuschieben) von zwei zur Verbindungslinie zwischen den Punkten A und B durch diese Punkte gezogenen Senkrechten. Jedem der jeweiligen Punkte entspricht in der Analogie für die Rechtsbe­ griffskonstruktion ein Mensch als Einheit von realem Körper und immate­ riellem Subjekt („intelligiblem Charakter“ bzw. „eigentlichem Selbst“ als „Substanz in der Idee“299). 298  Konstruierbar etwa, indem mit einem Zirkel um jeden Punkt jeweils ein Kreis mit gleichem Durchmesser, der größer als die Hälfte der Länge der Verbindungslinie zwischen A und B sein muss, gezogen und dann eine Gerade durch die Schnittpunk­ te der Kreise gezogen wird (welche die Verbindungslinie dann rechtwinklig in der Mitte schneidet). 299  Nochmal zur Sicherheit und Deutlichkeit: Dieses „einfache immaterielle We­ sen“ ist kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis, keine im Menschen angelegte empirisch-auffindbare Eigenschaft. „Eine Vernunftidee kann nie Erkenntnis werden, weil sie einen Begriff (vom Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben werden kann“, Kant, KU, § 57 (siehe auch KU, Einl. IX. über das „Übersinnliche im Subjekte“). Durch die KrV wurde das transzendentale Subjekt (Subjekt der Apperzeption) als logisches bzw. intellektuelles Subjekt (in Abgrenzung zum empirischen Selbstbewusstsein bzw. zum „sinnlichen Ich“) wie folgt vorgestellt: „Das denkende Ich ist nur das Bewusstsein (nicht die Erkenntnis) eines X, welches ein transzendentales Subjekt der Gedanken bedeutet, das nur durch seine Gedanken­

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B. Auflösung der Aufgabe

Das Abteilen eines Raums von beiden Seiten gleich bedeutet somit nichts anderes, als Materie (Erscheinungen / Objekte) zu dem jeweiligen immate­ riellen Subjekt nach einer allgemeinen Regel als diesem zustehend zuzuord­ akte als seine Prädikate erkannt werden kann, während wir von ihm abgesondert bzw. für sich allein keinerlei Begriff haben. Das bestimmende Selbst ist rein für sich kein Gegenstand der Erkenntnis, nur die Form alles Vorstellens“. Das Ich ist das absolute Subjekt seines Denkens, d. h. es kann nicht als Prädikat von etwas anderem gedacht werden. „Die Beziehung auf sich als Subjekt ist die Form des Denkens. Im Denken dient das Ich immer zum Subjekt des Bewusstseins“. Auf das einfache Ich, die abso­ lute Einheit der Apperzeption, bezieht sich alle Verbindung und Trennung, welche das Denken ausmacht (Einheitspunkt der Kategorien, welcher diese also ermöglicht). „Im Bewusstsein meines bloßen Denkens bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist“ (siehe dazu auch oben A.II.1. und Fn. 106). Hier (in praktischer Hinsicht überhaupt) geht es um eine bloß-analoge Anwendung der Begriffe der Substanz und der Kausalität auf dieses unanschauliche Subjekt (weshalb eine unmittelbare Anwendung und theoretische Erkenntnis gar nicht möglich ist, siehe Fn. 293 zum „Paralogismus“), da der Mensch durch den kategori­ schen Imperativ Veranlassung hat, von sich „ein Bewusstsein seiner selbst als Intelli­ genz, d. i. als (völlig) unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken“ zu denken (also etwas anderes zu tun, als bloß Erscheinungen unter Verstandeskate­ gorien zu bringen). Insofern kann das immaterielle Subjekt „im“ Menschen (zur Raummetapher siehe Haupttext) als praktische Entsprechung des transzendentalen Ichs bezeichnet werden. Der Mensch kann sich niemals bloß als Erscheinung begrei­ fen (zwar nur als solche im Dasein erklären), denn dieses Bemühen setzt das Dasein des Subjekt stets in anderer (logisch-vorhergehender, wenn auch unbestimmbarer) Hinsicht voraus. Diese Unmöglichkeit ist in praktischer Hinsicht die Notwendigkeit der Subjekt-Objekt-Annahme, also einer in praktischer Hinsicht bedeutungsvollen Einheit des Menschen von „Noumenon“ und „Phaenomenon“, insoweit ebenso Böckerstette, Freiheit, S. 299 ff. (303); siehe auch Heimsoeth, Persönlichkeitsbewusst­ sein, S. 237 ff. sowie Kant, MdS, TL, § 3: Die Qualität des Menschen als „Vernunft­ wesen“ ist zu unterscheiden von der Annahme eines vernünftigen lebenden körperli­ chen Wesen, dem die Vernünftigkeit bloß im Sinne einer natürlichen Eigenschaft anhängen könnte; ersteres ist dasjenige Subjekt, „welches kein Sinn erreicht“. Deut­ lich zur Notwendigkeit dieser zwei Perspektiven bzw. dieses „anderen Standpunkts“ Kant, GMS, S. 451–452: Trotz Kundschaft des Menschen von sich selbst durch den inneren Sinn (empirisch), sei es notwendig, „… über diese … Beschaffenheit seines eigenen Subjektes noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, …“ anzunehmen. Siehe auch KpV, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstck., III.: Sofern sich der handelnde Mensch, wie es notwendig ist, zugleich mit dem Bewusstsein seiner (unter Naturgesetzen stehenden) Erscheinung auch als „Noumenon … als reine Intelligenz in seinem nicht der Zeit nach bestimm­ baren Dasein“ betrachtet, sei darin ein „Bestimmungsgrund …, der selbst von allem Naturgesetze frei ist, enthalten … Da ich aber nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon … zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellektuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt) habe …“. Und KpV, I., 1. Buch, 3. Haupstck.: Es „versichert uns dass moralische Gesetz diesen Unterschied der Beziehung unserer Handlungen als Erscheinungen auf das Sinnenwe­ sen unseres Subjekts, von derjenigen, dadurch dieses Sinnenwesen selbst auf das in­ telligible Substrat in uns bezogen wird …“.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes209

nen. So entstehen, ausgehend vom in praktischer Hinsicht überhaupt voraus­ zusetzenden jeweiligen immateriellen Subjekt „im“ empirischen Menschen Zuordnungen von erscheinender Materie eben zu diesem. Diese Zuordnun­ gen stellen den Begriff der Person dar: Der Mensch als Subjekt-ObjektEinheit befindet sich einerseits in einem – nicht nur erkenntnistheoretisch anzunehmenden, sondern auch normativen (vgl. Fn. 299) – Verhältnis zu sich selbst (intrapersonal); andererseits ist er ein Subjekt in sich entwerfen­ den Zustehensverhältnissen zu anderen (interpersonal). Bei der Ausdrucksweise, man müsse sich als reines Subjekt „in“ oder „hinter“ der Erscheinung von sich selbst denken bzw. das Sinnenwesen Mensch auf ein „intelligibles Substrat in uns“ beziehen, sind die auf eine Raumvorstellung Bezug nehmenden Worte wie „in“ und „hinter“ metapho­ risch, da das Immaterielle als solches gerade keine Erscheinung in Raum und Zeit ist (Fn. 299): Gemeint ist eine (gedankliche) Verbindung einer Erscheinung (des empirischen Menschen bzw. des menschlichen Körpers) zu diesem denkenden bzw. zu denkenden „eigentlichen Selbst“ (d. i. eben den Menschen als Subjekt-Objekt-Einheit denken), indem jeder Mensch sich – neben seinem empirischen Ich300 in innerer Anschauung und der auch äußerlich erscheinenden Körperlichkeit – als einfaches immaterielles Sub­ jekt im Sinne einer „Substanz in der Idee“ analog einer in theoretischer Hinsicht gerade nicht existenten bzw. für uns zumindest nicht zugänglichen (materiellen) Substanz bzw. als „bestimmendes Selbst“ im Sinne eines ein­ heitlichen Grundes seiner in der Erscheinung bestimmbaren Wirkungen notwendig begreift und gemäß dem kategorischen Imperativ eben auch je­ den anderen Menschen so beurteilen muss (dazu noch unten). Das auf den Menschen bezogene unbedingte moralische Grundgesetz bedingt somit, wegen der Implikation des Menschen sowohl als Phänomen (Naturwesen), als auch als „Noumenon“ (immaterielles Subjekt) die unbe­ dingte Annahme des Zustehens (seinsollender Zuordnungen) von Etwas zu Jemandem nach einer allgemeinen Regel, was zumindest durch die „Kons­ truktion“ des Rechtsbegriffs – des die Minimalpflichtinhalte des kategori­ schen Imperativs vorstellenden Begriffs – in einer Anschauung deutlich wird. Einem „realen Verhältnis zwischen Recht und Pflicht“ muss ein „äu­ ßeres verpflichtendes Subjekt korrespondierend gegeben werden“301. 300  Das empirische Ich ist Erscheinung, nämlich Gegenstand des inneren Sinns (und hat das reine Ich zu – als solcher unanschaulichen – Grundlage, siehe Fn. 299). Das empirische Ich ist nicht das Bewusstsein des bestimmenden, sondern des be­ stimmbaren Selbst, damit ein Objekt der Selbsterkenntnis. 301  Kant, MdS, RL, S. 241. Wenn vom Menschen als Subjekt-Objekt-Einheit ge­ sprochen wird, dann ist diese Zuordnung also schon durchgeführt worden. Daran sieht man, dass die gerade beschriebene Darstellung (das unanschauliche / reine Zu­ ordnungssubjekt und das Objekt bzw. die erscheinende Materie der Zuordnung erst

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B. Auflösung der Aufgabe

e) Primäre (ursprüngliche) Zuordnungsmaterie (reale Person überhaupt) Die Konstruktion des Rechtsbegriffs enthält also den Begriff eines Sub­ jektes (S) und der notwendigen Zuordnung einer erscheinenden Materie (x) zu diesem (im Sinne eines Zustehens dieser Materie gegenüber auch allen anderen Subjekten). Das Subjekt (S) ist „einfaches immaterielles Wesen“ (Jemand, siehe Fn. 299) und Element der Menge aller Subjekte {S1, S2, …, Sn}. Hingegen ist x ein möglicher Gegenstand der Anschauung, also ein nach Verstandeskategorien eingeordneter bzw. zumindest bestimmbarer Gegen­ stand (Etwas)302. zusammenzufügen) nur verdeutlicht, was mit dem kategorischen Imperativ und dem (in einer Anschauung konstruierten, somit veranschaulichenden) Rechtsbegriff not­ wendig zu denken ist: Die Mindestbedingungen der Verallgemeinerbarkeit einer Maxime zum allgemeinen Gesetz der Freiheit, nämlich die Zusammenstimmung der vorgestellten äußeren Handlungen (Willkürakte) mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit (das damit Zustehensgesetz ist) sind einer anschaulichen Konstruktion (entsprechend einem wechselseitigen und gleichem Zwang von Körpern aufeinander) zugänglich. Dadurch wird auch deutlicher, was „Gesetze der Freiheit“ meint: Allgemeine Regeln, die das Zustehen von Etwas (einer Materie als Objekt) zu einer Person bzw. zu einem Subjekt unabhängig von sinnlichen Bedürf­ nissen vorstellen. Siehe auch Kant, KpV, § 8, Anm. I: „… die bloße Form eines Gesetzes, welche die Materie einschränkt, muss zugleich ein Grund sein, diese Ma­ terie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen …“. Angeborene Rechte bzw. „inneres Mein“ sollen nach Kant analytisch aus dem Begriff der Frei­ heit im äußeren Verhältnis (bzw. „Begriff der äußeren Freiheit“, TL, X.) gewonnen werden können, d. h. logisch hat man eine Zuordnung von Etwas zu Jemandem notwendig schon vorrangig (wenn ggf. auch undeutlich) durchgeführt: Dies meint eine erste bzw. primäre Synthese von Etwas mit dem Subjekt nach einer allgemeinen Regel (der Ausdruck „Axiom des Rechts“, § 6 MdS, RL, bzw. „Axiom der äußeren Freiheit“ in §§ 16 und 17 RL MdS impliziert dies ebenfalls), sodass die Anwendung des Rechtsprinzips bzw. des kategorischen Imperativs den Widerspruch dazu, also eine Unrechtshandlung, aufzeigen bzw. darstellen kann (Unrecht diesen Widerspruch enthält). 302  Kants Erklärung des Begriffs der „Materie“ bloß im Verhältnis zum Erkennt­ nisvermögen als „ein jeder Gegenstand äußerer Sinne“ bzw. „ein Gegenstand der Empfindung … das Eigentlich-Empirische der sinnlichen und äußeren Anschauung“, d. i. etwas zu Erfahrendes (in: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaf­ ten, 1. Hauptstück, Erklärung 1, Anmerkung 2, (AA IV, S. 48) ist diesbezüglich evtl. gar zu eng, weil Zustehensobjekte (Rechtsgegenstände) nicht notwendig schon vor­ findliche Gegenstände äußerer Anschauung sind; etwa der Gegenstand eines Vertra­ ges, die versprochene Willkür eines anderen zu einer Tat: Das Ereignis, was die Tat wäre, ist zwar als Ereignis im Raum zu denken, die versprochene Willkür des an­ deren ist bis zur Ausführung der Tat aber kein unmittelbarer Gegenstand äußerer Anschauung. Es gibt viele Beispiele möglicher Rechtsgegenstände, die nicht stets gegebene äußere Anschauungen haben (etwa auch der schwierig zu bestimmende



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes211

Jedes rechtliche Urteil impliziert (oder setzt voraus) die Annahme eines intelligiblen Charakters (S) und der Hinzufügung „steht x zu“; es enthält also (oder setzt voraus) die Behauptung Einem S steht x zu303. Aus der Perspektive des jeweiligen Rechtssubjekts ist dies also das Urteil „X ist das meinige“ oder „Ich habe x als meines“. Aus der Perspektive aller anderen Rechtssubjekte heißt das: „X ist das Seinige“ (bzw. Ihrige). Der Bezug auf „Ich“ ist im Wort „Mein“ impliziert: Mein-Sein ist die Zuordnung einer Materie zum Ich; ich setze mich als immaterielles bestimmendes Subjekt voraus, sofern ich eine Materie als „meine“ beurteile (etwa im Satz „Dieser Körper ist meiner“). Zustehen heißt (von allem Empirischen ist soweit abgesehen): Von allen Rechtssubjekten als Meines bzw. Seines anzuerkennen sein304. Insofern korrespondiert dem rechtlichen Für-Sich-Haben eines Gegenstandes die – eben normative – Einschränkung der faktischen Willkürmöglichkeit aller anderen Rechts- bzw. Pflichtsubjekte, nämlich indem der Zugriff auf diesen Gegenstand (x) bzw. dessen Gebrauch unabhängig vom Willen des Inhabers als unmöglich vorgestellt wird (sodass jeder andere als das Zustehenssubjekt sich des Gebrauchs von x zu enthalten hat). Demnach enthält die Behauptung Einem S steht x zu implizit zumindest dann stets ein Verhältnis aller Rechtssubjekte zueinander in Bezug auf den Gegenstand x, wenn das rechtliche Haben von x seitens einer Person das rechtliche Haben von x seitens anderer ausschließt. Das ist jedenfalls der Fall, was die angeborenen Güter (Kant: „inneres Mein“) und die Gegenstän­ de des Sachenrechts angeht305. Deshalb ist jedenfalls insoweit eine räum­ Gegenstand des Urheberrechts; dazu auf Grundlage des kantischen Ansatzes Jacob, Ausschließlichkeitsrechte an immateriellen Gütern, Hamburg 2010). 303  Falls dies hinsichtlich voraussetzungsreicher rechtlicher Urteile nicht sofort einleuchten sollte: Etwa das Urteil: A ist des Totschlags schuldig und wird mit … bestraft setzt die (rechtswidrige und schuldhafte) Verwirklichung des Tatbestandes des Totschlags voraus und dieser setzt als potentieller Unrechtstatbestand voraus: Jedem Menschen (hier als immaterielles Subjekt) steht sein Körper bzw. sein Leben zu, sodass die (vorsätzliche) Tötung eines anderen Menschen schweres Unrecht ist (es sei denn, dieser andere hat sich die Tötung selbst als erforderliche Reaktion auf einen rechtswidrigen Angriff zugezogen, Notwehr). Aber auch die Verhängung jeder Sanktion als Rechtsfolge (etwa einer Strafe) impliziert eine direkte Zustehensaussa­ ge: Weil S den Tatbestand T verwirklicht hat (etwa: vorsätzlich getötet hat), steht es dem Staat zu (und ist bezüglich Straftaten sogar Staatspflicht), Rechtsfolge R zu verhängen und durchzusetzen (also in bestimmter Weise auf einiges von dem, was vorher Güter des S waren, zuzugreifen). 304  „Haben“ bedeutet hier wegen der Zuordnung eines Objekts zu einem imma­ teriellen Subjekt („eigentliches Selbst“) Zustehen (gegenüber mir selbst und ande­ ren) und nicht etwa bloß die verstandesgemäße Bestimmung einer Erscheinung durch Beilegung bzw. Zuordnung einer Eigenschaft. 305  Siehe dazu schon A.II.4. und die noch folgenden Ausführungen.

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B. Auflösung der Aufgabe

liche „Konstruktion“ des Rechtsverhältnisses entsprechend dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung von Körpern im Raum bei Wahrung von allseitiger Subjektstatus- und Handlungsgrundvorstellung in Bezug auf den Menschen möglich. Dieser Begriff des Zustehens ist in dem Sinne „rein“, als er unmöglich als ein Eindruck der Sinne angesehen oder bloß aus der Erfahrung gewon­ nen werden kann. Die erste Einsetzung in x ist notwendig der erscheinende (auf der Welt seiende) lebendige menschliche Körper. Ansonsten gäbe es in praktischer Hinsicht überhaupt keine wirkliche Person und somit überhaupt kein Zuste­ hen von Etwas zu Jemandem, was durch den kategorischen Imperativ bzw. den Rechtsbegriff – jedenfalls sofern es Menschen gibt – gefordert wird306. Man kann wahrheitsgemäß sagen: „Ich bin nicht nur mein Körper“. Das heißt, die Aussage „Mein Körper ist Ich“, wäre falsch. Aber: „Ohne meinen Körper bin ich nicht“, ist wahr. Die Existenz eines erscheinenden lebendigen Menschen ist notwendige und hinreichende Bedingung für die 306  Siehe auch Fn. 301, vgl. insoweit auch die Ausführungen von Deggau, Apo­ rien, S. 35–45 und S. 135. Kant weist in der KrV (I., 2. Teil, 2. Abteil., 2. Buch, 3. Hauptstck., 4. Abschnitt) zur Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes zutreffend darauf hin, dass die unbedingte Notwendigkeit von Urtei­ len nicht per se eine „absolute Notwendigkeit der Sachen“ sei, die durch die Begrif­ fe in den Urteilen vorgestellt werden. So sei etwa mit dem „Vernunftbegriff eines absolutnotwendigen Wesens“ (Gott) dessen „objektive Realität“ nicht erwiesen oder erweisbar. Die Formulierung der Bedingungen der Möglichkeit von Etwas gibt nicht schon das Dasein dieses Etwas, sondern: Falls dieses Etwas wäre, dann wäre es den genannten Bedingungen seiner Möglichkeit gemäß. Etwa das Urteil: Jeder Triangel hat drei Winkel, sei schlechthin notwendig. Das heißt: Wenn ich einen Triangel setzte, dann hätte er drei Winkel; nicht heißt es: Ein Triangel ist da oder ist notwen­ dig. Einige Gegenstände können durch den Menschen in einer reinen Anschauung konstruiert und verwirklicht werden (etwa ein Dreieck, nicht hingegen „Gott“). Zumindest bezüglich des Gegenstandes Recht und (impliziert) bezüglich des Begriffs der Person aber ist der Akt der Konstruktion und die Verwirklichung in praktischer Hinsicht überhaupt notwendig. Man mag vielleicht denken: Soll man doch die Dar­ stellung eines Dreiecks unterlassen, dann gibt es eben kein Dreieck. Aber zu denken: Dann gibt es eben kein richtiges Verhalten bzw. keine Person, wäre, sofern man annimmt dass man sich überhaupt irgendwie verhält (wenn man überhaupt irgendet­ was annimmt, denn dieses „Annehmen“ ist ja inneres Verhalten), ausgeschlossen bzw. inkonsistent. Siehe dazu auch oben unter B.II.3.b) und Kant, KpV, § 7: Die Postulate der reinen Geometrie seien „praktische Regeln unter einer problematischen Bedingung des Willens“ (wenn du x konstruieren willst, dann ist … zu tun). Dem­ gegenüber gebiete der kategorische Imperativ ohne eine solche problematische Be­ dingung, nämlich „schlechthin“ (d. h. auch: die Begriffe „Freiheit“ und „Person“ haben in praktischer Hinsicht überhaupt objektive Realität – nicht hingegen, wenn man den Verstand in bloß theoretischer Hinsicht auf die Ordnung von Erscheinungen beschränkt).



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes213

Annahme bzw. das Urteil auf die Existenz eines zugrundeliegenden „ei­ gentlichen Selbst“ (intelligible Substanz) bzw. für die Annahme einer wirklichen Person: Das bestimmende Subjekt bzw. „eigentliche Selbst“ im Sin­ ne einer „Substanz in der Idee“ hat nur objektive Realität in praktischer Hinsicht überhaupt hinsichtlich dessen, was als lebendiges Wesen zur Gat­ tung Mensch gezählt wird, also auch etwa hinsichtlich geistig behinderter oder psychisch kranker Menschen (siehe Fn. 150, Fn. 307 und Fn. 308), aber nicht bezüglich Tieren307. Das daseiende (wirkliche) rechtliche Ver­ 307  Die Bestimmung der Idee der Freiheit erfolgt im Verhältnis zu uns, d. i. soweit zur Gattung Mensch, wobei hier etwaige weitere Konkretisierungen offen gelassen werden müssen (siehe dazu aber Fn. 308 – von den Bedingungen der Menschwer­ dung überhaupt hängt somit u. a. die sich auch durch Todesfälle verändernde Anzahl der Elemente der Menge aller wirklichen Rechtssubjekte {S1, S2, …} ab). Kant äußerte sich hinsichtlich der Abgrenzung zum Tier wie folgt: „Wie es möglich ist, dass Ich, der ich denke, mir selbst ein Gegenstand der Anschauung sein und mich so von mir selbst unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifeltes Faktum ist, es zeigt aber ein über alle Sinnenanschau­ ung so weit erhabenes Vermögen an, dass es, als der Grund der Möglichkeit eines Verstandes, die gänzliche Absonderung von allem Vieh, dem wir das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen, nicht Ursache haben beizulegen zur Folge hat, und in eine Unendlichkeit von selbstgemachten Vorstellungen und Begriffen hinaussieht …“, in: Fortschritte, S. 270. Und in Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA VII, S. 127): „Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebenden Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewusstseins bei allen Veränderungen, die ihm zusto­ ßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunft­ losen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat: wie es alle Sprachen, wenn sie in der ersten Person reden, doch denken müssen, ob sie zwar diese Ichheit nicht durch ein besonderes Wort ausdrücken. Denn dieses Vermögen (nämlich zu denken) ist der Verstand.“ Und schon 1762 in Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, § 6 (AA II, S. 59): „… abzunehmen, dass die obere Erkenntniskraft schlechterdings nur auf dem Vermögen zu urteilen beruhe. Demnach wenn ein We­ sen urteilen kann, so hat es die obere Erkenntnisfähigkeit. Findet man Ursache, ihm diese letztere abzusprechen, so vermag es auch nicht zu urteilen. Die Verabsäumung solcher Betrachtungen hat einen berühmten Gelehrten veranlasst, den Tieren deutli­ che Begriffe zuzustehen. Ein Ochs, heißt es, hat in seiner Vorstellung vom Stalle doch auch eine klare Vorstellung von seinem Merkmale der Türe, also einen deutli­ chen Begriff vom Stalle. Es ist leicht, hier die Verwirrung zu verhüten. Nicht darin besteht die Deutlichkeit eines Begriffs, dass dasjenige, was ein Merkmal vom Dinge ist, klar vorgestellt werde, sondern dass es als ein Merkmal des Dinges erkannt werde. Die Türe ist zwar etwas zum Stalle Gehöriges, und kann zum Merkmal desselben dienen, aber nur derjenige, der das Urteil abfasst: diese Türe gehört zu diesem Stalle, hat einen deutlichen Begriff von dem Gebäude, und dieses ist sicher­ lich über das Vermögen des Viehes … Ich gehe noch weiter und sage: es ist ganz was anders, Dinge von einander unterscheiden, und den Unterschied der Dinge erkennen. Das letztere ist nur durch Urteilen möglich, und kann von keinem unver­

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B. Auflösung der Aufgabe

hältnis (Personenverhältnis) ist nur ein Verhältnis von Menschen zu Menschen308. nünftigen Tiere geschehen …“. (Nichtmenschliche) Tiere ohne Verstand und Ver­ nunft können zwar etwa als Haustiere liebgewonnen werden, aber nicht als unter dem kategorischen Imperativ stehende Subjekte desselben und damit als Gegenstände der Achtung (Personen) beurteilt werden. Man könnte auch sagen: Tiere sind keine aktiven (Mit-)Gestalter unseres Begriffssystems und somit auch in praktischer Hinsicht keine Mit-Gesetzgeber. Siehe auch Kant, KU, § 84: „Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kausalität … auf Zwecke gerichtet ist, und doch zugleich so beschaffen ist, dass das Gesetz, nach welchem sie Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unab­ hängig … vorgestellt wird: Das Wesen dieser Art ist der Mensch, aber (ergänzt, G. H.: auch) als Noumenon; das einzige Naturwesen; an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen … erkennen können … und nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekte der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Anse­ hung der Zwecke anzutreffen …“. „Erkennen“ eines übersinnlichen Vermögens heißt dabei eben nicht: dieses als Erscheinungszusammensetzung zu bestimmen; zur Raummetapher „im“ bzw. „in“ siehe oben unter d). Zum ethischen Verbot der Tier­ quälerei siehe Kant, MdS, TL, §§ 16, 17. 308  Kant, MdS, S. 241; siehe etwa auch KU, Einleitung IX., Fn. 2: „… Vereini­ gung der Kausalität als Freiheit mit ihr als Naturmechanismus … und zwar in dem­ selben Subjekte, dem Menschen …“ und MdS, TL, § 4 (dort direkt zum intraperso­ nalen Verhältnis): „… das verpflichtete als auch das verpflichtende Subjekt ist immer nur der Mensch …“, nämlich als Subjekt-Objekt-Einheit. Die Annahme des Person­ seins ist hinsichtlich aller Menschen notwendig, sodass der ursprüngliche innere Wert bzw. das „eigentliche Selbst“ auch schwer-geisteskranken oder stark geistigbehinderten Menschen zukommt. Diese Eigenschaft als Person ist also nicht auf­ grund irgendeines wirklichen oder vermeintlichen kognitiven Mangels eines Men­ schen diesem abzusprechen, es handelt sich ja nicht um eine mögliche anthropologische Qualität von Menschen – auch wenn der konkrete Mensch eben aufgrund seiner Behinderung ggf. als geschäftsunfähige oder auch nicht-schuldfähige Person zu beurteilen sein mag. Offenlassen möchte ich hier allerdings die schwierig zu beantwortende Frage, unter welchen Bedingungen Etwas zum Menschen überhaupt wird, also die Bestimmung der Menschwerdung zu irgendeinem Punkt eines Gesche­ hensablaufs beginnend mit der Zusammenkunft eines Spermiums und einer Eizelle und endend mit der Geburt (jedenfalls) eines Menschen. Kant legte sich (wie gesagt, siehe Fn. 150) diesbezüglich nicht eindeutig fest: „… da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten We­ sens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen, so ist es eine in praktischer Hinsicht eine ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeu­ gung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt haben …“, MdS, RL, § 28. Einige nehmen an, die Zugehörig­ keit eines Wesens (also etwa auch eines frühen menschlichen Embryos) zur mensch­ lichen Gattung mache dieses schon zur Person (Subjekt-Objekt-Einheit), etwa Höffe, Medizin ohne Ethik, S. 73 ff. Demgegenüber behauptet z. B. Geismann, erst mit der Geburt bzw. mit der Durchtrennung der Nabelschnur sei eine wirkliche Person da: Der Embryo oder Fötus habe nicht nur tatsächlich keinen Willen, sondern eine pro­ beweise Voraussetzung einer „Freiheit des Embryos“ ergebe, dass diese wegen der „totalen Abhängigkeit vom Leben der Mutter in kein gesetzliches, also rechtliches



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes215

Das bedeutet interpersonal eine unbedingte – nicht auf außerhalb der Person des anderen liegende Umstände bedingte – Notwendigkeit der Res­ pektierung dieser Zuordnung, also die Unterlassung einer das Leben und die körperliche Integrität des jeweils anderen beeinträchtigenden Handlung. Tötung, Körperverletzung, Vergewaltigung etc. ist somit Unrecht. Ebenfalls impliziert ist das rechtliche Zustehen aller inneren Handlungen (der Gedanken) zur jeweiligen Person, sodass der Versuch der Erzwingung des Habens bestimmter Gedankeninhalte durch Drohung oder Gewalt seitens anderer rechtlich-unmöglich ist (es wäre ein rechtswidriger Nötigungsversuch). Und man beachte – entgegen der hegelschen Kritik – Folgendes: Diese jedenfalls durch die Rechtsbegriffskonstruktion ersichtliche, not­ wendige Zuordnung von Materie (der damit also notwendig-primären Mate­ Verhältnis zu deren Freiheit gebracht werden“ könne. Erst ab dem Durchtrennen der Nabelschnur sei ein widerspruchsloses Rechtsverhältnis zur Mutter, deren Körper bis dahin physische Grundlage des Überlebens des Embryos sei, denkbar (die zusätzli­ che Argumentation, der Staat habe „Rechtssicherheit“ für seine Bürger zu schaffen und deshalb eine Pflicht, menschliche Wesen, die nach Geismann mangels Zurech­ nungsfähigkeit sozusagen eigentlich keine Personen seien – womit Geismann Klein­ kinder und schwer Geisteskranke meint –, als solche anzusehen, ist dann allerdings bloß die Erbittung eines eindeutigen und engen Kriteriums zur Entscheidung der Frage, welche Erscheinung denn als Person betrachtet werden kann bzw. muss; nach Geismann eben die Durchtrennung der Nabelschnur), Geismann, Lebensrecht, S.  464 ff. Geismann mag mit der Frage, unter welchen Bedingungen eine menschli­ che Erscheinung im Prozess ihrer Entwicklung zum Kind widerspruchslos als Person (Subjekt-Objekt-Einheit) betrachtet werden – und das heißt auch in ein rechtliches Verhältnis zu anderen Personen (hier primär relevant: der ihren Körper gewährenden Mutter) gesetzt werden – kann, das eigentlich relevante Entscheidungskriterium ge­ nannt haben. Sein Ergebnis (ab Durchtrennung der Nabelschnur) wird aber etwa von Michael Köhler bestritten: Köhler nimmt – anders als Geismann – an, ein wider­ spruchsloses Rechtsverhältnis zwischen Embryo (als Person) und Mutter sei auch denkbar, wenn man dem Ungeborenen aufgrund seiner „noch unentwickelt-impliziten Subjektivität“ als Rechtssubjekt betrachte, dessen Fortexistenz allerdings bedingt sei auf das Fehlen eines Willens der Mutter zur Übernahme des anderen in ein „subs­ tanziell-personenrechtliches“ Familienverhältnis. Die Schwangerschaftsabbruchindi­ kationen (positivrechtlich in § 218a StGB genannt) sind nach dieser Position dann als die Voraussetzungen anzusehen, unter denen ein Schwangerschaftsabbruchswille (erklärtes Nichtwollen der Übernahme in ein Familienverhältnis) wirksam ist, Köhler, GA 88, 435 (454 ff.). Reinhard Merkel stellt demgegenüber auf Empfindungsfä­ higkeit des Embryos als Bedingung einer „Verletzbarkeit“ desselben ab. Diese ggf. als bloß-empiristisch (miss)verstehbare Position könnte so gedeutet werden, dass Merkel die Fähigkeit eines menschlichen Wesens, überhaupt Empfindungen zu ha­ ben, zur zumindest notwendigen Bedingung machen will, dieses phänomenale We­ sen als Schema eines intelligiblen Charakters zu betrachten (sozusagen: das Be­ wusst-etwas-für-sich-Haben-überhaupt, nämlich eine erste Empfindung, als Ausdruck eines nun erst dabei zu denkenden intelligiblen Charakters), vgl. die allerdings zu­ mindest sprachlich anders klingenden Ausführungen Merkels, in: Status, S. 41 ff.

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B. Auflösung der Aufgabe

rie) zum bestimmenden (immateriellen) Subjekt, durch welche auch mögli­ che Rechtsverletzungen bestimmbar werden, ist vollkommen unabhängig davon, ob diese Materie von dem jeweiligen Menschen, dessen „intelligib­ lem Charakter“ bzw. „eigentlichen Selbst“ sie (intellektuell, nicht etwa empirisch-nachweisbar) zugeordnet wird, sinnlich-begehrt wird oder nicht oder ob diese Zuordnung für irgendjemanden zu irgendeinem (materialen) Zweck nützlich ist. Man mag den eigenen lebendigen Körper auch als einen Gegenstand bezeichnen, den der Mensch nicht bloß empirisch-zufällig nach Neigung, sondern notwendig (vernunftgemäß) begehrt309. In dieser Ausdrucksweise dürfte jedoch keinerlei Gewinn liegen; eher wird dadurch die Gefahr eines Missverständnisses befördert: Denn es ist für die auch-anschauliche Darstel­ lung des Begriffs der Person bzw. für die Klärung von primären Zustehens­ fragen betreffend das äußere interpersonale (bloß-rechtliche) Verhältnis310 ganz und gar irrelevant, ob der jeweilige Mensch sein Leben bzw. die Materie seines Körpers (auch) aus Neigung begehrt oder nicht311. Entschei­ Kant, KpV, 1. Teil, 1. Buch, 2. Hauptstck. und Beck, S. 134 ff. (136). dass der Mensch als Subjekt-Objekt-Einheit (Einheit von noumena­ lem und phänomenalem Charakter) betrachtet wird, besteht auch ein (rechtlich aller­ dings zumindest nicht unmittelbar relevantes) intrapersonales Verhältnis. Insofern kann es auch eine ethisch relevante Aufgabe sein, zu klären, was einem im Verhält­ nis zu sich selbst zusteht, indem zumindest negativ bestimmt wird, was einem je­ denfalls gegenüber sich selbst nicht zusteht (als Pflichten nur gegen sich selbst), siehe dazu Kant, MdS, TL, §§ 1 ff., der die Pflichten nur gegen sich selbst weiter einteilt, wobei zu beachten ist, dass das verpflichtende und verpflichtete Subjekt stets „nur der Mensch“ als Subjekt-Objekt-Einheit ist (es bestehen nicht etwa Pflich­ ten einer Seele gegen den menschlichen Körper, Kant, § 4 TL). Eine Verdeutlichung dieses Verfahrens an einem Beispiel betreffend Pflichten nur gegen sich selbst findet sich unten. 311  Kant hatte in der KrV (Vorrede) die Moralität deshalb nicht als Teil der Tran­ szendentalphilosophie eingeordnet, weil „obzwar die obersten Grundsätze der Mora­ lität und die Grundbegriffe derselben Erkenntnisse a priori sind …, … sie die Be­ griffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen etc., die insgesamt empi­ rischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht ihren Vorschriften zum Grunde legen, aber doch im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit hineinziehen müssen“. Kant gab dies später wohl entsprechend der obigen Behauptung als unbegründete Beschränkung auf (siehe opus postumum, abgedruckt in AA XXI): „Transsc. Phil. ist die Doktrin von dem Inbegriff der Ideen die das Ganze der synthetischen Erkenntnis a priori aus Begrif­ fen in einem System sowohl der theoretisch / spekulativen als moralisch / praktischen Vernunft unter einem Prinzip enthalten, durch welche das denkende Subjekt sich selbst in Idealism nicht als Sache sondern als Person konstituiert und jenes Systems der Ideen selbst Urheber ist …“, S. 91. „Tr. Phil. ist das Bewusstsein des Vermögens vom System seiner Ideen in theoretischer sowohl als praktischer Hinsicht Urheber zu sein. Ideen sind nicht bloße Begriffe sondern Gesetze des Denkens die das Sub­ 309  Vgl.

310  Dadurch,



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes217

dend ist eben nur: Die Zuordnung des lebendigen Körpers ist nicht bedingt auf irgendein sinnliches Begehren von irgendjemandem, das heißt: auf keinerlei der jeweiligen Person externe Umstände. Diese primären Zuordnungen von Materie (Etwas) zu immateriellen Sub­ jekten (als ideelle Substanzen „in“ bzw. „hinter“ den Erscheinungen, Je­ mand) lassen sich als unbedingt bezeichnen, sofern man dabei berücksich­ tigt, das selbstzugezogene Auflösungen dieser Zuordnungen rechtlich-möglich sind (im engen Sinne des strikten Rechts): So ist etwa die erforderliche Tötung eines rechtswidrig Angreifenden in Kenntnis der Notwehrlage er­ laubt, der rechtswidrig Angreifende zieht sich diese Folge selbst zu (siehe zur Identität von Recht und Zwangsbefugnis oben, A.II.3.). Kein Unrecht (ggf. aber ethisch ausgeschlossen) ist auch die Selbsttötung, weil diese das äußere Verhältnis zu anderen nicht überschreitet (zur Abgrenzung der Ethik im engeren Sinne vom Recht siehe ebenfalls oben A.II.3. und folgende Ausführungen sowie Fn. 315). Bloß um die Fehlerhaftigkeit der Kritik Hegels, die kantische Konzeption sei ohne das Unterschieben externer materialer Prämissen inhaltsleer, nochmals zu verdeutlichen, sei im Folgenden die sich nunmehr geradezu aufdrängende Begründung des von Kant behaupteten (bloß-)ethischen Ver­ bots der Selbsttötung aus Überdruss in der hier vorgeschlagenen Termino­ logie dargestellt. Gerade weil es sich dabei – nach Kants zutreffende Auf­ fassung – nicht um ein auch gegenüber anderen bestehendes Rechtsverbot, sondern um eine („vollkommene“) Tugendpflicht handelt, scheint vielen die von Kant vorgestellte Herleitung unverständlich: Die von Kant gestellte Frage, ob sich aus Überdruss zu töten ein „allge­ meines Gesetz der Freiheit“ werden könnte bzw. ob, wenn diese Handlung nach einem allgemeinen Gesetz der Natur, von der ich ein Teil wäre, ge­ schehen sollte, ich sie auch als durch meinen Willen möglich ansehen könnte, kann umformuliert werden wie folgt: Kann diese Regel ein allge­ meines Zustehensgesetz werden, also eine Regel, nach welcher Materie zum Subjekt (als diesem zustehend) allgemeingültig zugeordnet wird? Und da sieht man: Der Körper bzw. das Leben steht dem reinen Subjekt „im“ Men­ jekt ihm selbst vorschreibt. Autonomie … das Vermögen des sich selbstbestimmen­ den Subjekts, durch den systematischen Inbegriff der Ideen welche a priori die durchgängige Bestimmung desselben als Objects (die Existenz desselben) zum Pro­ blem machen sich selbst als in der Anschauung gegeben zu konstituieren. Gleichsam sich selbst machen“, S. 93. „Nur Freiheit und was diese Idee absolut konstituiert oder aus ihr apodiktisch folgt, der kategorische Imperativ, das Subjekt der Persön­ lichkeit bestimmen das Objekt oder ihre Handlungen apodiktisch“, S. 99. „Transsc. Ph. Ist das System aller Ideen der r. V. wodurch das Subjekt sich selbst synthetisch u. a priori zum Gegenstande des Denkens konstituiert und seines eigenen Daseins Urheber wird …“, S. 100, 101.

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B. Auflösung der Aufgabe

schen (der „Substanz in der Idee“, zur Raummetapher siehe oben) nicht nur im Verhältnis zu anderen zu, sondern ein lebendiger menschlicher Körper ist eine notwendige Bedingung der Annahme der Wirklichkeit der Person (die für uns einzige Darstellung derselben). Es kann nicht eine allgemeine Regel der Zuordnung von Materie zum (immateriellen) Subjekt geben, die diese Zuordnung überhaupt von (aus der Physis entspringenden) sinnlichen Bedürfnissen abhängig machte. Denn dieses wäre eben eine Regel des Anhängens des eigentlichen Subjekts an Bedürfnisse bzw. an nach empirischen Begriffen vom Angenehmen als Wohl bewerteter Materie, wodurch es gar kein eigentliches Subjekt (aktives Ich als nach eigener Vernunftgesetzlich­ keit wirkende Substanz) mehr wäre (es ein solches nicht gäbe), sondern ein Spielball der Umstände (bloß der Natur). Das widerspricht dem kategori­ schen Imperativ, nämlich seinen Implikationen, Erkenntnisgrund einer da­ durch jedenfalls vorauszusetzenden Spontanität des Subjekts zu sein. Anders ausgedrückt: Mag der Wert der Neigungen und „aller durch unsere Hand­ lung zu erwerbenden Gegenstände jederzeit bedingt“ sein, so kann dies hinsichtlich der Person unmöglich behauptet werden (die absoluten Wert hat), was die Forderung impliziert, deren Dasein zu erhalten. Insofern exis­ tiert (ist gültig) ein ethisches Selbsttötungsverbot als ethische Selbstbestim­ mungspflicht (ethische Unmöglichkeit der „Vernichtung der Menschheit in der eigenen Person“)312. 312  Wohl ähnlich oder entsprechend Maatsch, Selbstverfügung, S. 193  ff.; auch von Freier, Kantstudien 1992, 321, die sinngemäß sagen: Selbstbestimmung zum Nichtselbstsein ist unmöglich, sodass man sich in der Selbsttötungshandlung nicht auch als Zweck an sich betrachten kann. Allerdings ist mit dem – vollkommen une­ motional vortragbaren – Grund dieses ethischen Verbots auch dessen Grenze zumindest angedeutet: Nicht alle Selbsttötungen sind ethische Pflichtverletzungen – näm­ lich dann nicht, wenn ein Ablassen vom Leben nicht als Selbstwegwerfung der Person betrachtet werden kann (etwa bei schmerzhafter tödlicher Krankheit im Endstadium, auch eine Selbsttötung etwa durch Erschießen bei ansonsten unaufhalt­ samem Verbrennen eines Eingeklemmten in einem verunfallten Pkw, ein Grenzfall ist sicherlich einsetzende Demenz bei sicherem Fortschreiten, siehe auch die von Kant genannten Zweifelsfälle, MdS, S. 423, 424). Man könnte diese Grenze der Unvernunft bloß-analog einem pragmatischen Umgang mit einem erworbenen Ge­ genstand konstruieren: Zu unterlassendes Wegwerfen eines beherrschbaren Gegen­ standes vs. nicht als unsinnig zu beurteilendes Ablassen bzw. Zurücklassen dessen, weil ein unvermeidbares Abhandenkommen bzw. unabänderlicher Verlust des eigent­ lichen Wertes unmittelbar bevorsteht. Letzterem entspräche die – letztlich nur in Selbstbeurteilung überhaupt mögliche – Annahme, die (metaphorisch) innewohnende Subjekthaftigkeit komme aufgrund äußerer Umstände unvermeidbar abhanden. Der Grenze des ethischen Verbots bezüglich der gerade genannten Beispiele möglicher Selbsttötungen entspräche in der Person eines anderen demgemäß die Unmöglich­ keit, eine solche Tat ohne krasse Überheblichkeit als auf Schwäche basierende Selbstaufgabe zu beurteilen (Köhler spricht von äußersten Grenzsituationen bzw. einer „individuellen Konfliktentscheidung in äußerster Not, die im Extremfall ver­



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes219

Nicht weil der Mensch das Leben sinnlich begehrt, soll er leben, sondern: Weil der wirkliche Mensch notwendig als Subjekt-Objekt-Einheit zu bestim­ men ist, kann (darf) er ethisch das im wirklichen Menschen gedachte Sub­ jekt (eigentliche Selbst) nicht in seiner Existenz vom sinnlichen (zufälligen) Begehren von Etwas (letztlich: des Lebens) abhängig machen. Nochmals: Der Umstand, dass das Urteil auf das Dasein (die Wirklich­ keit) eines intelligiblen Subjekts das Urteil auf das Dasein eines menschli­ chen Körpers als lebendig bedingt, stimmt damit nicht nur zusammen, sondern führt zu eben diesem normativen Satz. Entsprechend der ersten Materiezuordnung im normativen Urteil (lebendiger menschlicher Körper) ist die Selbsterhaltung und damit das Verbot der Selbsttötung die „erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst“313. Entgegen Hegel (§ 47 Grundlinien) ist es normativ nicht denkbar, dass mein Wille als Person das Körperinnehaben überhaupt ausschließt (zur Grenze siehe Fn. 312). In genau dem hier beschriebenen Sinne – und damit der Sache nach vollkommen unpathetisch – ist die diesbezüglich von Kant (MdS, TL, § 6) gegebene – pathetischer klingende – Ausführung zu verste­ antwortbar sein mag“, Köhler, Rechtspflicht gegen sich selbst, S. 425). Zur Grenze und den Konsequenzen für ein mögliches interpersonales Verhältnis (nämlich bei Fremdtötung im faktischen Willen des Getöteten) Maatsch, Selbstverfügung, S. 225 ff.; vgl. auch BGH, Urteil vom 25.06.2010, 2 StR 454 / 09. 313  „Negative Pflicht“ im Sinne von „Tue zumindest nicht  …“, siehe dazu Kant, MdS, TL, §§ 5, 6 sowie GMS, S. 429 und KU, § 83, Fußnote: „Was das Leben für einen Wert habe, wenn dieser bloß nach dem geschätzt wird, was man genießt … sinkt gegen Null … Es bleibt also nichts weiter übrig als der Wert, den wir unserem Leben selbst geben durch das, was wir nicht allein tun, sondern so unabhängig von der Natur … tun, dass selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann …“. Das Leben (impliziert in der ersten Einsetzung in x = leben­ diger menschlicher Körper) ist eine notwendige Erfahrung des wirklichen Menschen und damit gefordert zur Konstruktion der eigenen Person. Theologische Ausdrucksweisen zur Glaubhaftmachung des Selbsttötungsverbots wie „Gott hat dem Menschen das Leben (oder: die Freiheit) geschenkt“ oder auch der hin und wieder zu hörende Satz „Eltern haben ihrem Kind das Leben geschenkt“ enthalten nach dem Begriff einer Schenkung als zweiseitigem Rechtsgeschäft von Personen hingegen eine Unmöglichkeit. Denn sie enthalten das Verhältnis zweier Subjekte als Voraussetzung, von denen eines aber als solches erst durch den Akt entstehen bzw. wirklich werden soll. Beim erstgenannten Ausdruck handelt es sich um einen konkreten Fall der von Kant sogen. „Amphibolie der moralischen Refle­ xionsbegriffe“ (etwas, was bloß Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist für Pflicht gegen ein vorgestelltes höheres Wesen zu halten – hier könnte es sich eben höchstens um eine Analogie zur Missachtung eines Schenkers in Gedanken beim Wegwurf seines Geschenkes handeln). Letztgenannter Satz bezeichnet entweder eine ethische Pflicht gegen andere (wenn lebendige Eltern von der Selbsttötung ihres Kindes betroffen wären) oder ist ebenfalls eine ähnliche „Amphibolie“ (vgl. auch MdS, TL, §§ 16, 17).

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B. Auflösung der Aufgabe

hen: „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist ebensoviel als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, soviel an ihm ist, aus der Welt zu vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhalt anvertraut war“. Dass die (nicht unter Notwehrvoraussetzungen erfolgende) Fremdtötung erst recht ausgeschlossen ist, versteht sich von selbst: Dabei kann nicht nur die einer Fremdtötungshandlung zugrundeliegende (innere) Maxime kein allgemeines Gesetz des Zustehens von etwas zu Jemandem werden; es kann nicht einmal die äußere Willkür (äußere Handlung) mit der Willkür von jedermann nach einen allgemeinen Zustehensgesetz zusammen bestehen (§§ B, C MdS), denn die Vorstellung eines „wechselseitigen und gleichen Zwanges … nach Analogie … der Bewegung der Körper unter dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung“ kann diesbezüglich nicht mit jedermanns Freiheit (Subjekts- und Grundstatus) zusammen bestehen (§§ D, E MdS), sondern vernichtet diese überhaupt. Diese und alle sonstigen ethischen oder gar rechtlichen Unmöglichkeiten stellt der kategorische Imperativ – auch in Gestalt der Zweck-an-sich-selbstFormel oder des Rechtsgesetzes – ohne Einfügung externer (materialer) Prämissen vor. Im Rahmen dieser Arbeit kommt es nicht darauf an, ob Kant bei der Herleitung oder Formulierung bestimmter ethischer Pflicht (nur gegen sich selbst) vor diesem – m. E. nun deutlicher explizierten – Hintergrund ggf. Fehler unterlaufen sind314. Entscheidend für alles Folgende ist: Die notwendige, anschauliche „Konstruktion“ des Rechtsbegriffs bzw. seiner Implikationen stellt jedenfalls die Mindestbedingungen eines seinsol­ lenden Personenverhältnisses (des Rechtsverhältnisses) deutlich und bedürf­ nisunabhängig vor, sodass ein Verhalten entweder damit konform oder eben – entgegen Hegel (§ 135 der „Grundlinien“) – als Widerspruch dazu bestimmbar ist. Was die Abgrenzung der Ethik im engeren Sinne vom (strikten) Recht angeht, sieht man durch diese Weise der Darstellung des nicht-vom-sinnli­ chen Bedürfnis abhängigen („kantischen“) Ansatzes auch deutlich, weshalb Kant die von ihm als „vollkommene Pflicht gegen sich selbst“ (zum Begriff siehe MdS, S. 389 ff. und oben A.II.3.d)) bezeichnete Selbsterhaltungspflicht 314  Im Verdacht steht insoweit etwa die von Kant als „nicht so leicht“ beschrie­ bene Herleitung und der Inhalt eines – von ihm selbst im Rahmen der angeschlos­ senen „kasuistischen Fragen“ auch sofort wieder eingeschränkten – ethischen Ver­ bots der „wohllüstigen Selbstschändung“, MdS, TL § 7.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes221

ebenso wie alle Pflichten bloß gegen sich selbst nur als ethische, nicht als Rechtspflichten einordnen konnte bzw. weshalb Recht nur das äußere Verhältnis unterschiedlicher Personen zueinander betreffen kann: Den Men­ schen als Person zu betrachten bedeutet eben, seine Erscheinung als seinem „intelligiblem Charakter“ unterworfen zu denken, was auch bedeutet, eine Zuordnungsbeziehung vom Materie zum Subjekt (von Etwas zu Jemandem) gedanklich herzustellen (und sei es dunkel). Wollte man behaupten, jemand nähme einem nicht in irgendeiner rechtlichen Sonderverbindung zu diesem stehenden anderen (einer anderen Person) etwas diesem anderen Zustehen­ des, wenn er etwa sich selbst tötete, dann setzte dies eine – dem Personsein vorangegangene – Zuordnung der Materie, die der lebendige Körper des einen ist, zu diesem anderen voraus. Dies verallgemeinert ist gar nicht entsprechend konstruierbar (§§ D, E MdS), sondern implizierte einen nichtmenschlichen bzw. sogar übermenschlichen und damit seitens eines Men­ schen irrationalen Standpunkt. Somit sieht man auch insoweit: Es gäbe gar keine wirkliche Person, wenn die primäre (Zuordnungs)Materie – der lebendige Körper des jeweiligen Menschen – nicht bloß diesem als (immateriellem) Subjekt zugeordnet wäre. Die Selbsttötung (aus Überdruss) ist somit zwar ethisch-unmöglich, aber kein Nehmen vom rechtlichen Haben eines anderen. Sie kann – jedenfalls sofern sie nicht auf anderer Personen Boden bzw. öffentlich erfolgt – als äußere Handlung mit deren Willkür bzw. Freiheit zusammen bestehen (§§ C, D MdS), weil die Person eben rechtlich bloß sich selbst (der jeweilige le­ bendige Körper dem jeweiligen Subjekt) gehört (auch wenn der Mensch ethisch nicht durchgängig nach Belieben über sich bzw. „die Menschheit“ in seiner Person disponieren kann, vgl. oben und Kant, MdS, § 17, S. 270): In Bezug auf eine Selbsttötung zeigt die Vorstellung eines wechselseitigen und gleichen Zwanges nach Analogie der Bewegung von Körpern im Raum unter dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung (§§ D, E MdS) gar keine Kollision, Berührung bzw. Wirkung. „So sind alle Pflichten gegen sich selbst ethisch (nicht juridisch) …“315. 315  Kant, Vorarbeiten zur MdS (AA XXIII, S. 393). Zwar nannte Kant bei seiner Einteilung der Rechtspflichten in der MdS als erste Rechtspflicht eine (die einzige) innere: „Sei ein rechtlicher Mensch“ bzw. „Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“, MdS, S. 236. Dies sei eine „vollkom­ mene Pflicht“ jedes Menschen aus dem „Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“. Diese innere Rechtspflicht ist damit eine spezielle ethische Pflicht, die überhaupt nur deshalb als (eben innere) Rechtspflicht zutreffend bezeichnet ist, weil sie ausschließlich gedacht ist als Selbstbehauptung im Verhältnis zu anderen (keine Unrechtsbegehung gegen sich zuzulassen) und damit gerade von sonstigen SelbstErhaltungs- oder etwaigen weiteren positiven Vervollkommnungs-Tugendpflichten gegen sich selbst sachhaltig unterscheidbar. Insofern leuchtet es mir nicht ein, wes­ halb Maatsch entgegen Kant die innere Rechtspflicht (gegen sich selbst) anschei­

222

B. Auflösung der Aufgabe

nend von diesem sie gerade auszeichnenden Kriterium lösen will (Selbstverfügung, S. 212 ff. – eine relevante inhaltliche Differenz besteht dabei allerdings nicht, da auch Maatsch gemäß §§ D, E MdS dazu kommt, dass die Nichterfüllung dieser „inneren Rechtspflicht“ eben kein Eindringen in den äußeren Bereich eines anderen ist, Maatsch, S. 218, 219). Manche wollen – wohl ähnlich Maatsch – alle ethischen bloßen Erhaltungspflichten, also vollkommene ethische Unterlassungspflichten, als „innere Rechtspflichten“ bezeichnen, weil diese ohne Voraussetzung des positiven Pflichtzwecks der „eigenen Vollkommenheit“ bestimmt werden könnten, was als Bestimmung aus dem „Recht der Menschheit in der eigenen Person“ betrachtet wird, etwa Casas, Pflichten gegen sich selbst, S. 52 ff.; dagegen mit zutreffender Begrün­ dung Geismann, Kant-Studien 92, 232, 234. Dies dürfte soweit zwar eine bloß ter­ minologische Differenz sein, ist jedoch deshalb unglücklich, weil dadurch zumindest die Gefahr einer zu vermeidenden Äquivokation provoziert wird. Wohl ähnlich Casas und Maatsch bejaht auch Köhler die Möglichkeit von ganz außerhalb eines interpersonalen Verhältnisses begehbarem „Unrecht gegen sich selbst“: Zutreffend geht Köhler davon aus, die „normative Selbstkonstitution des Willenssubjekts“ er­ folge nicht nur im Verhältnis zu anderen, sondern auch im Selbstbezug (Rechts­ pflicht gegen sich selbst, S. 431, soweit entsprechend meine Ausführungen oben). Ausgeschlossen sei damit, „die äußeren Daseinsbedingungen menschenrechtlicher Selbstbestimmung in ihrem Entfaltungspotenzial überhaupt zu negieren“ (a. a. O., S. 439–440). Durch ihren Bezug auf äußere Handlungen unterschieden sich diese Pflichten aber „von ethischen Pflichtinhalten“: Das „interne Rechtsverhältnis“ bzw. die „Rechtspflicht im Selbstverhältnis“ werde verletzt, wenn die Handlungsfreiheit durch äußere Handlungen gegen sich selbst grundlegend betroffen werde (a. a. O., S. 439). Dies begründe ein „Selbstzwangsrecht“, jedoch kein „subjektives Recht mit Zwangsbefugnis anderer“, da eine Repräsentation der Person in ihrem eigentlichen Selbst unmöglich sei (a. a. O., S. 440 ff.; ähnlich Maatsch, S. 216 ff.). Allerdings habe diese „Rechtspflicht gegen sich selbst … institutionenprägende Geltung“; so könnten rechtliche Selbstgefährdungsverbote bzw. Vorsichtsregeln (etwa hinsichtlich der Ver­ fügbarkeit schwerer Suchtmittel oder auch eines Umgangs mit Schwerkranken) er­ lassen werden, Köhler, Rechtspflicht gegen sich selbst. Meine obige Kritik an dieser m. E. missverständlichen Terminologie trifft auch den von Köhler und Maatsch eingeführten Terminus eines „Selbstzwangsrechts“: Selbstzwangsnotwendigkeit ist in jeder Pflichtbehauptung impliziert (siehe oben A.II.3., Fn. 164 und B.II.3.a)). Inso­ fern es Köhler auf eine mögliche interpersonale Bedeutung von vollkommenen (Erhaltungs)Pflichten gegen sich selbst beim darauf bezogenen Handeln anderer an­ kommt, mag der Terminus der „Rechtspflicht gegen sich selbst“ zutreffend sein: Wenn etwa angenommen wird, dass Verlangen des Getötetwerdens sei als Willens­ erklärung bzw. Einwilligung normativ-unwirksam, sodass der auf Verlangen Tötende trotz faktischer Einwilligung des anderen Unrecht begehe, dann mag man das Nicht­ standhaltenwollen gegen einen solchen – vom Verlangenden ja sogar explizit-ge­ wünschten – Akt als Verletzung der „inneren Rechtspflicht“ in der Person des Ver­ langenden im Sinne Kants bezeichnen. So mag man etwa die ernstgemeinte Auffor­ derung bzw. das an einen anderen gerichtete Verlangen, dieser solle den Auffordernden töten, als Verstoß gegen das ethische Selbsterhaltungsgebot betrachten (die eigene Person nicht zu zerstören), der wegen des interpersonalen Bezugs auch ein Verstoß gegen die „innere Rechtspflicht“ ist – der andere solle meine Person nicht missachten. Aber hinsichtlich Umgehensweisen bloß mit eigener Materie (etwa einer Selbsttötung) ohne jeden Bezug zu einer anderen Person scheint die Annahme



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes223

f) Sekundäre Zuordnungsmaterien (sonstige Materie als erwerbliche Güter) Was die Darstellung der rechtlichen Möglichkeit des Habens von Etwas Äußerem betrifft, also vom demjenigen, das nicht schon mit der Wirklich­ keit der Person verbunden ist bzw. als reale Materie mit einem Subjekt als ideeller Substanz gedanklich zu verbinden ist, sei im Wesentlichen auf oben (A.II.4.b)) verwiesen. Die folgenden Ausführungen sollen die dortigen nur verdeutlichen: Kein bestimmter äußerer Gegenstand ist ursprünglich Mein – gerade im Gegensatz zu den Gegenständen des „inneren Mein“ (siehe A.II.4.b)). Die Konsequenz dessen hat wesentliche Bedeutung für die Antwort auf die Frage nach den einem Notstandszugriff zugänglichen Gütern (dazu unten B.III.). Mit dem notwendigen Dasein der Person (dazu B.II.3.a)–e)) ist zwar die Möglichkeit bejaht, empirischen Besitz an äußeren Gegenständen als rechtlichen zu haben: Denn die Konstruktion des Rechtsbegriffs bzw. die Konstruktion einer wirklichen Person als das einem Rechte-Pflichtenverhält­ nis korrespondierende verpflichtende und verpflichtete äußere Subjekt erfor­ dert nicht nur, die gedankliche Zuordnung eines lebendigen menschlichen Körpers zu einem – unanschaulichen – Subjekt (als „ideeller Substanz“ ohne objektive Realität in bloß-theoretischer Hinsicht) im ansonsten leeren Raum (bloß als Form aller möglichen äußeren Anschauung) durchzuführen, indem also Menschen (siehe dazu Fn. 307 und Fn. 308) als Zustehenssub­ jekte bzw. Subjekt-Objekt-Einheiten gedacht werden, sondern bedeutet: Die realen Menschen als Subjekt-Objekt-Einheiten an verschiedenen Orten im erfüllten Raum zu denken. Kant schreibt: „Jeder Mensch hat ein angebore­ nes Recht an irgendeinem Orte der Erde zu sein, denn sein Dasein ist noch kein factum (kein durch ihn selbst Gemachtes, G. H.), folglich auch nicht

eines Verstoßes gegen die „innere Rechtspflicht“ bzw. der Begehung von „Unrecht gegen sich selbst“ keinen besonderen Sinn zu ergeben. Letztlich handelt es sich soweit, wie gesagt, wohl um eine bloß-terminologische Differenz. In seiner Stellung­ nahme zum Notstandsrecht geht Köhler dann allerdings der Sache nach über seine in obigen Ausführungen implizierte Annahme hinaus, das „innere Mein“ von jeman­ dem sei niemandem sonst ursprünglich zugeordnet, siehe dazu noch B.IV.2.b)cc). Deutlich gegen eine Bezeichnung von Pflichten ohne interpersonalen Bezug als Rechtspflichten sprach sich Kant in der Vorlesung aus: „Das erste Objekt ist aber die Pflicht gegen sich selbst. Diese wird nicht juridisch betrachtet, denn das Recht betrifft nur das Verhältnis gegen andere Menschen. Recht kann nicht gegen mich selbst beobachtet werden, denn was ich gegen mich selbst tue, das tue ich mit meiner Einwilligung. … Wir werden hier von dem Gebrauch der Freiheit in Anse­ hung seiner selbst reden …“, aus: Eine Vorlesung über Ethik, hrsg. v. Gerd Ger­ hardt, 1990, S. 130.

224

B. Auflösung der Aufgabe

iniustum …“316. Äußeres Handeln ist kein Unrecht, sofern es mit jeder­ manns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen be­ stehen kann; dies ist im angeborenen Recht impliziert317. Wenn man – wie Kant – äußeres Handeln, sofern es der Bedingung des Rechtsprinzips ge­ nügt, zum „inneren Mein“ zählt318, dann bejaht man damit notwendig auch die Möglichkeit des empirischen Besitzes als eines rechtlichen (dazu schon A.II.4.b) und Fn. 178). Äußere Gegenstände physisch zu besetzen bzw. körperlich zu ergreifen ist jedoch nur eine mögliche Erwerbsweise: Zuerst physischen Besitz an äuße­ ren Gegenständen zu ergreifen (Priorität in der Zeit) wäre, wenn keine an­ dere Erwerbsweise allgemein-gesetzlich bestimmt wäre, eine jedenfalls zu akzeptierende. Denn das Gegenteil bedeutete, das „innere Mein“ einer realen Person und damit die Person selbst nicht anzuerkennen bzw. zu respektie­ ren319. Wenn man von den Bedingungen des empirischen Innehabens – als soweit eine den Begriff des rechtlichen Besitzes äußerer Gegenstände einschränken­ de Bedingung – abstrahiert, dann stößt man auf den bloß-rechtlichen Begriff des Habens von etwas Äußerem, also die allseitig-wechselseitige Anerken316  Kant,

Nachlass, AA XXIII, S. 279. MdS, 237–239. Rechtswidrige Eingriffe in den (äußeren) Bereich eines anderen gehören selbstverständlich nicht zum inneren Mein. Dies verkennt Klesczewski allerdings, wenn er entgegen Kant schreibt, die Zwangsbefugnis ergebe sich nicht analytisch aus dem Rechtsprinzip, denn diese Annahme stünde dem Gebot „Neminem laede“ entgegen, Klesczewski, Gerechtigkeitsbegriff, S. 91 (dort Fn. 84). Dieses Gebot wird entgegen Klesczewski bei erforderlichen Notwehrreaktionen voll­ ständig gewahrt, eben weil der Bereich des anderen nicht der des (deshalb rechts­ widrig) Angreifenden ist und dieser sich die Reaktion normativ selbst zuzieht. Auch ehrverletzende Äußerungen gegenüber anderen (wirkliche Beleidigungen, Verleum­ dungen) gehören nicht zum „inneren Mein“ des Beleidigenden bzw. Verleumdenden. 318  Siehe Fn. 173. Dies wird übrigens auch vorausgesetzt, wenn Strafrechtler etwa das Delikt der Freiheitsberaubung als Delikt unmittelbar „gegen Persönlich­ keitswerte“ (hier in Abgrenzung zu „Vermögenswerten“), also als Verletzung angeborener Rechte, einordnen, was wohl einhellig so geschieht, siehe etwa Wessels / Hettinger, BT 1, § 8. Etwa das Einsperren einer Person in einen Raum ist in dem Sinne ja auch ein Erwerbsdelikt, als zumindest die rechtliche Möglichkeit ausge­ schlossen wird, Gebrauch von Gegenständlichkeit zu machen (an andere Orte zu gehen). Wenn man dieses Delikt als Delikt unmittelbar gegen die Person (als Neh­ men vom „inneren Mein“ des der Fortbewegungsfreiheit Benommenen) einordnet, dann setzt man also die Befugnis, äußerlich zu handeln (sofern dieses mit jeder­ manns Willkür nach allgemeinem Zustehensgesetz bestehen kann) dem Erwerb oder Haben äußerer Gegenstände als primär voraus (und denkt letzteres zugleich als rechtlich-möglich mit). 319  „Also hat jeder ein Recht, einen Boden als erster Besitzer zu haben: Denn das Gegenteil zum Gesetz gemacht würde die Freiheit als positives Vermögen aufhe­ ben“, Kant, Nachlass, AAXXIII, S. 278. 317  Kant,



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes225

nung des Zustehens von äußeren Gegenstände zu Personen nach deren willentlichem Erwerb, aber noch ganz unabhängig von konkreten Erwerbsregeln („intelligibler Besitz“). Oder andersherum formuliert: Intelligibler Besitz liegt allem rechtlichen Haben eines äußeren Gegenstandes zugrunde, es ist der eigentliche „Rechtstitel“. Gegenüber dem empirischen (rechtmäßigen) Besitz ist der Begriff des „intelligiblen Besitzes“ ein weiterer, weil in seinem Umfang eben nicht nur die physisch-besetzten Gegenstände liegen. Die mit dem „angeborenen Recht“ bzw. dem „inneren Mein“ verbundenen Rechts­ sphären werden mit der Möglichkeit, äußere Gegenstände an anderen Orten im Raum als dem Aufenthaltsort der jeweiligen Zuordnungsperson als wirkli­ chen Besitz zu haben, einerseits allseitig erweitert und nach dem kategori­ schen Imperativ bzw. dem Rechtsprinzip notwendigerweise zugleich wech­ selseitig eingeschränkt. Denn: Mit dem allseitig (seitens jeder Person, d. i. für uns: seitens jedes Menschen, siehe e)) möglichen Besitzen von äußeren Ge­ genständen, die sich eben auch an anderen Orten im Raum befinden können als die Person selbst, wird „allen anderen eine Verbindlichkeit“ auferlegt, die „sie sonst nicht hätten“, nämlich sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände der Willkür zu enthalten, weil ein anderer sie in seinen Besitz genommen hat. Es ist rechtlich möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür, also nicht nur Gegenstände der Gewalt (empirischer Besitz als rechtlicher), sondern auch der Macht (physischen Möglichkeit), als das Meine zu haben. Anders ausgedrückt: Kein Gegenstand der menschlichen Willkür überhaupt kann als objektiv-herrenlos seinsollend betrachtet werden („Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft“, siehe dazu oben A.II.4.b)), denn dies widerspräche dem allgemeinen Rechtsprinzip und implizierte die unsinnige Annahme, die Gegenstände selbst erlegten uns eine Verbindlichkeit auf. Intelligibler Besitz im Hinblick auf äußere Gegenstände (Anerkennen einer Zuordnung) ist der Begriff, nach dem die rechtlichen Sphären der Personen über die im angebo­ renen Recht implizierten Gehalte (inneres Mein) hinaus erweitert werden. Hinsichtlich des Umfangs des Besitzens äußerer Gegenstände ist damit noch nicht viel gesagt320, nämlich nur: Jedermann muss überhaupt Äußeres (recht­ lich) erwerben können und niemand kann also alles zum Sondergebrauch er­ werben321. Und nun sieht man deutlich: Der Grund der Möglichkeit des Privatbesit­ zes überhaupt ist der „ursprüngliche Gesamtbesitz“ aller Personen an der äußeren, physisch-erreichbaren Weltmaterie. Das ist also alle uns bekannte 320  „Aber wie viel ich erwerben könne bleibt dadurch unbestimmt …“, Kant, Nachlass (AA XXIII, S. 278). 321  Kant (Nachlass, AAXXIII): „Es muss für jeden auf Erden lebenden (sinnge­ mäß ergänzt: Menschen, G. H.) möglich sein, einen Boden ursprünglich zu erwer­ ben …“ (S. 317), aber „… wenn ich alles zusammen erwerben könnte, würde meine Freiheit anderer ihre nicht einschränken, sondern aufheben …“ (S. 278).

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B. Auflösung der Aufgabe

Materie abzüglich derjenigen, die für Menschen bislang unerreichbar und damit faktisch gar nicht zu einem andere ausschließenden Gebrauch nutzbar ist322 und (gemäß a)–e)) selbstverständlich abzüglich derjenigen Mate­ rie, die zum „inneren Mein“ von Jemandem gehört323. Denn die Aussage: Jedermann muss (Sonder-)Gebrauchsbefugnis hinsichtlich äußerer Gegenstände haben können, niemand kann alles erwerben bedeutet: Jedermann ist vor allem Erwerb besonderer äußerer Gegenstände jedem anderen in Bezug auf äußere Gegenstände insoweit verbunden. Und das bedeutet nichts ande­ res als: Alle sind ursprünglich im Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie (siehe zur Begriffsbestimmung Fn. 322 und Fn. 323 sowie oben A.II.4.b)). Jedermanns rechtliche Möglichkeit, äußere Gegenstände zum Gebrauch – als Bedingung auch allen vertraglichen Tauschs – einseitig zu erwerben ist zugleich die Notwendigkeit eines Abrückens aller jeweils anderen von der (ideell) ursprünglich gemeinsam besessenen Materie324. Somit besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen dem angebore­ nen Recht und dem daraus unmittelbar folgenden „inneren Mein“ einerseits und dem ursprünglichen Gemeinbesitz des Bodens bzw. der erreichbaren Weltmaterie andererseits (als ideell-notwendigem Begriff, dem eben der allgemeine Wille eines erlaubten Privatbesitzes entspricht bzw. den dieser voraussetzt). Kant schreibt: „Alle Menschen sind durch ihr angeborenes 322  Insofern ist alle Weltmaterie, die nicht zum inneren Mein von Jemandem gehört, in möglichem Gemeinbesitz, dasjenige davon, was von Menschen (zumindest von irgendeinem Menschen) physisch erreichbar und damit physisch-nutzbar ist, ist vor einem Erwerb zu einem Sondergebrauch in wirklichem Gemeinbesitz. Köhler spricht in diesem Sinne von einer „vorgängig-ursprünglichen Besitzgemeinsamkeit der ganzen Menschheit an der Totalität des überhaupt zugänglichen Universums“, in: Ursprünglicher Gesamtbesitz, S. 262. Näher zur Notwendigkeit und den Konsequen­ zen der Gemeinbesitzidee noch unten. 323  Man kann also nicht den in theoretischer Hinsicht notwendigen – dem Ener­ gieerhaltungsgrundsatz der Thermodynamik innewohnenden – Materieerhaltungs­ grundsatz (als reines allgemeines Naturgesetz, siehe oben A.II.1.) zur Kennzeichnung der Quantität des möglichen Gemeinbesitzes heranziehen und sagen: Möglicher Gemeinbesitz (siehe Fn. 322) ist alle beim Wechsel ihrer Zustände der Quantität nach gleichbleibende Materie, denn: Wie viel von aller realen Materie überhaupt zum inneren Mein von Jemandem gehört (sozusagen aus dem Bereich der bloßen Objekte zum Bestandteil einer wirklichen Person gemacht wird), das ändert sich mit der Veränderung der Anzahl lebender Menschen, aber auch schon mit dem Wachs­ tum jedes Einzelnen (der Umwandlung von als Nahrung zugeführter Stoffe in Kör­ permaterie). 324  „Der Schematism des äußeren Mein und Dein beruht auf der Einigung aller zu allgemeinen Prinzipien a priori der Austeilung der Dinge im Raum (d. i.: allge­ mein jeweils einseitig zuzugreifen und seitens der jeweils anderen dann quasi loszulassen, wobei die Beschreibung eines solchen äußeren Vorgangs eben nur das Sche­ ma ist, G. H.), darin Mein und Dein stattfindet: setzt folglich einen ursprünglichen gemeinschaftlichen Besitz voraus …“, Kant, Nachlass (AA XXIII), S. 273.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes227

Recht vor allem (ergänzt: besonderen, G. H., siehe zu dieser Ungenauigkeit Kants schon meine Anmerkung oben, A.II.4.b)) äußeren Mein und Dein im ursprünglichen Besitz des Bodens, auf welchem rechtlichen Besitz die Mög­ lichkeit der Erwerbung desselben (gemeint: zum Privatgebrauch, G. H.) zuerst gegründet werden muss“325. Die besondere begriffliche Bedeutung dieser Ausführungen Kants, und die praktische Bedeutung der Begriffe des ursprünglichen Gemeinbesitzes der Weltmaterie und des ursprünglich-einseitigen Zugriffs darauf (ursprüngliche Teilung) als Basis auch jedes vertraglichen Austauschs war in der Sekun­ därliteratur lange Zeit übersehen worden. Michael Köhler weist zumindest in der deutschsprachigen Literatur als erster und bislang wohl einziger deutlich darauf hin und bezieht diese Grundbegriffe des Privatrechts mit bedeutenden Konsequenzen auf die heutige Wirklichkeit (siehe Köhler, a. a. O., Fn. 184; zur rechtlichen Konsequenz dieses notwendigen Grundbe­ griffs des Privatrechts für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten siehe unten B.III.). Deutlich muss sein, dass in Konsequenz des unter a)–e) Dargestellten in Abgrenzung zum Sachenrecht personale Sonderleistungen anderer, also alle über das bloße Unterlassen des Eingriffs in den rechtlichen (äußeren) Be­ reich einer Person hinausgehende Verhaltensweisen, rechtlich „niemals ursprünglich und eigenmächtig“ erworben werden können, sondern nur durch willentliche Übereinkunft übertragbar sind (vertraglich, also vom Willen des anderen bzw. „von dem Seinen des anderen abgeleitet“, siehe dazu A.II.4.b) und noch B.III.). Denn die Gegenbehauptung implizierte eine ursprüngliche – wenn auch ggf. auf den Eintritt bestimmter, aber eben der Person externer Umstände bedingte – Zuordnung des fremden Willens bzw. derje­ nigen Körpermaterie, der es zur Ausführung der Leistung bedarf, zu einem anderen; wodurch es gar keinen unbedingten Willensinhaber bzw. keine reale Person gäbe. Vielmehr würde ein übergeordneter Dritter vorausgesetzt, der über die jeweilige Körpermaterie in dieser Weise disponieren kann. Das ist unmöglich (siehe oben e)). Kant schreibt, eine einseitige Erwerbung ei­ nes personalen Rechts „würde nicht mit dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß, mithin un­ recht sein“326. Anders ausgedrückt: Die Annahme ursprünglicher Rechte 325  Kant,

Nachlass (AA XXIII), S. 318. § 18 MdS. Bei obigen Ausführungen ist abgesehen von – mit der wil­ lentlichen Aufnahme eines Familienverhältnisses entstehenden – einseitigen Tätigkeitspflichten (Fürsorgepflichten) von Eltern gegenüber ihrem unselbständigen Kind. Diese nicht zu erfüllen wäre wegen der Sonderverbindung (Garantenstellung) eine auch rechtlich-relevante Missachtung des Kindes durch Unterlassen. Dem unselb­ ständigen Kind ist also die Willkür der Eltern insoweit ursprünglich (also ohne vo­ rausgehenden Vertrag) zugeordnet, wie dies zum Ausgleich des (mit fortschreiten­ 326  Kant,

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B. Auflösung der Aufgabe

(„inneres Mein“) ist die Annahme der Unmöglichkeit eines einseitigen rechtlichen Zugriffs anderer auf diese Materie (dazu noch B.III. aber auch Fn. 326). g) Möglichkeit kontinuierlicher Durchsetzung der Zustehensverhältnisse Der Staat ist die notwendige Rechtsdurchsetzungsinstanz bzw. die an die Grundlagen des Rechts rückgebundene Konkretisierungsinstanz, was z. B. das Aufstellen allgemeiner öffentlicher Erwerbsregeln durch den Gesetzge­ ber angeht (ideal in Gestalt des durch Abgeordnete repräsentierten Volkes). Mit anderen einen Staat zu konstituieren ist somit Pflicht: Nur so wird dauerhafte Rechtsverwirklichung möglich327. Der Terminus „Rechtsstaat“ bedeutet primär die Bindung allen Staatshandelns an vorpositiv-existentes Recht. Dieses bzw. der „Staat in der Idee“, wie er nach reinen Rechtsprin­ zipien sein soll, muss jeder wirklichen Vereinigung als Staat zur Richtschnur dienen. Insofern ist ideell vor jedem Akt des wirklichen Gesetzgebers (positiver Gesetzgebung) und auch bei der Gesetzesauslegung zu klären, was dem einen gegenüber dem anderen eigentlich (im Grundverhältnis) zusteht328. dem Alter des Kindes abnehmenden) Mangels an Selbständigkeit erforderlich ist. Dem ging allerdings ein willentlicher Akt der (späteren) Eltern (der Zeugungsakt bzw. – mit Köhler – der Akt der Aufnahme eines Familienverhältnisses, siehe Fn. 308) voraus. 327  Siehe A.II.5. und 6.; Rechtsverwirklichung heißt, jedem dasjenige wirklich zukommen zu lassen, was ihm zusteht, vgl. Kant, MdS, S. 237. Dies kann auch durch die Durchsetzung von Ausgleichsansprüchen nach Rechtsverletzungen gesche­ hen. Weitergehend ist es nur im Staat möglich, das beendete Verbrechen (die schuld­ haft begangene schwere Unrechtstat) durch Strafrecht auszugleichen (in Abgrenzung zur Privatrache einzelner, die bloß die Begehung weiteren Unrechts wäre). 328  Erst wenn diese Frage nicht konkret bzw. detailiert nach Grundbegriffen be­ antwortet werden kann, ist der Idee nach der Bereich der politischen Aushandlung, der Tradition oder sonstiger möglicher Quellen von Richtungsgebung eröffnet. Dabei müssen rechtliche Grundsätze bzw. -begriffe aber immer – mehr oder weniger di­ rekt – leiten. Etwa ist die Frage, ob es zulässig ist, mit Kfz auf eigentlich allgemei­ nem Boden umher zu fahren, zu beantworten mit: Es ist zulässig, sofern diese Handlung mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz zusam­ men bestehen kann. Das heißt konkret: Es ist zulässig unter einer allgemeinen Stra­ ßenverkehrsordnung, die jedem Verkehrsbeteiligten je nach Betätigungswillen (zu Fuß gehen, Rad fahren, Kfz-Fahren) seinen Platz zuweist und so ein UnverletztAneinander-Vorbeikommen auch bei der Nutzung von schnellen Fortbewegungsmit­ teln ermöglicht bzw. sichert. Ob man aber auf der rechten oder (wie in England) auf der linken Seite der Straße fährt, ist rechtlich-beliebig. Insoweit ist der Inhalt der diesbezüglichen (notwendig-allgemeinverbindlichen) Regel etwa der Tradition bzw. dem Mehrheitswunsch der Menschen in einem Staat überlassen.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes229

Deshalb wird die Frage nach der (rechtlichen) Möglichkeit und dem In­ halt eines Notstandsrechts oder nach der Legitimität einer Norm wie § 34 StGB auch nicht durch einen bloßen Verweis darauf beantwortet, dass § 34 StGB ein formell-ordnungsgemäß zustande gekommenes Parlamentsgesetz ist, sondern nur, wenn gezeigt werden kann, wie sich ein Erlaubnisprinzip Notstand vom dargestellten Ausgangspunkt der Konstitution gültiger Sol­ lenssätze als Rechtssatz ergibt bzw. herleitet (wie ein solches gemäß den dargestellten Bedingungen als interpersonale Zustehensbeziehung zu konst­ ruieren ist). 4. Einordnende Anmerkungen Bevor diese Frage beantwortet wird, erscheint eine letzte Anmerkung in zwei, die Notwendigkeit des vorgestellten, nicht-bedürfnisabhängigen An­ satzes bezweifelnde Richtungen angebracht. Die hier vorgenommene, als vollständig behauptete Einteilung in unmittelbar-materiale und nicht-unmit­ telbar-materiale Versuche der Generierung von (verbindlichen) Sollensaus­ sagen und die Behauptung, zu dieser Frage notwendig Stellung nehmen zu müssen, wird von einer neueren vermeintlich-philosophischen Disziplin, der sogen. „Metaethik“, nicht geteilt. Darauf will ich – in gebotener Kürze – ebenso eingehen (unter a)), wie auf neuere, im Zusammenhang mit Erkennt­ nissen der Hirnforschung vorgetragene Kritik am hier für notwendig erach­ teten (kantischen) Ansatz (unter b)). a) Zur sogen. „Metaethik“ Das selbstgesetzte Ziel der „Metaethik“ ist es, eigenständig zu sein, und nur „die begrifflichen Grundlagen für die wissenschaftliche Auseinander­ setzung mit dem Phänomen der Moral“ bereitzustellen329. Die Eigenstän­ digkeit gegenüber einzelnen Konzepten richtigen praktischen Handelns soll erreicht werden, indem die „Metaethik“ keine normativen Aussagen formu­ liert, sondern eine „Theorie der formalen Aspekte moralischer Urteile“ ausarbeitet330. Wenn in der „Metaethik“ jedoch gefragt wird, was unter einem morali­ schen Urteil zu verstehen ist, so kann das nur heißen, was darunter sinn­ vollerweise verstanden werden kann bzw. verstanden werden soll. So geht es in der „Metaethik“ auch nicht darum, Vorstellungen davon zu sammeln, was Menschen faktisch unter dem Terminus „moralisches Urteil“ jeweils 329  Scarano, 330  Scarano,

in: Düwell / Hübenthal / Werner, Ethik, S. 25. in: Düwell / Hübenthal / Werner, Ethik, S. 27.

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B. Auflösung der Aufgabe

verstehen. Wenn eine Wissenschaft Moralität zu ihrem Gegenstand haben soll, dann ist es eine Voraussetzung, anzugeben, wie dieser Gegenstand überhaupt als Erkenntnis möglich sein kann. Bezüglich des Gegenstandes „Moralität“ besteht eine besondere Schwierigkeit darin, dass ein Anschau­ ungsobjekt davon nicht unmittelbar gegeben werden kann: Zwar ist ein Beispiel von moralisch-richtigem Verhalten möglich, sobald man aber das Moralische daran „sehen“ will, verlässt man wieder den Bereich der An­ schaulichkeit. So stellt sich die Frage nach einem kategorischen (nichtbedürfnisabhängig gültigen) Imperativ, die wie dargestellt zu beantworten ist (A.II.2. ff. und B.II.1. und 3.). Diese Frage verstellt sich hingegen die sogen. „Metaethik“. Zwar soll es jedem selbst überlassen bleiben, ob er die vorausgesetzte Beschäftigung mit dem – ein moralisches Urteil als solches qualifizieren­ den – Grundprinzip und dessen Formulierung etwa „Metaethik“ nennen will oder einfach als Grundlegung der Ethik oder als Beschäftigung mit dem notwendigen Ausgangspunkt moralischer Urteile überhaupt bezeich­ nen will. Wenn man konsequent denkt, erweist sich der Terminus „Meta­ ethik“ aber jedenfalls für das, was darunter aktuell verstanden wird, als unzutreffend: Eine Metaethik als eigenständige Disziplin, unter welcher mehrere „Ethiken“ geordnet sind, ist logisch unmöglich. Denn bei vollstän­ diger und deutlicher Definition von „moralischem Urteil“ muss dieses als aus einem kategorischen Grundprinzip abgeleitetes bzw. demgemäß konst­ ruiertes oder mit der Denkvorgabe des ethischen Grundprinzips konformes Urteil aufgezeigt werden können (und – vorausgesetzt – auch das Grund­ prinzip selbst formuliert werden). Dann lassen sich jedoch unmöglich mehrere einander widersprechende vermeintliche „Ethiken“ letztlich als Ethi­ ken halten (und können deshalb auch nicht sinnvoll als „Ethiken“ bezeich­ net werden). Das, was faktisch die Disziplin der „Metaethik“ ist, also was in ihr aktuell getan wird, ist eine Sammlung und Einteilung von bisher vertrete­ nen verschiedenen normativen Konzepten unter gewissen Termini als Gat­ tungsbegriffen wie „Nonkognitivismus“ bzw. „Anti-Objektivismus“ und „Kognitivismus“ bzw. „Objektivismus“, die aber – solange sie die jewei­ ligen Ausgangspunkte und ihre Konsequenzen nicht als entweder wahr oder falsch beurteilen kann – nur eine spezielle empirische Disziplin ist. Der Terminus „Metaethik“ ist also entweder ungenau und fahrlässig zu hoch gestochen, oder, sollte in dem Ausdruck die Anerkennung mehrerer widersprechender „Ethiken“ als letztlich denkmöglich und so gültig und wahr wie ihr Gegenteil liegen, von vornherein eine Hinwendung zur prin­ zipiellen Beliebigkeit (damit wohl zum „Nonkognitivismus“), sodass die Disziplin per definitionem ihre eigene Unwissenschaftlichkeit beinhaltete: Wenn man die Grundannahme der „Metaethik“-Disziplin, nämlich „Ethi­



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes231

ken“ zu betrachten und argumentativ zu beurteilen und letztlich alle diese Positionen „Ethiken“ sein zu lassen, akzeptiert, dann hat man sich damit schon einer „nonkognitivistischen“ bzw. relativistischen Position verschrie­ ben331. Zwar mag einiger praktischer Nutzen daraus entstehen, etwa logische Inkonsistenzen bei der Verfolgung einer bestimmten (normativen) Prämisse als vermeintlicher Grundprämisse aufzuzeigen. Dies kann sehr hilfreich zur Verwerfung eines solchen Ansatzes sein. Allerdings kann eine floskelhafte Einteilung von unterschiedlichen Konzepten auch unnötig Verwirrung stif­ ten. Es kann z. B. passieren, dass derjenige Ausgangspunkt, der notwendig ist, wenn Moralität überhaupt soll gedacht werden können (siehe oben), nicht in der Einteilung vorkommt, weil er sich weder unter „Emotivismus“ oder „Präskriptivismus“, noch unter „Naturalismus“ oder „Intuitionismus“ fassen lässt. Insofern geht dann das Bemühen der „Metaethik“ ganz und gar am selbstgesetzten Thema vorbei. Es dürfte sich bei der Disziplin der „Me­ taethik“ eher um eine derzeitige Modeerscheinung ohne bleibende Substanz handeln. Angemerkt sei, dass auch die übliche Differenzierung im Feld der prak­ tischen Philosophie nach „normativer“ oder „deskriptiver“ Ethik schon durch die zur Bezeichnung verwendeten Termini Unklarheiten offenbart. Denn: Eine „deskriptive Ethik“ ist, sofern damit nur empirisch vorgefunde­ ne Antworten auf im weiten Sinne ethische Fragen beschrieben werden, gar keine Ethik, sondern eine sozialwissenschaftliche oder historische Disziplin; der Terminus ist eine Fehlbezeichnung. Und die Bezeichnung „normative Ethik“ ist ein Pleonasmus.

331  Von den „Metaethikern“ selbst bleibt dieser Umstand naiverweise unerkannt. Der Glaube, „formale Aspekte“ eines moralischen Urteils überhaupt ohne Rekurs auf die eigentlichen apriorischen Bedingungen seiner Möglichkeit sinnhaltig angeben zu können und trotzdem alle irgendwo vertretenen normativen Konzepte Ethiken sein zu lassen, stellt aufklärerisch betrachtet einen Rückschritt dar. Vgl. auch Fn. 24 und Kant in Bezug auf die Philosophie überhaupt: „Verschiedene Arten zu philosophie­ ren und zu den ersten Vernunftprinzipien zurückzugehen, um darauf mit mehr oder weniger Glück ein System zu gründen, hat es nicht allein gegeben, sondern es muss­ te viele Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige ein Verdienst hat, geben; aber da es doch, objektiv betrachtet, nur eine Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophien geben, d. i. es ist nur ein wahres System der­ selben aus Prinzipien möglich … es gibt nur eine Tugend und Lehre derselben …“ (MdS, Vorrede, S. 207).

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B. Auflösung der Aufgabe

b) Neuere Kritik am vorgestellten Ansatz (in Aufnahme von Erkenntnissen der Hirnforschung) Die Verwirrung über die Bedeutung hinter dem Wort „Freiheit“ (siehe dazu auch Fn. 273) ist nicht kleiner geworden durch eine wieder aufge­ flammte, jedoch nicht neue Diskussion um die Frage, wie die Annahme von (Willens-)Freiheit einerseits und Determiniertheit nach Naturgesetzen ande­ rerseits zusammenpasse. Anlass der Diskussion waren diesmal populistisch publizierte Annahmen – abgeleitet aus neueren oder auch schon älteren empirischen Untersuchungen aus dem Bereich der Hirnforschung bzw. der Biochemie (vgl. Fn. 245) – dahingehend, der Mensch sei im Denken und Handeln durchgängig naturhaft-determiniert und dieses (vermeintlich) ratio­ nalere Menschenbild solle sich in gesellschaftlichen Regelungen – etwa in der strafrechtlichen Theorie und Praxis – niederschlagen332. Diese Diskussion ist deshalb für eine wissenschaftliche Befassung in weiten Teilen uninteressant, weil viele Statements auf unreflektierten, die kantischen Ausführungen diesbezüglich missverstehenden oder die philoso­ phische Auseinandersetzung überhaupt außer Acht lassenden Vorstellungen von Willensfreiheit beruhen. Denn „Freiheit“ ist kein Gegenstand theore­ tisch-physikalischer bzw. chemischer Erkenntnis. Wer hingegen Freiheit trotzdem empirisch nachweisen wollte, sich über die Unmöglichkeit dessen wunderte und nun meinte, es gäbe sie dann wohl gar nicht, der zeigte damit bloß die Ungeordnetheit seines Begriffssystems. Denn nochmal: Unabhängigkeit von Naturursachen in einer theoretischen (naturwissenschaftlichen) Erklärungsperspektive auffinden bzw. nachweisen oder – etwa durch ein Modell über die chemische, atomare oder subatoma­ re Ebene – erklären zu wollen und sich über die Unmöglichkeit dessen zu wundern, das setzt eine irrationale Annahme und damit einen Denkfehler voraus. Es bedeutet letztlich nichts anderes als die Unabhängigkeit von Naturursachen als Glied einer naturgesetzlichen Ursache-Wirkungskette bestimmen zu wollen, was einen Widerspruch in sich enthält (vergleiche dazu A.II.1.). Kant schreibt, man wäre überhaupt „niemals zu dem Wag­ stück gekommen … Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz … dazugekommen und hätte uns diesen Begriff nicht auf­ gedrungen …“ (KpV, Anmerkung zu § 6). Die weitergehende These, welche manche aus Naturexperimenten (insbe­ sondere: Hirnforschungsergebnissen) ableiten zu können glauben, ist Fol­ 332  Ausführlichere Auseinandersetzung etwa bei Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, 1. Auflage von 2003; derselbe: Wir sind determiniert; FAZ-Artikel vom 01.12.2003; in dieser Reihe u. a. auch Wolf Singer, Keiner kann anders als er ist, FAZ-Artikel vom 08.01.2004.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes233

gende: Die Erscheinungserklärungsperspektive (die Naturwissenschaft) ist die einzig mögliche Erkenntnisweise und es kann sinnvoll keinen anderen, damit konformen Bereich von – das Freiheitspostulat voraussetzenden, qua­ litativ anderen – Begriffen geben. Deshalb solle sich der Mensch auch nicht anders als als determiniertes Naturwesen beurteilen bzw. einordnen. Auch dies ist eine in sich widersprüchliche Behauptung: Der Sprung zum Sollen ist kein Element der Naturforschung und als solcher ausgegeben ist die Behauptung logisch-falsch; ein gedanklich-verbindliches Sollen wird nach dieser These gerade für unmöglich gehalten. Aus den neueren ernstzunehmenden, weil die philosophische Diskussion einbeziehenden Auseinandersetzungen mit diesem Thema wird im Folgen­ den – statt vieler – auf die von Reinhard Merkel in seinem umfangreichen Werk „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ vorgetragenen Kritikpunkte am kantischen bzw. am nicht-unmittelbar materialen Ansatz eingegangen. Es ist anzunehmen, dass diese Einwände von anderen Philosophen und Rechtswissenschaftlern geteilt werden. Reinhard Merkel geht es in seiner scharfsinnigen Abhandlung letztlich um die – für das hiesige Thema nicht unmittelbar relevante – Klärung des „Zusammenhangs von neuronaler Determination und Schuld“ (Willensfrei­ heit, S. 104). Dies ist deshalb hier nicht unmittelbar relevant, weil die Frage nach einem Notstandsrecht unabhängig von der speziell-strafrechtli­ chen Frage behandelt werden kann, wie mit schweren Rechtsverletzungen umzugehen ist bzw. ob / wie diese durch Strafrecht auszugleichen sind. Je­ doch betrifft Merkels Kritik der aus dem nicht-unmittelbar-materialen Ansatz entspringenden („kantischen“) Konzeption nicht nur deren Konsequenz für die Frage der Legitimation und Notwendigkeit von Rechtsstrafe und deren Voraussetzungen, sondern auch den Ansatz überhaupt. Und insoweit sie dies tut, möchte ich sie aufnehmen: Merkel bezeichnet die kantische Konzeption als „in ihrer labyrinthischen Finesse so bewundernswert wie unhaltbar“ (a. a. O., S. 60). Er kritisiert einer­ seits, Kant begründe die apriorische (empirieunabhängige) Geltung des Sit­ tengesetzes u. a. damit, dass sein Bewusstsein in jeder empirischen Men­ schenvernunft vorhanden sei. Damit habe das von Kant als Erkenntnisgrund der notwendigen Freiheitsannahme in Bezug auf den Menschen behauptete Sittengesetz – entgegen Kants Annahme – eine empirische Grundlage. Das Sittengesetz als „Factum“ der Vernunft im Sinne eines selbstgemachten Pro­ dukts zu bezeichnen, ändere daran nichts, denn es handele sich, wie man heutzutage wisse, um „ein Produkt … unseres Gehirns“, das „vollkommen anders ausfallen könnte, wenn unser Gehirn de facto anders wäre“ (a. a. O., S. 62). Diese Behauptungen will Merkel belegen, indem er auf die „Entwick­ lung unseres Gehirns in der Evolutionsgeschichte“ hinweist und Fälle schil­

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B. Auflösung der Aufgabe

dert, in denen eine physische Einwirkung auf das Gehirn eines Menschen (etwa aufgrund von Unfall oder Krankheit) das „moralische Bewusstsein“ dieses Menschen veränderte. Man könne „die Hirnareale, die das unmittelba­ re Bewusstsein des Moralgesetzes … hervorbringen, immer exakter bestim­ men, ihre Aktivität sichtbar machen, ja neurophysiologisch manipulieren, um damit z. B. genau jenes Bewusstsein … artifiziell zu erzeugen und wieder verschwinden zu lassen“. So mute es „seltsam lebensfremd an, heute noch sämtliche Emanationen einer reinen Vernunft für vollkommen souverän ge­ genüber ihren empirischen Grundlagen zu erklären“ (a. a. O., S. 62). Was Merkel hier der Sache nach versucht, ist „reine Vernunft“ bzw. das­ jenige, was Kant als reine Voraussetzungen sowohl von theoretischer, als auch von praktischer Erkenntnis bestimmte, als bloße Erscheinungen – nämlich als Wirkungen biochemischer bzw. physikalischer Prozesse – zu entlarven. Nun war es Kants ganzes Bemühen, aufzuzeigen, dass eine solche Erkenntnis unmöglich ist bzw. wir uns dabei selbst mit unserem Erkennt­ nisvermögen in Widersprüche verwickeln, weil entweder Erscheinungen (für uns) als Dinge an sich bestimmt werden oder aber als Erscheinungen für etwas, das selbst ausschließlich Erscheinung ist und damit alles zum bloßen Schein wird (siehe näher oben A.II.1.). Zugleich ist in dem kantischen Be­ mühen die These impliziert, es sei alle theoretische wie praktische Erkennt­ nis letztlich ein – einer nicht natur-, sondern vernunftnotwendigen Richt­ schnur folgen sollendes – Handeln des Menschen als Subjekt. Subjekt bedeutet dabei die Beurteilung des Menschen als Subjekt-ObjektEinheit, wobei die Subjekthaftigkeit dabei immer nur Voraussetzung, nie­ mals ein auffindbarer Gegenstand bzw. ein Objekt besonderer theoretischer Erkenntnis sein könne. Denn jeder besonderen theoretischen Erkenntnis – wenn es keine überschwängliche, damit letztlich bloße subjektive Behaup­ tung sein soll – ging eine Beschränkung des Verstandes auf Wahrnehmungs­ ordnung bzw. Erscheinungsbestimmung voraus. Insofern stellt Merkel mit der Annahme, letztlich beruhe alles auf „empi­ rischen Grundlagen“ also nicht nur die Grundannahmen der speziell-prakti­ schen Philosophie Kants, sondern auch die Grundannahmen und Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft in Frage333. Denn: Indem „Emanationen einer reinen Vernunft“ als Folgen „empirischer Grundlagen“ betrachtet werden, wird reine Vernunft bzw. werden nicht empirisch einzuordnende Erkenntnis­ voraussetzungen überhaupt verneint. „Emanation“ der „reinen Vernunft“ heißt dann nämlich nichts anderes als Ausfluss bzw. Folgeerscheinungen bestimmter Naturereignisse. 333  So bezeichnet Merkel etwa die Annahme reiner Verstandesbegriffe – jeden­ falls den der Kausalität – als „wenig plausibel“, Willensfreiheit, dort Fn. 74.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes235

Allerdings müssen diese Naturereignisse von irgendjemandem begriffen werden, um Erkenntnisse zu werden. Merkel wehrt sich diesbezüglich ex­ plizit gegen ein „beliebtes, aber plattes Verdikt“, die u. a. von ihm vorgetra­ gene Kritik an der kantischen Konzeption sei eine „Naturalisierung des Geistes“: Es sei ein „vollständiger Naturalismus in Philosophie und Wissen­ schaften … gewiss ein Unding; aber umgekehrt wäre ein vollständiger Anti-Naturalismus bloß ein schlechter Witz“ (S. 64). Diese letzte Aussage kann man – mit Kant – voll und ganz unterschreiben. Dann jedoch führt kein Weg an der Notwendigkeit der Anerkennung nicht materialisierbarer – nicht als bloße Wirkungen bestimmbarer – Erkenntnis­ voraussetzungen vorbei. Das gilt sowohl in theoretischer Hinsicht (menschli­ ches Handeln zur Erklärung der Erscheinungen), als auch in praktischer Hin­ sicht (menschliches Handeln unter einem unbedingten Verhaltensgebot). Die einzige Möglichkeit, einer absurden „Naturalisierung des Geistes“ – ein Subjekt der Vorstellungen kann rational nie bloßes Element seines vor­ gestellten Systems sein – zu entgehen, welche erkenntnistheoretisch sowohl die Rationalität der Naturwissenschaft als auch die Konformität mit dersel­ ben wahrt, ist Folgende: Die Naturwissenschaft ist als ein Teil der mensch­ lichen Erkenntnis (gemäß dem Erkenntnisvermögen überhaupt) einzuordnen. Sie ist dem Begriff des Subjekts insofern unterzuordnen, als der Begriff des Subjekts bzw. der Person zwar kein besonderes Element der Naturwissen­ schaft ist und darin nicht explizit vorkommt (nicht vorkommen kann bzw. soll), das Ganze jedoch eine von Subjekten bzw. Personen entworfene Wis­ senschaft ist (vgl. näher A.I.1. und B.II.3.). Und dann ist Freiheit als notwendige Idee der Unabhängigkeit von Ursa­ chen der Natur zugleich für den Menschen die Pflicht zur Selbstbestimmung gemäß dem kategorischen Imperativ (bzw. dem Rechtsprinzip). Diese Pflicht besteht a priori, unabhängig von aller (besonderen) Erfahrung bzw. Seinser­ kenntnis und unabhängig davon, ob sich der Mensch in der Erscheinung bzw. als Erscheinung im Detail (etwa betreffend das menschliche Gehirn) so oder so zu erklären hat. Das heißt: Man muss nicht wissen, wie die Welt (die ideelle Erschei­ nungsgesamtheit) durch die kleinsten Teilchen zusammengesetzt ist – wie man sich die Erscheinungen einschließlich sich selbst als Erscheinung bis in die kleinsten Teile physikalisch zu erklären habe – um zu wissen, was sich gehört und was nicht. Wahr ist in einer außerhalb der Naturwissenschaft liegenden notwendigen Perspektive des Menschen: Der Mensch ist Person im Sinne einer SubjektObjekt-Einheit (eines Zustehenssubjekts) mit der Konsequenz der Möglich­ keit von Verdienst und Verschuldung beim Handeln.

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B. Auflösung der Aufgabe

Merkel hält Kants Äußerung, ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln könne, sei „eben darum in praktischer Rück­ sicht wirklich frei334“, für „ein klares non sequitur“. Daraus – so Merkel – folge „allenfalls …, dass alle vernünftigen Wesen in ihrem Handeln sich selber einen freien Willen beilegen müssen, nicht jedoch, dass ein anderer das für sie und an ihrer Stelle tun könnte. In dem Wechsel der Perspektiven vom handelnden Akteur zu einem beilegenden Dritten liegt aber ein Unter­ schied ums Ganze … Produkt des Gehirns ist … jede Handlungsentschei­ dung …“335. Hierbei berücksichtigt Merkel nicht ausreichend die Implikationen des Begriffs „Handeln“. Denn: Jedes „Beilegen“ irgendeiner Eigenschaft aus der Perspektive eines Dritten ist – nicht nur für diesen selbst, sondern eben allgemein beurteilt – wiederum ein willentliches (inneres) Handeln des Bei­ legenden. Die gesamte (menschliche) Naturwissenschaft ist jeweiliges wil­ lentliches Handeln bzw. Produkt dessen. Den Menschen – in praktischer Hinsicht überhaupt – für wirklich frei zu halten, ist alternativlos, auch wenn (oder: gerade weil) Freiheit nach vernunftgemäßer Beschränkung des unmit­ telbaren Verstandesgebrauchs auf Bestimmung bloß der Erscheinungen (also in theoretischer Hinsicht) innerhalb eines Systems der Naturerklärung kei­ nen Platz hat. Wenn Merkel hingegen „jede Handlungsentscheidung, auch jede vernünf­ tige“ als „Produkt des Gehirns“ bezeichnet (Willensfreiheit, S. 67), dann verharrt er dabei einerseits in einer bloß nach Naturgesetzen beschreibenden Perspektive, beurteilt demnach aber in dieser andererseits „Handlungen“ bzw. „Handlungsentscheidungen“ und damit Begriffe, die die Annahme des Menschen als einer Subjekt-Objekt-Einheit (wirkliche Person) wiederum implizieren. Ansonsten wären die verwendeten Worte „Handlung“ oder „Handlungsentscheidung“ Fehlbezeichnungen für den eigentlich gemeinten biochemisch induzierten Bewegungsprozess. Um es zuzuspitzen: Die Annahme einer sich selbst erschaffenden – durch uns als Menschen bloß sprechenden – Naturwissenschaft ist ebenso über­ schwänglich und irrational wie die Annahme von menschlichen Gehirnen als letzten Urhebern aller Erkenntnis. Beiden Annahmen fehlt das jeweilige Subjekt der jeweiligen Erkenntnisvorstellungen. Ein Gehirn, das ein Be­ wusstsein erzeugt, erzeugt damit nicht auch ein Selbstbewusstsein. Sobald aber menschliches Selbstbewusstsein vorhanden ist, enthält dieses in allem Denken stets die Bezugnahme auf ein allen Vorstellungen zugrundeliegen­ 334  „… d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoreti­ schen Philosophie gültig für frei erklärt würde“, Kant, a. a. O., Fn.  140. 335  Merkel, Willensfreiheit, S. 66–67.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes237

des (jeweiliges) Ich. Und aus der Perspektive dieses Ichs, die kein denkender Mensch je verlassen kann, ist das Gehirn dann bloß ein Gegenstand theoretischer Erkenntnis (eine zu bestimmende Erscheinung). In jeder Art von Interaktion oder Diskurs müssen sich die beteiligten Menschen, um rational zu urteilen und zu handeln, wechselseitig stets – jedenfalls auch und vorrangig – als Subjekte beurteilen und behandeln336, was ihnen der kategorische Imperativ bloß deutlich vorstellt337 (formuliert ausgehend von der Frage, wie überhaupt andere als Seinsaussagen logisch möglich sein könnten, vgl. A.I.1. und 2. und B.II.3.).

336  Da die reine Subjektivität in jedem Menschen (vgl. zur Raummetapher B. II.3.d) und e)) keine Erscheinung ist, kann sie nicht physikalisch erklärt werden (vgl. Fn. 287 und Fn. 293). Dementsprechend verstößt die Annahme, der Mensch (als Subjekt-Objekt-Einheit betrachtet) beginne durch einen Willensakt eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst, auch – entgegen Merkel (Willensfreiheit, S. 69, 70) – nicht gegen den physikalischen Energieerhaltungssatz, der (durch einen reinen Verstandesbegriff, vgl. Fn. 102) als allgemeines Naturgesetz nur auf ein System der Erscheinungen (das den Raum erfüllende Etwas) bezogen ist (vgl. auch Fn. 323). Es handelt sich bei der Beurteilung einer Begebenheit aus zwei Perspektiven nicht, wie Merkel schreibt, um „zwei Perspektiven der Erklärung“ für eine Erscheinung (von denen, so Merkel, eine falsch und zu streichen sei, a. a. O., S. 70), sondern: In einer (naturgesetzlichen) Erklärungsperspektive kommt der Mensch als handelndes Sub­ jekt gerade nicht vor, auch wenn er als solches vorausgesetzt ist als derjenige, der das Naturwissen schafft; in einer (ethischen und rechtlichen) Verhaltensbeurteilungsperspektive wird der handelnde Mensch als jeweiliger Anfangspunkt der zurechen­ baren Wirkungen seiner Handlungen betrachtet (was eben keine Erscheinungserklä­ rung nach Naturgesetzen darstellt). Wer auch letzteres naturgesetzlich erklärt haben wollte, der reduzierte menschliche Erkenntnis irrational auf bloße Erscheinungserklärung. Das bedingt auch das „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“, Kant, KpV, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstck., III. (AA S. 121). 337  Sofern in der Sekundärliteratur behauptet wird, Kant habe eine sogen. „ZweiWelten-Lehre“ vertreten, beruht diese Bezeichnung meist auf einem Missverständnis mit der Folge, dass die unlösbar scheinende Frage auftaucht, wie denn die phäno­ menale und die intelligible Welt sich zueinander verhalten. Dieser unglückliche Ausdruck sollte hingegen ganz vermieden werden. Gemeint ist bloß die Notwendig­ keit, zwei Perspektiven einzunehmen (dies ist auch gegenüber der kantischen Be­ zeichnung eines „anderen Standpunkts“, GMS, S. 109, die treffendere Bezeichnung, vgl. Fn. 288): Einerseits die nach allgemeinen Zustehensgesetzen (normativ) zu entwickelnde Lebenswirklichkeit der Menschen als Personen (also die erscheinende Welt demgemäß zu strukturieren) und andererseits – unter Beschränkung des Ver­ standes bloß auf Erscheinungsbestimmung – die naturgesetzliche Welterklärung (in welcher ein Sollen dann nicht vorkommt). Wer nun aber in letzterer Perspektive auch das Sollen selbst mitsamt der Implikationen als bloßes Phänomen erklären und ebenso die Subjektivität des Menschen vollständig in die Erscheinungserklärung einordnen will, der überhebt sich zwingend (und verwickelt sich mit sich selbst in Widersprüche).

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B. Auflösung der Aufgabe

Wie in theoretischer Hinsicht die ursprüngliche synthetische Einheit des Selbstbewusstseins das Mannigfaltige der Anschauungen durch Verstandes­ begriffe zu einem (ideell) einheitlichen Ganzen (System) ordnet und so aus etwas überhaupt ein Erkenntnisobjekt wird (objektive Erkenntnis und auch Einheit des Bewusstsein möglich ist, vgl. A.II.1.), so ist entsprechend im normativen Bereich durchgängig konsistentes (in sich widerspruchsfreies) verbindliches Urteilen nur möglich unter Voraussetzung eines (reinen) Selbstbewusstseins urteilend nach einem (dem) kategorischen Sollenssatz: Wer von sich glaubt, verbindliche normative Urteile (widerspruchsfrei) bil­ den zu können, der muss dabei Einheit des Bewusstseins in all (dadurch) seinen Sollensvorstellungen und somit einen einheitlichen Maßstab der Beurteilung voraussetzen und also glauben, nach einem (dem) kategorischen Imperativ zu verfahren. Naturwissenschaft ist so betrachtet eine zum Zwecke der Wirklichkeitserklärung rational-gebotene, allseitige Beschränkung des Gebrauchs des Ver­ standes auf Erscheinungsbestimmung338. Sobald sie sich aber verabsolutiert und die vorangegangene Beschränkung vergisst (anders ausgedrückt: die Erscheinungszusammenhänge beschreibende „Dritte-Person-Perspektive“ zur einzigen oder vorrangigen überhaupt erklärt), wird sie irrational. Angemerkt sei, dass derjenige, der sich zur Beschreibung des naturge­ setzlichen Zusammenhangs zwischen dem menschlichen Willen als Phäno­ 338  Vgl. bloß insoweit auch von Weizäcker, Weltbild der Physik, sinngemäß: Die (heutige) Physik habe zur Voraussetzung, von subjektiven Differenzen bewusst ab­ zusehen und nur auf objektive Beschreibung der Eigenschaften der Objekte (unab­ hängig von jeweiligen Zustand des Subjekts) zu gehen (S. 16). Die Einheit des Ganzen sei jedoch keine empirische Tatsache und unmöglich ein Gegenstand menschlicher Erfahrung (Weizäcker, S. 32: „… stets ein Glaube …“). Unter einer solchen Idee sei das Bemühen der heutigen Physik eine bewusste (und sinnvolle) Blickverengung, aus welcher jedoch niemals ein Anspruch auf das Zustandebringen vollständiger Erkenntnis der Welt (in jeder Hinsicht) erhoben werden könne. Anders ausgedrückt: Eine ganz weit gefasste Physik wäre die allgemeingültige und notwen­ dige Einordnung aller Besonderheiten in die Form einer Einheit, sodass diese eben dadurch (als Voraussetzung der allgemeingültigen Bestimmung aller Relationen der Gegenstände) eben mehr wäre, als bloß die Summe aller Besonderheiten (Weizäcker: „Mein Ich ist für mich noch in grundsätzlich anderer Weise ein Ganzes als alle Gegenstände äußerer Erfahrung …“, S. 22). So betrachtet bestätigt sich jedenfalls im Grundsätzlichen die in der KrV vorgestellte Erkenntnistheorie: Wir selbst haben die auch in theoretischer Hinsicht schon zur Erzeugung einer besonderen Erkenntnis notwendige Vorstellung eines Ganzen und können schon dadurch nicht als bloße Teile oder Elemente des Ganzen vollständig in dieses eingeordnet werden, weil dann auch die Vorstellung des Ganzen überhaupt ein Element desselben wäre und für uns das Ganze als solches und jede darin befindliche Besonderheit (unter Absehung unserer Vorstellung davon) gar nichts mehr (sondern alle unsere Vorstellung bloßer Schein). Eigentlich banal: Wenn man alle Begriffe als solche negierte (alle Vorstel­ lungen materialisierte), dann begriffe man gar nichts.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes239

men und Gehirnprozessen der „Ersten-“ und der „Dritten-Person-Perspek­ tive“ (im Sinne der grammatischen Personen-Kategorie) bedient, schon durch Analyse seiner Ausdrucksweise die vorausgesetzte Verstandesbeschränkung auf Erscheinungsbestimmung erkennen kann. Schon in der Aufteilung der Perspektiven der Beschreibung des – als letztlich identisch behaupteten – Gegenstands als solcher ist impliziert, dass der so Auftei­ lende selbst wiederum außerhalb dieser vorgenommenen Einteilung der Beschreibungsperspektiven steht mit dem Anspruch, aus einer übergeordne­ ten Perspektive Zugang zum Gegenstand der Erkenntnis (einer Erschei­ nung) zu haben: Das Selbstbewusstsein des Menschen eröffnet ihm die Möglichkeit, menschliches Bewusstsein, Denken, Wollen und willentliches Bewegen – soviel daran Gegenstand der Anschauung sein kann – zum Gegenstand der Naturforschung zu machen. Naturforschung muss sich insoweit nicht auf die Betrachtung der erlebten / geschilderten Innenansichten des Menschen als Probanden der Psychologie beschränken. Der Zusammenhang von Bewusst­ sein, Denken, Wollen und Körperbewegungen einerseits und neuronalen (Hirn-)Prozessen andererseits kann auch untersucht werden, indem korrelie­ rende neuronale Prozesse (hypothetisch) als naturgesetzliche Ursachen von Bewusstsein, Denken, Wollen und Körperbewegung betrachtet und ggf. beschrieben werden (spezielle Neurophysiologie / Biochemie / Physik). Das setzt jedoch voraus, dass der Mensch sich dabei insoweit zum bloßen Gegenstand der Erkenntnis nimmt und also vom Subjekt der Vorstellungen, des Denkens, Wollens und willentlichen Bewegens (Handelns) bewusst abstrahiert, wobei ein solches selbstverständlich stets vorausgesetzt ist. Irrational wäre hingegen die Annahme, neuronale Prozesse schafften als Subjekte an und für sich selbst Naturwissen, in welchem etwa das mensch­ liche Bewusstsein lediglich ein eingeordneter Gegenstand wäre. Der Beobachter eines Zusammenhangs etwa zwischen dem Phänomen des menschlichen Willens und (korrelierenden) Hirnfunktionen aus einer – be­ wusst gewählten – „Dritte-Person-Perspektive“ ist also in seinem Selbstver­ ständnis nicht ein neuronaler Prozess oder dessen bloße Wirkung, sondern derselbe Autor, der gemäß seiner Aufgabenstellung die Beschränkung der (jeder) Ich-Perspektive auf Erscheinungsbestimmung vorgenommen hat, gerade indem er diese Perspektive (hypothetisch) in einen naturgesetzlichen Kausalzusammenhang mit neuronalen (Hirn-)Prozessen gesetzt hat. Der Beobachter (Dritte-Person-Perspektive) ist also dem eigenen Selbstverständ­ nis nach ein Jemand, der beide Perspektiven der Gegenstandsbeschreibung – nämlich aus einer „Erste-Person-Perspektive“ zu denken, zu wollen und zu „handeln“ sei aus einer „Dritte-Person-Perspektive“ eine kausal determinier­ te und determinierende Hirnfunktion oder deren bloße Folge – in sich ver-

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B. Auflösung der Aufgabe

eint und dabei selbst nicht bloßer Gegenstand der jeweils vorgenommenen Beschreibungen ist. Nur unter Voraussetzung dieser – durch die Verbindung einer Ich-Pers­ pektive mit neuronalen Prozessen nach Naturgesetzen zum Ausdruck ge­ brachten – Beschränkung des Verstandesgebrauchs auf Erscheinungsbestimmung aus einer letztlich übergeordneten (außenstehenden) Perspektive kann also etwa geurteilt werden, dasjenige, was das Haben der Vorstellungen a und b ist, sei neuronal realisiert / determiniert durch die Hirnprozesse x und y. Oder: Dasjenige, was das eigene Urteil a + b = c oder der gebildete Wille, c zu tun ist, sei neuronal realisiert / determiniert durch die Hirnpro­ zesse x, y und z. Diese Aussagen selbst lassen sich wiederum – sowohl durch den sie Treffenden als auch durch jeden anderen – zugleich als Urteile im Sinne der Verbindung von Vorstellungen in einem Bewusstsein beschreiben oder auch als Folgen neuronaler Prozesse. Sofern derartige Aussagen jedoch objektive Gültigkeit als eine naturwis­ senschaftliche Erkenntnis haben sollen bzw. dem jeweiligen Gegenstand selbst (empirisches Bewusstsein, Wille, Körperbewegung) die Eigenschaft der kausalen Determiniertheit durch biochemische Prozesse beigelegt wer­ den soll, ist gerade dessen verstandesgemäße Einordnung in die Form eines nicht materialisierbaren Bewusstsein als einheitlichem Bezugspunkt reiner Urteilsfunktionen vorausgesetzt, unter welchem ein Urteil über einen Natur­ gegenstand nur (den Anspruch auf) objektive Gültigkeit haben kann: Diese Einordnung impliziert gerade eine Trennung des Subjekts vom dadurch bestimmten Gegenstand der Erkenntnis (der Erscheinung). Der Mensch als derjenige, der Naturwissen im Sinne allgemeingültiger Gegenstandsbestimmungen schafft, kann dies nur unter Voraussetzung reiner Erkenntnisformen tun. Er kann somit niemals bloßer Gegenstand der Beschreibungen sein, sondern nur insoweit, wie die Naturwissenschaften diesbezüglich reichen können (d. i. soweit, wie der Mensch als Erscheinung betrachtet werden kann). Die Hirnforschung untersucht also nie das Selbstbewusstsein, das (Selbst-) Denken, das (Selbst-)Wollen oder die Selbstbewegung (Handeln), sondern lediglich – in vernunftgemäßer Verstandesbeschränkung auf Erscheinungs­ bestimmung – entsprechende Phänomene in Zeit und Raum, soweit dabei gerade von einem reinen Subjekt der Erkenntnis (einem Selbst) abstrahiert wurde bzw. werden kann. In praktischer Hinsicht überhaupt hingegen gilt: Mit der notwendigen Annahme, der Mensch sei in seinen willentlichen Bewegungen (auch) Subjekt und damit erster Anfang einer in der Folge



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes241

nach Naturgesetzen ablaufenden Erscheinungskette – d. i. die Annahme, der Mensch handele – ist stets die Annahme verbunden, der menschlichen Handlung seien nach Grundsätzen interpersonaler Verantwortungsbereichs­ abgrenzung (rechtsdogmatisch: objektiver Zurechnung) naturgesetzliche Folgen zurechenbar. Die Einheit von Handlung und zurechenbaren Folgen ist die Tat339. Ebenso ist damit die Möglichkeit verbunden, zwischen vor­ sätzlich herbeigeführten und nicht vorsätzlich herbeigeführten Folgen einer menschlichen Handlung zu unterscheiden und dadurch eine qualitative Dif­ ferenzierung sowohl im Rahmen von Unrechtshandeln als auch von ver­ dienstlichem Verhalten vorzunehmen (was auch durchgängig praktiziert wird). Mit der Beurteilung von Etwas als Tat eines Menschen ist also eine Zu­ rechnung (einer Kette) von Erscheinungen zu dessen Persönlichkeit oder Willen vorgenommen. Wenn darin vorsätzliches oder fahrlässiges äußerli­ ches Nehmen von der rechtlichen Habe eines anderen (Unrecht) und eine Missachtung der Person des anderen (schweres Unrecht) liegt, dann scheint es (in praktischer Hinsicht überhaupt) zunächst selbstverständlich, diese schwere rechtliche Verfehlung demjenigen vorzuwerfen, der sie begangen hat340. Ebenso erhält und erfährt richtigerweise für eine verdienstliche Tat 339  Sofern das Geschehen unter Gesetzen der Verbindlichkeit betrachtet wird (Kant, MdS, S. 223), wozu allerdings keine Alternative besteht; d. h.: Das durchgän­ gige Unterlassen dessen ist ohne (Selbst-)Widerspruch nicht möglich, vgl. B.II.3.b); vgl. auch Zeidler, Transzendentale Logik, etwa S. 132: „… so ist die Vernunft 1) als Vermögen der Prinzipien und der Schlüsse, ihrer transzendentallogischen Form nach, den Relationskategorien gemäß bestimmt, ist 2) ein unabgeleitetes Grundvermögen, das uns in unserer moralischen Selbstbeurteilung unmittelbar verpflichtet, und das uns 3) regulative Prinzipien der Systematisierung der mannigfaltigen Verstandes­ erkenntnisse an die Hand gibt“. 340  Vgl. Kant, MdS, S. 226–228 sowie B.II.3.b). In praktischer Hinsicht über­ haupt ist jedenfalls die Alternative des Unterlassens der Unrechtstat als möglich vorauszusetzen. Dass Neigungen eines jeden Menschen auch für diesen selbst jeden­ falls teilweise zufällig (nicht willentlich selbst durchgängig herbeigeführt) sind, ist ebenso eine Selbstverständlichkeit, wie der Umstand, dass man Triebe und Gefühle als biochemisch-ausgelöst beschreiben kann. Damit wird aber gar nicht in Frage gestellt, dass durch jeden und hinsichtlich jedes Menschen notwendig (unter dem kategorischen Imperativ zu beurteilende) personal-willentliche Akte der Zustimmung oder Ablehnung zu seinen Neigungen bzw. deren Auslebung sowie der (Nicht-)Aufnehmung von möglichen Zwecken in Maximen zu denken sind. Die Formulierung des § 20 StGB, wonach Schuldfähigkeit nicht positiv definiert wird, sondern – le­ diglich negativ – mehr oder weniger bestimmte Ausschlussgründe benannt werden, nimmt dies auf. Das Schuldmaß ist zu schätzen danach, welche Hindernisse der Pflichterfüllung entgegengestanden haben (wobei der Umstand, dass der Mensch auch Naturwesen ist, als solcher eben normativ kein Hindernis darstellt, siehe je­ doch Fn. 341). Wenn Merkel annimmt, ebenso wie die Eigenschaft der Farbe eines geworfenen Steins keine Kausalität für eine Beule am davon getroffenen Objekt

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B. Auflösung der Aufgabe

der Urheber an sich – und nicht nur sein Gehirn in Wechselwirkung mit den sonstigen Umständen – Anerkennung. Gewiss ist es Merkels Verdienst, durch sein kritisches Werk den Fokus schärfer auf das für die strafrechtliche Schuldmaßbeurteilung genauer zu fassende Zusammenspiel von (notwendiger) Verantwortlichkeitsannahme in Bezug auf den Menschen und physiologischer Verfassung desselben gerich­ tet zu haben341. Den nicht-unmittelbar-materialen Ansatz normativen Urtei­ lens fechten Bezugnahmen auf hirnphysiologische Vorgänge und deren Be­ deutung für unser Erleben jedoch weder in den Grundlagen noch in der resultierenden Annahme der Möglichkeit individueller Schuld342 an.

zukomme, sei das „intelligible Vermögen des Menschen – entgegen Kant – kausal irrelevant“ (S. 70), dann ist diese beispielhaft gebildete Analogie schief (Merkel selbst hält sie für zwar „nicht exakt … aber … zulässig“, dort Fn. 105): Die durch das menschliche Erkenntnisvermögen selbst hervorgebrachte Annahme, der Mensch sei notwendig auch intelligibler Charakter bzw. als (transzendental-)frei (als nicht nur Naturwirkung) zu betrachten, wird demselben zugleich als Voraussetzung von Erkenntnis (verbindliches Denken und Handeln) vorgestellt und ist damit eine nie gänzlich ausblendbare Perspektive (anders als die empirische Eigenschaft der Farbe des geworfenen Steins in Ansehung der Kausalität für die Beule). 341  Knapp gesagt bleibt vor diesem Hintergrund durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft noch folgende normative Frage genauer zu beantworten: Wel­ ches So-Sein wirkt aus welchen Gründen schuldmindernd, welches nicht? Das hat jedoch gemäß dem dargelegten Ansatz zu geschehen. Nicht von der Hand zu weisen ist zwar Kants Annahme (KrV, S. 373, dortige Fußnote), dass „die eigentliche Mo­ ralität der Handlungen (Verdienst und Schuld)“ unmöglich – nicht einmal in Selbst­ beurteilung bezüglich unseres eigenen Verhaltens – exakt beurteilbar ist, sodass „niemand … nach völliger Gerechtigkeit richten“ könne. Trotzdem sind viele der in Rechtsprechung und Wissenschaft entwickelten Kriterien zur Schuldbestimmung in Bezug auf die jeweilige Tat (sowohl dem Grunde nach, §§ 19, 20 StGB, als auch betreffend den Umfang, §§ 21, 46 StGB sowie die Entschuldigungsgründe, etwa §§ 17, 33, 35 StGB) nach diesem Ansatz herleitbar bzw. ergeben sich daraus (vgl. etwa Helmers, HRRS 2 / 2016, S. 90 ff.). Dieses Bemühen muss fortgesetzt und die Kriterien begrifflich auf eine Linie gebracht werden. 342  Vielmehr hätten wir, wenn wir keinen Begriff individueller Schuld hätten, gar keinen Begriff von Schuld. Insofern liegt in Merkels – unter Strafrechtlern nicht unüblichen – Ausdrucksweise der „Zurechnung“ oder „Zuschreibung von Schuld“ (Willensfreiheit, S. 63 und S. 112, 118) zumindest eine Ungenauigkeit: Verantwort­ lichkeit ist Konsequenz der Annahme eines handelnden Subjekts (Person). Verant­ wortlichkeit für (schweres) Unrechtshandeln ist Schuldigsein (im Rechtssinne). Es gibt also keinen Begriff von Schuld losgelöst von der Person, sodass etwas unmöglich zunächst als „Schuld“ bestimmt und erst dann – in einem weiteren Akt – einem Subjekt bzw. Menschen „zugeschrieben“ oder „zugerechnet“ werden kann. Dement­ sprechend wird auch der – mit „Zuschreibung von Schuld“ wohl synonyme – Aus­ druck „Jemandem die Schuld für etwas geben“ gerade verstanden als unbegründetes Zuschieben im Sinne eines Ablenkens von der wahren (eigentlichen) Verantwortlich­ keit.



II. Verdeutlichung des nicht unmittelbar-materialen Ansatzes243

5. Fazit Recht definiert das Zustehen von Etwas zu Jemandem. Jemand ist ein Subjekt, die Person. Rechtliches Zustehen bedeutet, von anderen Subjekten bzw. Personen notwendig als zum Inhaber und dessen Willen gehörend anerkannt zu werden. Somit ist Recht stets ein interpersonales Verhältnis. Der Mensch ist die einzige Person, die wir kennen bzw. die wir als wirk­ lich (daseiend) annehmen müssen. Das heißt: Ein menschlicher lebendiger Körper steht dem – bloß metaphorisch ausgedrückt – darin oder „dahinter“ (Kant) notwendig zu denkenden Subjekt zu (wirkliche Person als SubjektObjekt-Einheit)343. Ein Rechtssystem ist demnach eine Gesamtheit von Normen, die ange­ ben, was dem einen im Verhältnis zum jeweils anderen zusteht. Das, was man als Menschenrechte bezeichnet, sind die elementaren Zustehens- bzw. Anerkennungsnotwendigkeiten wie jedes Menschen Recht auf Leben, kör­ perliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung etc. Alle unmittelbar-materialen Ansätze, etwa utilitaristische Positionen, im­ plizieren etwas Irrationales: Die Annahme, das Angenehme sei das Gute und das Unangenehme sei das Schlechte oder gar Böse, sodass Wohlmaxi­ mierung (auch durch Übelvermeidung) das Ziel allen Handelns ist und sein soll344, macht es unmöglich, allgemeingültige und notwendige, durch strikte Verbotsgesetze formulierte interpersonale Zustehensbeziehungen (grundle­ gende Anerkennungsbeziehungen betreffend das äußere Verhältnis) zu den­ ken. Aus der Perspektive jedes Einzelnen – einer Perspektive, aus der sich kein Mensch lösen kann – ist etwa mit dem utilitaristischen Versuch der Festlegung bzw. der Behauptung des Festgelegtseins auf Glücksstreben schon wenig bis gar nichts mehr als eine absolute Banalität ausgesagt, näm­ lich das Angenehmes sich meistens oder immer besser anfühlt, als Unange­ nehmes. Der Übergang zum Sein-Sollen bzw. zur stetigen Unterordnungs­ aufforderung unter ein vermeintlich „allgemeines Glück“ ist unplausibel. Damit ist nicht das allen gemeine Glück im Sinne einer vollkommenen 343  Lediglich juristische (nicht-auch-natürliche) Personen haben als bloße Gedan­ kendinge nur Bedeutung, wenn man ihnen eine Funktion bzw. einen Nutzen bei der Organisation des rechtlichen Verhältnisses der Menschen zuweisen kann: Der Staat etwa als gedachtes Subjekt ist notwendiges Rechtsdurchsetzungsinstrument (siehe A.II.5.); andere juristische Personen wie eingetragene Vereine und Gesellschaften etwa sind Wirtschaftsverkehrserleichterungsinstrumente. 344  Dies ist eine normative Prämisse, die viele Vertreter eines materialen Ansatzes gerade kritisch gegen von ihnen für irrational gehaltene objektiv-teleologische An­ sätze einführten.

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B. Auflösung der Aufgabe

Harmonie aller Beteiligten gemeint, worunter sich sowieso keiner zwingen bräuchte. Sondern hierdurch versuchen Utilitaristen, anderen Menschen eine nach der Ausgangsprämisse unmöglich als notwendig auszuweisende Unter­ werfung als Pflicht unterzuschieben, um ihnen die Unterordnung unter eine die Gesellschaft nach einem Gesamtnutzenkalkül steuernde Gruppe345 auf­ zuhalsen. Es ist jedem zu empfehlen, dies nicht zu glauben; denn mit Pflicht im Sinne einer vernunftgemäßen Selbstnötigungsnotwendigkeit hat das nichts zu tun. Dasselbe gilt bezüglich jeder aus einem bedürfnisabhängigen Ansatz entspringende Anratung (etwa zur Sicherung des Lebens sich einem absoluten Herrscher zu unterwerfen). Intellektuell nicht bloß näher liegend, sondern vernunftnotwendig ist der Glaube an sich selbst auch im Sinne der Annahme, es stehe mir selbst (als Subjekt) etwas im Verhältnis zu allen anderen – für diese ohne meinen Willen unverfügbar – zu, wie diesen anderen (wechselseitig) auch (also nach einem allgemeinen Zustehensgesetz). Die Beschränkung der jeweiligen Willkür auf die Zusammenstimmung mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz ist rechtlich-notwendig (vernunftnotwendig und damit für den Menschen ein kategorischer Imperativ). Wer bei sich selbst und dem anderen Menschen als jeweiligem Zustehenssubjekt (grund­ gleichem Rechtssubjekt) ansetzt, um Zustehensbeziehungen auch-anschau­ lich nach einer allgemeinen Regel zu konstruieren, der bejaht damit notwen­ dig das unbedingte bzw. das nur auf eigene personale Akte346 bedingte Zustehen jedes menschlichen Körpers (der darin enthaltenen Materie) zu dem – mit Kant raummetaphorisch gesprochen – „dahinter“ zu denkenden immateriellen Subjekt. Und entgegen eines des Öfteren geäußerten Missver­ ständnisses betreffend die kantische Ethik und Rechtsbegründung ergeben sich diese Inhalte aus dem kategorischen Imperativ in Form der Konstruk­ tion des Rechtsbegriffs bzw. sind Implikationen desselben: Dieses Konzept ist weder inhaltsleer, noch dürfen ihm – entgegen etwa Hegels Auffassung – externe materiale Prämissen untergeschoben werden (was alles vernichtete, weil das Konzept letztlich auf eher undurchsichtige Weise zu einem unmit­ telbar-materialen würde, wie dies bei Hegel der Fall ist, dazu B.II.2.). Was die Möglichkeit und den etwaigen Inhalt eines Notstandsrechts an­ geht, hat sich soweit schon Folgendes gezeigt: Nur nach einem unmittelbarmaterialen Ansatz der Konstitution von Sollensbehauptungen ist die Annah­ me eines Notstandsrechts intern unproblematisch bzw. selbstverständlich, weil demnach das Angenehme (Wohl) bzw. Unangenehme (Übel) für diesen 345  Oder

„Elite“, wozu sich die meisten Utilitaristen wohl selbst zählen. Akte in diesem Sinne sind etwa vertragliche Willkür-Übertragungen (Vertrag / Einwilligung), aber auch rechtswidrige Angriffe, die eine physisch ein­ schneidende, aber rechtmäßige Reaktion bewirken. 346  Personale



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten245

oder jenen der jeweils ausschlagegebende Umstand ist, die der Notstands­ rechtsbehauptung korrespondierende Sollensbehauptung zu bilden. Wenn in einer besonderen Situation für viele Menschen Leid droht, werden deren Interessen der Leidvermeidung ausgelebt, sofern die Folgen dessen für an­ dere mit qualitativ oder wenigstens quantitativ weniger einschneidenden empirischen Nachteilen verbunden sind. Das kann als Ergebnis eines „Abwägungs“-Prozesses ausgegeben werden. Der Mensch als Person im Sinne eines für sich berechtigten Subjekts kommt dabei nicht vor, weil das prinzipielle Abhängigmachen des Zustehens von Etwas zu Jemandem vom sinnlichen Begehren anderer nicht mit den Implikationen dieses Begriffs zusammenstimmt. Das ist eben auch der Grund, weshalb materiale Ansätze untauglich zur Erzeugung des Pflichtbegriffs und also auch untauglich zur Konstitution wahrer Sollensbehauptungen im eigentlichen Sinne (Pflichtbe­ hauptungen) sind. Eben deshalb verdienen auch die unmittelbar-materialen Notrechtsannahmen nicht die Bezeichnung als Recht. Nur ein nicht-bedürfnisabhängiger (nicht unmittelbar-materialer) Ansatz eröffnet die Möglichkeit der Begründung eines Rechtssystems. Eine zwi­ schen diesen Ansätzen liegende Möglichkeit der Erzeugung von verbindli­ cher Normativität – etwa gemäß dem Anspruch Hegels – besteht nicht. Jede Stellungnahme in Rechtsfragen impliziert dunkel eine Stellungnah­ me in dieser Grundfrage. Eine demgegenüber souveräne „Metaethik“ ist ohne Sinn. Fraglich bleibt nach alledem also, ob und ggf. mit welchem Inhalt ein Notstandsrecht im Sinne einer Veränderung der Zuordnung von Gegenstän­ den (Objekten) zu Personen (Subjekten) bloß aufgrund von – aus der Pers­ pektive aller Betroffenen – zufälligen Umständen ein Element eines solchen wirklichen Rechtssystems sein kann oder gar muss347.

III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten Ist nach einem allgemeinen, nicht-bedürfnisabhängigen Zustehensgesetz (Gesetz der Freiheit) ein Notstandsrecht formulierbar? Oder anders gefragt: Ist eine (in bestimmter Weise qualifizierte) Notlage eine hinreichende Be347  Wenn, wie in vielen Auseinandersetzungen der Fall, eine Notstandsrechtferti­ gung überhaupt als begriffliches Problem betrachtet wird, dann verweist der impli­ zierte Zweifel an der Möglichkeit auf einen bedürfnisunabhängigen Maßstab der rechtlichen Beurteilung bzw. auf die Wirksamkeit von nach dem kategorischen Im­ perativ bzw. dem Rechtsbegriff zu bildenden allgemeingültigen Zustehensbegriffen. Die Konsequenzen dessen werden allerdings häufig nicht gezogen; zur Kritik einiger Stellungnahmen zum Notrechtsthema aus der Rechtswissenschaft siehe noch unten.

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B. Auflösung der Aufgabe

dingung des einseitigen rechtlichen Zugriffs des notleidenden Menschen auf ansonsten anderen Menschen zustehende Güter, wenn die Notlage für den unmittelbar Betroffenen anders nicht abwendbar ist und obwohl die Not(lagen)entstehung auch aus der Perspektive der dann von der Notstands­ tat betroffenen (anderen) Menschen zufällig ist? Geklärt ist soweit schon, dass ein solches etwaiges Notstandsrecht jeden­ falls nicht – wie etwa in § 34 StGB – als eine „Abwägung“ bestimmter Güter oder Interessen zu formulieren wäre. Ein sich nur nach unmittelbarmaterialen – bedürfnisbasierten und demgemäß irrationalen – Normativitäts­ konzepten ergebendes Abwägungsdenken ist vom Tisch. Denn: Eine „Ab­ wägung von Rechtsgütern“ ist logisch-unmöglich, dieser Gedanke enthält einen Widerspruch. Die Qualifikation von etwas als „Rechtsgut“ bedeutet eben das Zustehen (das rechtliche Zugeordnetsein) dieses etwas zu Jeman­ dem. Wenn dem so ist, ist eine dieses in Frage stellende Abwägung dazu widersprüchlich. Eine „Abwägung von Interessen“ mag man hingegen durchführen, soweit es nur auf das Belieben ankommt348. Was aber Rechtsfragen angeht, so geht es um elementare Respektierungs­ notwendigkeiten bzw. stets um die Frage, was dem einen im Verhältnis zum jeweils anderen äußerlich zusteht, d. h. um dasjenige, was einer Person ge­ rade nicht bloß bedingt auf das Interesse eines anderen daran als ihres zugeordnet ist. Wenn es ein Notstandsrecht geben könnte, dann müsste dieses als prinzi­ pielle (allgemeine) Bedingung von Verboten formulierbar sein: Wäre eine prinzipielle Bedingung von Verbotsformulierungen auf (dann näher zu qua­ lifizierende) Notstandssituationen so möglich, dass der gesamte Satz ein allgemeines, nicht-bedürfnisabhängig formuliertes Zustehensgesetz (Gesetz der Freiheit) sein kann, dann wäre ein Notstandsrecht möglich. Wäre eine solche Notstands-Bedingung von Verbotsformulierungen sogar erforderlich, um die jeweilige Verbotsformulierung erst zu einem wirklich allgemeinen Rechtsgesetz zu machen, also das jeweilige abstrakte Verbotsgesetz letztlich bloß zur Vollständigkeit zu ergänzen349, dann wäre insoweit ein Notstands­ 348  Beispielsweise: Bei einer Wohnungssuche sollte man die Vor- und Nachteile der Angebote abwägen, um eine für seine Zwecke / Präferenzen bestmögliche Woh­ nung aus dem in Frage kommenden Angebot (im Rahmen der realisierbaren Mög­ lichkeiten) zu finden. Zur Klärung von materiellen Rechtsfragen ist „Interessenab­ wägung“ verfehlt, weil es rechtlich gar nicht in entscheidungserheblicher Weise um eigene oder fremde Interessen geht (die zudem ausgerechnet dem sie abwägenden Juristen bekannt sein müssten). 349  Etwa das Verbot „Du darfst nicht töten“ (Einen Menschen zu töten ist un­ recht) ist so abstrakt kein Rechtsgesetz, weil der Satz so nicht allgemeingültig ist,



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten247

recht sogar notwendig. Das bedeutet zugleich: Wenn es ein Notstandsrecht und also dementsprechend eine Notbedingung der Zuordnung von Etwas zu Jemandem nach einem allgemeinem, beim Subjekt „im“ bzw. „hinter dem“ Menschen (siehe zur Raummetapher oben) ansetzenden, Zustehensgesetz geben könnte, dann müsste dies so formulierbar sein, dass rechtlich durch die Notstandstat niemand etwas verliert, weil es ihm unter den eingetrete­ nen Bedingungen – der zufälligen Not eines anderen und dessen Willen zur Abwendung der Not – eben rechtlich gar nicht zusteht. Und auch das Folgende ist soweit schon geklärt: Wenn der dargestellte Ansatz der Konstitution von Pflichtbehauptungen der einzig-taugliche ist, den Übergang von Seinsaussagen zu allgemeingül­ tigen Sollensbehauptungen zu vollziehen (der begrifflich-einzig-mögliche, ohne sich an irgendeiner Stelle selbst zu widersprechen und die Unwahrheit zu behaupten), folgt daraus noch etwas sehr Wichtiges: Der Staat ist dem­ nach ein notwendiger Rechtsbegriff, gerade weil er (seine Notwendigkeit) abgeleitet ist aus dem interpersonalen rechtlichen Grundverhältnis der Men­ schen. Das heißt, der Staat in der Idee (wie er sein soll) generiert nicht originär Rechtsbeziehungen zwischen den Menschen350, sondern setzt beste­ hende (vorstaatlich bzw. abstrahiert vom Staat zu denkende) Rechtsverhält­ nisse durch. Insofern kommt es auch für die Frage nach Möglichkeit und Inhalt eines Notstandsrechts primär darauf an, ob sich ein solches im interpersonalen Grundverhältnis denken lässt oder nicht (dazu 1.). Soweit das nicht der Fall ist, könnte ein inhaltlich weitergehendes Not­ standsrecht ggf. noch insoweit in Betracht kommen, wie es sich als notwendiger Inhalt des ideellen Staatsbegründungsaktes denken ließe. Eigent­ sondern zumindest zu ergänzen durch den Zusatz „…, es sei denn, die Tötung ist das erforderliche (und gebotene) Mittel zur Abwendung eines gegenwärtigen rechts­ widrigen Angriffs“ (Notwehrrecht). Sofern es ein Notstandsrecht gäbe, müsste dieses ebenso als prinzipielle Bedingung abstrakter Verbotsformulierungen – welche stets den Inhalt haben „Du darfst dem anderen x nicht nehmen, sondern hast es ihm als seines zu lassen“ – formuliert werden können bzw. würde es die Verbotsformulie­ rung durch die Hinzufügung der Verbotsbedingung erst zum wirklich allgemeinen Rechtsgesetz machen. 350  Zwei Hinweise zur Sicherheit vor Missverständnissen: Erstens entstehen selbstverständlich etliche besondere Unterlassungspflichten nur im und insofern durch den Rechtsstaat; sie folgen aber aus dem allgemeinen Rechtsprinzip in Be­ zug auf die Wirklichkeit im Staat von selbst (vgl. Fn. 391). Zweitens: Selbstver­ ständlich kann und muss der wirkliche Staat auch wie eine Privatperson bzw. als Privatperson handeln und zivilrechtliche Sonderschuldverhältnisse begründen, etwa Verträge schließen; insoweit werden privatrechtliche Sonderschuldverhältnisse be­ gründet, bei denen der Staat je nachdem Schuldner oder Gläubiger ist. Solches nicht-hoheitliche Handeln ist aber nicht die hier interessierende eigentliche Staats­ aufgabe.

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B. Auflösung der Aufgabe

lich selbstverständlich ist, dass bei der Bestimmung des Inhalts des ideel­ len Staatsbegründungsaktes ausschließlich die diesem Akt – der nur zur Veranschaulichung überhaupt entsprechend einem Vertrag zu denken ist351 – die nach seinem Wesen bzw. seiner Funktion notwendig innewohnenden Inhalte aufzusuchen sind: Nur solche können GrundverhältnisRechtspflichteninhalte erweiternde bzw. ergänzende Pflichtinhalte werden (dazu 2.). Andernfalls würde die gesamte grundbegriffliche Rechtskonst­ ruktion bzw. -herleitung nivelliert bzw. in ihrer Bedeutung vernichtet oder gar konterkariert352. Die erste Frage nach Möglichkeit und etwaigem Inhalt eines Notstands­ rechts im rechtlichen Grundverhältnis der Menschen ist zunächst zu beant­ worten. 1. Zum interpersonalen Grundverhältnis: Möglichkeit oder gar Notwendigkeit der Bedingung des Zustehens von Etwas zur Person auf der Person externe Umstände? Die im Folgenden dargestellte Notstandsrechtstheorie ist bloß die Kon­ sequenz der dargestellten Rechtsbegründung bzw. der Konstruktion des Rechtsbegriffs. Insofern liegt es nicht fern, anzunehmen, dass diese Über­ legungen dunkel (unformuliert) schon den einzelnen konkreten verneinen­ den oder bejahenden Notstandsrechtsurteilen Kants (siehe A.II.7.) zugrunde lagen. Bei der Antwort auf die Frage, ob ein Notstandszugriff auf an sich ande­ ren zustehende Güter mit der „Idee der Würde“ des Menschen konform ist, die bedeutet, dass eine Person „keinem Gesetz zu gehorchen“ hat, als dem, „das es zugleich gibt“ (Kant, GMS, S. 434, 435), ist wie folgt zu differen­ zieren:

351  Denn es ist kein Belieben des Einzelnen, ob dieser (vermeintliche) „Vertrag“ geschlossen wird oder nicht, sondern er ist zu schließen bzw. er ist als notwendiggeschlossen zu betrachten, siehe dazu oben A.II.5. mit Fn. 200 und B.II.3.e) und noch unten B.III.2. 352  Wer beispielsweise annähme, man könne sich doch denken, dass alle Men­ schen bei der Staatsbegründung einander versprechen / versprochen haben, sich wechselseitig stets zu grüßen, sodass dies auch vom wirklichen Gesetzgeber als Rechtspflicht festgeschrieben werden könne und das Unterlassen des Grüßens somit Unrecht sein und legitim sanktioniert werden könne, der hätte den gesamten Gedankengang missverstanden. Siehe dazu noch unten B.III.2.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten249

a) Das der Person ursprünglich Zustehende Die Annahme ursprünglicher Rechte („inneres Mein“) ist die Annahme der Unmöglichkeit eines einseitigen rechtlichen Zugriffs anderer auf diese Materie aufgrund von – der Person des anderen – externen Umständen: Bei der Konstruktion des Rechtsbegriffs (siehe oben B.II.3.c)–e)) zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Materie, die der lebendige Körper eines Menschen ist, nur diesem (als immateriellem Subjekt) zusteht. Dieses Urteil ist gar nichts anderes als das Urteil auf die Existenz einer Person (die An­ nahme des Daseins einer wirklichen Person). In einem als „Reich der Natur“ zu konstruierenden „Reich der Zwecke“, zwischen selbstgesetzgebenden Gliedern, kann nicht das menschliche Leben (die Gesamtheit eines menschlichen lebendigen Körpers) oder Teile des menschlichen Körpers und auch nicht der empirische Wille (als Phänomen) unmittelbar dem anderen – und sei es nur für Notfälle – zugeordnet sein. Insoweit ist ein Notstandszugriff also rechtlich unmöglich. Die gegenteilige Annahme bedeutete, dem gesamten Konzept eine unmittelbar-materiale Basis unterzuschieben und das hieße: Das zur Ethik- und Rechtsbegründung einzig taugliche Konzept zu vernichten (siehe oben B.II.3.a)). Sie implizierte den irrationalen, übermenschlichen Standpunkt eines zuständigen Weltarchitek­ ten, Marionettenspielers oder Schöpfers, der seine Werkzeuge, Spielzeuge oder Geschöpfe nach bloß seiner Vorstellung – sei es nach Gesamtnutzenkal­ kül oder nach welchem auf sinnlichem Begehren gründenden Plan auch im­ mer – ummodeln kann, indem er den menschlichen Körper oder Elemente (Inhalte) dessen einem anderen Menschen oder sonstigen von ihm für wert­ voll gehaltenen Gütern (und sei es in besonderen Situationen) zur Verfügung stellen bzw. opfern kann, weil er diese verschobene Materie eigentlich als seine betrachtet. Als Zwecke an sich selbst bzw. als Würdeinhaber (Gegen­ stände, denen ein absoluter innerer Wert innewohnt) könnten die Menschen dabei nicht gedacht werden. Anders ausgedrückt: Jegliche Bedingung der Zu­ ordnung von zum „inneren Mein“ gehörender Materie zum Subjekt auf exter­ ne Umstände widerspricht der Annahme ursprünglicher Rechte. Denn das sind gerade nicht auf Bedürfnisse anderer oder überhaupt auf externe Um­ stände bedingte Zustehens-Annahmen. Schon der Personenbegriff impliziert das und schließt ein Notstandsrecht zum Zugriff auf „angeborene“ Güter aus. Gerade die Unbedingtheit der Zuordnung eines lebendigen menschlichen Körpers inklusive der Willensbildungs- und bloß auf die Zusammenstimmung mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz bedingte Willensausübungsmöglichkeit zu einen immateriellen Subjekt („hinter“ der Erscheinung) ist ein den Begriff der wirklichen Person auszeichnendes Merkmal (siehe B.II.3.e)).

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B. Auflösung der Aufgabe

Der menschliche Körper oder die darin bzw. dadurch realisierte Willens­ betätigung ist anderen nicht a priori gegeben und kann also von diesen auch nicht anders als durch Vertrag (abgeleitet vom Willen des Innehabers) er­ worben werden353 (vgl. oben B.II.3a)–f)). Außerhalb von Einwilligung und Notwehr354 sind rechtliche Zugriffe auf diese Materie im rechtlichen Grundverhältnis absolut unmöglich: Der menschliche Körper und alle Bestandteile dessen, inklusive des Willens, sind als potentielle Zugriffsgegenstände nicht notstandsfähig. Mit seiner im Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre getroffenen tau­ tologischen Aussage, es könne „keine Not geben, welche, was Unrecht ist, gesetzmäßig machte“, meint Kant der Sache nach genau dieses: Nach der Konstruktion des Rechtsbegriffs ist die Unmöglichkeit der Annahme, zufäl­ lige Not einer oder mehrerer Personen würde die Zuordnung angeborener Güter (das „innere Mein“) interpersonal verändern, leicht einzusehen. Die Weise der Rechtsbegriffskonstruktion (§ E MdS), das ist die Darstellung der Mindestbedingungen eines wirklichen rechtlichen Personenverhältnis­ ses, stellt Kant unmittelbar vor seinen knappen Ausführungen zur Möglich­ keit eines Notstandsrechts im Anhang zur Einleitung der Rechtslehre dar. Insofern sind die für sich genommen wenig aussagekräftigen Anmerkungen Kants zu einem etwaigen Notrecht im Anhang in diesem ihrem Kontext zu lesen. Das übersehen etwa Kühl und Küper, wenn sie meinen, Kant habe ein Notstandsrecht im Sinne einer Veränderung der konkreten Gegen­ standszuordnung durch zufällige Not einer oder mehrerer Personen über­ haupt abgelehnt (siehe dazu oben A.II.7.): Hier geht es nur um „angebo­ rene“ Güter (inneres Mein); diesbezüglich enthielte die Annahme eines Notstandsrechts in der Tat „einen Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst“355. 353  Dem lebendigen menschlichen Körper zugeführte Nahrungsmittel verlieren ebenso wie in den Körper integrierte Implantate die Sachqualität; diese Gegenstände werden dann Bestandteile des Körpers (als Einheit; ausführlicher dazu noch B.V.2.a)). Insofern ist der Terminus der „angeborenen“ Güter selbstverständlich metaphorisch zu verstehen. Das „existentiell bedeutsame leibliche Potential“ kann – wie Köhler herausstellt – niemals Gegenstand eines Tauschvertrags sein, sodass insoweit sogar Grenzen der Wirksamkeit einer faktischen Einwilligung bezüglich des Zugriffs an­ derer bestehen (nämlich bei grober Unvernunft des Einwilligenden im Selbstverhält­ nis, z. B. bei Vereinbarung einer unselbständig machenden Ausschlachtung des ei­ nen), vgl. Köhler, Rechtspflicht gegen sich selbst, S. 445; derselbe, AT, S.  255 ff.; zur Bezeichnung des im Selbstpflichtverhältnis liegenden Grundes einer solchen Grenze vgl. Fn. 315. 354  Bei Notwehr und Einwilligung liegt der Zugriffsgrund letztlich im vom Zu­ griff betroffenen Subjekt selbst, entweder als autonome Einwilligungserklärung oder als rechtswidriger Angriffsakt, der die erforderliche Verteidigung als Reaktion zur rechtmäßigen Folge hat (vgl. insoweit schon A.II.3.).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten251

Wenn Kant schreibt, die Neigungen könnten (zumindest unmittelbar) nicht als Quellen von Zustehensbeziehungen dienen, denn es sei „der Wert aller durch unsere Handlung zu erwerbenden Gegenstände jederzeit be­ dingt …“, so impliziert auch das – im Umkehrschluss – eben diesen Inhalt: Das der Person ursprünglich im Verhältnis zu anderen Subjekten Zustehen­ de (das „innere Mein“ bzw. die Annahme angeborener Güter) ist mit der Annahme des Daseins einer Person als einem Gegenstand von absolutem Wert notwendig der einseitigen Verfügung anderer entzogen. Die Weggabe solcher Güter zur Beförderung legitimer Glücksverfolgung anderer, etwa eine Blutspende oder eine sonstige aktive Hilfeleistung, kann wohl eine ethische Pflicht sein; deren Erfüllung ist aber jedenfalls mehr als das bloße Leisten des rechtlich Geschuldeten (nämlich verdienstlich); das Unterlassen der Weggabe angeborener Güter ist jedenfalls im unmittelbaren interpersonalen Grundverhältnis keine rechtliche Verletzung eines anderen im Sinne eines Nehmens von etwas diesem äußerlich Zustehenden356. b) Erworbene Güter (erst nach willentlichem Akt der Person zustehende Objekte) „Ich erwerbe etwas, wenn ich mache, dass etwas mein werde“ (Kant). Ursprünglich das Seine von Jemandem ist nur dasjenige, was die Person vor bzw. unabhängig von allem rechtlichen Akt überhaupt anschaulich dar­ stellt. Das ist deren Körper und alle darin enthaltene, zugehörige Materie („inneres Mein“: Körperintegrität, Handlungsfreiheit überhaupt)357. Demge­ genüber ist „nichts (ergänzt: besonderes, G. H.) Äußeres … ursprünglich 355  Wie es sich damit bezüglich (willentlich-)erworbener Materie verhält, bleibt insoweit noch offen (dazu sogleich b)). 356  Vgl. Kant, GMS, S. 428 ff.; zur Annahme einer ethischen, nicht-rechtlichen Hilfspflicht derselbe, ebenda, S. 423, 424. Zur rechtlichen Unantastbarkeit der kör­ perlichen Unversehrtheit gegenüber jedem Begehren eines „zwangssolidarischen Zugriffs“ gelangt auch von Freier, Humanforschung, S. 154 ff. Er inkorporiert je­ doch in den Begründungsgang hegelsches Gedankengut. Dies mag der Grund sein, weshalb bei von Freier die rechtsgrundbegriffliche Notwendigkeit der Herleitung nicht deutlich ausgewiesen wird. Auch stellt von Freier die Zugriffsgrenze der Sache nach wiederum in Frage, wenn es um einen „zwangssolidarischen“ Zugriff auf die Willkür einer Person zu einer Hilfeleistung geht (siehe von Freier, a. a. O., S.  190 ff.; vgl. zur Kritik auch noch Fn. 459). 357  Siehe dazu B.II.3. Diese Materie inklusive der Willkür eines anderen zur Tat kann nur abgeleitet von dessen Willen erworben werden, siehe oben a). Zur Frage der Abgrenzung von zum menschlichen Körper gehöriger Materie einerseits von erwerbbaren Sachen andererseits bei Verbindung von ursprünglich körperfremden Stoffen (etwa Implantaten) mit dem Körper bzw. bei Abtrennung von Körperteilen siehe noch B.V.2.a).

252

B. Auflösung der Aufgabe

Mein …“358. Etwas Äußeres wird das Seine von jemanden nur durch einen willentlichen Akt, den Erwerb. Die Notwendigkeit, etwas besonderes Äußeres als das Seine haben zu können, verweist auf den zugrundeliegenden (ideellen) Gemeinbesitz der Weltmaterie als Einheit: Vor allem besonderen Privatbesitz bzw. -eigentum steht (primär logisch und nur dementsprechend zur Veranschaulichung dann als Zeitverhältnis vorgestellt) die überhaupt erreichbare Weltmaterie als Einheit, abzüglich derjenigen, die zum inneren Mein von jemandem gehört, allen Personen gemeinschaftlich zu (vgl. A.II.4.b) und B.II.3.f)). Der ur­ sprüngliche (anfängliche) Erwerb ist allseitig-einseitig zu denken, also als ein äußerer rechtlicher Akt jeder Person, wodurch etwas besonderes Äußeres ihres wird, ohne dass dieses vom besonderen Privatbesitz eines anderen bzw. von dessen besonderem Privatwillen abgeleitet wäre (siehe dazu aus­ führlicher A.II.4.b)). Der ideelle ursprüngliche Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie und der allseitig-einseitige (erste) Erwerb eines Teiles davon sind der Grund der Notwendigkeit der Anerkennung von Privatbesitz bzw. Privateigentum (Sondergebrauchsbefugnis an körperlichen Gegenständen359) und erst auf dieser Grundlage sind rechtliche Tauschbeziehungen (sachzu­ ordnungsverschiebende Verträge) möglich360. Und um etwaige Missver­ ständnisse auszuschließen: Diese Begriffe des ursprünglichen Gemeinbesit­ zes der äußeren Weltmaterie und des allseitig-einseitigen (ursprünglichen) Erwerbs beschreiben nicht etwa einen empirischen, historisch-abgeschlossenen Vorgang. Es handelt sich dabei um als stets (zeitunabhängig bzw. zu aller Zeit) und allgemein geltend zu denkende praktische Grundbegriffe, nach denen, wie Köhler schreibt, „jedem Subjekt der Menschheit von Be­ ginn seiner Existenz an kontinuierlich Erwerbsrechte entsprechend seinem Vermögen zu selbständiger Freiheitsverwirklichung“ einzuräumen sind“361. 358  Kant,

MdS, RL, § 10. Begriff der Gebrauchsbefugnis (bzw. des „intelligiblen Besitzes“) hin­ sichtlich Sachen ist gegenüber positiv-rechtlichen Begriffen wie „Eigentum“ und „Besitz“ ein Oberbegriff. Eigentum ist zu verstehen als das Innehaben der (relativ zu anderen Personen) umfassendsten Gebrauchsbefugnis hinsichtlich Gegenständen. 360  Köhler nennt die Idee des „ursprünglichen Gemeinbesitzes der Menschheit an der formbaren Weltsubstanz“ den „freiheitsgemäßen Grund“ des Privatrechts (in: Gerechtigkeit als Grund der Politik, S. 35) und spricht zutreffend von einem syste­ matischen „Vorrang des ursprünglich substanzbezogenen Rechts auf Erwerb vor dem abgeleiteten Erwerb“, in: Ursprüngliches Erwerbsrecht, S. 319. 361  Köhler, Gerechtigkeit als Grund der Politik, S. 36. Dies sollte trotz der rela­ tiven Komplexität der Privatrechtsbegründung eigentlich selbstverständlich sein, da Vorstellungen einer historischen Akkumulation einer dann – wiederum mit Köhler (a. a. O.) – irgendwann „an einige weggegebenen Welt“ rechtsbegrifflich evidentunzureichend bzw. irrelevant sind. Köhler bezeichnet die Vorstellung einer historisch ersten „Privatbesitzordnung aufgrund abgeschlossener Okkupation und Akkumula­ 359  Der



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten253

Ganz entscheidend auch für die Frage nach Möglichkeit und etwaigem Inhalt eines Notstandsrechts ist, dass dieser einseitige (ursprüngliche) Erwerb einer besonderen äußeren Sache wegen des einer Erwerbung zugrundeliegenden, notwendigen (ideellen) rechtlichen Gesamtbesitzes (ursprünglichen Gemeinbesitzes) aller äußeren Materie eben als ein notwendiges Loslassen aller anderen von demjenigen Gegenstand (der Materie), auf den sich der jeweilige Erwerbsakt der jeweiligen Person richtet, betrachtet wer­ den kann362. Insofern basiert alles private Haben äußerer Gegenstände so­ zusagen auf einem Abgerücktsein aller anderen als dem Privatbesitzer bzw. -eigentümer von dieser Materie, aus welcher der jeweilige Gegenstand ist. Dieses Loslassen bzw. Abrücken ist dabei selbstverständlich nicht wörtlich zu nehmen: Es geht ja nicht um einen physischen Akt, sondern bloß um die Anerkennung des Zustehens des Gegenstandes zu einer anderen Person (dem Erwerber besonderer Gebrauchsbefugnisse). Das meint Kant, wenn er schreibt, durch einen wirksamen einseitigen Erwerbsakt werde „allen ande­ ren … eine Verbindlichkeit auferlegt, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs desselben zu enthalten“363. Darin liegt eine wesentliche Differenz zum Haben der als „inneres Mein“ bezeichneten Materie. Und, so meine Behauptung, es liegt darin der Grund der Möglichkeit eines auf diese ursprünglich gemeinsam-besessene, zum Privatgebrauch erworbene Materie gehenden, nach seinen Voraussetzungen und seinem Inhalt noch näher zu qualifizierenden Notstandsrechts. Und eine zusätzliche Behauptung: Dies sah Kant ebenso, als er schrieb, ausgehend vom „gemeinschaftlichen Besitz … der Erde“, auf der die Menschen „sich nicht ins Unendliche zerstreuen“ könnten, müssten diese sich „endlich … doch neben einander dulden“, wobei ursprünglich „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht als der andere“ habe. Eben deshalb kann nach Kant niemand von einem zum Sondergebrauch erworbenen Boden eines anderen rechtlich-wirksam abgewiesen und notfalls zwangsweise entfernt werden, wenn dies seinen „Untergang“ als Person bedeuten würde: Jeder­ mann hat nach Kant das Recht des Zugriffs auf einen Boden (Aufenthalt), wenn und soweit er zum Selbsterhalt auf der Welt auf diesen Boden ange­ wiesen ist (vgl. schon A.II.7.). Zu dem Umstand, dass dieser Boden ansons­ tion“ deshalb auch als den „kritisierten Gegenbegriff“ zur ideellen ursprünglichen Besitzgemeinsamkeit der äußeren Weltmaterie und deren Folge eines für jeden Men­ schen gegebenen ursprünglichen Erwerbsrechts bezüglich eines Teiles davon, in: Ursprünglicher Gesamtbesitz, S. 262. 362  Kant, MdS, RL, § 7. Gemäß dem allgemeinen Rechtsgesetz bzw. -prinzip ist darin auch die Erklärung enthalten, selbst „jedem anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein …“, § 8, RL, MdS. 363  Siehe zum „intelligiblen Besitz“ oben A.II.4.b) und B.II.3.f).

254

B. Auflösung der Aufgabe

ten (beim Fehlen einer Notlage) ausschließlich einem anderen zum Privat­ gebrauch zusteht, stellt ein solches Notstandsrecht nicht nur keinen Widerspruch dar; vielmehr ist sein Grund – der ursprüngliche Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie – zugleich die Voraussetzung von (relativ-)ausschließlicher Sondergebrauchsbefugnis. Ausgehend vom ideellen Gemeinbesitz der physisch erreichbaren äußeren Materie bedeutet dies, dass ein Abrücken bzw. Loslassen aller von Teilen dieser Materie zwar notwendig ist (dem notwendigen Erwerb von Materie zum Sondergebrauch korrespondiert ein Loslassen dieser Materie seitens aller anderen als dem zum Sondergebrauch Erwerbenden), ein unbedingtes Loslassen bzw. Abrücken ist aber nicht rechtlich-wirksam möglich. Somit kann – noch recht unbestimmt – festgehalten werden: Jede äußere (nicht zum inneren Mein von jemandem gehörende) Materie bleibt – ausgehend vom ursprünglichen Gemeinbesitz – beim Erwerb sei­ tens eines anderen zu dessen Sondergebrauch zumindest stets noch insoweit (eben eng-bedingt) diejenige des jeweils anderen, als sie für diesen notwen­ diges Mittel zum Selbsterhalt auf der Welt ist und für den Erwerber (Besit­ zer bzw. Eigentümer) nicht. Bewegliche Sachen sind als Inhärenz („inhärierende Akzidenzen“) des Bodens zu betrachten (vgl. Kant, MdS, RL, §§ 12, 17), sind also aus der ursprünglich gemeinsam-besessenen Materie entstandene oder geformte Gegenstände, und somit dem Gedankengang nach ebenfalls unter den noch zu konkretisierenden Voraussetzungen als Zugriffsgegenstände notstandsfä­ hig364. Das Zustehen äußerer (nicht-angeborener) Güter zu einem Erwerber (im Verhältnis zu anderen Personen) ist also wegen des notwendig-ursprüngli­ chen Gemeinbesitzes zumindest stets bedingt auf die Nichtangewiesenheit anderer darauf zum Selbsterhalt, sofern nicht der Erwerber (bzw. der dann nach positivem Recht an sich Gebrauchsbefugte) selbst darauf zur Erhaltung angeborener Güter angewiesen ist: 364  Kant setzte dies übrigens etwa bei der Beurteilung des Karneades-Falles vor­ aus (Fn. 220 und A.II.7.a)), indem er den ersten Zugriff auf die im Wasser treibende, im Eigentum des ehemaligen Schiffseigentümers stehende Planke wie selbstver­ ständlich für erlaubt hielt. An der Not-Zugriffsbefugnis auf in fremdem Eigentum stehende bewegliche Sachen änderte sich auch dann nichts, wenn etwa nach einem Schiffsunglück ein auf einer einsamen Insel Gestrandeter die vorher als Fracht be­ förderten, konservierten Lebensmittel verzehrt, während er auf Rettung wartet: Auch dazu wäre er befugt, selbst wenn der Eigentümer dieser Sachen – insoweit wohl abweichend vom Karneades-Fall – noch ein (etwa wirtschaftliches) Interesse an den Sachen bzw. an deren Rückerlangung haben kann und die Rückerlangung auch rea­ lisierbar ist.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten255

Das dem Erwerbsakt des einen korrespondierende „Loslassen“ aller ande­ ren ist niemals total bzw. bedingungslos zu denken, denn das bedeutete für jedermann, sich dem Zufall anheim zu geben, weil man in faktisch-mögli­ chen, zufällig-eintretenden existenzbedrohenden Notsituationen auf andere Materie bzw. andere Sachen angewiesen sein kann, als auf die ursprünglich oder dann in der Folge vertraglich erworbenen. Jedes Abrücken bzw. Los­ lassen von der ursprünglich gemeinsam-besessenen äußeren Weltmaterie steht also zumindest unter der Bedingung der Nichtangewiesenheit zum selbständigen Selbsterhalt auf der Welt, wobei jedoch der eigentliche Privat­ besitzer bzw. -eigentümer bei eigener Angewiesenheit zur Erhaltung angeborener Güter (seiner Körperintegrität oder Handlungsfreiheit überhaupt) wiederum Vorrang hat (Priorität der Erwerbung in der Zeit). Oder anders ausgedrückt: Möglicher und notwendiger Erwerb von äußeren Sachen zum Sondergebrauch ist niemals so ausschließlich zu denken, dass auch in ext­ remen Notsituationen (drohender Untergang) der notleidenden Person keine Zugriffsbefugnis auf die zur Rettung erforderliche Sache mehr zukäme, obwohl der eigentliche Erwerber darauf nicht zur Wahrung seiner zum „in­ neren Mein“ gehörenden Güter angewiesen ist. Vielmehr bleibt – ausgehend vom ideell-gemeinsamen Besitz und der ursprünglich allseitig-einseitigen Teilung – notwendig stets ein allgemeines Notstandszugriffsrecht bzw. eine zumindest auf das Vorliegen einer den Selbsterhalt bedrohenden Notsituati­ on bedingte, dem Inhalt nach auf den zur Rettung erforderlichen Gebrauch begrenzte Erwerbsmöglichkeit hinsichtlich äußerer Sachen bestehen. Widerspricht diese Notrechtsbehauptung dem kantischen Satz, es könne „keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig macht“? Nein, im Gegenteil: Die totale Ablehnung jedes Notstandsrechts wäre nicht (frei­ heits-)gesetzmäßig, weil es die Annahme einer unter Umständen vollkom­ menen Trennung der Person von allem zum Selbsterhalt erforderten Boden (von der „Sachsubstanz Welt“, Köhler, Fn. 184) enthielte. Und dies kann nicht als allgemein-notwendig oder überhaupt als wirksam-möglich ange­ nommen werden. Denn es bedeutete – veranschaulicht vorgestellt – eine unkalkulierbare Spekulation jedes Einzelnen bei allseitig-einseitiger Teilung des Gemeinbesitzes mit dem Risiko des eigenen Todes bzw. der Vernich­ tung seiner Person, nämlich in für ihn in der Folge zufällig eintretenden, unmöglich auszuschließenden oder überhaupt vorhersehbaren Notsituatio­ nen. So etwas wäre interpersonal unwirksam365. 365  Vgl. entsprechend zur Unwirksamkeit der Einwilligung in das Getötetwerden bzw. das totale Unselbständig-gemacht-Werden B.II.3.e), dort Fn. 312 und Fn. 353. Wer diese veranschaulichende Beschreibung des notwendigen Privatrechtsverhältnis­ ses (inklusive der auflösenden Bedingung der Anerkennung einer ausschließlichen Sondernutzungsbefugnis) für unangemessen hält, der möge sich klar werden, dass sie nur dazu dient, notwendige Vernunftbegriffe ihrem Inhalt nach auf Erfahrung

256

B. Auflösung der Aufgabe

Skizzenhafte Ausführungen Kants in diese Richtung finden sich übrigens in den Vorarbeiten zur MdS: Vom ursprünglichen (Gemein-)Besitz des Bo­ dens „müssen sich alle meine iura in re (externa) ableiten lassen – irgend­ einen Boden muss mir also jedermann lassen, folglich wenn man mir die Innehabung eines nimmt, so kann es nur unter der Bedingung geschehen, dass er mir einen anderen, auf dem ich leben kann, anweiset (nicht es mei­ nem Schicksal überlässt, welchen man mir einräumen wolle). Diese detentio (Innehabung) ist zugleich mit der Benutzung verbunden, die zu meinem Dasein erforderlich ist und ich bin durch jene Innehabung, wenn sie nicht von meiner Willkür abhing, niemandem … verbindlich geworden. Eben dasselbe gilt, wenn ich auf einen Boden unwillkürlich gerate, denn auf einem muss ich sein können: es mögen auch ältere Inhaber desselben … den Grenzen nach sein …“ (AA XXIII, S. 237). Dieser nur (aber immerhin) im Ansatz entwickelte Gedanke Kants taucht wieder auf in seinen vereinzelten bejahenden Notrechtsbehauptungen (zulässiges Stranden auf fremdem Bo­ den, MdS, RL, § 17, sowie dem im „Zum ewigen Frieden“ benannten Asylrecht, vgl. A.II.7.b). In Aufnahme einer kantischen Ausdrucksweise lässt sich diese Notrechts­ begründung auch wie folgt darstellen: Bei der (ideellen) Überführung des provisorischen Privatbesitzes in Rich­ tung auf durch öffentliche Gesetze bestimmten und demnach gesicherten peremtorischen Besitz muss die Möglichkeit der zufälligen Existenznot ei­ ner Person miteinbezogen werden. Deshalb kann es rechtlich niemals einen unbedingten bzw. einen unter allen Umständen ausschließlich vom Willen des (Erst-)Erwerbers abhängigen status quo des Habens von etwas Äußerem geben, während gerade in Abgrenzung dazu angeborene Güter („inneres Mein“) nur beidseitig-willentlich (durch Vertrag) übertragbar sein können366. anzuwenden (ohne welches ihnen keine objektive Realität zukäme, sie nicht einmal praktische Begriffe für uns wären): Die Begriffe des ursprünglichen Gemeinbesitzes und des einseitigen (ursprünglichen) Erwerbs wären gerade dann missverstanden bzw. vernichtet, wenn man glaubte, die in ihnen gefassten Vorstellungen hätten kei­ ne praktische Relevanz (für alle zukünftige Zeit), weil dieser Glaube gar nichts anderes wäre, als sich den Inhalt dieser Vernunftbegriffe wie einen abgeschlossenen historischen Vorgang, der nun erledigt ist, vorzustellen (und letzteres ist evidenter Unsinn, vgl. auch Fn. 361). 366  Schon in der GMS, S. 428, schrieb Kant in einem anderen (allgemeineren) Kontext: „Also ist der Wert aller durch unsere Handlung zu erwerbenden Gegenstän­ de jederzeit bedingt“ (Hervorhebung von Kant selbst). Schon hier ist deutlich, dass für Kant hinsichtlich des Habens von Etwas vor einer Handlung (logisch und zeit­ lich) einerseits und des Habens von Etwas (logisch und zeitlich) nach und durch eine Handlung andererseits eine wesentliche Differenz besteht: Eine Konsequenz dessen ist, das erworbene Sachen, anders als angeborene Güter, dem rechtlichen Notstandszugriff zugänglich sind: Beim Erwerb einer Sache ist die ausschließliche



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten257

Bei der „Bestimmung des besonderen Eigentums … nach … dem notwen­ digen formalen Prinzip der Einteilung (Division des Bodens) nach Rechts­ begriffen“ kann niemand von der äußeren Habe eines anderen (von dessen äußerem Mein) so abhängig gemacht werden, dass er unter für ihn zufälli­ gen Situationsveränderungen als Person vernichtet würde. Privateigentum an äußeren Sachen im Sinne der relativ-umfassendsten Gebrauchsbefugnis daran (vgl. Fn. 359) bedeutet gar nichts anderes als die – eben zumindest auf die Nichtangewiesenheit anderer zum Selbsterhalt bedingte – Befugnis zu „einstweiliger Benutzung“367 des jeweiligen Teils der äußeren Weltma­ terie. Man beachte nochmals: Verbindlicher Grund dieser auflösenden Zuste­ hensbedingung in Bezug auf den Erwerb von Sachen (also des Notstands­ rechts) ist der jedem abgeleiteten Erwerb logisch-vorauszusetzende Begriff des ursprünglichen Gemeinbesitzes der äußeren Weltmaterie (Sachsubstanz Welt). Das Notstandsrecht bezieht sich also von vornherein (seinem Grund nach) nur auf reale Materie im Sinne eines den Raum erfüllenden (erscheinenden) Etwas, sofern dieses nicht zum inneren Mein von jemandem ge­ hört368; damit sind potentielle personale (schuldrechtliche) Rechtsgegenstän­ Zuordnung zum Erwerber (das Zustehen) trotz dieses Erwerbs notwendig bedingt auf die Nichtangewiesenheit anderer auf den Gebrauch der Sache zur Errettung aus einer noch näher zu qualifizierenden, besonderen Notlage (jedenfalls zum Selbster­ halt des anderen auf der Welt). 367  Beide Kant-Zitate aus MdS, allg. Anm. B zu § 49, S. 323–324. Kenneth R. Westphal glaubt, Kant verstehe das Besitzrecht lediglich als Recht, etwas zu benut­ zen. Zutreffend daran ist, dass Privatbesitz nach der kantischen Konzeption Sondergebrauchsbefugnis hinsichtlich Sachen bedeutet. Westphal irrt jedoch, wenn er ent­ gegen Kant meint, soweit Eigentum über einen positiven Gebrauch hinausgehe – etwa andere ausschließe, auch wenn die Sache aktuell nicht positiv gebraucht werde – sei dies mit der kantischen Argumentation nicht zu begründen; siehe Westphal, Jahrbuch für Recht und Ethik (1997), S. 141 ff. Dies ist viel zu eng: Auch der bloße Ausschluss anderer – etwa durch Zurückhalten oder Liegenlassen für be­ liebige, spätere und ggf. noch unbekannte Zwecke – ist ein vom intelligiblen Besitz bzw. dementsprechend vom Eigentumsrecht umfasster Gebrauch einer Sache. Die Ausschließungsbefugnis des Eigentümers oder Besitzers und die korrespondierende jeweilige Unterlassungspflicht jedes anderen ist keinesfalls bedingt auf einen kon­ kreten, aktuellen Sachnutzungswillen des Inhabers. Eine auflösende Bedingung tritt aber jedenfalls ein mit der Angewiesenheit anderer auf die Sachnutzung zum selb­ ständigen Selbsterhalt auf der Welt, sofern nicht der Inhaber selbst in angeborenen Gütern einer ausschließlichen Sachnutzung bedarf (Notstandsrecht). 368  Vgl. auch Kant, MdS, RL, § 10, S. 259: „Die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes … kann nicht anders als an körperlichen Dingen … stattfin­ den …“. Und derselbe, Vorarbeiten XXIII, S. 219–220: Durch das „erwerbliche Recht … vermehre ich die Willkür mit einem äußeren Objekt, was von Natur nie­ mandem angehört, d. i. nichtangeboren ist und also aus der Freiheit analytisch als Objekt der Willkür nicht gefolgert werden kann“.

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B. Auflösung der Aufgabe

de – wie eine im Zeitpunkt einer Notsituation als möglich vorgestellte Hilfeleistungshandlung einer Person – gerade vom Notstandszugriff ausge­ schlossen (nicht dem Notstandszugriff zugänglich, vgl. Fn. 302, genauer nochmals unten B.IV.2.b)cc)). Zur Verdeutlichung sei die gegebene Notrechtsbegründung und die damit einhergehende Begrenzung (nochmals) auf eine andere Weise beschrieben: Die allgemeine Geschäftsgrundlage jedes anzuerkennenden ursprünglicheinseitigen Zugriffsaktes auf die Weltsubstanz zur Privatrechtsbegründung (vgl. A.II.4.b), B.II.3.b)) ist ein anzunehmendes Gleichbleiben der Umstän­ de zumindest insoweit, wie das Behalten der Subjekt-Objekt-Einheit bzw. die Existenzerhaltung (als selbständige Person) nicht von dieser Anerken­ nung abhängt. Aktuelle Situationen der Gefahr zumindest für das Leben und drohende, schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen liegen also außerhalb der Geschäftsgrundlage der notwendigen Privatrechts- bzw. Sachen­ rechtsbegründung, sodass ein zur Gefahrabwendung erforderlicher, einseiti­ ger Zugriff der notleidenden Person auf willentlich erworbenes Äußeres im Verhältnis zum jeweiligen Erwerber rechtlich möglich (erlaubt) bleibt. Diese Not-Bedingung des Zustehens äußerer Sachen zu einer Person (als deren Privateigentum bzw. -besitz) ist quasi ständiger (Minimal-)Inhalt des Erlaubnisgesetzes der praktischen Vernunft. „Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“369; zu ergän­ zen ist: Es ist jedoch rechtlich unmöglich, eine äußere Sache so ausschließ­ lich mir zuzuordnen, dass selbst dann, wenn ein anderer auf den Gebrauch dieser Sache zum Selbsterhalt notwendig angewiesen ist und ich ihrer zur Erhaltung angeborener Güter nicht bedarf, dieser andere trotzdem keinerlei Gebrauchsbefugnisse diesbezüglich hätte370. In Existenznot ist eine zur Rettung erforderliche Gebrauchsbefugnis an körperlichen äußeren Gegenständen gegeben, soweit kein anderer als Vorer­ werber zur Wahrung seiner körperlichen Integrität ebenfalls darauf angewie­ Kant, unter A.II.4.b). insoweit auch Köhler, der schreibt, „ein allgemeingültiges Erwerbsgesetz schließt die totale Substanzaneignung aus, behält vielmehr ein bleibendes For­ mungs- / Aneignungsrecht aus dem ursprünglichen Gesamtbesitz für andere vor … Auch das notdürftige Existenzrecht muss in diesem Substanzbezug bestimmt wer­ den. So legitimiert das Notstandsrecht in existentieller Gefahr einen Eigentumsein­ griff, der aus ursprünglicher Substanzteilhabe das Sacheigentum anderer … ein­ schränkt …“, in: Ursprünglicher Gesamtbesitz, S. 261; ähnlich Klesczewski, FSWolff, S. 243. Zu weitergehenden praktischen Konsequenzen der Begriffe des ursprünglichen Gesamtbesitzes der äußeren Weltmaterie und des ursprünglichen Erwerbs, nämlich konkreten Teilhaberechten, siehe Köhler, a. a. O., S.  268 ff.; dersel­ be, Ursprüngliches Erwerbsrecht, 332 ff.; derselbe, Gerechtigkeit als Grund der ­Politik, S. 39 ff. Zur Kritik an Köhlers weitergehenden bzw. davon abweichenden Notstandsrechtsannahmen siehe noch B.IV.2.b)cc). 369  Vgl. 370  Vgl.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten259

sen ist, denn dies ist soweit eins mit dem Haben eines inneren Mein: Und über letzteres wurde bei der ideellen allseitig-einseitigen Teilung der ur­ sprünglich im Gemeinbesitz seienden Materie durch keine Person, also gar nicht disponiert (sondern eben nur über das im ursprünglichen Gemeinbesitz Seiende). Der zur Privatrechtsbegründung überhaupt konstitutive Begriff des ursprünglich-einseitigen Erwerbs von Teilen der ursprünglich gemeinsambesessenen Materie erlangt im die Existenz der selbständigen Person be­ drohenden Notstand eine unmittelbar-praktische Bedeutung: Der einseitige (nicht vom besonderen Willen eines anderen abhängige) Zugriff auf an­ sonsten anderen zustehende Sachen ist dem Notleidenden (bzw. auch ei­ nem Notstandshilfe leistenden Dritten im Willen des Notleidenden) recht­ lich-möglich, sofern er zur Rettung erforderlich ist und der eigentliche (vorherige) Erwerber nicht selbst in angeborenen Gütern auf das Objekt angewiesen ist. Wie die (schematische) Veranschaulichung zur Anwendung des Begriffs des (intelligiblen) Besitzes äußerer Gegenstände notwendig ist (weil sonst der Begriff in dem Sinne leer bzw. unanwendbar wäre, als er nur das Zu­ stehen von etwas Äußerem zu jemandem im Verhältnis zu anderen bedeu­ tete), und diese so geführt werden muss, dass ausgehend vom ursprünglich einseitigen empirischen Besitz eines Teils des Bodens bzw. der äußeren Substanz (dessen Rechtlichkeit schon aus dem „angeborenen“ Recht folgt, vgl. A.II.4.) die einschränkenden Bedingungen in Raum und Zeit weggelas­ sen werden und so – eben nach dem zugrundeliegenden Begriff des Habens von etwas Äußerem überhaupt – die Willkür jedes einzelnen in Bezug auf räumliche Gegenstände (als Erwerb zur Sondernutzung) nach einer allgemeinen (Zustehens)Regel allseitig erweitert wird, indem zugleich die Will­ kür aller anderen in Bezug auf dieses Objekt beschränkt wird (weil diese verpflichtet sind, sich des Gebrauchs zu enthalten), so ist auch der Begriff des einseitigen (und erst darauf basierend abgeleiteten) Erwerbs auf Gegen­ stände der Erfahrung zu beziehen371. Dementsprechend setzt eine ursprüng­ 371  Vgl. zum intelligiblen Besitz Kant, MdS, RL, §§ 6, 7 und zur ursprünglichen Erwerbung überhaupt (dort bezogen auf den privatrechtskonstitutiven Akt überhaupt und nicht speziell auf Notstandszugriffe als auflösenden Bedingungen der bisherigen Anerkennung der getroffenen Gegenstandszuordnungen), MdS, RL, § 10: „Die Mo­ mente der ursprünglichen Erwerbung … sind also: 1. Die Apprehension eines Ge­ genstandes … Diese Apprehension ist die Besitznehmung des Gegenstandes in Raum und Zeit; der Besitz also, in den ich mich setze, ist ein physischer (possessio phaenomenon). 2. Die Bezeichnung (declaratio) des Besitzes dieses Gegenstandes und des Akts meiner Willkür, jeden anderen davon abzuhalten. 3. Die Zueignung (appropriatio) als Akt eines äußerlich allgemein-gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird …“. Der Schluss daraus, nämlich „dass der Besitz als ein bloß rechtlicher

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B. Auflösung der Aufgabe

liche Erwerbung einer Sache die „Priorität der Zeit vor jedem anderen, der sich der Sache bemächtigen will“, voraus (Kant, § 10 MdS). Die allgemeine (Notrechts-)Bedingung jeder (einseitigen und abgeleiteten) Zueignung einer Sache (des Zustehens derselben im Verhältnis zu an­ deren, also deren insoweit bestehende Willkürbeschränkung), nämlich die Nichtangewiesenheit anderer darauf zur Erhaltung ihrer Selbständigkeit als Person, muss nun ebenfalls – als stets möglich bleibender Akt des einseiti­ gen Erwerbs – schematisch dargestellt werden. Und so fragt sich, ob sich genauer angeben lässt, wie ein solcher Not­ standszugriff (notstandsrechtlicher Erwerbsakt) auf an sich anderen zuste­ hende, zur Errettung erforderte Sachen auszusehen hat (durch welche Er­ scheinungen er dargestellt werden muss), um rechtlich-wirksam zu sein und also dem Vor-Erwerber nun die Verbindlichkeit aufzuerlegen, sich des Ge­ brauchs insoweit zu enthalten, wie dieser der Rettung der notleidenden Person entgegenstünde: Sicher ist zunächst, dass eben weil die Willkür eines anderen auch in der Notsituation nicht einseitig erworben werden kann, etwa eine an einen an­ deren gerichtete Aufforderung (Bitte), den zur Errettung aus der Not erfor­ derten Gegenstand herbeizubringen, an sich ohne rechtliche Relevanz ist. Das heißt: Für wirksamen Notstandserwerb von Sachen ist vorausgesetzt, dass die notleidende Person selbst oder auch ein hilfsbereiter Dritter in ih­ rem Willen tätig wird. Ein anderer als der Notleidende muss rechtlich keine aktive Hilfe leisten; vielmehr muss bloß der Vor-Erwerber nach und wegen des wirksamen Notstandszugriffs sich eines (die Notabwendung ausschließenden) Gebrauchs der Sache enthalten. Da also die potentiell zur Rettung erforderte Sache somit nur dann rechtlich wirklich erforderlich zur Rettung sein kann, sofern sie vom Notleidenden oder einem hilfsbereiten Dritten aus eigener Kraft physisch erreichbar ist, ist jedenfalls diese physische Erreichbarkeit in der Notsituation ein zum geäußerten oder erkennbaren Zugriffswillen notwendig hinzukommendes Kriterium für rechtsgültigen Notstand­ serwerb. Die wahrnehmbare Erklärung des Notleidenden, die Sache solle nun wegen ihrer Tauglichkeit zur Notabwendung die Seinige sein, genügt also für sich allein nicht. Um den Begriff der Anschauung so nah wie möglich zu bringen, möch­ te ich ihn schon hier auf einen dazu geeigneten, konkreten Fall beziehen, der von Herzberg gebildet und von Merkel zur Beurteilung aufgenommen wurde: gültig (possessio noumenon) sei“, werde „vom sensibelen auf den intelligibelen Besitz richtig geführt“. Vgl. auch Kant, Vorarbeiten zur MdS, AA XXIII, S. 221, 273–277, 325–326.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten261

A hat auf See ihr Boot angehalten und sonnt sich. Da hört sie einen schon sehr erschöpften Schwimmer (S) um Hilfe rufen, der mit letzter Kraft das Boot der A noch schwimmend erreichen und sich darauf retten könnte. Um dies zu verhindern fährt A davon; S ertrinkt372. Hat S das Boot der A zum rettenden Gebrauch erworben, sodass A den S durch ihr Davonfahren tötet oder nicht? Dahingestellt sei an dieser Stelle, ob diese (etwaige) Tötung durch aktives Tun oder durch Unterlassen began­ gen wäre; entscheidend ist hier allein, dass die Beurteilung des Falles als Tötung überhaupt ausschließlich davon abhängt, ob S das Boot der A zum Zeitpunkt ihres Davonfahrens (schon) notstandsbedingt erworben hat oder nicht373. Jedenfalls kein Erwerb läge vor, wenn S den Erwerbswillen bloß gegen­ über A (konkludent im Hilferuf) geäußert hätte, ohne – insoweit in Abwand­ lung des Falles – von selbst (aus eigener Kraft) in der Lage zu sein, das Boot der A zu erreichen. In diesem Falle hätte A kein (Straf-)Unrecht ver­ wirklicht, weil eine ursprüngliche Rechtspflicht zur aktiven Hilfeleistung (dem S entgegenzukommen) nicht besteht bzw. die Willkür zur Tat nicht einseitig erworben werden kann374. Ist aber das jedenfalls notwendige Kriterium der realen Möglichkeit eines Zugriffs (Möglichkeit der Erlangung realer Gewalt über die Sache), wenn es zum geäußerten oder erkennbaren Erwerbswillen hinzutritt (wie im Fall) schon hinreichend, um den Notrechtserwerb an der Sache (kon­ kret dem Boot der A) wirksam (wirklich) zu machen bzw. zu vollenden? Oder bedarf es dafür des unmittelbar physischen Zugriffs, also der Ergrei­ fung empirischen Besitzes im engen Sinne der realen Gewalterlangung (im 372  Dieser hier auf das Wesentliche verknappte Fall ist gebildet von Herzberg, FS-Röhl, S. 277, und zur Beurteilung und Abwandlung aufgenommen von Reinhard Merkel; FS-Herzberg, S. 209 ff. Beiden Autoren geht es im Kontext um die – hier nicht primär interessierende – dogmatische Abgrenzung zwischen Tun und Unterlas­ sen. 373  Das sieht Reinhard Merkel klar (a. a. O., Fn. 372): Entscheidend komme es darauf an, wem das Boot „während der Dauer der Notstandslage gehörte“ (S. 209) bzw. ob eine „notstandsrechtliche Verschiebung der (momentanen) Inhaberschaft am Objekt“ eingetreten sei (S. 211). Merkel bejaht einen solchen Erwerb, wobei er das aus § 904 BGB ableiten will. 374  Siehe zum Nichtbestehen einer allgemeinen (ursprünglichen) Rechtspflicht zur aktiven Hilfeleistung gegenüber einem notleidenden anderen B.II.3.e) und nochmals unten B.IV.2.b)cc). Nach positivem deutschen Recht hängt von der Antwort auf die Frage des Noterwerbs des Bootes seitens S ab, ob A aufgrund des Davonfahrens wegen eines Tötungsdelikts oder aber – wegen des Nichthelfens – ggf. nur nach § 323c StGB zu bestrafen wäre (zur Verfehltheit des § 323c StGB als Strafnorm siehe noch B.III.2.; zu dogmatischen Inkonsequenzen im Zusammenhang mit dieser Norm siehe unter B.IV.2.b)dd).

262

B. Auflösung der Aufgabe

Falle also des Festhaltens am Bootsrand bzw. des physischen Angreifens daran durch S)375? Fraglich ist, ob sich hierauf eine grundbegrifflich rückgebundene Antwort mit (alternativloser) Verbindlichkeit geben lässt, ob der Rechtsbegriff des einseitigen Noterwerbs von etwas Äußerem also strikt in einer ganz be­ stimmten (einzig-möglichen) empirischen Gestalt darzustellen ist376. In Anbetracht der ggf. bedeutenden Konsequenzen (vgl. oben und Fn. 374) wäre eine Unbestimmtheit diesbezüglich unbefriedigend; allerdings kann der Erwerbstatbestand (bzw. das noch in Frage stehende Kriterium) nicht bloß erbeten, sondern müsste begründet bzw. hergeleitet werden: 375  Diese Frage nach dem den Notstandserwerb an Objekten im Verhältnis zum (bisherigen) Besitzer bewirkenden Kriterium entspricht nicht zufällig genau der (häufig ebenso gestellten) Frage nach dem Kriterium der Abgrenzung von Tun und Unterlassen (als Verhaltensformen) hinsichtlich Konstellationen des Abbruchs von potentiell-rettenden Kausalverläufen: Während wohl überwiegend angenommen wird, ein Abbruch sei schon dann als aktives Tun zu qualifizieren, sobald der Verlauf soweit aus der Hand gegeben sei, dass er ohne weiteres Zutun den Erfolg verhindert hätte (etwa Rudolphi, in SK, vor § 13, Rn. 47), fasst Roxin dies enger und nimmt Abbruch durch aktives Tun erst an, sobald „der Kausalverlauf die Sphä­ re“ des anderen erreicht habe (gemeint ist die unmittelbar-räumliche Sphäre, Roxin, AT II, § 31, Rn. 110; ebenso Kühl, AT, § 18, Rn. 21; gute Zusammenstellung bei Merkel, FS-Herzberg, S. 199, 200). Wenn Merkel (a. a. O., Fn. 372, S. 211) schreibt, eine – konkret entscheidungserhebliche (Fn. 373) – Güterzuordnungsverschiebung habe als „rechtliche in der physischen Welt kein Korrelat“ und sei daher „natura­ listisch nicht identifizierbar“, sodass „kein denkbares naturalistisches Abgrenzungs­ kriterium“ bestehe (dort ebenfalls gemeint: zur Abgrenzung von Tun und Unterlas­ sen bezüglich des konkreten Falles), dann hat er insofern Recht, als erstens aus (bloß-)naturalistischer Perspektive sich keine einzige Rechtsfrage beantworten (nicht einmal stellen) lässt und zweitens auch der rechtliche Begriff des Zustehens von etwas (Äußerem) nie unmittelbar und vollständig anschaulich darstellbar sein kann. Allerdings haben Rechtsbegriffe objektive Realität (in praktischer Hinsicht überhaupt), womit dem allseitigen Zustehen von Etwas zu jemandem im Verhältnis zu allen anderen (als ein widerspruchsloses Willkürverhältnis) in der Erscheinung eine Entsprechung muss gegeben werden. Insofern ist auch keine Gegenstandserwerbung – auch nicht die hier in Frage stehende einseitige notrechtsbasierte – ohne jedes „naturalistische“ (in einer Anschauung aufzeigbare und – umgekehrt – dann als Erwerbungstatbestandsmerkmal nachvollziehbare) Kriterium beantwortbar (siehe auch Fn. 377). Konkret steht diejenige Erscheinung bzw. das wahrnehmbare Zeichen in Frage, welches den Notrechtserwerb im Verhältnis zum An-sich-Ge­ brauchsbefugten bewirkt (physische Erreichbarkeit oder wirkliches physisches Er­ reichen der Sache?). 376  Oder: Alternativlos schematisiert werden kann. Kant verwendete gelegent­ lich – bloß-analog zur in theoretischer Hinsicht vorgestellten Bildgebung des Inhalts der reinen Verstandesbegriffe durch Schemata (vgl. A.II.1.) – diese Ausdrucksweise bezüglich der (verstandesvermittelten) Darstellung bzw. Veranschaulichung des In­ haltes von Rechtsbegriffen (Vernunftbegriffen) in möglichen Erfahrungssachverhal­ ten, siehe etwa Vorarbeiten zur MdS, AA XXIII, S. 229, 274–275 und 325–326.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten263

Nach dem Begriff des rechtlichen (intelligiblen) Besitzes überhaupt und des einseitigen Erwerbs als letztlich bloß der Vereinigung der Willkür einer jeden Person mit der jeder anderen nach allgemeinen Zustehensgesetzen in Bezug auf den Gebrauch von (äußeren) Sachen muss „auch das Recht in Ansehung der Sinnengegenstände“ beurteilt werden. „Weil das aber zum Erkenntnis der Beurteilung dessen, was in der Erfahrung recht oder unrecht ist hinreichen muss, so muss noch ein besonderes Prinzip der Subsumtion eines gegebenen Falles unter jene Rechtsprinzipien diesem Erkenntnis zum Grunde gelegt werden, wodurch die Bestimmung des Mein und Dein (außer uns) im Raume und der Zeit möglich wird. – Dieses Prinzip ist das der Zusammenstimmung der Willkür mit der Idee einer vereinigten Willkür derer, die gegen einander in Rechtsverhältnissen (über ein äußeres Objekt des Besitzes) stehen …“ (Kant, AA XXIII, S. 325–326). Was das Rechtsverhältnis des (Vor-)Erwerbers bzw. des an sich Ge­ brauchsbefugten zum Notleidenden angeht, so wäre es zu eng, eine physi­ sche Gewalterlangung des Notleidenden über die zur Rettung erforderte Sache zum Erwerbskriterium zu machen: Dies wäre nichts anderes, als den Erwerb abhängig zu machen davon, wer eine stärkere physische Gewalt über die Sache ausüben kann. Bezüglich des konkreten Falles dürfte dem­ nach die A die Hand des herannahenden Schwimmers, sobald dieser damit an den Bootsrand greifen will, wenn auch nicht zurückschlagen, so doch abhalten (soweit ihre physische Kraft dabei größer ist als die des physischentgegenwirkenden S). Denn wenn empirischer Besitz an der Sache im engen Sinne der realen Gewalt über diese das Kriterium wäre, durch wel­ ches der Tatbestand der einseitigen Noterwerbung erst seine Konsequenz der Gebrauchsbefugnisbeschränkung auf Seiten des Vorerwerbers (soweit sein Gebrauch der Errettung des Notleidenden entgegenstünde) auslöste, wäre die Verhinderung des Zugreifens jedenfalls durch bloße Abwehr (Ab­ halten) der Zugriffshandlung nichts, welches dem Notleidenden etwas ihm Zustehendes nähme und so seinem Notrecht widerspräche. Damit aber läge dem empirischen Besitz und Zugriff (im Verhältnis Vorerwerber – poten­ tieller Noterwerber) gar kein intelligibler, also bloß rechtlicher Besitz im Sinne einer allgemeingültigen Willkürbeschränkung konform „mit der Idee einer vereinigten Willkür“ der in Bezug auf ein äußeres Objekt miteinander in einem Zustehensverhältnis befindlichen Personen zu Grunde: Der empi­ rische Besitz wäre nicht bloß das Schema (vgl. Fn. 371 und Fn. 376) des intelligiblen (wie es sein muss377), sondern der letztere wäre als solcher von 377  Vgl. Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII. S. 262: „… Alles äußere Mein und Dein setzt einen intellektuellen Besitz voraus, die Besitznehmung aber einen physi­ schen, der das Schema des intellektuellen ist und unter dem Gesetz den Fall des Mein und Dein subsumiert“; vgl. auch ebenda S. 275 und schon oben A.II.4., dort auch Fn. 185.

264

B. Auflösung der Aufgabe

seinem Schema abhängig (was sich widerspräche, sodass es den Begriff nicht gäbe). Dementsprechend formuliert auch § 904 S. 1 BGB insoweit zutreffend, der „Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung auf die Sache“ zu verhindern378; verfehlt (weil zu eng) wäre es, wenn es etwa hieße, der Eigentümer sei lediglich nicht berechtigt, eine (schon vor­ handene) Störung zu beseitigen379. Im Verhältnis des Vorerwerbers (Eigentümers / Besitzers) zum Noterwer­ ber reicht es zur Beschränkung der Gebrauchsbefugnisse des Vorerwerbers also aus, dass der Noterwerber seinen Zugriffswillen auf die Sache erkenn­ bar machen und diesen umsetzen kann (reale Zugriffsmöglichkeit). Ist damit also schon die (allgemeingültige) Antwort auf die Frage nach dem Noterwerbskriterium dahingehend gefunden, dass es zum Erwerb stets bloß auf die physische Erreichbarkeit des Notleidenden oder eines (freiwil­ lig) helfenden Dritten – nicht erst auf den physischen Zugriff (empirischer Besitz bzw. Gewalterlangung) – ankommen kann? Nein. Dass so nicht stets die widerspruchslose Vereinigung der Willkür aller, die in Bezug auf ein äußeres Objekt des Besitzes miteinander in ein Rechtsverhältnis kommen können, möglich ist, wird ersichtlich, wenn man den obigen Fall dahingehend abwandelt, dass nicht bloß ein Schwimmer (S1), sondern noch ein weiterer (S2) versucht, sich auf das Boot der A zu retten (wobei sowohl S1 als auch S2 aus eigener Kraft in der Lage sind, das Boot zu erreichen), dieses aber nur eine weitere Person (neben A) tra­ gen kann. Im Verhältnis S1 zu S2 wäre nach dem Kriterium der bloß physischen Erreichbarkeit der Sache in der Notlage bei erkennbarem Erwerbswillen völlig unklar, wer denn das Boot nun (zuerst und damit allein) er­ wirbt. In diesem Verhältnis kann es ebenso wenig darauf ankommen, wer zuerst seinen Erwerbswillen als solchen auf irgendeine Weise geäußert hat oder wessen Wille dem Vorerwerber bzw. dem an sich Gebrauchsbefugten (ggf. zufällig) zuerst zur Kenntnis gelangt ist, wie es auch nicht entscheidend sein kann, welcher von mehreren Notleidenden relativ zu der zur Rettung erforderten Sache (ebenfalls zufällig) die kürzeste Distanz (räum­ lich) zu überwinden hätte. 378  Richtigerweise und gemeint ist von § 904 S. 1 BGB eine fehlende Berechti­ gung des Eigentümers, die Einwirkung auf die Sache zu verhindern; unsauber lautet der Wortlaut jedoch „zu verbieten“: Ein Verbot mag der Eigentümer verbal ausspre­ chen – dies wäre nur rechtlich ohne Wirkung und somit vollkommen irrelevant. Siehe zu dieser Norm im Übrigen auch noch B.IV.1.c). 379  Insofern ist auch Reinhard Merkels Ableitung des Notrechtserwerbs seitens S im konkreten Fall aus § 904 S. 1 BGB bzw. seiner Auslegung dieser Norm zuzu­ stimmen (vgl. Fn. 373): Das Rettungsmittel sei „schon kurz vor dem entsprechenden (ergänzt: physischen) Zugriff … seines“, wobei die Frage „wie kurz … wenig ge­ klärt“ sei (Merkel, a. a. O., Fn. 372, S. 222 und dortige Fußnote 71).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten265

Im Verhältnis mehrerer Notleidender, die sich nicht alle, sondern nur al­ ternativ durch Nutzung der Sache retten können, kann allein entscheidend sein, wer die Sache zuerst physisch erreicht, also empirischen Besitz im engen Sinne begründet, ohne dazu Unrecht zu tun: Wenn – etwa nach einem Schiffsunglück – mehrere in Richtung auf ein zur Rettung erfordertes Boot schwimmen, das nur einen einzigen tragen kann, dann ist erstens klar, dass die Schwimmer sich nicht (etwa gewalt­ sam) auf ihrem Weg zur Sache behindern dürfen. Denn es ist zwar im Verhältnis jedes Notleidenden zum Vorerwerber (dem an sich zum Bootsge­ brauch Befugten) diejenige (auflösende) Bedingung eingetreten, unter der die Notleidenden diesem nicht (mehr) zur Gebrauchsenthaltung verbunden sind. Jedoch ist in keinerlei Verhältnis – auch nicht im Verhältnis der Not­ leidenden zueinander – über inneres Mein disponiert: Der Körper und die mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz konforme äußere Handlungsmöglichkeit bleiben unverändert der jeweiligen Person (dem jeweiligen Subjekt) zugeordnete Gegenstände380. Zweitens: Der jeweilige oder selbst der erste Erklärungsakt („Die Sache soll mein sein“) ist für sich allein genommen weder gegenüber dem an sich Gebrauchsbefugten (Vorerwerber), noch gegenüber einem anderen Notlei­ denden bindend, weil – abgesehen von der praktischen Unmöglichkeit, in einer ggf. unübersichtlichen Notsituation aus irgendeiner Perspektive über­ haupt zu erkennen, wer denn tatsächlich einen solchen Willen zuerst kon­ kludent geäußert hat – das jeweilige Willkürverhältnis in der Notlage stets auch räumlich, nämlich relativ auf den zu erwerbenden Gegenstand (die zur Rettung erforderte Sache) bestimmt bzw. „schematisiert“ werden muss. Drittens: Es kann wiederum die räumlich kürzeste Distanz eines notleidenden Menschen zur erforderten Sache für sich allein nicht das Erwerbs­ kriterium sein, weil diese allseitig vollkommen zufällig ist (z. B. ob man am Bug oder Heck des kenternden Schiffes ins Wasser fällt und ob das retten­ de fremde Boot räumlich näher am Bug oder Heck liegt). Selbst wenn derjenige, der sich räumlich am nächsten am rettenden Boot befindet auch derjenige ist, der zuerst (vielleicht sogar explizit) ruft, das Boot solle zur Rettung seins sein, dann wäre dies im Verhältnis zu anderen Notleidenden 380  Vgl. allgemein B.II.3. zur Unbedingtheit der Materiezuordnung betreffend das dadurch „innere Mein“ und Fn. 221 zur Konstellation eines mehrseitigen Erwerbs­ versuchs im Hinblick auf ein Objekt, mit dessen Hilfe sich nicht jeder für sich, sondern nur der eine alternativ zum anderen retten kann. Gewalt gegeneinander ist im rechtlichen Verhältnis mehrerer Notleidender zueinander, von denen noch keiner die Sache erworben hat, unzulässig. Dass, wenn mehrere – praktisch nahezu ausge­ schlossen, aber theoretisch denkbar – zeitgleich zugreifen, rechtlich dann alle mitei­ nander untergehen müssen, ist die zutreffende Konsequenz (vgl. noch B.V. und auch Kant, a. a. O., Fn.  223).

266

B. Auflösung der Aufgabe

nicht bindend, weil das gesamte Verhältnis nicht vorgestellt werden kann wie ein rechtsgeschäftliches Angebot, welches der Bootsbesitzer gegenüber allen oder dem nahesten machte, sondern – was den potentiellen Sacher­ werb angeht – bloß als ein Verhältnis einseitigen Zugriffs des einen (jedes) Notleidenden gegenüber dem an sich Gebrauchsbefugten (Vorerwerber). Insofern kann der Noterwerb – im Verhältnis mehrerer Notleidender zuein­ ander – doch erst bei zeitlich-erstem physischem Zugriff (Herstellung auch empirischen Besitzes) vollendet sein. Ab dann (erster physischer Zugriff) kann also erst ein Gewaltrecht (Notwehrrecht) gegenüber anderen – später zugreifenden und damit rechtswidrig angreifenden – Notleidenden bestehen. Das wiederum bedeutet jedoch für den an sich Gebrauchsbefugten (Vorer­ werber) im Verhältnis zu den mehreren Notleidenden (die sich nicht alle retten können), dass auch für ihn erst bei zeitlich-erstem physischen Zugriff (empirischer Besitznehmung) erkennbar ist, wer der Erwerber ist. Liegt hier ein Dilemma vor? Nein, es handelt sich bloß um ein Scheinproblem, das wie folgt aufzulö­ sen ist: Bei Gefährdung des Lebens oder Gefahr einer (bedeutsamen) kör­ perlichen Schädigung hat sich ein in Bezug auf eine zur Errettung erforder­ te Sache Gebrauchsbefugter (Eigentümer, Besitzer) des Gebrauchs dieser Sache dann insoweit zu enthalten, wie er der Rettung entgegenstünde (und sofern dies ohne eigene körperliche Beeinträchtigung des Vorerwerbers ge­ schehen kann), wenn der Notleidende oder ein hilfsbereiter Dritter in dessen Willen diese Sache erkennbar zur Rettung nutzen will und physisch in der Lage ist, die Sache zu erreichen. Die Gebrauchsbefugnis des an sich Befugten wird also schon bei Beginn des Erwerbsversuchs (bei physischer Er­ reichbarkeit) durch den Notleidenden eingeschränkt. Der Noterwerbstatbestand wird aber erst vollendet mit physischem Zugriff auf die Sache (Begründung auch-empirischen Besitzes). Aus letzterem folgt, dass im Verhältnis mehrerer Notleidender, die sich nur alternativ retten können, erst bei Begründung empirischen Besitzes durch den zeitlich-zuerst Zugreifenden die – dann notwehrfähige – Erwerbsposition entsteht (insoweit unterscheidet sich der rechtliche Noterwerb im Detail vom regulären Erwerb des Vorrangs beim Gemeingebrauch etwa betreffend öffentliche Parkplätze, vgl. § 12 Abs. 5 StVO, oder beispielsweise dem Anstellen an der Supermarktkasse oder am Geldautomaten). Für den an sich Gebrauchsbefugten (Vorerwerber) folgt aus dem Um­ stand, dass die reale Rettungsposition erst durch zeitlich-erste Begründung empirischen Besitzes vollendet rechtlich-erworben wird, wiederum Folgen­ des: Der an sich Gebrauchsbefugte muss im Verhältnis zu den bis zum empirischen Zugriff des Ersten zueinander gleichrangigen Erwerbsanwärtern (den Erwerb Versuchenden) zwar einen Gebrauch der Sache insoweit



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten267

unterlassen, wie er die Rettung überhaupt verhinderte; er kann aber – wenn sich aufgrund der physischen Gegebenheiten nur einer der Notleidenden alternativ zu anderen retten kann – sollte er zur (rechtlich nicht geschuldeten) aktiven Hilfe bereit sein, wählen, wem er den ersten Zugriff ermöglicht (wobei dies nur durch Annäherung an den Ausgewählten, nicht durch ge­ waltsame Abwehr des Zugriffs anderer geschehen darf, weil der zuerst physisch Zugreifende dem an sich Gebrauchsbefugten durch den Zugriffsakt eben kein Unrecht tut). Am Beispielsfall der auf See in ihrem Boot (welches insgesamt nur zwei Personen tragen kann) ruhenden Frau A im Verhältnis zu den notleidenden Schwimmern S1 und S2: Ab dem Moment, in dem einer der Notleidenden seinen Erwerbswillen kenntlich macht (auf irgend eine erkennbare Weise konkludent zeigt) und er das Boot der A physisch erreichen kann, ist A rechtlich gehindert, davon zu fahren (Beschränkung des Umfangs ihrer Gebrauchsbefugnisse). S1 und S2 dürfen sich auf ihrem Weg zum Boot nicht in anderer Weise begegnen, als sie es ohne die Notlage dürften, ins­ besondere einander keine Gewalt antun. Der Noterwerber am Boot, soweit dessen Gebrauch zur Rettung erforderlich ist, wird derjenige, der (eben unter Wahrung des Rechts) dieses physisch als erster erreicht381. Sofern Frau A – aus welchen Gründen auch immer – die Rettung des weiter ent­ fernten S2 anstelle der (nur alternativ dazu möglichen) Rettung des S1 wünscht, kann sie diese rechtlich bewirken: Zwar darf sie, sobald S1 das Boot erreicht hat und nun an dessen Rand greift, um sich hinauf zu ziehen, dessen Hand dabei nicht abwehren. Sie darf aber vor Begründung physischen Besitzes durch S1 ihr Boot an diesem vorbei zu S2 fahren, um diesem den ersten Zugriff zu ermöglichen (vorausgesetzt ist dabei selbstverständ­ lich, dass sie gegenüber S1 keine Hilfsrechtspflicht bzw. Garantenpflicht aus einem vorherigen Sonderrechtsverhältnis im Sinne einer Beschützerga­ rantenstellung innehat). Soweit lässt sich also die These aufstellen, ein grundbegrifflich möglicher und notwendiger Notstandsrechtsbegriff müsse in etwa wie folgt formuliert werden: „Wer in einer für ihn zufälligen Gefahr für sein Leben oder für seine Kör­ perintegrität den selbständigen (Selbst-)Erhalt auf der Welt nur durch den Zugriff auf an sich anderen zustehende Güter erreichen kann, der darf auf äußere (das sind: nicht zum innerem Mein von Jemandem gehörende) Güter 381  Der Grund, weshalb der zeitlich-erste der erste wird, spielt keine Rolle, sofern er anderen kein Unrecht tut (siehe dazu Fn. 380 und Fn. 223). Es mag also sein, dass er schneller schwimmen kann als der andere, dass er aus anderen Umständen dem Boot schon räumlich-näher war, dass der andere vor ihm plötzlich einen Herz­ infarkt erleidet etc.

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B. Auflösung der Aufgabe

in zur Rettung erforderlichem Umfang zugreifen (handelt nicht rechtswidrig), es sei denn, der bisherige Inhaber (Vorerwerber) ist ebenfalls zur Bewahrung seiner körperlichen Integrität oder der Handlungsfreiheit überhaupt auf diese Güter angewiesen. Dieselbe Befugnis hat ein Dritter, sofern er im wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Notleidenden handelt.“ Der Zugriff beginnt mit dem (nicht von vornherein untauglichen) Versuch der physischen Erreichung der Sache in der Notsituation und wird vollendet durch die physische Erreichung. Mit Zugriffsbeginn ist die Gebrauchsbefug­ nis des Eigentümers bzw. Besitzers im Umfang insoweit beschränkt, wie der Gebrauch einer Rettung des Notleidenden entgegenstünde. Eine aktive Hil­ fe unter Einsatz der Sache gegenüber einem Notleidenden bleibt dem Ei­ gentümer bzw. Besitzers auch dann rechtlich-möglich, wenn dadurch einem anderen von mehreren nur alternativ rettbaren Notleidenden die Vollendung seines Erwerbsversuchs unmöglich gemacht wird; aktive Handlungen (Ab­ wehr) gegen die den Erwerb vollendende Handlung eines Notleidenden sind jedoch unzulässig. Der Notrechtsbegriff ist nun nach seinem Grund, seinem wesentlichen Inhalt und damit seinen Grenzen dargelegt. Weitere Konkretisierungen im Rahmen von Einzelfallbeurteilungen sollen dem letzten Abschnitt vorbehal­ ten bleiben (B.V.). Aus der dargelegten Notrechtsherleitung folgt auch: Aus der Ausübung der Zugriffsbefugnis resultiert eine Pflicht des gerechtfertigt handelnden Notstandstäters, dem von der Notstandstat faktisch-betroffenen eigentlichen Zuordnungssubjekt (Sacheigentümer bzw. Besitzer) Ersatz für etwaigen Wertverlust zu leisten, sodass dessen wirtschaftliches Vermögen dem Wert nach nicht geschmälert wird: Zwar hat der Sacheigentümer, wenn er nicht ebenfalls zur Wahrung seiner Körperintegrität oder Fortbewegungsfreiheit überhaupt auf die Sache (das Objekt der Notstandstat) angewiesen ist, kon­ kret (in der Notstandslage) keine oder eine stark beschränkte Gebrauchsbe­ fugnis daran. Sein vorangegangener Erwerb als seine Leistung bleibt aber insofern berücksichtigt, als ihm – neben seiner vorrangigen Gebrauchsbe­ fugnis bei entsprechender Angewiesenheit auf die zur Rettung erforderte Sache – der wirtschaftliche Wert seiner Leistung bleibt (im positiven Recht richtigerweise auch so geregelt in § 904 S. 2 BGB). Und man beachte: Es handelt sich bei dem soweit vorgestellten Not­ standsrecht entgegen in der Literatur zu lesenden Kennzeichnungen des Notstandsrechts-Problems eigentlich nicht um einen „Rechtsverlust“ oder einen Eingriff in die „rechtlich geschützte Freiheitssphäre“382 des von der 382  So aber Kühl, der streng genommen widersprüchlich schreibt, beim rechtmä­ ßigen Notstandszugriff müsse der von der Notstandstat Betroffene einen geringeren



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten269

Notstandstat Betroffenen; auch verliert niemand einen bestehenden „Freiheitsanspruch“383; keineswegs wird „das Recht auf Kosten eines ande­ ren Rechts“ gewahrt384. Denn Recht bedeutet stets das Zustehen von Etwas zu jemandem (B.II.3.); das Zustehen einer äußeren Sache (nach deren Er­ werb) zu jemandem ist stets bedingt auf die Nichtangewiesenheit anderer auf den Gebrauch der Sache zum selbständigen Erhalt der Person. Der Eintritt dieser Bedingung stellt keinen Rechtsverlust dar. Ein „Freiheitsan­ spruch“ (Pawlik) des von der Notstandstat Betroffenen (etwa des Sach­ eigentümers), wenn damit ein Anspruch auf Selbstbestimmung dahingehend gemeint sein sollte, jedermann müsse die Sache ausschließlich und unbe­ dingt ihm lassen, besteht gar nicht (und kann demgemäß – entgegen Paw­ lik – auch nicht mit einem Anspruch des Notleidenden kollidieren): Der Glaube, äußere Gegenstände absolut-unbedingt erworben zu haben, wäre freiheitsgesetzlich bloß ein Irrglaube. Bevor der nun im Grundsatz dargelegte Notstandsrechtsbegriff mit dem geltenden Recht sowie ausgewählten Positionen des Schrifttums verglichen (B.IV.) und dann abschließend konkretisiert wird (B.V.), bleibt jedoch die Frage zu klären, ob die sich nach dem rechtlichen Grundverhältnis als ab­ solut darstellenden Zugriffsgrenzen, also die rechtliche Unmöglichkeit, über „inneres Mein“ eines anderen unabhängig von dessen besonderem Willensakt (etwa einer Einwilligung oder eines Erwerbs seiner Willkür durch Ver­ trag) rechtlich zu verfügen, durch den ideell-notwendigen Akt der Staatsbegründung erweitert werden können oder gar müssen.

Rechtsverlust hinnehmen bzw. er müsse rechtmäßige Eingriffe in seine „rechtlich geschützte Freiheitssphäre“ dulden, Kühl, FS-Lenckner, S. 150 und 154. Auch die Annahme Küpers, JZ 2005, 106, es handele sich um eine „Kollision individueller Rechtsgüter“, ist bloß die Folge eines Widerspruchs bei der Bestimmung der Rechts­ güter: Eine „Kollision“ dessen, was dem einen im Verhältnis zum anderen zusteht, kann es nicht geben. Verfehlt drückt sich auch Schmidt aus, wenn er schreibt, die Notstandshandlung stelle eine „Rechtsverletzung“ dar, in: v. Liszt / Schmidt, Lehr­ buch, § 34, S. 201. 383  Das hingegen meint Pawlik, Notstand, wenn er von rechtmäßigen Notstands­ eingriffen in den „eigenen Rechtskreis“ (S. 20) oder von einer Kollision von „Frei­ heitsansprüchen der Konfliktbeteiligten“ spricht, S. 103. Auch die von Pawlik, S. 88, gegebene „Formel zur Kennzeichnung des Notstandskonfliktes bei Hegel“, nämlich „das „kontextunsensible Recht der Person … gegen das sachlich-situative Recht auf das eigene Wohl“ enthält die widersprüchliche Annahme eines rechtlich nicht-beste­ henden Rechts, siehe dazu B.II.2. 384  So aber v. Liszt, Lehrbuch, § 34, S. 128.

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B. Auflösung der Aufgabe

2. Weitergehende Notstands-Zugriffsbefugnisse und korrespondierende rechtliche Duldungs- oder gar Handlungspflichten der Bürger aufgrund des notwendigen (ideellen) Staatsbegründungsaktes? Ergeben sich dadurch, dass man der Idee nach mit anderen notwendig einen Staat konstituiert bzw. konstituiert hat (in einen „bürgerlichen Zu­ stand“ getreten ist)385, weitergehende Befugnisse, in Notsituationen auf Güter, die ohne diese Not einem anderen zustehen, in einem zur Notab­ wendung erforderlichem Ausmaß zuzugreifen? Die Frage kann auch so gestellt werden: Können weitergehende Zugriffsmöglichkeiten zur Abwen­ dung von Not und korrespondierende Duldungs- oder gar Handlungspflich­ ten als Inhalte des ideellen Staatsbegründungsaktes betrachtet werden, so­ dass solche Zugriffe doch mit dem Personenstatus jedes Einzelnen zusam­ menstimmen? Wenn angeborene Güter einschließlich der Willkür eines anderen zu einer aktiven Hilfeleistung nicht einseitig erworben werden können (aktive Hand­ lungen im rechtlichen Grundverhältnis nicht allgemein rechtlich-geschuldet werden386), stehen dann zumindest bestimmte angeborene Güter bzw. ge­ wisse aktive Handlungen des einen dem jeweils anderen eventuell deshalb rechtlich zu, weil sie von dessen (ideellem) Akt der Mitkonstitution des Staates umfasst sind? Was ist der Inhalt des ideellen Staatsbegründungsakts? Die Frage nach dem Inhalt des ideell allseitig-notwendigen Staatsbegrün­ dungsakts ist die Frage bloß nach den erforderlichen Bedingungen der Rechtsverwirklichung (siehe dazu schon A.II.5. und 6. sowie Einleitung zu B.III.). Und diese Frage ist abstrakt eindeutig zu beantworten: Der Inhalt ist kein anderer als bloß die Errichtung und Erhaltung des Staates als gewaltengeteilter Institution zur kontinuierlichen Rechtsverwirklichung bzw. -durchsetzung. Rechtsdurchsetzung heißt Verwirklichung der – auch zwangsweise herbei­ führbaren – (Mindest-)Bedingungen eines seinsollenden Verhältnisses der Menschen. Insofern ergibt es eigentlich ein schiefes Bild, den ideellen Akt 385  Zu dieser Notwendigkeit zur kontinuierlichen Rechtsdurchsetzung siehe A. II.5. und B.II.3.g). 386  Eine nicht auf Vereinbarung beruhende Sonderverbindung, aus welcher je­ mand zu aktiven Handlungen rechtlich verpflichtet ist, entsteht lediglich mit der Begründung eines Familienverhältnisses, vgl. Fn. 326 (die Eltern schulden ihren minderjährigen Kindern den Ausgleich des Mangels an Selbständigkeit) oder aus Ingerenz im Sinne eines rechtswidrigen Unselbständigmachens eines anderen, sodass daher drohende, weitergehende Verletzungen abzuwenden sind.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten271

der Staatsbegründung als „ursprünglichen Kontrakt“ bzw. „Vertrag“ zu be­ zeichnen, wie auch Kant dies zur Veranschaulichung (metaphorisch) einige Male tat (vgl. Fn. 200): Weil der ideelle Staatsbegründungsakt notwendige Bedingung kontinuierlicher Rechtsdurchsetzung bzw. -verwirklichung ist, steht er weder in seiner Durchführung überhaupt, noch seinem Inhalt nach im Belieben einer Person (anders als der privatautonom geschlossene Vertrag). Kant etwa bezeichnet dementsprechend „das Vaterland“ als „das Land (territorium), dessen Einsassen schon durch die Konstitution, d. i. ohne ei­ nen besonderen rechtlichen Akt ausüben zu dürfen (mithin durch die Ge­ burt), Mitbürger eines und desselben gemeinen Wesens sind“, wobei die Geburt eben „keine Tat desjenigen ist, der geboren wird“387. Selbstverständ­ lich hat „der Untertan (auch als Bürger betrachtet) … das Recht zur Aus­ wanderung; denn der Staat könnte ihn nicht als sein Eigentum zurück­ halten“388; deutlich ist jedoch, dass auch nach Kant das rechtlich notwen­dige Eintreten in einen bürgerlichen Zustand bzw. der allseitige Akt der Mitwir­ kung an der Staatskonstitution eben ein Akt in der Idee ist. Das heißt kon­ kret: Die Bezeichnung dessen als ein aktives Handeln dient bloß zur Ver­ deutlichung der Notwendigkeit, den Menschen als (Rechts)Person unabhängig von seinem möglichen Dasein als Mitglied einer Gesellschaft bzw. eines Staates zu denken: Der Staat ist die notwendige, der Idee nach erst durch Rechtspersonen zu schaffende Institution zur kontinuierlichen Rechtsdurchsetzung (Rechtsstaat); es kann kein Recht durchgesetzt werden, das nicht schon vor Durchsetzung bestand. Bei der konkreten Darstellung dieses rechtlichen Verhältnisses in Raum und Zeit wird nicht erfordert, dass in positiven Rechtsordnungen tatsächlich eine bestimmte personale Willensäußerung des Inhaltes „Ich konstituiere mit euch zur allgemeinen Rechtsdurchsetzung einen Staat“ vorgesehen ist389. Vielmehr kann das Subjekt, gerade weil ein solcher Akt der Idee nach Kant, MdS, RL, § 50 und derselbe, Theorie und Praxis, S. 293. positivem deutschen Recht ist ein Verzicht oder Verlust auf die durch Geburt (oder unter den sonstigen Voraussetzungen, § 3 StAG) erhaltene Staatsbür­ gerschaft unter den Voraussetzungen der §§ 26 ff. StAG möglich. 389  Dementsprechend regeln die meisten positiven Rechtsordnungen den Erhalt der Staatsbürgerschaft als mit dem Staatsbegründungsakt einhergehenden Umstand auch nicht etwa als einen besonderen personalen Willensakt, den eine vorher nicht als Staatsbürger betrachtete Person ab einem bestimmten Alter durchführen könnte bzw. müsste: Nach deutschem Recht etwa tritt die Staatsbürgerschaft unter bestimm­ ten Voraussetzungen ab Geburt ein, §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 StAG. In der Bezeichnung dieses gesetzlichen Automatismus als „Erwerb“ der Staatsbürgerschaft (§§ 3, 4, 6 StAG) ist das jedem möglichen Erwerb logisch und demnach zeitlich vorangehende Rechtspersonsein impliziert (man muss auch nach positivem deutschen Recht also annehmen, dass das die Staatsbürgerschaft durch Geburt erhaltende Wesen zumin­ dest eine „juristische Sekunde“ vorher zur Rechtsperson geworden war). 387  Siehe 388  Nach

272

B. Auflösung der Aufgabe

notwendig ist, sogar schon vor jeder Befähigung, eigene Entscheidungen zu treffen (nämlich schon ab Geburt), in diesem Sinne festgelegt werden390 – allerdings mit der Möglichkeit, später unter Umständen aus der konkreten rechtlichen Verfasstheit unter Verzicht auf deren Staatsbürgerschaft auszu­ treten (auszuwandern). Das bedeutet aber eben notwendig auch: Auf mehr als Staatserrichtung und -erhaltung kann dadurch niemand legitim rechtlich-festgelegt werden. Der (ideelle) allseitige Staats(mit)begründungsakt hat keinen anderen Inhalt als die Zusage der Errichtung und Erhaltung eines Staates als Institution zur Durchsetzung der personalen Rechte (als Institution zur Verwirklichung der notwendig zu denkenden ursprünglichen Zuordnungen von Materie zu Subjekten als angeborene Güter der Person und zur konkreten Bestimmung und Durchsetzung der erwerblichen Rechte). Damit sind also solche Verhaltensweisen notwendig (Rechtspflichten), die als erforderliche Mittel zur Errichtung und -erhaltung des Rechtsstaates betrachtet werden können. a) Bürgerpflichten zur Rechtsdurchsetzung: Zusätzliche Notstandshilfepflichten im Rechtsstaat? Zwar begründet die Staatserrichtungs- bzw. Staatserhaltungspflicht gegen­ über dem rechtlichen Grundverhältnis tatsächlich zusätzliche Pflichten zum aktiven Tätigwerden bzw. Mitwirken der Bürger391: 390  Anders ausgedrückt: Es kann jedermann unterstellt werden, dass er das Gebot zur Rechtsdurchsetzung „Tritt … in eine Gesellschaft mit anderen, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue)“ (Kant, MdS, S. 236–237), erfüllt (hat). Nur ein – wie auch immer – staatenlos Gewordener oder jemand, der eine ihm zunächst fremde Staatsbürgerschaft annehmen möchte, muss diesen Inhalt dazu aktiv erklären. Dem korrespondiert eine Annahme, die Kant wie folgt aus­ drückte: „Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich“ (MdS, allg. Anm. A zu § 49). Das soll heißen, dass die Anerkennung der Zuständigkeit der staatlichen Institution zur Rechtsdurchsetzung eben nicht von einer wirklichen personalen Erklärung bzw. ei­ nem irgendwie wirklichen „ursprünglichen Vertrag“ abhängen kann (an welchen der Einzelne im Übrigen auch nur gebunden wäre, wenn er selbst wirklich eine Willenserklärung abgegeben hätte). Sollte ein Staatsbürger urteilen, es handele sich bei dem (zunächst) eigenen Staat nicht um einen Rechtsstaats oder gar um ein systematisch Unrecht verwirklichendes Gebilde, so muss er „aus aller Verbindung … herausge­ hen“ und eintreten „in eine Gesellschaft mit anderen, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann“, 2. und 3. allgemeine Rechtspflicht, siehe Kant, MdS, S. 236–237. 391  Siehe dazu auch Dühr, Prinzip und System der Grundpflichten, Hamburg 2002. Worum es im Folgenden vor dem Hintergrund der Frage nach staatsbürger­ lichen Handlungs- oder Duldungspflichten (und ggf. korrespondierenden Rechten



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten273

Das primäre Erfordernis der Staatserhaltung / -verwirklichung ist die bür­ gerliche Pflicht, öffentliche Abgaben zu leisten, um die ideell-notwendigen Institutionen (Gewalten) überhaupt wirklich und handlungsmächtig zu ma­ chen: Die allgemeine Pflicht des Staatsbürgers, Steuern zu zahlen392. Da­ durch werden staatliche Institutionen in die Lage versetzt, die Staatsaufga­ ben (stets: Rechtsdurchsetzung) zu erfüllen. Über die Steuerzahlung hinausgehendes aktives Handeln der Bürger als von der Staatsgründungs- und Staatserhaltungspflicht mitumfasste Akte auszuweisen, bedarf hingegen besonderer Begründung und wird nur selten gelingen. Denn der Maßstab ist eben: Ist ein bestimmtes aktives Tun oder eine Gewährung gar des eigenen Körpers zur Verwirklichung bzw. zum Erhalt des Rechts(durchsetzungs)staats erforderlich? Das positive deutsche Recht geht – nach diesem Maßstab beurteilt – in­ soweit gelegentlich zu weit, obwohl das Grundgesetz bzw. die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland393 unproblematisch im Sinne des hier vorgestellten Rechtskonzepts ausgelegt werden kann. anderer bzw. des Staates) nicht geht, sind besondere Unterlassungspflichten, die es nur im Staat geben kann und die grundbegrifflich unproblematisch (in der Rechts­ konstruktion von selbst folgend) sind. Einige dieser nur im Staat denkbaren Unter­ lassungspflichten zu verletzen verwirklicht schweres Unrecht; das deutsche Recht fasst solches dementsprechend in bestimmten Straftatbeständen. Legitime Straftatbe­ standsformulierungen betreffend Delikte (auch) gegen den Staat finden sich etwa in §§ 80, 81–83, 105 ff., 153 ff., 257, 258 und 331 ff. StGB, vgl. ausführlicher Helmers, ZStW 2009, 527 ff. 392  Davon eingeschlossen sind Mitwirkungsobliegenheit, bei deren Nichterfüllung eine Schätzung durch die zuständige staatliche Stelle die richtige Konsequenz ist; im positiven Recht so ähnlich geregelt, siehe etwa §§ 88, 90, 162 AO. Offenbleiben muss hier, wie allgemeine Steuertatbestände legitimer- und sinnvollerweise zu for­ mulieren sind, welcher Spielraum dabei bestehen muss, und ob das positive Recht dem stets genügt oder nicht. 393  Im Gegensatz zur hier dargelegten Rechtskonstruktion findet sich hingegen etwa in der Bayerischen Landesverfassung (BV), nämlich im dortigen Art. 117, eine einen unmittelbar-materialen Ansatz offenbarende Anmaßung: „Der ungestörte Ge­ nuss der Freiheit für jedermann hängt davon ab, dass alle ihre Treuepflicht gegen­ über Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen erfüllen. Alle haben die Verfassung und die Gesetze zu achten und zu befolgen, an öffentlichen Angelegenheiten Anteil zu nehmen und ihre körperlichen und geistigen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“. Der dem Wortlaut nach eine Menge aktiver, teil­ weise sogar bloß innerlicher Handlungen bzw. Haltungen fordernde Artikel 117 BV ist als verfassungswidrig zu beurteilen. Weder geht es im Recht unmittelbar um den „Genuss“ von irgendetwas, noch besteht eine Rechtspflicht zum aktiven Einsatz körperlicher oder geistiger Kräfte nach den Erfordernissen eines wie auch immer bestimmbaren „Wohls der Gesamtheit“ und schon gar nicht handelt es sich bei einer „Treuepflicht gegenüber dem Volk“ oder einer über die Gesetzesbefolgung hinausgehenden Pflicht zur Achtung der Gesetze um Rechtspflichten (die Achtung des

274

B. Auflösung der Aufgabe

Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar nach dem „Grundgesetz … die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an“394. Es bleibt dann jedoch hinsichtlich der Frage der Legitimität (Verfas­ sungskonformität) positiver Rechtsnormen, die ein aktives Handeln der Bürger als rechtlich geboten vorstellen, letztlich zu pauschal und ohne klaren und festen Maßstab, wenn es etwa eine – ein beabsichtigtes Entschei­ dungsergebnis vorbereitende – unabgeleitete Floskel bemüht wie: „Das Menschenbild des Grundgesetzes … ist nicht das des selbstherrlichen Indi­ viduums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und vielfältig verpflichteten Persönlichkeit“395. Richtig ist: Es gibt Staatsbegründungs- bzw. -erhaltungspflichten als Rechtspflichten, deren Erfüllung eben kein Verdienst ist. Aber dies bedeutet keine diffuse rechtlich-bindende Einfügung jedes Einzelnen in eine beson­ dere Solidargemeinschaft, sondern bloß die erforderliche Mitverwirklichung kontinuierlicher Rechtsdurchsetzbarkeit durch Staatserrichtung bzw. -erhalt: Die konkreten, durchzusetzenden Rechte müssen also als unabhängig vom Staat existent gedacht / denkbar sein. Die speziell-staatsbürgerlichen Pflich­ ten haben stets bloß diejenigen Mitwirkungshandlungen der Bürger zum Inhalt, die das Dasein bzw. Wirken der staatlichen Institutionen hervorbrin­ gen bzw. erhalten. Es besteht zwar ein Beurteilungsspielraum bzw. ein Ermessen des wirkli­ chen Gesetzgebers, sowohl was das Aufstellen von Steuertatbeständen und die sinnvolle Verwendung der eingenommenen Steuern, als auch was die Beantwortung der Frage angeht, welche sonstigen aktiven Handlungen zur Verwirklichung des Rechtsstaats erforderlich sind. Der oben genannte Maßstab muss dabei aber stets zugrundegelegt werden und verfassungsrechtlich-leitend sein. Die gegenteilige Annahme dahingehend, man könne etwa durch Mehr­ heitsentscheidung Rechtspflichten zu aktiven Handlungen weitgehend belie­ bigen Inhalts legitim statuieren (wie manche das Wort „demokratisch“ ver­ stehen möchten), konterkarierte den dargestellten Staatsbegründungszusam­ Rechts zum stets hinreichenden Befolgungsgrund zu machen, ist ethische Pflicht, vgl. A.II.3 und B.II.3.e)). 394  Etwa BVerfGE 12, 53, 54. 395  BVerfGE 28, 175 (189) mit Verweis auf BVerfGE 12, 45(51). Zumindest die – mit ihren Meinungen allerdings oft nicht repräsentativ für das BVerfG stehende – Verfassungsrichterin Haas glaubte irrig an eine empiristische Rechts- und Staatsbegründung im Sinne von Hobbes: „… Um des staatlichen Schutzes willen, um der Gewährleistung der Unversehrtheit ihrer elementaren Lebensgrundlagen willen haben sich die Menschen ursprünglich zum Staatenverband zusammengeschlossen …“, Haas, Sondervotum zu BVerfG, JZ 2006, 906 ff., 915.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten275

menhang und wäre geradezu absurd. Denn die Bindung aller staatlichen Gewalt an das vorpositiv-existente Recht der Menschen – nach welchem die eine Person der anderen weder mit ihrem Körper noch in ihrer Willkür (Handlungsmöglichkeit) ursprünglich zugeordnet ist – würde dadurch zum bloßen Schein herabgesetzt: Letztlich bedeutete ein solches Demokratiever­ ständnis (faktische Mehrheitsvereinbarungen ohne feste Grundlage bzw. Verfassung, welche vorgibt, was der eine über den anderen beschließen und diesem gegenüber ggf. zwangsweise durchsetzen kann und was nicht), dem einzig-möglichen Rechtsbegründungskonzept eine unmittelbar-materiale Ba­sis unterzuschieben und es somit zu vernichten396. Die vorpositiven Rechtsinhalte bzw. die im rechtlichen Grundverhältnis (abstrahiert vom Staat) zu denkenden Zustehensbeziehungen zwischen den Menschen werden durch die Staatsbegründungs- und Staatserhaltungspflicht an sich nicht verändert. Die Frage nach speziellen, notstandsrechtlichen Bürgerpflichten ist die Frage, ob das Dulden eines Zugriffs auf die eigene Körperlichkeit oder eine aktive Hilfeleistung zu Gunsten eines notleidenden anderen erforderliche Bedingungen zur Errichtung oder Erhaltung des Rechts(durchsetzungs)staats im Rahmen seiner Aufgabe der Gefahrenabwehr sind. aa) Bürgerliche Pflichten im Zusammenhang mit der staatlichen Aufgabe der Gefahrenabwehr, insbesondere Inanspruchnahmen von Nicht-Gefahrverantwortlichen (Nichtstörern) Der Staat als Rechtsdurchsetzungsinstanz ist auf eine nach Gesetzen ver­ fahrende Exekutive in Form von Ordnungsbehörden und Polizei angewie­ sen. Das durch positives Gesetz (und Verordnungen) konkretisierte Rechtsver­ hältnis (etwa durch Wegenutzungsbestimmungen, Umweltgesetze, Bestim­ mungen betreffend den Umgang mit gefährlichen Gegenständen etc.) muss mit Hilfe von entsprechenden Ordnungsbehörden verwirklicht werden. 396  In diesem Sinne sind Kants Ausführungen zu einer nicht an apriorische Rechtsgesetze (Vernunftgesetze) rückgebundenen, direkten Demokratie zu verstehen „Unter den drei Staatsformen ist die Demokratie, im eigentlichen Verstande des Wortes, notwendig ein Despotismus, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen, welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist“, Kant, Zum ewigen Frieden, 1. Definitiv­ artikel, S. 352.

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B. Auflösung der Aufgabe

Der Staat hat die Aufgabe, im Vollzug befindliches Unrecht durch Polizei zu beenden und drohendes Unrecht ggf. gar nicht zum Vollzug gelangen zu lassen. Das Gefahrenabwehrrecht dient insofern einesteils unmittelbar der Rechtsverwirklichung (Wahrung des rechtlichen Verhältnisses durch Un­ rechtsverhinderung oder -beseitigung). Anderenteils wird es in wohl fast allen Staaten auch als Staatsaufgabe betrachtet, bloße Naturgefahren (etwa Überschwemmungen, niemandem zurechenbare Brände und sonstige Unglücke) möglichst zu verhindern und deren Auswirkungen im Falle des Eintritts gering zu halten. Diese Seite der Gefahrenvorsorge und -abwendung ergibt sich auf den ersten Blick nicht ohne weiteres aus der Bestimmung des Staates als Rechtsdurchsetzungsins­ tanz. Die bloße Naturgefahr ist zwar für die betroffenen Menschen ein – ggf. vernichtendes – Übel. Unrecht ist sie oder ihre Realisierung jedoch mangels personaler Verantwortlichkeit nicht; das Rechtsverhältnis wird da­ durch unmittelbar gar nicht beeinträchtigt. Trotzdem ist diese Art der (Natur-)Gefahrenvorsorge und -abwehr durch Ordnungsbehörden und Polizei im Rechtsverwirklichungsstaat notwendig. Dies liegt aber – entgegen Pawlik – nicht etwa daran, dass der Mensch im Staat nun eine „Rolle als Bürger“ zu spielen habe, die „ihn zur Sorge um die Belange der Allgemeinheit berechtigt und verpflichtet“ (Pawlik, Not­ stand, S. 183). Auch ergibt sich diese Staatsaufgabe nicht daraus, dass sich der neuzeitliche Staat im unmittelbar-materialen Sinne Hobbes’ (als Lebens­ sicherungsinstrument) oder Hegels (als Wohlberücksichtigungsinstanz) „zu einem erheblichen Teil kraft seiner Fähigkeit, Nöte im großen und ganzen erfolgreich zu bekämpfen“, rechtfertige (Pawlik, ebenda, S. 187). Eher ist es umgekehrt: Der Staat stellt sich als Rechtsstaat dar, sofern gezeigt werden kann, wie die Vorsorge und Abwendung von aus bloßen Naturumständen entstandenen Nöten mit aus allgemeinen öffentlichen Ab­ gaben finanzierten Mitteln überhaupt mit der Durchsetzung des Rechts zusammenhängt und nicht bloß Wohl- oder Gütermaximierung ist. Dies ist deshalb der Fall, weil jedenfalls solche Notsituationen, die einen Menschen im Leben oder in nicht unerheblichem Maße in der körperlichen Unversehrtheit und damit seinen Selbsterhalt als (selbständige) Person bedro­ hen, auflösende Bedingungen der Anerkennung der bisherigen Güterzuordnung betreffend das äußere Mein (Sachenrechte) darstellen, insoweit die je­ weilige Sache zur Abwendung der Not erforderlich ist (siehe oben B.III.1.). Da der Staat als Rechtsdurchsetzungsinstanz der Idee nach dazu dient, den (provisorischen) Privatbesitz in peremtorischen zu überführen (wobei dies immer nur eine Annäherung ist), muss die nie ausschließbare, auch naturhaftzufällige Existenznot einer Person (die ein jeder für sich als ethische Pflicht sowieso zu vermeiden suchen müsste) auch interpersonal-rechtlich möglichst



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten277

vermieden werden. Zwar stellen naturzufällig-eintretende Notstände einzel­ ner Personen nicht unmittelbar ein rechtliches Problem dar, weil die persona­ len Gebrauchsbefugnisse hinsichtlich äußerer Gegenstände sich dann eben – gemäß dem unter B.III.1. dargestellten Prinzip – andauernd im Umfang ver­ änderten (nämlich mit dem zur Rettung erforderlichen Zugriff durch den Notleidenden für diesen insoweit erweiterten und für den von der Notstands­ tat Betroffenen entsprechend reduzierten). Die mit dem jeweiligen vorange­ gangenen Erwerbsakt verbundene Leistung des an sich Gebrauchsbefugten ginge so jedoch in ihrem Ergebnis mindestens teilweise verloren. Etwaige Entschädigungsansprüche des von der Notstandstat Betroffenen – dazu noch unten B.IV.1.b)bb) – setzen eben einen Schaden voraus. Darin liegt jedenfalls ein hinreichender Rechtsgrund, staatliche Gefahren­ vorsorge und -abwehr im Rechtsstaat auch hinsichtlich drohender Naturgefahren zu betreiben. Die verfügbaren / vorgehaltenen Mittel können dann auch, sofern keine Unbeteiligten negativ betroffen werden, zur Abwendung drohender nicht-notstandsrechtsbegründender Unglücke geringeren Umfangs eingesetzt werden. Um Missverständnisse zu vermeiden: Eine quasi kollek­ tive, auf staatliche Institutionen übertragene Lebens- und Leibessicherung durch Vorsorge vor und Abwendung von Naturgefahren ist für sich betrach­ tet – also auch unabhängig von den eigentumsrechtlichen (privatrechtlichen) Folgen des Eintritts von personalen Notständen – eine rechtlich mögliche und zum gesicherten Zusammenleben auch sinnvolle Staatsleistung. Dass es sich dabei um eine rechtlich-gebotene – schon aus dem Begriff des Rechts­ durchsetzungsstaates in Bezug auf ein zugrundeliegendes, vorpositives Rechtsverhältnis folgende – Staatsaufgabe handelt, wird jedoch erst unter deren Einbezug deutlich. Was nun die Frage von etwaigen Handlungs- oder Duldungspflichten der Bürger betreffend Gefahrenabwehr im Rechtsstaat angeht, so sieht man deutlich: Die Ordnungs- und Polizeibehörden stellen insoweit die exekuti­ ven – an jeweilige positive Gesetze gebundenen – Durchsetzungsinstanzen dar; dem Bürger kommt insoweit rechtlich unmittelbar keine andere Aufgabe zu, als das Rechtsverhältnis zu wahren und Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit zu vermeiden. Nicht hingegen sind die Bürger rechtlich gehalten (bloß weil sie Bürger sind), extern entstandene Gefahren selbst tätig zu beseitigen. Staatliche Inanspruchnahmen der Bürger sind zur Beseitigung einer Ge­ fahr oder Störung rechtlich an sich unproblematisch, soweit sich diese Maßnahme gegen die ordnungsrechtlich bzw. polizeilich Gefahr- bzw. Störungsverantwortlichen (sogenannte Verhaltens- bzw. Zustandsstörer) richten: Diese ziehen sich die zur Gefahrenbeseitigung erforderlichen Inanspruch­ nahmen jedenfalls in einem weiten Sinne selbst zu; sei es aus Unrechtsver­

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B. Auflösung der Aufgabe

antwortung, sei es aus dem Erwerb von Gebrauchsmöglichkeiten über eine Sache397. Rechtlich problematischer ist hingegen eine – in Deutschland etwa in allen Landespolizeigesetzen vorgesehene – ordnungsbehördliche oder poli­ zeiliche „Inanspruchnahme“ Nicht(gefahr)verantwortlicher398 (von Nichtstö­ rern). Dies wird oft als „polizeilicher Notstand“ bezeichnet, weil stets vorausgesetzt ist, dass 1. eine gegenwärtige erhebliche Gefahr abzuwehren ist, 397  Wobei auf die in der öffentlich-rechtlichen Literatur und Rechtsprechung ver­ tretenen verschiedenen Positionen betreffend die begriffliche Fassung der ordnungs­ rechtlichen Verantwortlichkeit bzw. des Störerbegriffs hier nicht eingegangen werden kann, vgl. dazu etwa Schenke, Polizeirecht, Rn. 241 ff. m. w. N. Eine schwierig zu beantwortende und hier offenbleibende Frage ist, wie es rechtlich zu beurteilen ist, wenn ein für den Staat zur Gefahrenabwehr Zuständiger objektiv ex-ante in seiner Handlungssituation eine andere Person für einen rechtswidrigen Störer bzw. Angreifer halten muss, der diesen Anschein tatsächlich jedoch nicht in zurechenbarer Wei­ se selbst gesetzt hat und wenn nun eine einschneidende, in der Handlungssituation aber objektiv ex-ante erforderlich erscheinende (vermeintliche) Verteidigungshand­ lung erfolgt. Beispiel: Der Scharfschütze eines SEK muss die hinter einer gegen­ überliegenden Glasfassade wahrnehmbare, mit einem Bombenzünder ausgestattete Person für denjenigen halten, der mit der Zündung einer schweren Bombe in be­ wohntem Gebiet droht. Er hat vor, diese Person kurz bevor die Bombe nach dem Inhalt der Drohung gezündet werden soll, zu erschießen. Tatsächlich handelt es sich bei dem Anvisierten um einen Entführten, der vom wirklichen Angreifer so platziert worden ist. Hier wäre der alle ihm mögliche Sorgfalt beachtende staatsbeschäftigte Scharfschütze zum Eingreifen nicht nur berechtigt, wenn die Wirklichkeit seiner Tatsachenvorstellung entspräche, sondern er wäre unter diesen Bedingungen sogar rechtlich dazu verpflichtet (siehe Fn. 400). Der Erschossene zieht sich diesen Ein­ griff allerdings tatsächlich nicht selbst zu. Ob er oder in seinem Willen ein Dritter – wenn man annimmt, es sei diesem faktisch-möglich – Notwehr gegen den Eingriff des (irrenden) Scharfschützen üben darf oder aber den ihn auslöschenden Eingriff rechtlich hinnehmen muss (entschuldigt nach § 35 StGB wäre der Betroffene beim – im Beispielsfall praktisch nicht möglichen – Vorgehen gegen den Scharfschützen jedenfalls), das ist ein Problem für sich: Letztlich geht es um die Verteilung des Risikos solcher unvermeidbarer Irrtümer auf entweder den Staatsbediensteten – der dann im ggf. unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtum handelte – oder aber auf den Staatsbürger. Die herrschende Meinung im Polizei- und Ordnungsrecht beurteilt nicht nur eine sogenannte „Anscheinsgefahr“ als echte Gefahr, sondern auch einen objektiv ex ante als Störer erscheinenden „Anscheinsstörer“ auf der Primärebene als wirklichen Störer mit der Konsequenz einer „Polizeipflichtigkeit“ dieser Person, siehe etwa Schoch, Jus 1994, 932(934); Erichsen / Wersmann, Jura 1995, 219 (221); OVG Saarland, DÖV 1984, 471; ablehnend hingegen Schenke, Polizei- und Ord­ nungsrecht, Rn. 253  ff. Zum Gefahrbegriff siehe B.IV.1.a)bb) und insbesondere Fn. 446. 398  Rechtsstaatliche Bedenken gegen eine Ausweitungstendenz dahingehend, der Polizei unabhängig von der Verantwortlichkeit des Betroffenen Zugriffe zu gestatten, äußert zu Recht Lisken, ZRP 1998, 270 (271).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten279

2. Maßnahmen gegen die für die Gefährdung Verantwortlichen nicht (recht­ zeitig) möglich sind, 3. die Ordnungs- oder Polizeibehörden die Gefahr nicht selbst, mittels Amtsoder Vollzugshilfe und auch nicht durch Beauftragte abwehren können und 4. der betroffene Nichtverantwortliche nicht selbst in die Gefahr einer eige­ nen erheblichen Verletzung oder der Verletzung „höherwertiger Pflichten“ gebracht wird399. Die Regeln der staatlichen Inanspruchnahme Nichtverantwortlicher ste­ hen – unabhängig von deren historischer Entstehung – in einem direkten sachlichen Zusammenhang mit Notstandsbehauptungen betreffend das un­ mittelbar-interpersonale Verhältnis (etwa §§ 904 BGB, 34 StGB) und Be­ hauptungen einer interpersonalen Hilfsrechtspflicht (etwa § 323c StGB): Stets wird eine zugrundeliegende Bürgerrechtspflicht behauptet, deren Erfüllung der Staat im Bedarfsfall verlangen kann. Nach dem hier dargelegten Rechtskonzept, nach welchem der Staat (als Rechtsstaat) bloß als Rechtsverwirklichungsinstanz tätig wird, sind Inan­ spruchnahmen Nicht-Gefahrverantwortlicher – in eben fest gesteckte Gren­ zen – legitim: Nämlich als staatliche Notstandshilfe für den (1.) von einer „erheblichen Gefahr“ (Lebens- oder Leibesgefahr) Betroffenen in dessen wirklichen oder mutmaßlichen Willen, sofern die Gefahr nicht durch Maßnahmen gegen Gefahrverantwortliche behoben werden kann (2.). Die Gefahrenvorsorge und -abwehr ist Staatsaufgabe; das gilt auch hinsichtlich reiner Naturgefah­ ren (siehe oben). Sofern aber der Staat konkret nicht über wirkmächtige Mittel der Gefahrabwendung verfügt, darf er das jeweilige Notstandsrecht des notbetroffenen Bürgers im Wege der Notstandshilfe durchsetzen (3., insofern ist die Bezeichnung als „polizeilicher Notstand“ in doppelter Hin­ sicht treffend). Das heißt aber zugleich auch, dass die Voraussetzungen des interpersonalen Notstandsrechts vorliegen bzw. eingehalten werden müssen: Es ist eine Gefahr für die personale Selbständigkeit vorausgesetzt, der Zu­ griff darf nur auf fremde Sachen in erforderlichem Ausmaß gehen und der von dem Zugriff Betroffene (Nichtverantwortliche) darf nicht selbst in angeborenen Gütern auf die Sache angewiesen sein (4.). 399  Siehe etwa § 6 MEPolG, dem die bundes- und landesgesetzlichen Normen über die Inanspruchnahme von Nichtverantwortlichen sämtlich nachgebildet sind, etwa § 20 BGSG, § 16 ASOG Berlin, § 9 SOG Hessen, § 10 SOG Hamburg etc. Rechtsgrundlagen für Inanspruchnahmen von Nichtstörern befinden sich etwa auch in den Katastrophenschutzgesetzen, Wassergesetzen und Feuerschutzgesetzen.

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B. Auflösung der Aufgabe

Nur insoweit ein interpersonales Notstandsrecht zu Grunde liegt, ist ein ordnungsrechtlicher oder polizeilicher Zugriff auf Nichtstörer legitim, der sich so als bloße Rechtsdurchsetzung im Sinne der Verwirklichung des vorpositiv zu denkenden Rechtsverhältnisses der Menschen (dann als Bür­ ger) darstellt400. Deshalb liegt etwa Kühnbach falsch, wenn sie im Anschluss an Pawlik glaubt, es liege einer „Berechtigung des Rückgriffs“ der Polizei eine „Pflicht der Bürger zur Solidarität im interpersonalen Verhältnis zu­ grunde“, die auch „staatsbürgerliche Pflicht“ sei401. Solidarität mag eine innere Haltung sein, eine Rechtspflicht ist es nicht. Es gibt also auch unter dem Aspekt der allgemeinen Gefahrenabwehr als Staatsaufgabe ebenso wenig eine „quasi-institutionelle“ (Pawlik, a.  a.  O.) staatsbürgerliche Hilfspflicht als Rechtspflicht, wie es Pflichten zur Duldung des Zugriffs auf den eigenen Körper gibt: Ordnungsbehördliche und polizeiliche Zugriffe sind in erheblichen Notsi­ tuationen – subsidiär zu Maßnahmen gegen Störer oder möglichen Abwen­ dungen mit eigenen Mitteln des Staates – zulässig auf erworbene (äußere) Güter. Unzulässig sind hingegen Zugriffe auf angeborene Güter, was auch eine Pflicht der Bürger zur aktiven Hilfe als Rechtspflicht ausschließt402. Trotzdem ist nach dem vorgestellten Ansatz die staatliche Inanspruchnahme von Nichtstörern in den meisten der insoweit diskutierten oder praktisch werdenden Fälle legitim: Zulässig (wenngleich an der Grenze) ist unter der Voraussetzung einer Leibesgefahr und bei fehlender anderweitiger Abwendbarkeit (wie staatliche Unterkunft oder Mieten eines Hotelzimmers durch die Behörde) etwa die vorübergehende Einweisung eines Obdachlosen in eine Wohnung: Zwar garantiert das Hausrecht (Besitzrecht) an einer Wohnung einen relevanten 400  Da die willentlich zur Gefahrenabwehr (Erfüllung öffentlicher Aufgaben) tä­ tigen Staatsbediensteten konkret (bei Anwesenheit) sogar Garanten für die Sicher­ heit eines dadurch im öffentlichen Raum Gefährdeten sind, sind sie rechtlich sogar zur Leistung von Notstandshilfe verpflichtet. Hierbei handelt es sich – verglichen mit dem rechtlichen (vorstaatlichen) Grundverhältnis – um eine Erweiterung der Willkür des Notleidenden um die helfende Willkür eines anwesenden oder herbeige­ rufene Staatsbediensteten. Diese basiert auf der (willentlichen) Übernahme der Ver­ wirklichung der Staatsaufgabe der Gefahrenvorsorge durch den jeweiligen zuständi­ gen Staatsbediensteten. 401  Kühnbach, Solidaritätspflichten, S. 142–144. 402  Dühr gelangt insoweit zu einem abweichenden Ergebnis, weil er – im An­ schluss u. a. an Köhler – eine ursprüngliche Hilfspflicht als Rechtspflicht bejaht. Der Argumentation Dührs ist dabei anzumerken, dass er selbst deren diesbezügliche Sachleere erkennt und bemerkt, dass die Hilfrechtspflichtanahme – entgegen der von Dühr geäußerten Hoffnung – mit der „kantischen“ Rechtsbegründung nicht zusam­ menpasst, vgl. Dühr, Grundpflichten, S. 208  ff.; siehe dazu ausführlicher noch B.IV.2.b)cc).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten281

Kern privater Lebensgestaltung, letztlich handelt es sich aber um ein er­ werbliches Recht an einer Sache. Zulässig ist beispielsweise auch die polizeiliche Benutzung eines im Ei­ gentum eines Bürgers stehenden Schneidbrenners, um mit dessen Hilfe ein Unfallopfer zu bergen; unzulässig wäre hingegen die Nötigung des Eigen­ tümers, diese Bergung selbst durchzuführen. Entsprechend ist es zulässig, wenn die selbst nicht motorisierte Polizei zur Rettung Verletzter einen privaten Pkw anhält, um die Verletzten damit in ein Krankenhaus zu transportieren (vorausgesetzt, einen Krankenwagen herbeizurufen, wäre konkret nicht möglich); auch eine etwaige Verschmut­ zung oder Beschädigung des Pkws ist dabei gerechtfertigt403. Unzulässig hingegen wäre die Nötigung des Pkw-Führers, gegen seinen Willen selbst zu fahren404. Nach der hier dargelegten Rechtsbegründung kommt übrigens der Frage, ob die Exekutive für ihr Handeln auf eine allgemeine Notstandsrechtferti­ gungsnorm zurückgreifen darf (positivrechtlich etwa auf § 34 StGB, der entsprechend dem dargelegten Begriff eng auszulegen ist) oder ob deren Handeln stets eine eigene (spezielle) Rechtsgrundlage voraussetzt, keine praktische Bedeutung zu. Denn richtigerweise müssen bestehende ordnungs­ rechtliche oder polizeiliche Befugnisnormen betreffend den Zugriff auf Nichtstörer entsprechend dem der Sache nach zugrundeliegenden Notstandshilferecht eng gefasst bzw. ausgelegt werden. Sollte sich für eine staatliche Notstandsmaßnahme, welche nach dem hier vorgestellten Notstandsbegriff zulässig wäre, im positiven Gesetz im Einzelfall keine spezielle Rechts­ grundlage finden lassen (und die Zulässigkeit auch nicht explizit durch verfassungskonformes positives Recht ausgeschlossen sein), dann spricht 403  Beispielsfälle aus Hornmann, HSOG-Kommentar, § 9, Rn. 29, und Heesen / ­ Hönle / Peilert, BGSG-Kommentar, § 20, Rn. 1 und Rn. 3. Alle genannten Autoren halten – vor dem Hintergrund der Existenz des § 323c StGB und entgegen dem hier als notwendig behaupteten Konzept – jedoch auch eine Inanspruchnahme zu aktiven Hilfsdiensten für zulässig. Verfehlt formuliert ist vor dem Hintergrund obiger Dar­ legungen neuerdings die hamburgische polizeirechtliche Norm zur Inanspruchnahme von Nichtstörern (§ 10 Abs. 2 HambSOG), wonach eine Person explizit „zur körper­ lichen Mithilfe“ heranziehbar sein soll. 404  Innerhalb der öffentlich-rechtlichen Literatur und Rechtsprechung ist strittig, ob die polizeiliche Aufforderung zur Hilfe gegenüber einem gegen § 323c StGB Verstoßenden die Inanspruchnahme dessen als Störer oder aber als Nichtstörer ist; für eine Inanspruchnahme als Nichtstörer etwa Michael Fischer, Unterlassene Hil­ feleistung, S. 149, 150; Heesen / Hönle / Peilert, BGSG-Kommentar, § 20, Rn. 1; a. A. etwa Hornmann, HSOG-Kommentar, § 9, Rn. 5. Solch ein Streit ist Folge des Feh­ lers, der darin besteht, eine allgemeine Hilfeleistungspflicht überhaupt für eine Rechtspflicht zu halten (und andererseits, nämlich mit der Beurteilung des Unterlas­ senden als Nichtstörer, wiederum doch nicht).

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B. Auflösung der Aufgabe

nichts gegen einen Rückgriff auf die allgemeine Erlaubnisnorm. Spezieller und damit dogmatisch vorzugswürdig dürfte jedoch meist jedenfalls eine allgemeine gefahrenabwehrrechtliche Generalklausel in Verbindung mit ei­ ner Regelung über die Inanspruchnahme von Nichtstörern sein. Um Missverständnisse auszuschließen: Die dargelegte Verneinung einer speziell-staatsbürgerlichen Notstandshilfepflicht als Rechtspflicht bedeutet nicht, dass im Rechts(durchsetzungs)staat keinerlei – über die Steuerzah­ lungspflicht hinausgehende – Mitwirkungserfordernisse der Bürger aus der Pflicht zur Erhaltung des Staates resultieren können. Auch bedeutet es nicht, dass es sich bei den Begriffen „Rechtsstaat“ und „Sozialstaat“ um sich ausschließende Gegenbegriffe handelte. Zur Verdeutlichung – und gerade in Abgrenzung zu den fehlenden Bürgerpflichten zu aktiver Mitwirkung im Bereich der Gefahrenabwehr – seien im Folgenden einige mögliche spezi­ elle Bürgerpflichten aus dem Gebot der Staatserhaltung nach Grund und Grenze skizziert (dazu bb)), bevor knapp dargelegt wird, inwieweit auch „Sozialstaat“ und Rechtsstaat zusammenpassen (dazu cc)). bb) Zur Verdeutlichung / Abgrenzung: Potentielle bürgerliche Pflichten zu aktiver Partizipation bei der staatlichen Rechtsdurchsetzung Die im Folgenden thematisierten potentiellen Handlungsgebote sollen keine abschließende oder erschöpfende Aufzählung oder Auseinanderset­ zung mit den speziell-staatsbürgerlichen Pflichten darstellen (vgl. dazu Dühr, Fn. 391). Vielmehr geht es bloß darum, Grund und Grenzen von aus dem Gebot der Staatserrichtung bzw. -erhaltung resultierenden Bürgerbelastungen mit aktiven Partizipationserfordernissen im Rechtsstaat anzudeuten, um die gerade dargelegte Ablehnung eines erst durch Staatsbegründung erweiterten Notstandsrechts zu verdeutlichen. Dies erscheint – obwohl das konkrete Thema des Notstandsrechts es nicht unmittelbar erfordert – inso­ fern angebracht, als die dargelegte Unmöglichkeit einer (ursprünglichen oder staatsbürgerlichen) Rechtspflicht zu aktiver Nothilfe absehbar die Kri­ tik provozieren wird, es seien im positiven Recht doch noch weitere Pflich­ ten der Bürger zu einer über die Steuerzahlungspflicht hinausgehenden, aktiven Mitwirkung normiert. Diese Feststellung ist zwar nicht unzutreffend. Spezielle bürgerliche Pflichten beruhen jedoch – soweit sie legitim sind – eben nicht auf diffuser (Zwangs-)„Solidarität“ oder ähnlichen zweckrationalen Argumentationen, sondern auf dem Rechtsgebot der Staatsgründung und Staatserhaltung. Sie sind damit bloß auf die Durchsetzung eines bestehenden Rechtsverhältnisses bezogen und definieren dieses nicht etwa inhaltlich um.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten283

(1) Allgemeine Wehrpflicht der Bürger? Eine allgemeine Rechtspflicht der Bürger zur Leistung eines Wehrdiens­ tes folgt nicht ohne weiteres aus dem Staatserhaltungsgebot. Wenn über­ haupt könnte eine solche nur dann angenommen werden, wenn die außen­ politische Lage bzw. das Verhältnis zu anderen Staaten tatsächliche Anhalts­ punkte zur Annahme einer realen Kriegsgefahr bietet. Die nach positivem deutschen Recht (Art. 12a GG i. V. m. Wehrpflichtge­ setz) bis ins Jahr 2011 vorgesehene, voraussetzungslose Heranziehung jun­ ger Männer zum Wehrdienst für eine bestimmte Zeit war – eben ohne Vo­ raussetzung solcher Umstände (etwa „kalter Krieg“) – als Rechtspflicht nicht begründbar405. Richtig und sinnvoller wäre, wie schon Kant schrieb, eine „freiwillige periodisch vorgenommene Übung der Staatsbürger in Waf­ fen“, um „sich und ihr Vaterland dadurch gegen Angriffe von außen zu sichern“406. (2) B  ürgerliche Pflichten im Zusammenhang mit der staatlichen Justizgewährungsaufgabe In Frage stehen insoweit zunächst die positivrechtlich normierten aktiven Zeugenpflichten, nämlich bei der Staatsanwaltschaft oder einem Gericht zu einer Sache auszusagen (etwa in §§ 48, 161a StPO statuiert). Zweifellos ist es (schweres) Unrecht, vor Gericht als einer der nach dem Staatsbegründungszusammenhang notwendigen Instanzen der Rechtsdurch­ setzung falsch auszusagen. Aber ist das bloße Unterlassen einer Aussage (Nichtaussagen) entgegen einer Aufforderung durch Staatsanwaltschaft oder Gericht Unrecht? 405  Die inzwischen erfolgte Neuregelung der allgemeinen Wehrpflicht annähernd im hier angedeuteten Sinne (vgl. § 2 Wehrpflichtgesetz in der Fassung v. 15.08.2011) war überfällig. Die in Deutschland über einen längeren Zeitraum nicht mehr an Sachkriterien ausgerichtete Einberufungspraxis war eine Folge der verfehlten Annah­ me einer Wehrdienst-Rechtspflicht ohne Vorliegen der eigentlichen materiellen ­Voraussetzungen. Von einer möglicherweise unzulässigen Ungleichbehandlung der Männer gegenüber den Frauen sei hier ganz abgesehen. 406  Kant, Zum ewigen Frieden, S.  345. Kants Ablehnung einer allgemeinen Wehrdienst-Rechtspflicht kommt durch die Verwendung des Wortes „freiwillig“ in diesem Kontext deutlich zum Ausdruck. Die Annahme einer allgemeinen Wehrpflicht als Rechtspflicht scheint auch insofern eine gewisse Absurdität zu beinhalten, als ein Zwang der Bürger zu ihrer Ausbildung zur Verteidigung des Staates nach außen gegen deren Willen seinen Zweck kaum wird erreichen können (wer den Staatsbür­ ger nötigen muss, das „Vaterland“ zu verteidigen, verschwendet eher vorhandene Verteidigungskapazitäten, anstatt sie zu bündeln). Vgl. dazu – wenngleich weniger kritisch – Dühr, Grundpflichten, S. 151 ff.

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B. Auflösung der Aufgabe

Es ist wohl eine ethische Pflicht, etwa als Zeuge einer (schweren) Straftat eine Aussage zu tätigen. Denn das ist Beihilfe zur Rechtsverwirklichung, wobei Rechtsverwirklichung durch Strafverfolgung bedeutet: Ideeller Aus­ gleich von schuldhaft begangenem schweren Unrecht durch Schuldspruch und Bestrafung des Täters seitens des Staates407. Weshalb aber wird die Aussage des potentiellen Zeugen (eine aktive Tä­ tigkeit) bloß aufgrund des Umstandes, dass er nach Einschätzung etwa von Staatsanwaltschaft oder Gericht Informationen zu einem Sachverhalt liefern kann, dem Staat so zugeordnet, dass die Aussage sogar zwangsweise her­ beizuführen versucht werden kann (§§ 51 Abs. 1 Satz 2, 70 StPO, §§ 380, 390 ZPO)? Dass diese Rechtspflichtbehauptung jedenfalls nicht selbstverständlich ist, zeigt sich auch an Regelungen oder Praktiken in deren Kontext: Etwa die Auslobung einer Belohnung für eine zur Ergreifung eines Straftäters führen­ de Aussage erscheint widersprüchlich zu der Annahme, auszusagen sei bloße rechtliche Schuldigkeit408. Man wird bezüglich einer Zeugenaussagerechtspflicht überhaupt anneh­ men müssen: Da die Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung ein wesentlicher Grund der Staatserrichtung und das Gericht die insoweit abschließend-urtei­ 407  Vgl. Fn. 327. Siehe näher zum Begriff der Strafe und deren Voraussetzung, dem Begriff der schuldhaft begangenen schweren Unrechtstat, etwa Köhler, Der Begriff der Strafe, S. 50 ff.; ders. AT, S. 22 ff., 578 ff.; E. A. Wolff, Das neuere Ver­ ständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Krimi­ nalität, ZStW 97 (1985), S. 786 ff., 825; unfertige Gedanken von Kant, MdS, § 49, allgem. Anm. E. mit zutreffender Kommentierung von Zaczyk, Staat und Strafe, S.  73 ff.; Helmers, ZStW 2009, 516 ff. 408  Ein Beispiel: Vor einiger Zeit kam es in einem wirtschaftlich schlechter-situ­ ierten hamburgischen Stadtteil wiederholt zu Brandstiftungen. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft nahmen an, dass die Täter dort vielen Einwohnern bekannt seien. Sachhaltige Hinweise waren jedoch durch stichprobenartige Befragung nicht zu ge­ winnen. Dann wurde eine Belohnung ausgelobt, die tatsächlich jemanden (oder mehrere Personen) zur Aussage motivierte, was zu Ergreifung der Täter führte. Weshalb aber wird hier die Aussage mit der Aussetzung der Belohnung ganz offen­ sichtlich als Verdienst betrachtet? Hätte der Staat nicht mehrere Menschen aus die­ sem Stadtteil laden können, um sie unter Androhung von Ordnungsgeld oder Zwangshaft zur Aussage zu motivieren? Dass dies weniger Aussicht auf Erfolg (den Erhalt einer wahrheitsgemäßen, hilfreichen Aussage) gehabt hätte, erscheint nahelie­ gend; die Aussage mit Geld zu belohnen, scheint jedoch nicht zur Behauptung zu passen, auszusagen sei eigentlich bloße Rechtspflichterfüllung. Der Widerspruch lässt sich vermeiden, wenn die Zeugenladung bzw. Aussageanordnung durch Staats­ anwaltschaft oder Gericht als solche als eine materiell-voraussetzungsreiche Bedin­ gung der (damit dann nur bedingt-allgemeinen) Zeugenpflicht betrachtet wird und deren Voraussetzungen – nämlich tatsächliche Anhaltspunkte der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichts dafür, eine bestimmte Person habe besondere Beobachtungen ge­ macht – im konkreten Fall verneint werden.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten285

lende Instanz ist, ist die Annahme einer bedingt-allgemeinen (vgl. Fn. 408) Zeugen-Aussagepflicht als Rechtspflicht verständlich, und, da die Wahrheitsfindung vor Gericht auf (wahrheitsgemäße) Zeugenaussagen angewiesen ist, auch legitim. Jedoch ist und bleibt es legitimatorisch grenzwertig409, aktive Zeugenhandlungen als Rechtspflichten zu behaupten, sodass in einem sich der Rechtsidee annähernden Staat bei moralisch-fortgeschrittener Gesellschaft solche Ordnungsregelungen eher verengt denn erweitert werden dürfen410. Zweifelhafter ist der Zugriff im Strafverfahren auf den Körper einer anderen Personen als dem Beschuldigten zur Auffindung von Spuren einer Straftat, § 81c Abs. 1 StPO411. Auch körperliche Untersuchungen oder Blutentnahmen von anderen Personen als dem Beschuldigten (§ 81c Abs. 2 StPO) sind rechtlich wohl kaum legitimiert: Solche Körperverfügungen können nicht als vom ideellen Staatsbegründungsakt mitumfasst betrachtet werden, weil sie zwar möglicherweise in einem Einzelfall „zur Erfor­ schung der Wahrheit unerlässlich“ (§ 81c Abs. 2 StPO) sind, aber eben nicht unerlässlich zur Aufrechterhaltung des Rechtsstaates. Das notwendige Gebot der Strafverfolgung (zum ideellen Ausgleich schweren, schuldhaft 409  Vgl. auch Kant zur Unmöglichkeit einer Rechtspflicht zum Schwören auf Gott: „… was verbindet mich rechtlich, zu glauben, dass ein anderer (der Schwö­ rende) überhaupt Religion habe, um mein Recht auf seinen Eid ankommen zu las­ sen? Imgleichen umgekehrt: Kann ich überhaupt verbunden werden, zu schwören? Beides ist an sich unrecht“. Insoweit „es kein anderes Mittel gibt, in gewissen Fällen hinter die Wahrheit zu kommen …“, sei eine solche Regelung zwar verständ­ lich, „die gesetzgebende Gewalt handelt aber im Grunde unrecht, diese Befugnis der richterlichen zu erteilen: weil selbst im bürgerlichen Zustand ein Zwang zu Eidesleistungen der unverlierbaren Freiheit zuwider ist“, Kant, MdS, § 40, S. 304–305. Nach deutschem Recht wird das Nichterfüllen der aktiven Zeugenpflichten richtigerweise als bloßes Prozessordnungsunrecht betrachtet (§§ 51, 70 StPO, §§ 380, 390 ZPO). Verfehlt wäre die (in einigen Rechtsordnungen enthaltene) Annahme, der nichtaussagende Zeuge beginge – wie ein Garant der Strafverfolgung – durch dieses Unterlassen gar eine Straftat; in diesem Sinne unzutreffende Beurteilungen nach §§ 258 Abs. 1, 13 StGB allerdings durch OLG Köln, NStZ-RR 2010, 146; OLG Frankfurt, StraFo 98, 237; dagegen treffend Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, § 26 Rn. 9; Cramer, in: MK, § 258, Rn. 16; LG Itzehoe NStZ-RR, 2010, 11 (jedenfalls fehlt es an der Entsprechung von Unterlassen und aktivem Tun im Sinne von § 13 Abs. 1 2. Halbsatz). 410  Zweifelhaft und wohl ohne Erforderlichkeit zur Rechtsdurchsetzung sind die einseitigen – nach positivem Recht eben auch gegen den Willen des Betreffenden möglichen – Inanspruchnahmen von Personen als Schöffen (Laienrichtern), §§ 36 ff. GVG. 411  Wobei diese Norm keine körperlichen Eingriffe als mögliche Maßnahmen erfasst, sondern nur Zugriffe auf die Körperoberfläche. Jedoch sollen „natürliche Körperöffnungen“ noch darunter fallen, siehe etwa Meyer-Goßner, StPO, § 81c, Rn. 16.

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B. Auflösung der Aufgabe

begangenen Unrechts) umfasst nicht staatliche einseitige Zugriffe auf die Körper von Außenstehenden: Mag man als Staatsbürger legitimer Weise so betrachtet werden können, als habe man seine Mitwirkung bei der Staats­ aufgabe der Justizgewährung auch als Unbeteiligter für den Fall des Ge­ laden-Werdens als Zeuge im Staatsbegründungsakt antizipiert zugesagt (weil Justizgewährung als zentrales Element der Rechtsdurchsetzung ohne Zeugenregelungen nicht funktionierte), so kann dies bezüglich Duldungen des Untersuchen-Lassens des eigenen Körpers des Unbeteiligten kaum be­ hauptet werden412. Anders verhält es sich hingegen, was staatliche Ermittlungszugriffe auf den Beschuldigten angeht: Von dem verdächtigen Menschen, gegen den sich das Strafverfahren richtet, wird konkret angenommen, dass er sich diese Maßnahmen des Ausgleichs einer schweren, schuldhaft begangenen Un­ rechtstat durch deren Begehung möglicherweise (oder gar wahrscheinlich) selbst zugezogen hat. Dies mag sich im weiteren Verfahren als unzutreffend herausstellen; diese vorläufige Perspektive ist jedoch im Strafverfahren – bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss – unvermeidbar. Aus der Perspek­ tive des unschuldigen Beschuldigten ist das Ertragen (Dulden) erforderlicher Ermittlungsmaßnahmen des ihn verdächtigenden Staates (konkret: der Staatsanwaltschaft, Polizei oder eines Gerichts) auf ihn also notwendig und widerspricht nicht per se seiner Stellung als Prozesssubjekt, weil es notwen­ dige Bedingung kontinuierlicher Rechtsdurchsetzung ist: Wer eine Straftat begeht, zieht sich den Schuldspruch und die Strafe ebenso wie die gegen ihn gerichteten Ermittlungsmaßnahmen selbst zu. Auch der unschuldige Beschuldigte muss also annehmen, dass die zur Strafverfolgung zuständige Behörde hinsichtlich seiner Person von einer Selbstzugezogenheit der Maßnahmen ausgeht bzw. (aufgrund bestimmter Anhaltspunkte) ausgehen muss. Auf der ex ante notwendig unsicheren Tatsachengrundlage sind die Maß­ nahmen gegen ihn (den der Tatbegehung Verdächtigten) also notwendig413; 412  Zwar ist es legitim, nach der Offizialmaxime und dem Legalitätsprinzip un­ abhängig vom Willen des Opfers dessen Missachtung durch die schwere, schuldhaft begangene Unrechtstat (Straftat) mittels Schuldspruch und Strafe (ideell) auszuglei­ chen. Das kann aber richtigerweise nur heißen: Es bedarf dafür in der Regel keines besonderen Antrags, keiner Klageerhebung oder überhaupt des Willens des verletz­ ten Bürgers. Nicht hingegen legitimiert sind aktive einseitige (gegen den Willen erfolgende) Zugriffe des Staates auf den Körper des potentiellen Opfers oder sonstiger, der Straftatbegehung nicht verdächtigter Personen. Sollten diese Maßnahmen zum Tatnachweis „unerlässlich“ sein, dann muss der Tatnachweis ggf. unterbleiben. Etwa mutet es geradezu pervers an, bei einer möglicherweise vergewaltigten Frau gegen deren Willen eine zwangsweise durchgesetzte Untersuchung von deren Körper vorzunehmen, soweit dieser „ohne ärztliche Hilfe sichtbar“ gemacht werden kann (was einige sogar bezüglich der Scheidenöffnung für zulässig halten, vgl. Krause, in: LR, § 81c, Rn. 19; Meyer-Goßner, § 81c, Rn. 16).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten287

zu aktiven Mitwirkungen an Ermittlungsmaßnahmen gegen ihn ist der Be­ schuldigte rechtlich nicht verpflichtet. Auch hier, hinsichtlich strafprozessualer Normen, spiegelt sich also die grundsätzliche Differenz solcher Rechtfertigungstatbestände, die auf einer Selbstzugezogenheit des Zugriffs (durch rechtswidriges Vorverhalten) bzw. auf einem dahingehenden Verdacht (einer solchen Annahme) beruhen, zu solchen, die Zugriffe auf Güter von am zugriffsmotivierenden Umstand völlig unbeteiligten und auch für unbeteiligt gehaltenen Personen enthalten: Letztere legitimieren grundsätzlich nicht zum Zugriff auf „inneres Mein“ (auf angeborene und deshalb sogen. höchstpersönliche Güter). Entsprechend dem oben (B.III.1.) dargestellten Gedankengang verhält es sich mit solchen strafprozessualen Normen, die Zugriffe auf erworbene Güter rechtfertigen sollen: Etwa eine Hausdurchsuchung bei anderen Personen als dem Beschuldigten nach § 103 StPO ist unter den darin genannten Voraussetzungen deshalb legitim, weil der Umfang der Gebrauchsbefugnis an erworbenen äußeren Gegenständen (konkret: das Recht, andere vom Gebrauch der Wohnung auszuschließen) konform mit dem Personenbegriff als von vornherein auf das Nichtvorliegen der Normvoraussetzungen bedingt betrachtet werden kann (auch wenn es hier nicht um materielle Rechtsnormen geht, sondern um Prozessrecht bzw. Rechtsdurchsetzungs­ normen)414.

413  Dem Beschuldigten obliegt also gegenüber den am Strafverfahren nicht Be­ teiligten (Zeugen etc.) eine weitergehende Duldungspflicht, nicht jedoch eine Pflicht zu besonderer aktiver Mitwirkung. Diese Duldungspflicht ergibt sich nicht aus Unrechtsverantwortung (sie trifft auch den unschuldigen Beschuldigten; vgl. Dühr, Grundpflichten, S. 176); sie ist eine staatsbürgerliche Pflicht. Der unschuldige Be­ schuldigte ist für etwaige Nachteile bei Wegfall des Verdachts bzw. bei Freispruch zu entschädigen, gewonnene Informationen sind zu vernichten. 414  Nicht näher eingegangen werden kann hier auf einzelne strafprozessuale oder polizei- und ordnungsrechtliche Eingriffsgrundlagen. Angemerkt sei lediglich, dass nach der wie dargestellt zu erfolgenden Rechtskonstruktion – der gedanklichen Zu­ ordnung von Materie zu immateriellen Subjekten, wobei der lebendige menschliche Körper die primäre Zuordnungsmaterie ist – nicht verständlich ist, weshalb zwar staatliche Eingriffe in die Privatsphäre „Wohnung“ und längere Eingriffe in die Fortbewegungsmöglichkeit schon durch das Grundgesetz unter Richtervorbehalt ge­ stellt sind (Art. 13 Abs. 2, 104 Abs. 2 GG), nicht aber der außerhalb einer Notwehr­ situation stattfindende Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Der Richtervorbehalt nach § 81a Abs. 2 StPO betreffend Blutentnahmen erscheint aus hiesiger Perspektive – entgegen seiner Infragestellung in letzter Zeit im Rahmen politischer Diskussionen – ganz richtig.

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B. Auflösung der Aufgabe

(3) S  onstige aktive Mitwirkung der Bürger bei der Staatsverwaltung? Der Bürger ist als solcher vorpositiv-rechtlich nicht zu einer aktiven Mitwirkung bei der Verwaltung des Staates verpflichtet und darf deshalb im wirklichen Staat auch nicht zu beliebigen aktiven Mitwirkungshand­ lungen herangezogen werden. Die Aufgaben der Staatsverwaltung (in ei­ nem weiten Sinne) haben die Menschen pflichtgemäß gerade auf die staat­ lichen Institutionen verteilt, welche diese durch dazu angestellte, verbeam­ tete oder ernannte Personen ausführt, wobei der jeweils handelnde Staats­ bedienstete (Verwaltungsbeamter, Polizist, Lehrer, Richter etc.) aufgrund der willentlichen Übernahme der Gesetzesausführung eben dazu verpflich­ tet ist. Für den Bürger bleiben zwar einige rechtliche Mitwirkungspflichten denkbar. So können – soweit zur Ausführung des Rechtsdurchsetzungsstaats erforderlich – etwa Registrierungspflichten und (bedingte) Ausweispflichten bestehen (etwa Informationsmitteilung zur Eintragung in ein allgemeines Personenstandsregister, ein lokales Melderegister, ein Fahrerlaubnisregister etc.). Einen Grenzfall der Legitimität bzw. Verfassungsmäßigkeit einer aktive Handlungen gebietenden positiv-gesetzlichen Regelung mag hingegen bei­ spielsweise die Annahme einer Rechtspflicht zur aktiven Beihilfe bei der Erstellung einer Repräsentativstatistik (Mikrozensus) durch Beantwortung von Fragen seitens zufällig dafür ausgewählter Bürger darstellen. Das BVerfG führte dazu aus, es müsse „jedermann die Notwendigkeit statisti­ scher Erhebungen über seine Person in gewissem Umfang … als Vorbedin­ gung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns hinnehmen“. Wo „die statistische Erhebung nur an das Verhalten des Menschen in der Außenwelt“ anknüpfe, werde „die menschliche Persönlichkeit von ihr in aller Regel noch nicht in ihrem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung erfasst“415. Unzureichend beantwortet bleibt dabei, ob gerade die Daten, die nur durch die aktive Mitwirkung einzelner Bürger (Beantwortung von Fra­ gen) gewonnen werden können, wirklich notwendig zur Erledigung der ei­ gentlichen Staatsaufgaben (letztlich: Rechtsdurchsetzung) waren: Zwar ist es rechtlich unproblematisch, wenn der Staat nach außen sowie­ so preisgegebene Informationen über anonym bleibende Menschen sammelt und diese bloß in einer Statistik auswertet. Das rechtlich Zweifelhafte am „Mikrozensus“ ist auch nicht die anonyme Auswertung von Menschen be­ treffende Daten an sich, sondern es ist wegen der Erzwingung aktiver Ant415  BVerfGE

27, 1(7).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten289

worten416 die Weise der Datenerhebung; die Notwendigkeit dessen zur Rechtsverwirklichung darf bezweifelt werden. cc) Weitergehende soziale Gerechtigkeit (und diesbezügliche bürgerliche Pflichten) im Rechtsstaat? Die Inhalte der Begriffe „Rechtsstaat“ und „Sozialstaat“ stehen nach der dargelegten Rechtskonstruktion nicht etwa in einem Exklusivitätsverhältnis. Dass der Rechtsstaat „sozialstaatliche“ Komponenten enthalten kann, folgt in Teilen schon aus seinem Begriff, nämlich Rechtsdurchsetzung bezogen auf ein vorpositives Rechtsverhältnis der Menschen zu betreiben. Soweit dies nicht der Fall ist, bleibt – bei relativ wohlhabender Gesellschaft – auch im Rechtsstaat zumindest Raum für weitergehende sozialstaatliche Kompo­ nenten: Kant schrieb, es sei „von Staats wegen … die Regierung berechtigt, die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbeizuschaffen …“. Diese Sicherung des Existenzminimums als „Staatslast“ bezüglich der dazu Unvermögenden müsse durch „laufende Beiträge“ bzw. fortlaufende Besteu­ erung erfolgen417. Man mag zwar annehmen, dass hinsichtlich einer Gesellschaft, in der eine relativ hohe Stufe wirtschaftlichen Fortschritts erreicht wurde (die also im Mittel relativ reich ist), eine gegenüber den kantischen Ausführungen weitergehende staatliche soziale Absicherung der Bürger durch Rechtsgeset­ ze bzw. Steuergesetze legitim herbeigeführt werden kann: Es erscheint – soweit wohl noch mit Kant – eine Garantie des Existenz­ minimums nicht nur für diejenigen, die konstitutionell unfähig zum Selbst­ erhalt sind, sondern auch für diejenigen, die (pauschal ausgedrückt) mangels rechtsförmiger Güterverteilung ihr Recht auf Teilhabe am Erwerbsgeschehen418 aktuell nicht durchsetzen können (arbeitswillige und an sich arbeits­ 416  Vgl. § 7 MikrozensusG v. 2005 bzw. § 18 ZensusG v. 2011; die Durchsetzung der aktiven Mitwirkung mittels Zwangsgeld für zulässig hält VG Stuttgart, Az. 9 K 3538 / 08. 417  Kant nennt als Möglichkeiten Vermögenssteuer und Umsatzsteuer, MdS, § 49, allgemeine Anmerkung C, S. 325 ff. 418  An einer Theorie der Teilhabegerechtigkeit basierend auf den Grundbegriffen des Privatrechts (nämlich: ursprünglicher Gesamtbesitz aller an der äußeren Weltma­ terie und ursprüngliche Teilung durch allseitig-einseitigen Erwerb) arbeitet derzeit Michael Köhler. Anspruch dieser Theorie ist es, das ursprüngliche Erwerbsrecht jeder Person an der gemeinsamen Existenzgrundlage auf die nunmehr komplexe arbeitsteilige Gesellschaft zu beziehen, wodurch jedem ein Selbststand in der Welt durch kontinuierliche Einbindung in den gesellschaftlichen Vermögenserwerb nach

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B. Auflösung der Aufgabe

fähige Personen, die strukturbedingt keine Arbeit finden) legitim bzw. sogar rechtlich-geboten. Auch mag in einer relativen Wohlstandsgesellschaft eine Grundversicherung der Bürger gegen Krankheit bzw. Unfälle aus Steuermitteln finanziert werden. Dies wäre im Übrigen ehrlicher, als die rechtlich-nicht begründba­ re Annahme einer Kranken-„Pflichtversicherung“ für volljährige mündige Bürger419. Ebenso wenig ist eine Rentenversicherung als „Pflichtversiche­ rung“ rechtlich begründbar: Auch wenn Kants Auffassung, die Vorsorge für das Alter („Sparen fürs Alter“) sei nicht einmal eine auch nur ethische Pflicht und damit nicht einmal im bloßen Selbstverhältnis geboten, unzutref­ fend ist (vgl. Fn. 167)420, so liegt Kant richtig mit der (implizierten) Annah­ me, es handele sich bei der Selbstvorsorge für das Alter jedenfalls nicht um eine Rechtspflicht. Bloße Selbstvorsorge mündiger Bürger, die also in keiner Weise interpersonal gedacht wird, kann unmöglich Inhalt einer konkreten Rechtspflicht sein421. Inwieweit der Staat genau Existenzminimums- bzw. Kranken- oder Un­ fallvorsorge legitim durch die Erhebung von öffentlichen Abgaben (Steuern) bereitstellen kann, muss hier unbestimmt bleiben. Sicher aber ist: Rechtliche Verbindlichkeiten zu Sozialabgaben können nur hinsichtlich erworbener äußerer Güter bestehen422.

Rechtsbegriffen gesichert werden soll. So könnte der Sozialstaat bzw. soziale Ge­ rechtigkeit im Rechtsstaat (etwa in den Ausprägungen von Rechten auf Arbeit und Bildung) endlich eine feste rechtliche Basis erhalten. Derzeitige Umverteilungen ohne erkennbares Prinzip in Verbindung mit rechtsbegrifflich unklaren „Solidaritäts“Behauptungen sind evident unzureichend, vgl. Köhler, a. a. O., Fn. 370 und Fn. 538. 419  Anders verhielte es sich mit der Annahme einer Kranken-„Pflichtversicherung“ für Minderjährige. Eine solche kann interpersonal gedacht werden (im Verhältnis des jeweils Fürsorgepflichtigen zu dem Minderjährigen) wie folgt: Die seitens der Für­ sorgepflichtigen aufzuwendenden Mittel stehen der noch nicht zu vollkommenselbständiger Entscheidung fähigen Person (dem Minderjährigen) zu, sodass es sich bei einer solchen Pflichtversicherung um eine Durchsetzung der Rechte der Kinder und Jugendlichen handelte, von denen – vor ihrer Möglichkeit, selbst in jeder Be­ ziehung über ihr Leben zu bestimmen – ein Wille zur Vorsorge im Selbstverhältnis angenommen werden kann oder muss. 420  Kant, KpV, § 1, Anmerkung. Entgegen Kants Ausführungen handelt es ich bei der Vorsorge vor der ansonsten naheliegenden Angewiesenheit auf die Hilfe anderer oder auf besonders-glückliche (zufällige) Lebensumstände (wie unerwartet und plötzlich eintretenden Reichtum oder permanente Gesundheit) um eine Mindestan­ forderung der Pflicht zur Selbstvervollkommnung, siehe oben. 421  Rechtlich ganz unproblematisch ist hingegen etwa die Kfz-Haftpflichtversi­ cherung: Eine solche ist notwendige Bedingung der Zulässigkeit der Inbetriebnahme von Kfz auf allgemeinem Boden bzw. im öffentlichen Raum (nämlich Vorsorge im Verhältnis zu ggf. davon negativ betroffenen anderen).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten291

Legitim zwangsweise durchsetzbare „Sozialabgaben“ sind somit jeden­ falls weder – und sei es auf Notfälle aufschiebend-bedingte – aktive Hilfe­ leistungen, noch Körpergewährungen seitens zufällig auf die Notsituation aufmerksam werdender, an ihrer Entstehung völlig unbeteiligter Bürger: Es gibt rechtlich vor einem willentlichen Akt der Übertragung keine Zuordnung der Physis des einen zu einem anderen, mögen die zu rettenden Güter aus einer utilitaristischen (verquast-sozialtechnischen) Perspektive auch noch so nützlich scheinen. Ein solcher erforderlicher Akt der Übertragung der Willkür zur Tat ist ein aktives, rechtsverbindliches Verhalten mit besonderem Erklärungsgehalt („wenn du in Not gerätst, dann helfe ich dir“). Ein solches stellen der ideelle Staatsbegründungsakt und die davon umfassten Staatser­ haltungsmaßnahmen nicht dar. b) Fazit Die primäre staatsbürgerliche Rechtspflicht zur realen Erhaltung des Rechtsstaates ist es, öffentliche Abgaben zu leisten (Steuerzahlungspflicht). Weder im Hinblick auf eine – auch rechtsstaatliche mögliche oder gebo­ tene – Sozialstaatsfunktion im weit entwickelten (Wohlstands)Staat, noch aufgrund der Staatsaufgabe der Gefahrenabwehr ergibt sich eine „quasi-in­ stitutionelle“ (Pawlik, a. a. O.) Hilfspflicht der Bürger als Rechtspflicht; Pflichten zur Duldung des Zugriffs auf den eigenen Körper lassen sich so schon gar nicht denken. Denn (metaphorisch gesprochen): Über den eigenen Körper oder über die Willensbestimmung zu Hilfsaktionen gegenüber ande­ ren Menschen bzw. Bürgern wurde im ideellen Staatskonstitutionsakt inso­ weit nicht disponiert. Solche Dispositionen sind nämlich keine notwendigen Bestandteile dieses ideellen Aktes, sodass dessen Inhalt weder eine Zugriffs­ duldung auf Körpermaterie zur Gefahrenabwehr, noch die Hilfeleistung durch Nichtstörer umfasst. Zwar können solche Gegenstände (in Grenzen) privatautonom übertragen werden, sie gehen aber eben nicht schon mit der (ideellen) Staatskonstitution auf einen anderen (den Staat oder einen Mit­ bürger, sei dieser auch noch so hilfsbedürftig) rechtlich über. Dass es sich bei der aktiven Hilfe eines Notleidenden um eine ethische Pflicht handelt (als ein Minimum an Beförderung fremden legitimen Glücklichseins), än­ dert daran nichts: Deren Erfüllung ist verdienstlich, nicht bloße rechtliche Schuldigkeit.

422  Offengelassen sei hier, inwieweit Urheberrechte, die anders als Privatrechte hinsichtlich körperlicher Gegenstände zumindest nicht von einer ideell-gemeinsam besessenen realen Materie herrühren, notstandsfähig sein können; siehe zum Urhe­ berrecht allgemein Jacob, a. a. O., Fn.  302.

292

B. Auflösung der Aufgabe

Eine Norm wie § 323c StGB ist somit als Strafrechtsnorm weder direkt aus dem rechtlichen Grundverhältnis noch unter Einbezug der Staatsbegrün­ dungspflicht und den davon umfassten Inhalten begründbar. Die in § 323c StGB implizierte Strafunrechtsbehauptung ist verfehlt, denn die Behauptung, jemand begehe schweres Unrecht (Missachtung des anderen als Person durch Nehmen von dessen rechtlicher Habe), indem er die Hilfe gegenüber einem anderen – dessen Notlage ihm gar nicht als sein Werk zurechenbar ist – unterlasse, ist gemäß obigen Ausführungen schlichtweg unwahr. Dass es sich bei der Unterlassung einer Hilfeleistung um eine ggf. noch so ver­ werfliche Verletzung einer ethischen Pflicht handelt, ändert daran nichts. Widersprüchlich zur Annahme des Bestehens einer allgemeinen Rechts­ pflicht zu aktiver Hilfe wird die polizeiliche Aufforderung an den Unterlas­ senden zumindest in Teilen der öffentlich-rechtlichen Literatur als dessen polizeiliche Inanspruchnahme als Nichtstörer eingeordnet (vgl. Fn. 404; zur eher möglichen Einordnung der im öffentlichen Raum unterlassenen Hilfe­ leistung als Ordnungswidrigkeit vgl. Fn. 209 und Fn. 565)423. Dasselbe gilt hinsichtlich der Nichtanzeige geplanter Straftaten durch diesbezüglich völlig Unbeteiligte (§ 138 StGB). 3. Zusammenfassung der Ergebnisse Aus dem hier dargelegten, als notwendig behaupteten Ansatz des Rechts­ denkens folgt ein interpersonales, jedoch enges und mit strikten Grenzen versehenes Notstandsrecht im Sinne einer einseitigen Zugriffsbefugnis: Zum (selbständigen) Selbsterhalt auf der Welt ist jeder Person, deren ebensolcher Erhalt durch externe Umstände – seien es Naturgefahren oder 423  Nicht zufällig wurde das bloße Unterlassen der Hilfeleistung im Jahre 1935 zum Straftatbestand erklärt. Dahinter steckte mutmaßlich nationalsozialistisches Ge­ dankengut: „Die Treuepflicht gegenüber der Volksgemeinschaft schließt in sich die Verbundenheit mit den Volksgenossen, die Bereitschaft, ihm in der Not zu helfen, ihn in der Gefahr zu schützen und ihn als Volksgenossen zu achten“, Nationalsozi­ alistische Leitsätze für ein deutsches Strafrecht, hrsg. vom Leiter des Reichsrechts­ amtes der NSDAP Hans Frank, 1. Teil (3. Auflage), Berlin 1935, S. 21. Der Einzel­ ne (Deutsche) wird hierbei mit jedem anderen (Deutschen) unter dem Wort der „Volksgemeinschaft“ zusammengefasst / “verbunden“; es wird angenommen, er habe in „Not und Gefahr gleich welcher Art … die Pflicht zum Einsatz zur Hilfeleistung jeglicher Art“, Barth, Die Nothilfe im deutschen Strafrecht, JW 1935, 2321; siehe genauer zur Entstehungsgeschichte des heutigen § 323c StGB Harzer, Unterlassene Hilfeleistung, S. 48 ff. Zu dogmatischen Inkonsistenzen als Folge der Behauptung, es gäbe ein ursprüngliches Zustehen bzw. einen einseitigen Erwerb der Willkür anderer zu Nothilfeleistungen (wie in § 323c StGB impliziert) siehe noch unten B.IV.2.b). Zur Einordnung von öffentlichem, ethisch hochgradig-verwerflichem Verhalten als Ordnungswidrigkeit vergleiche ebenfalls dort sowie Fn. 209 und Fn. 565. Zur Be­ stimmung von Strafunrecht als Unrecht einer besonderen Qualität siehe Fn. 407.



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten293

Unrechtshandeln anderer – bedroht ist, der einseitige Zugriff auf erworbene Güter (Sachen), die als solche (der Idee nach) aus der ursprünglichen ge­ meinsam besessenen Sachsubstanz der Welt herrühren, rechtlich möglich, sofern nicht der Eigentümer oder Besitzer (Vorerwerber) ebenfalls zum Erhalt seiner angeborenen Güter auf den ausschließlichen Gebrauch der Sache angewiesen ist (Primat des Ersterwerbers). Dem Umfang nach ist der Zugriff auf den zur Rettung erforderlichen Gebrauch begrenzt. Dieselbe Befugnis steht einem im Willen des Notleiden­ den (freiwillig-)handelnden Dritten zu (Notstandshilfe). Der Notstands-Erwerbstatbestand setzt zu seiner (vollendeten) Verwirk­ lichung (1.) eine wie beschrieben enge (das selbständige Dasein jedenfalls partiell bedrohende) Notlage einer Person voraus, weiterhin (2.) den wirk­ lichen oder mutmaßlichen Willen der Person zum rettenden Zugriff auf eine äußere Sache einer anderen Person sowie die physische Erreichbarkeit der erforderten Sache durch den Notleidenden (bzw. einen freiwilligen Not­ standshelfer), (3.) die äußere Erkennbarkeit des Zugriffswillens in der kon­ kreten Situation und (4., als vollendendes Merkmal) einen empirischen Zugriff auf die zur Rettung erforderte Sache. Die dem Notrechtserwerb korrespondierende rechtliche Einschränkung des Umfangs der Gebrauchsbefugnis beim Eigentümer bzw. Besitzer (Vor­ erwerber), nämlich dessen Verpflichtung zur Enthaltung des Sachgebrauchs insoweit dieser dem zur Rettung erforderlichen Zugriff entgegenstünde, wird schon durch den Versuch des Notrechtserwerbs (Voraussetzungen 1. bis 3.) ausgelöst. Mit Vollendung des Tatbestandes durch empirischen Zu­ griff tritt jedoch erst vollständiger (eben vollendeter Notgebrauchs-)Erwerb ein. Deshalb wird im Verhältnis mehrerer auf die Sache alternativ angewiesener Notleidender der zeitlich-empirisch Erstzugreifende alleiniger (Ret­ tungsgebrauchs-)Berechtigter und insoweit auch Inhaber eines Notwehrrechts. Vorher ist und bleibt die Anwendung von Gewalt oder Drohung der gleichrangig-Noterwerbsberechtigten untereinander Unrecht. Wenn der Sachbesitzer / -eigentümer  – wie ethisch-geboten  – Hilfe leisten möchte, kann er bei nur alternativ möglicher Rettung eines von mehreren Notleiden­ den jemandem nach seinem Belieben den rettenden Zugriff ermöglichen, ohne jedoch dazu einen physisch Zugreifenden anderen etwa gewaltsam zurückzustoßen oder auf sonstige Weise zu nötigen. Von vornherein nicht einem Notstandszugriff offenstehende Güter sind demnach die sogen. angeborenen, das heißt diejenigen, die dem jeweiligen (notwendig anzunehmenden immateriellen) Subjekt „im“ oder „hinter“ dem Menschen (siehe B.II.3.) ohne einen vorangegangene Akt des Erwerbs (wil­ lentlicher Zugriffsakt) zustehen. Dies ist die Gesamtheit des jeweiligen menschlichen Körpers, also einschließlich aller seiner Elemente und eben

294

B. Auflösung der Aufgabe

auch einschließlich der Willkür einer Person zu inneren und äußeren Hand­ lungen. Dementsprechend gibt es betreffend diese angeborenen Güter keine ursprüngliche rechtliche Aufopferungspflicht und ebenso wenig eine Hilfs­ pflicht als Rechtsplicht (B.III.1.). Auch durch den ideell allseitig-notwendigen Staats(mit)begründungsakt wird der Umfang der interpersonalen Notrechte und -pflichten nicht erweitert: Der Inhalt dieses ideellen Aktes ist kein anderer als die Errichtung und Erhaltung des Staates als gewaltengeteilter Institution zur kontinuierlichen Rechtsverwirklichung bzw. -durchsetzung. Zwar impliziert der (ideelle) Akt der Staats(mit)begründung die Anerken­ nung einiger, gegenüber dem rechtlichen Grundverhältnis zusätzlicher, nämlich staatsbürgerlicher Verhaltensnotwendigkeiten (Handlungs- oder Duldungspflichten): Dabei besteht die primäre staatsbürgerliche Pflicht im Leisten öffent­ licher Abgaben (Steuerzahlung) zur Wirklichmachung der Rechtsdurchset­ zungsinstitutionen (Legislative, Exekutive und Judikative) und Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeiten (B.III.2.a)). Hinsichtlich etwa der staatlichen Aufgabe der Justizgewährung ergeben sich staatsbürgerliche Pflichten aus dem Staatserhaltungsgebot: Impliziert bzw. antizipiert im Staatsbegründungsakt sind Duldungen erforderlicher staatlicher Justiz-Ermittlungsmaßnahmen, wenn diese sich gegen Personen richten, die einer Straftatbegehung verdächtigt werden (Beschuldigte). Wei­ terhin folgen aus dem Staatverwirklichungsgebot Duldungen des erforderli­ chen staatlichen Zugriffs auf erworbene Güter im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen auch betreffend unbeteiligte Bürger und sogar aktive Mitwir­ kungen Unbeteiligter (sofern denn seitens der Justiz individuell bestimmt und geladen) durch Aussagen als Zeugen (funktionsfähige Judikative wie auch Straftatermittlung durch Staatsanwaltschaften, B.III.2.b)). Auch Gefahrenabwehr ist eine notwendige staatliche Aufgabe: Zum einen geht es dabei unmittelbar um Rechtsverwirklichung, nämlich sofern im Vollzug befindliches oder bevorstehendes Unrechts- oder Rechtsgefähr­ dungshandeln oder auch Gefahren personaler Rechtssicherheit durch von Menschen zu verantwortende Sachzustände abgewendet werden (präventives Vorgehen gegen Verhaltens- oder Zustandsstörer). Zu beachten ist, dass die Erfüllung dieser Staatsaufgabe im dem Sinne eine Erweiterung der Willkür jedes Einzelnen gegenüber dem vorstaatlichen Rechtsverhältnis darstellt, wie ihm im Rechtsstaat die (helfende) Handlungsmacht des zu dieser Ge­ fahrenabwehr zuständigen Staatsbediensteten bei dessen Anwesenheit oder auf Abruf (Hilferuf) aufgrund dessen willentlicher Übernahme der Staats­ aufgabe zusteht (Garantenstellung des zuständigen Staatsbediensteten).



III. Konsequenzen für Möglichkeit und Inhalt von Notstandsrechten295

Darüber hinaus hat der Rechtsstaat auch die Vorsorge vor und Abwen­ dung von bloßen – keiner Person zurechenbaren – Naturgefahren zu leisten. Deren Auftreten beeinflusst das Rechtsverhältnis insofern (mittelbar), als durch Notstände, welche die Selbständigkeit von Personen (deren angebo­ rene Güter in nicht unerheblichem Ausmaß) bedrohen, eben die auflösende Bedingung der notwendigen Anerkennung ausschließlicher Sonderge­ brauchsbefugnisse anderer betreffend diejenige Sache eintritt, auf deren Gebrauch der Notleidende zur Rettung angewiesen ist. So wird die Willkür des Notleidenden im Staat sogar auch insoweit (betreffend naturhaft ent­ standene Gefahrensituationen) erweitert, weil der anwesende oder herbeige­ rufene, zur Gefahrenabwehr zuständige Staatsbedienstete im Bedarfsfall kraft (willentlicher) Übernahme dieser Staatsaufgabe die Hilfeleistung rechtlich-schuldet. Diese allseitigen (bedarfsbedingten) Willkürerweiterungen müssen die Staatsbürger durch öffentliche Abgaben (Steuern) ermöglichen (finanzieren), wobei der Rechtsgrund dieser staatsbürgerlichen Pflicht eben nicht Wohl­ maximierung oder -förderung an sich ist, sondern Rechtsdurchsetzung. Neben grundbegrifflich selbstverständlichen Inanspruchnahmen von Ge­ fahrverantwortlichen (Verhaltens- oder Zustandsstörern) für Gefahr- bzw. Störungsbeseitigungen haben auch Nicht-Gefahrverantwortliche (Nichtstö­ rer) – in grundbegrifflich fest gesteckten Grenzen – Inanspruchnahmen zu dulden, nämlich sofern der Staat im sogen. „polizeilichen Notstand“ als Notstandshelfer tätig wird. Das heißt: Sowohl hinsichtlich Eingriffsqualität als auch Umfang entsprechen solche „Inanspruchnahmen von Nichtstörern“ dem interpersonalen Notstandsrecht. Demnach ist also lediglich der staatli­ che Zugriff auf erworbene Güter zur Abwendung von solchen Umständen zulässig, die die Selbständigkeit einer Person gefährden. Unzulässig sind hingegen Nötigungen der Staatsbürger zur aktiven Mithilfe bei Gefahrab­ wendungsmaßnahmen und (sowieso) unmittelbare Zugriffe auf den Körper von Personen. Positivrechtliche Normen der Inanspruchnahme von Nichtstörern sind entsprechend eng auszulegen. Insofern ist nach einem nicht-unmittelbarmaterialen Normativitätsansatz und Rechtskonzept (dem einzig tauglichen Ansatz) einzusehen, dass die gefahrenabwehrrechtliche Inanspruchnahme der Personen als Staatsbürger unmittelbar gar nicht über deren Rechts­ pflichten im interpersonalen (vorstaatlichen) Grundverhältnis hinausgeht; mittelbar insofern, als die Staatsbürger rechtlich allgemeine öffentliche Abgaben zu leisten haben, aus denen einerseits eine weitgehende Vermei­ dung des Auftretens von Notständen finanziert wird, wie damit auch bewirkt wird, dass Notstandsrechtsdurchsetzung (im Falle des Vorliegens der Vo­ raussetzungen) durch staatliche Notstandshilfe weitgehend zur Verfügung

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B. Auflösung der Aufgabe

steht. Eine staatsbürgerliche Solidaritätspflicht als Rechtspflicht gibt es hingegen auch insoweit nicht (siehe B.III.2.a)). Zwar kann es im Rechtsstaat noch eine weitergehende, „sozialstaatliche“ Komponente geben. Darunter fällt noch gar nicht die sowieso rechtsstaatli­ che Aufgabe, jedermann seinen Selbststand in der Welt durch die Möglich­ keit „kontinuierlicher Einbindung in den gesellschaftlichen Vermögenser­ werb“ ausgehend von den privatrechtlichen Grundbegriffen des ursprüngli­ chen Gesamtbesitz aller an der äußeren Weltmaterie und deren ursprünglicher Teilung durch allseitig-einseitigen Erwerb zu garantieren („Teilhabegerech­ tigkeit“, vgl. Köhler, Fn. 418). Auch die Zuwendung des Existenzminimums an zum Selbsterhalt nicht Fähige aus – durch öffentliche Abgaben finanzier­ ten – staatlichen Mitteln ist noch notwendiger Rechtsstaatsinhalt. Darüber hinaus kann es aber jedenfalls im „Wohlstands“-Staat, in dem die Gesell­ schaft also im Mittel relativ reich ist, rechtlich auch weitere soziale Absi­ cherungen der Bürger wie Grundvorsorge gegen Unfälle und Krankheit als Weisen allgemeiner Partizipation am allgemeinen Wohlstand geben (Rechts„Pflichtversicherungen“ betreffend das bloße Selbstverhältnis sind hingegen nicht denkbar). Die einer solchen allgemeinen Partizipation am gesellschaft­ lichen Vermögen korrespondierenden Verbindlichkeiten der Staatsbürger können jedoch ausschließlich erworbene Güter betreffen: Sie sind lediglich aus zunächst privatrechtlich erworbenen Mitteln durch Leistung öffentlicher Abgaben zu erfüllen. Auch im „Sozialstaat“ als Rechtsstaat ist also eine Hilfs-Rechtspflicht der Bürger nicht herleitbar. Soweit abschließend lässt es sich wie folgt zuspitzen: Wem der begriffliche und praktische Unterschied von unmittelbar-materi­ alen (irrationalen) Rechtskonzepten zu einem nach einem nicht-bedürfnisab­ hängigen Ansatz errichteten normativen System nicht deutlich sein sollte424, demgegenüber taugt das Aufzeigen gerade dieser Konsequenzen des letzt­ genannten – die Unmöglichkeit eines Notstandsrechtes bezüglich ursprüng­ lich zustehenden („angeborenen“) Gütern – zur Kennzeichnung bzw. Verdeutlichung des prinzipiellen Unterschiedes. Das unbedingte Zustehen von Etwas (erscheinende Materie) zu Jemandem (zum bestimmenden Selbst bzw. Subjekt) ist nur nach dem nicht-bedürfnisabhängigen Ansatz der Kon­ stitution normativer Behauptungen mit Verbindlichkeitsanspruch möglich und notwendig; eine (auflösende) Bedingung dieser – den Begriff der Per­ son konstituierenden – Zuordnung auf Bedürfnisse anderer ist, was den le­ 424  Etwa weil dieser jemand einem Missverständnis wie dem von Hegel und Mill erlegen ist: Nämlich zu glauben, auch nach der kantischen Konzeption müsse implizit und uneingestanden auf die nach empirischen Begriffen von Wohl und Übel bewerteten Folgen von möglichen Handlungen ausschlaggebend abgestellt werden.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen297

bendigen menschlichen Körper einschließlich seiner Elemente angeht („in­ neres Mein“), damit kategorisch ausgeschlossen. Dementsprechend lässt sich ein normatives Konzept, unabhängig von dem sprachlichen Gewand, in dem es auftritt, oft schon anhand seines Inhalts bezüglich dieser Fragen einem der beiden (sich ausschließenden) Ansätze normativen Denkens zuordnen, das heißt gegebenenfalls als unmit­ telbar-materiale und somit – was Notwendigkeitsaussagen / wahre Pflichtaus­ sagen angeht – zum Scheitern verurteilte Konzeption entlarven. Unter dem nun nach Grund und Grenze dargelegten Notstandsrecht als Beurteilungsmaßstab soll im Folgenden ein kritischer Blick geworfen wer­ den auf – die aktuellen positivrechtlichen Notstandsrechtsbehauptungen und deren Auslegungen durch die Rechtsprechung und Literatur (IV.1.), sowie – auf einige ausgewählte rechtswissenschaftliche Publikationen zur Not­ standsrechtsfrage (IV.2.). Dabei werden zugleich einige, erforderliche Konkretisierungen vorgenommen. Diese betreffen u.  a. die möglichen (notstandsfähigen) Erhaltungsgüter, den Begriff der Gefahr sowie die möglichen Eingriffsgüter425. Abschließende Konkretisierungen bleiben einem kasuistischen Teil vorbehalten (V.).

IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen und einiger Notrechtsbegründungen aus der juristischen Literatur Ausgeschlossen ist nach der dargestellten, als notwendig behaupteten, Rechtsverhältniskonstruktion einerseits die Annahme eines Notstandsrechts, dass auch Zugriffe auf angeborene Güter („inneres Mein“) für rechtlich möglich erklärte. Andererseits kann es eine totale Verneinung jeglichen Notstandsrechts im Sinne der Annahme einer völligen Unbeachtlichkeit ei­ ner zufälligen Situationsveränderung hin zur akut-existenzbedrohenden Not 425  Zu konkretisieren bleibt unter anderem: Besteht eine Zugriffsbefugnis auf erworbene (äußere) Güter auch bei geringerer, nicht-existenzbedrohender Not, etwa bei Gefahr leichterer Körperverletzung oder gar bei Gefahr der Einbuße bloß äuße­ rer Güter wie Sacheigentum oder wirtschaftlichem Vermögen? Ist zur Wahrung von Rechtsgütern der Allgemeinheit ein Notstandszugriff zulässig? Sind solche Allge­ meingüter (auf der Eingriffsseite) einem Notstandszugriff zugänglich? Weiterhin: Was gilt, wenn die Gefahr vom Notleidenden selbst mitgeschaffen wurde. Macht es einen Unterschied, wenn die Notstandslage durch fremden Unrechtswillen herbeige­ führt wird und dadurch gerade der Zugriff auf fremde Güter bewirkt werden soll („Nötigungsnotstand“)? Was bedeutet „Defensivnotstand“?

298

B. Auflösung der Aufgabe

für den Umfang der Gebrauchsbefugnisse auch hinsichtlich Sachen nicht geben: Beide Annahmen wären nicht „freiheitsgesetzlich“; denn: Die erste missachtete die Implikationen des kategorischen Imperativs, konterkarierte direkt das Ergebnis der einzig-möglichen und notwendigen Weise der Rechtsbegriffskonstruktion und vernichtete dadurch den Begriff der Person (B.II. und B.III.1.a)). Die zweite implizierte die Annahme einer so aus­ schließlichen Zuordnung von erwerblichen Gegenständen zu Menschen, wie sie sich ausgehend vom ideell-notwendigen ursprünglichen Gemeinbesitz aller äußeren Materie vernunftgemäß nicht ergeben kann, weil die für das Privatrecht hinsichtlich äußerer Gegenstände überhaupt konstitutiven prakti­ schen Vernunftbegriffe des ursprünglichen Gemeinbesitzes der äußeren Weltmaterie und des allseitig-einseitigen Erwerbs nicht als ein einmaliger, zeitlich-abgeschlossener Vorgang dargestellt werden können, sodass nach dessen Durchführung aus diesen Begriffen gar nichts mehr folgte. Genau dies geschähe jedoch, wenn man etwa dem sich auf das Grundstück eines anderen zu seiner Rettung angewiesenen Schiffbrüchigen oder sonstigen Gefahrbetroffenen den lebensrettenden Zugriff deshalb verweigern wollte, weil er nun einmal weder durch seinen (ideellen) einseitigen (ersten) Zugriff auf die ursprünglich gemeinsam-besessene Welt, noch durch einen Vertrags­ schluss genau diesen Boden vor Eintritt des Notfalls erworben hatte, son­ dern ein anderer. Ein solches Privatrechts(miss)verständnis, dass die (Exis­ tenz einer) Person vom permanenten Vorhandensein glücklicher Umstände abhängig machte, könnte unmöglich als verbindliches Vernunftkonstrukt der Menschen (als Personen) betrachtet werden. 1. Notstandsrechtsbehauptende Normen des positiven deutschen Rechts und deren Auslegungen Das positive deutsche Recht unterscheidet mit der sogen. „Differenzie­ rungstheorie“ – nach dem hier vertretenen Standpunkt insoweit zutreffend – auf Not basierende Rechtfertigungsgründe von bloßen notbasierenden Ent­ schuldigungsgründen426. Die weitreichendsten Rechtfertigungsnormen des deutschen Rechts, näm­ lich § 34 StGB und der gleichlautende § 16 OWiG sind in ihren formulier­ ten Voraussetzungen nach dem dargelegten Standpunkt jedoch in mehreren Hinsichten zu kritisieren. Die Normen lauten: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwend­ baren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes 426  Die „Differenzierungstheorie“ geht wohl auf Berner, Lehrbuch Strafrecht, S. 98 ff., zurück, der allerdings den Sachgrund der Differenzierung höchstens anriss, nicht jedoch herausarbeitete. Zu diesem Thema siehe auch Küper, Jus 1987, 81 ff.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen299

Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der wider­ streitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beein­ trächtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ Schon den nicht ausgelegten Gesetzeswortlaut trifft folgende Kritik: Eine „Abwägung“ von „Rechtsgütern“ kann es genau genommen nicht geben. Denn ein Rechtsgut ist eine legitime Betätigungsmöglichkeit einer Person bzw. die Zuordnung von Materie zum Subjekt als diesem im Ver­ hältnis zu anderen Subjekten zustehend, sodass eine konsequente und allge­ meingültige Rechtsgüterbestimmung unmöglich überschneidende oder gar entgegengesetzte Rechtsgüter, die dann irgendwie gegeneinander abwägbar sein könnten, hervorbringen kann. Indem die Norm zum Maßstab der Rechtmäßigkeitsprüfung einer Not­ standstat macht, ob „bei Abwägung der widerstreitenden Interessen … das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“427, mutet sie direkt utilitaristisch an428. Jedenfalls beachtet diese Norm nicht die strikte Grenze jedes Notstandsrechts, nämlich die Unmöglichkeit des Zugriffs auf angeborene, bei der Rechtsbegriffskonstruktion notwendig und unbedingt (nicht extern-bedingt) mit einem immateriellen Subjekt zu verbindende Güter: Man könnte die These aufstellen, die Formulierung des § 34 StGB be­ zeichnete an sich überhaupt kein eindeutiges gedankliches Prüfungsverfah­ ren, weil darin nicht die Bedingungen genannt werden, unter denen das eine Interesse das andere „wesentlich überwiegt“. Allerdings ist auch innerhalb der Systematik des positiven deutschen Rechts, nämlich auf der Grundlage des Grundgesetzes (v. a. Art. 1, 3 GG), das von einer rechtlichen Gleichheit aller Menschen ausgeht, eine Auslegung dahingehend geboten, dass das Le­ bensinteresse des einen an sich gleich schwer wiegt wie das eines anderen, das Interesse an körperlicher Unversehrtheit des einen genauso viel wie ein solches beim anderen usw. In diesem Sinne wird die Norm wohl auch allge­ mein interpretiert. Wenn aber davon ausgegangen wird, dass die Interessen bzw. Rechtsgüter verschiedener Inhaber kollidieren können und dann in ihrer Bedeutung bzw. nach ihrem Gewicht verglichen werden können und sollen – 427  Kritik an der hier ihren Niederschlag gefunden habenden „Güter- und Inter­ essenabwägungslehre“ auch bei Köhler, AT, S. 282–283. 428  Viele interpretieren demgemäß die Norm als in der Basis utilitaristisch, siehe exemplarisch Hruschka, NJW 1980, 22; derselbe, Strafrecht, S. 72 ff. Lediglich das „wesentliche“ Überwiegen ergibt sich aus einer rein-utilitaristischen Perspektive nicht ohne weiteres, vgl. A.I.2. und Fn. 88.

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B. Auflösung der Aufgabe

so, als stünde alles letztlich eigentlich bloß einer einzigen, deshalb hinsicht­ lich der Opferung entscheidungsbefugten Person zu – und dabei die Interes­ sen bzw. Rechtsgüter einer bestimmten Qualität unabhängig von deren Inha­ ber als gleichgewichtig betrachtet werden, dann ergäbe sich zumindest bei gleichem Grad der den jeweiligen Gütern „drohenden Gefahr“ nach § 34 S. 1 StGB stets ein Überwiegen etwa des Lebensinteresses (des einen) über das Körperintegritätsinteresse (des anderen). Nötigungen zu weitreichenden Hilfsaktionen ebenso wie Körperzugriffe – jedenfalls sofern diese nicht ganz schwere und bleibende Verletzungsfolgen haben – müssten als Mittel zur ­Lebensrettung für nach § 34 S. 1 StGB rechtmäßig erklärt werden. Recht­ sprechung und Literatur vermeiden eine solche Konsequenz zum einen da­ durch, dass auf der Grundlage eines solchen an sich gegebenen „Rangver­ hältnisses der betroffenen Rechtsgüter“ bzw. Interessen weitergehend danach gefragt wird, welches Gut bzw. Interesse denn „in der konkreten Lebenssitu­ ation schutzwürdiger“ sei. Dafür wird der Grad der Gefahr ebenso wie die Art und das Maß der drohenden Beeinträchtigung von „Erhaltungsgut“ einer­ seits und „Eingriffsgut“ andererseits herangezogen429. Zum anderen gilt nach § 34 S. 2 StGB der Inhalt des Satzes 1 nur, „soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“. Jedoch: Schon die Klausel einer größeren Schutzwürdigkeit in der konkreten Lebenssituation kann wohl kaum als ein strikter Maßstab angesehen werden, der unabhängig von individuellen Präferenzen (vom Belieben) des jeweiligen Rechtsanwenders etwas Bestimmtes aussagte. Durch § 34 S. 2 StGB wird dann jedoch zusätzlich der – nach dem hier dargelegten Stand­ punkt als teils schlicht unklar, teils als rechtlich verfehlt zu beurteilende – Inhalt des § 34 S. 1 StGB bedingt auf eine totale Leerformel. Denn die Norm selbst nennt keine Kriterien zur Bestimmung der Angemessenheit ei­ ner Notstandstat. Insofern ist die Auswertung des Inhaltes dieser positivrechtlichen Not­ standsregeln (§ 34 StGB, § 16 OWiG), sofern man bei deren Betrachtung also nicht schon ein bestimmtes Rechtskonzept voraussetzt, welches die Auslegung der Normen determiniert, zumindest hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung einer großen Menge möglicher Notstandstaten (die zwischen auch nach § 34 StGB eindeutig als gerechtfertigt bzw. als rechtswidrig zu beurteilenden Extremfällen liegen) weitgehend unergiebig: Letztlich ist eine Notstandstat demnach dann rechtmäßig, wenn sie (recht­ lich) angemessen (erlaubt bzw. rechtmäßig) ist (§ 34 S. 2 StGB, § 16 S. 2 OWiG). Lediglich gewisse, in relativ-aufgeklärter Zeit allerdings fernlie­ gend-absurde Annahmen werden von § 34 S. 1 StGB (§ 16 S. 1 OWiG) 429  Perron,

in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 23 ff.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen301

eindeutig ausgeschlossen (so etwa die Annahme, man könne zur Bewahrung seiner Sache vor zufälligem Untergang einen an der Gefahrentstehung un­ beteiligten Menschen rechtmäßig töten oder körperlich schwer verletzen). Die Frage jedoch, was dem einen, sofern er notleidend ist bzw. von der Notstandstat eines Notleidenden betroffen ist, im Verhältnis zum jeweils anderen nach einem allgemeinen Gesetz äußerlich zusteht – was er als sein vom Belieben oder Bedürfnis des anderen unabhängiges Gut rechtlich hat430 – wird durch die („Abwägungs“-)Formulierung der §§ 34 StGB, § 16 OWiG jedenfalls nicht beantwortet, sondern eher verzerrt. a) Zur näheren Auslegung des § 34 StGB aa) Zum Erhaltungsgut Überwiegend wird angenommen, als „Erhaltungsgut“ komme jedes „be­ liebige Rechtsgut“431 in Betracht. Die von § 34 StGB genannten Güter „Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum“ werden aufgrund des Zusatzes „oder ein anderes Rechtsgut“ lediglich als Beispiele verstanden. Überwie­ gend werden auch „Rechtsgüter der Allgemeinheit“ als notstandsfähig be­ trachtet432. Lediglich vereinzelte Stimmen wollen auf der Erhaltungsseite bei der Frage nach dem möglichen Erhaltungsgut eine Restriktion vornehmen: Köh­ ler schreibt, grundsätzlich reiche nur eine „Gefahr für die personale Existenz überhaupt“; zwar komme jedes „personale oder überindividuelle Rechtsgut“ in Betracht, es wirke aber „in concreto … das Erfordernis einer existentiell schweren Notlage einschränkend“433. Pawlik sieht als „Eingangsvorausset­ zung des rechtfertigenden Notstandes“ nur eine „Gefahr eines erheblichen – allerdings nicht notwendig eines existenzbedrohenden – Schadens“434. Günther hält lediglich Individualrechtsgüter als Erhaltungsgüter für not­ standsfähig435.

430  Das

ist die Frage: „Was ist (ein Notstands-)Recht?“; vgl. B.II.3. AT I, § 16, Rn. 12; Perron, in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 9 ff. 432  Fischer, StGB-Kommentar, § 34, Rn. 3a; Roxin, AT I, § 16, Rn. 13; Kühl, in: StGB-Kommentar, § 34, Rn. 4 m. w. N. 433  Köhler, AT, S. 281 und 288. 434  Pawlik, Notstand, S. 160  ff. Die Konkretisierung dessen betrachtet Pawlik letztlich als eine „Kulturfrage“: In „einer Gesellschaft der Individuen“ könne die Individualität „bereits dann als ernsthaft gefährdet ausgegeben werden, wenn dem Betroffenen ein Schaden droht, der seine Lebensführung über einen geraumen Zeit­ raum hinweg nachhaltig beeinträchtigen würde“, Pawlik, a. a. O., S.  161. 435  Günther, in SK, § 34, Rn. 23. 431  Roxin,

302

B. Auflösung der Aufgabe

Nach dem dargelegten Notstandsrechtsgrund (letztlich: dem ideellen ur­ sprünglichen Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie vor allem Erwerb und dann vertraglicher Verteilung) ist jedenfalls das Vorliegen einer engen, nur erhebliche Not erfassenden Notstandslage einer Person und damit die Gefährdung jedenfalls auch individueller Güter eine Erlaubnistatbestandsvo­ raussetzung436: Das Notstandsrecht als Zugriffsbefugnis auf Nichtgefahrver­ antwortliche geht nicht auf eine volkswirtschaftlich oder sonst wie nützliche Gesamtgüterverteilung, sondern bloß auf den Erhalt der (selbständigen) Person. Insofern können auch sogen. „Rechtsgüter der Allgemeinheit“ als Erhal­ tungsgüter nur insoweit notstandsfähig sein, wie deren Gefährdung bzw. Verletzung zugleich eine Gefährdung der Selbständigkeit einer Person bzw. deren angeborener Güter mit sich bringt. Dies kann etwa bei (drohenden) schweren Verkehrsordnungsverstößen – etwa strafrechtlich relevanten Trun­ kenheitsfahrten mit Kfz – oder (drohenden) Bränden der Fall sein; die entsprechenden auch strafbaren Delikte – §§ 306 ff., 315 ff. StGB – sind eigentlich auch keine Delikte gegen „Rechtsgüter der Allgemeinheit“, son­ dern gegen unbestimmt viele Individualrechtsgüter437. Soweit nach § 34 StGB ein „wesentliches Überwiegen“ von „Eigentum“ auf der Erhaltungsseite als möglich und rechtfertigend betrachtet werden können soll, ist dafür jedenfalls eine erhebliche Gebrauchsbedeutung des gefährdeten Gegenstandes und eine bloß-geringe konkrete Gebrauchsbedeu­ tung des Zugriffsgegenstandes für die von der Notstandstat betroffene Per­ son vorausgesetzt (siehe dazu noch unten c)aa) zu § 904 BGB). Jedenfalls nicht unmittelbar als Erhaltungsgüter notstandsfähig sind demnach beispielsweise die staatliche Rechtspflege als solche (verletzt et­ wa durch Delikte nach §§ 153 ff., 257, 258 StGB) oder die Richtigkeit bzw. Sachlichkeit und Neutralität des Staatshandelns (Rechtsdurchsetzung) selbst (verletzt / gefährdet etwa durch Delikte nach §§ 331 ff. StGB). So wird man etwa eine gegen den Willen des an sich Gebrauchsbefugten er­ folgende Nutzung eines Mobiltelefons durch einen Bürger nicht schon dann für zulässig halten können, wenn sie erforderlich ist, um eine ansons­ ten drohende Falschaussage eines Dritten zu verhindern, sondern nur dann, wenn sie zugleich verhindert, dass mittels dieser Falschaussage eine Per­ son etwa fälschlich beschuldigt oder gar in Haft genommen wird (vgl. B.V.2.e)). 436  Insoweit mit Köhler, Fn. 433. Zur Kritik der Annahme Köhlers (AT, S. 285), es entsprächen den Eingriffsduldungspflichten im Notstand inhaltlich „allgemeine Hilfspflichten in Notlagen“ als Rechtspflichten, siehe hingegen unten B.IV.2.b)cc). 437  Vgl. Helmers, ZStW 2009, 527, dort Fn. 51.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen303

bb) Zum Gefahrbegriff Eine „Gefahr“ ist das Urteil auf die Wahrscheinlichkeit (Möglichkeit) eines zukünftigen – jedenfalls vom Urteilenden angenommenen – Nichtsein­ sollens (Schadenseintritts). Der Begriff der gegenwärtigen, jedoch abwend­ baren Gefahr erfasst also zunächst bloß die mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit von etwas, dessen Dasein im relevanten Handlungszeit­ punkt gerade nicht wirklich ist und aus Sicht des Urteilenden nicht wirklich werden soll. Sofern das Wort zur Bezeichnung eines Rechtssatzmerkmals verwendet wird – unter welches stets feststellbare Tatsachen müssen subsu­ miert werden können – ist damit eine reale Situation gemeint, welche im Handlungszeitpunkt bei unbeeinflusster Fortentwicklung einen zukünftig eintretenden Schaden für jemanden (prognostisch) erwarten lässt, also eine Gefahrenlage. Strittig ist, welche im Handlungszeitpunkt gegebenen Tatsachen einzube­ ziehen sind, um das Vorliegen / Nichtvorliegen einer „Gefahr“ zu bestimmen: Die wohl überwiegend vertretene Auffassung bestimmt das Vorliegen einer Gefahr für ein potentielles „Erhaltungsgut“ im Rahmen des § 34 StGB objektiv ex ante. Es müsse „von einem Standpunkt vor der Tat aus“ beurteilt werden können, ob eine Gefahr vorliege oder nicht. Ein rein-subjektives Urteil des jeweiligen Notstandstäter, das „bloße Einbildung“ sein könnte, soll zwar – entgegen einer vereinzelt auch vertretenen Position438 – nicht ausreichen439. Neben generellem Erfahrungswissen sei etwaiges Sonderwis­ sen des Notstandstäters in das Gefahrenurteil einzubeziehen. Ob darüber hinaus weitere ex ante bekannte Informationen oder gar „alle Gegenwarts­ kenntnisse“ überhaupt440 für die Frage des Vorliegens einer Gefahr einzube­ ziehen sind, ist innerhalb dieser Auffassung strittig. Deshalb wird innerhalb der ex-ante-Position unterschiedlich beurteilt, ob eine Gefahr auch dann zu bejahen ist, wenn aus der Perspektive des Notstandstäters bei verständiger Beurteilung eine Gefahr vorhanden zu sein scheint, der Eingriffsadressat aufgrund von Sonderkenntnissen aber weiß, dass tatsächlich kein Schaden droht441 oder ob es sich dann um eine Putativ-Notstandstat handelt. Einige Autoren wollen eine gewisse Objektivierung des Gefahrurteils bzw. der Prognosegrundlage erreichen, indem der jeweiligen ex ante-Perspektive diejenigen Kenntnisse zu Grunde gelegt werden, die von jemandem in der 438  Zielinski,

Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 244 ff. AT I, § 16, Rn. 15; ebenso etwa Wessels / Beulke, AT, Rn.  303 ff.; ­Jescheck / Weigend, AT, § 33 IV 3a. 440  So Blei, AT, § 44 III 3. 441  Dies bejahend Schaffstein, FS-Bruns, 89 (106); wohl auch Pawlik, Notstand, S. 172 (dort Fn. 83). 439  Roxin,

304

B. Auflösung der Aufgabe

konkreten Handlungssituation zu erwarten gewesen wären, der professionell (von Staats wegen) für die Abwendung der jeweils angenommenen Gefahr zuständig ist442. Das vermöge für viele Fälle zwar nur einen vagen Beurtei­ lungsmaßstab zu liefern; trotzdem ergäben sich daraus gewisse objektivier­ bare Kriterien zur Findung der faktischen Prognosegrundlage443. Begründet wird die ex ante-Position damit, dass es sich bei dem GefahrUrteil um ein prognostisches Urteil handele, das für Eingreifenden und Eingriffsadressaten verbindlich im Zeitpunkt der möglichen Notstandstat (ex ante) müsse getroffen werden können. Ansonsten würde – so das Argu­ ment – auf eine „in dieser Situation … umsetzbare Verhaltensrichtlinie praktisch verzichtet“444. Nach anderer Auffassung ist zur Bestimmung des Vorliegens einer Gefahr hingegen eine ex post- Beurteilung anzustellen: Die der Prognose zugrund­ zulegenden Umstände seien alle ex post bekannten Umstände („objektiv nachträgliche Prognose“)445. Zur Begründung wird insoweit angeführt, die ex-ante-Sicht eines Akteurs oder eines fiktiven Betrachters könne den wirk­ lichen Sachverhalt verfehlen; die das Gefahrenurteil begründenden Umstän­ de müssten tatsächlich gegeben sein, um ein mit einer Duldungspflicht des Betroffenen verbundenes Eingriffsrecht auszulösen. Dieser Streit mag durch den Normwortlaut mitbegründet sein. Die Be­ zeichnung des Tatbestandsmerkmals als „Gefahr“ – anstatt als „Gefahrenla­ ge“ – kann zu dem Gedanken verleiten, zur Verwirklichung des Rechtferti­ gungstatbestands sei ein im Handlungszeitpunkt (ex ante) wirkliches Urteil eines oder mehrerer Menschen dahingehend vorausgesetzt, es liege die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts vor, sodass – ausgehend von der Perspektive der von der (vermeintlichen) Gefahrensituation Betroffenen – überprüfend gefragt wird, welche Tatsachen diese denn dem Urteil als ex ante bekannt zu Grunde legen konnten. Das ist jedoch nicht richtig: Das maßgebliche Gefahrenurteil ist eine Prognose auf der Grundlage der im Handlungszeitpunkt existenten Umstände, unabhängig davon, ob diese im Handlungszeitpunkt auch bekannt oder ggf. noch unbekannt sind und erst später festgestellt werden. Entscheidend ist nämlich, unter welchen Bedingungen das Gefahrenurteil objektive Gültigkeit hat. Nur dann ist das Merkmal der „Gefahr“ als Erlaub­ etwa Jakobs, AT, 13 / 13; Kühl, AT, § 8, Rn. 52; Pawlik, Notstand, S. 175. Notstand, S. 175, der als mögliches Beispiel dieses Maßstabs das Verhalten eines „pflichtgetreuen Polizeibeamten“ nennt. 444  Siehe Rudolphi, GS Armin Kaufmann, S. 384; Frisch, Vorsatz, S. 426. 445  Fischer, § 34, Rn. 3; Perron, in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 13; Stratenwerth, AT, § 9, Rn. 97; Köhler, AT, S. 288; Gallas, FS-Heinitz, S. 176–178. 442  So

443  Pawlik,



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen305

nistatbestandsvoraussetzung geeignet, die rechtliche Konsequenz einer Not­ standslage – nämlich die Veränderung der Gebrauchsbefugnisse an erwerb­ lichen Gegenständen, soweit deren Benutzung zur Gefahrabwendung erfor­ derlich ist – auszulösen. Das Gefahrenurteil hat nur dann objektive Gültigkeit, wenn dem Progno­ seurteil die in der Handlungssituation vorhandenen Kausalfaktoren zugrun­ de gelegt werden, auch wenn diese ggf. erst ex post bekannt werden. Zur Verdeutlichung: Wenn ein Mensch sich – von ihm und allen anderen unbemerkt – mit einem tödlich wirkenden Gift infiziert, er sich sodann wie gewohnt schlafen legt, einschläft und – ohne das Bewusstsein wiederzuer­ langen – verstirbt, dann befand sich dieser Mensch im Zeitraum zwischen Infektion und Todeseintritt in realer Todesgefahr. Das – mangels hinreichen­ der Tatsachenkenntnis – niemand während des Vorliegens der Todesgefahr auf eine solche urteilte oder (ex ante) urteilen konnte, steht dem Dasein der Gefahr selbstverständlich nicht entgegen. Geradezu absurd erschiene die Annahme, der Verstorbene habe sich mangels frühzeitiger Kenntnis von der Infektion und dementsprechendem Ausbleiben eines Gefahrenurteils zu Leb­ zeiten gar nicht in Todesgefahr befunden. Daran wird deutlich: Ein objektiv gültiges Gefahrenurteil beruht auf einer realen Faktenlage (Gallas, Fn. 445, S. 178: „faktische Basis“). Kenntnis der Faktenlage im potentiellen Handlungszeitpunkt ist hingegen nicht vorausge­ setzt, um – wenn auch erst ex post – objektiv auf das Vorliegen einer Gefahr zu einem bestimmten (ggf. schon vergangenen) Zeitpunkt zu urteilen. Insofern liegt – entgegen der ex ante-Position – objektiv keine Gefahr vor, wenn der (vermeintliche) Notstandstäter oder ggf. alle in die Hand­ lungssituation Involvierten aufgrund mangelnder Tatsachenkenntnis bzw. aufgrund eines Irrtums auf den bevorstehenden Eintritt eines Schadens ur­ teilen, der Schadenseintritt jedoch tatsächlich (auch ohne einen menschli­ chen Eingriff) sicher nicht bevorsteht. Das gilt auch dann, wenn das inhalt­ liche Fehlurteil in der Handlungssituation aufgrund der zu diesem Zeitpunkt (ggf. unvermeidlich-)defizitären Faktenkenntnis unvermeidbar war: Auch dann liegt letztlich ein bloß subjektives, inhaltlich unzutreffendes Gefahren­ urteil und somit eine nur vermeintliche Gefahr vor. Wird beispielsweise ein Mensch von einer Schlange gebissen, deren Art bei einem Biss in aller Regel ein für Menschen tödliches Gift absondert, dann fehlt es auch dann am Vorliegen einer realen (objektiven) Todesgefahr, wenn das beißende Schlangenexemplar aufgrund einer seltenen und allen Anwesenden unbekannten Anomalie des Giftkanals tatsächlich kein Gift injizieren konnte.

306

B. Auflösung der Aufgabe

Ein inhaltlich unzutreffendes – und sei es konkret unvermeidbares – Ge­ fahrenurteil als solches kann die Konsequenz des Vorliegens einer NotstandsRechtfertigungslage – die Veränderung der konkreten Gegenstandszuordnung bzw. des Umfangs der Gebrauchsbefugnis – nicht bewirken446. Dürfte im genannten Beispielsfall der von der Giftschlange Gebissene ein fremdes Kfz zur Fahrt in ein nahes Krankenhaus zum Erhalt eines Gegengifts benutzen, wenn er tatsächlich vergiftet wäre (die Erforderlichkeit dieser Rettungsfahrt zur Gefahrabwendung sei unterstellt), so steht ihm das Kfz bei Ausbleiben der Vergiftung objektiv nicht zu dieser Nutzung zu. Sofern der Kfz-Eigen­ tümer die Anomalie der beißenden Schlange und dementsprechend das Ausbleiben der Vergiftung kennt, so muss er dem Gebissenen das Kfz nicht überlassen. Zwar darf der Kfz-Eigentümer, weil sich der Gebissene in ei­ nem ggf. unvermeidbaren Erlaubnistatumstandsirrtum befindet, nicht sofort das Notwehrrecht in seinem vollen Umfang ausüben, sondern muss diesen zunächst auf seinen Irrtum hinweisen. Objektiv besteht das Notwehrrecht gegen den Irrenden jedoch (dem Grunde nach). Es ist – entgegen Vertretern der ex ante-Position – auch nicht zutreffend, dass eine solche Gefahrbeurteilung, die die im Handlungszeitpunkt vorhan­ denen Umstände unabhängig von deren aktuellem Bekanntsein zur Grund­ lage der Prognose macht, dazu führte, dass auf eine praktisch umsetzbare Verhaltensrichtlinie im potentiellen Gefahrenzeitpunkt ggf. verzichtet wer­ den muss. Denn wenn im Handlungszeitpunkt alle in die Situation Invol­ vierten nach den ihnen bekannten Fakten vom Vorliegen einer Gefahr aus­ gehen (müssen), welche tatsächlich jedoch nicht besteht, dann müssen sie ihrem Verhalten ihr – auf ihrem jeweiligen Kenntnisstand (ex ante) – ge­ troffenes Urteil zu Grunde legen, also handeln, als ob eine Gefahr tatsäch­ lich bestünde. Wenn also – um im Beispielsfall zu bleiben – sowohl der von der Schlange Gebissene, als auch der Kfz-Eigentümer und alle sons­ tigen Anwesenden annehmen (müssen), der Gebissene befinde sich in Le­ bensgefahr, obwohl eine solche aufgrund der Anomalie der Schlange tat­ sächlich nicht besteht, dann muss der Kfz-Eigentümer diesem – trotz Feh­ lens einer objektiven Notstandslage – sein Fahrzeug zur vermeintlich-erfor­ 446  Erwägenswert erscheint es hingegen, den Begriff der Gefahr dann objektiv ex ante zu bestimmen, wenn ein Staatsbediensteter in seiner Funktion als solcher – also im Rahmen seiner Zuständigkeit zur Rechtsdurchsetzung als Staat – handelt. Man mag nämlich dessen – bestenfalls aus professionalisierter Perspektive getroffe­ nes, inhaltlich jedoch ggf. unzutreffendes und insofern an sich bloß subjektives – Gefahrenurteil für ein objektiv verbindliches Gefahrenurteil halten („Anscheinsge­ fahr“ als echte Gefahr, vgl. Fn. 397). Das liegt daran, dass der Staatsbedienstete, gerade sofern er als Staat zur Rechtsdurchsetzung handelt, die Allgemeinheit der Idee nach repräsentiert (Repräsentation hier in einem weiten Sinne, der auch den Vollzug des Gesetzes – die Exekutive – umfasst). Hier liegt jedenfalls eine Differenz gegenüber dem Verhältnis des einen Bürgers zum anderen Bürger.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen307

derlichen Rettungsfahrt überlassen. Ein gewaltsames Verhindern des Zugriffs kann nach allgemeinen Begriffen als Totschlagsversuch zu beur­ teilen sein. Das liegt eben an dem – ggf. unvermeidlich-defizitären – vorläufigen Stand der Tatsachenkenntnis. Nicht hingegen liegt es daran, dass eine Le­ bensgefahr aufgrund dieser Tatsachenunkenntnis (objektiv) bestünde und dem vermeintlich Notleidenden das Kfz dementsprechend objektiv zum Gebrauch zustünde. Was also die Verhaltenskonsequenz im Handlungszeitpunkt angeht, so ist diese in Fällen von allseitig-unvermeidbarer, defizitärer Tatsachenkenntnis dieselbe, unabhängig davon, ob der Gefahrbegriff objektiv (ggf. erst ex post) bestimmt wird oder auf der Grundlage der im Handlungszeitpunkt bekannten Tatsachen (ex ante). Lediglich dogmatische Konsequenz der Ver­ neinung des Vorliegens einer objektiven Notstandslage ist, dass der Zugrei­ fende (der nur vermeintliche Notstandstäter) dem an sich Gebrauchsbefugten einen etwaigen Schaden nur in analoger Anwendung von § 904 S. 2 BGB zu ersetzen hat. Eine solche Schadensersatzpflicht des nur vermeintlichen Notstandstäters bei unverschuldetem Irrtum analog § 904 S. 2 BGB dürfte in der zivilrechtlichen Literatur auch anerkannt sein447. Damit eine „Gefahr“ im Sinne von § 34 StGB vorliegt, wird kein besonderer Grad der Gefährdung verlangt. Es muss lediglich (aber immerhin) „nicht nur die gedankliche Möglichkeit, sondern eine über die allgemeinen Lebensrisiken hinausgehende Wahrscheinlichkeit“ der Schädigung eines „Erhaltungsgutes“ bestehen448. Selbstverständlich wird das Vorliegen einer – wie dargelegt objektiv (ggf. erst ex post) bestimmten – „Gefahr“ auch nicht dadurch ausgeschlos­ sen, dass der Schaden aufgrund einer Situationsveränderung (nachträglich eintretender Umstände) ausbleibt oder sich deshalb nicht realisiert, weil sich eine unter den in der Handlungssituation gegebenen Fakten nach ob­ jektivem Urteil (ex post) zwar mögliche, aber nicht sicher prognostizierbare Fortentwicklung der Dinge realisiert. Überlebt etwa der von einer potentiell tödlich beißenden Giftschlange Gebissene die Giftinjektion auch ohne Behandlung, so befand er sich im Zeitraum zwischen Giftinjektion und Absinken der Giftkonzentration auf einen schon abstrakt unkritischen Wert objektiv in Lebensgefahr.

etwa Bassenge, in: Palandt, § 904 Rn. 5. in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 12 m. w. N.; ähnlich Roxin, AT I, § 16, Rn. 14; BGHSt 18, 272; 26, 179. 447  Siehe

448  Perron,

308

B. Auflösung der Aufgabe

cc) Zur Eingriffsseite Nach dem als annähernd nichtssagend kritisierten Wortlaut des § 34 StGB ist jeder Zugriff zulässig, der dem Erhalt eines „wesentlich überwiegenden Interesses“ dient (Satz 1), sofern denn die Tat ein „angemessenes Mittel“ ist (Satz 2). Nach überwiegender Literatur und Rechtsprechung soll – entgegen der eigentlichen Annahme, es seien stets alle Umstände zur Bestimmung einer konkreten „Schutzwürdigkeit“ einzubeziehen – hinsichtlich des menschli­ chen Lebens keine Bewertung der Qualität stattfinden449. Wenn es allerdings im Rahmen der „Abwägung“ um viele Leben auf der Erhaltungsseite gegen wenige oder nur eines auf der Eingriffsseite geht (deren bzw. dessen Ende vielleicht sowieso nah ist, insbesondere in den als „Gefahrengemeinschaf­ ten“ bezeichneten Konstellationen450), dann wird dieses Nicht-Abwägbar­ keits-Postulat bezüglich des Lebens wiederum von nicht wenigen bestrit­ ten451. Das verwundert auch nicht. Denn ausgehend von der Normformulie­ rung und ihrer Interpretation durch die ganz überwiegende Literatur, nach welcher alle erkennbaren für und gegen eine bestimmte Verhaltensoption bestehenden Interessen bewertet und (eher gefühlsmäßig denn gedanklich klar-fassbar) gegeneinander „abgewogen“ werden sollen, muss die These von der absoluten Unabwägbarkeit des Lebens und seiner jeweiligen Qua­ lität tatsächlich als ein nicht mit dem eigentlichen Prüfverfahren zusammen­ gehendes Dogma erscheinen: Wenn man eine „Gesamtabwägung“ von Inte­ ressen bzw. den „Vorzug eines höherwertigen Interesses“ unverständlicher­ weise als einen aus sich heraus einleuchtenden, elementaren Rechtsgrundsatz zu begreifen glaubt452, dann lässt sich die Annahme von absoluten Unver­ fügbarkeiten nicht erklären. 449  Perron, in: Schönke / Schröder, § 34, Rn, Rn. 23; BGHSt 35, 350 unter Bezug­ nahme auf schon OGHSt 1, 334; Roxin, AT I, § 16, Rn. 33 ff. 450  Mit „Gefahrengemeinschaft“ ist gemeint, dass ohne eine gegen einige notleidende Personen gerichtete Maßnahme alle notbetroffenen Personen bzw. deren Güter verloren gingen. Der Terminus ist, worauf M. Köhler hinweist (AT, S. 281, dort Fn. 138), unglücklich, weil die Verbindung der Personen zu einer „Gemeinschaft“ lediglich im Urteil des beobachtenden Außenstehenden (insofern ganz subjektiv) erfolgt; die zur Gemeinschaft genommenen Personen hängen tatsächlich in keiner Weise aufgrund einer eingegangenen Verbindung zusammen. 451  Binding, Handbuch I, 765; Broglio, 21 ff.; Siegert, 35; Henkel, 92 ff.; Zimmermann, MDR 1954, 147 ff.; Kern ZStW 64 (1952), 290; Mangakis, ZStW 84, 475; neuere Bestreitungen des absoluten Nichtabwägbarkeits-Postulats sachlich in den Ausführungen von Otto, Pflichtenkollision, S. 82 ff. und Sinn, NStZ 2004, 585 ff.; Erb hält Tötungen von nicht-rechtswidrig handelnden Personen dann für gerechtfer­ tigt, wenn für den Betroffenen sowieso „Chancenlosigkeit“ im Hinblick auf Überle­ ben besteht, in: MK, § 34, Rn. 114, 115. 452  Siehe etwa Lenckner, Notstand, S. 83 ff.; Roxin, AT I, § 16, Rn. 3.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen309

Bezüglich sonstiger Notstandszugriffe auf angeborene Güter wird offen eine gewisse Beliebigkeit zugestanden: Man könne „allenfalls als grobe Richtlinie den Satz aufstellen, dass eine Rechtfertigung am ehesten bei Ver­ letzung formaler Ordnungsbelange möglich ist und dass sie an umso strenge­ re Anforderungen gebunden ist, je persönlichkeitsnäher das verletzte Rechts­ gut ist“, wobei „dem geltenden Recht ebenso wenig entnommen werden“ könne, dass „Güter des einzelnen schlechthin Vorrang vor solchen der Allge­ meinheit haben, … wie der umgekehrte Satz“. So müsse man nach aktuellem positiven Recht zur Beantwortung der Frage nach dem wesentlichen Über­ wiegen eines bestimmten Interesses gegenüber einem anderen eben auch auf „außerrechtliche Wertungen“, auf „anerkannte Wertvorstellungen der Allge­ meinheit“, „Anschauungen der Sozialethik“ oder „in der Gemeinschaft herr­ schende Kulturanschauungen“ zurückgreifen. Nicht selten werde dies zuletzt auf eine Eigenwertung des Richters hinauslaufen, was dazu führe, dass „ein letzter Schuss irrationaler Erwägungen“ hinzukomme453. Diese vermeintliche Unbestimmbarkeit und der Vorbehalt einer in Ord­ nung gehenden Irrationalität findet sich – wie es zu erwarten ist – wieder in konkreten Fallbeurteilungen: Etwa zur Frage der Zulässigkeit der Erzwin­ gung einer Blutentnahme bzw. deren gewaltsamer Durchsetzung zur Rettung des Lebens eines Schwerverletzten meinen manche, es sei schon im Rahmen der Prüfung des § 34 S. 1 StGB „nicht nur das Interesse an der Körperinte­ grität … gegen das Lebensinteresse des Verletzten abzuwägen …, vielmehr ist in diese Abwägung auch das Interesse der Rechtsgemeinschaft an der Wahrung der Personenautonomie als einem Grundprinzip unserer Rechts­ ordnung einzubeziehen“, sodass eine solche Maßnahme unzulässig sei454. Andere kommen zum selben Ergebnis erst im Rahmen der Prüfung des § 34 S. 2 StGB455, wobei von einer „Prüfung“ insofern kaum die Rede sein kann, Perron, in Schönke / Schröder, § 34, Rn. 43, 44. in Schönke / Schröder, § 34, Rn. 47. Bezeichnend an diesen Ausfüh­ rungen ist die Bedingung eines „Grundprinzips“ auf das Vorliegen von „Interessen der Rechtsgemeinschaft“ bzw. die implizierte Annahme, ein „Grundprinzip“ sei ein zusätzlicher Abwägungsposten. Mit prinzipiengeleiteter Argumentation hat so etwas wenig zu tun. Gallas forderte, eine „Vorschrift, die auf dem Gedanken der Güterab­ wägung aufbaut“, bedürfe „der Einschränkung und Ergänzung durch prinzipielle rechtliche Erwägungen“, die das Gesetz aber nicht präzisieren könne, ZStW 80, 24. Meines Erachtens müsste die Forderung lauten, eine auf einer gedanklich-ungeord­ neten „Güterabwägung“ aufbauende Vorschrift dürfe mangels Rechtsprinzipienquali­ tät keine Rechtsnorm werden (Gallas sah dies der Sache nach ebenso, a. a. O.). 455  Wer schon in die „Interessenabwägung“ des § 34 S. 1 StGB alle ihm einfallen­ den bzw. alle für ihn entscheidungsrelevanten Kriterien einbezieht, der muss die „An­ gemessenheitsklausel“ des § 34 S. 2 StGB für weitgehend überflüssig halten, so etwa Roxin, AT I, § 16 / 79 ff.; Hirsch, in: LK, § 34, Rn. 53, 62, 78 ff.; Lenckner, Notstand, S. 116 ff., 146 ff. Andere sehen die nach § 34 S. 1 StGB durchzuführende Interessen­ 453  So

454  Perron,

310

B. Auflösung der Aufgabe

als die vorgebrachten Stellungnahmen nicht nach einem dargelegten allge­ meingültigen Rechtsbegriff getroffen werden bzw. kaum rational zugängli­ che Argumentationen enthalten. So meinen etwa Wessels und Beulke, da „der essentielle Kern der Grundrechte des Menschen unangetastet“ bleiben müsse, sei eine Nötigung zur Blutabgabe bzw. eine zwangsweise Blutent­ nahme kein „Gegenstand einer allgemeinen Hilfspflicht“456. Weshalb aber Grundrechte außerhalb eines Kerns missachtet werden dürfen und weshalb es sich bei einer Blutabnahme gegen den Willen des Betroffenen um ein Eindringen in einen Kern handeln soll, wird nicht dargelegt. Meißner glaubt, eine zwangsweise Blutentnahme sei unzulässig, denn „was hier durch­ schlägt, ist, die Menschenwürde“457. Weshalb die Menschenwürde nicht stets „durchschlägt“, bleibt dabei offen. Roxin hält „das Autonomieprinzip“ für einen „bedeutsamen Abwägungs­ gesichtspunkt“, woraus sich dann stets ergeben soll, dass „auch … der Zweck der Lebensrettung“ es nicht gestatte, „einem Unbeteiligten erhebli­ che Verletzungen zuzufügen“. Eine gegen den Willen des Betroffenen durchgeführte, zwangsweise Blutentnahme zur Lebensrettung hingegen hält Roxin für rechtmäßig: Diese sei als Hilfeleistung im Rahmen von § 323c StGB legitim erzwingbar. Dabei schließt Roxin sich Jakobs an in der Ein­ schätzung, „der beim Eingriffsadressaten (der Blutentnahme) realisierte Verlust dürfte sich nicht von der Einbuße unterscheiden, die etwa ein Not­ falleinsatz nach § 323c StGB mit sich bringt“458. Dies alles ist fehlerhaft: Nach der hier dargelegten, beim einzelnen Menschen als Person (Zuste­ henssubjekt) ansetzenden459 Theorie ist die Frage eindeutig zu beantworten: Weder eine zwangsweise Blutentnahme noch eine Nötigung eines nicht in abwägung als abstrakte erste Stufe einer Rechtfertigungsprüfung, die um weitere „Angemessenheits“-Erwägungen zu ergänzen sei, so etwa Jakobs, AT, 13 / 20, 32, 36; Meißner, Interessenabwägungsformel, S. 181, 189 ff. m. w. N. Letztlich handelt es sich hierbei für sich genommen um eine bloß dogmatische Differenz: Weder die Abwä­ gung von Interessen (wenn es nicht bloß die eigenen sind), noch die Prüfung der „Angemessenheit“ einer Tat sind ohne Darlegung eines – dem vorausgesetzten – Maßstabs durchführbar. Solange dieser dunkel bleibt oder fehlt, ist es letztlich egal, unter welchem der für sich genommen völlig unklaren Gesetzesmerkmale die extern getroffenen Überlegungen (subjektiven Meinungen) untergebracht werden. 456  Wessels / Beulke, AT, Rn. 319–320; ebenso Stratenwerth / Kuhlen, AT I, § 9, Rn. 109. 457  Meißner, Interessenabwägungsformel, S. 211. 458  Die Legitimität des § 323c StGB steht für den positivistisch orientierten Roxin anscheinend aufgrund dessen Existenz außer Frage, Roxin, AT I, § 16, Rn. 46–49. 459  Man mag sich als Mensch hier wohl die Frage stellen: „Wo denn auch sonst?“. Nur der Umstand, dass Menschen gerade in ethischen bzw. rechtlichen (normativen) Fragen zur Selbstverwirrung tendieren, erklärt meine verdeutlichende Erwähnung.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen311

einer rechtlichen Sonderverbindung zum Notleidenden stehenden anderen sind rechtlich-möglich. Denn die jeweils einzusetzende Materie kann gemäß der Weise der Konstruktion des Rechtsbegriffs ausschließlich dem einen als Person ohne Bedingung auf externe Umstände (in diesem Sinne bedin­ gungslos) zugeordnet sein (siehe B.II.3. und III.). Richtig an Roxins oben genannten Ausführungen ist jedoch, dass von einer zwangsweisen Blutentnahme nicht generell ein Mehr an physischer oder psychischer Belastung ausgeht als von einer – ggf. gewaltsamen oder durch qualifizierte Drohung erfolgenden – Nötigung etwa zu einer Ret­ tungsfahrt. Tatsächlich fehlt in dem gesamten Diskussionsstand ein Kriteri­ um, welches eine normativ-unterschiedliche Behandlung dieser Fälle plau­ sibel oder gar zwingend machen könnte460. Jakobs diesbezügliche – von Roxin abgelehnte – Annahme, es sei eine Notstandsrechtfertigung der Nöti­ gung zur Blutabgabe bzw. der zwangsweisen Blutentnahme ggf. deshalb zu verneinen, weil deren bloß „symbolischer Gehalt … an Entfaltungschancen“ in die Gütergewichtung eingehe und nur so erklärt werden könne, weshalb es sich dabei nicht um eine geschuldete allgemeine Hilfeleistung handeln soll461, ist jedenfalls ein weiteres Beispiel dafür, dass sich das Rechtsgüter460  Nicht ergiebig in Richtung einer notstandsrechtlichen Differenzierung zwi­ schen Körperintegrität und Willkürausübung ist auch der Hinweis von Freiers dar­ auf, die allgemeine Handlungsfreiheit werde „im geltenden Recht nicht in gleicher Weise dem personalen Kern zugeordnet“, was etwa die Widerruflichkeit der vertrag­ lichen Zurverfügungstellung des eigenen Leibes (etwa zu medizinischer Forschung) zeige, während „vertragliche Verpflichtungen zur positiven Handlung bindend“ und bei Unvertretbarkeit ggf. nach § 888 ZPO vollstreckbar seien; von Freier, Human­ forschung, S. 190 ff.; vgl. dazu schon oben Fn. 356. Es lassen sich, sofern es im Rahmen einer auch von von Freier intendierten grundbegrifflichen Argumentation überhaupt auf die konkrete Ausgestaltung des derzeitigen positiven Rechts ankommt, insoweit durchaus Gegenbeispiele darin finden: So hat ein Beschuldigter etwa eine staatlich ordnungsgemäß angeordnete Blutentnahme durch einen Arzt zu dulden; zu irgendeiner Weise der aktiven Mitwirkung (AAK, Bewegungstest, Belastungs-EKG, Einnahme von Kontrastmittel etc.) ist er rechtlich hingegen nicht verpflichtet; vgl. etwa Meyer-Goßner, § 81a, Rn. 11 m. w. N. Auch im Rahmen der Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit der Zufügung großer Qualen gegenüber einem aktuell rechtswidrig Angreifenden („Notwehrfolter“) argumentieren viele, diese sei gerade in Abgrenzung zum sogen. „finalen Rettungsschuss“ oder einer durch einen Gewaltakt (etwa einen Schlag oder Stich gegen den Angreifer) herbei­ geführten schweren Körperverletzung deshalb rechtswidrig, weil sie darauf gehe, den Willen des Angreifers zu brechen und diesen aktiv gegen sein vorheriges Handlungskonzept auszurichten. Zumindest wer so argumentiert und darin die wesentli­ che – über Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit entscheidende – Differenz der Fälle sieht, der muss die Erzwingung einer aktiven Hilfeleistung – im Verhältnis zu einer zwangsweisen Blutentnahme – erst recht für rechtlich unzulässig halten. 461  Jakobs, AT, 13 / 25. Für Jakobs „rangieren nicht etwa die Sachgüter nach den persönlichen Gütern“ (ebenda). Das ist nach dem hier vertretenen Standpunkt eben­ falls nicht nachvollziehbar.

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B. Auflösung der Aufgabe

und Interessenabwägungsverfahren als behaupteter Maßstab der Prüfung einer Verhaltensoption auf Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit tatsächlich „weitgehend einer rationalen Kontrolle … entzieht“462. Da bei Jakobs offen bleibt, wer nach welchen für andere verbindlichen Kriterien „symbolische Gehalte von Entfaltungschancen“ bestimmen soll, handelt es sich bei sol­ chen Ausdrücken lediglich um eine Verschleierung des Abbruchs der Argu­ mentation. Auch Pawliks Notstandsrechtstheorie lässt an diesem Punkt den schon angesprochenen Mangel an striktem Maßstab (siehe oben, B.II.2.) deutlich erkennen: Pawlik kritisiert zunächst die Argumentation, die in der Dogmatik für die Annahme absoluter Eingriffsgrenzen vorgebracht wird. Die Berufung auf ein Instrumentalisierungsverbot bzw. das Verbot, Menschen zum bloßen Mittel zu Zwecken anderer zu gebrauchen, sei „zu unspezifisch“, zumal „in einer Rechtsordnung, die einen rechtfertigenden Aggressivnotstand aner­ kennt, … in einem gewissen Umfang jeder Bürger eine wandelnde Hilfsres­ source für andere“ sei463. Schon diese Annahme Pawliks ist – wie dargestellt (B.III.) – fundamental irrig464. In Pawliks dann folgendem Versuch der Begründung einer Eingriffsgrenze, aus der sich auch die Unzulässigkeit ei­ ner zwangsweisen Blutentnahme ergeben soll, lässt sich trotz seines An­ spruchs, eine grundlegende Rechtsbegründung mit Hilfe der Philosophie Hegels darzulegen, eine prinzipiengeleitete Argumentation nicht entdecken: Es müsse einem „symbolischen Freiheitswert gesondert Rechnung getragen werden, den unsere Kultur der autonomen Verfügungsbefugnis des einzel­ nen über seine leibliche Sphäre“ einräume. „Freiheit“ sei „eine genuin gesellschaftliche Kategorie“, weshalb „eine durch die gesellschaftliche Über­ höhung natürlicher Tatsachen begründete und in diesem Sinn symbolische Komponente“ ein „originärer Bestandteil der rechtlich-realen Freiheit des Betreffenden“ sei, sodass es „als erstrebenwert“ erscheine, den Leib „mit einem besonderen Tabubereich zu umgeben“. Obwohl eine zwangsweise Blutentnahme nach Pawlik also anscheinend an sich unterhalb des von ihm postulierten und zum Maßstab gemachten „Grenzwertes der Unerheblichkeit“ eines „Freiheitsopfers des Notstands­ pflichtigen“ liegt, soll aus dieser vermeintlichen Argumentation die Forde­ rung erwachsen, den „gleichsam überschießenden symbolischen Eigenwert der leiblichen Sphäre“ einer Person zu respektieren. D. Ludwig, Notwehr- und Notstandsrecht, S. 156. Notstand, S. 251–254. 464  Zu einer grundbegrifflich geleiteten Kritik solcher Normen des aktuellen po­ sitiven Rechts, die den Bürger jedenfalls bei zu weiter Auslegung zu einer „Hilfs­ ressource“ degradieren, siehe oben B.III.2. (auf einige dieser Normen bezieht Pawlik sich unkritisch bei seinen Statements). 462  So

463  Pawlik,



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen313

Diese Ausführungen enthalten dunkle Urteile im Sinne eher gefühlsbe­ dingter Meinungen, die durch Verklausulierung mit Worten als Ergebnisse einer prinzipiengeleiteten Rechtsargumentation ausgegeben werden: Das vermeintliche Argument ist kein anderes, als eine gesellschaftliche bzw. kulturelle (wirkliche oder vermeintliche) Mehrheitsmeinung zur Basis einer „Freiheits-Kategorie“ zu erklären und damit einige derjenigen Inhalte, die aus einer bloß empiristischen Sicht irrational erscheinen müssen, zu beson­ deres wertvollen Zeichen einer – somit insgesamt irrational wirkenden – „Freiheitsentfaltung“ zu stempeln465. Auf diese Weise kann man alles und damit eben gar nichts begründen. Solche Scheinargumentationen sind ein direkter Beleg für die von mir aufgestellte Behauptung, es handele sich bei der hegelschen und demgemäß auch bei der pawlikschen Konzeption der Sache nach letztlich um einen unmittelbar-materialen Ansatz in einem an­ deren sprachlichen (mystisch-anmutenden) Gewand466. Insgesamt bleibt festzuhalten: Selbst wenn ein großer Teil der vorhandenen Notstandsrechts-Kasuistik im Ergebnis mit nach der hier vertretenen Position durchgeführten Fallbe­ urteilungen (dazu noch näher B.V.) übereinstimmen mag, so ist der Dis­ kussionsstand dazu eher ein Sammelsurium dunkler Urteile, in denen vie­ les beliebig zusammengemischt wird. Eine wissenschaftliche Lösung der Notrechtsfrage ist darin nicht zu erkennen, denn ein einsichtiger Maßstab der Beurteilung wird nirgends formuliert467. Auch die auf die Rechtsphilo­ sophie Hegels gestützte, umfangreiche Auseinandersetzung Pawliks mit der Notstandsrechtsfrage vermag daran nichts zu ändern: Solange der prinzipi­ 465  Alle Ausführungen Pawliks aus Notstand, S. 260 ff. Sollte sich, etwa durch eine repräsentative Umfrage, herausstellen, dass die Mehrheit der Deutschen bzw. in Deutschland Lebenden mittlerweile eine notfalls zwangsweise Blutentnahme zur Rettung des Lebens eines anderen für zulässig hält, dann müsste Pawlik wohl in diesem Sinne umschwenken, da die „Kultur“ sich damit insoweit als von Pawliks Kulturannahme abweichend herausstellte bzw. nun in eine andere Richtung ten­ dierte. 466  Siehe die Kritik in B.II.2.; es lässt sich nicht einmal sicher bestimmen, ob dieses Konzept – beurteilt aus dem hier dargelegten Standpunkt – gegenüber einer in Reinform auftretenden unmittelbar-materialen Konzeption immerhin in eine rich­ tige Richtung tendiert oder aber noch hinter deren – etwa bei Hobbes immerhin vorhandene – Rationalisierungsversuche zurückfällt. 467  Gallas Kritik schon während der Diskussion um die – im Jahre 1975 erfolg­ te – Einfügung eines Notstands-Rechtfertigungsgrundes i. S. d. § 34 StGB war zutref­ fend: Gallas schrieb, es könne „viel mehr, als alles zu bedenken und dann die richtige Entscheidung zu treffen, … dem Richter dabei jedenfalls nicht geboten werden … der Versuch, die divergierenden Gesichtspunkte in einem umfassenden Begriff des Interesses auf einen einheitlichen Nenner zu bringen, führt … nicht weiter. Es wird damit mehr verhüllt als geklärt …“, Gallas, ZStW 80, 24.

314

B. Auflösung der Aufgabe

elle Unterschied betreffend die Zuordnung des menschlichen Körpers zu einem darin zu denkenden (immateriellen) Subjekt bzw. einem Jemand einerseits (die Konstruktion der wirklichen Person überhaupt) und die Zu­ ordnung der sonstigen – der Person ursprünglich äußeren – Materie durch jeweils personale Erwerbsakte468 andererseits nicht bewusst eingesehen wird, kann die Notstandsrechtsfrage nicht nach einem festen Maßstab beantwortet werden. Pawliks Versuch, diese Frage in Bezug auf Körperzugriffe danach zu entscheiden, ob der „Eingriff … seiner kommunikativen Bedeutung nach den Betroffenen primär als Körper (res extensa) in Anspruch nimmt“ (dann soll Rechtfertigung möglich sein), oder ob der „Eingriff nach der Deutung eines objektiven Dritten die betroffene Person unmittelbar in ihrer Leiblich­ keit“ und damit in seinem „kraft seiner Lebendigkeit zu sich selbst verhal­ tenden Körper“ betrifft (dann Rechtswidrigkeit des Zugriffs)469, mutet vor dem Hintergrund seiner Kritik der sonstigen Literatur als maßstabslos gera­ dezu grotesk an. Sofern sich daraus überhaupt irgendetwas ableiten lässt, erscheint jedenfalls die von Pawlik bejahte Rechtfertigung der Abnötigung einer aktiven Hilfeleistung dazu widersprüchlich. Im Übrigen gelangt Paw­ lik – in scheinbar zufälliger Übereinstimmung mit der „herkömmlichen Notstandsliteratur“ – beispielsweise zu der nach dem hier dargelegten Ansatz verfehlten Annahme, es sei ein Juwelier bei der Verfolgung eines flüch­ tenden Diebs gerechtfertigt, wenn er im Weg stehende Passanten zu Boden stoße und leicht verletze470. Das ist unzutreffend: Die Gefährdung bloßer Sachgüter (konkret: Gefahr des dauernden Verlustes des Besitzes des Juwe­ liers am Schmuck) verändert nicht per se die bisherige Gegenstandszuord­ nung (allgemeine Gehwegnutzung durch jeweiliges zeitlich-erstes Betreten eines bislang nicht von einem Körper besetzten Platzes); schon gar nicht wird der Körper der jeweiligen umgestoßenen Passanten wegen der Verfol­ gung des Diebes nun unmittelbar dem Juwelier (als eben teilweise-seiner) zugeordnet. Deshalb darf richtigerweise von einer an sich legitimen Verfol­ gung des Diebes kein Unbeteiligter in angeborenen Gütern negativ betroffen werden; das gilt jedenfalls dann, wenn – wie der von Pawlik gebildete Fall 468  Das Dasein der Personen ist dem also vorausgesetzt; der Erwerb bzw. das rechtliche Haben von etwas Äußerem ist stets auflösend bedingt auf die Angewie­ senheit einer anderen Person darauf zur Selbsterhaltung in Existenzgefahr (es sei denn, der vorherige Erwerber ist zur Wahrung seiner Körperintegrität ebenfalls konkret darauf angewiesen, siehe dazu oben III.1.b)). In den Körper einer Person integrierte Sachen (Nahrungsmittel, aber z. B. auch Implantate) verlieren dadurch ihre Sachqualität und werden zu Körperbestandteilen (näher dazu B.V.2.a) und Fn. 569). 469  Pawlik, Notstand, S. 261 ff. 470  Pawlik, Notstand, S. 264–265.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen315

zu verstehen ist – die zu Boden gestoßenen Passanten weder Kenntnis der (vermeintlichen) Notlage noch Kenntnis ihres Im-Weg-Seins haben471. Auch die Annahme Pawliks, eine reiche und mit teurem Mantel beklei­ dete Spaziergängerin dürfe bei plötzlichem starken Regenschauer einer ärmlich gekleideten Frau zwar nicht deren Regenschirm wegnehmen, sodass letztere anstatt ersterer durchnässt werde, es dürfe jedoch der „junge Musi­ ker, der in einen nagelneuen Frack gekleidet, auf dem Weg zu seinem ersten öffentlichen Konzert ist und verhindern will, dass er gänzlich durchnässt im Konzertsaal anlangt“, nach dem Schirm greifen472, ist verfehlt: Wenn ein 471  Schwieriger zu beantworten ist nach dem von mir dargelegten Ansatz hinge­ gen, ob durch eine notstandsrechtlich begründete Sachgebrauchsbefugnis ein – inso­ fern vermittelter – Körperzugriff rechtlich möglich ist: Wandelt man Pawliks Fall dahingehend ab, dass nicht der Juwelier einem Dieb hinterherläuft, sondern jemand vor einem ihn verfolgenden Auftragskiller / -schläger davonläuft und, weil er nur so sicher verhindern kann, dass der Verfolger ihn einholt, auf seiner Flucht Passanten aus dem Weg stößt, dann steht eine Rechtfertigung dieser Nötigungen oder gar et­ waiger damit einhergehender Körperverletzungen in Frage. Nach dem (Not-)Er­ werbstatbestand verlieren die Passanten die Gebrauchsbefugnis am zur rettenden Flucht erforderten Teil des Bodens (etwa des Bürgersteigs) in dem Moment, in welchem der Noterwerbswille des Flüchtenden erkennbar ist (und der Platz durch diesen physisch erreichbar ist, siehe B.III.1.b) und 3.). Unter diesen Bedingungen dürfen die Passanten den jeweiligen Boden (erforderten Fluchtweg) insoweit nicht (mehr) nutzen, wie die Nutzung einer rettenden Flucht entgegenstünde. Somit haben sie dem Flüchtenden vor ansonsten drohender Kollision aus seinem (zur Rettung erforderlichen) Fluchtweg zu weichen. Die Erkennbarkeit des Erwerbswillens für die Anwesenden hat jedoch der Flüchtende selbst herzustellen; er muss also etwa War­ nungen rufen und so auf seine Raumangewiesenheit aufmerksam machen. Erst wenn ein Passant trotz gegebener Erkennbarkeit des Noterwerbswillens eine Kollision mit dem Flüchtenden nicht durch ihm mögliches Ausweichen vermeidet (sei es, dass er bewusst Widerstand leisten will; sei es, dass er bloß fahrlässig unaufmerksam ge­ genüber den Warnrufen ist), ist das Zur-Seite-Stoßen durch den Flüchtenden gerecht­ fertigt. Man beachte, dass dieser rechtlich-mögliche (bodenvermittelte) Körperzugriff sich also nur mittelbar aus der Notstandsrechtfertigungsregel ergibt: Lediglich der Bodenerwerb folgt aus dem Notstandsrecht; der Körperzugriff setzt jedenfalls leichtfahrlässiges Unterlassen des Freigebens des Raumes durch den anderen voraus. Dabei spielt es der Sache nach keine Rolle, ob der unmittelbare Rechtfertigungs­ grund betreffend den Körperzugriff als Notwehr oder als Defensivnotstand bezeich­ net wird (zum Begriff des Defensivnotstands – auch im Verhältnis zur Notwehr – näher B.V.3.). Dem Umfang nach geht der physische Körperzugriff (die Nötigung) lediglich auf das Aus-dem-Weg-Stoßen ohne Zufügung körperlicher Verletzungen (es sei denn, der im Weg befindliche andere leistet durch bewusstes Aufhalten des Flüchtenden dem Verfolger aktive Beihilfe zu dessen soweit versuchter Körperver­ letzungs- bzw. Tötungstat), weil bloß dies vom anderen rechtlich geschuldet ist. Sofern Eigentum als „Erhaltungsgut“ anerkannt wird – was nach der hier dargeleg­ ten Theorie nicht zwingend, jedoch möglich ist (siehe dazu c)aa) zu § 904 BGB) – dann ist der pawliksche Juwelier-Fall ebenso zu beurteilen. 472  Pawlik, Notstand, S. 265–266.

316

B. Auflösung der Aufgabe

Zugriff auf fremde Sachen nicht der Erhaltung angeborener Güter dient und nicht einmal einen schon erworbene Sach- bzw. Vermögensgüterbestand sichert, dann ist eine Rechtfertigung vollkommen ausgeschlossen. Die recht­ liche Sachgüterzuordnung (Gebrauchsbefugnis; konkret hinsichtlich des Regenschirms) ist keineswegs auflösend bedingt auf die Angewiesenheit eines (zumal schlecht organisierten) anderen zur Aufrechterhaltung seiner subjektiven Hoffnung, in Zukunft in bestimmter Weise beruflich anerkannt zu sein. Insoweit sei hier nochmals angemerkt, dass diejenigen Notrechtskonzepte, die die prinzipielle Differenz bezüglich des Notstandszugriffs auf zum „inneren Mein“ (kantische Terminologie) gehörende Güter (mit der Wirklich­ keit der Person ursprünglich verbundene Materie) einerseits und demgegen­ über „äußeren Gegenständen“ andererseits verkennen, auch die Frage nach einer Pflicht zur aktiven Hilfe als Rechtspflicht nicht nach striktem Maßstab beantworten können: Bezüglich des von Pawlik gebildeten Falles des „jun­ gen Musikers“ auf dem Weg „zu seinem ersten öffentlichen Konzert“ könn­ te sowohl aus Pawliks Notrechtsstandpunkt, als auch aus den von ihm kri­ tisierten Konzepten sehr wohl hergeleitet werden, ein fremder Mensch, der gerade nichts für ihn Wichtiges zu tun hat, sei rechtlich verpflichtet, den ansonsten wegen einer Störung der öffentlichen Verkehrsmittel zu spät zu dem angesetzten Konzert kommenden Musiker dorthin zu fahren. Dass eine solche Annahme nach dem von mir dargelegten Ansatz bzw. dem daraus folgenden Notstandsrechtsbegriff kategorisch ausgeschlossen ist und dass die in dieser Annahme implizierte ursprüngliche (und zwangsweise herstell­ bare) Zuordnung der Willkür des einen zu einem anderen bloß bedingt auf den Eintritt zufälliger Umstände eine krasse Anmaßung darstellt, das liegt auf der Hand. Relativ abstrakte Körpergefährdungen, wie sie etwa bei bloßen Straßen­ verkehrsordnungsverstößen vorkommen, sollen nach der Rechtsprechung (Kasuistik) zur Beseitigung schwererer Körpergefahren gerechtfertigt sein473, nicht dagegen zur Abwendung von Gefahren der Sachbeschädigung474. Dies ist nach der hier vertretenen Position als tendenziell zutreffend zu beurteilen: Bei Ordnungsvorschriften (etwa denen der Straßenverkehrsord­ nung) handelt es sich um eine abstrakte Handlungsbereichsabgrenzung unter dem allgemeinen Rechtsgebot, unverletzt aneinander vorbeizukommen (Be­ schränkung aller äußeren Willkür auf deren Zusammenstimmung mit jeder­ manns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz). Geregelt wird das in der jeweiligen Handlungsposition zulässige Maß der Beteiligung etwa am etwa bei Perron, in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 28. OLG Düsseldorf, NJW 1990, 2246.

473  Überblick 474  Vgl.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen317

Straßenverkehr, somit das zulässige Maß der jeweiligen Raum- bzw. Bodennutzung im Verhältnis zu anderen. Insofern sehen solche Ordnungsnormen stets besondere Regeln zur Ermöglichung von Reaktionen auf veränderte Umstände vor: Etwa enthalten die §§ 36 ff. StVO solche Regelungen für den Straßenverkehr; so regelt § 38 StVO die Voraussetzungen und die Konse­ quenzen des Einsatzes von blauem Blinklicht und Sirenen an damit entspre­ chend ausgerüsteten Fahrzeugen. Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sich dann darauf einzustellen („Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben so­ fort freie Bahn zu schaffen“, § 38 Abs. 1 S. 2 StVO). Das allgemeine Stra­ ßenverkehrsgebot gegenseitiger Rücksichtnahme (§ 1 StVO) fordert zudem, auf etwaiges Fehlverhalten anderer zu reagieren. Trotzdem ist problematisch, ob ein notleidender Bürger (oder ein Not­ standshelfer in dessen Willen) im Falle der Erforderlichkeit etwa einer Geschwindigkeitsübertretung oder eines Rotlichtverstoßes zur Körperinteg­ ritäts- oder gar Lebensrettung einen solchen Ordnungsverstoß gerechtfertigt begehen bzw. eine solche notbedingte (subjektive) Neuordnung rechtlich herstellen kann. Denn für andere Verkehrsteilnehmer ist diese bloß-subjektiv gesetzte konkrete „Umordnung“ (der Ordnungsnormverstoß) schon mangels Kenntlichmachung durch ein allgemeinverständliches und wahrnehmbares Zeichen (Blaulicht, Einsatzhorn) nicht erkennbar475, sodass für diese – trotz Befolgung der geschriebenen Verkehrsordnung ihrerseits – konkrete Gefah­ ren oder gar Verletzungen für Leib oder Leben daraus resultieren können. Insofern wird man eine allgemeine Notstandsrechtfertigung zur Erhaltung der (selbständigen) Person nur für solche Verkehrsordnungsverstöße anneh­ men können, die – was Gefährdungen der Körperintegrität anderer angeht – gänzlich abstrakt und konkret folgenlos bleiben: Sobald ein Verkehrsord­ nungsverstoß (etwa eine Geschwindigkeitsübertretung oder ein Rotlichtver­ stoß) dazu führt, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer in konkrete Kolli­ sionsgefahr (konkrete Gefahr für Leib oder gar Leben) gerät, begeht der Notstandstäter (Notleidende oder Nothelfer) Unrecht476. 475  Vgl. nochmals unten B.V.2.c) und zur Abgrenzung den in Fn. 471 gebildeten Fall des vor drohender Tötung / Körperverletzung Flüchtenden, der nach Warnrufen Passanten (ggf. rechtmäßig) aus dem Weg stößt: Die Erkennbarkeit des notbedingten Erwerbswillens für den davon betroffenen anderen macht den Unterschied. 476  Zweifelhaft ist demnach, ob aus Gründen des Leibes- oder Lebensnotstands (bzw. diesbezüglicher Nothilfe) tatbestandsmäßiges Handeln nach § 316 StGB (Trunkenheitsfahrt) oder § 21 StVG (Fahren ohne Fahrerlaubnis) bei gebotener – dem hier dargelegten Notstandsrechtsbegriff entsprechend – enger Auslegung nach § 34 StGB gerechtfertigt sein kann: Zwar handelt es sich um „abstrakte“ Gefähr­ dungsdelikte, deren Verwirklichung keinen Beinahe-Unfall voraussetzt. Andererseits impliziert die Fassung solcher Delikte als Strafnormen (sofern diese legitim sein wollen) die Behauptung, die Tatbestandsverwirklichung sei auch ohne Eintritt kon­ kreter Gefahrerfolge schweres Unrecht, weil es sich um die willentliche Setzung

318

B. Auflösung der Aufgabe

b) Zu § 228 BGB Der Inhalt der §§ 228, 904 BGB ist nach dem hier dargelegten Stand­ punkt – sofern diese Normen demgemäß interpretiert werden477 – im We­ sentlichen rechtlich akzeptabel bzw. teilweise sogar geboten: Beide Recht­ fertigungsnormen beziehen sich schon ihrem Wortlaut nach lediglich auf Zugriffe auf Sachgüter, welche ideell (der Materie nach) Bestandteil des ursprünglichen Gemeinbesitzes sind bzw. waren. § 228 BGB lautet: „Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht. Hat der Handelnde die Gefahr verschuldet, so ist er zum Schadensersatz verpflichtet“. Da es dabei um Gefahren geht, die „durch“ die Sache drohen, mag die Bezeichnung des Rechtfertigungsgrundes als „Verteidigungsnotstand“478 oder „Defensivnotstand“ zwar verständlich sein. Allerdings geht es in den von § 228 BGB gemeinten Sachgefahr-Konstellationen gerade nicht um eine Rechts-Verteidigung im eigentlichen Sinne – nämlich gegen Unrechts­ verhalten; eine solche ist Inhalt des Notwehrrechts479. Auch setzt eine Rechtfertigung des Zugriffs auf eine gefahrträchtige Sache nach § 228 BGB keinen echten „Notstand“ im Sinne einer erheblichen Notlage einer Person voraus; ausreichend zur Rechtfertigung einer Sachbeschädigung nach § 228 unkontrollierbarer Gefahren für personale Rechtsgüter handelt (vgl. zum Erfordernis der Bestimmung von Strafunrecht und dementsprechender Auslegung abstrakter Ge­ fährdungsdelikte Helmers, ZStW 2009, 523 ff., dortige Fußnote 41, m. w. N.). Diese Behauptung der unkontrollierbaren Gefährdung anderer bei (jeder) Tatbestandsver­ wirklichung muss wohl derjenige in Frage stellen, der eine diesbezügliche Not­ standsrechtfertigung bejahen will (womit der Sache nach zugleich Kritik an einer zu weiten Fassung dieser Strafnormen geäußert wäre). 477  Sowohl die Formulierung des § 228 BGB, als auch die des § 904 BGB erfor­ dert, schon weil darin jeweils unbestimmte Merkmale enthalten sind („der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht“, 228 BGB, bzw. „der drohende Schaden gegenüber dem … entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist“, § 904 BGB), Interpretation bzw. Konkretisierung. 478  Dörner, in: HK-BGB, 6. Auflage 2009, § 228, Rn. 1; Heinrichs, in: Palandt, § 228, Rn. 1. 479  Sofern die Gefahr deshalb auch „durch“ die Sache droht, weil diese durch einen rechtswidrigen Angriff gegen jemanden eingesetzt wird, rechtfertigt schon Notwehr als mit den Recht einhergehende Zwangsbefugnis (positivrechtlich: §§ 32 StGB, 227 BGB) den zur Angriffsabwendung erforderlichen Zugriff auf die im Eigentum des Angreifers stehende Sache. § 228 BGB erlangt in Konstellationen rechts­ widriger Angriffe erst dann eigenständige Bedeutung, wenn der Angreifer fremde Sachen zum Angriff benutzt; vgl. etwa Fischer, StGB-Kommentar, § 34, Rn. 24.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen319

BGB kann es sein, wenn durch die beschädigte Sache Gefahr für eine an­ dere – ggf. deutlich geringwertigere – Sache droht. Die in § 228 BGB – was das „Außer Verhältnis“-Stehen angeht, unbe­ stimmt – genannten Eingriffsvoraussetzungen sind richtigerweise zu verste­ hen als erforderliche auflösende Bedingungen der Anerkennung der Zuordnung von Sachen zum (legitimen) Privatgebrauch: Das allseitige Anerkennen des Zustehens eines Gegenstandes zu einem anderen zum umfassenden oder beschränkten480 Privatgebrauch ist notwendig (a priori) bedingt einerseits auf das eigene Nichtangewiesensein auf die Sachnutzung zum Selbsterhalt auf der Welt (Notstandsrecht, siehe oben III.1.b)), und weitergehend, näm­ lich insofern die Sachnutzung (im weiten Sinne) für andere schon aufgrund der Beschaffenheit der Sache mit Gefahren verbunden ist, auf das Umschla­ gen einer abstrakten Gefährlichkeit in eine durch die Sache konkret „dro­ hende Gefahr“ für eigene Güter. So bedeutet zum Beispiel Privateigentum hinsichtlich eines Hundes oder eines Kfz das Innehaben der (relativ zu anderen) umfassendsten Gebrauchs­ befugnis hinsichtlich dieser Gegenstände. Das schließt jedoch die Anerken­ nung eines absoluten Zustehens der Sache im Sinne einer völligen Unan­ tastbarkeit auch dann noch, wenn deren Wirkung zu einem Verlust der rechtlichen Habe eines anderen führen würde (etwa: ein fremder Hund droht zu beißen481 oder es droht die fremde Maschine zu explodieren und Sachen anderer zu beschädigen), gar nicht ein. Das unbestimmte negative Rechtfertigungsmerkmal des Nicht-außer-Ver­ hältnis-Stehens des (herbeizuführenden) Sachschadens zur Gefahr im Sinne von § 228 BGB ist richtigerweise eng auszulegen: Weshalb „geringfügige Körperverletzungen“ hinzunehmen sein sollten, wenn diese nur durch Be­ schädigung einer „besonders wertvollen Sache“ abgewendet werden könn­ ten, wie einige behaupten482, ist zumindest dann, wenn unter Körperverlet­ 480  Der zur Not- bzw. Gefahrabwendung erforderliche Zugriff auf eine konkretgefahrträchtige Sache ist sowohl gegenüber dem Sacheigentümer, gegenüber einem (berechtigten) Sachbesitzer als auch (positivrechtlich ggf. in analoger Anwendung des § 228 BGB) gegenüber demjenigen, der ein Aneignungsrecht bezüglich einer herrenlosen Sache hat, gerechtfertigt, vgl. etwa Heinrichs, in: Palandt, § 228, Rn. 5; Dörner, in: HK-BGB, § 228, Rn. 3. 481  Notstandszugriffe auf fremde Tiere, von denen Gefahren ausgehen, können nach dem derzeitigen positiven Recht gemäß § 228 BGB i. V. m. § 90a S. 3 BGB gerechtfertigt sein. 482  Ellenberger, in: Palandt; § 228, Rn. 8. In der strafrechtlichen Literatur wird dies ebenfalls von vielen vertreten, siehe etwa Jakobs, AT 13 / 25–26; Perron, in Schönke / Schröder, § 34, Rn. 26; Pawlik, Notstand, S. 265. Letztgenannte Autoren beziehen sich dabei sogar auf Körperzugriffe zur Sachrettung in „Aggressivnotstands“Konstellationen.

320

B. Auflösung der Aufgabe

zung dabei schon eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens oder der körperlichen Unversehrtheit verstanden wird483, nicht einzusehen. Ein Außer-Verhältnis-Stehen kann nur dann bejaht werden, wenn ledig­ lich die Gefahr der Beschädigung von einfach zu ersetzenden Sachgütern ohne wesentliche Bedeutung für das jeweilige Handlungs- bzw. Lebenskonzept des jeweiligen Rechtsinhabers droht und diese nur durch Beschädigung einer Sache mit enormer Bedeutung für das Handlungs- bzw. Lebenskonzept des Eigentümers abgewendet werden könnte484: So mag etwa die Ablenkung eines fremden, fahrtauglichen, führerlos ins Rollen gekommenen Kfz von einem Weg, die dazu führt, dass das Kfz einen Hang hinunterstürzt und ein Totalschaden eintritt, als erforderliches Mittel zur Bewahrung der Unver­ sehrtheit eines fremden Blumenbeetes oder einer Rasenfläche im Sinne von § 228 BGB „außer Verhältnis“ stehen. Der Inhalt einer etwaigen rechtlichen Verkehrssicherungs- bzw. Aufsichtspflicht des Sacheigentümers oder -besitzers im Umgang mit der Sache muss damit korrespondieren: So ist beispielsweise ein berufsbedingt schusswaf­ fentragender Hundehalter zur ihm möglichen, sofortigen Erschießung seines Hundes verpflichtet, wenn er durch keine sonstige Maßnahme seinen Hund mit sofortiger Wirkung davon abhalten kann, eine andere Person nicht un­ erheblich zu beißen. Ansonsten beginge er eine Körperverletzung durch Unterlassen im Sinne der §§ 223 Abs. 1, 13 StGB bzw. §§ 229, 13 StGB (vorausgesetzt ist dabei selbstverständlich, dass erstens der durch den Hund Gefährdete nicht selbst einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff durch­ führt, gegen welchen der Hund als Verteidigungsmittel in erforderlicher Weise eingesetzt wird, und zweitens, dass durch den Schuss keine Person konkret gefährdet wird).

483  Dem Maß nach so, wie es zur Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des § 223 StGB zutreffender Weise verlangt wird. Zu erinnern ist allerdings, dass es in den von § 228 BGB gemeinten Konstellationen primär nicht um Körperverletzung als Unrecht(sverhalten) geht, sondern um durch Sachgefahren drohende, bloß-empi­ rische Nachteile. 484  Im Ergebnis zutreffend OLG Koblenz, NJW-RR 1989, 541 (Tötung eines reinrassigen Boxers trotz seiner Eigenschaft als Spielgefährte eines behinderten Kin­ des zur Rettung eines Dackels gerechtfertigt) und OLG Hamm, NJW-RR 1995, 279 (Tötung eines wertvollen Rassehundes zur Rettung eines alten Schafs gerechtfertigt). Ein Hinnehmen von nicht gänzlich lapidaren Nachteilen des durch die Sache Ge­ fährdeten – etwa der Zerstörung einer für das eigene Lebenskonzept nicht völlig unbedeutenden oder nicht ersetzbaren Sache oder gar ein körperliches Verletztwer­ den – können verdienstliche Akte und ggf. ethisch-geboten sein; rechtlich geschuldet sind sie nicht (siehe auch noch B.V.2.b)).



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen321

Demgegenüber muss der Hundehalter seinen Hund zwar ebenfalls wieder unter Kontrolle bringen, diesen aber nicht sofort erschießen, selbst wenn letzteres erforderlich wäre, um eine weitere Beeinträchtigung eines fremden Rasens oder Beetes durch den darin grabenden Hund sofort zu unterbinden (das Unterlassen des den Hund zerstörenden sofortigen Schusses wäre hier keine rechtswidrige Sachbeschädigung durch Unterlassen). Dem Marktwert der Sachen kann nur mittelbare Bedeutung zur Feststel­ lung des Nicht-außer-Verhältnis-Stehens (wesentliche Bedeutung der ge­ fahrträchtigen Sache für das Handlungskonzept des Eigentümers einerseits, geringe Bedeutung und einfache Ersetzbarkeit andererseits) zukommen. Auch die Rechtsprechung stellt insoweit zutreffend auf besondere „Affekti­ onsinteressen“ ab, die nicht ohne weiteres auf andere Sachen übertragbar sind485. c) Zu § 904 BGB Neben der grundbegrifflich-selbstverständlichen Norm des § 228 BGB, deren Tatbestand eine besondere Notlage nicht voraussetzt (siehe oben), formuliert § 904 BGB eine Norm, die Zugriffe auf fremde Sachen gestattet, obwohl von diesen keine Gefahr ausgeht. Hierbei geht es um ein echtes Notstandsrecht („Aggressivnotstand“). § 904 S. 1 BGB lautet: „Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf die Sache zu verbieten486, wenn die Ein­ wirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer kann Ersatz des ihm entstehenden Schadens verlangen“. Der Inhalt dieser Norm ist insoweit grundbegrifflich geboten, wie er sich aus dem dargelegten Notstandsrechtsbegriff ergibt: Ein „drohender Schaden“ für Leib und Leben einer Person, der deren Selbständigkeit in erheblichem Maße einschränken würde, ist stets als un­ verhältnismäßig groß im Vergleich mit dem einem „Eigentümer entstehen­ den Schaden“ an Sachen zu beurteilen hat. Denn die Nichtangewiesenheit auf eine konkrete Sachnutzung zum Selbsterhalt als selbständige Person ist Bedingung der Notwendigkeit der Anerkennung einer Sachzuordnung zu einer anderen Person (zu deren ausschließlicher Gebrauchsbefugnis, siehe

485  Vgl. 486  Vgl.

Fn. 378.

OLG Koblenz, NJW-RR 89, 541. zu dieser Fehlformulierung („zu verbieten“; gemeint ist: zu verhindern)

322

B. Auflösung der Aufgabe

oben)487. Sofern unmittelbar bloß eine Gefahr eines Sachuntergangs bzw. -verlusts besteht, der Sacheigentümer jedoch zur Bewahrung seiner Körperintegrität auf genau diese Sache (etwa ein dringend benötigtes Medika­ ment) angewiesen ist, sodass mittelbar also auch die Körperintegrität in der Gefahr einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung ist, muss dasselbe gelten488. Eine geringe Unbestimmtheit betreffend das Merkmal einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Körperintegrität als Merkmal der Notstands­ lage kann auch bei grundbegrifflicher Herleitung nicht gänzlich vermieden werden; das Merkmal muss durch die Rechtsprechung konkretisiert werden. Dabei erscheint eine Relation dahingehend akzeptabel, je geringer die dro­ hende Beeinträchtigung der Körperintegrität ist, desto geringer müsse ein Notstandszugriff auf fremde Sachen ausfallen, um zulässig zu sein. aa) Rechtmäßige („Aggressiv“-)Notstandszugriffe auch bei Gefahr des Verlustes bloßer Sachgüter? Unklarer ist die Normauslegung jedoch in Konstellationen einer Gefahr bloß der Beschädigung einer Sache oder des Verlustes eines sonstigen erwerblichen Gutes. Die Frage nach der Unverhältnismäßigkeit des „drohen­ den Schadens“ im Sinne von § 904 S. 1 BGB bzw. nach einem „wesentli­ chen Überwiegen“ von Eigentum als Erhaltungsgut im Sinne von § 34 StGB verglichen mit einem dem Eigentümer durch die Abwendungshandlung entstehenden Schaden kann diesbezüglich wie folgt umformuliert werden: Unter welchen Voraussetzungen ist die Angewiesenheit einer Person auf den Gebrauch einer für diese an sich fremden Sache zum Erhalt bloß des Bestandes ihrer Sachgüter bzw. ihrer sonstigen erwerblichen Gütern eine notwendige oder wenigstens eine mögliche aufschiebende Bedingung der Wirksamkeit eines Erwerbs einer Sache zum ausschließlichen Sonderge­ brauch? Wenn lediglich der Verlust erwerblicher Güter droht, dann geht es – ge­ rade in Abgrenzung zum aufgrund zufälliger Umstände drohenden Verlust 487  Zumindest in der zivilrechtlichen Literatur wird die Norm von einigen auch in diesem Sinne ausgelegt, siehe etwa Eckert, in: HK-BGB, § 904, Rn. 2: „… ein drohender Schaden für Leib oder Leben eines Menschen ist stets unverhältnismäßig größer als ein Sachschaden …“. 488  Beispiel: Jemand benutzt ein fremdes Kfz oder eine sonstige fremde Sache (und beschädigt diese dabei), um einen flüchtenden Dieb aufzuhalten, der (ggf. unbe­ wusst) ein zur Wahrung der Körperintegrität gegen erhebliche Beeinträchtigung eines Patienten erforderliches Medikament bei sich trägt, dass nicht rechtzeitig ersetzt wer­ den kann. Solche Taten (§§ 248b Abs. 1, 303 Abs. 1 StGB) sind gerechtfertigt.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen323

von Leben oder Körperintegrität – nicht um eine Infragestellung der (Konstruktion der) wirklichen Person: Das Urteil, jeden lebenden Menschen als Person im Sinne der Einheit von immateriellem Selbst und erscheinendem Körper zu betrachten (zu dieser Notwendigkeit B.II.3.) geht der Privatrechtsbegründung rechtslogisch voran; die Person kann nicht durch die Privatrechtsbegründung aufge­ löst / vernichtet werden, woraus das dargelegte Notstandsrecht zur Erhaltung angeborener Güter zwingend folgt. Die Privatrechtsbegründung hingegen ist im Ausgangspunkt die allseitigeinseitige Aufteilung der äußeren, zugänglichen Weltmaterie nach einer allgemeinen Regel. Diese Aufteilung findet zwar zu jeder Zeit – immer wieder – statt, weil der Begriff des ursprünglichen Erwerbs keinen zeitlichabgeschlossenen, historischen Vorgang bezeichnet (dazu B.III.1.b)); dies impliziert eine permanente Chance jeder Person auf Teilhabe an der äußeren Weltmaterie (Recht auf Eigentumserwerb und Besitz, aber auch vermittelte Ausgestaltungen in hochentwickelten Gesellschaften wie ein Recht auf Bil­ dung und – in einem weiten Sinne – auch ein Recht auf Arbeit, dazu Köh­ ler, Fn. 418). Nicht hingegen impliziert dies zwingend eine Umverteilung eines Un­ glücks, welches ein erwerbliches Gut einer Person zu beschädigen droht, zum Nachteil des erworbenen Güterbestands einer anderen Person. Eine pauschale Risikoumverteilung auf einen bestimmten anderen, dessen Sache ein zur Gefahrabwendung erfordertes Mittel darstellt bzw. eine Notstands­ regel, die bei jeder Gefährdung des eigenen Sachgüterbestands einen Zugriff auf den Sachgüterbestand eines anderen zuließe, wäre sogar widersprüchlich zur (notwendigen) Anerkennung des Innehabens von Sondergebrauchsbe­ fugnissen an Sachen: Der Bestand erwerblicher Güter einer Person wird abhängig von deren Erwerbsleistungen (Arbeit) und auch abhängig von deren Glück / Pech (wohlhabende Eltern; Kursentwicklung der erworbenen Aktien) gemehrt oder geschmälert: Das eigene Pech ist und bleibt dabei grundsätzlich das eigene Pech und kann gerade nicht an irgendeinen ande­ ren – der dafür ebenso wenig kann – weitergegeben werden. Insofern erscheint die Verneinung eines Notstandsrechts bei Gefahr bloß erwerblicher Güter rechtsgrundbegrifflich möglich. Eine einseitige Zugriffs­ befugnis auf den Güterbestand einer anderen Person bloß aufgrund einer zufällig eingetreten Gefahr für eine eigene Sache bzw. ein eigenes erwerb­ liches Gut ist kein vernunftnotwendiges Element eines Rechtssystems. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber (das durch Abgeordnete repräsentierte Volk) – auch sofern er sich seiner Rückbindung an vorpositives Recht bewusst ist – keine gegenüber der grundbegrifflich gebotenen Not­ standsrechtsformulierung erweiterte, verfassungskonforme Rechtfertigungs­

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B. Auflösung der Aufgabe

regel vorsehen kann. Es ist hier durchaus Raum für einen legitimen Erlaubnis­ tatbestand, der – unter bestimmten Voraussetzungen – schon die Gefahr eines Sachuntergangs als Bedingung ausreichen lässt, rechtmäßig auf eine fremde Sache zuzugreifen. Denn anders als die zum „inneren Mein“ von Jemandem gehörende Materie ist die Materie jeder erworbenen Sache als aus ursprüng­ lichem Gemeinbesitz stammend zu betrachten und war insofern im Ausgangspunkt auch jedem anderen zugeordnet. Darin ist wenigstens ein Potential der Umverteilbarkeit impliziert: Erwerbsregeln (Teilhaberegeln) stehen stets in einem Korrelationsverhältnis zu Behaltensregeln bzw. sind letztlich gar nicht davon trennbar, schon weil die aufzuteilende Materie begrenzt ist. Deren konkrete Ausgestaltung im positiven Recht ist permanente Aufgabe des wirk­ lichen Gesetzgebers (und gemäß dem positiven Gesetz – in den Grenzen der Auslegung – auch Aufgabe der Judikative und der Exekutive): Dieser Prozess ist im Detail dynamisch („formoffen“, Köhler, Fn. 184). Trotzdem bedeutet etwas besonderes Äußeres als das Seine zu haben grundsätzlich eben auch, es unabhängig vom sich (zufällig) verändernden, erworbenen Güterbestand anderer als das Seine haben zu können. Insofern ist eine Auslegung der §§ 904 BGB, 34 StGB ganz sicher unzutreffend, die die einen Notstandszugriff als rechtmäßig auszeichnende „Un­ verhältnismäßigkeit“ eines drohenden Schadens (§ 904 BGB) bzw. das „wesentlich Überwiegen“ von Eigentum als Erhaltungsgut (§ 34 StGB) be­ stimmt, indem die jeweiligen Güter „in Geld“ bzw. deren Preis nach aktu­ ellem Marktwert miteinander verglichen werden489. Auf einer solchen, an­ scheinend von einer wirtschaftlichen Gesamt- bzw. Volksvermögensoptimie­ rung als Maßstab bzw. Ziel ausgehenden Fehlvorstellung muss es beruhen, dass manche es beispielsweise für gerechtfertigt halten, wenn eine mit einem sehr teuren Pelzmantel bekleidete Frau den Regenschirm einer mit einem billigen Mantel bekleideten anderen Frau ohne oder gegen deren Willen an sich nimmt, um diesen bei plötzlich einsetzendem Regen zur Bewahrung ihres Mantels für sich zu verwenden, wodurch die andere Frau und ihr billiger Mantel durchnässt werden490. Diese Tat, sei sie (je nach konkreter Sachverhaltslage) als Diebstahl oder gar als Raub, als Unterschlagung oder als nicht-strafunrechtsverwirklichende Gebrauchsanmaßung zu qualifizieren, ist, da nicht der Untergang der selbständigen Person droht (Tod oder erheb­ liche Körperverletzungen), keinesfalls gerechtfertigt; die Angegriffene darf sich in Notwehr dagegen verteidigen491. aber etwa Bassenge, in: Palandt, § 904, Rn. 3. etwa Delonge, Interessenabwägung, S. 152. 491  Pawliks Annahme, ein sich auf dem Weg zur Berufsausübung befindliche Musiker dürfe, um sich trocken in den Konzertsaal zu retten, unter diesen Bedin­ gungen den Schirm nehmen, ist ebenso verfehlt (siehe oben, B.IV.1.a)cc)). 489  So 490  So



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen325

Man mag bei der Auslegung des § 904 BGB – entsprechend dem oben zu § 228 BGB Gesagten – höchstens annehmen, dass eine Sache mit großer Bedeutung für das Handlungskonzept des Eigentümers durch Beeinträchti­ gung oder Beschädigung einer fremden Sache gerettet werden darf, wenn die fremde Sache für deren Eigentümer ohne weiteres ersetzlich und von bloß geringer Bedeutung für dessen Handlungskonzept ist492. Jedoch noch­ mals: Rechtlich notwendig ist diese Rechtfertigungsannahme bezüglich der Abwendung von Gefahren bloß für Sachgüter nach dem dargelegten Ansatz nicht. Die Gegenbehauptung dahingehend, dass, wenn eine bloße Sache nicht durch eigene Mittel vor zufälligem Untergang gerettet werden kann, sie rechtlich gar nicht gerettet werden könne, erscheint ebenfalls grundbe­ grifflich akzeptabel. Indem § 34 StGB die Möglichkeit eines „wesentlichen Überwiegens“ auch dann anerkennt, wenn auf der Erhaltungsseite eine „Gefahr … für … Eigentum“ besteht, enthält das positive Recht insoweit eine gesetzgeberische Entscheidung bzw. Regelung. § 34 StGB ist insoweit verfassungskonform – in grundbegrifflicher Rückbindung – auszulegen: Vorausgesetzt für die Zulässigkeit eines Zugriffs zur Abwendung von Ge­ fahr für bloß erworbene Güter ist, dass dieser nur auf erworbene Güter anderer geht und jedenfalls eine große Differenz der konkreten Gebrauchsbedeutungen der Sachen für die jeweiligen An-sich-Gebrauchsbefugten (Erwerber / Zuordnungssubjekte) besteht493 (zu diesbezüglichen Grenzfällen siehe noch B.V.1.). Eine Notstandsrechtfertigung eines Zugriffs auf fremde, ersetzliche Sa­ chen bejahen muss man hingegen dann jedenfalls, wenn dieser Zugriff nicht ausschließlich zur Rettung der eigenen Sache(n) erforderlich ist, sondern zumindest auch zur Beseitigung von Gefahren für personale Rechtsgüter (sofern der Eigentümer des potentiellen Abwendungsmittels nicht selbst zur Wahrung personaler Güter darauf konkret angewiesen ist). So ist beispiels­ weise die Benutzung von Wasser aus dem nachbarlichen Teich zur Löschung eines sich entfachenden Brandes im eigenen Gebäude rechtmäßig; bei Brän­ den größerer Objekte oder Explosionen werden abstrakte Gefahren geschaf­ fen, die über bloß den Verlust des unmittelbar betroffenen, etwa in Brand 492  Ähnlich eng fasst die Voraussetzungen eines Sachzugriffs bloß zur Rettung sachlicher Güter Köhler, AT, S. 290. Sobald dem Eigentümer eine körperliche Be­ einträchtigung (wie ein Nasswerden im Regenschirmfall) droht, ist die Sache kon­ kret schon nicht mehr von geringer Bedeutung für das Handlungskonzept des Eigen­ tümers. 493  § 962 BGB statuiert – etwa in diesem Sinne pauschalierend – die Befugnis des Eigentümers eines Bienenschwarms, bei der Verfolgung des Schwarms fremde Grundstücke zu betreten und, wenn der Schwarm in eine fremde nicht besetzte Bie­ nenwohnung eingezogen ist, diese zu öffnen, die Waben herauszunehmen oder her­ auszubrechen. Folge ist dann allerdings eine Schadensersatzpflicht, § 962 Abs. 1 S. 3 BGB.

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B. Auflösung der Aufgabe

geratenen Gegenstandes hinausgehen (weshalb bestimmte Körpergefähr­ dungsdelikte mittels Feuer, ionisierender Strahlung oder Sprengstoff als „Gemeingefährliche Straftaten“ im StGB ausformuliert wurden, §§ 306 ff. StGB). bb) Zur Wertersatzfolge, § 904 S. 2 BGB Die in § 904 S. 2 BGB genannte, verschuldensunabhängige Wertersatzfol­ ge ist notwendig: Der Erwerb des Eigentümers als seine Leistung bzw. sein Vermögen bleibt dadurch insofern beachtet, als ihm (neben seiner vorrangi­ gen Gebrauchsbefugnis bei eigener Angewiesenheit auf die Sache zur Be­ wahrung seiner Körperintegrität) der wirtschaftliche Wert seiner Leistung bleibt (siehe dazu schon oben III.1.b)). Der u. a. von Pawlik gemachte Vorschlag, der Staat bzw. die Allgemein­ heit müsse (de lege ferenda) – quasi in Form einer gesetzlichen Ausfall­ bürgschaft – dem von der rechtmäßigen Notstandstat Betroffenen die finan­ zielle Entschädigung garantieren494, ist sehr erwägenswert. Das hat allerdings – entgegen Pawlik – nichts mit einem „quasi-institu­ tionellen Charakter der Notstandspflicht“ oder einer „Repräsentation der Allgemeinheit“ durch den von der Notstandstat betroffenen Einzelnen zu tun. Vielmehr bedeutet Sacheigentum nichts anderes als durch Erwerbsakt495 entstandene, vernunftgemäße Anerkennung des Zustehens der Sache zum Erwerber seitens aller anderen (also stets relativ zu diesen), welche notwen­ dig unter der auflösenden Bedingung von deren Nichtangewiesenheit auf den Gebrauch der Sache zum Selbsterhalt auf der Welt als selbständige Personen steht496. Es wird das Eigentum durch die zum Selbsterhalt erfor­ derliche (rechtmäßige) Notstandstat somit gar nicht verletzt, denn es ist von vornherein dergestalt bedingt. Allerdings bliebe der Erwerbsakt des Eigen­ tümers als dessen Leistung unberücksichtigt und ginge quasi unter, wenn durch die gerechtfertigte Notstandstat – nach einem ggf. sachzerstörenden Zugriff – keinerlei schadensersatzanspruchsbegründendes Sonderschuldver­ hältnis zwischen Sacheigentümer und zugreifendem Notstandstäter entstün­ de. Der wirtschaftliche Wert der Sache als Korrelat der Erwerbsleistung ist dem Eigentümer zu ersetzen. 494  Pawlik,

Notstand, S. 123. vertraglich, also abgeleitet vom Willen eines anderen, auf der Basis eines ideell-vorgängigen, allseitig-einseitigen Zugriffs auf die sich im Gemeinbesitz befindliche äußere Materie (siehe oben A.II.4.b) und B.II.3.f)). 496  Sofern nicht der Erwerber bzw. Eigentümer ebenfalls zur Erhaltung seiner körperlichen Integrität auf diese Sache angewiesen ist; siehe zum Ganzen oben, III.1.b). 495  Meistens



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen327

Diese schon bei der gedanklichen Privatrechtskonstruktion erkennbare Notwendigkeit sollte in ihrer faktischen Durchsetzbarkeit nicht von zufälligen Umständen wie einer ausreichenden Solvenz des Notstandstäters abhän­ gen. Aus der Perspektive des Staates als dem Garanten der Durchsetzung des Rechts der Bürger wäre eine gesetzliche „Ausfallbürgschaft“ hinsichtlich rechtmäßig handelnder Notstandstäter letztendlich also die Garantie der gleichmäßigen, zufallsunabhängigen Anerkennung von (Sach-)Erwerbsleis­ tungen497. d) Einordnendes Fazit Obwohl die rechtswissenschaftliche Literatur gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts498 in weiten Teilen meist affirmativ davon ausging, den Normen der §§ 228, 904 BGB liege ein Utilitarismus im Sin­ ne eines gesamtgesellschaftlichen Nutzenmaximierungsprinzips zugrunde499, beruhen die durch diese Normen oder durch § 34 StGB bezeichneten Zu­ griffsbefugnisse auf fremde Sachen weder auf Gedanken von „Sozialnütz­ lichkeit“ noch auf „Solidarität“ (solche Ansätze sind zur Rechtsbegründung stets untauglich500). Kommentierungen, die diese Normen auf einen „Ge­ danken der Güterabwägung“501 gründen wollen, sind argumentative Leer­ stellen. Formulierungen wie „§§ 228, 904 BGB … beruhen auf dem Gedan­ 497  Man mag einwenden: Teilnehmer im Wirtschaftsverkehr sind oftmals nicht gänzlich sicher vor Insolvenz des Schuldners oder sonstigen anspruchsdurchset­ zungshindernden Umständen. Aber im Unterschied zur Entstehung des Sonder­ schuldverhältnisses zum rechtmäßig-handelnden Notstandstäter durch dessen einseitiges Verhalten (rechtmäßiges Zugreifen auf die Sache) sucht man sich ansonsten den Schuldner und die Art des Geschäfts meistens selbst aus. Letzteres ist zwar auch bei deliktisch (durch rechtswidriges Verhalten) begründeten Schuldverhältnissen nicht der Fall; dem deliktisch Handelnden gegenüber besteht allerdings das Not­ wehrrecht, während der Sacheigentümer unter den oben genannten Voraussetzungen den Notstandstäter zugreifen und die Sache gegebenenfalls beschädigen lassen muss. 498  Ein sorgfältig erstellter Ausschnitt aus der damaligen, einschlägigen Literatur­ lage findet sich bei Pawlik, Notstand, S. 34 ff. 499  So etwa v. Thur, Notstand im Zivilrecht, S. 79  ff.; Binding, Handbuch I, 760 ff.; Stammler, Notstand, S. 75 ff.; Hegler, ZStW 36 (1915), 39 ff.; Rudolf Merkel, Kollision, S.  41 ff.; Hammacher, Notstandshandlung, S. 36 ff.; zu Dohna, Rechtswid­ rigkeit, S.  127 ff.; Westerkamp, Notstandsrecht, S. 35 ff. und 100 ff. 500  Deshalb, weil hinter solchen Termini bloß versteckt wird, dass man sich kei­ ne ausreichenden Gedanken über die Weise der Konstitution von allgemeingültigen Zustehensbeziehungen gemacht hat, obwohl dies vorausgesetzt ist, wenn von Recht und Pflicht sinnvoll gesprochen werden soll, siehe oben B.I. und II. 501  Etwa Heinrichs, in: Palandt, § 228, Rn. 2. Ähnlich Perron, der meint, denn Regelungen der §§ 34 StGB 904, 228 BGB liege ein „allgemeines Interessenabwä­ gungsprinzip“ zugrunde (in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 30).

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B. Auflösung der Aufgabe

ken, dass im Konfliktfall das weniger schutzwürdige Rechtsgut hinter den höherrangigen Rechtsgütern zurücktreten muss“502, sind Nonsens: Anstatt bloß den Inhalt eines Rechtsgutes allgemeingültig im Verhältnis zu jedem anderen Rechtsgut zu bestimmen (wie es sein sollte), wird hierbei verfehlter Weise von sich überschneidenden (konfligierenden) Rechtsgütern ausgegan­ gen, die in einem Konfliktfall auch noch „schutzwürdig“ sein sollen (was immer das heißen soll und gegen was da geschützt werden soll), obwohl die Vernichtung eines davon zugleich rechtmäßig oder gar geboten sein soll. Ein solcher verbaler Mischmasch von rechtlichen Termini (sofern darin auf Zustehensfragen betreffend das äußere Verhältnis der Personen implizit Bezug genommen wird) und „Schutzwürdigkeits“-Behauptungen ohne jede Maßstabsdarlegung enthält schon interne Widersprüche. Es handelt sich um eine – den vordergründigen Schein von rechtlicher Argumentation erzeugen­ de – Aneinanderreihung gedankenlos gebrauchter Worte. Richtigerweise normieren die §§ 228 S. 1, 904 S. 1 BGB, 34 StGB bloß die – mit der Grund- und Privatrechtsbegründung einhergehenden – auflösenden Bedingungen der Sondergebrauchsbefugnis einer Person hinsichtlich einer Sache (im Verhältnis zu allen anderen). Die Normen benennen also die allgemeinen Grenzen des rechtlichen Für-sich-Habens äußerer Gegen­ stände (von Privateigentum oder -besitz, Vorrang beim Gemeingebrauch eines Bodens etc.): Der Inhalt des § 228 BGB ist rechtsbegrifflich notwendig: Er stellt bloß klar, dass Privatrechte an Sachen keine Sachnutzung (in einem weiten Sinne) umfassen, bei welcher eine aufgrund der Beschaffenheit der Sache beste­ hende, abstrakte Gefährlichkeit für die körperliche Integrität oder den Gü­ terbestand anderer Personen in eine durch die Sache konkret „drohende Gefahr“ umschlägt. Ein Privatrecht an einer Sache ist nichts anderes als eine – andere Personen vom Sachgebrauch ausschließende – Zuordnung der Sache zu einer bestimmten Person (im Verhältnis zu den anderen) nach ei­ ner allgemeinen Regel; diese Sachzuordnung umfasst selbstverständlich nicht die Einwirkung auf den erworbenen Güterbestand anderer. Der Rechtfertigungsgrund des § 228 S. 1 BGB ist somit Bestandteil einer vernunftgemäßen Privatrechtsbegründung. Er setzt ein Notstandsrecht im grundbegrifflichen Sinne (eine enge Notlage) nicht voraus. Der Rechtferti­ gungsgrund ist weit auszulegen, indem das Merkmal des Außer-VerhältnisStehens der zur Gefahrabwendung erforderlichen Beschädigung der gefahr­ trächtigen Sache eng gefasst wird. Der Inhalt der §§ 34 StGB, 904 S. 1 BGB ist insoweit rechtsgrundbegrifflich notwendig, wie diese Normen aus dem dargelegten, vernunftrechtlichen Notstandsrecht folgen. 502  Heinrichs,

in: Palandt, § 228, Rn. 1.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen329

Das ist der Fall, soweit es um Zugriffe auf Sachen (erwerbliche Güter) zur Abwendung einer Gefahrlage für Leib und Leben einer Person geht, bei deren Realisierung deren Selbständigkeit in nicht unerheblichem Maße ein­ geschränkt würde. Auch § 34 StGB lässt somit – bei einer an den vorpositiven Notstands­ rechtsbegriff rückgebundenen – Auslegung lediglich Zugriffe auf erwerbliche Güter zu, wobei allerdings relativ abstrakte Körpergefährdungen (wie sie mit Verkehrsordnungsverstößen einhergehen) zur Beseitigung schwererer Körpergefahren gerechtfertigt sein können, nämlich sofern der – etwa für eine Rettungsfahrt genutzte – Boden bzw. Raum zuvor notstandsrechtlich zum erforderlichen Gebrauch erworben wurde. Körperverletzungen oder gewaltsame bzw. drohungsbedingte Nötigungen anderer können (unmittel­ bar) notstandsrechtlich nicht gerechtfertigt sein. Jeglicher Zugriff auf den Körper oder den Willen anderer ist rechtlich nur bodenvermittelt bzw. sachgebrauchserwerbsvermittelt möglich: Erst wenn eine andere Person (etwa ein Verkehrsteilnehmer) trotz Vorliegens der Notstandsvoraussetzungen (Notlage, Erforderlichkeit der Nutzung einer fremden Sachen zur Gefahrab­ wendung und Erkennbarkeit der Notlage) die zur Gefahrabwendung erfor­ derte Sache bzw. den Boden oder Raum nicht freigibt, ist ein – etwa ge­ waltsames – Nehmen (z. B. ein Zur-Seite-Stoßen) seitens den Notleiden­ den – dann notwehrrechtlich zur Durchsetzung des vorangegangenen, notstandsrechtlichen Sachnutzungserwerbs – gerechtfertigt. Das rechtsgrundbegrifflich zwingende Notstandsrecht setzt eine Gefah­ renlage für angeborene Güter voraus; eine Rechtsordnung, die ein Not­ standsrecht zur Abwendung einer Gefahrenlage bloß für erworbene Güter (Eigentum etc.) nicht vorsähe, wäre grundbegrifflich insoweit nicht zu kri­ tisieren. Der Gesetzgeber hat bezüglich der Aufnahme von Eigentum als not­ standsrechtlichem „Erhaltungsgut“ jedoch ein – grund- bzw. verfassungs­ rechtlich legitimes – Ermessen, sodass es an sich (noch) nicht zu beanstan­ den ist, dass § 34 StGB ein Notstandsrecht auch bei Vorliegen einer Gefahr für das Eigentum vorsieht. Insoweit muss die Norm jedoch eng ausgelegt werden: Gerechtfertigt sein kann nur eine Beschädigung / Zerstörung einer fremden Sache, wenn diese für ihren Eigentümer ohne weiteres ersetzlich und von bloß geringer Bedeutung für dessen Handlungskonzept ist und der Zugriff erforderlich ist zur Rettung eine Sache mit großer Bedeutung für das Handlungskonzept des anderen Eigentümers. Insofern die §§ 228 S. 1, 904 S. 1 BGB und § 34 StGB teils grundbegriff­ lich zwingend-vorgegebene, teils zumindest legitime Notstandsrechte nor­ mieren, ist die an der Einfügung dieser Normen in das positive Recht ge­ äußerte Kritik nur bedingt zutreffend: Diese Kritik ist berechtigt, insoweit

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B. Auflösung der Aufgabe

sie sich gegen das verfehlte konsequentialistische (prinzipienlose) Abwä­ gungsdenken und das darin implizierte Verschwimmen der Notrechtsgrenzen richtete503. Auch wenn das kritisierte Abwägungsdenken in der Normformulierung v. a. des § 34 StGB aufscheint, ist der Glaube unzutreffend, es handele sich bei den – in grundbegrifflicher Rückbindung eng zu fassenden – Notstands­ regelungen um ein verfehltes „Stück Kommunismus“504 oder um eine „ver­ kehrte Verwechslung von Recht und Moral“505. Nochmals: Der Begriff des ursprünglichen Gemeinbesitzes an der äußeren Weltmaterie, in welchem das Notstandsrecht letztlich fußt – entspringt einer notwendigen Vernunftidee, welche die Voraussetzung von Privatbesitz bzw. -eigentum (Sonderge­ brauchs- / Ausschließungsbefugnissen) an Sachen ist506. Es befindet sich derjenige in einem (Privat-)Rechtsmissverständnis, der ein – wie dargelegt enges – Notstandsrecht zum Zugriff auf Sachgüter jedenfalls bei Gefahr des Verlustes angeborener Güter als Störung einer Privateigentumsordnung oder als ethisierendes Eindringen in den bloß-inneren Bereich eines anderen be­ trachtet507. 2. Notstandsrechtsthesen und -begründungsversuche aus der Rechtswissenschaft (Kritik gemäß dem dargelegten Standpunkt) Im Folgenden soll ein kritischer Blick auf einige ausgewählte Versuche der Begründung eines Notstandsrechts aus der aktuellen juristischen Litera­ tur geworfen werden. Die meisten Texte dazu fußen offensichtlich auf einem etwa Hold von Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II / 1, S. 50 ff. v. Alberti, Notstand, S. 37. 505  v. Bar, Gesetz, Bd. III, S. 256 ff. 506  A.II.4.b), B.II.3 e) und f) sowie B.III.1.b); siehe auch Köhler, Fn. 184 und Fn. 361. 507  Insofern tendierte Berners Intuition in die richtige Richtung, als er schrieb, wer „… neben einem fremden Brot verhungerte“, der wäre „… einer Narrenkappe würdiger …, als der Krone eines Märtyrers“, es fehle bei solchem Verhalten „ein richtiges Verständnis des Verhältnisses der Dinge“, sodass es sich nicht um „eine ungewöhnliche Sittlichkeit, sondern um eine ungewöhnliche Thorheit“ handele, Berner, Lehrbuch Strafrecht, S. 99. Zumindest beginge dieser Jemand durch Essen des Brotes kein Unrecht, da er keinem anderen etwas nähme, was diesem konkret aus­ schließlich zusteht (vorausgesetzt, dieser andere ist nicht selbst zu Erhaltung seiner physischen Integrität auf dieses Brot angewiesen). Die Notrechtsausführungen Berners bleiben jedoch viel zu pauschal: Er nimmt an, es gehe um eine Bedingung von Rechten auf „die Möglichkeit … vernünftigen Zusammenlebens“ (a. a. O.). Dabei bleibt vollkommen offen, wie genau ein „vernünftiges Zusammenleben“ (ein solches unter Wahrung der – notfalls zwangsweise durchsetzbaren – Minimal-Zustehensbe­ ziehungen, d. i. des Rechts) zu konstruieren ist. 503  Siehe 504  So



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen331

unmittelbar-materialen Ansatz: Es werden irgendwelche Interessen behaup­ tet, gegeneinandergestellt und abgewogen. Die quantitative Dominanz solcher Interessenabwägungs-Konzepte gegen­ über Versuchen, von und nach den Bedingungen eines unbedingten (nichtbedürfnisbasierenden) Sollens überhaupt ein Begriffssystem aufzubauen bzw. in alle Handlungsbereiche hinein zu konstruieren, dürfte psychologisch erklärlich sein: Schon dem Studierenden im frühen Semester fällt es leicht, in die – u. a. auch vom Bundesverfassungsgericht teilweise ausgefeilte – Interessenabwägungs-Dogmatik einzusteigen und darin mitzumischen. Im Bewusstsein, dass schließlich die große Mehrheit der Juristen ein ähnliches Verfahren praktiziert und als Maßstab behauptet, ist der Glaube an dessen Sinnhaftigkeit und die unbekümmerte Fortführung dann angenehmer, als den Zweifel daran zu überprüfen, ob bei diesem Verfahren überhaupt nach einem festen, einsichtigen und für andere verbindlichen Maßstab geurteilt wird (werden kann) oder ob es sich nicht vielmehr um ein relativ beliebiges Gemisch von subjektiven Urteilen handelt, das abhängig vom Belieben des Urteilenden ebenso gut auch das gegenteilige Ergebnis liefern könnte. Nicht verkannt werden soll hier, dass ein großer Teil der Auseinanderset­ zungen in Rechtsliteratur und Rechtsprechung selbst dann, wenn diese in ein (Interessen- bzw. Güter-)Abwägungsgewand gekleidet daher kommen, (dunkel) auf fundamentalen Rechtsgrundgedanken in letztlich auch entschei­ dungstragender Weise basieren mag. Die Aufgabe – und zugleich die Be­ dingung der Erkennbarkeit dessen – wäre es jedoch, diese als solche her­ auszuarbeiten. a) Zu (Interessen-)Abwägungsargumentationen (am Beispiel der Ausführungen Roxins) Als ein hier – statt vieler – dienendes Beispiel für offensichtliche Unbe­ kümmertheit im Unterlassen der Reflexion auf den Maßstab des eigenen Urteilens taugen die Ausführungen von Roxin zum Notstandsrecht508: Roxin stellt die Entwicklung von der – schon vom Reichsgericht getrof­ fenen509 – Annahme eines „übergesetzlichen rechtfertigenden Notstandes“ hin zum heutigen § 34 StGB dar. Diesen sieht er als Ergebnis einer Kom­ bination der von ihm sogen. „Güterabwägungstheorie“510 mit der sogen. 508  Roxin,

AT I, § 16, Rn. 3 ff. 6, 242. 510  Es handele „nicht rechtswidrig …, wer ein geringwertiges Rechtsgut verletzt oder gefährdet, wenn nur dadurch ein höherwertiges Rechtsgut gerettet werden kann“, Mezger, Strafrecht, 239 ff. 509  RGSt

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B. Auflösung der Aufgabe

„Zweck­theorie“511. § 34 S. 1 StGB enthalte die „um den Interessengesichts­ punkt schon wesentlich modifizierte Güterabwägungstheorie“, während nach § 34 S. 2 StGB (Angemessenheitsklausel) wohl im Sinne der sogen. „Zweck­ theorie“ „über die Interessenabwägung hinausgehende Wertungen in die Ent­ scheidung einfließen“ könnten. Die Entwicklung sei von einem „Bemühen um eine rechtsphilosophische Begründung“ begleitet worden. Hierunter versteht Roxin allerdings nicht etwa eine von Grundbegriffen ausgehende Herleitung oder Konstruktion eines dadurch nach Grund, Inhalt und Grenzen erst bestimmten Notstandsrechts, sondern offensichtlich ledig­ lich eine verbale – aber sachlich nicht erforderliche – Unterfütterung der schon feststehenden Annahme, es ergäben sich rechtliche Urteile letztlich bloß durch irgendwelche Güter- und Interessenabwägungen. Roxin meint, heutzutage werde ein Notstandsrecht entweder aus dem „Utilitäts- oder aus dem Solidaritätsprinzip begründet“. Während nach dem ersten das Gut bzw. Interesse erhalten werden solle, das „sozial nützlich“ sei, stütze sich das „Solidaritätsprinzip“ entweder auf „verständige Eigenin­ teressen“, auf den „Gedanken der Fairness“ oder auf einen „quasi-instituti­ onellen Charakter“ mit der Funktion, in einem gewissen Umfang den Schutz gewisser fundamentaler Realbedingungen rechtlicher Freiheit gegen ihren zufälligen Untergang auch dort zu ermöglichen, wo die organisiert-regelhaf­ te Notbekämpfung zu spät käme“512. Roxin fasst zusammen: Es liege „allen Rechtfertigungsgründen“ ein „Prinzip … zugrunde, dass nämlich bei einer unausweichlichen Kollision widerstreitender Interessen der Täter rechtmäßig handelt, wenn er das hö­ herwertige Interesse dem geringeren vorzieht und damit etwas im Ergebnis sozial Nützliches tut“. Das erscheint naiv: Die Annahme einer Bewertbarkeit von Interessen unterschiedlicher Personen nach ihrer Wertigkeit fordert die Frage nach ei­ nem vorausgesetzten Prinzip, nach welchem dies von statten gehen soll, geradezu heraus und ist nicht etwa selbst ein „Prinzip“. Das nach Roxin anscheinend zusätzlich erforderte Rechtfertigungsmerkmal des Tuns von etwas „im Ergebnis sozial Nützlichen“ bleibt in seiner Bedeutung ebenfalls offen: Anscheinend wird hier irgendein nicht genannter volkswirtschaftli­ cher Maßstab der Bestimmung sozialer Nützlichkeit eines Handlungsergeb­ nisses vorausgesetzt, wobei ganz unklar bleibt, weshalb dieser (wie immer er zu formulieren wäre) auch ein rechtlicher Maßstab sein sollte. 511  Diese etwa von Eb. Schmidt, ZStW 49, 350 ff., vertretene Position besage, dass Eingriffe in rechtlich geschützte Interessen, welche sich als ein angemessenes Mittel zur Erreichung eines stattlich anerkannten Zwecks darstellen, nicht rechtswid­ rig seien“, Zitat aus RGSt 61, 253. Ähnlich Sauer, Grundlagen, S. 273 ff. 512  Roxin (AT I, § 16, Rn. 10) zitiert Pawlik, Notstand, S. 104.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen333

Roxin geht offensichtlich von einem – schon aufgrund irgendeiner „Nützlichkeits“-Annahme – feststehenden Ergebnis aus und schiebt „Be­ gründungen“ dafür nachträglich unter, sodass darin gar keine wirklichen Gründe, aus denen sich das Notstandsrecht bzw. seine inhaltlich Bestimmung erst als Folge ergäbe, enthalten sind. Die mangelnde Ernstnahme von anderen Konzepten, die zumindest dem erklärten Willen des jeweiligen Autors nach mit einem gewissen Verbind­ lichkeitsanspruch auftreten, zeigt sich auch, wenn Roxin seine knappe Darstellung der Begründungsversuche damit beschließt, dass „alle Thesen … brauchbare, einander keineswegs ausschließende Gesichtspunkte“ enthielten513. Der Zweck bzw. Sinn und der Maßstab dieser „Brauchbar­ keit“, der nach Roxin auch der eigentliche Ursprung eines Notstandsrechts sein müsste, wird – bewusst oder unbewusst – offengelassen. Mit Rechts­ wissenschaft im eigentlichen Sinne hat dies wenig zu tun; es handelt sich um unverschleierte Beliebigkeit. Leider enden viele der Arbeiten zur Frage nach einem Notstandsrecht argumentativ letztlich bei einem (bloß vermeintlichen) Prinzip der „Interes­ senabwägung“. Aus einer „Interessenabwägung“ können sich wahre Pflicht­ behauptungen jedoch unmöglich ergeben bzw. – umgekehrt – ergibt sich eine solche Dogmatik nicht, wenn ein Rechtssystem vom Ausgangspunkt des Pflichtbegriffs entworfen wird. Solche Arbeiten514 unterliegen der Kri­ tik, die alle unmittelbar-material ansetzenden, konsequentialistischen norma­ tiven Konzepte und demnach gebildete Notstandsrechtsbehauptungen trifft: Die allem vorausgesetzte Antwort auf die Frage, wie ein unbedingtes Sollen möglich ist und wie demnach überhaupt sinnhaltig von Recht und Pflicht gesprochen werden kann, wird von denjenigen Autoren, die (bewusst oder unbewusst) einen unmittelbar-materialen Ansatz vertreten, gar nicht oder falsch beantwortet, sodass eine argumentativ-verbindliche Antwort auf die Frage nach einem Notstandsrecht in deren Texten nicht zu erwarten ist515. Vielmehr fehlt eine haltbare rechtbegriffliche Basis bzw. ein einsichtiger Rechtsmaßstab überhaupt. Etwaige Detailunterschiede in den Ergebnissen der jeweiligen „Interes­ senabwägungen“ darzustellen wäre aufgrund prinzipieller Dunkelheit des gedanklichen Verfahrens516 ebenso langweilig wie müßig.

513  Roxin,

AT I, § 16, Rn. 11. die unter Fn. 511 in Bezug genommenen. 515  Weitgehend treffende Kritik an kollektivistisch-konsequentialistischen (Not­ stands-)Rechtsbegründungsversuchen übt Pawlik, Notstand, S. 37 ff. 516  Zur Kritik am Prinzipienmangel unmittelbar beim sinnlichen Begehren anset­ zender normativer Konzepte siehe oben A.II.2. und B.I. 514  Etwa

334

B. Auflösung der Aufgabe

b) Zur Argumentation mit einem „Solidaritätsprinzip“ Wie verhält es sich dagegen mit solchen Notstandsrechtsannahmen, die sich – um bei der auch von Roxin gebrauchten Einteilung zu bleiben – auf „Solidarität“ bzw. auf ein „Solidaritätsprinzip“ stützen? Bezeichnen diese Worte überhaupt einen einsichtigen und klaren Rechtsbegriff oder verschlei­ ern sie vielmehr die eigentliche Schwierigkeit: Nämlich dass es bei der Frage nach Recht und Rechtspflichten eben um die erforderlichenfalls auch zwangsweise legitim-durchsetzbaren Verhaltensanforderungen betreffend das äußere Verhalten geht und nicht etwa um die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt (ethisch) ge- bzw. verboten ist? Wenn bei der Aufstellung von Rechtsbehauptungen unter dem Schlagwort „Solidarität“ etwa die notwendige Differenzierung zwischen Recht und Ethik (im engeren Sinne, siehe A.II.3. und B.II.3.c)-e)) verwischt oder nicht beachtet würde, sondern ethisierend in den bloß inneren Bereich einer Per­ son mit Zwang eingedrungen würde, wäre damit nichts Gutes, sondern bloß Unrecht geschaffen. Und sachlich lassen sich unreflektiert-ethisierende oder fälschlich unter den Deckmantel der „Freiheits“-Verwirklichung gestellte Solidaritäts-Rechtsbehauptungen517 bzw. Forderungen oft in keiner Weise von sonstigen kollektivistisch-konsequentialistischen – in ihren „Interessen­ abwägungen“ unbedarft über Individuums- bzw. Personengrenzen hinweg­ gehenden, etwa utilitaristischen – Annahmen unterscheiden518. 517  Kelker etwa nennt das durch Not gefährdete Interesse bzw. Gut ein „Daseins­ element der Freiheit“. Im Interesse einer größtmöglichen Erhaltung von Freiheit müsse dem Schutz des bedeutenderen Wertes der Vorrang gegeben werden, Kelker, Nötigungsnotstand, S. 153 ff.; sachlich ähnlich Kühl, GA 1977, 353, 364; derselbe, FS-Wolff, S. 278. Was unterscheidet den zugrundeliegenden Gedanken inhaltlich (also abgesehen von der Wahl der Worte, mit denen er ausdrückt wird) etwa von der Annahme, es gehe um Interessenabwägung unter dem Postulat der Gemeinwohlma­ ximierung? Kelker unterlässt letztlich den Versuch einer allgemeingültigen und (wenn es Recht geben könnte) notwendigen Konstruktion von Zustehensbeziehungen betreffend das äußere Verhältnis der verschiedenen Personen, unterlässt es also da­ mit zugleich auch, die Bedingungen des Zustehens einer äußeren Materie zum Son­ dergebrauch einer bestimmten Person (des Erwerbers) anzugeben. Somit bieten ihre Ausführungen, die zumindest mit konsequentialistisch-pragmatischen Erwägungen versetzt sind (sein müssen), ein weiteres Beispiel für die häufig vorkommende – schon kritisierte (siehe Fn. 273) – laxe Umgangsweise mit dem Wort „Freiheit“, die dieses Wort als ein Mittel zur Verständigung untauglich zu machen droht. 518  Es kann wohl als Ausdruck der ethischen Pflicht der Beförderung fremder legitimer Glückseligkeit betrachtet werden, um ein angenehmes Zusammenleben in Gemeinschaft zum Vorteil aller (konform mit deren Willen) bemüht zu sein. Dies aber (etwa unter Schlagworten wie Gemeinwohlmaximierung bzw. -beförderung) zum für sich hinreichenden Grund zu nehmen, jemanden zur aktiven Mitwirkung daran äußerlich zu zwingen, implizierte einen letztlich-utilitaristischen Gedanken und bewirkte nicht nur keine Erfüllung der genannten ethischen Pflicht, sondern



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen335

Insofern, so möchte man meinen, taugt das Wort „Solidarität“ im striktrechtlichen Kontext jedenfalls nicht zur Verständigung; eine solche wird dadurch nicht vereinfacht, eher erschwert519. aa) Kristian Kühl und Wilfried Küper Wenn beispielsweise Kühl nach Darstellung einiger Versuche zur Herlei­ tung einer „solidarischen Hilfspflicht in Notfällen“ zu dem Ergebnis kommt, eine solche werde „unter Moralphilosophen“ nahezu einheitlich anerkannt, er letztlich jedoch offenlässt, ob und unter welchen Voraussetzungen dies auch eine Rechtspflicht sein könne520, dann verfehlt er die von ihm beab­ sichtigte Förderung der Klärung der Begriffe „Freiheit und Solidarität bei den Notrechten“ (Hervorhebung von mir, G. H.). Genau darauf kommt hier nämlich alles an. Wenn Kühl es als rechtlich-möglich betrachtet, die Erhaltung und Schaf­ fung von „Freiheit“ zu erzwingen und er die Erzwingung der „elementaren Voraussetzungen äußerer Freiheit“ gar für geboten hält, woraus eine allge­ meine Rechtspflicht zur Hilfe in Notsituationen folgen soll521, dann liegt dem ein Missverständnis über den Begriff zu Grunde. Die Konstruktion des Rechtsbegriffs als Darstellung dessen, was „Freiheit im äußeren Verhältnis“ bedeutet, schließt diese Annahme gerade aus (verdeutlichend nochmals un­ ten, cc)). Küper gewinnt in seiner ausführlichen Arbeit zu Notstandsrechtsfragen konkrete Ergebnisse und dogmatische Erwägungen aus „dem Prinzip der Interessenabwägung, wie es seit langem anerkannt und heute in § 34 StGB kodifiziert ist“522. Er erblickt darin ein „Gebot individueller Gerechtigkeit“; das Recht könne „vom einzelnen eine Solidarisierung mit fremdem Schick­ wäre Unrecht (unzulässige Nötigung). Es machte wirkliche ethische Pflichterfüllung (Handeln bloß aus Einsicht in die Richtigkeit bzw. „aus Pflicht“) sogar schwieriger, weil die äußerliche Zwangsandrohung für den Fall des Unterlassens (etwa einer aktiven Hilfeleistung gegenüber einem Fremden) ein heteronomes Motiv darstellt. Die Annahme der Durchsetzung von „Solidarität“ (als ethischem Gebot) mittels äußeren Zwangs (äußerer Gewalt oder Drohung) enthält eine begriffliche Unmöglichkeit; die Annahme einer Rechtspflicht zur Solidarität scheint somit, wie Dennin­ ger es ausdrückt, ein „hölzernes Eisen“ zu sein, Denninger, Solidarität, S. 337. 519  Denselben Befund erhebt auch Pawlik in erfreulicher Deutlichkeit, Pawlik, Notstand, S. 58–60. 520  Dafür bedürfe es, so Kühl „zusätzlicher Voraussetzungen“, in: FS-Hirsch, S. 268ff.; zur Kritik an diesen Ausführungen Kühls schon Fn. 226. 521  Kühl, GA 1977, 353, 364; derselbe, FS-Wolff, S. 278 (zur Kritik vgl. auch Fn. 517). 522  Küper, Pflichtenkollision, S. 33–34.

336

B. Auflösung der Aufgabe

sal, die sogar die Preisgabe schutzwürdiger – und ihrerseits rechtlich garan­ tierter – Eigeninteressen einschließt, allenfalls dann verlangen …, wenn ein derartiges Opfer zur Erhaltung eindeutig höherer Werte zwingend erforder­ lich ist“523. Dabei nimmt Küper den als Rechtsbegriff völlig unklaren Ter­ minus „Solidarität“ ohne jede Erläuterung in Bezug. Offen bleibt, weshalb „Solidarisierung“ überhaupt ein Rechtsinhalt sein soll, welche „Opfer“ da­ von eingeschlossen werden können, weshalb das „Interessenabwägungsprin­ zip“ anzuerkennen und weshalb es dann in diesem (unbestimmten) Sinne begrenzt sein soll. bb) Reinhard Merkel Reinhard Merkel ging der Frage nach, ob ein Notstands-Rechtfertigungs­ grund in einer Fassung wie der des § 34 StGB nur als Ausdruck eines – auch nach Merkels Ansicht – rechtsbegrifflich unhaltbaren Konzepts der Maximierung gesamtgesellschaftlichen Nutzens gedeutet werden könne oder ob es dafür die Möglichkeit einer prinzipiell-anderen rationalen Begründung gebe. Merkel stellt zunächst fest, die Annahme, eine an sich verbotene Hand­ lung werde rechtmäßig, wenn sie von „vergleichsweise erheblichem Nutzen“ für den ein oder anderen ist, scheine „mit dem formalen Grundprinzip un­ serer (und eigentlich jeder) Rechtsordnung radikal zu kollidieren: der rechtsförmigen Distribution von Gütern, Ansprüchen und Freiheiten“524. Merkel legt dar, dass die konsequentialistisch-kollektivistische Annahme, die „Rechtsgemeinschaft“ habe ein Interesse am Fortbestand eines größt­ möglichen materiellen Güterbestandes schon innersystematisch unschlüssig ist. Ein Gesamtgüterbestand verkörpere nämlich keinen „Gesamtnutzen“, da ein Nutzen, der niemandem zukomme, keiner sei. Der Utilitarismus nehme 523  Küper,

Pflichtenkollision, S. 90 ff. (93). Zaungäste, S. 175 ff. Insofern überrasche es nicht, wenn in der Wis­ senschaft – von Detailkontroversen abgesehen – nahezu einhellig versucht werde, die Regelung „auf einen kleinen Ausschnitt“ des prima facie weit ausgreifenden möglichen Umfangs zu reduzieren, um die Gefahr der Zerstörung der „rechtsförmi­ gen Distributionsstruktur ganzer Rechtsbereiche“ zu bannen, Merkel, a. a. O. Ange­ merkt sei, dass hier der Terminus der „rechtsförmigen Distribution“ anscheinend als aus sich heraus verständlich betrachtet wird. Man könnte an dieser Stelle die Frage stellen, weshalb denn der Inhalt einer – ggf. auch sehr weiten – Notstandsrechtfer­ tigungsnorm wie § 34 StGB nicht zur „rechtsförmigen Distribution“ beitragen und diese sozusagen bloß vollenden soll. Dies schließt Merkel ganz offensichtlich aus; damit liegt er richtig: „Rechtsförmige Distribution“ kann nichts anderes bedeuten als bedürfnisunabhängige Zuordnung von Materie zu Subjekten nach einem allgemeinen Gesetz des Zustehens (interpersonal, siehe detailliert dazu oben A.II.2. und 3. sowie B.II.3.). 524  Merkel,



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen337

die Verschiedenheit der Menschen nicht ernst525: „Nutzen- und Interessen­ verrechnungen ohne Rücksicht auf personale Grenzen zwischen Individuen“ seien unsinnig. Jedoch, so Merkel, könne die „unschwer als prinzipielles Problem sozia­ ler Gerechtigkeit“ erkennbare Regelung des § 34 StGB, die „einen beson­ ders neuralgischen Interferenzbereich zwischen Recht und Moral“ schaffe, im Rahmen eines kontraktualistischen Entwurfs etwa nach Rawls legitimiert werden: Es seien „Prinzipien und Institutionen dann gerechtfertigt, wenn sie sich analytisch als Grundsätze rekonstruieren lassen, auf die sich freie, gleiche und rationale Personen unter bestimmten fairen Verhandlungsbedin­ gungen geeinigt hätten bzw. einigen würden“. Auch wenn diese Personen als bloß rationale Egoisten ohne unmittelbares Interesse am anderen gedacht würden, so könnten sie „im Urzustand“ – hinter einem „Schleier des Nicht­ wissens über ihre künftige gesellschaftliche Befindlichkeit“, der „für jeden Verhandlungsteilnehmer einen unparteilichen Standpunkt“ erzwänge – „be­ stimmte Grundgüter und damit im unmittelbaren Zusammenhang stehende Interessen einer gewissen Solidaritätsobhut jedes einzelnen gegenüber jedem anderen anvertrauen“. Als zu verteilende „Grundgüter“ nennt Merkel (mit Rawls) „Rechte, Frei­ heiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen und außerdem die so­ zialen Bedingungen der Selbstachtung“. Nach diesem Begründungsmodus sei „der Solidaritätseffekt … nicht Ausdruck einer genuin moralischen Einstel­ lung (die von niemandem erzwungen und im Urzustand nicht vorausgesetzt werden kann), sondern Folge einer ausschließlich rational motivierten Ko­ operation“. Eine solche „Notstandslegitimation“ sei nicht an ein „Erfordernis irgendeiner Form von sozialer Nützlichkeit“ gebunden; das „wesentliche In­ teressenübergewicht auf der Erhaltungsseite“ sei nicht deswegen ein Recht­ fertigungsgrund, weil es „eine Nutzenfunktion für den Güterbestand der Rechtsgemeinschaft optimiert, … auch nicht einfach deswegen, weil es dies zugunsten des Erhaltungsgut-Inhabers tut“. Der Grund sei, dass ein Prinzip etwa des Inhalts: „A kann in einer (relativ) großen Gefahr zum Zweck ihrer Abwendung ein (relativ) kleines Opfer des B als ethisches Minimum der blo­ ßen staatsbürgerlichen Verbundenheit beanspruchen“, von rationalen Egois­ ten „nicht mit guten (rationalen) Gründen abgelehnt werden könnte“526. Gelingt ein solcher Versuch der Notstandsrechts(pflicht)begründung? Merkel geht es bei seinen eher als Diskussionsvorschlag vorgetragenen Ausführungen primär darum, zu zeigen, dass eine Norm wie § 34 StGB 525  Merkel, Zaungäste, S. 179, 187, 189 im Anschluss an John Rawls, Eine The­ orie der Gerechtigkeit, 1975, S. 41 ff., vgl. auch Fn. 242. 526  Merkel, Zaungäste, S. 183 ff.

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B. Auflösung der Aufgabe

nicht notwendig als Ergebnis eines Postulats der „Gemeinwohl“- oder „Gemeinnutzen“-Förderung zu betrachten ist (als welches sie gänzlich un­ sinnig wäre). Damit liegt er sicherlich richtig. Der alles entscheidende Kritikpunkt ist jedoch: Die Konstruktion allgemeingültiger und notwendiger Zustehensbeziehungen und (was dasselbe ist) die Erschaffung des Begriffs der „Pflicht“ überhaupt ergibt sich aus einem kontraktualistischen Ansatz nicht (sondern wird vielmehr dunkel vorausgesetzt)527. Diese Kritik trifft jeden Versuch, „Rechts-Solidarität“ kontraktualistisch aus egoistisch-prag­ matischem Kalkül zu begründen528. Die ersten Setzungen, nämlich die Bestimmungen der fiktiven Entschei­ dungs-Grundsituation als eine solche von rationalen Egoisten hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ enthalten entweder implizit einige dunkle Prä­ missen (etwa den nicht wirksam-änderbaren Willen der Akteure zur perma­ nenten Befolgung der einmal gewählten Imperative sowie den Ausschluss des risikofreudigen Spielers), sodass man daraus bloß herausholen kann, was man versteckt schon hineingelegt hat, eben um es zur Aufstellung be­ stimmter normativer Sätze wieder hervorzuholen529. Oder aber es lassen sich aus diesen Prämissen eben nicht die behaupteten Ergebnisse folgern. Anders ausgedrückt: Die Notwendigkeit der ersten Setzungen wird ebenso wenig ausgewiesen wie die Folgerungen sich bloß daraus ergeben; dies wäre jedoch erforderlich, wenn die gewonnenen Ergebnisse für Menschen im strikten Sinne bindend sein sollen. Pawlik verdeutlicht diese Kritik: Die in bestimmter Weise vorgestellten Akteure eines solchen kontraktualistischen Ansatzes müssen, damit das Konzept nicht völlig beliebig erscheint, ihre Identität behalten auch nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages bzw. nachdem der „Schleier des Nichtwissens“ gehoben ist und die Akteure um ihre wirkliche Rolle in der Gesellschaft wissen. Das heißt konkret: Sie bleiben durchgängig bloß ratio­ nale Egoisten. Insofern (was also die vermeintliche Ableitung der Ergebnis­ 527  Insofern ist es letztlich zu kurz gegriffen, wenn Pawlik in seiner weitgehend treffenden Kritik des Ansatzes bei bloß „instrumenteller Vernunft“ lediglich Proble­ me der „Pflichtbegründung im Einzelfall“ sieht, Pawlik, Notstand, S. 69. Denn: Immer, wenn es um „Pflichtbegründung im Einzelfall“ geht, geht es letztlich um Pflichtbegründung überhaupt. 528  Insoweit trifft die Kritik dieses nicht-utilitaristische Konzept genauso wie je­ des utilitaristische, wie in einem beim unmittelbar-sinnlichen Begehren ansetzenden normativen Konzept unmöglich allgemeingültige und notwendige Zustehensbeziehungen und somit auch keine wahren Rechtspflichtbehauptungen einsichtig gemacht werden können (siehe dazu oben A.II.3. und B.II.3.). 529  Auch Pawlik (Notstand, S. 70, dort Fn. 70) kritisiert Rawls in diesem Sinne: Durch ad hoc-Ergänzungen des Konzepts durch Zusatzannahmen wie einem „forma­ len Gerechtigkeitssinn“ zum Willen der Befolgung einmal gewählter normativer Sätze werde „ergebnisorientiert“ hingebogen, was nicht zusammen passe.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen339

se aus den Prämissen betrifft) ist es unschlüssig, weshalb „auf der Ebene der Gesetzesbegründung mit einem egoistisch orientierten Konsequentalis­ mus“ operiert werde, während „bei der Beurteilung konkreter Einzelhand­ lungen … stillschweigend zur Annahme strikter Gesetzesbefolgung“ über­ gegangen werde: „Die Handlungsgründe eines Akteurs, der sein Verhalten allein nach dem Maßstab instrumenteller Vernunft einrichtet, sind niemals in dem Sinne rückwärtsgewandt, dass sie nur aufgrund eines früheren Er­ eignisses wirksam wären. Da Handlungen unter Klugheitsgesichtspunkten nur durch die aus ihnen mutmaßlich resultierenden Auszahlungen geleitet werden, muss die Motivation eines rationalen Akteurs vielmehr ausschließ­ lich vorwärtsgewandt sein“530. Insofern, so Pawlik treffend, müsse dem Akteur zur Begründung einer konkreten „Verpflichtung“ (dieses Wort ist hier ungenau, es müsste heißen: eines bestimmten Sollens, G. H.) stets auf­ gezeigt werden können, dass er ansonsten seine eigenen Zukunftsaussichten verschlechtere. Auf der Hand liegt, dass dies höchstens in bestimmten Ein­ zelfällen, gerade in einer „anonymen Großgesellschaft“ jedoch nicht allge­ mein der Fall sein wird bzw. kann531. Aus der Perspektive des hier als zur Rechtskonstruktion einzig tauglich behaupteten Ansatzes ist das Durchspielen eines rawlsschen „Kontraktualis­ mus“ bezogen auf (fiktiv) bloß pragmatisch-rationale Egoisten zwar insofern stützend, als dabei gezeigt werden kann, dass auch das bloß technischpragmatische Denken zumindest nicht durchgehend vom dargelegten Konzept abweichende Antworten auf die Frage „Was soll ich tun?“ liefert. Die Pflicht- und damit Rechtsbegründungsfrage wird in der Beschränkung eines solchen Kontraktualismus532 auf permanenten Pragmatismus allerdings von vornherein durch Ausklammerung umgangen (anstatt beantwortet).

530  Pawlik, Notstand, S. 70 im Anschluss an Martin Hollis, Soziales Handeln, Eine Einführung in die Philosophie der Sozialwissenschaft, Berlin 1995, S. 182 ff. 531  Pawlik, Notstand, S. 69  ff., gibt Beispiele: Einem 80-jährigen Junggesellen ohne Verwandte oder Freunde ließe sich bloß aus egoistisch verstandenem Eigenin­ teresse ein Notstandseingriff anderer in seine Güter nicht als vorteilhaft vermitteln. Auch ein reicher Bankier in seiner steinernen Ferienvilla abseits eines Dorfes habe keinen Vorteil davon, wenn jemand Wasser aus seinem Teich hole, um ein brennen­ des Holzhaus damit zu löschen, Pawlik S. 73. Es lassen sich tausende anderer Bei­ spiele möglicher notbedingter Güterverluste bilden, die in rein egoistisch-pragmati­ scher Perspektive keinerlei Vorteile bringen. 532  Zur Missverständlichkeit, der kantischen Konzeption in diesem Sinne ver­ tragstheoretische Elemente zuzuschreiben oder sie gar selbst als „Vertragstheorie“ zu bezeichnen, siehe oben Fn. 200 und B.III.2.: Hinter solcher Benennung verbirgt sich meist ein fundamentaler Irrtum eben über die notwendige Weise der Konstitution von Zustehensbeziehungen betreffend das äußere Verhältnis der Menschen zueinan­ der.

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B. Auflösung der Aufgabe

Es besteht zwar insoweit eine gewisse Nähe des von Merkel (und Rawls) durchgeführten Gedankenspiels zu dem hier dargelegten Konzept, als die Suche nach „Grundgütern“, die, wie Merkel es ausdrückt, „nicht bloß … Mittel zur Verwirklichung irgendeines konkreten, sondern … Grundlage jedes nur denkbaren vernünftigen Lebensplans (worin immer er bestehen mag)“533 sind, der Frage nach der notwendigen Weise der Konstitution be­ dürfnisunabhängiger (notwendiger) interpersonaler Zustehensbeziehungen ähnelt. Allerdings sind nach der Konstruktion des allgemeinen Rechtsbe­ griffs „Rechte, Freiheiten und Chancen“ (Merkel im Anschluss an Rawls) keine quasi-vertraglich zu verteilenden Objekte, sondern: Die Notwendigkeit der allgemeinen Zuordnung einer als lebendiger menschlicher Körper zu qualifizierenden Materie zu einem darin bzw. dahinter zu denkenden Sub­ jekt (die raumbezogenen Worte „darin“ / “dahinter“ sind bloße Metaphern, oben B.II.3.) als diesem zustehend ist nichts anderes als das Denken eines allgemeinen Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (des Menschen als Person). Das Vorstellen einer Selbstzuordnung einer demgegenüber äußeren Materie durch die (vorausgesetzten) wirklichen Personen nach allgemeingültigen Erwerbsregeln ist nichts anderes als das Denken von Besitz- bzw. Eigentums- und Vermögensrechten. Wie dargelegt kann die erste Zuordnung (Konstitution des „inneren Mein“) unmöglich als von vornherein auf externe Umstände (etwa Not anderer) auflösend-bedingt gedacht werden, während im Gegensatz dazu die Konstitution des „äußeren Mein“ genau dies ist, weil eine Erwerbsregel ohne eine – enge – Notstands­ bedingung eben nicht allgemeingültig und deshalb zwischen Rechtspersonen nicht wirksam möglich wäre (oben, B.III.1.). Eben weil das von Rawls und Merkel vorgeschlagene kontraktualistische Konzept keine nach striktem Verfahren anschaulich-durchführbare Rechtsbegriffskonstruktion enthält, unterscheidet es sich letztlich auch im Ergebnis wesentlich vom hier darge­ legten Konzept: Die Abgrenzung der Ethik im engeren Sinne vom strikten Recht – deren Notwendigkeit Merkel viel klarer bewusst ist, als sie Rawls gewesen sein dürfte – kann nach dem von Rawls und Merkel vorgeschlage­ nen Kontraktualismus höchstens ganz verschwommen und ungenau und nicht ohne eine gewisse Beliebigkeit durchgeführt werden. Was das angeht, sei auf die obige Kritik etwa an der Annahme einer allgemeinen Hilfspflicht als Rechtspflicht verwiesen534.

533  Merkel,

Zaungäste, S. 184. Mein“ kann nicht von vornherein allgemein auch anderen Personen zugeordnet sein (nicht auf der Person externe Umstände bedingt sein), sodass die etwa in § 323c StGB und in einem damit zusammenstimmend ausgelegten § 34 StGB implizierten Annahmen – entgegen Merkel – nicht Ausdruck einer haltbaren „Solidaritätsobhut“ bzw. einer „vorsichtig ausbalancierten Notstandsregelung“ sind. 534  „Inneres



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen341

cc) Michael Köhler Auch Michael Köhler geht von einem weitergehenden Notstandsrecht aus, als es sich aus dem hier dargelegten Ansatz ergibt: Er bejaht eine allgemeine Rechtspflicht zur aktiven Hilfe in schwerer Not. Das ist zunächst insofern bemerkenswert, als es vor allem Köhler zu verdanken ist, die enorme rechtstheoretische und -praktische Bedeutung des notwendigen Begriffs des ideellen ursprünglichen Gemeinbesitzes der (der Personen äußeren) Weltmaterie, aus dem sich wie dargestellt einzig und allein ein eben enges535 Notstandsrecht im strikten Sinne536 ergibt, im Ge­ gensatz zu vielen flüchtigen Befassungen sonstiger Sekundärliteratur mit dem kantischen Werk erkannt und in mehreren Publikationen herausgestellt zu haben537. Darüber hinaus befasst sich Köhler ausgehend von diesem Begriff mit der Entwicklung einer Theorie der Teilhabegerechtigkeit, aus der sich über die Konstruktion der Erwerbstheorie von Grund auf unmittel­ bare praktische Konsequenzen für die rechtliche Güterzuordnung in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft ableiten lassen sollen538. Köhler ist nach dem hier dargelegten Ansatz zunächst auch vollkommen zustimmen, wenn er schreibt, es stehe „jeder … mit den Zufälligkeiten seiner Lebens­ situation im Rechtsverhältnis zu anderen“ und gerade in schwerer Not be­ weise „der freiheitsnotwendig-distributive Gehalt des Rechts – das ursprünglich allgemeine Besitzrecht an der Erde – seine Kraft“539. Was jedoch meint Köhler genau, wenn er fortfährt: „Steht aber das Da­ sein der freien Person substantiell in Frage, so ist die gemeinsame Grund­ lage selbst betroffen“? 535  Nämlich ein lediglich Zugriffe auf äußere (nicht mit der wirklichen Person vor allem Akt notwendig verbundene) Gegenstände gestattendes Recht. 536  Das heißt: Eine mit Zwang legitim durchsetzbare Zugriffsbefugnis. 537  Siehe Köhler, Ursprünglicher Gesamtbesitz; ders. Ursprüngliches Erwerbs­ recht; ders. Gerechtigkeit als Grund der Politik. 538  Vgl. Fn. 418. Dieses – bislang noch unvollendete – Großprojekt kann als der Versuch betrachtet werden, maßstabslose Interessenabwägungen und rechtsbegrifflich unreflektierte Gemeinnutzenbehauptungen sowie unkontrollierte Verwischungen zwi­ schen Ethik und striktem Recht, die sich zum Thema Teilhabegerechtigkeit allesamt im Zusammenhang mit der Verwendung des Wortes „Solidarität“ offenbaren, zu be­ richtigen und zu bereinigen. Das köhlersche Projekt mutet, gerade in Anbetracht der offensichtlichen Schwierigkeit, eine Anbindung von elementaren Privatrechtsbegrif­ fen an die sich de facto schnell fortentwickelnde und teils enorm spezialisierte Rechtswirklichkeit und Wirtschaftsstruktur zustande zu bringen (so dass sich ein grundbegrifflich-feststehender und hinreichend konkreter Maßstab zur Überprüfung und Steuerung dieser Wirklichkeit formulieren lässt, aus dem sich dann konkrete praktische Folgerungen ergeben), ebenso kolossal wie genial und lohnenswert an. 539  Köhler, AT, S. 285.

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B. Auflösung der Aufgabe

Gemeint sein müsste nach dem dargelegten Rechts- und Notstandsrechts­ begriff das Folgende: Tritt mit der Angewiesenheit eines anderen zum Ge­ brauch einer bestimmten Sache zum Erhalt als selbständiger Person (bei Nichtangewiesenheit des aktuellen Innehabers der Sache zur Wahrung seines „inneren Mein“) die auflösende Bedingung der Anerkennung von aus­ schließlicher Sondergebrauchsbefugnis ein, dann wird ein einseitiger Zugriff zugunsten des Notleidenden auf die zur Rettung erforderte Sache (Bestandteil der ursprünglich im Gemeinbesitz seienden Materie) rechtlich mög­ lich540. Köhler geht jedoch – unter explizitem Rekurs auf die Notstandsrechtsaus­ führungen Hegels – weiter: Ursprüngliche Teilhabe gehe, so Köhler, „in ein Recht auf Tätigkeit anderer in zufälliger Existenznot“ und somit in „ein … ursprüngliches Teilhaberecht an fremder Willkür“ über. Denn „die Pflicht zur Selbstaffirmation vernünftigen Daseins übersetzt sich in eine Pflicht, die äußere Zufallsausgesetztheit möglichst allgemein aufzuheben“541. „Da das rechtliche Dasein der freien Person sich vernunftnotwendigerweise wechsel­ seitig auf dasjenige der anderen beziehen muss, insofern das Rechtsverhält­ nis in seinen Konstituenten kategorisch bestehen soll, begründet sich das (begrenzte) Gebot, für die rechtliche Existenz des anderen in Not einzuste­ hen … die allgemeine Hilfspflicht in Notlagen (positivrechtlich § 323c StGB) und die … dargelegte Eingriffsduldungspflicht im Notstand entspre­ chen einander inhaltlich“542. Diese Annahme folgt nicht nur nicht aus dem dargelegten Notstands­ rechtsgrund, dem ursprünglichen Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie; sie widerspricht insoweit dem dargestellten Rechtskonzept: Indem Köhler eine allgemeine Hilfspflicht als Rechtspflicht behauptet, ordnet er die Willkür eines anderen zur Tat als Bestandteil des inneren Mein (ein angeborenes Gut) hier jemand anderem eben ursprünglich – vor allem personalen Akt der Übertragung, bloß auf den Eintritt zufälliger Umstände bedingt – zu (so Köhler auch explizit, siehe oben). Zwar besteht Köhler hinsichtlich sonstiger „personaler Rechtsgüter … von einigem konkreten Gewicht“ auf einem diesbezüglich strikten Verbot des einseitigen Zugriffs selbst bei schwerer Lebensnot des darauf faktisch Angewiesenen543. Jedoch ist auch der Einbezug der Willkür eines anderen 540  Eben weil sozusagen die Geschäftsgrundlage einer den vollständigen Aus­ schluss anderer beinhaltenden Teilung entfällt, siehe B.III.1.b); so zu verstehen auch die Ausführungen Köhlers in: Ursprünglicher Gesamtbesitz, S. 261, vgl. auch Fn. 361. 541  Köhler, AT, S. 208. 542  Köhler, AT, S. 285. 543  Köhler, AT, S.  290 ff.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen343

zur Tat (die Annahme einer allgemeinen Hilfspflicht als Rechtspflicht) in die Menge der einem Notstandszugriff offenstehenden (einseitig erwerbba­ ren) Güter nach der von mir dargelegten Rechtskonstruktion entweder als unzulässige Vermischung von striktem Recht und Ethik (im engen Sinne) oder als kollektivistisch-konsequentialistischer (oder: hegelianischer) Ein­ schlag zu beurteilen; jedenfalls ist das nicht haltbar. So ist Pawliks Kritik an der Argumentation Köhlers, mit der dieser den Notstandsrechtsbegriff über den hier dargelegten hinaus erweitern will, zu­ treffend544: Es bleibt unausgewiesen, weshalb die aktive Sicherung des Fortbestandes der physischen (und intelligiblen) Existenz des anderen die­ sem rechtlich geschuldet sein sollte. Dass man sich selbst im Denken und Handeln durchgängig zur selbständigen Person bestimmen und andere bei diesem Projekt unterstützen soll, wird durch (im engen Sinne) ethische Imperative vorgestellt (Förderung eigener „Vollkommenheit“ und fremden Glücklichseins). Ob dies aber äußerlich (im Rechtsverhältnis) geschuldet wird, ist gerade die Frage. Diese kann nicht durch einen bloßen Hinweis auf das Rechtsverhältnis an sich beantwortet oder mit der Behauptung, es solle rechtlich ein bestimmtes Rechtsverhältnis zu einer konkreten (zufällig als notleidend bekanntwerdenden) anderen Person geben, sodass es auch diese Person geben müsse, bejaht werden. Im Gegenteil: Die „Konstruktion“ des Rechtsbegriffs zeigt die Unmöglichkeit einer ursprünglichen Zuordnung eines menschlichen Körpers oder irgendeines realen Bestandteils dessen (von menschlicher Körpermaterie) zu einem anderen Subjekt als dem „dahinter“ bzw. „darin“ zu denkenden nach einer allgemeinen Regel. Wollte man behaupten, dasjenige, was doch zu­ nächst das ursprünglich der Person Zustehende ist (der Wille und die zur Handlungsrealisierung benutzte Körpermaterie), stehe zugleich – wenn auch bedingt auf einen Notfall und beschränkt auf die erforderliche Hilfe – einem anderen ursprünglich zu, so setzte dies eine den (allen) Rechtspersonen übergeordnete Perspektive voraus, aus welcher man solche Verfügungen (Zuordnungen) zu treffen befugt wäre. Denn wollte man schon bei „Konst­ ruktion“ der dem Rechts-Pflichtverhältnis korrespondierenden (implizierten) realen Subjekte (der Personen), diese – wenn auch bedingt – unmittelbar physisch miteinander verknüpfen, dann setzte man als Urteilender doch eine ursprüngliche Gemeinschaft oder Einheit aller Menschen bzw. aller Materie überhaupt voraus545, aus welcher man selbst als Außenstehender (damit Übergeordneter) die Einzelnen erst erschafft bzw. formt. Pawlik, Notstand, S. 160 ff. eine Vorstellung der Einheit aller Materie bzw. aller (physikalischen) Kräfte als Theorie von allem ein Ziel der theoretischen Physik (zur ideell vollstän­ digen Seinserklärung) ist, ist leicht einzusehen oder sogar zur befriedigenden Erklä­ 544  Vgl.

545  Dass

344

B. Auflösung der Aufgabe

Eine solche Regel kann kein allgemeines (bedürfnisunabhängig gedach­ tes) Gesetz des Zustehens von etwas zu jemandem sein. Der Körper einer Person einschließlich aller Willkür (sofern deren äußere Ausübung anderen nichts nimmt) steht – wie dargestellt (B.II.3.) – ausschließlich der Person selbst zu bzw. ist in seiner ausschließlichen Zuordnung zum immateriellen Subjekt „dahinter“ der für uns einzig-mögliche Begriff der realen Person. Abgesehen von willentlichen Übertragungen bzw. Einwilligungen in Zu­ griffe auf Körpermaterie ist diese Zuordnung eben bloß bedingt auf die (rechtswidrige) Überschreitung des Verhältnisses zum anderen so, dass dessen Reaktion eine erforderliche (rechtmäßige) Notwehrhandlung (ggf. sogar Notwehrtötung) wäre. Selbsttötung ist ethisch, nicht aber rechtlich (im Verhältnis zu anderen) ausgeschlossen (es sei denn, sie fände auf zumindest auch deren Boden statt, dann wäre es unzulässige Sondernutzung, vgl. B.II.3.e)). Bloß naturhaftes (keiner Person zurechenbares) Abhandenkommen von Körperfunktionen oder eines menschlichen Lebens und damit der (jeweili­ gen) Person betreffen das Rechtsverhältnis unmittelbar (als bloßes Abhan­ denkommen) überhaupt nicht. Selbst wenn von (hypothetisch) nur noch zwei verbleibenden Menschen auf Erden der eine notstandsbedingt zu sterben drohte (sodass dann das Rechtsverhältnis als ein Verhältnis verschie­ dener Subjekte zu- bzw. gegeneinander erlischte), wäre der andere, der nichts mit dessen Notsituation zu tun hat, rechtlich nicht hilfsverpflichtet: Es wäre nicht er, der das Rechtsverhältnis störte (das Verhältnis zum ande­ ren überschritte), sodass das Rechtsverhältnis ihn nicht stören muss. In einem äußeren Verhältnis der verschiedenen Personen zu- bzw. gegen­ einander, in welchem der eine gleich dem anderen und niemand übergeord­ net steht, ist eine Willkürübertragung nur beidseitig-willentlich möglich546. rung der Erscheinungen (vernunftgemäß) als notwendig anzunehmen. Das ist jedoch in normativer Hinsicht (betreffend die Bestimmung des Gesollten überhaupt), die anhebend von der Frage nach der Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit (welche auch in theoretischer Hinsicht – dort jedoch als lediglich negativer Grenzbegriff – notwendig auftaucht) über den kategorischen Imperativ und den konstruierten Rechtsbegriff und so mit dem Begriff der Person beginnt (A.II.1. und 2. und B.II.3.), völlig unerheblich. Letztlich kann die normative Annahme einer ursprünglichen Ver­ bundenheit bzw. Einheit aller Menschen nur aus einem – an sich auch von Michael Köhler als irrational kritisierten – objektiv-teleologischen Konzept entspringen. 546  Auch Kant bezog insoweit, auch ohne eine Notrechtstheorie ausgearbeitet zu haben, entsprechend eindeutige Stellung, etwa: „Die Erwerbung eines persönlichen Rechts kann niemals ursprünglich und eigenmächtig sein (denn eine solche würde nicht dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß, mithin unrecht sein), MdS, RL, § 18; derselbe, TL, §§ 30, 31; derselbe, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, S. 228: „Leistungen einer anderen Person“



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen345

Dasselbe veranschaulichend (räumlich) vorgestellt: Gäbe es eine allgemeine ursprüngliche Not-Hilfspflicht als Rechtspflicht (als ethische Pflicht ist sie unproblematisch) und wäre dementsprechend die unterlassene Hilfeleistung Unrecht, dann wäre das bloße Vorbeigehen an einem aus externen Umstän­ den in Not geratenen Hilfebedürftigen, etwa einem Verletzten, als ein räum­ liches Eindringen in dessen Bereich durch Unterlassen vorzustellen, somit also als ein unzulässiges Entfernen (Entfliehen) aus dessen rechtlichem Bereich. Die Frage nach dem Rechtsgrund der (hypothetisch angenomme­ nen) allgemeinen Hilfeleistungspflicht ist so betrachtet die Frage nach der besonderen Anziehungskraft, die macht, dass der am Unglücksort zufällig Vorbeikommende nun an den Verunglückten gebunden sein soll. Und die Antwort liegt in der Hypothese selbst, die sich damit als unzutreffend er­ weist: Die allgemeine ursprüngliche Rechtspflicht schließt Kollisionen zweier Körper (realer Personen) aus, stellt aber gerade keine (eben nicht personale, sondern) externe, also bedürfnisbasierend-naturhafte Verbindung derselben vor; eine nicht-personal (beidseitig-willentlich) ausgelöste, zur Abstoßung ungleich stärkere Anziehungskraft gibt es insoweit (nämlich ursprünglich) nicht. Somit entfaltet das Vorbeigehen des Unbeteiligten am Hilfebedürftigen (rechtlich) gar keine Wirkung auf diesen; es kann mit dem Gebot der Wahrung von allseitiger Subjektstatus- und Handlungsgrundvor­ stellung in Bezug auf den Menschen ohne weiteres zusammen bestehen (ist also kein Unrecht im strikten Sinne, vgl. B.II.3. und B.III.). dd) Michael Pawlik Michael Pawliks eigener, schon mehrfach erwähnter ausführlicher Ver­ such, ausgehend von der hegelschen Rechtsphilosophie ein Notstandsrecht und eine korrespondierende „Solidaritätspflicht“547 einsichtig zu entwickeln und also dabei die prinzipielle Fehlerhaftigkeit kollektivistisch-konsequen­ tialistischer Rechtsbehauptungen zu vermeiden, misslingt letztlich: Verfehlt ist, wie dargestellt (B.II.2. und B.III.1.b)), schon die Kennzeich­ nung des Notstandsproblems als Kollision von „Freiheitsansprüchen“. Paw­ lik schreibt, Adressat der Notstandsregelung müssten „Bürger sein, denen die Einsicht zugeschrieben wird, dass sowohl das abstrakte Recht als auch das in die konkrete Gefahrensituation gleichsam versenkte Recht des Wohls ihre – durch das jeweils andere Moment notwendigerweise begrenzte – Le­ können „nur durch die Wirklichkeit einer doppelseitigen Einstimmung“ erworben werden; siehe auch GMS, 2. Abschnitt, S. 423, 424 und MdS, Einleitung Rechtsleh­ re IV., S. 227, 228: Verdienst sei „z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Not rette“. 547  Pawlik, Notstand, S. 112.

346

B. Auflösung der Aufgabe

gitimität besitzen“548, was solange nicht möglich sei, wie „der Eingriffsad­ ressat noch nicht zur Einsicht in die Freiheitsbedeutung des Wohls durch­ gedrungen“ sei549. Er fährt fort: „Die abstrakte Rechtlichkeit wird nicht um ihrer selbst willen, sondern um der daraus mutmaßlich entspringenden konkret-realen Freiheit willen gewährleistet; und umgekehrt ist die konkretreale Freiheit nur als eine formierte Freiheit denkbar. Das Rechtsinstitut des rechtfertigenden Notstandes sinnt den Konfliktbeteiligten also an, die Parti­ kularität der von ihnen erhobenen Ansprüche anzuerkennen und sich auf die Höhe der Totalität dieser Momente zu stellen550“. Es ist entgegen Pawlik nicht so, dass sich „ein solches Ansinnen … erst auf der Stufe der Sittlichkeit (Pawlik nimmt Bezug auf den dritten Teil der hegelschen Rechtsphilosophie, G. H.) legitimieren“ lässt. So etwas lässt sich gar nicht „legitimieren“, weil ein solches Ansinnen schon einen Widerspruch in seinen Voraussetzungen enthält: Denn wie kann jemand ohne Wider­ spruch einen Anspruch erheben, dessen „Partikularität“ – was hier offen­ sichtlich heißt: dessen teilweises Nichtbestehen – er zugleich anerkennt? Weshalb sollte er einen nicht bestehenden (bzw. teilweise nicht bestehenden) Anspruch überhaupt erst erheben? Wiederum zeigt sich hier der Mangel an Konsequenz im Denken, der die gesamte hegelsche Rechtsphilosophie durchzieht (siehe schon oben B.II.2.) und somit auch die danach gestrickte Arbeit Pawliks betrifft: Wenn die „Momente“ der „komplexen Rechtsidee“ „aufgehoben“ werden (hegelsche und pawliksche Terminologie), indem endlich alle auf den einzelnen „Sys­ temstufen“ („abstraktes Recht“, „Recht des Wohls“) getroffenen Aussagen zusammengeschoben bzw. übereinandergelegt werden, dann entstehen keine reinen Einsichten (weder Moralität noch Sittlichkeit), sondern bloß unauf­ lösliche Widersprüche. Eine mit Verbindlichkeitsanspruch versehene Beant­ wortung der schlichten Grundfrage des vorpositiven Rechtsdenkens über­ haupt, nämlich was dem einen Subjekt als Person im Verhältnis zu jedem anderen jeweils konkret (nach einem allgemeinen Zustehensgesetz) zusteht und was nicht551, kann durch ein relativ beliebiges Schwanken zwischen zueinander widersprüchlichen und für sich jeweils allein genommen unver­ 548  Pawlik,

Notstand, S. 109. Notstand, S. 105. Zur Kritik an der hegeltypischen Verwendung mystisch-anmutender Termini („gleichsam versenktes Recht“) und der in sich wider­ sprüchlichen und deshalb bloß vermeintlichen, durch Vorher-Nachher Darstellungen ausgedrückten, stufenweisen Entwicklung normativer Begriffe („noch nicht zur Ein­ sicht durchgedrungen“) siehe oben B.II.2. 550  Pawlik, Notstand, S. 109–110. 551  Also: Wie sind (inhaltlich bestimmte) Zustehensverhältnisse mit Verbindlich­ keitsanspruch (Rechte bzw. Befugnisse und korrespondierende Rechtspflichten) überhaupt allgemeingültig zu denken bzw. zu konstruieren? 549  Pawlik,



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen347

ständlichen normativen Behauptungen ebenso wenig wie durch eine ohne erkennbares Prinzip erfolgende Synthese der kontradiktorisch entgegenge­ setzten Sätze geleistet werden552. Wenn Pawlik glaubt, „mit dem Kriterium der materiellen Freiheitsrele­ vanz von Rechtspositionen … eine Maßeinheit“ etabliert zu haben, die „ungeachtet aller praktischen Schwierigkeiten jedenfalls die theoretische Möglichkeit intersubjektiver Vergleiche eröffnet“553, sodass „die Freiheitsin­ teressen des Eingriffsadressaten“554 in einsehbarer Weise im Verhältnis zu denen des Eingriffsbedürftigen berücksichtigt werden können, dann irrt er: Wenn man den etwa aus utilitaristischen Konzepten bekannten – für sich genommen keinerlei Maßstab benennenden – Terminus der Abwägung von Interessen gegen den der Abwägung von nach „materieller Freiheitsrele­ vanz“ bewerteten „Rechtspositionen“ bzw. „Freiheitsansprüchen“ ersetzt, dann ist inhaltlich zunächst nichts gewonnen555. Der kollektivistisch-konsequentialistische Einschlag bzw. diese eigentliche Basis des pawlikschen (hegelschen) Konzeptes offenbart sich, wenn Pawlik schreibt: „Eine sittliche Begründung des rechtfertigenden Notstandes erlegt dem Pflichtigen gleichsam die Mithaftung für die Kosten jener komplexen Freiheitssemantik auf, die die Identität der Rechtsgemeinschaft prägt, wel­ cher er angehört. Es handelt sich um eine mitgliedschaftliche Haftung nicht in dem Sinne, dass es, jedenfalls theoretisch, im Belieben des Pflichtigen gestanden hätte, sich der betreffenden Gruppe anzuschließen oder von ei­ nem Beitritt abzusehen. Die Mitgliedschaft, mit deren Kosten der Einzelne hier belastet wird, wurzelt vielmehr in seiner für ihn selbst unhintergeh- und unverfügbaren Soziabilität … Es sind die semantischen Traditionen und die 552  Entgegen Pawlik ist ein rechtmäßiger Notstandszugriff – wie dargestellt – auch keine „Verletzung“ der Freiheit einer Person (Verletzung eines anderen in le­ gitimer Betätigungsmöglichkeit); es wird dadurch niemandem etwas genommen, was ihm konkret zusteht (dazu B.III.1.b)). 553  Pawlik, Notstand, S. 106. 554  Pawlik, Notstand, S. 107, dort Fn. 152. 555  In der Tat ist, wenn es an die konkrete Fallbeurteilung geht, zwischen den gängigen Interessenabwägungen und -verrechnungen (die sich, wenn es sich dabei nicht um verfehlte Ausdrucksweisen handeln soll, nur aus einem mehr oder weniger reflektierten unmittelbar- materialen Ansatz ergeben können) und Pawliks Stellung­ nahmen kein sachhaltiger Unterschied feststellbar. Auch die Terminologie ist ohne weiteres austauschbar, vgl. etwa die Zusammenfassung einer konkreten Fallbeurtei­ lung seitens Pawlik, Jura 2002, S. 28: Wenn nicht anzugeben sei, wer von zwei Notstandskonfliktbeteiligten „die Erhaltung seines Rechtsgutes eher verdient“, dann sei „… ein Eingriff … dann gerechtfertigt, wenn er einen einfach positiven Gesamtgütersaldo hervorbringt …“. Vgl. im Übrigen zur Unmöglichkeit einer Addition individueller Nutzenbewertungen zu einem „Gesamtnutzen“ oder „Gesamtgüterbe­ stand“ die Kritik Merkels, oben bb).

348

B. Auflösung der Aufgabe

institutionellen Strukturen einer die Idee des Rechts in je spezifischer Wei­ se zur Entfaltung bringenden Rechtsgemeinschaft, die es dem einzelnen allererst ermöglichen, sich als autonom in dem Sinne zu erfahren, dass rechtliche Verpflichtungen, die man ihm auferlegen will, ihm zuvor einsich­ tig gemacht werden müssen. … Diese ontologische Vorannahme einer politischen Imprägnierung einer jeden Einzelidentität ist es, welche eine sittliche Begründung in dem hier gemeinten Sinne grundlegend von jenen Notstands­ theorien unterscheidet, die an das verständige Eigeninteresse („Klugheit“ bzw. an die moralischen Intuitionen, „Fairneß“) des Verpflichtungsadressa­ ten appellieren. Der Umstand, dass die letztgenannten Begründungsansätze eine bestimmte normative Identität des Pflichtigen unbefragt als gegeben voraussetzen, lässt sie vom sittlichen Standpunkt als prinzipiell defizitär … erscheinen“556. Sicherlich ist es richtig, dass die unausgewiesene Voraussetzung einer bestimmten „normativen Identität“ zur Rechtsbegründung unzureichend ist. Ganz gewiss unzureichend als Selbstverbindlichkeitsgrund und einsichtsbewirkendes Moment ist jedoch auch das bloße Behaupten „semantischer Traditionen und institutioneller Strukturen“ und die Kostenpflichtigkeit für „eine komplexe Freiheitssemantik“. Gerade denjenigen, der die Mühe auf sich nehmen möchte, ernsthaft zu prüfen, ob eine oftmals vertretene aber bislang nicht einsichtig hergeleitete Meinung überhaupt grundbegrifflich haltbar ist (der Ausgangspunkt jeder ernsthaften, rechtswissenschaftlichen Arbeit), den darf dafür insbesondere der Verweis auf die „ontologische Vorannahme von der politischen Imprägnierung einer jeden Einzelidentität“ überhaupt nicht interessieren. Was die letztendliche Begründung bzw. Herleitung der konkreten Urteile angeht, scheint die pawliksche Notstandsarbeit wie auch die hegelschen „Grundlinien“ (siehe B.II.2.b)) auf eine Aussage hinauszulaufen wie: „Wenn du die normativen Verhältnisse, so wie sie zur Zeit mehrheitlich verstanden werden, für durchgehend zutreffend hälst, dann ist es gut so. Wenn nicht, dann finde dich damit ab.“ Nicht verwunderlich ist es somit, wenn Pawlik (wie oben schon kritisiert, B.IV.1.a)cc)) für die konkrete Normauslegung (betreffend § 34 StGB) im Lichte seines Konzepts erneut eine als herrschend behauptete „Kultur“ zum letztlichen Entscheidungskriterium macht557. Einen konsequent denkenden Leser werden diese Texte – was die Herleitung des jeweils behaupteten Sollens angeht – nicht überzeugen können558. 556  Pawlik,

Notstand, S. 110–111. beachte, dass eine unmittelbare (vermeintliche) Argumentation mit der „Kultur“ ein häufiger Wesenszug kollektivistisch-konsequentialistischer normativer Konzepte ist (vgl. etwa A.I.2. zu Mills Utilitarismus). 557  Man



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen349

Die von Pawlik als durch „erforderliche institutionelle Abstützung“ der „individuellen Sittlichkeit“ erschaffene, „im weiteren Sinne staatsbürger­ liche Pflicht“ soll als „Solidaritätspflicht“ treffend bezeichnet sein, denn – so versichert Pawlik entgegen insoweit anderer Hegel-Interpretationen – Solidarität werde trotz ihrer letztlich eine Staatlichkeit voraussetzenden ­ kulturellen bzw. traditionellen Ursache und der zur Begründung sogar er­ forderlichen staatlichen Absicherung dem betroffenen Menschen und nicht unmittelbar dem Staat geschuldet559. Diese Versicherung Pawliks ist ausge­ hend von der von ihm gegebenen Begründung nicht nachvollziehbar: Denn letztlich fehlt bei Pawlik und Hegel eine einsichtige, bestimmte Konstruk­tion eines rechtlichen (vorstaatlichen bzw. unabhängig vom Staat zu denkenden) Grundverhältnisses der Menschen. Dieser Mangel eines einsichtigen und festen Maßstabs wird erwartungs­ gemäß erneut deutlich, wenn Pawlik zur Erlaubnisnormdefinition und zur konkreten Fallbeurteilung gelangt560: Dabei geht er – wie schon kritisiert (B.IV.1.a)cc)) – davon aus, jeder Bürger sei „in gewissem Umfang eine wandelnde Hilfsressource für andere“. Pawlik zwingt bestimmte, vom ihm gewünschte Eingriffsgrenzen, die sich aus seinem Ansatz keineswegs ablei­ ten lassen, mit fragwürdigen Argumentationsversuchen herbei. Erinnert sei an die Behauptung eines auf „unsere Kultur“ gegründeten „symbolischen Freiheitswertes“, die sachlich nichts anderes ist als die Wiedergabe einer (im Übrigen von Pawlik bloß subjektiv angenommenen) gesellschaftlichen bzw. faktisch-kulturellen Mehrheitsmeinung. Soweit abschließend bedenke man auch das folgende schon dogmatische Problem: Weshalb werden nach denjenigen Notstandsrechtskonzepten, die ein solches auf „Solidarität“ bzw. „Mindestsolidarität“ mit dem hilfsbedürf­ tigen anderen stützen wollen und die entsprechend eine unmittelbare rechtliche Hilfspflicht gegenüber dem notleidenden anderen annehmen561, nicht auch die aus einer Unterlassung der geschuldeten Hilfe für den Notleidenden resultierenden negativen Folgen dem Unterlassenden zugerechnet? Wenn etwa ein zufällig an einem Unfallverletzten vorbeikommender (einziger) Passant diesem nicht hilft (etwa: sein Mobiltelefon nicht für ei­ 558  Die Aufwendung irgendwelcher Extrakosten für eine „komplexe Freiheitsse­ mantik“, wenn dahinter mehr als das von Pawlik Vorgetragene nicht steckt, lohnt sich nicht. 559  Pawlik, Notstand, S. 112; ebenso Kühnbach, Solidaritätspflichten, S. 135. An­ ders fällt diesbezüglich die Hegelinterpretation Morgensterns aus, Unterlassene Hilfeleistung, S.  69 ff. 560  Siehe etwa zum Spazierstockfall V.2.b)bb). 561  So die meisten auf rechtlich-geschuldete „Solidarität“ abstellenden Autoren, etwa Köhler, AT, S. 285; Pawlik, Notstand, S. 112; Kühnbach, Solidaritätspflichten, S. 135.

350

B. Auflösung der Aufgabe

nen Notruf einsetzt), obwohl die ihm ohne weiteres mögliche Hilfe den Tod abgewendet hätte, und der Unfallverletzte stirbt, dann – so sollte man annehmen – tötet der Passant den anderen durch Unterlassen, sofern er diesem denn die Hilfeleistung rechtlich schuldet. Eine Begehung durch Un­ terlassen kommt nach deutschem Recht (richtigerweise) zwar nur in Be­ tracht, wenn jemand „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“ und eine Entsprechung von Tun und Unterlassen gegeben ist, § 13 StGB. Dafür wird also zunächst eine rechtliche Pflicht bzw. Garantenstellung vorausgesetzt. Merkwürdiger Weise soll nach Auskunft der ganz über­ wiegenden Literatur schon eine solche Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung durch eine allgemeine Hilfspflicht in Not nicht begründet werden562. Mag man sich auch noch so sehr an diese Abstufung zwischen allgemeiner Hilfsrechtspflicht und demgegenüber engerer Sonderpflicht gewöhnt haben: Es ist begrifflich (unabhängig davon, dass das aktuelle positive Recht tat­ sächlich eine solche Abstufung statuieren will) schlichtweg nicht einzuse­ hen, weshalb derjenige, der einem anderen aufgrund von „Mindestsolidari­ tät“ rechtlich Hilfe in Not schuldet (dessen Willkür zu einer bestimmten Tat also einseitig – bloß durch den zufälligen Umstand des Aufmerksam­ werdens auf einen Unglücksfall – nun einem anderen zustehen soll), nicht zugleich (notwendig) insoweit auch rechtlich „dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“, nämlich soweit seine geschuldete Tat diesen ab­ gewendet hätte. Die schlichte Verneinung dessen widerspricht allgemeinen Zurechnungs­ grundsätzen: Die Unterlassung einer rechtlich gebotenen Handlung schafft ein (rechtlich) unzulässiges Risiko für andere bzw. denjenigen, dem die Handlung geschuldet wird. Wenn dieses sich insofern in einer empirischen Verletzung realisiert, als die gebotene Handlung diese Verletzung abgewen­ det hätte, dann ist diese empirische Verletzung zu dem rechtspflichtwidrigen Verhalten (Unterlassen) zuzurechnen. Man kann also nicht annehmen, je­ mand schulde einer bestimmten anderen Person rechtlich eine Handlung, für die aus der rechtspflichtwidrigen Unterlassung der Handlung resultierenden negativen Folgen könne der Pflichtige dann jedoch nichts. Diese begriffli­ che bzw. logische Notwendigkeit kann nicht dadurch beseitigt werden, dass die Auslegung des § 323c StGB mit dem verbalen Zusatz versehen wird, der Eintritt der Hilfspflichtigkeit im Sinne dieser Norm begründe keine Erfolgszurechnung (Garantenstellung). Insbesondere wenn das allgemeine Gebot doch dahin gehen soll, „für die rechtliche Existenz des anderen in Not einzustehen“ (Köhler, oben cc)), ist insoweit, also was die konkret (im Notfall) bestehende (Rechts-)Pflicht auch zur Erfolgsabwendung angeht, 562  Kühl, StGB-Kommentar, § 13, Rn. 7 m. w. N.; BGHSt 3, 65; Wessels / Beulke, AT, Rn. 696; wohl auch Fischer, StGB, § 13, Rn. 3 i. V. m. 7.



IV. Kritische Betrachtung der positiven deutschen Notstandsregelungen351

kein Unterschied zum Sonderpflichtdelikt auszumachen. Köhler selbst sieht das563. Wer jedoch einfach eine Pflicht zur Erfolgsverhinderung verneint ohne die Inkonsistenz zu bemerken, der offenbart mangelndes Bedachtsein seiner Annahmen564. Konsistent (wenngleich auch nicht unzweifelhaft, vgl. Fn. 209) wäre hin­ gegen etwa die Annahme, ein öffentliches (im allgemein-zugänglichen Raum stattfindendes), ethisch-grob-anstößiges Verhalten (Tun oder Unter­ lassen) sei im Rechtssinne ordnungswidrig, sodass die Unterlassung einer erforderlichen und zumutbaren Hilfe in einem Unglücksfall eben – weil ethisch grob-anstößig und sofern öffentlichen Raum stattfindend – als Ordnungswidrigkeit565 einzuordnen sei: Denn dabei wird die Willkür zur Hilfe­ leistung eben nicht unmittelbar äußerlich dem vom Unglücksfall betroffenen Notleidenden als Seine zugeordnet (diese Annahme gründet nicht auf rechtlich-geschuldeter „Mindestsolidarität“), sodass auch die Folgen für den anderen nicht zur Handlung (als Erfolgsdelikt durch Unterlassen) zuzurech­ nen wären, weil die Ordnungsstörung / -widrigkeit schon und ausschließlich in der erforderlichen Nichthilfe als solcher läge. ee) Fazit Als Fazit lässt sich festhalten: „Solidarität“ ist weder eine Rechtspflicht noch ein rechtlicher Verpflichtungsgrund (als solches tatsächlich ein „höl­ zernes Eisen“, Denninger, a. a. O., Fn. 518). Das heißt, wenn der Inhalt hinter diesem Wort nicht von jedem (einsichtigen) ethischen Gehalt befreit und das Wort in diesem Sinne entwertet oder zur Verständigung untauglich gemacht werden soll, dann sollte es in einem ernstgenommenen Diskurs über Rechtsfragen beiseitegelassen werden.

563  Er hält fest: „Der maßgebende Gewichtsunterschied zum Garantenpflichtdelikt besteht also allein in der Allgemeinqualität der Pflicht“, Köhler, AT, S. 212. Dogma­ tisch müsste demnach wohl in Konstellationen der unterlassenen Hilfeleistung durch einen Nicht-Sonderpflichtigen ein Begehen durch Unterlassen wegen fehlender Ent­ sprechung („… und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht“, § 13 StGB) verneint werden. Ebenso wohl (wenngleich undeutlicher) Matt, Kausalität aus Freiheit, S. 205. 564  Etwa Wessels / Beulke, AT: Obwohl eine „auf dem Solidaritätsprinzip beruhen­ de allgemeine Hilfspflicht“ angenommen wird (Rn. 746), habe der Normadressat „für die Erfolgsabwendung … hier nicht einzustehen“ (Rn. 696). 565  Demnach wäre die Unrechtsqualität (falls also überhaupt konstruierbar) zu­ gleich auch zutreffend bestimmt, nämlich als Ordnungsunrecht, nicht jedoch als Strafunrecht, vgl. schon B.III.2. und Fn. 423.

352

B. Auflösung der Aufgabe

V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen Nach dem dargelegten Notstandsrechtsbegriff ergibt sich also ohne jegli­ chen Rekurs auf konsequentialistisch-kollektivistische Interessenabwägun­ gen oder diffuse Solidaritätspflichtannahmen mit Notwendigkeit ein Not­ standsrecht mit festen Grenzen: Der einseitige Zugriff auf erworbene Güter (Sachen) anderer ist jedenfalls zulässig, sofern er erforderlich zum Selbst­ erhalt als selbständige Person ist und der andere (Eigentümer bzw. Besitzer) nicht selbst zum Erhalt angeborener Güter auf die ausschließliche Sachnut­ zung angewiesen ist. Für die folgende Verdeutlichung des Begriffs anhand weiterer Fallbeurtei­ lungen ist die übliche Aufteilung nach Erhaltungs- und Eingriffsseite nur bedingt durchführbar. Ein Gut wird nämlich nur dadurch zum potentiellen Eingriffsgut, dass die Notbedingung der Zuordnung der jeweiligen Materie zu Jemandem eintritt (ein notstandsfähiges „Erhaltungsgut“ in Gefahr gerät und der Notleidende oder ein freiwilliger Notstandshelfer die Erwerbsbedin­ gungen in Bezug auf das Eingriffsgut als das an sich einem anderen zuste­ hende Gefahrabwendungsmittel herstellt, vgl. B.III.1.b)). 1. Zur Erhaltungsseite Auf der Erhaltungsseite notstandsfähig sind nach dem notstandsrechtli­ chen Grundbegriff angeborene Rechtsgüter. Solche sind auch dann betrof­ fen, wenn diesbezüglich Gefahrenlagen für unbestimmt viele Rechtsgutsin­ haber bestehen, wie das etwa bei schweren Straßenverkehrsordnungsverstö­ ßen oder (größeren) Bränden der Fall ist (dabei geht es nicht etwa um „Rechtsgüter der Allgemeinheit“, vgl. Fn. 437). Rechtsgüter der Allgemein­ heit im eigentlichen Sinne sind als Erhaltungsgüter allerdings nicht unmittelbar notstandsfähig; sofern also ihre Gefährdung nicht zugleich eine Ge­ fährdung höchstpersönlicher Güter in nicht geringem Ausmaß bewirkt (B.IV.1.a)aa)). Ein Rest von Unbestimmtheit verbleibt hinsichtlich der Erhaltungsseite, was die Gefährdung angeborener Güter in nicht unerheblichem, aber die Selbständigkeit der Person wiederum nicht bedrohendem Umfang angeht. So ist etwa das Abreißen und Beschädigen einer nachbarlichen Zaunlatte nicht nur zulässig zur Abwehr eines größeren Hundes, der schwere körper­ liche Verletzungen anrichten kann, sondern auch dann, wenn nur dadurch ein kleinerer Hund gestoppt werden kann, der ansonsten schmerzhafte und einer Heilung bedürftige, aber sonst nicht weiter schwere Bissverletzungen herbeiführen würde. Unzulässig (rechtswidrig) wäre die Tat hingegen, wenn



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen353

es dabei nur um die Vermeidung drohender physischer Unannehmlichkeiten ginge. Gefahrenlagen für bloß erworbene eigene Güter als hinreichende Erlaub­ nistatbestandsvoraussetzungen betreffend den gefahrabwendenden, einseiti­ gen Zugriff zu betrachten, wird durch den dargelegten Grundbegriff eines Notstandsrechts nicht zwingend vorgegeben. Eine dahingehende Entschei­ dung des positiven Gesetzgebers ist jedoch an sich noch nicht zu beanstan­ den, denn die Konkretisierung des Umfangs von Besitz- und Eigentums­ rechten ist dessen Aufgabe (B.IV.1.b)aa)). Der Wortlaut des § 34 StGB nennt „Eigentum“ explizit als Erhaltungsgut. Was die Auslegung der Norm insoweit angeht, so muss diese eng gefasst werden: Zulässig sein kann lediglich der Zugriff auf erworbene und ersetz­ bare Güter anderer, sofern die gefahrbetroffene Sache für das Lebens- und Handlungskonzept des Eigentümers eine große Bedeutung hat und dem potentielle Gefahrabwendungsmittel (der fremden Sache) für das Lebensund Handlungskonzept des an sich Nutzungsberechtigten konkret keine besondere Bedeutung zukommt. An der letztgenannten (negativen) Voraus­ setzung fehlt es, wenn die Gefahr des Sachverlustes für den an sich Nut­ zungsberechtigten zugleich dessen physische Befindlichkeit unterhalb der Erheblichkeitsschwelle zur Körperverletzung beeinträchtigen würde (wird diese Grenze überschritten, scheidet Notstandsrechtrechtfertigung sowieso aus). Keinesfalls gerechtfertigt ist also der Zugriff auf fremde Sachen zur Rettung eines wertvollen Pelzmantels vor Regen oder gar zur Wahrung von rechtlich nicht greifbaren Zukunftschancen (pawlikscher Konzertpianisten­ fall, siehe oben), wenn dieser Zugriff für den an sich Berechtigten mit physischen Unannehmlichkeiten verbunden wäre (etwa einem Nasswerden bei Entzug des Regenschirms). Der Marktwert des potentiellen Gefahrab­ wendungsmittels (der fremden Sache) ist dabei irrelevant; dessen völlige Marktwertlosigkeit änderte nichts. Notstandsrechtlich zulässig dürfte es etwa noch sein, wenn beispielswei­ se der Eigentümer / Besitzer seinen kleineren Hund über den Zaun eines fremden Grundstücks wirft, weil dies die einzige Möglichkeit ist, den ei­ genen Hund (ohne Inkaufnahme eigener körperlicher Verletzungen) vor der Zerstörung durch einen größeren fremden Hund zu bewahren, obwohl der kleine Hund auf dem fremden Grundstück – wie vom Besitzer vorherge­ sehen – beginnt, im dortigen Beet oder Rasen zu graben (§ 303 Abs. 1 StGB). Einerseits besteht zwar im grundbegrifflichen Sinne keine wirkliche Notlage, andererseits betrifft der Zugriff lediglich unkompliziert-ersetzliche Sachgüter mit konkret geringer Bedeutung für den Eigentümer. Nochmals: Die (mögliche) Bejahung einer Rechtfertigung der Sachbeschädigung nach § 904 S. 1 BGB (spezieller gegenüber § 34 StGB) folgt hier nicht mit Not-

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B. Auflösung der Aufgabe

wendigkeit aus einem apriorisch-bestimmbaren Notstandsrecht. Es handelt sich vielmehr um dessen Erweiterung durch den wirklichen Gesetzgeber bzw. der die Norm (§ 904 S. 1 BGB) so auslegenden Rechtsprechung. In Verbindung mit der verschuldensunabhängigen Schadensersatzregel des § 904 S. 2 BGB ist eine solche Bestimmung des Umfangs des (jeweiligen) Eigentumsrechts grundbegrifflich bzw. verfassungsrechtlich nicht zu bean­ standen. Als Grenzfall stellt sich auch der folgende, von Jakobs gebildete Fall dar566: Jemand schließt sein Fahrrad (oder: Kfz) weg, das ein benachbarter Bauer benutzen will, um sein erkranktes, wertvolles Vieh durch Herbeiholen von Medikamenten zu retten. Der Bauer hat keine andere Möglichkeit der Tierrettung (kein eigenes Fortbewegungsmittel, zu Fuß wäre er zu langsam, ein Tierarzt oder Bringdienst kann nicht erreicht werden). Das Vieh stirbt; ohne das Wegschließen wäre der Bauer an das Fahrrad (bzw. Kfz) des an­ deren gelangt; sein Vieh hätte überlebt. Besteht eine Pflicht des Fahrradei­ gentümers (bzw. -besitzers), den Zugriff des Bauern auf sein Rad notstands­ rechtlich zu dulden (§ 904 S. 1 BGB), sodass er durch das Wegschließen eine konkret-unzulässige Gefahr schafft und deshalb eine Sachbeschädigung zum Nachteil des Bauern (betreffend dessen Vieh) nach § 303 StGB ver­ wirklicht? Voraussetzung für eine solche Beschränkung des Umfangs der Eigentü­ mergebrauchsbefugnis ist zunächst eine Notstandslage, weiterhin ein er­ kennbarer Zugriffswille und eine physische Erreichbarkeit der Sache seitens des Notbetroffenen (dazu ausführlich B.III.1.b)). Eine grundbegrifflich-rele­ vante (enge) Notlage wäre zu verneinen, sofern die Gefahr des Verlustes des „wertvollen Viehs“ nicht auch die Existenz des Bauern als selbständige Person bedroht. Nach § 34 StGB kommt zwar Eigentum als Erhaltungsgut in Betracht. Eine akzeptable Erweiterung des (echten) Notstandsrechts kann jedoch die Ausschließlichkeit der Zuordnung einer Sache (hier des Fahrra­ des / Kfz) zum Eigentümer nicht auflösend bedingen bloß auf das Vorliegen wirtschaftlicher Unannehmlichkeiten oder Schwierigkeiten eines anderen. Das höbe die Eigentumsordnung in letzter Konsequenz auf. Es liegt viel­ mehr im Verantwortungsbereich eines Sacheigentümers, sich insoweit gegen solche Probleme abzusichern bzw. zu versichern. Einen notstandsrechtlichen Erwerb der erforderlichen Nutzungsmöglich­ keit hinsichtlich des Fahrrades durch den Bauern kann man wohl nur beja­ hen, wenn man den Fall wie folgt zuspitzt: Durch eine seltene Infektion des Viehs, in Bezug auf welche sich auch einem vorausschauend denkenden Bauern eine spezielle Vorsorge nicht aufdrängen muss, droht der Verlust des 566  Jakobs,

AT 7 / 63.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen355

Viehs, welche für den Bauern eine gewaltige wirtschaftliche Einbuße bedeu­ tete, wohingegen der Fahrradeigentümer für den Zeitraum der seitens des Bauern beabsichtigten Nutzung keine aktive Nutzung seines Rades / Kfz vorhat. Wenn hier ein notstandsrechtlicher Erwerb des Rades / Kfz bloß zur gefahrabwendenden Nutzung seitens des Bauern bejaht wird, dann verwirk­ licht das Wegschließen durch den Eigentümer nach begonnenem Erwerbsakt seitens des Bauern – welcher die Gebrauchsbefugnis des Eigentümers eben beschränkt – jedenfalls objektiv-tatbestandlich eine Sachbeschädigung zum Nachteil des Bauern567. 2. Zur Eingriffsseite Auf der Eingriffsseite stehen (der Idee nach aus ursprünglichem Ge­ meinbesitz stammende) erworbene Güter einem Notstandszugriff an sich offen, sofern ein Zugriff zur Abwendung von Gefahren für ein potentiell notstandsfähiges Erhaltungsgut erforderlich ist568 und der an sich Ge­ brauchsbefugte nicht selbst zur Wahrung angeborener Güter auf eine aus­ schließliche Sachnutzung angewiesen ist. Staatliches Handeln zur Gefah­ renabwehr mit Auswirkungen auf Güter von Unbeteiligten (Nicht-Gefahr­ verantwortlichen, sogen. „polizeilicher Notstand“) ist als staatliche Notstandshilfe rechtlich-unproblematisch, sofern diese Kriterien eingehalten werden. Deshalb müssen polizei- und ordnungsrechtliche Rechtsgrundlagen betreffend den Zugriff auch auf Güter von Nichtstörern entsprechend eng ausgelegt werden. Im Einzelnen und Konkreten:

567  Dogmatisch ist diese notstandsrechtliche Frage im Rahmen der Prüfung einer Strafbarkeit des Fahrradeigentümers wegen Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 1 StGB auf Tatbestandsebene – nämlich im Rahmen der objektiven Zurechnung des Viehtodes als möglichem Sachbeschädigungserfolg zur Handlung des Wegschlie­ ßens – zu beantworten: Setzte der Radeigentümer eine rechtlich nicht-seinsollende (missbilligte) Gefahr, indem er einem rettenden Kausalverlauf durch Wegschließen des Rades in den Weg trat oder sicherte er nur sein Eigentum gegen unberechtigten Zugriff? Das hängt eben davon ab, ob der Bauer die zur Viehrettung erforderliche (seitens des Eigentümers vereitelte) Fahrradnutzung notstandsrechtlich erwarb oder nicht (positivrechtlich nach § 904 S. 1 BGB, der insoweit die gegenüber § 34 StGB speziellere Zugriffsrechtsgrundlage enthält). 568  Die Erforderlichkeit des Zugriffs auf an sich anderen zustehende Güter zur Gefahrabwendung ist selbstverständlich stets vorausgesetzt: Sofern ein milderes Mittel tauglich ist (etwa die Nutzung bloß eigener Mittel des Notbetroffenen oder die Inanspruchnahme staatlicher Gefahrenabwendungsinstitutionen oder privater frei­ williger Dienstleistungen), sind diese zu wählen; ein einseitiger Notstandszugriff ist dann ausgeschlossen.

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B. Auflösung der Aufgabe

a) Feste Grenze: Keine ohne Willen des Inhabers erfolgende Körperverletzung, keine Nötigung zu aktiven Hilfeleistungen Rechtlich ausgeschlossen ist ein unmittelbarer Zugriff auf den Körper (Leib oder gar Leben) anderer ebenso wie Nötigungen zu aktiven Hilfeleistungen. Körperverletzungen im Sinne der §§ 223 ff. StGB oder Nötigungen zu Hilfsdiensten (§ 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB) sind nicht nach § 34 StGB ge­ rechtfertigt; das beeinträchtigte Rechtsgut wird nicht im Sinne dieser Norm wesentlich überwogen; die Tat ist kein „angemessenes Mittel“ der Gefahr­ abwendung im Sinne von § 34 Satz 2 StGB. Rechtswidrig sind also etwa eine heimliche Organentnahme durch einen Arzt zur Rettung eines anderen, die oft diskutierte zwangsweise Blutentnah­ me zur Rettung des Lebens eines Verletzten oder eine mit Gewalt oder Drohung erfolgende Abnötigung der Zustimmung zu einer Blutentnahme ebenso wie die gewaltsame oder drohende Nötigung, einen Verletzten in ein Krankenhaus zu fahren oder sonst aktiv-helfend tätig zu werden. Zum Körper des Menschen als realer Person gehört alle damit nicht bloß äußerlich verbundene Materie: Neben dem biologisch gewachsenen Körper stehen einem Notstandszugriff auch solche – ursprünglich körperfremden – Gegenstände nicht zur Verfügung, die in den Körper eines lebendigen Men­ schen integriert wurden (Implantate) bzw. damit so verbunden sind, dass eine Trennung nicht ohne Eingriff in die Körpersphäre möglich ist. Insoweit kann auf die in Literatur und Rechtsprechung zutreffend herausgearbeiteten Kriterien der Bestimmung des Umfangs des Tatbestands der Körperverlet­ zung (§ 223 Abs. 1 StGB) gerade in Abgrenzung zum Tatbestand der Sach­ beschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) Bezug genommen werden, wonach ein­ gesetzte Implantate zum menschlichen Körper gehören, während bloß äu­ ßerlich angesetzte Prothesen oder dauerhaft abgetrennte Körperteile (etwa entnommene Proben, gespendetes Blut) bloße Sachen darstellen569. 569  Siehe etwa Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder, § 223, Rn. 3a m. w. N.; Hardtung, JuS 2008, 864 ff. Der lebendige menschliche Körper ist hinreichende Voraussetzung des Urteils auf das Dasein einer (realen) Person; der Körper als Ein­ heit ist in seinem jeweiligen So-Sein rechtlich ausschließlich dem „darin“ / “dahinter“ zu denkenden (intelligiblen) Jemand zugeordnet. Dies ist jedem Privatrechtsakt vo­ rausgesetzt und von den Teilnehmern des Privatrechtsverkehrs wechselseitig stets entsprechend vorauszusetzen. Insofern kommt es für die Bestimmung der realen Person weder darauf an, dass Körperwachstum die Zuführung von Nahrung als einer zuvor erwerblichen Materie voraussetzt, noch dass etwa ein implantierter Herz­ schrittmacher oder ein Silikonimplantat erwerbliche Güter waren, solange sie extrakorporal waren. Insbesondere verlieren Implantate mit der Integration in den menschlichen Körper ihre Sacheigenschaft unabhängig davon, ob es sich um funk­



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen357

Die insoweit strittige Frage, ob ein vom lebendigen Körper abgetrennter Körperteil dann (noch) Körperbestandteil im Sinne des § 223 StGB ist, wenn er innerhalb eines engen zeitlich-räumlichen Rahmens wieder funktional in den Körper des Inhabers integriert werden soll570, ist unter dem hier interessierenden Aspekt der Verfügbarkeit als Notstandszugriffsobjekt nicht entscheidungserheblich: Ein solcher Gegenstand – etwa Gewebe, das einem Patienten zum Zwecke der Rekonstruktion im Rahmen einer Operation entnommen wurde – ist jedenfalls deshalb kein einem Notstandszugriff zur Verfügung stehendes Objekt, weil der eigentliche Inhaber (Patient) selbst auf diesen Gegenstand zur Wahrung seiner Körperintegrität konkret ange­ wiesen ist. Unter dieser Bedingung entsteht ein Notstandsrecht zum Zugriff auf einen Gegenstand nach dem dargelegten Notrechtsbegriff auch dann nicht, wenn der Gegenstand eine bloße Sache ist. Ebenfalls nicht durch Notstand gerechtfertigt sein können Verleumdungen im Sinne von § 187 StGB: Wenn jemand – und sei es unter Todesandrohung (Lebensnotstand) – gezwungen wird, unwahre ehrenrührige Tatsachenbe­ hauptungen betreffend eine andere Person (ohne deren Einverständnis) ge­ genüber Dritten zu tätigen, handelt es sich bei den Verleumdungen um rechtswidrige Taten. Denn: Das dadurch verletzte allgemeine Persönlich­ keitsrecht kommt jeder Person zwar nicht in Form eines Anspruchs auf positive Entgegenbringung besonderer Achtung oder Ehre zu, aber als Recht, nicht durch falsche Tatsachenbehauptungen gegenüber Dritten in deren Vorstellungen (nach deren ggf. zutreffender Wertung auf Grundlage eben fälschlich angenommener Tatsachen) herabgewürdigt zu werden. Es ist (in diesem Ausschnitt) ein aus der Menschenwürde selbst entspringendes angeborenes Recht. Es kann somit nicht auf eine Angewiesenheit anderer auf negative Veränderung des Ansehens der Person bedingt sein (solche notstandsbedingten Taten sind, sofern die weiteren Voraussetzungen vorlie­ gen, lediglich nach § 35 StGB entschuldigt). Diese Eingriffsgrenze (kein einseitiger Zugriff auf zur realen Person ge­ hörende Materie) darf auch bei staatlicher „Inanspruchnahme“ von Nicht­ störern (im sogen. „polizeilichen Notstand) nicht überschritten werden. Aus der Qualifikation der Personen als Staatsbürger im Rechtsstaat ergeben sich tionsersetzende „Substitutiv“-Implantate (Zahnplomben etc.) oder unterstützende „Supportiv“-Implantate (etwa Herzschrittmacher) handelt. Hardtung bildet diesbe­ züglich eine treffende Analogie zum Inhalt der §§ 947 Abs. 2, 93 BGB, wonach „wesentliche Bestandteile“ einer Hauptsache bzw. eines größeren Ganzen keine ei­ gentumsfähigen Sachen mehr sind, sondern die „rechtliche Eigenschaft“ des Gan­ zen / der Hauptsache übernehmen, Hardtung, JuS 2008, 864, 865. 570  Dafür etwa Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder, § 223, Rn. 3a  m. w. N. auch zur Gegenauffassung; ebenso Hardtung, JuS 2008, 865.

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B. Auflösung der Aufgabe

insoweit (Gefahrenvorsorge und -abwendung) nämlich gerade keine weitergehenden Übertragungen angeborener Güter (dazu B.III.2.). b) Notstandszugriffe auf erworbene Sachgüter: Konkretisierungen Nach dem dargelegten Notrechtsgrund (ursprünglicher Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie und ursprüngliche Teilung durch allseitig-einseitigen Erwerb, B.III.1.b)) sind erworbene Sachgüter soweit der einzige – aber sich in grundbegrifflicher Konstruktion eben auch mit Notwendigkeit ergeben­ de – Zugriffsgegenstand eines Notrechts. Denn die Anerkennung von aus­ schließlichen Sondergebrauchsbefugnissen anderer betreffend Sachen ist vernunftnotwendig auflösend-bedingt auf die Nichtangewiesenheit zum Selbsterhalt als selbständige Person. Lediglich die mit dem Terminus „Aggressiv-Notstand“ bezeichneten Kon­ stellationen, deren rechtlichen Konsequenzen positivrechtlich insbesondere die §§ 904 BGB, 34 StGB, 16 OWiG regeln, sind Notstandskonstellationen im eigentlichen (grundbegrifflichen) Sinne. Denn nur in diesen Konstellatio­ nen kommt es entscheidungserheblich auf die auflösende Sachzuordnungsbe­ dingung der Not in Gestalt einer die Person in ihrer Selbständigkeit gefähr­ denden Situation an. Der Einbezug von Eigentum auf der Erhaltungsseite ist eine Erweiterung des Notstandsrechts durch den positiven Gesetzgeber (B.V.1.). Sofern es demgegenüber um den Zugriff auf eine fremde Sache geht, „durch“ welche Gefahr droht, liegt der Grund des – positivrechtlich nach § 228 BGB zulässigen – Zugriffs nicht in diesem Notstandsrecht im eigentlichen Sinne, sondern in einer erwerbs(grund)rechtlichen Selbstverständlich­ keit: Der Erwerb einer Sache durch eine Person zu Eigentum bewirkt stets deren Zustehen zur ausschließlichen Sondernutzung zu dieser Person im Verhältnis zu allen anderen Personen. Dass die damit verbundene Ausschließungsbefugnis (positivrechtlich § 903 BGB) gar nicht impliziert, be­ stehende Ausschließungsbefugnisse anderer Personen hinsichtlich der von ihnen zur Sondernutzung (etwa zu Eigentum) erworbenen Sachen aufzuhe­ ben, versteht sich von selbst: Der Umfang der Ausschließungsbefugnis des Eigentümers ist begrenzt auf eine Nutzung, welche andere (und deren Gü­ ter) nicht beeinträchtigt. Die Zulässigkeit eines erforderlichen Zugriffs auf die gefahrträchtige fremde Sache seitens anderer zur Wahrung ihrer Güter setzt keine besondere „Not“ voraus (das Außer-Verhältnis-Stehens des durch den Sachzugriff an der gefahrträchtigen Sache entstehenden Schadens zur Gefahr im Sinne von § 228 BGB ist richtigerweise ganz eng auszulegen, siehe oben B.IV.1.b)).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen359

Wenn eine grundbegriffliche Konstruktion des Rechtsverhältnisses – be­ ginnend mit der realen Person („inneres Mein“) und fortschreitend zum Erwerbsrecht – unterlassen wird, bleibt die Differenz unklar zwischen einer selbstverständlichen Eigentumsumfangsbestimmung einerseits (§ 228 BGB) und andererseits einem durch Einbezug von Eigentum auf der Erhaltungs­ seite erweiterten Notstandsrecht (§§ 34 StGB, 904 BGB, welches in dieser Erweiterung zwar möglich, jedoch keineswegs geboten erscheint). Zur Verdeutlichung des Verhältnisses der Normen seien folgende Kons­ tellationen besprochen: aa) Zerstörung einer gefahrträchtigen Sache unter § 228 S. 1 BGB Der folgende Fall ist von Michael Pawlik gebildet worden. Dessen dies­ bezügliche Ausführungen zeigen, dass selbst Pawlik sowohl die prinzipielle Differenz hinsichtlich des Zustehens „angeborener“ Materie und erworbener Materie, als auch die sachliche Differenz zwischen der Norm des § 228 BGB (die eigentlich eine bloße Gebrauchsumfangsregel ist571) und einem wirklichen Notstandsrecht im Sinne von § 904 S. 1 BGB verkennt572: Ein Hund läuft dem Eigentümer trotz guter Beaufsichtigung davon und attackiert einen Jogger, der den Hund so lange schlägt, bis der Hund von ihm ablässt. Dem Hundeigentümer entstehen Tierarztkosten in Höhe von 400 €573. Pawlik nimmt richtigerweise an, die Sachbeschädigung sei gemäß § 228 S. 1 BGB gerechtfertigt. Verfehlt ist seine Begründung: Die körperlichen Beeinträchtigungen durch Hundebisse seien „von ihren Auswirkungen auf die weitere Lebensführung des Betroffenen her einem mäßigen finanziellen Verlust jedenfalls gleichwertig“; der Betroffene könne dem (seinen Rechts­ kreis ordnungsgemäß organisierenden) Eingriffsadressaten im Defensivnot­ stand jedoch einen „einfach größeren Schaden“ zufügen.

571  Vgl. B.IV.1.b); demnach ist es nicht sinnhaltig, wenn Pawlik (Jura 2002, 30) hinsichtlich der sogen. Defensivnotstandsrechtfertigung im Sinne von § 228 BGB eine „Sonderzuständigkeit in Form einer erhöhten Pflicht zur Duldung fremder Ein­ griffe“ in die eigene Rechtssphäre annimmt: Es tritt (ggf. durch Naturzufall) die auflösende Bedingung der ausschließlichen Zuordnung der Sache zum Eigentümer ein; auf eine „Sonderzuständigkeit“ des Eigentümers für die Gefahr (oder was im­ mer das ansonsten heißen soll) kommt es als Rechtfertigungsmerkmal gerade nicht an. 572  Das betrifft also schon das Denken eines bedürfnisunabhängigen – und damit überhaupt nur gültigen – Notstandsrechts überhaupt, vgl. B.III. 573  Pawlik, Jura 2002, 29–30.

360

B. Auflösung der Aufgabe

Wie hoch die zur Ersetzung erforderlichen Aufwendungen des Eigentü­ mers sind, spielt – entgegen Pawlik – überhaupt keine Rolle: Mögen sie noch so hoch sein, so hat rechtlich niemand körperliche Verletzungen durch außer Kontrolle geratene Sachgefahren hinzunehmen574. Sollte eine tierärzt­ liche Behandlung gar mehrere zehntausend Euro kosten und den Hundeei­ gentümer finanziell überfordern, so müsste er seinen Hund eben einschläfern lassen. Das Schlagen eines beißenden fremden Hundes wäre, soweit zur Erreichung des Ablassens erforderlich, selbst dann gerechtfertigt (positiv­ rechtlich nach § 228 BGB), wenn der Hund sich etwa nur in eine mitge­ führte Einkaufstasche eines Fußgängers verbissen hätte. Auch eine solche Beeinträchtigung des Eigentums durch physische Zwangseinwirkung braucht niemand hinzunehmen. Das Pech des Kontrollverlusts in Bezug auf den Hund trifft richtigerweise dessen Eigentümer. Auch insoweit sind die entste­ henden tierärztlichen Kosten für die Fallbeurteilung nicht erheblich (die im Übrigen in der Handlungssituation gar nicht absehbar und schon gar nicht im Maß ihrer bedrückenden Auswirkungen bestimmbar sind, weil letzteres selbstverständlich nur relativ zum wirtschaftlichen Vermögen des Hunde­ eigentümers geschehen könnte). Auch hinsichtlich Notstandsfallbeurteilungen im eigentlichen Sinne (Ag­ gressivnotstands-Taten) kommt es in Literatur und Rechtsprechung – als Folge des Verkennens der Differenz betreffend die Zuordnung von angeborener Materie zu Jemandem (Annahme einer realen Person überhaupt) einerseits und andererseits erworbener Materie zur realen Person durch deren willentlichen Akt in Bezug auf einen (ideell) ursprünglichen Gemeinbesitz­ stand – zu Fehlern. Das gilt sowohl was Begründungen als auch Ergebnisse angeht. Dabei liegen die Fehler, wie demgemäß zu erwarten, tendenziell stets darin, dass einerseits Notstandsrechtfertigungen in deutlich zu weitem Ausmaß bejaht werden, obwohl jemand auf angeborene (nicht auf das Be­ dürfnis von irgendjemandem bedingte) Güter zugreift: Entgegen etwa Roxin ist eine zwangsweise Blutentnahme zur Lebensrettung ebenso rechtswidrig, wie – entgegen etwa Jakobs, Pawlik oder Perron – es die Abnötigung einer sonstigen aktiven Hilfeleistung von einem Unbeteiligten ist (etwa eine Fahrt in ein Krankenhaus; dazu B.IV.2. und B.V.1.). Andererseits wird – ebenfalls entsprechend dem grundlegenden Begriffs­ mangel – teilweise die Notstandsrechtfertigung (positivrechtlich nach §§ 904 S. 1 BGB, 34 StGB) zu eng gefasst, wenn es um Sachzugriffe auf Güter von Unbeteiligten zur Abwendung von Gefährdungen der Körperintegrität anderer in bedeutendem Ausmaß geht: 574  Unzutreffend auch Ellenberger, in: Palandt, § 228, Rn. 8, der meint, wenn es sich um eine „besonders wertvolle Sache“ handelt, „muss unter Umständen eine geringfügige Körperverletzung hingenommen werden“.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen361

bb) Zerstörung einer ggf. wertvollen, ungefährlichen Sache zur Abwendung von Körpergefahren Pawlik etwa beurteilt folgenden – eher lebensfremd gebildeten – Fall: Zwei volljährige Personen (A und B) betreten „das Grundstück des Akti­ onskünstlers K. … und werfen von dort aus gefährliche Feuerwerkskörper auf Passanten. K, der aufgrund seiner großen Körperkräfte ohne weiteres dazu fähig wäre, A und B an ihrem Tun zu hindern, schreitet nicht ein, weil er die Performance nicht stören will. Passant P ergreift den zufällig am Hauseingang lehnenden, außerordentlich kostbaren Spazierstock des K und vertreibt mit dessen Hilfe die beiden Unruhestifter. Wie von P vorhergese­ hen, geht der Spazierstock dabei entzwei“575. Damit daraus überhaupt ein notstandsrechtlich interessanter Fall wird, muss dieser dahingehend verstanden (bzw. ergänzt) werden, dass dem P zu seiner Notstandshilfe zugunsten der Passanten kein milderes Mittel zur Ver­ fügung stand; ansonsten fehlte es an dem allgemeinen Rechtfertigungsmerk­ mal der Erforderlichkeit der Notstandstat. So darf P keine Möglichkeit ha­ ben, die Polizei in absehbarer Zeit herbeizurufen oder die Passanten bis dahin ausreichend zu warnen, ebenso keine Möglichkeit, A und B ohne oder nur mittels eigenen Werkzeugs zu vertreiben und es muss die Erforderlich­ keit des den Stock zerstörenden Notwehr(hilfe)gebrauchs gegen die rechts­ widrig Angreifenden A und B gegeben sein. Pawlik geht – insoweit zutreffend – davon aus, dem K sei das Verhalten von A und B weder zuzurechnen, noch treffe K eine Rechtspflicht zum aktiven Einschreiten, da sein faktisches Können kein Sollen begründe576. Deshalb könne „gegen K’s Sachen … nur nach den Regeln des Aggressiv­ notstands vorgegangen werden“. Obwohl Pawlik annimmt, dass „im Aggressivnotstand vom Eingriffsad­ ressaten die solidarische Aufopferung einiger Rechtsgüter gefordert wird“, 575  Pawlik,

Jura 2002, 28. ist soweit nach dem von mir dargelegten Konzept unbezweifelbar richtig, nicht aber nach Pawliks eigenem Ansatz (Kritik daran schon oben B.IV.2.dd)). So­ wieso wird anhand solcher Fälle erneut plastisch, dass die Annahme einer ursprüng­ lichen oder staatsbürgerlichen Hilfspflicht als Rechtspflicht von ihren Befürwortern nicht durchgehalten wird: Wenn man, wie u. a. Pawlik, eine solche bejaht, weshalb hat im obigen Fall dann der K die ihm ohne Weiteres mögliche Gefahrabwendung nicht vorzunehmen? Zwar ist im zu beurteilenden Sachverhalt noch kein „Unglücks­ fall“ im Sinne des § 323c StGB eingetreten. Sofern hinter der Behauptung einer Hilfspflicht als Rechtspflicht aber ein „solidarischer“ oder „quasi-institutioneller“ Gedanke stecken soll, ist es sachlich gar nicht einzusehen, die Hilfe erst im Falle des Eintritts einer schweren Verletzung für rechtlich-geschuldet zu halten, während das genüssliche Beobachten des Verletzungsgeschehens trotz einfacher Abwendungs­ möglichkeit zulässig sein soll. 576  Das

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B. Auflösung der Aufgabe

lautet sein Ergebnis diesbezüglich: „Danach ist die Zerstörung des außeror­ dentlich wertvollen Spazierstocks nicht gerechtfertigt: Derartig massive Opfer dürfen einem Unbeteiligten nicht abverlangt werden“577. Das ist zweifach verkehrt: Erstens gibt es keine Pflicht zur „solidarischen Aufopferung von Rechts­ gütern“. Die rechtliche Gegenstandszuordnung ist stets (auflösend) bedingt auf die Nichtangewiesenheit anderer zum Selbsterhalt als (selbständige) Person. Das Rechtsgut Eigentum ist also nur vermeintlich verletzt, wenn jemand unter diesen Voraussetzungen auf eben nur ansonsten (bei Nichtvor­ liegen dieser Voraussetzungen) ausschließlich anderen zustehende Gegen­ stände zugreift. Mit „Aufopferung“ (gar „solidarischer“) hat dies (wie dar­ gestellt, B.III.1.b. und B.IV.) nichts zu tun. Zweitens ist – damit zusammenhängend – die pawliksche Beurteilung auch im Ergebnis falsch: Der Sachverhalt ist doch so zu verstehen, dass das Werfen der „gefährlichen Feuerwerkskörper“ eine erhebliche Bedrohung der Körperintegrität anderer Menschen darstellt. Es liegt also seitens A und B ein gemeinschaftlich begangener rechtswidriger Körperverletzungsversuch zum Nachteil der Passanten im Sinne von §§ 223 Abs. 1, Abs. 2, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 4, Abs. 2, 22, 25 Abs. 2 StGB und damit ein rechtswidriger Angriff auf angeborene Güter anderer Menschen im Sinne von § 32 StGB vor578. Wenn jemand zur Notwehrverteidigung zur Verhinderung von nicht unerheblichen Körperverletzungen zum Nachteil seiner selbst oder eines Dritten auf den Gebrauch einer fremden Sache angewiesen ist (der Zugriff erforderlich ist) und das eigentliche Zustehenssubjekt (der Vorerwerber, hier der K) nicht zur Wahrung eigener angeborener Güter ebenfalls darauf ange­ wiesen ist, dann ist der Zugriff zulässig. Es besteht eine Gebrauchsbefugnis insoweit, wie die Nutzung der Sache zur Abwendung der spezifischen Ge­ fahr erforderlich ist. Das ist hier der Fall: Der Passant P (als Notstandshel­ fer) kann ohne Benutzung des Stockes des K den rechtswidrigen Angriff durch A und B nicht ohne Hinnahme eigener erheblicher körperlicher Be­ einträchtigungen beenden. K selbst ist zu seinem Fortkommen nicht auf diesen Stock angewiesen; wie sonst könnte es ihm „ohne weiteres möglich“ sein, A und B durch körperliche Präsenz oder Aktivität zu vertreiben? Die Voraussetzungen des Erlaubnissatzes Notstand liegen vor.

577  Pawlik,

Jura 2002, S. 27 und 28. jemand anzweifeln, dass die Sachverhaltsbeschreibung die Annahme von Körperverletzungsvorsatz bei A und B jedenfalls in Form von dolus eventualis trägt (obwohl diese die „gefährlichen Feuerwerkskörper auf Passanten“ werfen), so änderte die Verneinung dessen jedenfalls nichts daran, dass das Werfen in Richtung der Passanten einen rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt. 578  Sollte



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen363

Wenn man dieses nach dem dargelegten Maßstab zustande gekommene Ergebnis in die Terminologie des aktuellen positiven Rechts (§ 904 S. 1 BGB, § 34 StGB) kleiden möchte, dann muss man sagen: Das geschützte Interesse überwiegt das beeinträchtigte wesentlich579. Die seitens P began­ gene Tat gegen A und B ist im Verhältnis zu diesen gemäß § 32 StGB (Notwehrhilfe), die Sachbeschädigung und ein etwaiger Hausfriedensbruch zum Nachteil des K sind nach § 904 S. 1 BGB gerechtfertigt. Übrigens wäre auch ein Zugriff eines einschreitenden Polizisten auf den Spazierstock des K – sofern denn erforderlich (wofür der seltsame Fall noch weiter ins Lebensfremde verschoben werden muss, sodass auch der Polizist konkret kein sonstiges taugliches Mittel zur Beendigung des Angriffs von A und B in gebotener Zeit herbeischaffen kann) – nach den Regeln der „In­ anspruchnahme von Nichtstörern“ („polizeilicher Notstand“) rechtlich un­ problematisch möglich. Auch insoweit handelte es sich selbstverständlich um Notwehrhilfe betreffend den Zugriff auf die Störer A und B und um Notstandshilfe betreffend den Zugriff auf das Eigentum des Grundstücksin­ habers K. cc) Beschädigung einer fremden Sache nach pflichtwidriger Mitverursachung der Notstandslage (vorangegangene rechtswidrige Provokation eines anderen und actio illicita in causa) Nicht gleichermaßen selbstverständlich erscheint die Lösung, wenn zur Durchführung einer im Verhältnis zu einem rechtswidrig Angreifenden er­ forderlichen und gebotenen Notwehrhandlung die Sache eines Dritten be­ nutzt und dabei beschädigt wird, wobei – insoweit abweichend von obiger Konstellation – der Notwehrübende (Verteidiger) den rechtswidrigen Angriff auf sich zuvor provoziert hat.

579  Entgegen Pawlik hat – wiederum (siehe schon oben zum Fall der Beschädi­ gung eines beißenden Hundes) – der Wert der beschädigten Sache keine unmittelba­ re Relevanz für die Notstandsrechtfertigungsfrage (im Fall des vom Hund attackier­ ten Joggers dürfte dieser zum Schlagen auch eine ggf. wertvolle Sache eines ­anderen, z. B. den Regenschirm des Hundebesitzers, benutzen, wenn er nur so erheblichere körperliche Verletzungen seiner selbst abwenden könnte). Den Wert der Sache hat im Übrigen (auch) der rechtmäßig handelnde Notstandstäter zu ersetzen. Wenn ­Pawlik einerseits bezüglich der Beschädigung eines (wertvollen) Spazierstocks zur Abwendung erheblicher Körperverletzungen eine Rechtfertigung verneint (obwohl der Eigentümer zu seinem Fortkommen gar nicht auf den Stock angewiesen ist), aber andererseits die Wegnahme eines fremden Regenschirms bei Regen durch einen Musiker, der bloß trocken zu seinem Konzert gelangen will (mit der Folge, dass der vorherige Schirmbesitzer durchnässt wird), für gerechtfertigt hält, dann ist das nach dem hier dargelegten Ansatz als evident widersprüchlich zu beurteilen.

364

B. Auflösung der Aufgabe

Dazu folgender Fall, der von Reinhard Merkel gebildet wurde580: R gerät in seiner Stammkneipe mit dem schmächtigen E in einen Streit über politische Themen. In dessen Verlauf geht R dazu über, jedes seiner Argumente mit dem Zusatz „du Riesenrindvieh“ zu versehen, was sich E mehrfach scharf, aber erfolglos verbittet. Schließlich springt E wütend auf, zieht ein Messer, mit dem er sehr geübt umgehen kann und geht mit dem Satz „Jetzt werde ich dir das Maul stopfen!“ auf R zu. Dieser weicht lang­ sam bis in eine Ecke der Kneipe zurück, hört aber nicht auf, den E, dem er körperlich überlegen ist, ein Rindvieh zu nennen. Als E bis auf ca. drei Meter herangekommen ist, legt R einen Wirtshausstuhl um und tritt ein Stuhlbein ab, um sich damit zu verteidigen. Ohne dieses hätte sich R höchs­ tens unter Inkaufnahme schwerster körperlicher Verletzungen gegen E ver­ teidigen können Nun reicht es dem Wirt, der im letzten Moment dazwischentritt und R und E trennt. Fraglich ist im Rahmen unseres Themas, ob die durch Abtreten des Stuhl­ beins seitens R tatbestandlich verwirklichte Sachbeschädigung im Sinne von § 303 Abs. 1 StGB zum Nachteil des Wirtes gemäß § 904 S. 1 BGB ge­ rechtfertigt ist oder nicht581. Eine gegenwärtige Gefahr für den Körper und eventuell auch das Leben des R lag mit dem Messerangriff durch E vor. Die konkrete Notstandshand­ lung (Abtreten des Stuhlbeins) war zur Gefahrabwendung auch erforderlich: Erforderlich ist diejenige Handlung, die eine sofortige Abwendung der Gefahr erwarten lässt. Allerdings sind beim Notstandszugriff als einem Zu­ griff auf Güter Dritter (von Nicht-Angreifern) auch Ausweichen, Flucht und Herbeirufen staatlicher Hilfe einzubeziehende Möglichkeiten. Hier ist die Wirkung des Unterlassens der Äußerung „Rindvieh“ (als hinreichender Grund für E zum Abbruch seines Angriffs) zur Gefahrabwendung objektiv ex ante ungewiss (bei Tatsachenzweifeln betreffend das Vorliegen materiel­ ler Strafbarkeitsvoraussetzungen ist der Grundsatz in dubio pro reo heran­ zuziehen). Auch andere hinreichend sichere Möglichkeiten zur Gefahrab­ wendung sind nicht ersichtlich. 580  Die Beurteilung des von Reinhard Merkel im Original erzählerisch schöner ausgeschmückten Falles war Teil einer von ihm gestellten Hausarbeit für Studen­ ten. 581  Selbstverständlich ist, dass die Voraussetzungen des Notwehrrechts (§ 32 StGB) in Bezug auf diese Tat nicht vorliegen: Das Notwehrrecht besteht nur gegen den rechtswidrig Angreifenden. Ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff ging vom Eigentümer des Stuhls (dem Wirt) nicht aus. § 904 S. 1 BGB ist die gegenüber § 34 StGB speziellere Notstandsrechtfertigungsnorm betreffend den Zugriff auf fremde Sachen.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen365

Weiterhin müsste im Sinne des (unbestimmten Merkmals des) § 904 S. 1 BGB der „drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Ei­ gentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß sein“. Bei einer dem dargelegten Notstandsgrundbegriff gemäßen Auslegung des § 904 S. 1 BGB ist der drohende Verlust von Leben bzw. Körperintegrität gegenüber der Beeinträchtigung eines einzelnen Eigentumsgegenstandes an sich „un­ verhältnismäßig groß“ (vgl. B.IV.1.b)). Fraglich ist aber, ob und ggf. wie zu berücksichtigen ist, wenn jemand seine Notlage durch rechtswidriges Fehlverhalten (hier: rechtswidrige Pro­ vokation) mitverursacht hat. Denn entscheidungserheblich ist: War R trotz rechtswidrigem provozierendem, nämlich beleidigendem (Vor-)Verhalten zur konkreten Verteidigungshandlung gegen E (Schlagen mit dem Stuhlbein) gemäß § 32 StGB berechtigt? Nur dann kommt Notstandsrechtfertigung in Bezug auf die Sachbeschädigung zum Nachteil des Wirtes in Betracht. Wenn es hingegen schon an einer rechtmäßigen Notwehrreaktion auf den Angriff des E fehlte, dann ist jedenfalls auch der Zugriff auf an sich einem Dritten zustehende Güter (Beschädigung bzw. Zerstörung des Stuhls) als Mittel zur dann rechtswidrigen konkreten Verteidigungshandlung nicht nach § 904 S. 1 BGB zulässig. R befand sich im Handlungszeitpunkt in einer Notwehrlage gegenüber E. Denn E führte einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB gegen R durch: Zwar befand E sich wegen der fortdauernden Äußerungen des R („Rindvieh“) selbst in einer Notwehrlage. Allerdings ist die Erforderlichkeit seines Messereinsatzes als Verteidigungshandlung (Ver­ such einer gefährlichen Körperverletzung, §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 22 StGB oder gar eines Totschlags) nicht gegeben: Objektiv ex ante kann auch eine andere, jedenfalls weniger verletzungsträchtige Weise des Körper­ zugriffs als zur sofortigen Beendigung des Ehrangriffs für geeignet gehalten werden (etwa ein Schlag des E gegen R mit der Hand, ggf. mit der Faust)582. Die Handlung des Schlagens mit dem Stuhl als Verteidigungshandlung war trotz des Unterschiedes der Körperkräfte in Anbetracht des Messerein­ satzes durch E abstrakt betrachtet erforderlich. Fraglich ist aber, ob und wie es sich auf den Umfang der Notwehrbefugnisse auswirkt, wenn durch rechtswidriges Vorverhalten zu dem Angriff provoziert wurde. Die Beant­ 582  Selbst wer die Erforderlichkeit zur Abwehr der Beleidigung abstrakt annähme, müsste fehlende Gebotenheit der Notwehrhandlung des E in Anbetracht eines „kras­ sen Missverhältnisses“ feststellen: Durch die wiederholte Äußerung desselben Wor­ tes wurde der Ehrangriff auf E durch R (der zwar § 185 StGB verwirklichen, aber an der straftatbestandlichen Untergrenze liegen dürfte) nicht vertieft. Ein gegenwär­ tiger rechtswidriger Angriff seitens E und somit eine Notwehrlage des R sind jeden­ falls zu bejahen.

366

B. Auflösung der Aufgabe

wortung dieser Frage ist umstritten. Hier handelt es sich zwar um eine be­ wusste, nicht jedoch um sogenannte „Absichtsprovokation“ durch R. Über­ wiegend (und richtigerweise) wird angenommen, das Maß bzw. der Umfang des Notwehrrechts sei bei rechtswidrigem provozierenden Vorverhalten re­ duziert583: Es sei Ausweichen zu verlangen, wenn dies ohne körperliche Verletzungen möglich sei; im Übrigen sei ein (im Vergleich zum Maß der Verteidigung bei nicht-provoziertem Notwehrangriff) zur Abwendung weni­ ger sicheres, für den Angreifer weniger verletzungsträchtiges Mittel einzu­ setzen. Dabei seien leichte Verletzungen hinzunehmen. Die Subsumtion des Schlags mit dem Stuhlbein darunter ergibt: In An­ betracht des Zurückweichens des R in eine Ecke ist das Schlagen mit dem Stuhlbein gegenüber E – trotz der Maßbeschränkung des Notwehrrechts nach rechtswidriger Provokation – als von § 32 StGB gedeckt anzusehen. Denn R hätte den – im Zeitpunkt der Sachbeschädigung gegenwärtigen – rechtswidrigen Angriff sonst gar nicht oder nur unter Inkaufnahme schwe­ rer Verletzungen beenden können. Demzufolge ist dann auch das Abtreten des Stuhlbeines eine nach § 904 S. 1 BGB gerechtfertigte Notstandshand­ lung. Man mag zweifeln, ob die letztgenannte Verknüpfung von Notwehr- und Notstandsrechtfertigung für diese Situationen zwingend ist. So erscheint folgender Einwand denkbar: Selbst wenn der Einsatz eines Mittels gegen einen rechtswidrig Angreifenden trotz vorangegangener rechtswidriger Pro­ vokation soweit gemäß § 32 StGB gerechtfertigt ist, ist der Zugriff auf Güter Dritter zur Beschaffung des Verteidigungsmittels als Notstandszugriff dieses noch nicht, da der Dritte mit den wechselseitigen Unverhältnismäßig­ keiten nichts zu tun hat (sodass dogmatisch dann der „drohende Schaden“ nicht als „unverhältnismäßig groß“ zu beurteilen sein und Rechtfertigung nach § 904 S. 1 BGB abgelehnt werden könnte). Letztlich trifft dieser Einwand jedoch nicht zu. Denn aus der zutreffenden Feststellung, dass der Dritte mit der Entstehung der wechselseitigen rechts­ widrigen Angriffe nichts zu tun hat, folgt zunächst nichts für die interper­ sonale (rechtliche) Gegenstandszuordnung: An sich setzt der Eintritt der auflösenden (Not-)Bedingung des Ausschließungsrechts des Eigentümers betreffend den Sachgebrauch durch andere Personen (Notleidende) nicht voraus, dass ersterer selbst etwas für die Notlage kann. Der Sache nach zielt 583  Vgl. etwa BGHSt 24, 356; 26, 143, 256; NStZ 1998, 508. Präzise Begrün­ dung der Umfangsbeschränkung bei Köhler, AT, S. 273–275, der ebenfalls zutreffend herausstellt, dass zur Maßbeschränkung ein rechtswidriges, nicht bloß ein ethisch zu missbilligendes Verhalten zu fordern ist (die BGH-Rechtsprechung tendiert derzeit hingegen zum Ausreichenlassen eines bloß „sozialethisch“ zu missbilligenden Vor­ verhaltens, siehe etwa BGH 2 StR 118 / 10 und BGH 2 StR 483 / 10).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen367

der Einwand also eher auf eine Notstandsrechtsbeschränkung bei Selbstherbeiführung der Notlage. Es liegt jedoch gerade keine Selbstherbeiführung der Notlage durch den Provozierenden (hier R) vor, weil sein rechtswidriges und bewusst provozierendes (Vor-)Verhalten aufgrund der Eigenverantwort­ lichkeit des anderen (hier E) rechtlich nicht bloß naturkausal zu dessen Angriff führt (der Zurechnungszusammenhang ist insoweit durch die vor­ sätzliche rechtswidrige Handlung des E unterbrochen)584. Aus demselben Grund gilt prinzipiell dasselbe auch für die entsprechende Konstellation bei vorangegangener sogenannter „Absichtsprovokation“: Diese liegt vor, wenn es der Provokateur darauf anlegt, der andere möge ihn in unzulässiger Weise angreifen (dies erwünscht), um sich dann in Not­ wehr zu verteidigen. Der obige Fall entsprechend abgewandelt: Es war die Hoffnung des R bei seiner Beleidigung zum Nachteil des E, E möge ihn angreifen, damit R sich daraufhin gegen E verteidigen kann. E tut dies mit seinem Messer; R tritt das Stuhlbein ab, um damit auf den Angriff des R zu entgegnen. Die überwiegende Ansicht verneint in solchen Konstellationen das Not­ wehrrecht des („Absichts“-)Provokateurs unzutreffender Weise schon dem Grunde nach585. Dabei wird die Selbständigkeit des anderen – der rechtsbe­ grifflich zwingend als eigener Handlungsursprung zu betrachten ist – über­ gangen: Die vorangegangene Provokation fließt dabei bloß wegen ihrer im Verhältnis zu einer fahrlässigen Provokation besonders bösen Intention in eine geradezu laienhaft-oberflächlich anmutende Sachverhaltsbewertung ein, wenn etwa argumentiert wird, der „Absichtsprovokateur“ handele „rechts­ missbräuchlich, indem er einen Verteidigungswillen vortäuscht, in Wirklich­ keit aber angreifen will“586. Das ist mehrfach verkehrt: Erstens: Angriff und Verteidigung im Sinne von § 32 StGB unterscheiden sich naturalistisch in keiner Weise, sondern überhaupt nur dadurch, dass letztere die erforderliche (und gebotene) Reaktion auf einen rechtswidrigen Angriff ist. Sofern also der Angriff des Provozierten auf den Provokateur als rechtswidrig zu beurteilen ist (was in den gemeinten Konstellationen stets der Fall ist), etwa weil die Notwehrlage des Provozierten nicht mehr 584  Die (fortdauernde) Provokation des selbständig handelnden E durch R hat als subjektiv-bewusstes Mitwirken des R an der Entstehung der eigenen Notlage eben die Umfangsreduktion betreffend das Notwehrrecht zur rechtlichen Konsequenz. 585  So BGH NJW 1983, 2267; BGH NStZ 2001, 143; BGH NStZ 2003, 425; Roxin, AT I, § 15, Rn. 65; Günther, in: SK, § 32, Rn. 121 ff. Dass demnach das Abtreten des Stuhlbeins rechtswidrig ist (der dem R drohende Schaden nicht im Sinne von § 904 S. 1 BGB „unverhältnismäßig groß“ gegenüber dem dem Wirt ent­ stehenden Schaden ist), versteht sich dann von selbst. 586  So jedoch BGH NJW 1983, 2267; BGH, Urteil vom 22. November 2000, 3  StR 331 / 00; Roxin, AT I, § 15, Rn. 65.

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B. Auflösung der Aufgabe

gegenwärtig ist oder weil dieser die Erforderlichkeit der Verteidigung über­ schreitet, dann ist eine zur Abwendung dieses Angriffs erfolgende Reaktion, sofern erforderlich (und geboten587), jedenfalls auch Verteidigung und ein auf einen entsprechenden Sachverhalt bezogener Wille folglich ein Verteidigungswille. Der BGH verlangt als subjektives Rechtfertigungselement die Kenntnis der Notwehrlage sowie den Willen, der Rechtsverletzung entge­ genzutreten588; letzteres ist begrifflich aber eben kein weiteres Element, sondern in jeder bewussten erforderlichen und gebotenen Reaktion auf einen als solchen wahrgenommenen rechtswidrigen Angriff notwendig impliziert. Darüber hinaus – entgegen der eigenen Diktion – doch eine besondere (ak­ tuelle oder vormalige) Motivation für das Vorliegen eines Verteidigungswil­ lens zu verlangen, geht in eine moralisierende Richtung. Zweitens: „Vorgetäuscht“ wird ein Verteidigungswille zu keinem Zeit­ punkt. Wenn überhaupt steht doch interpersonal eine Verteidigung des Pro­ vokateurs erst ab Beginn des rechtswidrigen Angriffs des zuvor Provozierten im Raum (vorher gar nicht). Ab diesem Zeitpunkt besteht ein Verteidigungs­ wille (siehe erstens); im Übrigen enthält das Verhalten über sonstige Moti­ vationen gar keinen Erklärungsgehalt. Insofern ist die Bezeichnung des Verhaltens des vormaligen Provokateurs als ein „Vortäuschen“ sachlich gänzlich unzutreffend. Sie dient als rhetorischer Trick bloß der suggestiven Verstärkung des unbegründet-behaupteten Ergebnisses589. Drittens: Die Behauptung eines „rechtsmissbräuchlichen Verhaltens“ bzw. eines „Rechtsmissbrauchs“ ist unmöglich eine rechtliche Argumentation. Es geht doch gerade um die Frage, ob ein bestimmtes Recht (das zu beurtei­ lende Verhalten als Notwehrrecht) besteht. Die Annahme von „Rechtsmiss­ brauch“ setzt einerseits die Existenz eines bestimmten Rechts, also eine bestimmte Befugnis zu einem konkreten Handeln voraus, deren Ausübung andererseits „missbräuchlich“ und deshalb unzulässig sein soll: Das ist ein Widerspruch im eigenen Urteil590. 587  Richtigerweise ist auch im Rahmen der sogen. Absichtsprovokation das Not­ wehrrecht dem Grunde nach (gegenwärtiger rechtswidriger Angriff eines anderen) gegeben, der Umfang ist jedoch nochmals entsprechend stärker reduziert; treffend Köhler, AT, S. 274; ebenso Jescheck / Weigend, AT, S.  346 ff. 588  BGHSt 2, 114; vgl. Fischer, § 32, Rn. 25 m. w. N. 589  Nicht selten sind es strukturell-ähnliche (Suggestiv-)Argumentationen, die zur Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung nach revisionsgerichtlicher Überprü­ fung führen. 590  Bestenfalls beschreibt eine (vermeintliche) Argumentation mit „Rechtsmiss­ brauch“ also den eigenen, noch unfertigen Gedankengang in dem Sinne, dass hypo­ thetisch überlegt wird, ob, wenn eine bestimmte Befugnis angenommen würde, da­ raus nicht ein Widerspruch oder sonstiger Fehler entstünde. In dieser meistbegüns­ tigenden Auslegung einer „Rechtsmissbrauchs“-These handelt es sich dann aber eben bloß um die Äußerung eines Zweifels, nicht um eine Sachargumentation.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen369

Wenn angenommen wird, der Absichtsprovokateur „haftet … aus seinem provozierenden Vorverhalten“, so steckt darin eine rechtsbegrifflich verfehl­ te (plötzlich naturalistische) Betrachtung, nach welcher die Provokation trotz der Selbst-Verantwortlichkeit des Provozierten wie eine naturgesetzli­ che Determinante auch für den späteren rechtswidrigen Angriff dessen be­ trachtet wird (im Sinne der – unter dieser Bezeichnung wiederum von der überwiegenden Ansicht aus dem genannten Grund als unmöglich bzw. wi­ dersprüchlich abgelehnten – actio illicita in causa591). Das wiederum wider­ spricht grundlegenden Rechtsprinzipien (nämlich der Notwendigkeit, die Person selbst als jeweiligen Handlungsursprung zu betrachten) und damit zugleich allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen (nämlich der darauf grün­ denden Annahme, dass vorsätzliches rechtswidriges oder grob-unvernünfti­ ges Eintreten eines vollverantwortlichen anderen in eine Kette von Hand­ lungsfolgen einen nunmehr andere Gefahr schafft und die Kette der Hand­ lungsfolgen unterbricht). Mit anderen Worten: Wenn die rechtswidrige Provokation (actio illicita) dabei als Ursprung bzw. Ausgangspunkt der Folgenzurechnung betrachtet wird, kann dies nur geschehen, sofern man das Folgegeschehen ausschließ­ lich nach Naturgesetzen verknüpft (und das Verhalten des Provozierten eben insoweit grundlos nicht mehr unter Freiheitsgesetzlichkeit beurteilt), was die Selbstverantwortlichkeit des rechtswidrig Eingreifenden anderen wider­ sprüchlich (bloß ergebnisorientiert) verneint592. Richtigerweise bleibt das Notwehrrecht also auch bei rechtswidrigem Angriff nach vorangegangener „Absichtsprovokation“ dem Grunde nach bestehen, während der Umfang entsprechend stärker reduziert ist: Zutref­ fend schreibt Köhler, der Angegriffene müsse „nach rechtswidriger An­ griffsprovokation …, bevor er Notwehr übt, die Provokationswirkung möglichst zurücknehmen, also wenn möglich ausweichen oder vorläufig mildere Verteidigungsmittel wählen; nur wenn unausweichlich erhebliche 591  Zutreffend insoweit u. a. BGH NStZ 1988, 451; BGH NStZ 1989, 113; wider­ sprüchlich dazu BGH NStZ 2001, 143, ablehnend u. a. Roxin, JZ 2001, 667 (mit allerdings nicht durchgängig tragender Begründung). 592  Aus diesem Grund handelt sich bei der intentional auf ein Angegriffen-Werden gerichteten Provokation ggf. zwar hinsichtlich der provozierenden Wirkung auf den anderen, nicht jedoch hinsichtlich der bloß-erwünschten, aber nicht in seiner Macht stehenden Folge (Angriff des anderen) um eine Willkürhandlung des Provozierenden (es sei denn, es würde dabei Tatmacht auch über das Verhalten des Provozierten im Sinne des § 25 Abs. 1 2. Var. StGB begründet, was eine eben zu einem Verantwortlichkeitsmangel führende Einwirkung etwa durch Täuschung über den Handlungs­ sinn überhaupt oder eine qualifizierte Drohung voraussetzte). Insofern zu befürchten steht, dass viele dies der Sache nach verkennen, wenn sie den Terminus „Ab­ sichtsprovokation“ verwenden, mag für die Mehrzahl der gemeinten Fälle der Ter­ minus Wunschprovokation die unbedenklichere Bezeichnung sein.

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B. Auflösung der Aufgabe

Verletzungen drohen, steht ihm die Notwehrbefugnis im strikt erforderlichen Maße zu“593. Die Subsumtion des (abgewandelten) Falles liefert folgendes Ergebnis: Da dem R bei bloß passiver Abwehr oder Verteidigung mit bloßen Hän­ den sehr schwere körperliche Verletzungen drohten, wäre (trotz „Ab­ sichtsprovokation“) seine beabsichtigte Notwehrhandlung des Schlagens mit dem Stuhlbein erforderlich gewesen. Dementsprechend war dann der Not­ standszugriff, also die Sachbeschädigung zum Nachteil des Wirtes (Abtreten des Stuhlbeins) ebenfalls nach § 904 S. 1 BGB gerechtfertigt (der dem R drohende Schaden war demgegenüber „unverhältnismäßig groß“ im Sinne von § 904 S. 1 BGB)594. Eine actio illicita in causa in einem rechtsbegrifflich gehaltvollen (haltbaren) Sinne liegt hingegen vor, wenn jemand bewusst oder gar absichtlich im Hinblick auf die Folgen einen bloß-naturhaften Prozess durch rechtswidriges Verhalten so beeinflusst, dass daraus eine (Sach-)Gefahr für seine personalen Güter entsteht, die dann nur durch Beschädigung der gefahr­ trächtigen fremden Sache abgewendet werden kann und er dies will. Ein Beispielsfall: A und B sind Betreiber je eines privaten Sicherheits­ dienstes und stehen seit längerem in Konkurrenz. Beide sind erfahrene Hundehalter. A und B interessieren sich beide für einen jungen, großen und aggressiven Rassehund, den ein Züchter zum Kauf anbietet und den jeder sowohl als Statussymbol, als auch für ggf. gefährliche Aufträge nutzen will. A überbietet B und erhält den Hund, den er zur Ausbildung zu sich auf sein privates Grundstück nimmt. Der Hund ist – wie schon seitens des Züchters beim Angebot mitgeteilt – vor allem dann besonders gefährlich, wenn er nachts beim Schlafen in seinem ihm vertrauten Revier irritiert wird; es muss damit gerechnet werden, dass er einem Störer dann sofort an die Kehle springt. Deshalb sperrt A den Hund nachts in einen Zwinger mit hohen Zäunen, den er von außen – obwohl er allein auf dem Grundstück wohnt – zu aller Vorsicht mit einem großen Schild versieht, das lautet: „Vorsicht! Sehr bissiger Hund! Bei Betreten Lebensgefahr!“ B gönnt dem A den Hund 593  Köhler,

AT, S. 274, 275. Abtreten des Stuhlbeins wäre hingegen dann nicht gerechtfertigt, wenn E den R etwa mittels eines Schlagstocks oder ähnlichen Werkzeugs angriffe und der körperlich überlegene R ihn bei Inkaufnahme eigener bloß mittelschwerer Verletzun­ gen mit den bloßen Händen überwältigen könnte: Dann wäre eine Notwehrhandlung durch Zuschlagen mit dem Stuhlbein wegen der Umfangsbeschränkung aufgrund der Absichts-Provokation nicht erforderlich (bzw. nicht geboten), sodass auch der Notstandszugriff nach § 904 S. 1 BGB auf den Stuhl des Wirtes unzulässig wäre. Dies wäre dann die Konsequenz aus der zutreffenden rechtliche Verarbeitung der sogen. Absichts-Provokation. 594  Das



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen371

nicht. Er betritt eines Nachts das Grundstück des A und klettert über den Zaun in den Zwinger. Dabei trägt er Schutzkleidung an den Armen und ein scharfes Buschmesser. Er hat vor, den Hund, mit dessen Attacke er sicher rechnet, falls nötig beim Sprung abzufangen und mit dem Buschmesser zu erlegen oder erheblich zu beschädigen. Wie erwartet attackiert der Hund den Eindringling B und wird von diesem plangemäß durch einen Schlag mit dem Buschmesser so schwer verletzt, dass er an den Folgen stirbt. Nach geltendem Recht hat B sich jedenfalls wegen Hausfriedensbruchs nach § 123 Abs. 1 StGB595 strafbar gemacht. Hat er sich auch wegen Sach­ beschädigung nach § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht? Der Tatbestand ist verwirklicht, denn den Hund als für B fremde Sache596 hat dieser zerstört. Ist die Tat aber ggf. gerechtfertigt? Die Subsumtion des Schlages gegen den Hund unter § 228 BGB liefert (zumindest bei vordergründiger Auslegung der Norm) ein zunächst wohl verwunderliches Ergebnis: Im Zeitpunkt der Schläge und Stiche drohte durch den Hund für die körperliche Integrität und sogar das Leben des B Gefahr. In der konkreten Handlungssituation (im Zwinger) war auch die Erforderlichkeit der Handlung des B zur Abwendung von körperlichen Verletzungen gegeben: Es kann objektiv ex ante nicht angenommen werden, dass im Zeitpunkt der Attacke durch den Hund dem B eine andere Möglichkeit (Ausweichen, Flucht aus dem Zwinger, weniger starker Schlag) so möglich war, dass er dabei einem erheblichen Biss hätte entgehen können. An sich steht eine Eigentumsgegenstandsbeschädigung auch keinesfalls „außer Verhältnis“ zu der Gefahr erheblicher Körperverlet­ 595  Dessen weite Tatbestandsfassung bzw. jedenfalls -auslegung unter einem ma­ teriellen Verbrechensbegriff nicht unproblematisch ist, vgl. Fn. 231. Hier ist jeden­ falls ein Eindringen in ein befriedetes Besitztum gegeben, weil das Grundstück und der Zwinger für die private Lebensgestaltung des A eine ganz konkrete Funktion erfüllen sollte, die den permanenten Ausschluss anderer von diesem Raum voraus­ setzte oder beinhaltete. 596  In Straftatbeständen wird der Begriff einer „Sache“ nach wohl allgemeiner Ansicht eigenständig und in Abweichung von den §§ 90, 90a BGB gefasst als jeder körperliche Gegenstand, der keine Person oder Teil einer Person ist, vgl. etwa Fischer, § 303, Rn. 2 und § 242, Rn. 3. Dies ist richtig, auch wenn so innerhalb der Gesamtrechtsordnung eine an sich zu vermeidende Äquivokation verursacht wird: In Anbetracht der ideologisch motivierten Norm des § 90a S. 1 und 3 BGB („Tiere sind keine Sachen. … Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“) gibt es vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Analogieverbotes zu Lasten des Betroffenen (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) dazu keine sinnvolle Alternative. Eine Subsumtion des Falles unter die unter einem materiellen Verbrechensbegriff verfehlte und in einem Gesamt­ rechtssystem, in dem qualvolle Massentierhaltungen und -schlachtungen üblich sind, für legitim gehalten und teilweise subventioniert werden auch evident widersprüch­ liche Norm des § 17 TierschG unterbleibt hier bewusst. Es gilt bezüglich der hier interessierenden Rechtfertigungsfrage dasselbe.

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B. Auflösung der Aufgabe

zungen, sodass alle Rechtfertigungsmerkmale verwirklicht scheinen. Dieses Ergebnis wird eher noch gestützt, wenn man § 228 S. 2 BGB in die Ausle­ gung einbezieht: Demnach ist der Handelnde dann zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er „die Gefahr verschuldet“ hat. Unter Verschuldung in diesem Sinne fällt sowohl eine fahrlässige, als auch eine vorsätzliche Her­ beiführung der Gefahr; dementsprechend wird überwiegend angenommen, dass die unmittelbare Sachbeschädigung also selbst unter diesen Voraussetzungen gerechtfertigt sei597. Gesetzt, dies sei richtig, so ist es in einer solchen Konstellation – gerade in Abgrenzung zur Provokation einer Person – durchaus möglich, die tatbe­ standsmäßige Handlung im rechtlich-unzulässigen Vorverhalten (hier dem Über-den-Zaun-Klettern als actio illicita) zu sehen, durch welche der Han­ delnde den naturhaften Prozess in Gänze ausgelöst hat, sodass alle daraus resultierenden Folgen (also ohne rechtswidriges Dazwischentreten eines anderen) auch zu der ersten Handlung objektiv zugerechnet werden (die actio illicita also auch rechtsbegrifflich die Ursache derselben ist). Bei dies­ bezüglichem Vorsatz ist eine vorsätzliche Sachbeschädigung im Sinne von § 303 Abs. 1 StGB durch Übertreten des Zauns verwirklicht. Und es ver­ steht sich von selbst, dass im konkreten Fall das Übertreten des Zaunes durch B nicht gerechtfertigt ist. B hat sich also durch Übertreten des Zauns auch wegen Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Dass, wie die überwiegende Ansicht annimmt, die unmittelbare Handlung des Zuschlagens mit dem Buschmesser gegen den Hund nach § 228 BGB gerechtfertigt ist, kann jedoch in Anbetracht der – auch in Ansehung aller Folgen – vorsätzlichen actio illicita in causa bezweifelt werden: Zwar schließt, wie Köhler schreibt, eine „fahrlässige Mitverantwortung des Not­ standstäters (Ingerenz) für die Notstandslage … jedenfalls bei schwerer Gefahr die Notstandsbefugnis … nicht aus …, da der im Notstand befind­ liche Gutsträger auch in seiner pragmatischen Schwäche“ mit einbezogen werde598. Um eine auf einem Versehen oder einer momentanen Schwäche beruhende Fehlleistung handelt es sich jedoch bei einer in Ansehung aller Folgen vorsätzlichen bzw. sogar absichtlichen Herbeiführung einer (ansonsten) bestehenden Not-Zuordnungsbedingung betreffend Sachen nicht. Zur Verdeutlichung dieser Rechtsfrage eine nochmalige Zuspitzung des obigen Falles: A beobachtet zufällig aus dem Fenster, wie B (mit dem Buschmesser bewaffnet) beginnt, über den Zaun des Zwingers zu klettern und erkennt dessen Absicht. Er läuft in den Garten, um dies zu verhindern, wobei er für 597  Ellenberger, 598  Köhler,

in: Palandt: § 228, Rn. 9; Wessels / Beulke, AT, Rn. 293. AT, S. 292.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen373

alle Fälle seinen Distanz-Elektroschocker („Taser“) mitnimmt. A weiß, dass er damit nur einen Distanzschuss abgeben kann, der auf einen Menschen eine lähmende Wirkung von ca. einer Minute hat; einen Hund könnte der Elektroimpuls unter Umständen sogar töten. Als A beim Zwinger angekom­ men ist, hat B den Zaun jedoch schon überklettert, der Hund beginnt, auf B, der sein Buschmesser hebt, zuzulaufen. A kann aus seiner Position den Hund nicht treffen, weil B dazwischensteht. Um zu verhindern, dass B den Hund (ggf. tödlich) schlägt, setzt er den „Taser“ gegen B ein, der bewe­ gungsunfähig zusammenbricht. Bevor A den Zwinger betreten und den Hund unter Kontrolle bringen kann (von A sofort gerufene Kommandos des Ablassens bleiben ohne Wirkung), springt dieser dem am Boden liegenden B an die Kehle und beißt zu; B stirbt. A nahm diese von ihm als möglich erkannten Folgen seiner Handlung billigend in Kauf. A’s Einsatz des Elektroschockers gegen B verwirklicht den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB. Ist die Tat als Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt? Durfte A mittels des Elektroschockgerätes die im Versuchsstadium befindliche Sachbeschädigung (die jedenfalls mit dem Betreten des Zwingers durch B begann, siehe zur möglichen Anknüp­ fung schon an dieses Verhalten oben), konkret also den Schlag des B mit dem Buschmesser, verhindern? An sich müsste die Antwort durch Subsum­ tion unter § 32 StGB unproblematisch zu geben sein: Wenn B gegenwärtig einen rechtswidrigen Angriff auf das Eigentum des A ausführte, dann durf­ te A sich in erforderlicher (und „gebotener“) Weise verteidigen. Die überwiegende Ansicht verneint insoweit die Notwehrlage (rechtswid­ riger Angriff), weil sie den im Vollzug befindlichen Schlag des B gegen den Hund als nach § 228 BGB gerechtfertigt beurteilt (trotz des Vorsatzes des B in Bezug auf alle Folgen schon bei Betreten des Zwingers), sodass es insoweit an einem rechtswidrigen Angriff zum Nachteil des A fehlte. Das ist inkonsequent: Richtigerweise handelt es sich bei der (vorgesetz­ ten) Tat des B bloß um eine sukzessive Sachbeschädigungsausführung (§§ 303 Abs. 1, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 StGB), die mit dem Betreten des Zwingers beginnt und über einen Schlag gegen den Hund599 bei Eintritt einer Substanzverletzung an diesem vollendet wird. Ebenso wie ein Einbre­ cher, der so lange auf einen bellenden Wachhund zugeht, bis dieser ihn letztendlich beißt, woraufhin der Einbrecher den Hund erschlägt, dadurch eine rechtswidrige (und nicht etwa eine nach § 228 BGB gerechtfertigte) Sachbeschädigung begeht, so begeht derjenige, der abgesperrtes fremdes 599  Man mag diese sukzessive Tatausführung als rechtlich bloß eine Handlung durch mehrere, von einem einheitlichen Willen getragene (verknüpfte) naturalisti­ sche Akte in räumlich-zeitlichen Zusammenhang eine natürliche Handlungseinheit (auf Tatbestandsebene) nennen.

374

B. Auflösung der Aufgabe

Territorium rechtswidrig betritt, um schon damit die vom Hund ausgehende Sachgefahr bewusst bzw. absichtlich auf sich zu richten, auch durch das Schlagen des Hundes eine rechtswidrige Sachbeschädigung. Dagegen darf der Eigentümer sich verteidigen. Eine Besonderheit dieses Falles besteht darin, dass der Einsatz des Elek­ troschockgerätes als Notwehrhandlung seitens A zur Verhinderung der Sach­ beschädigungsvollendung konkret auch dazu führt, dass B – wie von A in Kauf genommen – durch den Hund getötet wird. Diese Besonderheit ist jedoch nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen und betrifft nicht die Frage einer Rechtfertigung der Sachbeschädigungshandlung des B: Denn in Frage steht hier nur, ob die „Gebotenheit“ der Notwehr des A aufgrund eines „krassen Missverhältnisses“ ausgeschlossen war, sodass die Handlung konkret unterbleiben musste600? Dies ist zu verneinen601, weil es sich beim 600  Eine solche Beschränkung des Notwehrrechtsumfangs über das allgemeine Rechtfertigungsmerkmal der Erforderlichkeit hinaus ist grundbegrifflich nicht selbst­ verständlich: An sich bedarf es, weil Recht und Zwangsbefugnis einerlei sind (vgl. A.II.3. und B.III.2.), zur erforderlichen Rechtswahrung mittels Zwangs gegen einen rechtswidrigen Angriff eben keiner weitergehenden rechtlichen „Gebotenheit“ (zum Versuch der Ableitung von weitergehenden Maßbeschränkungen der Notwehr gegen Angriffe auf bloß-ersetzliche Sachwerte schon aus ihrem Grund siehe Klesczewski, FS-Wolff, S. 226 ff., 245). Jedenfalls sofern wirksame Institutionen der Rechtsresti­ tution nach Verletzung (Staatsanwaltschaften, Polizei, Gerichte, Vollstreckungsorga­ ne) existieren, ist es für den einzelnen sicherlich ethisch (bzw. nach der „inneren Rechtspflicht“, einer Unrechtsverwirklichung standzuhalten bzw. entgegenzutreten, vgl. Fn. 315) nicht geboten, das Recht auch gegen (qualitativ und quantitativ) relativ geringe Verletzungen mit einschneidensten Konsequenzen für den Rechtsbrecher durchzusetzen. Man mag daraus ableiten, der nur partikular Angegriffene könne in der Perspektive einer nachträglichen Restitution auch rechtlich (im Sinne eines Ver­ bots der konkret einzig-tauglichen Verteidigungshandlung) sogar darauf verwiesen werden, eine Rechtsverletzung eben betreffend bloß-ersetzliche Güter geringen Umfangs zunächst geschehen zu lassen. Bei Auslegung des § 32 Abs. 1 StGB („gebo­ ten“) ist eine entsprechende Engfassung solcher Einschränkungen des Notwehrrechts geboten. 601  Eine weitere Frage ist, ob der Hundeeigentümer (hier A) dann rechtlich Hilfe schuldet, wenn der verletzte Angreifer (hier B) nach der der gerechtfertigten Vertei­ digungshandlung nachfolgenden Hundeattacke noch lebt und aus der erfolgten Tier­ attacke weitere Verletzungen bzw. der Tod drohen und ggf. abgewendet werden könnten. Dies ist zu bejahen. Zwar wird nach zutreffender herrschender Ansicht (u. a. BGH) eine Sonderpflicht bzw. Garantenstellung aus Ingerenz nur bei rechtswidrigem unselbständig machendem (Vor-)Verhalten begründet. Der Grund der rechtlichen Sonderpflicht (Hilfspflicht) liegt aber hier gar nicht im aktiven Vorverhalten des Hundeeigentümers bzw. -halters (welches rechtmäßig ist), sondern ergibt sich aus der rechtlichen Sonderpflicht des Tierhalters bzw. -aufsehers (Aufsichtsbzw. Verkehrssicherungspflicht): Nach der tauglichen, erforderlichen (und gebote­ nen) Notwehrhandlung (Schuss mit dem „Taser“ auf B) war der rechtswidrige An­ griff beendet; die allgemeine Tierhalterpflicht, Tiergefahren für Güter anderer (sofern diese keine rechtswidrig Angreifenden sind) abzuwenden, gebot dem anwesenden



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen375

zugrundeliegenden rechtswidrigen Angriff, der in einem Sachbeschädi­ gungsversuch des vollverantwortlich handelnden B in Bezug auf eine nicht ohne weiteres ersetzbare Sache besteht, konkret nicht um eine rechtliche Bagatelle, nur ganz geringfügiges Unrecht oder bloßen Unfug handelt602. Soweit der Fall unter Notstandsgesichtspunkten interessiert, kann unab­ hängig von der Beurteilung der Gebotenheit der Notwehrhandlung des A und eben deshalb, weil jedenfalls festgestellt ist, dass überhaupt eine Notwehrhandlung vorliegt, festgehalten werden: Es liegt aufgrund der vorsätzlichen actio illicita in causa (nämlich der Lenkung der Sachgefahr in Ansehung aller Folgen auf sich selbst durch Betreten des Zwingers seitens B) für B zu kei­ nem Zeitpunkt – also auch nicht bei versuchter Ausführung des Schlages ge­ gen den Hund – eine ihn zur Sachbeschädigung (Tierverletzung) berechtigende (Defensiv-)Notstandssituation im Sinne von § 228 BGB vor. Sachlich nicht mehr entscheidend ist, wie diese Erkenntnis im Rahmen der Auslegung des positiven Rechts (dogmatisch) umgesetzt wird, sofern das positive Recht sich seinem Wortlaut nach überhaupt dementsprechend aus­ legen lässt, was in Bezug auf die weitgehend unbestimmt formulierten (Notstands-)Regeln der §§ 228, 904 BGB, 16 OWiG, 34 StGB ohne Schwie­ rigkeiten möglich ist (vgl. zur Unbestimmtheit schon B.IV.1.). Dazu folgen­ de Überlegungen: Zwar kann das Vorliegen des Merkmals der „Gefahr“ im Sinne der §§ 228, 904 S. 1 BGB nicht deshalb verneint werden, weil der Gefährdete sich dieser bewusst aussetzte. Denn das ändert nichts an der Existenz der Gefahrenlage im Handlungszeitpunkt. Auch wird man das Merkmal des Drohens der Gefahr „durch“ die Sache im Sinne von § 228 BGB nicht verneinen können, denn zwar zieht der sich Gefährdende durch rechtswidriges Verhalten (actio illicita) diese bewusst selbst zu; trotzdem geht sie auch noch von der Sache (konkret dem Hund) aus. Insofern wird man ein „außer Verhältnis“-Stehen der Sachbeschädigung zu der Gefahr im Sinne von § 228 BGB bejahen und deshalb Rechtfertigung Tierhalter (A) eben dies. Diese Pflicht verletzte er zwar nicht, sofern er alles ihm zur Abwendung mögliche tat (hier gegeben: erfolglose Kommandorufe, physische Gewalterlangung über den Hund sobald möglich). Trotzdem konkretisierte sich die Tiergefahr in einer konkreten Verletzung des (zu diesem Zeitpunkt nicht mehr rechtswidrig angreifenden) anderen. Dann aber formt sich die Sonderpflicht der spezifischen Gefahrvermeidung betreffend andere in eine Garantenpflicht (rechtliche Hilfspflicht) um; siehe insoweit präzise Köhler, AT, S. 219–221. 602  Vgl. Fn. 600. Jedenfalls ist dieser Fall ebenso zu beurteilen, wie etwa der Fall, dass jemand auf einen friedlichen schlafenden Hund zugeht, um diesen schwer zu beschädigen bzw. zu zerstören (zu töten) und dabei vom Hundeeigentümer mit ei­ nem tödlich wirkenden Schuss, der konkret das einzig taugliche Verteidigungsmittel ist, erschossen wird (nur wer hier die „Gebotenheit“ der Notwehr verneint, kann sie auch im obigen Fall verneinen).

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B. Auflösung der Aufgabe

nach § 228 BGB verneinen müssen (und damit erst recht verneinen müssen, dass der dem Gefährdeten drohende Schaden gegenüber dem aus der Ein­ wirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden „unverhältnismäßig groß“ im Sinne von § 904 S. 1 BGB ist). Dass der Gefährdete (und sich eben durch sein rechtswidriges Verhalten zugleich selbst Gefährdende) nach einer vorsätzlichen actio illicita in causa603 damit rechtlich schwerere empirische Verletzungen durch Realisierung der Sachgefahr hinnehmen muss, als der Absichtsprovokateur bei der Verteidigung gegen den rechtswidrig angreifen­ den Provozierten, ist nicht nur kein Widerspruch, sondern eben die Konse­ quenz aus der grundbegrifflich notwendig Differenzierung der Lenkung ei­ ner Sach- bzw. bloßen Naturgefahr einerseits und andererseits der Provoka­ tion einer selbständigen (eigenverantwortlichen) Person im Sinne einer bloßen Anregung derselben (die eben nicht zur zurechenbaren Herbeiführung aller naturgesetzlich- bzw. äquivalent-kausal-bedingten Folgen führt). Auch nach der hier dargelegten Ansicht gelangt man selbstverständlich in folgender Konstellation zur Annahme der Rechtmäßigkeit (Rechtfertigung) der unmittelbaren Sachbeschädigungshandlung: Wenn die unmittelbare Sachbeschädigungshandlung desjenigen, der in Ansehung aller Folgen vor­ sätzlich und rechtswidrig eine Sachgefahr auslöst (B im obigen Fall), zu­ gleich eine erforderliche Notstandshilfehandlung zugunsten eines nicht-gefahrverantwortlichen Dritten ist (diesbezüglich also alle Voraussetzungen des § 228 S. 1 und auch des wie dargelegt ausgelegten § 904 S. 1 BGB erfüllt sind), dann ist die Sachbeschädigung dem Notstandshelfer in der Regel nicht nur erlaubt, sondern – wegen der vorangegangenen rechtswid­ rigen Körpergefährdung des Dritten durch die Gefahrschaffung – sogar rechtlich geboten (Ingerenz). Sollte also, um es plastisch zu machen, B im obigen Fall beim Überklettern des Zauns und Betreten des Zwingers sein kleines Kind im Arm haben und sollte, wie von B vorhergesehen und ge­ 603  Nochmal zu aller Deutlichkeit: Dieser Terminus (a.i.i.c.) hat rechtsbegrifflich überhaupt nur einen festen Sinn, sofern darunter bloß das durch unzulässiges (rechtswidriges) Vorverhalten bewirkte Auslösen bzw. Lenken von bloßen Naturgefahren verstanden wird. Provokationen von eigenverantwortlichen (selbständigen) Personen begründen außerhalb der allgemeinen Modalitäten der – stets zu einem rechtlich greifbaren Verantwortungsdefizit beim anderen führenden – Tatherrschafts­ gewinnung im Sinne von § 25 Abs. 1 2.Var. StGB keine Zurechnung von deren Handlungen (und ihren Folgen) zum Provokateur. Insofern sind auch in den mit „Absichtsprovokation“ gemeinten Konstellationen die Provokationen zwar ggf. ac­ tiones illicitae, sie sind aber nicht in causa. Alle rechtlichen Termini (und Schlag­ worte) müssen nach Grundbegriffen mit Inhalt gefüllt werden; nicht etwa dürfen andersherum mit unreflektiertem (verschwommenem) Denken benutzte Floskeln bzw. Schlagworte für Sachargumente gehalten werden (was leider auch in der Juris­ terei häufig geschieht und etwa der Fall wäre, wenn man glaubte, mit einer „actio illicita in causa“-genannten „Rechtsfigur“ plötzlich an sich Widersprüchliches be­ gründen zu können).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen377

wollt, der Schlag gegen den Hund mit dem Buschmesser das erforderliche Mittel zur Abwendung der Körpergefahr für das Kind sein, dann ist dieser sachbeschädigende Schlag nicht nur als Notstandshilfe gemäß § 228 S. 1 BGB (im Verhältnis zum Eigentümer A) gerechtfertigt, sondern (im Verhält­ nis zu seinem Kind) sowohl aus Elternpflicht in Bezug auf minderjährige Kinder (Beschützergarantenstellung) als auch aus Ingerenz (rechtswidriges Vorverhalten durch gefährdendes Mitnehmen des Kindes in den Zwinger) rechtlich-geboten604. Der Eigentümer (A) darf dann mangels Rechtswidrigkeit des im unmittelbaren Schlag gegen den Hund liegenden Angriffs des B diesen nicht in Notwehr verhindern. Insgesamt ist jedoch auch dann die Tat des B wegen der – in Ansehung aller Folgen vorsätzlichen Auslösung eines bloßen Naturprozesses beste­ henden – Möglichkeit, das Betreten des Zwingers als tatbestandsmäßige Sachbeschädigungshandlung (als actio illicita in causa) zu betrachten, rechtswidrig. B ist nicht nur nach §§ 228 S. 2, 823 Abs. 1, 826 BGB scha­ densersatzpflichtig, sondern auch nach §§ 123 Abs. 1, 303 Abs. 1, 52 StGB strafbar. Dasselbe gilt, wenn jemand etwa einen Brand in einem Gebäude legt, der jedenfalls auch personale Güter anderer gefährdet (siehe insoweit oben zur Erhaltungsseite) und diesen dann – wie von vornherein vorgehabt – löscht (etwa um sich vor anderen als rettender Held zu gerieren), indem er das dazu erforderliche Wasser aus dem Gartenteich eines benachbarten Dritten abpumpt605: Hier ist der Notstandshilfezugriff auf den Teich des Dritten (Nachbarn) als tatbestandsmäßiges Sachbeschädigungshandeln nach § 904 S. 1 BGB gerechtfertigt. Dem Eigentümer steht dagegen kein Notwehrrecht zu. Trotzdem ist es jedenfalls vertretbar606, anzunehmen, dass sich der Han­ 604  Sodass B bei Unterlassen des Schlages mit anschließender Verletzung des Kindes durch den Hund eine rechtswidrige Körperverletzung (bzw. gar Tötung) des Kindes durch Unterlassen beginge, §§ 229, 13 bzw. §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1, 13 StGB oder auch §§ 222, 13 oder gar §§ 227, 13, 211 Abs. 1, Abs. 2, 212 Abs. 1, 13 StGB. 605  Vorausgesetzt ist zur Erforderlichkeit der Notstandshilfe, dass die Feuerwehr nicht schnell genug vor Ort sein kann, ohne dass eine zusätzliche Gefahr für andere eintritt. 606  Der Fall verdeutlicht zugleich, dass die Möglichkeit der Anknüpfung an ein unzulässiges Vorverhalten (actio illicita) an eine eigenständig bestimmbare Grenze stößt: Der Tatbestandsverwirklichungsbeginn kann nämlich nicht in jedem rechtlich unzulässigen Vorverhalten (soweit dieses nicht sowieso rechtsbegrifflich durch ein vorsätzliches rechtswidriges oder grob-fahrlässiges Dazwischentreten eines selbstän­ digen anderen von seinen naturgesetzlichen Folgen abgeschnitten ist) betrachtet werden, sondern nur, sofern es zugleich Anfang des spezifischen Unrechts bzw. je­ weils tatbestandsrelevante Überschreitung des äußeren Verhältnisses zum anderen ist, vgl. zur Bestimmung des Unrechts der versuchten Tat ausführlich Zaczyk, Ver­

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B. Auflösung der Aufgabe

delnde durch das Entfachen des Brandes nicht nur ggf. nach §§ 306 ff. StGB, sondern auch nach § 303 Abs. 1 StGB zum Nachteil des Teicheigen­ tümers strafbar und zivilrechtlich schadensersatzpflichtig macht (wobei hier jedenfalls schon der verschuldensunabhängige Schadensersatzanspruch des Teicheigentümers nach § 904 S. 2 BGB gegeben ist). Insoweit zusammengefasst: Der notstandsrechtliche Zugriff auf Sachen anderer wird nicht durch eine Mitwirkung des Gefährdeten an der Entstehung der Gefahrenlage ausge­ schlossen: Ein Notstandsrecht besteht an sich sowohl bei (unvorhergesehenem) Außer-Kontrolle-Geraten einer zunächst – ohne Rechtsverletzung – bewusst eingegangenen Selbstgefährdung bzw. eines bewussten Sich-inGefahr-Begebens, als auch bei fahrlässiger Selbstherbeiführung der (Entstehung einer) konkreten Gefahrenlage durch den Gefährdeten (sofern dabei also jedenfalls kein Vorsatz in Bezug auf einen erforderlich werdenden Notstandszugriff auf Sachen anderer gegeben ist). Für Falle des provozierten, rechtswidrigen Angriffs („Notwehrprovoka­ tion“) bedeutet dies, dass wenn der rechtswidrige Angriff eine Bedrohung für höchstpersönliche Güter des Provokateurs mit sich bringt, der Provoka­ teur in dem Umfang auf Sachen Dritter als Verteidigungsmittel gegen den Angreifer notstandsrechtlich zugreifen darf, wie er gegen diesen – trotz der Beschränkung des Umfangs des Notwehrrechts – Notwehr üben darf. Für die sogenannten „Absichtsprovokation“ gilt prinzipiell dasselbe: Das dem Grunde nach bestehenbleibende Notwehrrecht gegen den rechtswidrig handelnden Angreifer ist im Umfang (stärker) reduziert, was so mittelbar eine Beschränkung auch von zulässigen Notstandszugriffen auf Güter Drit­ suchsunrecht, S. 126 ff., 229 ff. Wenn in dieser Hinsicht das Betreten des Hunde­ zwingers zur Tötung des dann attackierenden Hundes unproblematisch als Beginn der Sachbeschädigung beurteilt werden kann (siehe oben), so ist der Brandstiftungs­ fall insoweit jedenfalls grenzwertig: Überschreitet der Handelnde wirklich schon bei (rechtswidriger) Brandlegung im Nachbarhaus äußerlich das Rechtsverhältnis zum benachbarten Grundstücks- und Teicheigentümer (im Sinne eines unmittelbaren An­ setzens zum abstrakt unzulässigen Eindringen in dessen Bereich) oder liegen noch wesentliche eigene Handlungsakte dazwischen? Man kann annehmen, dass der Sach­ beschädigungsversuchs (und dann auch der für sich nicht strafbare Versuch eines Hausfriedensbruchs) zum Nachteil des Dritten (Nachbarn) mit der feuerentfachenden Handlung beginnt, weil dadurch die notstandsrechtliche Zugriffsbedingung zugunsten anderer hergestellt wird, worin (bildlich) eben schon der Beginn des Zugriffs auf das Nachbargrundstück gesehen werden kann. Letztlich hängt diese Entschei­ dung von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab, subsumiert unter einen entsprechend ausgelegten § 22 StGB (nämlich davon, welche Akte der Not­ standshilfetäter nach seiner Vorstellung von der Tatausführung nach Gefahrschaf­ fung sonst noch vornehmen will, bevor er physisch den unmittelbaren Notstandszu­ griff durchführt).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen379

ter bewirkt, ohne diese für den Fall drohender und nicht anders abwendba­ rer schwerster Verletzungen auszuschließen. Eine actio illicita in causa in einem rechtsbegrifflich gehaltvollen Sinne stellt eine – nicht im Sinne von § 25 Abs. 1 2.Var. StGB tatherrschaftsbegründende – rechtswidrige Provo­ kation eines selbständigen anderen nicht dar. Anders ist dies bei der rechtswidrigen Herbeiführung einer dann bloß naturkausal ablaufenden Gefahrenentstehung (Tiergefahrauslösung, Brand­ gefahrschaffung etc.) durch einen auch in Ansehung aller Folgen (inklusive der eigenen künftigen Notstandshandlung) vorsätzlich Handelnden: Sofern dieser solche rechtswidrig selbstgesetzten Gefahren ausschließlich zugunsten seiner Person abwendet, handelt er rechtswidrig. Es beginnt ein Sach­ beschädigungsversuch dann ggf. schon mit der die Naturgefahr auslösenden rechtswidrigen Handlung607. Notwehr des Gebrauchsbefugten (Eigentümers, Besitzers) dagegen bleibt dann möglich. dd) Sonstige notbedingte Gebrauchsanmaßungen und notstandsrechtlicher Sachnutzungserwerb (Verdeutlichungsfälle) Nach dem dargelegten Notstandsrechtsbegriff bzw. einer dementsprechen­ den Auslegung der positiven Notstandsrechtfertigungstatbestände sind erfor­ derliche Gebrauchsanmaßungen zur Wahrung personaler Güter in der Regel unproblematisch gerechtfertigt. Entsprechend der schon dargelegten Auflösung des von Herzberg und Mer­ kel gebildeten Falles des notleidenden Schwimmers, der zur Rettung auf die Mitbenutzung des nahegelegenen Bootes einer sich darauf sonnenden Frau angewiesen ist (siehe B.III.1.b)), ist etwa folgender Fall zu beurteilen: A wird bei einer Bergwanderung von einem Schneesturm überrascht und dringt in die leer stehende Berghütte des B ein, indem er die Tür auf­ bricht. Drinnen entzündet er ein Feuer im Kamin mittels der dort lagern­ den Holzvorräte. A hat keine andere Möglichkeit, den Schneesturm zu überleben. 607  Vgl. aber Fn. 606. Ergebnisrelevant ist dies, wie dargestellt, wenn die unmit­ telbar sachbeschädigende Notstandshandlung als Notstandshilfe zugunsten auch personaler Güter sonstiger Unbeteiligter erforderlich und damit notstandsrechtlich zulässig (gerechtfertigt) bzw. gar geboten ist: Dann darf der vom Notstandszugriff betroffene Eigentümer seine Sache nicht dem Zugriff des Notstands(hilfe)täters ent­ ziehen; trotzdem löst dessen vorsätzliche rechtswidrige Herbeiführung der Not­ standslage (als actio illicita) nicht nur die (verschuldensabhängige) Schadensersatz­ pflicht nach §§ 228 S. 2, 823 Abs. 1, Abs. 2, 826 BGB aus, sondern kann zugleich als die tatbestandliche Ausführungshandlung einer rechtswidrigen und strafbaren Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) betrachtet werden.

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B. Auflösung der Aufgabe

Das Verhalten verwirklicht den Tatbestand des § 123 Abs. 1 StGB (Betre­ ten der Hütte, vgl. zur Auslegung des § 123 StGB jedoch Fn. 231) sowie des § 303 Abs. 1 StGB (Aufbrechen der Tür sowie Verbrennen der Holzvor­ räte). Die Tat (alle drei Handlungen) sind unproblematisch nach § 904 S. 1 BGB gerechtfertigt: Es besteht eine Notlage für personale Güter des A (Ge­ fahr für seine Existenz überhaupt); sein Zugriff ist zur Gefahrabwendung erforderlich, betrifft lediglich fremde Sachen und der Eigentümer (B) ist nicht zugleich selbst zur Wahrung angeborener Güter auf diese Sachen an­ gewiesen. Bei Abwandlung des Falles dahingehend, dass der Eigentümer bzw. Be­ sitzer B anwesend ist und bemerkt, wie A im Schneesturm auf seine Hütte zuläuft, ergibt sich nichts anderes: B hat den Zugriff des A zu dulden. Die im Notstandserwerb (dem zu­ lässigen Zugriff des A) als Kehrseite implizierte Beschränkung des Um­ fangs der konkreten Eigentümergebrauchsbefugnisse tritt nämlich schon dann ein, wenn die Notlage, der Wille des Notleidenden zum Zugriff sowie die physische Erreichbarkeit der erforderten Sache durch diesen in der konkreten Situation gegeben und erkennbar sind (siehe dazu ausführlich B.III.1.b)). So ist es hier; der Eigentümer darf den zur Gefahrabwendung erforderlichen Zugriff des Notleidenden auf die Sache (Hütte, Feuerholz) nicht verhindern. B dürfte also unter diesen Voraussetzungen nicht etwa einen vorhandenen Sicherheitstürriegel vorlegen und so den A davon abhalten, in die Hütte zu gelangen608. Man beachte: Rechtlich hilfspflichtig im Verhältnis zum notleidenden anderen ist der Eigentümer nach grundbegrifflicher Rechtskonstruktion hingegen nicht (dazu ausführlich oben A.II.3., B.II.2., B.III., B.IV.2.cc)). Das heißt auch: Wenn B etwa, bevor die gerade genannten Voraussetzungen des Notrechtserwerbs des A (im Verhältnis zum Eigentümer B) eintraten, den Sicherheitsriegel schon umgelegt hatte, so dass dem A selbst die physische Möglichkeit eines rettenden Zugriffs konkret fehlte (und innerhalb der Hüt­ te keine andere Person freiwillig als Notstandshelfer für A tätig werden will), dann tritt kein Notstandserwerb des A hinsichtlich der zur Rettung 608  Sollte er dies unter billigender Inkaufnahme aller als möglich erkannten Fol­ gen tun und A erfrieren, dann wäre B wegen Totschlags nach § 212 Abs. 1 StGB (durch Verriegeln der Tür) zu bestrafen: Die objektive Zurechnung bzw. deren Be­ standteil einer rechtlich missbilligten Gefahrschaffung liegt dann darin, dass B trotz des Notstandserwerbs des A (im Verhältnis zu ihm) dessen empirische Durchsetzung (den physischen rettenden Zugriff) aktiv verhinderte, vgl. Fn. 567.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen381

erforderten Sachen ein; A’s Kältetod vor der Hütte ist dann rechtlich nicht zu einem Verhalten des B zuzurechnen. B verwirklicht dann weder durch ein aktives Handeln, noch durch ein Unterlassen (schweres) Unrecht (nach geltendem Recht begeht er eine unterlassene Hilfeleistung im Sinne von § 323c StGB, die verfehlter Weise zur Straftat erhoben wurde, zur Kritik oben B.III.2.b)609). Die genannten, aus dem Notstandsrechtsgrundbegriff entwickelten Er­ werbskriterien (ausführlich dazu B.III.1.b)) tragen somit zur Beantwortung der, wie Reinhard Merkel feststellt, „wenig geklärten Frage zu den Gren­ zen der Reichweite des Notrechts“610 bei. So ergibt sich auch die Antwort auf die von Merkel aufgeworfene Frage, weshalb („anhand welcher Prin­ zipien“, Merkel, a. a. O., Fn. 610) es unterschiedlich zu beurteilen ist, wenn einerseits Bootsbesitzer B den R niederschlägt, um dessen Zugriff auf B’s Boot zur Rettung des gerade zu ertrinkend drohenden O zu verhindern; andererseits B sein Boot prophylaktisch wegschließt, weil er „aus fernem aufgeregten Geschrei“ zutreffend vermutet, es sei möglicherweise jemand in der Gefahr des Ertrinkens und ein Retter werde demnächst versuchen, auf sein Boot zuzugreifen (in beiden Konstellationen ertrinkt der zuvor Gefährdete)611: In der erstgenannten Konstellation erwirbt der Notleidende O über den in seinem Willen tätig werdenden Notstandshelfer R, der zu einem realen und an sich tauglichen Zugriff auf das zur Rettung erforderte Boot erkennbar ansetzt, die Gebrauchsbefugnis an diesem. Das ist eins mit der Beschrän­ kung des Umfangs der Gebrauchsbefugnis des Besitzers B, insoweit ein Notstands(hilfe)zugriff erforderlich ist. Insofern führt R keinen rechtswidri­ gen Angriff auf Eigentum bzw. Besitz des B durch, indem er zum Zugriff ansetzt (Rechtfertigung der Besitzstörung aufgrund von Notstandshilfe nach § 904 S. 1 BGB). Das Niederschlagen des R durch B verwirklicht eine rechtswidrige Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) zum Nachteil des R und als vorsätzliches Abbrechen eines (rechtmäßigen) lebensrettenden Kau­ salverlaufs einen Totschlag zum Nachteil des O (§ 212 Abs. 1 StGB). 609  Im Falle des zu ertrinken drohenden Schwimmers, der sich auf ein nahes Boot oder Schiff retten will (dazu schon ausführlich B.III.1.b)), gilt dasselbe: Sollte das nahe Schiff etwa so hohe Außenwände ohne Treppe oder Leiter haben, dass ein Aufstieg aus eigener Kraft nicht möglich ist und sollte auch kein – gemäß dem ethischen Gebot – hilfsbereiter Mensch an Bord sein, dann kommt kein Notrechts­ erwerb zustande. Ein Davonfahren durch die Seeleute wäre keine Tötung des Ertrin­ kenden. Das Unterlassen der Hilfeleistung verwirklicht grundbegrifflich (wenn überhaupt) Ordnungsunrecht, materiell kein Strafunrecht, vgl. auch B.III.2.b. und Fn. 423 sowie Fn. 565. 610  Merkel, FS-Herzberg, S. 222, dort Fn. 71. 611  Merkel, a. a. O., Fn.  610.

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B. Auflösung der Aufgabe

In der zweiten Konstellation des vorsorglichen Wegschließens findet mangels eines physisch umsetzbaren Willens des Notleidenden (O) oder ei­ nes in dessen Willen handelnden Dritten zum konkreten Zugriff auf das Boot des B kein einseitiger Noterwerb statt (vor dem Wegschließen); nach dem Wegschließen kommt ein solcher nicht mehr in Betracht, weil es (so ist der Sachverhalt zu verstehen) entweder mangels Kenntnis vom Vorhandensein des Bootes schon am Zugriffswillen diesbezüglich fehlt oder jedenfalls ein solcher Willensinhalt weder seitens des Notleidenden noch durch einen hilfsbereiten Dritten (Notstandshelfer) realisierbar ist612. Schwieriger – wenngleich letztlich bloß nach denselben Kriterien zu be­ urteilen – ist folgender Fall, der ebenfalls von Reinhard Merkel gebildet wurde613: In einer Nacht im Januar, es herrschen Temperaturen von ca. Minus 6º Celsius, verlässt der Chef eines größeren Bekleidungskaufhauses (A) sein Büro. Auf der Straße sieht er einen Obdachlosen (O), der sich auf einem der Oberlichtgitter vor dem mehrstöckigen Haus am Rande des Bürgersteigs niedergelassen hat, durch die ein sanfter Strom warmer Abluft aus dem Heizungskeller des Hauses nach draußen abgegeben wird. Weil A befürch­ tet, die dortige Anwesenheit des O könne am nächsten Morgen einen Teil der Kundschaft vom Betreten des Kaufhauses abhalten, spricht er O an und fordert ihn zum Verlassen dieses Ortes auf, den O sich offensichtlich als Schlafstätte ausgesucht hat. Dabei erkennt A jedoch anhand der leeren Schnapsflasche des schlafenden O, dass mit diesem derzeit keinerlei Kom­ munikation möglich ist. Mit dem Gedanken, es dem O wenigstens ungemüt­ licher zu machen geht A ins Haus zurück und stellt im Heizungskeller den Regulator für die Zentralheizung auf „Aus“. Mögliche weitere Folgen für O bedenkt er nicht. Dann fährt A nach Hause. Am nächsten Morgen um 7 Uhr wird O gefunden; er ist erfroren. Die Frage ist, ob und ggf. wie A sich strafbar gemacht hat. Merkel, der diesen Sachverhalt sowohl zum Gegenstand einer studentischen Aufgabe als 612  Nach geltendem Recht kommt dann nur eine Strafbarkeit des B wegen unter­ lassener Hilfeleistung nach § 323c StGB in Betracht (grundbegrifflich-konstruierbar bzw. materiell handelt es sich sogar lediglich um Ordnungsunrecht). 613  Merkel, FS-Herzberg, S. 193 ff. (dort erzählerisch in schönerer Fassung). Merkel geht es dabei v. a. um die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen (vgl. dazu meine Anmerkung in Fn. 619). Der Umstand, dass im Rahmen dieser Arbeit relativ viele von Reinhard Merkel gebildete Fälle als Subsumtionsmaterial dienen, erklärt sich nicht nur daraus, dass ich viele Jahre als sein wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war und mir daher viele seiner Arbeiten bekannt sind, sondern ist v. a. darin begründet, dass sich Merkel meiner Erfahrung nach meisterlich darauf versteht, normative (Hypo-)Thesen durch Bezug auf von ihm gebildete (Grenz-)Fälle auf die Probe zu stellen und so die sachlich-rechtlichen und dogmatischen Fragen auch in bislang dunklen Ecken auszuloten und zuzuspitzen.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen383

auch eines Briefwechsels mit Herzberg gemacht hat, schildert, dass sämt­ liche Studenten wie auch Herzberg hier eine Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB bejahten. Merkel selbst hingegen verneint eine solche614. Der Sache nach hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, ob der Obdachlose (O) notstandsrechtlich schon eine zur Rettung erforderte Sache zum rettenden Gebrauch einseitig erworben hat (positivrechtlich nach § 904 S. 1 BGB), die A ihm durch das Abschalten der Heizungsanlage deshalb rechtswidrig nimmt oder nicht615. Nun ist in tatsächlicher Hinsicht unklar, ob O sich zum Zeitpunkt des Niederlegens auf dem Gitter bzw. Luftstrom oder wenigstens zum Zeitpunkt des Einschlafens im Glauben an eine Fort­ dauer des Luftstroms schon in einer Gefahr von Erfrierungen befand und falls ja, ob er ggf. andere Möglichkeiten hatte, diesen zu entgehen (etwa Obdachlosenunterkunft etc.). Letztlich kommt es darauf aber schon deshalb nicht an, weil das Verhalten des O (Niederlegen auf dem am Rande des Bürgersteigs befindlichen Lüftungsgitter) schon in abstrakter Betrachtung kein Unrecht verwirklicht, also niemandem etwas ihm Zustehendes nimmt und somit (im dogmatischen Sinne) keiner Rechtfertigung bedarf. Denn selbst wenn dieses Gitter im Eigentum des Gebäudeinhabers stehen sollte oder ggf. vom Kaufhausbetreiber mitgemietet sein sollte, dürfte es an sich zum allgemeinen Betreten freigegeben sein. Und was die herausströmende, warme Abluft angeht, die der O nutzt, so gehört diese beim Austreten in 614  Merkel bejaht eine Strafbarkeit des A nach § 323c StGB; jedoch dürften die Sachverhaltsangaben zur subjektiven Seite die Annahme der Kenntnis des A vom Vorliegen eines „Unglücksfalls“ bei O nicht tragen (Ungemütlichkeit reicht nicht, um einen Unglücksfall im Sinne von § 323c StGB darzustellen). 615  Soweit zunächst auch Merkel, der allerdings von einem „Notstandsrecht zur Sicherung der Fortdauer des lebensrettenden Warmluftstroms“ spricht, welches er bejaht; Merkel, FS-Herzberg, S. 221. Sofern Merkel mit der Frage nach einem Recht „zur Sicherung“ des Luftstroms nicht bloß ein Zustehen des vorhandenen Luftstroms oder seines Andauerns zu O meint, sondern ein Recht auf aktive Durchsetzung die­ ses Zustehens seitens anderer, kann ich ihm allerdings nicht folgen: Eine ursprüngliche Hilfspflicht als Rechtspflicht besteht, wie mehrfach dargelegt, nach grundbe­ grifflicher Konstruktion gerade nicht. Gegenstand eines Noterwerbs nach § 904 S. 1 BGB (auf den auch Merkel abstellt), ist keinesfalls die aktive Leistung einer Person (sondern eine Sache zu ihrem Gebrauch durch den Notleidenden). Im Übrigen leuchtet mir auch bei Bejahung dessen die von Merkel vertretene Lösung nicht ein, nämlich Verneinung einer (aktiv begangenen) fahrlässigen Tötung des O durch A deshalb, weil dieser dem O nicht das Rettungsmittel nehme, sondern zwar leisten müsse, aber „nur im Rahmen und bei Strafe des § 323c StGB“ (Merkel, ebenda, S. 222, vgl. auch Fn. 614). Ein „Recht zur Sicherung der Fortdauer des Warmluft­ stroms“ setzt ein Recht (ein Zustehen) der Fortdauer des Luftstroms doch voraus (sondern gäbe es nichts zu Sicherndes bzw. Durchzusetzendes). Aber genau diesen stellt A eigenhändig ab. Täte A nichts, dann bliebe der Luftstrom dem O; sofern die Luftstromfortdauer also O zustand, nähme A diese dem O sehr wohl.

384

B. Auflösung der Aufgabe

den öffentlichen Raum rechtlich gar nicht (mehr) zum Eigentum oder Besitz des Betreibers. Die Nutzung als Wärmespender durch O war jedenfalls rechtmäßig. Zugleich ist damit aber Folgendes bestimmt: Die Heizungsanlage, die den Warmluftstrom erzeugte, erwarb O notstandsrechtlich jedenfalls nicht. Insoweit fehlt es an einer physischen Erreichbarkeit der Anlage als erforderlichem Zugriffsziel in der Notsituation sowohl im Zeitpunkt des Nieder­ legens als auch im Zeitpunkt nach Abschaltung der Anlage seitens A (eine etwaig mögliche physische Erreichung und Bedienung durch Eindringen in den Keller wäre jedenfalls nicht erforderlich, schon weil etwaige Erfrie­ rungsgefahr mit dem Eindringen an sich abgewendet wird). Somit erwarb O notstandsrechtlich auch nicht die Fortdauer des Luftstroms; denn dies ist dasselbe. Folglich nahm A mit dem Abschalten der Anlage dem O nichts ihm Zustehendes; er setzte durch Abschalten seiner eigenen Hei­ zungsanlage weder abstrakt eine unzulässige Gefahr im Verhältnis zu an­ deren (außerhalb des Kaufhauses befindlichen Personen), noch schuf er – unter Einbezug des konkreten Verhältnisses der Beteiligten mangels not­ standsrechtlichen Gegenstandserwerbs seitens O – eine rechtlich-unzulässi­ ge Gefahr. Der Tatbestand des § 222 StGB ist mangels recht­lich-missbilligter Gefahrschaffung bzw. mangels Verstoß gegen eine rechtliche Sorgfalts­ norm616 zu verneinen. Im Ergebnis entspricht dies insoweit der Lösung des Falles durch Rein­ hard Merkel. Im genauen Sachgrund und auch in der dogmatischen Umsetzung tut es das nicht: Zwar ist Merkel zunächst darin zuzustimmen, dass Ergebnisse von Fallbeurteilungen nicht etwa bloß davon abhängen dürfen, ob ein Verhalten naturalistisch als Tun oder Unterlassen beschrieben wird, sondern von den „jeweils einschlägigen rechtlichen Pflichten“617. Und diese hängen, wie Merkel feststellt, in den interessierenden Konstellationen beste­ hender Notlagen selbstverständlich von Inhalt, Umfang und Grenze der Notstandsrechte ab. Zu widersprechen ist Merkel jedoch in zwei Punkten: Erstens ist Gegenstand eines Notstandsrechts (d. i. ein Recht auf einseiti­ gen Erwerb) nur der erforderliche Gebrauch einer Sache oder jedenfalls eines seitens des anderen erworbenen, also nicht angeborenen, Gegenstan­ des; nicht die Leistung einer Person. Dementsprechend erscheint es mir bei Merkel auch in sich nicht stimmig, ein Recht des O auf „Sicherung der Fortdauer des Warmluftstroms“ gegenüber A zwar zu bejahen, das Abschal­ 616  Vgl. auch Fn. 567 und Fn. 608. Angemerkt sei, dass die üblichen unterschied­ lichen Bezeichnungen der Elemente des Begriffs der objektiven Zurechnung im Rahmen von Vorsatzdelikten einerseits und Fahrlässigkeitsdelikten andererseits überflüssig sind. Es handelt sich insoweit stets um dieselben Sachfragen. 617  Merkel, FS-Herzberg, S. 220–221.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen385

ten der Anlage durch A als Abbrechen einer de facto schon laufenden Ver­ sorgung dann aber nur als Unterlassen einer solchen Sicherung des bejahten Rechts auf Fortdauer einzuordnen (vgl. Fn. 615 und schon die allgemeine Kritik an der Annahme einer allgemeinen ursprünglichen Hilfspflicht als Rechtspflicht unter B.IV.2.). Zweitens betrifft die von Merkel zutreffend geforderte konkrete Pflichtenbestimmung bzw. -abgrenzung m. E. dogmatisch nicht unmittelbar die Verhaltensform (Tun oder Unterlassen), sondern stets die objektive Zurechenbarkeit (sowohl im Rahmen des aktiven Vorsatzdelikts, des aktiven Fahrläs­ sigkeitsdelikts als auch der Unterlassungsdelikte, die richtigerweise stets Sonderpflichtdelikte sind). Wie dargestellt kann das Abschalten der Hei­ zungsanlage durch A sehr wohl in einer auch-naturalistischen Betrachtung618 als aktives Tun im Sinne einer möglichen tatbestandsmäßigen (aktiven) Handlung unter § 222 StGB betrachtet werden; diese schafft nur eben keine rechtlich-unzulässige Gefahr619. Um etwaige Missverständnisse an dieser Stelle auszuschließen, erschei­ nen hier Abgrenzungen in zwei Richtungen angebracht: 618  Selbstverständlich handelt es sich im Recht niemals um eine rein-naturalistische Betrachtung, weil schon der Begriff des Verhaltens im Sinne einer Persönlichkeitsäußerung überhaupt eine allgemeingültig-normative (Sollens-)Perspektive vor­ aussetzt, vgl. B.II.4.b). 619  In dogmatischer Hinsicht muss sich Merkels interessanter Ansatz zur Abgren­ zung von Tun und Unterlassen insofern die Kritik gefallen lassen, die gesamte tatbestandsmäßige Prüfung schon zur Bestimmung der Verhaltensform vorwegzunehmen, wobei immer ein auch-naturalistischer Begriff des aktiven Tuns zunächst vorausgesetzt wird, welches dann, wenn es kein Eindringen in den Bereich anderer im Sinne einer rechtlich-unzulässigen Gefahrschaffung darstellt, als rechtliches Unterlassen qualifiziert werden soll. Ebenfalls nicht folgen kann ich Merkel dementsprechend, wenn er meint, der oben geschilderte Fall sei unter dem Gesichtspunkt der objektiven Zurechenbarkeit des Erfolges notwendig „vollkommen gleich“ dem Fall zu beurtei­ len, dass ein Gärtner, der bei der Bewässerung seines Gartens bislang auch die Blu­ men des Nachbarn auf dessen Grundstück mitbewässert, nun aber seine Anlage in Absehung der Folgen abstellt oder anders ausrichtet, sodass die Pflanzen des (verreis­ ten) Nachbarn vertrocknen (Merkel, FS-Herzberg, S. 195, 196): Das Abschalten (An­ ders-Ausrichten) eines eigenen Sprengers auf dem eigenen Grundstück als mögliche aktive Sachbeschädigungshandlung schafft – unter § 303 Abs. 1 StGB beurteilt – bei abstrakter Abgrenzung der rechtlichen Verantwortungsbereiche der Personen keine unzulässige Gefahr für Güter des Nachbarn. Auch unter Einbezug des konkreten Verhältnisses der Betroffenen ergibt sich nichts anderes (keine Rechtspflicht zum aktiven Tun mangels diesbezüglichen Versprechens / Vertrags, sodass ein Unterlassungsdelikt in Betracht käme). Insbesondere ist – schon mangels rechtlich-relevanter Notstandslage – ein Notstandserwerb des Nachbarn an der Fortdauer der Bewässerung (Spren­ ger als Quelle) ganz fernliegend. Siehe – in Abgrenzung dazu – zu einem immerhin möglichen Notstandserwerb des Obdachlosen an der Heizung, nämlich vermittelt über einen freiwillig helfenden Dritten (Notstandshelfer) noch unten.

386

B. Auflösung der Aufgabe

Erwerbsrechtlich und damit auch im Ergebnis anders zu beurteilen ist es, wenn jemandem die Wirkungen einer Quelle abgeschnitten werden und ihm von vornherein auch die Quelle (quasi anteilig) zusteht: Dies kann zum einen darauf beruhen, dass bestimmte Sachen ausgehend vom (ideell) ursprünglichen Gemeinbesitz gar nicht in ausschließliche Sondergebrauchsbefugnisse einzelner übergehen, sondern allen anteilig bzw. zur gemeinsamen Nutzung zustehend bleiben (am deutlichsten wohl hinsichtlich des Meeres mit Ausnahme der küstennahen Bereiche, vgl. Kant, MdS, RL, §§ 15, 17). Es täte etwa ein Volk einem anderen Unrecht, wenn es einen im Staatsge­ biet entspringenden großen Fluss, der durch mehrere Länder läuft, so um­ leitete oder blockierte, dass im Nachbarland kein Wasser mehr ankommt, obwohl auch die Einwohner dort darauf notwendig angewiesen sind: Die Quelle, obwohl im Staatsgebiet des einen gelegen, steht dann von vornher­ ein nicht nur den Bürgern dieses Volkes zu. Wo genau – hinsichtlich wel­ cher Güter und welcher Angewiesenheit darauf – dabei die Grenze zu ziehen ist (Ölquellen etwa fallen nicht darunter620), kann im Rahmen dieser Arbeit dahinstehen. Jedenfalls stellt eine zu privaten Zwecken erbaute und in Be­ trieb genommene Anlage niemals einen solchen von vornherein privatbesit­ zunfähigen Gegenstand dar. Soll die Fortdauer der Wirkungen einer privaten Anlage, die an sich nicht auch zur Sicherung der sie konkret nutzenden (gebrauchenden) Person eingerichtet ist, dieser Person trotzdem unabhängig vom Willen des an sich Gebrauchsbefugten (Eigentümers, berechtigten Be­ sitzers) als Mittel zur Abwendung einer Notlage rechtlich zustehen, dann ist ein notstandsrechtlicher (einseitiger) Erwerb der Quelle zum insoweit erforderlichen Gebrauch nach den genannten Kriterien vorausgesetzt. Eben dar­ an fehlt es im obigen Fall des obdachlochen O in Bezug auf die Heizungs­ anlage des Kaufhauses. Die zweite angekündigte Abgrenzung: Selbstverständlich ist die Schaf­ fung einer rechtswidrigen Gefahr gegeben, wenn eine Anlage abgeschaltet wird, deren Wirkungen schon abstrakt zum sicheren Gebrauch einer Sache vorausgesetzt sind, sodass die Abschaltung an sich – ohne Einbezug eines etwaigen konkreten Notstandserwerbs in Bezug auf die Anlage – eine rechtlich-unzulässige Gefahr für etwaige Nutzer schafft. Zur Verdeutlichung auch insoweit ein Beispielsfall: Die angestellte Fleischereifachverkäuferin F betritt abends und schon mit ihrem Mantel bekleidet das kleine, nahezu luftdichte Kühlhaus, dem über eine Lüftungsanlage Luft zugeführt wird. Dabei fällt ihr versehentlich die Tür so zu, dass sie nun eingesperrt ist. Am nächsten Morgen um 5.30 Uhr 620  Diese müssen erst gefunden und erschlossen werden; im Übrigen besteht in­ soweit wohl auch kaum eine Angewiesenheit und Erforderlichkeit zur Abwendung von Gefahren körperlicher Verletzungen oder des Todes.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen387

betritt die Putzfrau P das Geschäft, um sauber zu machen. Über einen aus Sicherheitsgründen angebrachten Monitor, der mit einer Kamera verbunden das Innere des Kühlhauses zeigt, erkennt sie die Lage. Weil sie sich zuvor jedoch mit F gestritten hat, ist sie nicht bereit, die Tür von außen zu öffnen; sie meint, es solle doch die gegen 7.30 Uhr eintreffende Kollegin der F helfen. Beim Saubermachen stößt P gegen den Schalter der Lüftung und stellt diesen, ohne es zu bemerken, auf „Aus“. Sie verlässt gegen 6.00 Uhr das Geschäft. Als um 7.30 Uhr eine Kollegin der F eintrifft, findet sie F im Kühlhaus; sie ist durch Erstickung gestorben. Hier ist die Belüftungsanlage (jedenfalls auch) eingerichtet zur personalen Sicherheit für Personen, die das Kühlhaus im Inneren nutzen. Das Abschal­ ten schafft (schon abstrakt) eine rechtlich-missbilligte Gefahr für jeden, der das Kühlhaus betritt oder betreten hat. Diese unzulässige Gefahrschaffung realisierte sich hier im Tode der F. Auf einen Einbezug des konkreten Verhältnisses der Beteiligten, also einen etwaigen Notstandserwerb der F be­ treffend die Lüftungsanlage, kommt es für die Frage einer rechtlich-missbil­ ligten Gefahrschaffung – als erster Bedingung der Zurechenbarkeit einer Erscheinung zu einer Handlung – hier also nicht an. Durch die Abschal­ tungshandlung hat sich P somit wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB strafbar gemacht621. Insoweit abschließend möchte ich noch folgende, ebenfalls von Reinhard Merkel beurteilte Abwandlung des obigen Falles (Abschalten der Heizungs­ anlage durch Kaufhausleiter A) ansprechen: Wie oben, jedoch erkennt der noch anwesende Hausmeister H die – je­ denfalls aus einem Abschalten der Heizungsanlage resultierende – Notlage für O. Er stellt sich seinem Chef (A) vor dem Heizungsschalter in den Weg, um ihn am Abschalten zu hindern. A schlägt H daraufhin nieder und legt den Schalter mit bekannten Konsequenzen um. Merkel bejaht in dieser Konstellation nun eine Strafbarkeit des A nach § 222 StGB, weil er annimmt, A habe mit dem Niederschlagen des H „in den für die Dauer der Gefahr rechtlich (§ 904 BGB) dem O zugeordneten rettenden Verlauf – das Fortdauern des Heizungsluftstroms – eingegriffen“622. Nach dem hier dargelegten Begriff trifft dies im Ergebnis zu, sofern man – wenngleich lebensfremd623 – annimmt, es habe für den Notstands­ 621  Bei Vorsatz der P hinsichtlich der Abschaltungshandlung in Voraussicht aller Folgen läge selbstverständlich ein Totschlag (ggf. auch Mord) vor. 622  Merkel, FS-Herzberg, S. 221. 623  Das ist deshalb lebensfremd, weil die Existenz von Alternativen der Not­ standshilfe für den Hausmeister H naheliegen: Zu denken wäre etwa an einen zu­ gunsten des O nach Abschaltung der Anlage durch A geleisteten Notruf bei einem

388

B. Auflösung der Aufgabe

helfer H kein eigenes oder milderes Mittel zur Bewahrung des O vor Er­ frierungen gegeben (Erforderlichkeit der Notstandshilfe). Hier erweiterte H nämlich als freiwilliger Notstandshelfer gemäß dem mutmaßlichen Willen des durch die Handlung des A in schwere Not (Gefahr von Erfrierungen und Tod) geratenden O624 dessen physische Macht und damit seine Noterwerbs­ möglichkeit. Er bewirkte so die Beschränkung der an sich umfänglichen Gebrauchsbefugnis des A hinsichtlich der Heizungsanlage; H’s eigener Zu­ griff auf die Anlage war rechtmäßig. A’s beginnende Abschaltungshandlung, realisiert über ein rechtswidriges Aus-dem-Weg-Schaffen des rechtmäßig handelnden H, schuf dann im Verhältnis zu O eine rechtlich-unzulässige Gefahr, die sich in dessen Tode realisierte. A ist strafbar wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB zum Nachteil des O und ebenfalls wegen eines Körperverletzungsdelikts zum Nachteil des H625. c) Zur Rechtfertigung von Ordnungsnormverstößen bzw. Körpergefährdungen (über Sachnutzungserwerb) Ordnungsnormen sind in der Regel interpersonale Raumaufteilungen. Ordnungsverstöße (etwa Eingriffe in die Straßenverkehrssicherheit) sind nur zulässig, sofern sie zur Abwendung schwerer körperlicher Beeinträchti­ gungen (oder gar eines Lebensverlustes; nicht zur Rettung bloßer Sachgüter) erforderlich sind und sofern sie im Hinblick auf Gefährdungen angeborener Güter anderer gänzlich abstrakt bzw. konkret folgenlos bleiben: Sobald aus einem Ordnungsnormverstoß eine konkreten Gefahr für den Leib anderer resultiert, war das unmittelbar vorangehende Verhalten unzulässig. So ist etwa eine Geschwindigkeitsübertretung auf nicht oder kaum befah­ rener Straße oder ein formaler Rotlichtverstoß dann gerechtfertigt (positiv­ rechtlich nach § 16 OWiG), wenn der Handelnde diese bewusst so kontrol­ liert, dass andere nicht konkret gefährdet werden (etwa durch vorsichtiges Rettungsdienst (ggf. Feuerwehr) oder der Polizei. Hier soll aber zum Zwecke der Verdeutlichung der Anwendung des Notrechtsbegriffs die Nichtexistenz solcher Möglichkeiten in der in Betracht kommenden Zeitspanne gesetzt sein. 624  Zutreffend weist Merkel darauf hin, dass wenn nach einer Handlung eine Notlage einer Person vorläge, die zur Abwendung einen rechtmäßigen Notstands(hilfe) zugriff begründete, ein solcher Zugriff (hier der des H auf die Heizungsanlage) schon zur Bewirkung des Nichteintritts der Gefahr rechtmäßig ist, Merkel, FSHerzberg, S. 214, dort Fn. 54. 625  Vorausgesetzt eben die realitätsferne Annahme der Erforderlichkeit des Not­ hilfezugriffs auf die Heizungsanlage, vgl. Fn. 623. Die genaue Beurteilung der Kör­ perverletzung zum Nachteil des H hängt von der Vorstellung des A beim Nieder­ schlagen des H ab (ein Erlaubnistatumstandsirrtum liegt nicht fern; darauf kommt es im Rahmen dieses Themas jedoch nicht weiter an).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen389

Hineintasten in einen Kreuzungsbereich trotz Rotlichtanzeige zur Verbrin­ gung eines Schwerverletzten in ein Krankenhaus bei Unmöglichkeit des Herbeirufens eines Notarztes). Sobald bei einem solchen – für andere Ver­ kehrsteilnehmer nicht nach einem allgemeinverständlichen Zeichen erkennbaren – Ordnungsnormverstoß die dann erforderliche besondere Sorgfalt außer Acht gelassen wird oder andere gar durch den Verstoß in konkrete Kollisionsgefahr geraten, ist das Handeln rechtswidrig626. Gerechtfertigt sein (§ 16 OWiG) kann in einer konkreten Lebens- oder schweren Leibesgefahr und bei Unmöglichkeit des Herbeirufens eines pro­ fessionellen Rettungsdienstes eine ansonsten nicht zulässige Verwendung eines blauen Blinklichts mit Einsatzhorn – das nach der StVO für andere Verkehrsteilnehmer anordnet, freie Bahn zu machen (§ 38 Abs. 1 StVO) – auch durch einen an sich dafür nicht Zuständigen während einer Fahrt in ein Krankenhaus. Auch dabei dürfen andere Verkehrsteilnehmer nicht kon­ kret gefährdet werden. Allerdings haben diese in Anbetracht des Einsatz­ horns mit Blinklicht entsprechende Rücksicht zu nehmen, sodass bei Unter­ lassen dessen ein schweres Fehlverhalten anderer vorliegen kann, welches ggf. den Zurechnungszusammenhang zwischen dem schnellen Fahren des Notstandstäters und der konkreten Gefährdung anderer unterbricht. So darf etwa nach einem schweren Verkehrsunfall eines privaten Pkw mit einem Polizeiwagen, bei welchem der Polizist schwer verletzt und die Funkein­ richtung zerstört wird und zudem keine sonstige Notrufmöglichkeit vor Ort existiert, der unverletzte andere den Verletzten unter Nutzung des Polizei­ wagens mit Blaulicht und Einsatzhorn unter Übertretung abstrakter Straßen­ verkehrsregel ins naheliegende Krankenhaus bringen, wobei er von einem Freimachen der Bahn durch andere ausgehen kann (trotzdem ist besondere Rücksichtnahme zur Vermeidung konkreter Gefahren anderer unbedingt er­ forderlich). Wenn ein anderer Verkehrsteilnehmer bewusst oder aus grober 626  Pauschal ausgedrückt ist eine zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Körperintegrität oder das Leben erforderliche (notstandsbedingte) Ordnungs­ normabweichung rechtlich insoweit möglich, wie sich andere darauf konkret (sicher) einstellen können (situationsabhängig); im Ergebnis ebenso OLG Karlsruhe, JZ 1984, 240, 241 (Wenden eines Geisterfahrers auf der Autobahn), vgl. dazu auch Gropp, AT, S. 230 ff. (dabei ist es eine bloß dogmatische Differenz, ob man die entsprechende abstrakte Ordnungsnorm gleich reduziert auslegt oder eine Rechtfer­ tigung eines abstrakten Normverstoßes etwa nach § 16 OWiG bejaht). Etwa das gegenseitige Rücksichtnahmegebot betreffend den Straßenverkehr (§ 1 StVO) impli­ ziert die trotz gültiger Ordnungsnormen bestehende Notwendigkeit einer erforderli­ chen Anpassung an die jeweiligen Umstände unter dem allgemeinen Verletzungsver­ bot (d. i. das Gebot, unverletzt aneinander vorbeizukommen), wobei selbstverständ­ lich nicht jede konkret-ungefährliche Normabweichung auch rechtmäßig ist (sondern eben nur bei vorausgesetzter Erforderlichkeit zur Abwendung einer bedeutenden Gefährdung angeborener Güter, nämlich wegen der sich damit verändernden recht­ lichen Raumnutzungsverteilung).

390

B. Auflösung der Aufgabe

Unachtsamkeit diese Notsignale unbeachtet lässt und (ggf. aufgrund eines weiteren Verkehrsverstoßes, etwa zu schnelles Fahren) deshalb konkret ge­ fährdet wird, so kann die Zurechnung dieser Gefahr zum Notstandstäter bzw. -helfer aufgrund der groben Fahrlässigkeit des anderen und somit nach allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen ausgeschlossen sein. Jeglicher Zugriff auf den Körper oder den Willen anderer ist somit – wenn überhaupt – rechtlich nur im gerade skizzierten Sinne bodenvermittelt bzw. sachgebrauchserwerbsvermittelt möglich: Entsprechend der Lösung im zuletzt gebildeten Fall ist es zu beurteilen, wenn jemand Fußgänger aus dem Weg schiebt, weil er zur Abwendung ei­ ner Gefahr für Leben oder Leib (in bedeutsamem Ausmaß) auf sein schnel­ les Fortkommen angewiesen ist. Diesbezüglich existieren – anders als beim Verkehr mit Fahrzeugen – keine weitgehend ausformulierten positiven Ordnungsregeln; prinzipiell ändert dies nichts: Wenn die enge Notlage und der Zugriffswille (Wille des Betretens genau dieses Teils des Bodens, auf welchem der Passant sich gerade befindet) für die Passanten erkennbar sind, sodass konkreter Notrechtserwerb dieses Bodens durch den Notbetrof­ fenen eintritt (der Passant die Gebrauchsbefugnis insoweit korrespondierend verliert) und wenn zusätzlich der jeweils aus dem Weg geschobene bzw. gestoßene Passant die Möglichkeit eines Selbstausweichens hatte, dann ist das Wegschieben bzw. -stoßen gerechtfertigt. Hier findet ein Übergang von einer Notstandsrechtfertigung betreffend die Gebrauchsanmaßung in Bezug auf einen fremden Boden hin zu einer Rechtfertigung aus Unrechtsverant­ wortung betreffend den im Ausmaß begrenzten physischen Zugriff auf den Körper einer anderen Person statt (vgl. schon Fn. 471; man mag den Recht­ fertigungsgrund diesbezüglich Notwehr oder „Defensivnotstand“ nennen, dazu noch unten 3.). Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs zwischen notstandsrechtlicher Sachgebrauchsbefugnis und daraus möglicherweise resultierendem Verteidigungsrecht (Notwehr bzw. Defensivnotstand) gegen den an sich Gebrauchs­ befugten wegen dessen rechtswidriger Störung des zulässigen Notstandszu­ griffs eignet sich ein Sachverhalt, der Gegenstand einer Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1990 war („Landstreicher-Fall“)627: Der Landstreicher L hatte die Nacht auf dem Heuboden der Scheune der Eheleute B zugebracht. Als er am nächsten Morgen erwachte, entzündete er sein Feuerzeug, um auf seiner Armbanduhr nach der Zeit zu sehen. Dabei fing das Heu Feuer, welches er zum Schlafen über sich gehäuft hatte. Es entzündeten sich auch sein Pullover und seine Haare. Von Angst ergriffen suchte er den Weg ins Freie. Dazu stieg er zunächst in den ersten Stock herab und dann über eine Leiter in das Erdgeschoss der Scheune. Unten 627  Siehe

BGH, JZ 1990, 763 ff.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen391

befand sich die Bäuerin B, die dabei war, mit einer Heugabel Heu zu holen. Sie stand im dem durch Wagen und Gerätschaften auf 60–80 cm Breite verengten Durchgang, der ins Freie führte. L erschrak über dieses Hinder­ nis, wollte sich aber aus Angst um sein Leben auf der Flucht aus der bren­ nenden Scheune nicht aufhalten lassen. Die Bäuerin B, die durch das Auf­ tauchen des ihr fremden und brennenden Mannes ebenfalls erschrocken war, blieb stehen und riss in einer Schrecksekunde die Heugabel, die sie vor sich hergetragen hatte, nach oben. L entriss ihr daraufhin, ohne ein Wort zu sa­ gen, die Heugabel und schlug, da er in Todesangst keinen anderen Ausweg sah, ein- bis zweimal auf die Frau ein. Da die Bäuerin den Weg auch jetzt noch nicht freigab, kam es zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf L die Bäuerin B zu Boden warf. Hierdurch verletzte sich B. L lief aus der Scheu­ ne, riss sich im Hof die Kleider vom Leib und suchte an einer nahegelege­ nen Wasserstelle Kühlung; er hatte Verbrennungen ersten und dritten Grades an Nacken und Rücken erlitten628. Bemerkenswert ist, dass die Beurteilung dieses Falles offensichtlich nicht nur dem Landgericht – dessen rechtliche Würdigung (abgesehen von der ebenfalls beanstandeten Beweiswürdigung, vgl. Fn. 628) der BGH in Bezug auf die insoweit getroffenen Feststellungen teils zu Recht beanstandet – sondern auch dem BGH selbst erheblich Schwierigkeiten zu machen schien. Das Landgericht, welches den L lediglich wegen fahrlässiger Brandstiftung verurteilte, nahm hinsichtlich seines Zusammentreffens mit der Bäuerin an, L habe sich im Verhältnis zur Bäuerin jedenfalls objektiv in einer Notwehrlage befunden. 628  Der hier gekürzte Sachverhalt nahm tatsächlich einen noch dramatischeren Ausgang: Die Bäuerin verlor bei dem Handgemenge oder dem Sturz möglicherweise das Bewusstsein oder gar – jedenfalls nach dem Ergebnis der landgerichtlichen Be­ weiswürdigung (die der BGH insoweit allerdings beanstandet) – aufgrund einer Schreckreaktion schon das Leben. Jedenfalls gelangte sie nicht ins Freie. Die Scheune brannte vollständig nieder; man fand darin die verkohlte Leiche der Bäuerin. Der Angeklagte L hatte nach dem Ergebnis der landgerichtlichen Beweiswürdigung (die vom BGH auch diesbezüglich beanstandet wird) nach Löschen seiner Kleidung und Haare angesichts seiner Verletzungen nicht mehr an Frau B gedacht und die herbei­ eilenden Dorfbewohner nicht von deren Anwesenheit in der Scheune in Kenntnis ge­ setzt. Für das hiesige Thema eines etwaigen Notstandsrechts des L beim Verlassen der Scheune und dessen Konsequenzen für die rechtliche Beurteilung seines aktiven Verhaltens gegenüber der Bäuerin B kommt es auf den weiteren Verlauf jedoch nicht an. Selbstverständlich ist, dass, sollte das Verhalten des L gegenüber B (zu-BodenWerfen) als rechtswidrig zu beurteilen sein, das Unterlassen der Hilfe durch L wegen dessen dann aus Ingerenz gegebener Garantenstellung theoretisch ein (versuchtes) Tötungsdelikt durch Unterlassen verwirklichen kann (das Landgericht hatte hinsicht­ lich der Unterlassung Tötungsvorsatz des L verneint, da es annahm, L habe nicht mehr an B gedacht; auch eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen belegten die land­ gerichtlichen Feststellungen insoweit nicht, weil demnach die B eben möglicherweise schon aufgrund eines Schrecks während des Handgemenges gestorben war).

392

B. Auflösung der Aufgabe

Zutreffend ist (insoweit mit dem BGH), dass die getroffenen Feststellun­ gen dazu in einem entscheidenden Punkt unzureichend bzw. unklar sind. Was der BGH bei Aufhebung der nach Zurückverweisung zuständigen Kammer jedoch mit auf den Weg gibt, ist mindestens missverständlich: Der BGH nimmt an, dass auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen das Verhalten der B nicht als rechtswidriger Angriff auf L zu beurteilen sei, sodass eine Notwehrrechtfertigung der durch L begangenen Körperverlet­ zung ausscheide: „Das bloße Stehenbleiben auf dem eigenen Grund und Boden bei dem Ansichtigwerden eines Eindringlings kann schon deswegen nicht rechtswidrig sein, weil der Frau gegenüber dem Angeklagten unter normalen Umständen sogar ein Festnahmerecht zugestanden hätte (§ 127 StPO). Ihr Verhalten wurde nicht dadurch rechtswidrig, dass sie den Eingriff in ihre Rechtssphäre aus Sicht des Angeklagten möglicherweise zu dulden hatte. Denn die Duldungspflicht desjenigen, von dem eine Gefahr ausgeht, ergibt sich aus § 34 StGB; sie ist das Spiegelbild der sich aus § 34 StGB ergebenden Eingriffsrechte des Notstandsausübenden. Gesichtspunkte des § 34 StGB können nicht zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Angriffs im Rahmen des § 32 StGB herangezogen werden“629. Anscheinend hat der BGH hinsichtlich einer möglichen Rechtfertigung der durch L begangenen Körperverletzung einen vom Rechtfertigungsgrund der Notwehr unterschiedenen Begriff des Defensivnotstandes im Sinn, den er dogmatisch unter § 34 StGB verorten will. Jedoch ist jedenfalls die letz­ te Aussage unzutreffend: Selbstverständlich besteht ein Zusammenhang zwischen einem Notstandsrecht eines Gefahrbetroffenen zu einem bestimm­ ten Gebrauch fremder Sachen und einem nachfolgenden Notwehrrecht zur Durchsetzung dieses (eben vorausgesetzten) Notstandsrechts gegen einen sich in den Weg stellenden anderen. Letzterer wird – wenn er etwa der Eigentümer des Bodens ist, auf welchem die Interaktion stattfindet – wegen des Notstandsrechts des anderen ein rechtswidrig Angreifender sein630. Der Grund dieser Unklarheiten ist, dass dunkel bleibt, welches hier der Gegenstand eines – einer etwaigen Körperverletzungsrechtfertigung vorausgesetzten – möglichen Notstandsrechts des L ist: Dies ist nicht etwa der Körper der Bäuerin. Der Gegenstand eines in Frage stehenden, primären Notstandsrechts des L ist – nach dem hier dargelegten Begriff nunmehr selbstverständlich – derjeni­ ge Teil des Bodens, den die Bäuerin in dem schmalen Durchgang (jedenfalls durch ihr dortiges Stehen) blockierte. Nur wenn L genau diesen Boden not629  BGH,

JZ 1990, 765. auch Eue in seiner Anmerkung zur betreffenden Entscheidung, JZ

630  Insoweit

1990, 765.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen393

standsrechtlich zur sofortigen Nutzung erworben hätte (eine bestimmte, näm­ lich augenblicklich durchführbare Gebrauchsanmaßung insoweit nach § 904 S. 1 BGB gerechtfertigt wäre), sodass für die B insoweit eine Beschränkung ihrer Gebrauchsbefugnis eingetreten wäre (sie nicht berechtigt war, die Ein­ wirkung auf diese Sache zu verhindern, § 904 S. 1 BGB), könnte sie – etwa durch das erwähnte Hochreißen der Heugabel oder durch ihr Stehenbleiben – zur rechtswidrigen Angreiferin gegen L geworden sein. Es sind also zur Klärung der Frage, wie das Rechte-Pflichtenverhältnis zwischen L und B im Zeitpunkt der Schläge des L gegen B mit dem Heu­ gabelstiel und des anschließenden Zu-Boden-Werfens der B genau beschaf­ fen war, zunächst die Noterwerbskriterien auf den von L versuchten Ge­ brauch des Bodens des engen Durchgangs, der zum Tor der Scheune führte, zu beziehen: Eine Notlage für L, die seine Körperintegrität in erheblichem Ausmaß gefährdete, lag vor (Brand seiner Kleidung und seines Haars). Weder die Gefahrexistenz noch eine sonstige Notstandsvoraussetzung wird durch den Umstand ausgeschlossen, dass der gefahrbetroffene L die Gefahr selbst fahrlässig herbeigeführt hatte (vgl. oben bei Fn. 598). L hatte, indem er den Willen fasste, die Scheune sofort zu verlassen, auch den Willen zum sofortigen Zugriff auf den (physisch erreichbaren) Boden des einzigen Auswegs. Fraglich ist, ob dieser Boden eine zur Gefahrbeseitigung erforderte Sache war (Erforderlichkeit des Zugriffs bzw. fehlende anderweitige Abwendbar­ keit der Gefahr), denn nur insoweit findet ein Noterwerb statt und nur in­ soweit wird die Gebrauchsbefugnis des Eigentümers bzw. Besitzer korres­ pondierend beschränkt. Der BGH bezweifelt dies auf Grundlage der Urteils­ feststellungen: „Dem Angeklagten … musste es nach Lage der Dinge darum gehen, sich die Kleider vom Leib zu reißen oder sonstwie das Feuer an ihm zu löschen. Daran war er aber durch die in der Scheune stehende Bäuerin nicht gehindert. Eine Notwendigkeit, deswegen ins Freie zu rennen, kann nicht ohne weiteres angenommen werden. Jedenfalls hat das Landgericht in dem angefochtenen Urteil nicht geprüft, ob der Angeklagte sich auch inner­ halb der Scheune hätte von seinen Kleidern befreien oder das Feuer sonst­ wie ersticken können. Möglicherweise hätte er die Bäuerin einfach bitten können, ihm beim Löschen des Feuers an seinem Leibe behilflich zu sein. In diesem Fall könnte von einer Gefährdung des Angeklagten erst dann die Rede sein, wenn die Frau ihn daran gehindert oder sich geweigert hätte, ihm zu helfen“631.

631  BGH,

JZ 1990, 764.

394

B. Auflösung der Aufgabe

Diese – zum Ende schiefen – Ausführungen des BGH sind in einem Punkt zutreffend: Hatte der L die Möglichkeit, das Feuer an seinem Leib – welches entgegen dem BGH selbstverständlich eine Gefahr seiner körperli­ chen Integrität ganz unabhängig von einer Reaktion der B darstellte – auch innerhalb der Scheune zu ersticken, dann fehlte es an der Erforderlichkeit des Zugriffs auf den Boden zum Ausgang, auf welchem B stand. Insoweit sind die landgerichtlichen Feststellungen in der Tat unklar, zumal sich dar­ aus nicht ergibt, ob L die außerhalb der Scheune befindliche Wasserstelle nur zur „Kühlung“ seiner Haut oder ggf. doch auch zum Löschen des Feu­ ers benötigte. Sollte, objektiv ex ante beurteilt, eine Feuerlöschung für L auch innerhalb der Scheune möglich gewesen sein, dann scheidet ein Notstandsrecht zur Anmaßung des Bodengebrauchs aus; die Bäuerin B befand sich dann gegenüber dem auf sie zulaufenden L jedenfalls ab dessen Anset­ zen zu irgendeiner Weise des dann rechtswidrigen Zugriffs auf ihren Körper in einer Notwehrlage. Damit der Fall interessant bleibt, soll er in tatsächlicher Hinsicht nun so verstanden, dass L innerhalb der Scheune keine Möglichkeit hatte, die Flam­ men selbst zu löschen, sondern auf das außerhalb der Scheune befindliche Wasser angewiesen war, wobei ein anderer Ausweg als der schmale, durch die Bäuerin blockierte Durchgang nicht zur Verfügung stand. Dann stellt sich die Frage, ob – als weiteres erforderliches Kriterium ei­ nes Notstandserwerbs (vgl. B.III.1.b)) – die Notlage und der Zugriffswille des L für B in der konkreten Handlungssituation erkennbar waren. Diese Erkennbarkeit des Erwerbswillens hat der Notleidende selbst herzustellen (vgl. Fn. 471). Insofern ist von einem Notleidenden, der gedenkt, auf an sich anderen Personen zustehende Güter in deren Anwesenheit zuzugreifen, in der Regel ein deutlicher Hinweis auf Notlage und Zugriffswillen erfor­ derlich. Zwar hätte L nicht, wie der BGH es jedenfalls als Möglichkeit anspricht, die B um ihre Hilfe beim Löschen der Flammen bitten müssen632. Er musste ihr jedoch zu verstehen geben, dass er aufgrund seiner Notlage sofortigen Durchgang ins Freie und damit ihr Zur-Seite-Weichen begehrte. Nach den Feststellungen äußerte L sich explizit nicht dazu gegenüber B. Es kommt insoweit darauf an, ob eine explizite Äußerung deshalb konkret entbehrlich war, weil das Geschehen ggf. auch für die Bäuerin aufgrund der erkennbaren Flammen an Kleidung und Haar des L hinreichend deutlich erkennbar war.

632  Selbstverständlich hätte er bitten können; rechtlich musste er dies jedoch ebenso wenig tun, wie B ihm rechtlich aktive Hilfe hätte leisten müssen (vgl. zur Unmöglichkeit einer aktiven Hilfspflicht als ursprünglich-interpersonaler Rechtspflicht etwa meine Ausführungen unter B.III.1.a), B.IV.2.cc) und dd)).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen395

Wenn man auch dies voraussetzt, dann stellt das Hochreißen der Heuga­ bel durch B, welches ein Fortkommen des L erschwerte, einen rechtswidrigen Angriff auf L dar. Diesen Angriff wehrte L rechtmäßig ab, indem er der B die Heugabel entriss. Soweit war die seitens L verwirklichte Nötigung und Gebrauchsanmaßung nach § 32 StGB gerechtfertigt. Fraglich bleibt dann, ob auch das anschließende ein- bis zweimalige Einschlagen des L auf B mit dem Gabelstiel gerechtfertigt war. Dafür ist zu­ nächst entscheidend, ob in dem das Fortkommen des L dann bloß noch hindernden Stehenbleiben der B ein rechtswidriger Angriff im Sinne von § 32 StGB liegt bzw. ob ihr Dasein wenigstens als von ihr ausgehende unzulässige Gefahr für L (Defensivnotstand, dazu näher unten 3.) betrachtet werden kann. Der BGH meint, das bloße Stehenbleiben könne nicht als Angriff auf das Leben des L beurteilt werden. Das überzeugt nicht: Ein Stehenbleiben, so­ fern es aktives Entgegenstemmen gegen einen den Durchgang erstrebenden Mann ist, ist durchaus als aktives Handeln zu betrachten, das eben wegen des Notstandserwerbs des L und der korrespondierenden Pflicht der B, sich des Gebrauchs der erforderten Sache (Boden des Durchgangs) zu enthalten, auch rechtswidrig war633. Vorausgesetzt ist dabei die faktische Möglichkeit der potentiell rechtswidrig angreifenden bzw. eine unzulässige Gefahr set­ zenden Person, überhaupt aus dem Weg zu weichen. Im konkreten Fall be­ stehen jedoch keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, B habe nach den Umständen keine Möglichkeit gehabt, den Durchgang für L freizugeben. Unabhängig davon, ob eine Notwehrlage des L im Sinne des § 32 StGB oder eine Defensivnotstandslage nach § 34 StGB bejaht wird (vgl. Fn. 633), ist jedoch der Umfang der Verteidigungsbefugnisse beschränkt. Das beruht auf zwei Gründen: 633  Der Sache nach ist es unerheblich (weil soweit eine bloß dogmatische Diffe­ renz), ob man hier einen Angriff im Sinne des § 32 StGB annimmt (ggf. auch began­ gen durch Unterlassen, nämlich Nichtweichen) oder einen dogmatisch unter § 34 StGB zu verankernden Rechtfertigungsgrund des Defensivnotstands prüft, indem man die stehenbleibende Person wegen der Rechtspflichtwidrigkeit dessen als notlagen­ mitbegründenden Gefahrensetzer bestimmt. Unzutreffend ist, wenn behauptet wird, der (in seiner Sachhaltigkeit überhaupt noch in Frage stehende) Rechtfertigungsgrund des Defensivnotstandes durch menschliches Verhalten sei in Analogie zu § 228 BGB entwickelt, so aber etwa Eue, JZ 1990, 766; Hruschka, NJW 1980, 22. Jedenfalls beim durch personales Verhalten ausgelösten Defensivnotstand geht es um einen Rechtfertigungsgrund beruhend auf Unrechtsverantwortung einer anderen Person, während § 228 S. 1 BGB bloß auflösende Bedingungen einer ausschließlichen Gegen­ standszuordnung normiert (vgl. oben B.IV.1.b) und B.V.3.a)). Sofern § 228 BGB als Defensivnotstands-Regel bezeichnet wird, bedeutet dies eben gerade nicht Rechtsver­ teidigung gegen Unrechtsbegehung, sondern bloß rechtliche Sachgütersicherung ge­ gen Naturgefahren. Insofern fehlt es an einer Ähnlichkeit der Verhältnisse.

396

B. Auflösung der Aufgabe

Erstens ist in der Maßbeschränkung – und zwar generell und nicht nur in diesem Fall – berücksichtigt, dass bei einer notstandsrechtlichen Umkeh­ rung der konkreten Sachgebrauchsbefugnis in Bezug auf den zur Rettung erforderten Gegenstand (hier den Boden des Durchgangs als Bedingung der Erreichung der Wasserquelle) eine für den ehemals Gebrauchsbefugten plötzliche, überraschende und – trotz der für einen Noterwerb überhaupt vorausgesetzten Erkennbarkeit – ggf. unübersichtliche Situation eintritt, die dessen Fehlreaktion (den rechtswidrigen Angriff auf den Notleidenden durch Stehenbleiben trotz gegebener Möglichkeit des Ausweichens) verständlicher macht. Zweitens beruhte im konkreten Fall das Stehenbleiben der B als rechts­ widriger, ein Notwehrrecht des L dem Grunde nach eröffnender Angriff auf einer insoweit fahrlässigen Provokation des L (zur daraus resultierenden Umfangsbeschränkung des Notwehrrechts vgl. oben b)cc)). Dieser war rechtswidrig in die Scheune der B eingedrungen und hatte dort seine Not­ lage durch Umgang mit Feuer selbst fahrlässig herbeigeführt. Jedenfalls vor diesem Hintergrund kann wohl nicht angenommen werden, dass die Schläge des L mit dem Stiel der Heugabel gegen B erforderlich (bzw. „geboten“) waren, um den Durchgang zu erwirken. L hätte sich darauf beschränken müssen, B zur Seite zu schieben bzw. sich selbst an ihr vorbei zu zwängen. Die sofort nach dem Entreißen der Heugabel erfolgten Schläge waren – auch bei vorausgesetzter Erforderlichkeit der sofortigen Nutzung des Durch­ gangs zur Löschung des Feuers an seinem Körper – rechtswidrig. L mag insoweit nach § 33 StGB entschuldigt sein; ansonsten wäre er deswegen nach § 223 Abs. 1 und ggf. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu bestrafen634. Auch wenn der Fall – so wie er dem BGH vorlag – aufgrund der Lücken in tatsächlicher Hinsicht (Feststellungen) nicht abschließend beurteilt wer­ den kann, so konnte doch anhand dessen gezeigt werden, wie die im Rah­ men dieser Arbeit entwickelten Kriterien des Notstandserwerbs zur Lösung auch solcher, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zunächst unübersicht­ lich erscheinenden Fälle zur Verschaffung von Klarheit taugen. d) Zum Verhältnis mehrerer Notbetroffener zueinander Nach dem dargelegten Begriff ist es auch im Verhältnis mehrerer Notbe­ troffener kategorisch ausgeschlossen, vor Vollendung eines Noterwerbs im Hinblick auf die zur Rettung erforderte Sache auf den Körper eines anderen zuzugreifen (vgl. B.III.1.b)): 634  Vgl. Fn. 628: Sofern eine Entschuldigung nach § 33 StGB zu verneinen ist und nachweisbar ist, dass der spätere Tod der B jedenfalls auch auf diesen Schlägen beruhte, kommt auch eine Strafbarkeit des L nach §§ 227, 222 StGB in Betracht.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen397

Wenn nach einem Schiffsunglück mehrere in Richtung auf einen im Was­ ser treibenden Baumstamm schwimmen, der nur einen tragen kann, erwirbt nur der zuerst physische Zugreifende diesen; erst ab einer solchen zeitlichen Erstbegründung empirischen Besitzes besteht gegen etwaige später Zugrei­ fende ein Notwehrrecht auch zur erforderlichen Gewaltanwendung. Das heißt, wenn mehrere zeitgleich an den nur einen tragenden Baumstamm angreifen, dann müssen – falls nicht alle bis auf einen freiwillig nachge­ ben – rechtlich alle miteinander untergehen. Unter anderem solche Fälle mag Kant bei seiner Äußerung, die Erhaltung des Lebens sei nicht die höchste Pflicht, sondern man müsse „oft das Leben aufgeben, um ehrenwert gelebt zu haben“, im Sinn gehabt haben (vgl. Fn. 223, wobei die Quantifi­ zierung in Frage kommender Fälle als „oft“ sicherlich unzutreffend ist und das auch im 18. Jahrhundert schon war). Unter Anwendung der von mir dargelegten Begrifflichkeiten ist folgender, wiederum von Reinhard Merkel besprochener Fall635 eindeutig und einfach zu beurteilen: Die Holzfäller A und B machen auf einer Lichtung in den kanadischen Wäldern eine Pause. Am anderen Ende der Lichtung sehen sie einen Grizz­ lybären, der sie ebenfalls erspäht hat und sich ihnen nähert. A reißt sich die Arbeitsschuhe von den Füßen, greift seine Turnschuhe und zieht diese an. B bemerkt kopfschüttelnd, das sei hoffnungslos; auch mit Turnschuhen sei niemand schneller als ein Grizzly. A erwidert: „Ich muss nicht schneller sein als der – nur schneller als du.“ A rennt los; B, nun aufgerüttelt, läuft chan­ cenlos hinterher. Der Grizzly frisst B. In Frage steht das Verhalten des A, welches unter § 212 Abs. 1 StGB geprüft werden soll. Weder das Anziehen seiner eigenen Turnschuhe, noch das Davonlaufen durch A vor dem Bären (beides aktive Handlungen, die im Sinne der Äquivalenztheorie wohl kausal für den Tod des B sind) setzen in irgendeiner Hinsicht eine auch nur abstrakt-unzulässige Gefahr für Rechts­ güter des B. Wenn man das konkrete Rechte-Pflichten Verhältnis der Betei­ ligten A und B einbezieht, dann könnte sich insoweit nur dann etwas ande­ res ergeben, wenn ein Notstandserwerb des B hinsichtlich der Turnschuhe des A stattfand. Das kommt nach den dargelegten Erwerbskriterien jedoch nicht in Betracht (vgl. B.II.1.b) und B.III.): Wohl fehlt es insoweit schon an einem Zugriffswillen des B; jedenfalls aber ist der an sich Gebrauchsbefug­ te (der Turnschuheigentümer und Besitzer A) ebenfalls zur Wahrung ange635  Merkel, FS-Herzberg, S. 212, der den Fall, bei dem es sich um einen unter kanadischen Holzfällern kursierenden Witz handeln soll, dem Aufsatz „Ducking Harm“ von Boorse / Sorensen, in: Journal of Philosophy 85 (1988), 115 ff. ent­ nimmt.

398

B. Auflösung der Aufgabe

borener Güter auf die Schuhe angewiesen. Der Tod des B ist nicht zu einer Handlung des A objektiv zurechenbar; es fehlt an der Grundvoraussetzung einer rechtlich-unzulässigen Gefahrschaffung636. Bei Abwandlung des Falles dahingehend, dass die Turnschuhe bislang weder im Eigentum des A, noch dem des B stehen (sondern ggf. herrenlos oder im Eigentum eines nicht anwesenden Dritten sind), und beide (A und B) die Bedeutung der Schuhe als alternativ nutzbares Rettungsmittel erken­ nen, änderte sich an der Beurteilung insoweit nichts: Im Verhältnis mehrerer Notleidender kommt ein notstandsrechtlicher Gebrauchserwerb mit korres­ pondierender Unterlassungsverpflichtung (Gebrauchsenthaltungsverpflich­ tung) des anderen zustande, sobald zeitlich-erster physischer (empirischer) Besitz begründet wird. Der Erstzugreifende A erwirbt also – sowohl im Verhältnis zum nicht gefahrbetroffenen Sacheigentümer, § 904 S. 1 BGB, als auch im Verhältnis zum anderen Notleidenden – die zur Gefahrabwen­ dung im Hinblick auf seine Person erforderliche Gebrauchsmöglichkeit. Im Verhältnis zu B, der dem Bären zum Opfer fällt, setzt A wiederum keine rechtlich unzulässige Gefahr; der Tod des B ist dem A nicht objektiv zure­ chenbar. Anders hingegen ist der Fall zu beurteilen, wenn A sich das einzig greif­ bare Paar Turnschuhe, welche im Eigentum des B stehen, schnell anzieht, bevor B darauf zugreifen kann (obwohl auch er dies vorhat) und mit diesen so schnell davonläuft, dass der nun wegen Materialnachteils langsamere B dem Bären zum Opfer fällt. Hier setzt A eine schon abstrakt-unzulässige Gefahr für das Eigentum des B; ein Notgebrauchserwerb seitens A findet nicht statt, weil der an sich Gebrauchsbefugte B zur Wahrung seiner ange­ borenen Rechtsgüter gegen die gegenwärtige Gefahr ebenfalls auf die sofor­ tige – und einen Gebrauch des A ausschließende – Nutzung der Schuhe angewiesen ist. Diese Gefahr realisiert sich im Tod des B, sodass A hier durch das Ansichnehmen der Schuhe des B und das Davonlaufen mit deren Hilfe ein rechtswidriges Tötungsdelikt zum Nachteil des B verwirklicht (Rechtfertigung nach § 904 S. 1 BGB scheidet, wie gesagt, aufgrund der Selbstangewiesenheit des Eigentümers zur Wahrung angeborener Güter aus)637. 636  Sofern man das Nichtverbleiben des A am Ausgangspunkt als potentielles Unterlassen unter §§ 212 Abs. 1, 13 StGB prüft, endet diese Prüfung sehr schnell wieder; nämlich mit der Feststellung, dass A mangels Rechtspflicht zum Bleiben keine Garantenpflicht bzw. -stellung zukommt. 637  Ebenso im Ergebnis Merkel, FS-Herzberg, S. 215 (der das konkrete RechtePflichtenverhältnis der interagierenden Personen jedoch schon zur Bestimmung der Verhaltensform abgrenzt, zur Kritik daran vgl. Fn. 619). Eine entsprechende materi­ elle Strafbarkeit des A hängt nach geltendem deutschen Recht davon ab, ob die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 S. 1 StGB in Bezug auf die Tat des A verwirklicht



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen399

Zur einer letzten Abgrenzung des erlaubten Verhaltens von einer rechtlichunzulässigen Gefahrsetzung beim Zugriff auf äußere Gegenstände im Verhältnis mehrerer Gefahrbetroffener eignet sich folgender Fall, in welchem erst durch das Ausweichen des einen eine konkrete Gefahr für den anderen entsteht: A steht am Ende einer längeren Schlange vor einer Kinokasse, als er hinter sich seinen Namen hört. Er dreht sich um und sieht in etwa 15 m Entfernung seinen Todfeind X, der die Pistole auf A gerichtet und den Fin­ ger am Abzug hat. A duckt sich in einer spontanen Blitzreaktion tief zu Boden – im selben Moment fällt der Schuss. Die Kugel fliegt über A hin­ weg und tötet den in der Warteschlange vor ihm stehenden B638. Die rechtliche Beurteilung dieses Falles ist unproblematisch, weil das Ducken in einer Warteschlange an sich keine unzulässige Raumnutzung darstellt und sich an der rechtlichen Zulässigkeit des Verhaltens nichts än­ dert, wenn es zum Ausweichen vor einer heranfliegenden Kugel geschieht639. Der Tod des B ist ausschließlich zu dem Schuss des X zuzurechnen; A befand sich im Verhältnis zu X in einer Notwehrlage, seine Ausweichhand­ lung ist jedoch in rechtlicher Hinsicht schon mangels abstrakt-unzulässiger Gefahrsetzung nicht rechtfertigungsbedürftig (zwar entstand die Gefahr für B konkret erst mit dem insoweit auch-kausalen Aus-dem-Weg-Gehen durch A, zurechenbar ist sie dieser Handlung aber eben nicht). Daran ändert sich auch dann nichts, wenn A, anstatt sich zu ducken, zur Seite springt und so der Kugel ausweicht, die wiederum den B tödlich trifft: Der Sprung zur Seite ist schon in abstrakter Betrachtung rechtlich erlaubt, weil ihm der Gebrauch des betretenen Bodens zusteht (ein solches Aus-derReihe-Treten ist erlaubt, ohne dass es insoweit überhaupt auf einen notstandsrechtlichen Erwerb des Seitenplatzes ankäme). Sollte dort, also neben A, schon eine andere Person stehen, welche A beim Sprung ein Stück zur Seite schiebt, so ist dies wegen des nun notstandsrechtlichen Bodennutzungserwerbs gerechtfertigt, wenn es denn die in der Handlungssituation zur Abwendung der ihm drohenden Gefahr erforderliche Maßnahme ist640. waren oder nicht; dies ist zu bejahen, so dass A entschuldigt handelte und nicht zu bestrafen ist. 638  Auch diesen Fall bespricht Reinhard Merkel in FS-Herzberg, S. 214 ff., der ihn, jedenfalls was die Grundstruktur angeht, ebenfalls dem Aufsatz von Boorse /  Sorensen (Fn. 635, S. 116) entnimmt. 639  Selbstverständlich wäre A dem B nur dann zum Stehenbleiben bzw. Abfangen der Kugel rechtlich-verpflichtet, wenn er einen – eine solche Leistung einbeziehen­ den – Vertrag über den Personenschutz mit B geschlossen hätte. 640  Positivrechtlich sind, was die implizierte Besitzstörung angeht, die Vorausset­ zungen des § 904 S. 1 BGB gegeben; soweit der Körperzugriff auf die an der Stel­ le stehende Person über ein bloßes Schieben von deren Standplatz hinausgeht (wel­

400

B. Auflösung der Aufgabe

Mit entgegengesetztem Ergebnis unproblematisch ist auch die Abwand­ lung des Falles dahingehend, dass A den B packt und als Schutzschild vor sich zieht, so dass B von der Kugel des X tödlich getroffen wird: Dieser Körperzugriff schafft eine abstrakt-unzulässige (rechtlich missbilligte) Ge­ fahr, die sich dann in dem von A subjektiv als Folge erkannten Köperver­ letzungseintritt nach Einschlagen der Kugel in den Körper des B realisiert (nicht etwa trat X als vorsätzlich und rechtswidrig Handelnder anderer zu­ rechnungsunterbrechend dazwischen, sondern A zog B diesbezüglich zurechnungsbegründend rechtswidrig in den gefährlichen Geschehensverlauf hinein). A begeht in diesem Fall ein rechtswidriges Tötungsdelikt641. Einen Grenzfall642 stellt hingegen folgende Abwandlung des obigen Fal­ les dar: A schlüpft, ohne den vor ihm in der Warteschlange stehenden B zurück zu stoßen, blitzschnell in die ca. 60 cm breite Lücke vor B. B wird von der Kugel des X tödlich in den Rücken getroffen. Merkels Lösung dieser Abwandlung erscheint mir im Ergebnis und in der eigentlichen sachlich-rechtlichen Herleitung (nicht jedoch in der dogmati­ schen Umsetzung, vgl. Fn. 619) zutreffend: Er nimmt an, es handele sich mangels Nötigung des B um „keine Intervention in einen fremden Rechts­ kreis“. Wohl dürfte das Dazwischentreten als Störung eines Vorrangs beim Gemeingebrauch bzw. des Platzes in der Warteschlange rechtswidrig gewe­ sen sein: Zwar war B selbst (als der an sich Gebrauchsbefugte) nicht auf diesen Platz zur Wahrung angeborener Güter angewiesen643; für einen ches als solches jedenfalls keine relevante bzw. verwerfliche Nötigung im Sinne von § 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB darstellt), indem es etwa geringfügige Körperverletzun­ gen verwirklichte, kommt es für eine Rechtfertigung auf Erkennbarkeit für den anderen und eigene Möglichkeit des Weichens an (siehe oben zum LandstreicherFall). Nur wenn beides gegeben ist, kommt insoweit Rechtfertigung nach § 32 StGB (leicht fahrlässiger Angriff durch Unterlassen des Weichens) bzw. Defensivnotstand (§ 34 StGB) in Betracht (vgl. oben). 641  Ob er deswegen zu bestrafen ist, hängt davon ab, ob die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 StGB – insbesondere die Erforderlichkeit – in Bezug auf die Tat gege­ ben sind oder nicht. Ob das durch X begangene Tötungsdelikt im Sinne einer aber­ ratio ictus als versuchter Totschlag (bzw. versuchter Mord) in Tateinheit mit fahrläs­ siger Tötung oder ggf. als ein vollendetes Tötungsdelikt (unbeachtlicher error in persona) zu beurteilen ist, soll hier dahinstehen. 642  So auch Merkel, FS-Herzberg, S. 215, der auch die übrigen Abwandlungen im Ergebnis entsprechend der obigen Ausführungen löst, wobei er die Sachentscheidung dogmatisch eben nicht im Rahmen der objektiven Zurechnung, sondern im Rahmen der Bestimmung der jeweiligen Verhaltensqualität verortet. 643  B war deshalb zu keinem Zeitpunkt auf den Boden 60 cm vor seinem derzei­ tigen Standplatz angewiesen (welchen A einnahm). Zwar führte das Aus-der-ReiheTreten des A dazu, dass B zum Ziel der Kugel wurde, jedoch hätte eine Standposi­



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen401

diesbezüglichen Noterwerb des A nach § 904 S. 1 BGB dürfte es aber an der Erforderlichkeit der Handlung des A fehlen. Jedoch realisierte sich nicht die durch die (etwaig) rechtswidrige Gemein­ gebrauchs- bzw. Besitzstörung geschaffene Gefahr im Tod des B. Denn die konkrete Gefahr für B, von der Kugel des X getroffen zu werden, trat schon in dem Moment ein, in welchem A den Platz hinter B verließ (was rechtlichzulässig war, siehe oben). Insofern ist es dann unerheblich, ob A nun neben B oder vor ihm in der Warteschlange zum Stehen kommt: Die abgefeuerte Kugel des X trifft B jedenfalls. Somit ist in dieser Abwandlung der Tod des B dem A – trotz dessen nun ggf. rechtswidrigen Verhaltens – nicht objektiv zurechenbar644. e) Rechtsgüter der Allgemeinheit (im eigentlichen Sinne) als potentielle Eingriffsgüter? Rechtsgüter der Allgemeinheit im eigentlichen Sinne sind solche Güter, die erst unter Voraussetzung der Staatskonstitution ihrem Inhalt nach denkbar werden (staatliche Rechtspflege, Justizgewährung, funktionierende Rechtsdurchsetzung generell; vgl. Fn. 437). Diese unterfallen jedenfalls nicht dem dargelegten Notstandsrechtgrund des ursprünglichen Gemeinbesitzes an der äußeren Weltmaterie. Anders ist das selbstverständlich, wenn es bloß um Sacheigentum des Staates bzw. der Allgemeinheit geht: Insoweit ist ein vom ursprünglichen Gemeinbesitz abgeleiteter, einseitiger Notstands­ zugriff unter den dargestellten Voraussetzungen (B.III.) rechtlich möglich. Bei den – ihrem Inhalt nach erst unter Voraussetzung der Staatskonstitu­ tion denkbaren – Staats- bzw. Allgemeingütern (letztlich stets Funktionen und Institutionen der Rechtsdurchsetzung, siehe oben) handelt es sich nicht um angeborene Güter, sondern eben um durch Staatserrichtung seitens der Personen erschaffene allgemeine Güter. Insofern ist die Möglichkeit, in die durch Verbotsgesetze (etwa §§ 153 ff., 257, 258, 331 ff., 339 StGB) abstrakt bestimmten Zustehensbeziehungen (allen Bürgern steht die Erfüllung der tion des B 60 cm weiter in Flugrichtung der Kugel an der Gefahr für B nichts ge­ ändert (sondern nur ein Stehenbleiben des A, wozu dieser rechtlich jedoch nicht verpflichtet war). Das Einrücken des A in die Warteschlange blieb insoweit ohne Wirkung. 644  Ebenso Merkel, FS-Herzberg, S. 215, der darauf hinweist, dass diese Regel der objektiven Zurechnung, wonach eine Erscheinung nicht zu einer rechtspflicht­ widrigen und im Sinne der Äquivalenztheorie auch kausalen Handlung zurechenbar ist, wenn die übertretene Sorgfaltsnorm im Hinblick auf die spezifische Folge so abstrakt bzw. weit entfernt ist, dass allein durch Übertretung der Norm kein tatbestandsrelevantes Risiko geschaffen wird, in der Dogmatik unter den Schlagwort „Schutzzweck der Norm“ kursiert.

402

B. Auflösung der Aufgabe

Staatsaufgaben gleichermaßen zu) Notbedingungen hinein zu formulieren, jedenfalls noch nicht unmittelbar durch den Begriff der Person (bzw. den konstruierten allgemeinen Rechtsbegriff) absolut ausgeschlossen, auf der anderen Seite jedoch vom Notrechtsgrund des ursprünglichen Gemeinbesitzes der äußeren Weltmaterie jedenfalls auch nicht vorgegeben. Als absolute Grenze eines etwaig zulässigen Notstandszugriffs auf Güter der Allgemeinheit kann von vornherein festgehalten werden: Jedenfalls un­ zulässig sind solche notbedingten Eingriffe in Rechtsgüter der Allgemein­ heit, die in der Folge zum Zugriff auf angeborene personale Güter führen (vgl. zur insoweit festen Grenze B.III.1.a) und V.2.a)). So bleibt etwa eine selbst unter extremen Drohungen abgenötigte Falschaussage zum Nachteil einer Person etwa vor den Ermittlungsbehörden (insoweit Verwirklichung von § 145d Abs. 1 Nr. 1 StGB möglich) oder dem Gericht (in Betracht kommt dann auch die Verwirklichung der Tatbestände der §§ 153 ff. StGB) jedenfalls rechtswidrig, sofern sie im Hinblick auf die in Bezug genomme­ ne Person die Tatbestände der §§ 164, 187 StGB verwirklicht oder gar zu einer vorläufigen oder richterlich angeordneten Festnahme des Betroffenen führt (§§ 239 Abs. 1, 25 Abs. 1 2.Var. StGB): Diese Grenze setzt der Begriff der Person (bzw. der konstruierte Rechtsbegriff) schon unmittelbar. Hinsichtlich der staatsbürgerlichen Rechtspflicht zur Zeugenaussage vor Gericht oder vor der Staatsanwaltschaft (siehe dazu B.III.2.a)bb)) ist wie folgt zu differenzieren: Das schlichte Verweigern der Aussage durch einen nicht zeugnisverwei­ gerungsberechtigten Zeugen kann aufgrund von Notstand gerechtfertigt sein. Das Bestehen der Aussagepflicht eines vor Gericht geladenen Zeugen wird schon durch das Prozessrecht auf das Nichtvorliegen bestimmter Indi­ kationen bedingt (Aussageverweigerungsrechte, §§ 52, 53 StPO; §§ 383, 384 ZPO). Entsprechend kann auch das notstandsbedingte Verweigern einer Aussage durch einen geladenen Zeugen bzw. dessen notstandsbedingtes (etwa abgenötigtes) Fernbleiben gerechtfertigt sein: Wenn ein etwa mit der Tötung einer nahestehenden Person bedrohter, potentieller Belastungszeuge der Drohung insoweit nachkommt, wie er – trotz Fehlen der Voraussetzun­ gen der §§ 52, 53 StPO – seine Aussage verweigert und deshalb ein (schul­ diger) Angeklagten freigesprochen wird, kann angenommen werden, der Zeuge habe durch seine Unterlassung kein Unrecht getan (Rechtfertigung nach § 34 StGB oder entsprechend § 16 OWiG als „gesetzlicher Grund“ im Sinne von § 70 Abs. 1 StPO; diese Tat ist richtigerweise sowieso nicht als Strafvereitelung durch Unterlassen im Sinne der §§ 258 Abs. 1, 13 StGB einzuordnen, vgl. Fn. 409). Nicht rechtfertigend wirkt hingegen ein Notstand des Zeugen, was die Falschaussage vor einer ggf. abschließend-entscheidenden Rechtsdurchset­



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen403

zungsinstanz angeht (§§ 153 ff. StGB): Sofern eine aktive Mitwirkung durch eine Aussage vor Gericht erfolgt, muss diese wahr sein. Derjenige Zeuge, der sich vor Gericht durch eine Aussage zur Sache äußert, macht die kon­ kreten Verfahrensbeteiligten mit abhängig vom Inhalt dieser Erklärung, weil er das Gericht645 bei dessen Tatsachenfeststellung bzw. das Beweisaufnah­ meergebnis beeinflusst. Ziel der Beweisaufnahme ist die Ermittlung des Sachverhalts, der dem Gesetz zu subsumieren ist (auch im Zivilprozess je­ denfalls, soweit er zwischen den Parteien streitig ist). Der Satz: Dem ver­ bindlichen – mit dem Anspruch auf Abschluss des Verfahrens gerichteten – Urteil kann ein unwahrer Sachverhalt zugrunde gelegt werden, sofern ein anderer dieser Darstellung (und sei es zu seiner Erhaltung) bedarf, ist ab­ surd. Denn eine allgemeine Regel, nach welcher nicht existente Zustehens­ beziehungen verbindlich festgestellt oder existente Zustehensbeziehungen verbindlich verneint werden, enthält einen Widerspruch in sich. So ist der – ggf. durch Todesdrohung gegen sich oder einen Angehörigen genötigte – Zeuge zwar bei bloßer Verweigerung einer Aussage gerechtfer­ tigt (§ 34 StGB oder § 16 OWiG analog als „gesetzlicher Grund“ im Sinne von § 70 Abs. 1 StPO); bei Falschaussage hingegen verwirklicht er Unrecht (bei Erforderlichkeit der Falschaussage zur Gefahrenabwendung kommt Entschuldigung nach § 35 Abs. 1 StGB in Betracht). Prinzipiell dasselbe gilt, sofern ein Amtsträger (wie auch immer vorstell­ bar) notstandsbedingt eine Vorteilsannahme (§ 331 StGB) oder eine Be­ stechlichkeit (§ 332 StGB) begeht bzw. jemand notstandsbedingt einen Amtsträger besticht (§ 334 StGB) und erst recht, sofern ein Amtsträger (etwa Richter) bei Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache das Recht beugt (§ 339 StGB): Diese Delikte sind stets rechtswidrig; die Absurdität, welche die Annahme einer rechtmäßigen Rechtsbeugung schon prima facie zu haben scheint, besteht tatsächlich646. Insofern erscheint notstandsbedingte Rechtfertigung überhaupt nur hin­ sichtlich solcher Taten möglich, die nicht in gleicher Intensität bzw. Unmit­ telbarkeit Vereitelungen oder gar Verkehrungen von Rechtsdurchsetzungsbe­ mühungen darstellen:

645  Gericht als eine nach dem Staatsbegründungszusammenhang (siehe A.II.5.) als Bedingung kontinuierlicher Rechtsdurchsetzung notwendig einzurichtende (nur an Gesetz und Recht gebundene) Instanz, die verbindliche Urteile mit dem Anspruch auf abschließende Lösung von Rechtsproblemen treffen kann und muss. 646  Erb weist zutreffend darauf hin, dass die Annahme der Rechtswidrigkeit von abgenötigten Taten von Amtsträgern zu Amtsmissbräuchen dann besonders unprob­ lematisch ist, wenn der Genötigte durch seine Berufswahl zusätzlich eine besondere berufliche Gefahrtragungspflicht übernommen hat, in: MK, § 34, Rn. 140.

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B. Auflösung der Aufgabe

So fragt sich etwa, ob eine mittels Lebens- oder schwererer Leibesbedro­ hung abgenötigte Fluchthilfe, die den Tatbestand des § 257 Abs. 1 StGB verwirklicht, eine ebenso abgenötigte Beseitigung von Spuren einer Straftat, die den Tatbestand des § 258 Abs. 1 StGB verwirklicht, oder eine Gefange­ nenbefreiung durch einen Bürger oder einen Amtsträger als solchen im Sinne von § 120 StGB gerechtfertigt sein können (positivrechtlich nach § 34 StGB). Weil die insoweit etwaig zu einer Notstandsrechtfertigung führenden Notlagen wohl stets Nötigungsnotstände sind, soll im Rahmen der Anmer­ kung zum Nötigungsnotstand darauf eingegangen werden (unten 4.). 3. Anmerkungen zum Begriff eines „Defensivnotstands“ (Zurechnung einer Gefahrentstehung zu einer Person) In Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ist im Einzelnen strittig und insgesamt noch ungeklärt, ob und mit welchem Inhalt und welcher dogma­ tischen Umsetzung ein eigenständiger Rechtsfertigungsgrund des Defensiv­ notstands denkbar ist, der ggf. weitergehende Zugriffe gestattet, sofern eine Gefahr (die Notstandslage des einen) durch die Person des Zugriffsbetrof­ fenen verursacht wird. Im Rahmen dieser Arbeit soll keine abschließende Auseinandersetzung mit diesem Thema erfolgen. Vielmehr soll der – hier höchstens auszugswei­ se referierbare – diesbezügliche Diskussionsstand um diejenigen Anmerkun­ gen ergänzt werden, die sich als Konsequenzen der hier entwickelten Not­ standsrechtstheorie von selbst ergeben. Die Differenz eines solchen in Frage stehenden Begriffs („Defensivnot­ stand“) zu der in § 228 BGB normierten Regelung liegt auf der Hand, denn sie ist eben die Differenz des ins Auge gefassten Zugriffsobjekts: Während dies im Rahmen von § 228 BGB bloß eine fremde, gefahrträchtige Sache ist, handelt es sich hier gerade um die Frage nach der rechtlichen Möglich­ keit eines erweiterten Zugriffs auf angeborene Güter und damit auf die Person selbst. Diejenigen Fälle, in welchen die Rechtmäßigkeit von Zugriffen auf ange­ borene Güter zur Abwendung von Gefahren für andere Personen unter der Bezeichnung „Defensivnotstand“ diskutiert werden, sind in zwei Konstella­ tionen zu unterteilen, weil die in Frage stehende Legitimität eines Zugriffs – wenn sie denn gegeben wäre – rechtsgrundbegrifflich jeweils eine andere Quelle hätte: Zum einen geht es um Gefahren, hinsichtlich welcher das Urteil auf ihre Existenz auf drohendem (teilweise auch schon in der Vergangenheit gezeig­ tem) rechtswidrigen Verhalten der als gefahrsetzend betrachteten Person beruht (dazu a)).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen405

Die zweite Konstellation betrifft hingegen Situationen von bloß alternativ möglicher Gefahr- bzw. Schadensabwendung, in welchen die Gefahr keinem menschlichen Verhalten zurechenbar ist, weil entweder gar kein personales Verhalten vorliegt bzw., soweit es vorliegt, das Verhalten rechtmäßig ist (dazu b)). Während in der ersten Konstellation der Sache nach also die rechtliche Möglichkeit „präventiver Notwehr“ und somit auch deren Vereinbarkeit mit der in §§ 32 StGB, 227 BGB getroffenen Regelung der Notwehr in Frage steht (Verhältnis der gesetzlichen Voraussetzung eines „gegenwärtigen An­ griffs“ zum Merkmal einer nicht anders abwendbaren „Gefahr“), ist in der zweiten Konstellation das Zurechnungskriterium überhaupt problematisch, nach welchem der eine (im Verhältnis zum anderen) als Gefahrensetzer beurteilt werden soll. a) Zur ersten Konstellation: Auf (begangenem und / oder) drohendem rechtswidrigen Verhalten gründendes Gefahrurteil („präventive Notwehr“) In Frage steht zunächst die Rechtfertigung solcher Taten, hinsichtlich welcher die Voraussetzungen des § 32 StGB nicht verwirklicht sind, weil die Tat zwar Reaktion auf rechtswidriges Handeln eines anderen ist, jedoch zum Handlungszeitpunkt ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff im Sinne des § 32 StGB nicht mehr bzw. noch nicht vorliegt, auf welchen die Tat dann eine erforderliche Verteidigung wäre. aa) Insoweit keine „Analogie“ zur Regelung des § 228 BGB Im Ausgangspunkt ist festzuhalten: Eine oftmals behauptete Analogie des in Frage stehenden Defensivnotstandbegriffs in der Konstellation „prä­ ventiver Notwehr“ zu § 228 BGB besteht nicht. Eine Ähnlichkeit der verglichenen rechtlichen Verhältnisse existiert nicht: § 228 BGB normiert bloß auflösende Bedingungen einer ausschließlichen Zuordnung erwerbli­ cher Sachgüter zu Personen (siehe dazu B.III.1.b) und B.IV.1.b)); um eine Rechts-Verteidigung im eigentlichen Sinne – nämlich gegen beginnendes oder drohendes Unrecht – geht es in den von § 228 BGB gemeinten Sachgefahr-Konstellationen aber gerade nicht. Durch die Regelung des § 228 BGB wird bloß der Umfang bzw. die Grenze der Gebrauchsbefugnisse des Sacheigentümers zum Gefahrbetroffenen hinsichtlich der gefahr­ trächtigen Sache (die Zugriffsbefugnis eines konkret Gefahrbetroffenen) bestimmt.

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B. Auflösung der Aufgabe

Ein ganz anderes rechtliches Verhältnis kommt in den Blick, wenn es um ein in zeitlicher Hinsicht erweitertes Notwehr- bzw. Verteidigungsrecht geht647. Sollte die Annahme eines gegenüber der Notwehr (positivrechtlich: §§ 32 StGB, 227 BGB) in zeitlicher Hinsicht erweiterten Rechtfertigungsgrundes aus Unrechtsverantwortung überhaupt sinnvoll möglich sein, dann wäre dieser dementsprechend dogmatisch nicht zu bezeichnen mit „§ 228 BGB analog“, sondern treffender benannt mit „§ 32 StGB analog“648. Wenn die überwiegende Ansicht eine Analogie zum Notwehrrecht im Sinne von § 32 StGB für unzulässig hält, weil der Gesetzgeber die rechtli­ che Zwangsbefugnis Privater bewusst eng, nämlich begrenzt auf Situationen aktueller Unrechtsbegehung gefasst habe und es insofern an einer Rege­ lungslücke fehle649, so mag das durchaus zutreffen. Nur ändert sich der Sache nach daran – entgegen der überwiegenden Ansicht – auch dann überhaupt nichts, wenn dieselben Gedanken (Möglichkeit von Vermeidung erst künftigen Unrechts) mit dem Terminus „Defensivnotstand“ umbenannt und in die Auslegung des § 34 StGB integriert werden650. 647  Vgl. schon Fn. 572 und Fn. 633. Ein begrifflicher Zweifel an einem über das allgemeine Notwehrrecht hinausgehenden Verteidigungsnotstands beruht (neben der in Frage stehenden systematischen Vereinbarkeit im Verhältnis zu den §§ 32 StGB, 227 BGB) auch darauf, dass klärungsbedürftig ist, ob bzw. unter welchen Voraus­ setzungen denn unter Rechtsgesetzen (Freiheitsgesetzen) eine Person als Gefahrenquelle (in einem rechtlich relevanten Sinne, nämlich als Gegenstand eines deshalb legitimen Zugriffs) betrachtet werden kann, insbesondere wenn die unmittelbare Gefahrrealisation erst durch einen weiteren, ggf. viel späteren und als solchen eigenverantwortlichen Akt erfolgen könnte. Dieses Problem besteht hinsichtlich Sach­ gefahren im Sinne des § 228 BGB nicht: Hier wird die Gefahrentstehung durchgän­ gig bloß nach Naturgesetzen gedacht (eine Abgrenzung der Verantwortungsbereiche findet im Verhältnis Person – Sache nicht statt). 648  Insoweit ebenso (und entgegen der herrschenden Ansicht) Suppert, Notwehr, 356 ff., 371 ff., 382 ff.; ihm zustimmend auch Jakobs, AT 12 / 27. 649  So u. a. Roxin, AT I, § 15, Rn. 23; Günther, in: SK, § 32, Rn. 74; Perron, in: Schönke / Schröder, § 32, Rn. 16, 17; Herzog, in: NK, § 32, Rn. 31. 650  Derzeit wird eine von § 228 BGB abweichende, nämlich auf unmittelbarpersonale Güter gehende Defensivnotstandsregel, sofern sie anerkannt wird, meist unmittelbar unter § 34 StGB eingeordnet; vgl. etwa Perron, in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 30 m. w. N. Dies ist zwar dogmatisch möglich, weil sich unter die hoch­ gradig unbestimmte Norm des § 34 StGB dem Wortlaut nach beinahe jeder Inhalt fassen ließe (siehe dazu B.IV.1.). Soweit es um Gefahrsetzung durch rechtswidriges Verhalten geht, steht der Sache nach jedoch gerade kein Notstandsrecht im Sinne eines Zugriffs auf erworbene Güter von Nicht-Gefahrverantwortlichen (vgl. B.III.1.) in Frage, sondern ein in zeitlicher Hinsicht und im Zurechnungskriterium erweitertes Verteidigungsrecht (welches im Umfang gegenüber dem Notwehrzugriff ggf. be­ schränkt sein mag; str.). § 34 StGB erfasst in einer dem von mir dargelegten Not­ standsrechtsbegriff entsprechend engen Auslegung an sich ausschließlich Zugriffe



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen407

bb) Vereinbarkeit eines in zeitlicher Hinsicht erweiterten Rechtfertigungsgrundes aus Unrechtsverantwortung mit der Notwehrregelung (§§ 32 StGB, 227 BGB)? Ein Bedenken gegen einen in zeitlicher Hinsicht ausgedehnten Rechtfer­ tigungsgrund aus Unrechtsverantwortung („Defensivnotstand“ beruhend auf rechtswidrigem Verhalten) kann schon daraus resultieren, dass das geltende Recht in §§ 32 StGB, 227 BGB unter der Bezeichnung „Notwehr“ die rechtliche Möglichkeit eines zwangsweisen oder gewaltsamen Zugriffs auf eine andere Person aufgrund deren Unrechtshandelns für das unmittelbarinterpersonale Verhältnis (der Bürger zueinander) ggf. abschließend regeln will. Insofern stellt sich schon in systematischer Hinsicht von vornherein die Frage, ob nicht nur diejenigen Verhaltensweisen, die die Voraussetzun­ gen eines – ggf. entsprechend weit ausgelegten – § 32 StGB (§ 227 BGB) verwirklichen, gerechtfertigt sind, wohingegen solche auf Unrechtsbeendi­ gung bzw. -verhinderung gerichtete Taten, die nicht die Voraussetzungen dieser Normen verwirklichen, dadurch als rechtswidrig bestimmt sind. Im Besonderen geht es (in der zunächst besprochenen Konstellation „präventi­ ver Notwehr“651) um die Auslegung des Merkmals des „gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs“: Erst ein solcher begründet die Notwehrlage. De­ finiert wird „Angriff“ als Beeinträchtigung rechtlicher (einer Person zuste­ hender) Güter durch menschliches Verhalten; „gegenwärtig“ ist ein Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht oder stattfindet, solange die Rechtsverlet­ zung bzw. ihre Vertiefung andauert (also bis zur materiellen Beendigung eines Delikts)652. Regelt denn das geltende Recht nicht dadurch zugleich, dass außerhalb eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs rechtlich kein interpersonaler Zugriff auf (ggf. auch angeborene) Güter einer Person aufgrund deren Ver­ antwortung für ihr potentielles zukünftiges Unrechtshandeln möglich ist? auf erworbene Güter anderer (die in Erweiterung gegenüber §§ 904 S. 1, 228 S. 1 BGB allerdings nicht notwendig fremde Sachen sein müssen, siehe B.V.2.e)). 651  Ein anderes, hier nicht interessierendes (hier nicht mit „präventiver Notwehr“ gemeintes) Problem ist die Vorbereitung einer wirklichen, nämlich erst im Zeitpunkt des Daseins eines Angriffs geübten, Notwehr durch Installation automatischer Siche­ rungsanlagen auf eigenem Grund (sogen. „antizipierte Notwehr“, etwa durch Instal­ lation von Selbstschussanlagen, stromführenden Zäunen etc.). Diese sind notwehr­ rechtlich dann zulässig, wenn sie ausschließlich gegen einen dann gegenwärtig rechtswidrig Angreifenden in zur Angriffsbeendigung erforderlichem Maße (und ohne extremes Missverhältnis zwischen Angriffsqualität und Abwehrhärte) auslösen. Das Problem dabei ist, dass eben dies vorab nur schwierig wird sicherzustellen sein. Insofern kann die Installation solcher Apparaturen ggf. öffentlich-rechtlich untersagt werden. 652  Siehe etwa Fischer, §  32, Rn.  17 ff. m. w. N.

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B. Auflösung der Aufgabe

Nun mag man dieses Bedenken gerade im Rahmen einer Arbeit mit dem Anspruch, das positive Recht aus einer rechtsgrundbegrifflichen (vorpositi­ ven) Perspektive auf Legitimität überprüfen zu können, zunächst für unzu­ reichend oder irrelevant halten. Denn selbstverständlich könnte das ge­ schriebene Recht nach grundbegrifflicher Prüfung unvollständig formuliert sein, sodass Rechtswissenschaft und Rechtsprechung die Voraussetzungen einer zeitlich auch schon vor Beginn eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs etwaig legitimen Verteidigung gegen Unrecht zu formulieren hätten (dogmatisch läge insoweit eine Umsetzung über eine Analogie zu § 32 StGB nahe, vgl. oben aa)). Jedoch ist auch und gerade aus grundbegrifflicher Perspektive bei der hier in Frage stehenden zeitlichen Erweiterung eines Verteidigungsrechts beson­ dere Obacht angebracht: Zwar ist das Recht mit der Befugnis verbunden, den Rechtsbrecher zu zwingen, sich bei seinem Handeln auf das ihm äußer­ lich Zustehende zu beschränken, indem er mit den erforderlichen Mitteln aus dem Bereich anderer zwangsweise bzw. gewaltsam entfernt wird oder ein zur Ausführung gebrachter Unrechtswille in seiner weiteren Umsetzung gestoppt wird (vgl. A.II.3. und B.II.3.). Damit ist jedoch als Zugangsschwel­ le einer solchen Zwangsbefugnis gegen andere eine unmittelbar bevorste­ hende Gutsbeeinträchtigung durch (beginnendes) äußeres Unrechtsverhalten vorausgesetzt653. Dieser durch das Notwehrlagenmerkmal des „gegenwärti­ gen Angriffs“ als Dasein eines grenzüberschreitenden Verhaltens654 be­ schriebene Anknüpfungspunkt droht jedoch im Unbestimmten aufgelöst zu werden, wenn nun anstatt dessen auf eine gegenwärtige „Gefahr“ abgestellt wird. Eine „Gefahr“ ist das Urteil auf die Wahrscheinlichkeit (Möglichkeit) eines zukünftigen – jedenfalls vom Urteilenden subjektiv behaupteten – Nichtseinsollens (Schadenseintritts). Während der Begriff des „gegenwärti­ gen Angriffs“ im Sinne von § 32 StGB etwas zum Zeitpunkt der potentiel­ len Notwehrhandlung Daseiendes (auch in der Erscheinung Wirkliches) 653  Schmidhäuser schlug einen erweiterten Begriff der Gegenwärtigkeit eines Angriffs vor, wonach ein Angriff „immer dann schon gegenwärtig“ ist, „wenn er vom Angreifer so vorbereitet wird, dass eine spätere Abwehr nicht mehr möglich ist“; Schmidhäuser, AT, 9 / 94. Ebenfalls in diese Richtung, jedoch jedenfalls viel zu weit geht die – auf bloßen Mutmaßungen über die Zukunft beruhende – Entschei­ dung RGSt 67, 337 ff. 654  Ein solches notwehrlagenbegründendes grenzüberschreitendes Verhalten kann bei Vorsatzdelikten schon kurz vor Beginn des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbe­ standsverwirklichung im Sinne von § 22 StGB vorliegen, welches dann den Anfang des tatbestandsspezifischen und damit schweren Unrechts bzw. die jeweils straftatbestandsrelevante Überschreitung des äußeren Verhältnisses zum anderen definiert (vgl. Fn. 606). So auch die überwiegende Ansicht, siehe etwa Perron, in: Schön­ ke / Schröder, § 32, Rn. 14 m. w. N. und Beispielen aus der Rechtsprechung; noch weitergehend hingegen Schmidhäuser, Fn. 653.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen409

vorstellt, erfasst der Begriff der gegenwärtigen, jedoch abwendbaren Gefahr zunächst bloß die Möglichkeit (mehr oder weniger große Wahrscheinlich­ keit) des Eintritts von Etwas von etwas, dessen Dasein im relevanten Hand­ lungszeitpunkt gerade nicht wirklich ist (und aus Sicht des Urteilenden nicht wirklich werden soll). Sofern das Wort zur Bezeichnung eines Rechtssatz­ merkmals verwendet wird (unter welches stets Tatsachen müssen subsumiert werden können), ist damit eine reale Situation gemeint, welche in der Handlungssituation bei unbeeinflusster Fortentwicklung einen zukünftig eintretenden Schaden für jemanden (prognostisch) erwarten lässt, also eine Gefahrenlage (zum Gefahrbegriff B.IV.1.a)bb)). In Bezug auf den Menschen kann unter dem kategorischen Gebot, diesen als unbedingten Ausgangspunkt seiner willentlichen Bewegungen (als handelnd) und somit als dem Grunde nach (selbst)verantwortlich zu betrachten, eine solche Prognose – in Ab­ grenzung zur Prognostizierung reiner Naturereignisse – jedenfalls nicht bloß dadurch getroffen werden, dass der Zukunftsverlauf aufgrund bisheriger Erfahrungsdaten bloß unter Naturgesetzen möglichst genau vorherbestimmt oder wenigstens abgeschätzt wird. Vielmehr muss der Anknüpfungspunkt für das Gefahrurteil selbst normativ bestimmt werden. Und dies kann in der Regel kein anderer sein als das bisherige Verhalten des potentiellen Gefah­ rensetzers, also entweder eine explizite Drohung mit oder wenigstens eine Bekanntmachung des Willens zu (zukünftiger) Unrechtsbegehung oder aber sonstiges bisheriges rechtswidriges Verhaltens, welches dem objektiven Erklärungsgehalt nach eine solche Ankündigung impliziert. Insofern fragt sich, ob die eigentliche Sachfrage des Daseins von (beginnendem) Unrecht nicht dadurch bloß versteckt werden soll, dass man – an­ statt offen zusammenzutragen, was bislang an schon oder noch gegenwärti­ gem (weil sich auswirkendem bzw. noch fortwirkendem) Unrecht in der Welt ist und dieses dem § 32 StGB zu subsumieren – das Gesamtgeschehen als „Gefahr“ beurteilt und, weil diese dann einen personalen Ursprung hat, einen (sachlich unklaren) Rechtfertigungsgrund unter der Bezeichnung „De­ fensivnotstand“ erfindet, bloß um ein gewünschtes Ergebnis letztlich doch zu erzielen. Dies, nämlich letztlich eine schlichte Umbenennung derselben Begriffe – mit dann ggf. plötzlich anderem Ergebnis – wäre schon wegen der darin liegenden Intransparenz unwissenschaftlich, unseriös und im übri­ gen sachleer. In der Tat gibt es in Rechtsprechung und Literatur einige Falllösungsvor­ schläge, in denen das richtigerweise bloß unter § 32 StGB zu beurteilende Rechtsproblem mit dem Terminus des „Defensivnotstands“ umbenannt und dabei eher verschleiert oder gar verzerrt diskutiert wird (dazu (1)). Darüber hinaus wird der Begriff eines auf rechtswidrigem Verhalten beruhenden „Defensivnotstands“ in Rechtsprechung und Literatur zu einigen Fallbeur­

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B. Auflösung der Aufgabe

teilungen herangezogen, in denen der Gedanke nachvollziehbarer erscheint. Jedoch verschwindet auch dabei der Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines (unter § 32 StGB analog bzw. – noch schiefer – § 228 BGB analog oder § 34 StGB) gefassten Rechtfertigungsgrunds des Defensivnotstands aus Unrechtsverantwortung nicht (dazu (2)). (1) F  ehlannahmen von Defensivnotstandskonstellationen aus der Rechtsliteratur bzw. Rechtsprechung („Landstreicher“-Fall, „Haustyrannen“-Fall, „Spanner“-Fall) Eine solche, unnötige Verdeckung einer Notwehrfrage hinter dem Termi­ nus des Defensivnotstands ist die oben (unter B.V.2.c)) besprochene Ent­ scheidung zum Landstreicher-Fall: Wie dargestellt gab es, sofern der brennende Landstreicher das Feuer an seinem Körper innerhalb der Scheune nicht löschen konnte, sondern auf das sofortige Verlassen der Scheune durch den schmalen Durchgang angewiesen war (fehlende anderweitige Abwendbarkeit der Gefahr) und die Bäuerin seine Angewiesenheit und seinen Willen aus den Umständen erkannte und physisch in der Lage war, zu weichen (Platz zu machen), einen Notstands­ erwerb des Landstreichers an dem erforderten Boden. Das Hochreißen der Heugabel und das aktive Gegenstemmen gegen den den Durchgang begeh­ renden Landstreicher stellten einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff seitens der Bäuerin auf die notstandsrechtlich-zulässige Bodennutzung und (so vermittelt) auf die Willensausübung und die Körperintegrität des Land­ streichers dar (siehe oben). Dass der BGH hier eine Notwehrlage verneinen und eher auf einen Be­ griff des Defensivnotstands als potentiellen Rechtfertigungsgrund abstellen will (vgl. oben), ist ohne jeden Sachgrund. Diese Fehlannahme dürfte darauf beruhen, dass der BGH die notwehrfähige Position des L übersah, weil er den Gegenstand eines möglichen Notstandsrechts des L verkannte: Es geht um die Nutzung des schmalen Durchgangs innerhalb der Scheune. Wenn insoweit ein Notstandserwerb des L eintrat (siehe oben), dann handelte es sich dabei um die notwehrfähige Position. L befand sich dann in einer Not­ wehrlage und handelte in Verteidigung gegen den aktiven Versuch der Vereitelung der Durchsetzung seines Notstandsrechts von Seiten der – somit angreifenden – Bäuerin (zur zweifach begründeten Umfangsbeschränkung des dem Grunde nach bestehenden Notwehrrechts siehe ausführlich B.V.2.c)). Dieser Fallbeurteilung hat ein Begriff des Defensivnotstands der Sache nach nichts hinzuzufügen.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen411

Eine ähnliche Verschleierung der zu klärenden Notwehrfrage durch die Erörterung ein und derselben Sachfrage unter dem Terminus des „Defensiv­ notstands“ (durch Auswechslung des Begriffs des Angriffs durch den der „Gefahr“) geschah in nicht wenigen Anmerkungen zu dem vom BGH ent­ schiedenen Haustyrannen-Fall655: Die A lernte M im Jahre 1983 kennen, der bereits damals Mitglied einer Rockergruppe war. Er wurde alsbald gegenüber der Angeklagten tätlich. Gleichwohl heiratete die Angeklagte ihn 1986. Später, nach der Geburt der ersten Tochter J, versetzte er ihr auch Faustschläge ins Gesicht oder in die Magengegend und trat sie wiederholt. Als die A mit der zweiten Tochter T schwanger war, nahm er hierauf keine Rücksicht und versetzte ihr auch jetzt Fußtritte und Faustschläge in den Bauchbereich. Die Gewalttätigkei­ ten nahmen schließlich solche Ausmaße an, dass die A im Mai 1988 den Entschluss fasste, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie begab sich in ein Frauenhaus. Nachdem M jedoch Besserung gelobt hatte, kehrte sie nach vier Wochen zu ihm zurück. Ab dem Jahr 1993 kam es zu weiteren Über­ griffen, bei denen M sie so lange schlug und trat, bis sie auf dem Boden liegen blieb. In einer nach einem solchen Übergriff aufgesuchten Klinik täuschte die A zur Verschleierung einen Sturz vor. Seit Mitte der 90er Jahre schlug M sie, wann immer er meinte, sie habe etwas falsch gemacht. Es kam vor, dass er seine Frau mit einem Baseballschläger oder sonstigen Gegenständen schlug, die gerade für ihn greifbar waren. Schließlich miss­ handelte und demütigte er sie auch vor seinen Freunden in seinem Motor­ radclub. Nachdem M sich im April 2001 als Gastwirt selbständig gemacht hatte, schlug er nicht nur die Angeklagte. Auch die Töchter J und T beka­ men jetzt Schläge ins Genick, wenn sie sich seiner Auffassung nach auf­ sässig oder unbotmäßig verhielten. Die Angriffe auf A steigerten sich ebenfalls. A hielt ihre Situation für vollkommen ausweglos, seit sie einige Wochen zuvor wahrgenommen hatte, dass sich ihr Allgemeinzustand we­ gen der Doppelbelastung im Haushalt und in der Gaststätte sowie aufgrund der Beschimpfungen und Tätlichkeiten ihres Mannes erheblich verschlech­ tert hatte. Sie glaubte daher, den sich steigernden Gewalttätigkeiten bald nicht mehr Stand halten zu können und befürchtete, dass die Tätlichkeiten auch gegen die Töchter schlimmere Ausmaße annehmen könnten. Nach drei gescheiterten Selbstmordversuchen mittels Tabletten in zurückliegen­ der Zeit war in ihr die Einsicht gereift, dass ein Selbstmord keine Lösung sei, weil dann ihre Töchter den Gewalttätigkeiten des Mannes schutzlos 655  BGHSt 48, 255 ff. Eine ähnliche Konstellation lag der Entscheidung BGH, NStZ 1984, 20 zugrunde. In dieser Entscheidung erwähnte der BGH die Notwendig­ keit der Prüfung einer Notwehrrechtfertigung, ohne mit dem Terminus „Defensivnot­ stand“ die sich stellende Rechtsfrage umzubenennen.

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B. Auflösung der Aufgabe

ausgesetzt wären. Sie sah in ihrer Situation keinen anderen Ausweg, den Gewalttätigkeiten des M zu entkommen und ihre eigene sowie die Unver­ sehrtheit ihrer Töchter für die Zukunft zu garantieren, als ihn zu töten. Für den Fall einer Trennung hatte M ihr wiederholt angedroht, dass er den Töchtern etwas antun würde. Auch sie selbst könne er jederzeit ausfindig machen. Selbst wenn er ins Gefängnis käme, sei sie nicht vor ihm sicher: Er könne auch aus dem Gefängnis heraus seine Freunde aus den Rocker­ gruppen beauftragen, ihr etwas anzutun. Die A nahm diese Drohungen ernst; tatsächlich waren M und die Rockergruppen, denen er angehörte, äußerst gewalttätig. Als M am 21.09.2001 gegen 3.30 Uhr aus seinem Lo­ kal nach Hause kam, stritt er erneut mit der A. Er beschimpfte und be­ spuckte sie und schlug ihr ins Gesicht, so dass sie aus dem Mund blutete. Schließlich ging er zu Bett, während die A wach blieb. Gegen 9.00 Uhr stieß sie beim Aufräumen in der Wohnung auf einen von M erworbenen Revolver nebst Munition. A entschloss sich, nun den Schritt zu wagen und ihren Ehemann zu töten. Sie sah darin die einzige Lösungsmöglichkeit, um die für sie ruinöse Beziehung zu ihrem Mann zu beenden. Sie betrat das Schlafzimmer und feuerte aus einer Entfernung von rund 60 cm den Inhalt der gesamten Trommel des Revolvers in Sekundenschnelle auf ihren schla­ fenden Ehemann ab. M starb. Das Landgericht beurteilte die Tat als rechtswidrigen, heimtückisch be­ gangenen Mord (§ 211 Abs. 1, Abs. 2 StGB)656. Der BGH hält die Tat der A ebenfalls für rechtswidrig: Es fehle im Hand­ lungszeitpunkt an einer Notwehrlage im Sinne von § 32 StGB, denn der schlafende M greife gegenwärtig nicht rechtswidrig an. Zwar habe das Landgericht eine Notstandsrechtfertigung nach § 34 StGB nicht geprüft, jedoch, so der BGH, lägen dessen Voraussetzungen „auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen … ersichtlich nicht vor. Die Annahme eines rechtfertigenden Notstandes setzt eine Interessenabwägung voraus. Diese muss zum Ergebnis haben, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt … Es liegt auf der Hand, dass die hier in Rede ste­ henden zu schützenden Rechtsgüter, die körperliche Unversehrtheit der Angeklagten und der gemeinsamen Töchter, das durch die Tat beeinträch­ tigte Interesse, nämlich das Leben Ms als vernichtetes Rechtsgut, nicht überwogen. Das Ergebnis der Abwägung würde selbst dann nicht zugunsten 656  Anstatt die danach an sich zu verhängende lebenslange Freiheitsstrafe fest­ zusetzen, bestimmte die Kammer wegen Vorliegens außergewöhnlicher Umstände nach den Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats des BGH (BGHSt 30, 105) die Strafe aus dem entsprechend § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB gemilderten Straf­ rahmen (gesetzliche Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe prüfte die Kam­ mer nicht).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen413

der Angeklagten ausfallen, wenn eine zugespitzte Situation mit akuter Le­ bensgefahr für einen Familienangehörigen Ms unterstellt würde“657. Ganz überwiegend hat die Lösung des BGH sowohl im Ergebnis als auch in der dogmatischen Verankerung der Rechtfertigungsfrage (Verneinung ei­ ner Notwehrlage, Bejahung einer „Defensiv“-Notstandslage und Verneinung der Erforderlichkeit der Reaktion der A) in der Literatur Zustimmung ge­ funden658. Einige Autoren gelangen jedoch über den Begriff des Defensiv­ notstands zu einer Rechtfertigung der Tötung659. Im Ergebnis ist der Fall vom BGH insoweit zutreffend entschieden wor­ den. Verfehlt und in der Gefahr einer Verdunkelung der eigentlichen Sach­ frage ist jedoch, dass diese anstatt unter § 32 StGB unter der Bezeichnung 657  Der BGH bejaht hier eine von M ausgehende „Dauergefahr“, nimmt aber wohl mit der im Schrifttum überwiegenden Ansicht an, auch der Defensivnotstand rechtfertige jedenfalls keine Tötungen. Auf Schuldebene verneint der BGH einen entschuldigenden Notstand im Sinne von § 35 Abs. 1 StGB, da zwar eine Notstands­ lage (wegen der „Dauergefahr“) für A vorgelegen habe, die Tat jedoch objektiv nicht zur Notabwendung erforderlich gewesen sei, weil wirksame andere Abwendungs­ möglichkeiten gegeben waren („Inanspruchnahme behördlicher oder karitativer Ein­ richtungen, Auszug der Angeklagten mit den Töchtern aus dem gemeinsamen Haus und die Übersiedlung etwa in ein Frauenhaus, aber auch das Suchen von Zuflucht bei der Polizei mit der Bitte um Hilfe im Rahmen der Gefahrenabwehr“). In Be­ tracht komme jedoch ein diesbezüglicher (ggf. vermeidbarer) Tatsachenirrtum der A, § 35 Abs. 2 StGB, siehe BGHSt 48, 258 ff. 658  Etwa Perron, in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 31; Kühl, in: StGB-Kommentar, § 34, Rn. 9. 659  Otto, NStZ 2004, 142; Erb, in: MK, § 34, Rn. 170; Müssig, in: MK, § 35, Rn. 21. Eine Anmerkung dazu: Wer dies vertritt und zugleich in der allgemeinen Rechtsfrage der Einordnung des Fehlens des subjektiven Rechtfertigungselementes (mit der diesbezüglich inzwischen überwiegenden Ansicht, siehe etwa Roxin, AT I § 14, 93 m. w. N.) die sogen. „Versuchslösung“ vertritt, der erklärte den M damit für vogelfrei: Demnach würde etwa ein Einbrecher, der den ihm fremden, schlafenden M erschießt oder ein Amokläufer, der den im Supermarkt einkaufenden M im Vor­ beigehen tötet, lediglich wegen versuchter Tötung (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB bzw. §§ 211 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB) bestraft, weil die objektiv geleistete Defensivnotstandshilfe zugunsten der A den Unrechtserfolg „kompensie­ ren“ soll. Dieses geradezu pervers anmutende Ergebnis beruht auf zwei Fehlern: Zum einen ist die Tötung eines schlafenden Haustyrannen (Nötigers), unabhängig davon, ob sie als Notwehr- oder Defensivnotstandshandlung bezeichnet wird, nicht erforderlich (bzw. „geboten“). Zum zweiten ist die „Versuchslösung“ nur hinsicht­ lich des Rechtfertigungsgrundes der Einwilligung – bei welcher der Einwilligende bestimmte Handlungen und deren Folgen durch seinen Willen an ihm zulässt, wo­ durch tatsächlich kein Unrechtserfolg entsteht – die zutreffende Auflösung der Frage nach dem Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements. Hinsichtlich aller ande­ ren Rechtfertigungsgründe ist bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes wegen vollendeter Tat zu bestrafen (so u. a. auch BGHSt 2, 114); eine „Kompensa­ tion“ eines eingetretenen Unrechts gibt es nicht.

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B. Auflösung der Aufgabe

„Defensivnotstand“ im Rahmen von § 34 StGB behandelt wurde. Denn der M drohte der A jedenfalls aktiv und explizit mit ihrer Tötung für den Fall ihres Auszugs sowie wohl (konkludent) auch mit Schlägen schon für den Fall eines nicht-permanenten Bereithaltens (§§ 240 Abs. 1, Abs. 2, 241 Abs. 1 StGB, ggf. auch § 239 Abs. 1 StGB). Nach überwiegender Ansicht ist ein Angriff durch nötigende Drohung solange im Sinne von § 32 StGB gegenwärtig, wie der von der Drohung ausgehende nötigende Zwang auf­ rechterhalten wird (jedenfalls sofern alsbaldiges Handeln verlangt wird)660. Diese durch M begangene rechtswidrige Nötigung und Bedrohung war (als Dauerdelikt) demnach auch noch im Handlungszeitpunkt (Abgabe der Schüsse) gegenwärtig. Es handelte sich jedenfalls bei der Drohung des M, die A im Falle ihrer Flucht zu töten, nicht um eine „nur latente Bedrohung in dem Zeitraum zwischen einzelnen Angriffsakten“661; gerade diese nöti­ gende Inaussichtstellung ihrer Tötung für den Fall einer Trennung sowie von Schlägen im Falle des Nicht-Zu-Diensten-Seins waren die Umstände, durch welche das Verhalten der A jedenfalls für sie selbst (motivisch) den Charakter einer Verteidigung in einer sonst ausweglosen Lage in Abgren­ zung zu einem Racheakt für begangenes (beendetes) Unrecht erhielt. Die­ se – ggf. durch eine Mehrzahl sukzessiver Einzelhandlungen aufrechterhal­ tene – Drohung, die durch die Vielzahl der beendeten Gewalttaten gegen A glaubhaft gemacht war, ist der richtige Anknüpfungspunkt für eine in Frage stehende Rechtfertigung des Verhaltens der A662. Die Rechtsfrage im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung lautet also: War die Abgabe der tödlichen Schüsse auf den schlafenden M, welcher trotz seiner aktuellen Passivität gegenwärtiger Angreifer auf die Willensaus­ übungsmöglichkeit der A (Nötiger) war663, eine erforderliche Verteidigungs­ 660  Und sofern der Bedrohte sich nicht endgültig gegen ein Folgeleisten entschie­ den hat. Siehe zur überwiegenden Ansicht etwa Novoselec, NStZ 1997, 219, 220; Krey, AT I, Rn. 452 i. V. m. Rn. 430 m. w. N. 661  So Fischer, § 32, Rn. 18, in Bezug auf die aus den Umständen zu entnehmen­ de Wahrscheinlichkeit weiterer Schläge des M gegen A. Mit dieser Begründung verneint Fischer das Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs insoweit. 662  Denselben Gedanken erwägt Rengier unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH, wonach in Fällen der Drohung mit Angriffen auf Leib oder Leben für den Fall des Verlassens eines Ortes (richtigerweise) eine Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB bejaht wird; etwa BGH, NStZ 2001, 420); Rengier, NStZ 2004, 240; ähnlich Herzog, in: NK, § 32, Rn. 29. 663  Wenn etwa Krey (AT I, Rn. 429 i. V. m. 430) entsprechend der überwiegenden Ansicht zur Bestimmung der Gegenwärtigkeit eines Nötigungsangriffs annimmt, ein von einem Mafia-Paten mit dem Tod bedrohter Zeuge sei auch in der Aussagesitu­ ation vor Gericht einem solchen ausgesetzt, so ist dafür ebenso wenig wie im Haus­ tyrannenfall relevant, ob der nötigende Mafia-Pate im Zeitpunkt der Falschaussage gerade schläft oder wach ist.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen415

handlung im Sinne des § 32 StGB? Deutlich muss hingegen sein, dass die vielen, schweren aber beendeten Straftaten des M zum Nachteil der A (Körperverletzungen nach §§ 223 Abs. 1 StGB ff., Beleidigungen nach § 185 StGB und verwerfliche Nötigungen zu einzelnen Diensten nach § 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB) als Anknüpfungspunkte einer in Frage stehenden Rechtfertigung der Tat der A nicht (unmittelbar) relevant sind664. Wenn hingegen der Haustyrann als permanente „Gefahr“ für A betrachtet wird, so ist dies rechtsbegrifflich nicht nur keinerlei Gewinn. Dieses dunk­ le Urteil ist sogar in der Gefahr, einerseits dessen noch fortwirkendes Unrechtsverhalten aus dem Blick zu verlieren und andererseits an dessen Stelle ungenannt einen Rachegedanken als (vermeintliche) potentielle Legi­ timationsquelle einzuführen, indem die ausschlaggebende Basis des Gefah­ rurteils bei vielen Autoren doch das – schreckliche, aber eben beendete – Verletzungsgeschehen der Vergangenheit sein mag. Dass eine Drohung der Intention des Drohenden (hier des M) nach bei dem Bedrohten (hier A) ein Gefahrurteil auslösen soll, ist dem Begriff der Drohung immanent. Eben dieses Urteil des Bedrohten auf die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Übelseintritts ist der (daseiende, nicht erst künftige) Unrechtserfolg einer rechtswidrigen Drohung. Den Drohenden selbst damit zu einer „Gefahr“ (Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts) zu stempeln, ist rechtsbegriff­ lich jedoch nur insoweit zulässig, wie damit gar nichts anderes als die Fortwirkung des ihm zurechenbaren Drohungserfolgs bezeichnet wird – da­ mit ist es also, soweit es legitim ist, überflüssig (siehe dazu auch noch unten zum „Spanner“-Fall). Die Tötung des schlafenden M durch A war rechtswidrig; dies beruht aber – entgegen den meisten Kommentaren – nicht darauf, dass Tötungen im sogen. Defensivnotstand per se unzulässig wären. Es beruht vielmehr darauf, dass die in einer Notwehrlage ausgeführte Notwehrhandlung der A nicht erforderlich war. Es sind keine Umstände dafür ersichtlich, dass die Polizei nicht wirksam gegen M eingeschritten wäre und der A zunächst unmittelbaren Schutz geboten hätte. Darüber hinaus besteht nach dem Ge­ waltschutzgesetz seit dem Jahr 2002 die Möglichkeit zur Erwirkung einer gerichtlichen Maßnahme zum Schutz vor Gewalttaten, worunter gemäß § 2 GewaltschutzG etwa auch die Überlassung einer bisher gemeinsam bewohn­ ten Wohnung an die bedrohte Person fällt. Die Wirksamkeit solcher Maß­ nahmen war objektiv ex ante anzunehmen; dementsprechend fehlt objektiv 664  Sie erklären das Motiv der A bzw. die von ihr angenommene Ernsthaftigkeit der noch fortwirkenden Drohung und damit die angenommene Ausweglosigkeit. Da die Tat der A – auch unter § 32 StGB – mangels Erforderlichkeit rechtswidrig war, haben diese vergangenen (abgeschlossenen) Umstände unter Schuldgesichtspunkten im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung.

416

B. Auflösung der Aufgabe

die Erforderlichkeit (und „Gebotenheit“) der Tötung als Notwehrhandlung. Insoweit kommen auch die zutreffenden normativen Erwägungen zum Tra­ gen, mit denen der BGH (auf Schuldebene) die objektive Erforderlichkeit einer Notstandshandlung im Sinne von § 35 Abs. 1 StGB verneint hat: „An die Annahme anderweitiger Abwendbarkeit … sind zuletzt aus normativen Gründen und zumal dann, wenn die Vernichtung des … Lebens in Frage steht, keine allzu hohen Anforderungen zu stellen.“ Das heißt: Ein Staat, der sich als Rechtsstaat sieht und sogar spezielle Maßnahmen für die rechtliche Auflösung bestehender Unrechtssituationen665 positivrechtlich geregelt hat, kann nicht zugleich von deren Unwirksamkeit ausgehen, es sei denn, diese wird durch besondere Umstände des Einzelfal­ les – etwa trotz Anrufung pflichtwidrig untätig bleibender Polizeibeamte oder Gerichte – angezeigt. Eine insgesamt abschließende Beurteilung des Haustyrannenfalls ist hier nicht das Thema666. Was insoweit gezeigt werden sollte: Ein Begriff des 665  Insbesondere in Fällen über Jahre (oder sogar Jahrzehnte) andauernder und sich zuspitzender häuslicher Gewalt liegt eine gewisse Widersprüchlichkeit auch in dem Verhalten der unterdrückten Person, die sich trotz fortentwickelnder Unterdrü­ ckungstendenz weiter mit dem Unterdrücker abgibt bzw. sich sogar stärker mit diesem zusammenschließt (Hochzeit, gemeinsame Kinder). Oftmals dürfte also auch hinsichtlich des Verhaltens der in einer Langzeitbeziehung unterdrückten Person (hier der A) eine ethische – nicht rechtliche – Pflichtverletzung festzustellen sein: Die innere Rechtspflicht, nämlich das Gebot, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern für diese zugleich immer Zweck an sich zu sein (vgl. Fn. 315), impliziert die Notwendigkeit der Verwahrung der eigenen Person jedenfalls gegen permanent-benachteiligende Unrechtsbegehung. Insofern dürfte einer derart drama­ tischen Zuspitzung zwischenmenschlicher Beziehungen – als Kehrseite der fortge­ setzten Begehung schweren Unrechts auf Seiten des Tyrannen – eine evidente Ver­ letzung dieser inneren Rechtspflicht des Unterdrückten korrespondieren. Damit wird die rechtliche Verantwortungsbereichsabgrenzung keineswegs in Frage gestellt (es handelt sich in rechtlicher Hinsicht also nicht etwa um einen relevanten Mitver­ schuldungsprozess; denn das Unrecht der Taten des Tyrannen wird dadurch nicht weniger schwer und das Maß seiner Schuld ist nicht geringer). Die Rechtsebene kann jedoch dann erreicht werden, wenn eine permanent gewaltsam-unterdrückte Mutter nicht nur sich selbst nicht dagegen verwahrt, sondern auch ihre minderjähri­ gen Kinder (für die sie im Rechtssinne garantenpflichtig ist) einer permanenten Gewaltanwendung etwa durch ihren Mann ausgesetzt lässt. Hier kommen dann selbstverständlich auch hinsichtlich des Verhaltens der Mutter Körperverletzungsde­ likte zum Nachteil des Kindes, begangen durch Unterlassen, in Betracht. 666  Sofern eine Notwehrlage bejaht, die Erforderlichkeit der Verteidigung aber ver­ neint wird, ist insoweit ein Erlaubnistatbestandsirrtum (Irrtum über die Erforderlich­ keit der Notwehrhandlung) zu prüfen. Die Argumentation des BGH zur auch-norma­ tiven Bestimmung der Erforderlichkeit von Tötungen gegen aktuell inaktive Nötiger bedeutet für die Auslegung des Merkmals der Gebotenheit der Notwehr, dass diese eben dann zu verneinen ist, wenn auch in der aktuellen Tatbegehungssituation die Inanspruchnahme staatlicher Hilfe zur (für den Angreifer milderen) Abwendung der



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen417

„Defensivnotstands“ dient dabei nicht der Klärung, sondern eher zur Ver­ schleierung der entscheidenden sachlich-rechtlichen Frage einer etwaigen Rechtfertigung. Diese ist abschließend durch Subsumtion der Sachver­ haltsumstände unter § 32 StGB zu beantworten. Zunächst unklarer als im Fall des fortwirkende Drohungen (sowohl kon­ kludent als auch explizit) aussprechenden Haustyrannen stellt sich insoweit die Lage im ebenfalls vom BGH entschiedenen667 und vieldiskutierten Spanner-Fall dar: Im Jahre 1975 bemerkten die Eheleute A, dass aus der Wohnung Geld abhanden gekommen war. Im April 1976 erwachte die Frau A nachts im Schlafzimmer dadurch, dass jemand sie an der Schulter berührte. Sie sah im Halbdunkel einen Mann, der sich alsbald leise entfernte. Der A, von seiner Ehefrau verständigt, sah im Wohnzimmer den ihm unbekannten S stehen. Der Eindringling flüchtete sofort; der A setzte ihm nach, konnte ihn jedoch nicht erreichen. Er ließ nach diesen Vorfällen am Gartentor eine Alarmanlage anbringen und erwarb eine Schreckschusspistole. Einige Wochen später bemerkte A in seinem Garten denselben Mann. Er gab ei­ nen Schuss aus der Schreckschusspistole ab; S flüchtete wiederum. A ver­ folgte ihn, verlor ihn jedoch aus den Augen. Er zeigte die Vorkommnisse der Polizei an, die zum Erwerb eines Waffenscheins und einer Schusswaf­ fe riet. Die Eheleute befürchteten, dass der Eindringling es auf die Ehefrau des A oder auf die Kinder abgesehen habe. Die Ehefrau, die eine Arztpra­ xis betrieb, befürchtete, wenn sie zu nächtlichen Hausbesuchen gerufen wurde, jemand lauere ihr auf. Der A ließ nach diesen Ereignissen eine Pistole instand setzen. Am 29.04.1977 ertönte gegen 2.30 Uhr wieder die Alarmanlage. Der A und seine Frau verhielten sich ruhig und erbaten te­ lefonisch polizeiliche Hilfe. Bevor diese eintraf, flüchtete der Eindringling. Am 09.09.1977 erwachte der A gegen 1.50 Uhr durch ein Geräusch und sah am Fußende seines Bettes einen Mann stehen. Mit einem Schrei sprang er aus dem Bett, ergriff die Pistole und lud sie durch. Der Mann wandte sich zur Flucht, der A lief hinterher. Wieder war der Eindringling schneller als er. Der A rief mehrfach „Halt oder ich schieße“ und schoss schließlich, Realisation des angekündigten Übels möglich wäre. Da A gar nicht den Versuch der Erlangung staatlicher Hilfe unternommen hatte und insofern selbst auf der Grundlage ihrer Vorstellung in tatsächlicher Hinsicht keine Situation vorlag, in welcher die töd­ lichen Schüsse gerechtfertigt wären, ist ein Erlaubnistatumstandsirrtum zu verneinen. Da nach der hier dargestellten Lösung ein rechtswidriger Nötigungsangriff auf A in der Handlungssituation gegenwärtig vorlag und diese die Grenzen der Notwehr über­ schritt, sind auf Schuldebene zunächst die Voraussetzungen des § 33 StGB zu prüfen. Im Übrigen ist die Prüfung dann fortzusetzen wie vom BGH gefordert, nämlich mit der Prüfung der Voraussetzungen des § 35 Abs. 2 StGB. 667  BGH, NJW 1979, 2053 ff.

418

B. Auflösung der Aufgabe

da S nicht stehenblieb, zweimal in Richtung der Beine des Flüchtenden. Er wollte den Eindringling dingfest machen und so der als unerträglich empfundenen Situation ein Ende bereiten. Der A traf S in die linke Gesäß­ hälfte und in die linke Flanke. Das Landgericht verurteilte A wegen gefährlicher Körperverletzung. Im Handlungszeitpunkt (Abgabe der Schüsse) lag nach Auffassung des Land­ gerichts und auch des BGH kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff im Sinne des § 32 StGB mehr vor (Sachen hatte der S keine entwendet)668. Der BGH ließ dahinstehen, ob die Tat des A aufgrund defensiven Not­ stands nach § 34 StGB gerechtfertigt war („wofür nach Lage der Dinge einiges spricht“), oder ob „im vorliegenden Fall das Festnahmerecht des § 127 Abs. 1 StPO den Schusswaffengebrauch rechtfertigte“669. Er bejahte eine gegenwärtige „Dauergefahr“ im Hinblick auf die „häusliche Bewe­ gungsfreiheit“ und gelangte so zu dem Ergebnis, der A habe jedenfalls ohne Schuld gehandelt (§ 35 StGB). In der Literatur wird überwiegend eine Rechtfertigung der seitens des A mittels der Androhung der Schüsse begangenen (zunächst) versuchten Nöti­ gung (§§ 240 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 StGB) nach § 127 Abs. 1 StPO und eine Rechtfertigung auch der durch die beiden Schüsse tatbe­ standlich verwirklichten gefährlichen Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB), die zugleich die gewaltsame Vollendung der Nötigung war, nach dem Rechtfertigungsgrund des „Defensivnotstands“ bejaht670. Wenn man in Bezug auf die Drohung mit und die Abgabe der Schüsse zunächst die geschriebenen Rechtfertigungsgründe aus Unrechtsverantwortung in den Blick nimmt, dann sind neben dem Notwehrrecht (§ 32 StGB) insbesondere das Selbsthilferecht nach § 229 BGB und das (strafprozessualabgeleitete) Recht zur vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO zu prüfen. Zunächst zum Recht zur vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO: Es bestand eine Festnahmelage. Denn S war auf frischer Tat betroffen und auch verfolgt. Die durch S begangene Tat671 bestand jedenfalls in dem Hausfriedensbruch nach § 123 StGB zum Nachteil der Eheleute. Jedoch 668  Sollte jemand trotz des Davonlaufens des S wegen dessen noch gegebener Anwesenheit auf dem Grundstück der Eheleute A insoweit einen noch gegenwärti­ gen Angriff auf das Hausrecht bejahen wollen, war die Abgabe der Schüsse auf diesen Hausrechtsangriff als solchen jedenfalls keine erforderliche Verteidigungs­ handlung. 669  ΒGH, NJW 1979, 2054. 670  Etwa Hruschka, NJW 1980, 21; Hirsch, JR 1980, 115. 671  Mit „Tat“ im Sinne von § 127 Abs. 1 StPO ist richtigerweise nur eine wirklich begangene Straftat gemeint; so auch Meyer-Goßner; § 127, Rn. 4, m. w. N.; str.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen419

fehlt es hinsichtlich der Abgabe der Schüsse (noch nicht hinsichtlich der Androhung derselben) an einer erforderlichen Festnahmehandlung im Sinne von § 127 Abs. 1 StPO: Zwar war das Verhalten des A wohl jedenfalls auch vom – im Rahmen des § 127 StPO einzig in Betracht kommenden – Zweck der Festnahme zur Zuführung der Strafverfolgung wegen der begangenen Hausfriedensbrüche getragen. Jedoch wird das gezielte Schießen mit einer Schusswaffe auf einen Verfolger – in Abgrenzung etwa zu einem festen Zupacken oder auch zur Androhung des Schießens – nach überwiegender Ansicht niemals vom Festnahmerecht gedeckt672. Ob diese begrenzende Auslegung so richtig ist, kann bezweifelt werden, was der BGH mit dem expliziten Offenlassen dieser Rechtsfrage auch tut673. Aufgrund der Ausrich­ tung des Festnahmerechts nach § 127 Abs. 1 StPO, nämlich ausschließlich auf Herstellung der Bedingungen für einen (repressiven) Ausgleich von begangenem schweren Unrecht mittels (vorausgesetzter staatlicher) Straf­ verfolgung, kommt jedoch als besonderer Umstand, der einen Schusswaf­ fengebrauch Privater zu Festnahmezwecken nach § 127 Abs. 1 StPO recht­ fertigten mag, allein dessen Erforderlichkeit zur Identitätsfeststellung nach Begehung einer besonders schweren Straftat in Betracht674. Daran fehlt es in diesem Fall: Sofern man lediglich zurückblickt, kam jedenfalls im Jahr 1977 bloß eine Strafbarkeit des S wegen Hausfriedensbruchs nach § 123 Abs. 1, Abs. 2 StGB in Betracht – ein eher an der Untergrenze des Strafun­ rechts angesiedeltes Delikt675. Meyer-Goßner, § 127, Rn. 15 m. w. N.; str. NJW 1979, 2054. Besonders merkwürdig und im Widerspruch zum  – von der überwiegenden Ansicht angenommenen – strikten Ausschluss des privaten Schusswaffeneinsatzes zu repressiven Festnahmezwecken ist, dass nach § 2 Abs. 2 b) EMRK sogar staatliche Tötungen zulässig sein können, wenn sie „unbedingt er­ forderlich“ sind, um „jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern“, während nach § 2 Abs. 2 a) EMRK das staatliche Notwehrhilferecht demgegenüber nur dann Tötungen des Angreifers zulässt, wenn dieser einen rechtswidrigen und gewaltsamen Angriff ausführt. Hier liegt der Widerspruch in § 2 Abs. 2 EMRK selbst: Rechtsdurchsetzung ist einzige Staatsaufgabe; das Beenden von daseiendem Unrecht (staatliche Not­ wehrhilfe) ist die primäre Staatsfunktion (vgl. B.III.2.): Sofern schon hier eine sol­ che absolute Umfangsbegrenzung für Staatshandeln vorgesehen wird (die sich grundbegrifflich nicht von selbst versteht), muss das für sekundäre Rechtsdurchset­ zungsmaßnahmen wie Festnahmen oder Fluchtverhinderungen nach Freiheitsentzug erst recht gelten! 674  Ebenso BGH, MDR 1979, 985. 675  Heutzutage kommt auch eine Nachstellung im Sinne von § 238 Abs. 1 Nr. 1 oder ggf. Nr. 5 StGB in Betracht, wobei neben der Beharrlichkeit der Besuche auch der Eintritt des Erfolgs einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestal­ tung in Bezug auf den festgestellten Sachverhalt fraglich erscheint (dazu noch unten im Rahmen der Prüfung des § 32 StGB). Am Ergebnis der Unzulässigkeit einer 672  Vgl.

673  ΒGH,

420

B. Auflösung der Aufgabe

Rechtfertigungsgründe betreffend Zugriffe auf Personen sind, was die Beendigung aktueller Rechtsbeeinträchtigungen angeht, in § 32 StGB (§ 227 BGB) als Notwehr normiert. Was hingegen die Festnahme zum Zwecke der Personalienfeststellung als Voraussetzung der (zukünftigen) Durchsetzbarkeit eines bestehenden privatrechtlichen Anspruchs angeht, ist diese als Selbsthilferecht nach § 229 BGB geregelt. Für die hier in Frage stehende Rechtfertigung der abgegebenen Schüsse auf Bein und Flanke des S fragt sich im Rahmen der Notwehrprüfung (§ 32 StGB), ob im Handlungszeitpunkt überhaupt noch ein gegenwärtiger rechts­ widriger Angriff seitens S vorlag. Im Rahmen des Selbsthilferechts (§ 229 BGB) kommt bei bestehender Wiederholungsgefahr, wenn überhaupt, ein Anspruch auf Unterlassung des Betretens von Grundstück und Haus der Eheleute A nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB in Betracht. Eine – hier zur Zuspitzung der Rechtsfrage zunächst dargestellte – Prü­ fung des Selbsthilferechts nach § 229 BGB ergibt: Zwar könnte das Abge­ ben der Schüsse (die weiteren Voraussetzungen des Selbsthilferechts voraus­ gesetzt) jedenfalls unter besonderen Umständen durchaus als Festnahme im Sinne des § 229 BGB betrachtet werden. Jedoch ist nach der überwiegend vertretenen Auslegung der geltenden Selbsthilferegelung (§ 229 BGB) im Zusammenhang mit §§ 230 Abs. 3 BGB, §§ 916 ff. ZPO für eine Festnah­ mebefugnis vorausgesetzt, dass die Voraussetzungen des persönlichen Ar­ rests zur Sicherung der Zwangsvollstreckung in das Vermögen (§ 918 ZPO) vorliegen676. Das kommt nur in Betracht, sofern es überhaupt um die Zwangsvollstreckung in das Vermögen geht677, wobei auch in solchen Fäl­ len strittig ist, ob Festnahmen bloß zur Personalienfeststellung auch ohne Arrestgrund (§ 917 ZPO) zulässig sind oder nicht678. Letzteres ist hier nicht entscheidungserheblich, weil es bei dem in Betracht kommenden (vorbeu­ Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO durch gezieltes Schießen einer Privatperson auf einen Flüchtenden änderte sich auch nach heutiger Strafrechtslage nichts. 676  Etwa Ellenberger, in: Palandt, § 229, Rn. 7. 677  Das bestreitet u. a. W. Schünemann, der die Auffassung vertritt, alles, was auf gerichtlichem Wege durchgesetzt werden kann, sei Gegenstand möglicher Selbsthil­ fe. § 229 BGB ermögliche die private Durchsetzung eines prozessualen Anspruchs auf dann gerichtliche Durchsetzung (aller möglichen) materiellen Rechtspositionen. Die Norm sei lex generalis gegenüber der dann im Verhältnis der Spezialität stehen­ den Norm des §§ 32 StGB, 227 BGB, Schünemann, Selbsthilfe, S. 48 ff.; 67 ff. 678  Für Zulässigkeit von Personalienfeststellungen auch ohne Arrestgrund OLG Düsseldorf, NJW 1991, 2716; wohl auch BGH, Beschluss vom 05.04.2011, 3 StR 66 / 11 (im konkret-entschiedenen Fall war ein Arrestgrund nicht festgestellt); zur Gegenauffassung Laubenthal, JR 1991, 520; Scheffler, Jura 1992, 353. Das Problem stellt sich hingegen nach der weiteren Auffassung W. Schünemanns (siehe Fn. 677) so nicht.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen421

genden) Unterlassungsanspruch der Eheleute A aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB nicht um eine Geldforderung (§ 916 ZPO) geht. Wenn nun § 32 StGB auf den Fall bezogen wird, so bedenke man vorab, dass die sachlich entscheidende Rechtsfrage nicht umgangen werden kann, indem die etwaige Befugnisnorm umbenannt („Defensivnotstand“) und dog­ matisch schief im Bereich der Notstandsregelungen verortet wird. Die Frage nach der für eine Notwehrrechtfertigung vorausgesetzten Notwehrlage rich­ tet sich wiederum auf das Merkmal der Gegenwärtigkeit eines rechtswidri­ gen Angriffs: Beging S einen solchen im Zeitpunkt der Abgabe der Schüsse durch A? Nicht erforderlich dafür ist die Verwirklichung von Strafunrecht; in Betracht kommt jedes individuell betroffene Rechtsgut. Der „Spannerfall“ ist im Verhältnis zum „Haustyrannenfall“ hinsichtlich des Gegenstandes eines möglicherweise (noch bzw. schon) gegenwärtigen Angriffs deshalb noch grenzwertiger, weil jedenfalls eine explizite Drohung des S gegen die Eheleute, sie weiterhin zumindest in ihrem häuslichen Frieden zu stören, nicht vorliegt. Auch eine konkludent geäußerte Erklärung des S mit Drohungsinhalt kann aus den Umständen der Flucht auch unter Einbezug der Vorgeschichte des mehrmaligen Wiederkehrens nicht entnom­ men werden. Als Angriffsgegenstand kommt auch nicht etwa die Flucht des S als Ver­ eitelung der ggf. gerichtlichen Durchsetzung eines (vorbeugenden) Unterlas­ sungsanspruchs der Eheleute A aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB durch Unterlas­ sen der Personalienangabe in Betracht. Ein Angriff begangen durch Unter­ lassen setzt eine Rechtspflicht zum Handeln voraus. Zwar nimmt jedenfalls der 3. Strafsenat des BGH an, dass zur Durchsetzung eines deliktischen Schadensersatzanspruchs der Gläubiger „grundsätzlich von einem unbe­ kannten Schadensverursacher verlangen“ könne, dieser solle „zur etwaigen gerichtlichen Klärung eines Schadensersatzanspruchs die Personalien be­ kannt“ geben, wobei ihm „zur Sicherung dieses Anspruchs … unter den Voraussetzungen des § 229 BGB (allerdings nach BGH wohl auch ohne Vorliegen eines Arrestgrundes, G. H.; vgl. Fn. 678) ein Festnahmerecht“ zustehe, wenn die Gefahr besteht, dass sich der Schuldner der Feststellung seiner Personalien durch Flucht entziehen will“679. Unklar ist, ob der BGH damit eine Rechtspflicht des deliktischen Schadensverursachers auf Persona­ liennennung im Sinne einer Nebenpflicht zur Pflicht zum Schadenersatz annehmen will („zur Sicherung dieses Anspruchs“ ist im Kontext nicht eindeutig; es mag auch der Schadensersatzanspruch gemeint sein). Sofern man jedoch eine erweiterte Auslegung des § 229 BGB dahingehend ablehnt, dass Selbsthilfemaßnahmen wie Festnahmen mit dem Zweck der Persona­ 679  BGH,

Beschluss vom 05.04.2011, 3 StR 66 / 11.

422

B. Auflösung der Aufgabe

lienfeststellung bei Erforderlichkeit zur dann gerichtlichen Durchsetzung jedes durchsetzbaren (also auch eines vorbeugenden Unterlassungs-)An­ spruchs zulässig sein können (vgl. in diese Richtung etwa Schünemann, Fn. 677 und Fn. 678), so kann eine die Personalienfeststellung (und damit die gerichtliche Durchsetzbarkeit des Anspruchs) vereitelnde Flucht eines unbekannten Privatrechtsschuldners ebenso wenig wie die Nichterfüllung des privatrechtlichen Anspruchs selbst (der das eigentliche Rechtsdurchset­ zungsziel ist) als notwehrrechtsbegründender Angriff durch Unterlassen beurteilt werden. Auf den Fall bezogen: Zwar stand den Eheleuten ein Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB gegen S zu, weil die Gefahr der Wiederholung einer rechtswidrigen Besitzstörung bestand. Die Wiederholungsgefahr, die materielle Anspruchsvoraussetzung ist, wird bei auf Tatsachen gegründeter ernstlicher Besorgnis weiterer Störungen ange­ nommen680. Das lag hier vor, denn der S war schon viermal in den Privat­ bereich der Eheleute eingedrungen, wobei ihm schon beim ersten Mal deutlich zu verstehen gegeben worden war, dass dies unerwünscht war. Somit hätten die Eheleute gegen S nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB auf Un­ terlassung klagen können. Die faktische Bedingung dafür, nämlich die Kenntnisverschaffung hinsichtlich der Personalien des S durch dessen Fest­ nahme bei Fluchtgefahr, wäre strukturell im Bereich des Selbsthilferechts anzuordnen. Bestünde eine Selbsthilfelage, so wäre durchaus diskutabel, ob nicht auch die Abgabe von Schüssen unter besonderen (nun – in Abgren­ zung zur Perspektive des Festnahmerechts nach § 127 Abs. 1 StPO – zu­ künftigen, drohenden) Umständen eine erforderliche Festnahmehandlung bei ansonstiger Vereitelung der Verwirklichung des Anspruchs sein kann. Wird das in § 229 BGB normierte Festnahmerecht zur Selbsthilferecht aber enger ausgelegt, nämlich nur zur späteren Durchsetzung von Geldforderungen unter Arrestvoraussetzungen (§ 230 Abs. 3 BGB, §§ 916 ff. ZPO, im einzel­ nen str., siehe Fn. 678) eingeräumt, so dass die Festnahmehandlung des A allein deshalb nicht von § 229 BGB gedeckt war, dann ist damit schon entschieden, dass das Vereiteln der Personalienfeststellung durch Flucht seitens eines dem Gläubiger unbekannten Privatrechtsschuldners gerade keinen Angriff durch Unterlassen im Sinne des § 32 StGB darstellt: Not­ wehrrechtlich überschritt S nicht dadurch eine äußere Grenze zu den Ehe­ leuten A, dass er ihnen nicht seine Personalien oder gar eine sonstige Si­ cherheit, sie zukünftig nicht mehr aufzusuchen zur Verfügung stellte, son­ dern ggf. dadurch, dass er fortgesetzt und mit Wiederholungstendenz auf ihr Grundstück und in ihr Haus eindrang. Dieses bisherige fortgesetzte Eindringen in seiner Wiederholungstendenz ist der einzige, allerdings als solcher durchaus akzeptable Gegenstand der 680  Bassenge,

in: Palandt, § 1004, Rn. 32.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen423

Prüfung einer im Handlungszeitpunkt noch gegebenen Rechtsverletzung als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff im Sinne von § 32 StGB: Es mag sich um ein Nachstellungsunrecht gehandelt haben, welches die Eheleute A auch im Moment der Abgabe der Schüsse (schon und noch) gegenwärtig belas­ tete. Im Jahr 2007 wurde die Strafnorm zur „Nachstellung“ als § 238 StGB ins Strafgesetzbuch eingefügt. Dadurch werden – in mehr oder weniger gelungener gesetzlicher Bestimmtheit – die Voraussetzungen eines dann sogar strafbaren Nachstellungsunrechts bestimmt, dass sich vom Unrecht etwa der Nötigung (§ 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB) oder Bedrohung (§ 241 StGB) dadurch abgrenzt, dass durch eine Mehrzahl von rechtswidrigen, je­ doch für sich nicht notwendig strafbaren Einzelhandlungen gegen den Wil­ len eines anderen („beharrlich“) die Lebensgestaltung dessen vorsätzlich in schwerwiegender Weise beeinträchtigt wird. Das wiederholte nächtliche Eindringen in das Haus der Eheleute A mag trotz der teilweise mehrmona­ tigen Pausen als „beharrliches“ Aufsuchen der räumlichen Nähe im Sinne von § 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB betrachtet werden, welche jedenfalls zu einer Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse der Familie A führte. Weil es für das Vorliegen eines Angriffs im Sinne von § 32 StGB nicht darauf ankommt, ob dadurch Strafunrecht verwirklicht wird, kann letztlich dahinstehen, ob es sich schon um eine „schwerwiegende“ Beeinträchtigung der Lebensverhält­ nisse der A (bedeutende Umstellungen von Lebensgewohnheiten mit Verlust von Lebensqualität) handelte und auch, ob S diese etwaigen Umstände als Folgen seiner nächtlichen Besuche als möglich erkannte und sie wollte. Dementsprechend ist auch nicht erheblich, ob sich hier etwa ein Delikt der Nachtstellung im Sinne von § 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB (noch) im Versuchs­ stadium befand (irrelevant ist insoweit auch, dass der Versuch einer Nach­ stellung nach § 238 StGB nicht strafbar ist) oder ob es ggf. schon vollendet war. Denn jedenfalls verwirklichte das fortgesetzte Verhalten des S ein be­ wusst-fahrlässiges Nachstellungsunrecht (in ggf. noch nicht die für sich strafbare Schwere erreichendem Umfang). Und eben dieses Unrecht könnte einen – auch im Zeitpunkt der Abgabe der Schüsse durch A noch gegen­ wärtigen – rechtswidrigen Angriff darstellen: Sofern S entweder einen Fortsetzungsvorbehalt hatte oder wenigstens durch rechtswidriges Verhalten in der Handlungssituation einen dahingehenden Anschein objektiv setzte, befand A sich ggf. in einer Notwehrlage. Dann war das Abgeben der Schüs­ se, weil erforderliches Mittel zur Personalienfeststellung für die Erwirkung künftigen effektiven staatlichen Schutzes gegen S, durch Notwehr nach § 32 StGB gerechtfertigt. Dass, wenn die Identität des S den Eheleuten A zum Handlungszeitpunkt bekannt gewesen wäre, die Abgabe der Schüsse keine erforderliche Notwehrhandlung gewesen wäre, versteht sich von selbst (es wäre dann gerichtlicher Rechtsschutz im Hinblick auf den Anspruch nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB anzustreben gewesen).

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B. Auflösung der Aufgabe

Wer in den Feststellungen zum „Spanner“-Fall die – zur Annahme der Gegenwärtigkeit des Angriffs erforderliche – Feststellungen zum Vorliegen eines Fortsetzungsvorbehalts bei S oder zur diesbezüglichen Anscheinsset­ zung in der Handlungssituation vermisst, der hegt verständliche Bedenken. Nur bedenke man: Die entscheidungserhebliche Sachfrage wird wiederum – insofern unterscheidet sich der Fall letztlich nicht vom „Haustyrannen“Fall – durch die Bezeichnung eines hypothetisch in Erwägung gezogenen Verteidigungsrechts in zeitlich gegenüber der Notwehr ausgedehntem Um­ fang mit dem Terminus des „Defensivnotstands“ eher verschleiert: Bestand denn für die Eheleute A überhaupt eine gegenwärtige „Gefahr“ oder kann ein solches Urteil nicht auch nur dann getroffen werden, wenn ebenfalls ein Fortsetzungsvorbehalt des S oder wenigstens die objektiv-zurechenbare Setzung eines solchen Anscheins festgestellt wird? Das wird in den auf „Defensivnotstand“ als Rechtfertigungsgrund abstellenden Anmerkungen zum „Spanner“-Fall jedenfalls nicht thematisiert, was mangelhaft ist. In konsequenter Rechtsanwendung ergibt sich also für den „Spanner“Fall: Entweder war die – von § 127 Abs. 1 StPO nicht gedeckte – körper­ verletzende Abgabe der Schüsse durch A als erforderliche Notwehrmaßnah­ me auf einen noch gegenwärtigen rechtswidrigen (Nachstellungs-)Angriff des S nach § 32 StGB gerechtfertigt oder aber sie war rechtswidrig681. Der Begriff des Defensivnotstands als Rechtfertigungsgrund hat auch in dieser Fallbeurteilung gegenüber der vorgestellten Notwehrprüfung keine eigen­ ständige Relevanz. Die unter § 32 StGB abschließend zu klärende Sachfra­ ge ändert sich durch bloße Umbenennung ebenso wenig wie ihre rechtliche Antwort682. 681  Nicht ausgeschlossen ist bei Verneinung des Vorliegens eines gegenwärtigen Angriffs die Annahme einer Entschuldigung der Tat des A nach § 35 Abs. 1 StGB (im Ergebnis dann entsprechend der Lösung des BGH): Denn dann ist die Tat rich­ tigerweise zugleich als rechtswidrig bestimmt; man mag aber, sofern man denn die Setzung eines Anscheins des Wiederkehrens durch S in der Handlungssituation nicht für einen gegenwärtigen, objektiven Nachstellungsangriff im Sinne des § 32 StGB ausreichen lässt, wegen dieser (festzustellenden) Setzung eine (Dauer-)Gefahr für die Eheleute bejahen. Zweifelhaft ist allerdings, ob diese tatsächlich für eines der in § 35 StGB genannten Güter bestand; zwar dürfte das allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. die allgemeine Handlungsfreiheit der Eheleute A in Gefahr gewesen sein, nicht nachvollziehbar ist aber, weshalb der BGH eine solche auch hinsichtlich der von § 35 StGB gemeinten Fortbewegungsfreiheit annimmt. 682  Die behauptete Verunklarung der rechtlichen Verhältnisse durch die – einer Notwehrbeurteilung im Ergebnis widersprechende – Beurteilung des Falles unter einem Begriff des Defensivnotstands bestätigt sich übrigens, wenn etwa angenom­ men wird, die nächtliche Abgabe der Schüsse durch A sei aufgrund defensiven Notstands nach § 34 StGB gerechtfertigt; demgegenüber dürfe A jedoch, wenn er den S erst am nächsten Tag auf der Straße anträfe, nicht auf diesen Schießen, weil „eine geringere Schutzwürdigkeit des Betroffenen“ nur anzunehmen sei, solange



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen425

(2) E  her diskutable (Defensivnotstands-)Fallkonstellationen („präventive Notwehr“?) Wenn überhaupt, dann mag ein Zweifel an der abschließenden Regelung privater Verteidigungs- und Selbsthilferechte (private Gewaltrechte) durch die insoweit bestehenden allgemeinen Normen des positiven Rechts (§§ 32 StGB, 227 BGB, 229 BGB) ausgelöst werden, was die Beurteilung solcher Fälle angeht, in welchen eine Person sich in der Gefahr einer bevorstehen­ den (schweren) Rechtsverletzung befindet, obwohl bislang kein rechtswidriges Verhalten getätigt wurde (in Abgrenzung zu den oben besprochenen Konstellationen, in denen eine begangene Verletzung ggf. fortwirkt) und der bevorstehende Angriff im Falle seiner (späteren) Durchführung nicht mehr wirksam abgewehrt werden könnte. Problematisch sind solche Fälle selbst­ verständlich nur dann, wenn in der bis zum Angriffsbeginn zur Verfügung stehenden Zeitspanne staatliche Hilfe (Gefahrenabwehr) nicht zu erlangen ist. Solche Fallkonstellationen dürften im eingerichteten und ausgeübten Rechtsstaat (wenn überhaupt) nur ganz selten vorkommen. Der oft als Bei­ spiel für eine solche Konstellation herangezogene sogen. „Dresdner Rotlicht“-Fall683 ist kein solches: Nach den landgerichtlichen Feststellungen hatte sich eine Gruppe von 30 bis 50 Personen nachts ca. 150 Meter vor einem Bordell zusammengerottet, nachdem den Bordellbetreibern schon am Vormittag angekündigt worden war, dass in dieser Nacht ein Überfall auf das Bordell („plattmachen“) statt­ finden würde. Die Bordellbetreiber fuhren auf die Personen zu, die noch keine Anstalten gemacht hatten, sich in Richtung des Bordells zu bewegen, und forderten sie unter Androhung von Gewehrschüssen auf, zu verschwin­ den. Die Polizei hatten sie zu keinem Zeitpunkt verständigt, obwohl diese – noch ein „enger zeitlicher Zusammenhang zu dem vorausgegangenen … Angriff besteht“; so etwa Perron, in: Schönke / Schröder, § 34, Rn. 31. Was soll hier der Maßstab, Grund oder das Kriterium einer anscheinend vorausgesetzten „Schutzwürdigkeits“-Prüfung sein? Dahinter mag die sachlich zutreffende Annahme stecken, der Nachtsteller sei trotz des mehraktig-sukzessiven Charakters des Delikts nicht permanent gegenwärtiger Angreifer des Betroffenen, sondern nur in Situatio­ nen unmittelbarer rechtswidriger Grenzüberschreitungen, in denen sich der Nachstel­ lungswille erkennbar äußere. Das Heranziehen von – nun plötzlich auf vorangegan­ genem und als abgeschlossen betrachtetem Verhalten gründenden – „Schutzwürdig­ keiten“ lässt jedoch die Vermutung entstehen, dass dabei in den vermeintlich bloß präventiv ausgerichteten Defensivnotstandsbegriff noch ein rückblickender Gedanke einer Sanktionierung hineingemengt wird (der unter Schuldgesichtspunkten selbst­ verständlich Bedeutung hat; nicht jedoch wenn es um die Frage der Rechtmäßigkeit einer Tat geht). 683  BGHSt 39, 133 ff.

426

B. Auflösung der Aufgabe

selbst bei Herbeirufen unmittelbar vor dem Tatgeschehen – umgehend mit zunächst 8 Personen zur Verfügung gestanden hätte. Die (versuchte) Nötigung der Personen mittels der Drohung mit dem Gewehr war, wie der BGH zutreffend ausführt, rechtswidrig, wobei der Begriff des Defensivnotstands hier wiederum nichts beizutragen hat: Entwe­ der lag in der Zusammenrottung der Personen dem Erklärungsgehalt des nicht heimlichen, sondern bewusst offen erfolgenden Verhaltens nach schon eine Drohung mit einer unmittelbar bevorstehenden physischen Attacke (dann mag man einen gegenwärtigen Willensangriff und damit eine Not­ wehrlage bejahen) oder nicht. In jedem Fall war jedoch die (versuchte) Nötigung zum Verschwinden von der Straße keine erforderliche Verteidi­ gungs- bzw. Gefahrabwendungsmaßnahme: Zuwarten hätte die Verteidi­ gungschancen gar nicht erkennbar verschlechtert; im Handlungszeitpunkt selbst war ein gegenüber der Drohung wesentlich effektiveres Herbeirufen der Polizei im Übrigen das für die zusammenstehenden Personen mildere Mittel. Als taugliches Beispiel einer etwaigen Defensivnotstandskonstellation (gründend auf rechtswidrigem Handeln) mag hingegen der folgende Gastwirt-Fall dienen: Der Inhaber und Wirt einer abgelegenen Gaststätte hörte, wie sich eine Gruppe von Gästen verabredete, ihn nach Beendigung einer gerade erst begonnenen, ausgiebigen Mahlzeit zu überfallen. Da er dem Angriff (Über­ fall) nicht gewachsen wäre und (auch staatliche) Hilfe nicht rechtzeitig herbeizuholen war, mixte er ein Betäubungsmittel in die Aperitifs dieser Gäste. Die Gäste fielen in Schlaf684. War die seitens des Wirtes tatbestandlich (mittelbar-täterschaftlich) ver­ wirklichte gefährliche Körperverletzung und Freiheitsberaubung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1, 239 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 2 StGB) gerechtfertigt? Lag hier ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff der Gäste auf den Wirt im Sinne von § 32 StGB vor? Der verabredete Raubversuch hatte noch nicht begonnen; der Raubver­ wirklichungsbeginn stand nicht etwa unmittelbar bevor. Vielmehr hatten die Gäste vor, zunächst ein ausgiebiges Mahl einzunehmen. Insoweit fehlte es zum Zeitpunkt der Übergabe der betäubenden Getränke (noch) an einem gegenwärtigen Angriff auf den Wirt.

684  Dieser Fall findet sich etwa bei Lenckner (Notstand, S. 102) und bei Erb, der ihn als „Schulbeispiel“ für eine Defensivnotstandskonstellation bezeichnet; in: MK, §  34, Rn.  165 m. w. N.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen427

Jedoch verwirklichte das bisherige Verhalten der Gäste immerhin die objektiven Voraussetzungen einer Drohung: Es lag eine durch ein Verhalten bewirkte Inaussichtstellung eines künftigen, vom Willen des Erklärenden abhängigen Übelseintritts vor, nämlich eine objektiv zur Kenntnis des Gast­ stätteninhabers gebrachte Äußerung über den bevorstehenden Überfall zu seinem Nachteil. Diese Inaussichtstellung beschwerte als solche den objek­ tiven Erklärungsempfänger sofort; die Rechtsverletzung war also im Hand­ lungszeitpunkt (Übergabe der Aperitifs) schon und noch gegenwärtig. Denn tatsächlich ist es genau das, was die schon im Handlungszeitpunkt vorhan­ dene, besondere Drucksituation für den Gaststätteninhaber begründete und wohl sogar den objektiven Tatbestand des § 241 Abs. 1 StGB verwirklichte. Ob das Verhalten der Gäste soweit schon strafbar war oder nicht685, ist für das Vorliegen eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs nicht relevant. Ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff kann somit bejaht werden, auch ohne dass diese Annahme voraussetzte, das Merkmal der Gegenwärtigkeit des Angriffs im Sinne von § 32 StGB entsprechend dem Vorschlag Schmid­ häusers (siehe Fn. 653) erweitert auszulegen. Die Annahme einer Notwehrrechtfertigung der körperverletzenden und freiheitsberaubenden Betäubung erscheint gut vertretbar. Zweifelhaft bleibt somit, ob eine Verschiebung des Themas unter einen erweiterten (vermeintlichen) Rechtfertigungsgrund aus Unrechtsverantwor­ tung – durch Austausch des Merkmals eines „gegenwärtigen Angriffs“ durch eine „gegenwärtige Gefahr“ unter dem Terminus „Defensivnotstand“ – einen Erkenntnisgewinn brächte. Nicht verkannt werden soll zwar, dass es dem Gastwirt primär nicht um die Beendigung der – im Handlungszeitpunkt gegenwärtigen – Druckwir­ kung der (fahrlässigen) objektiv erfolgten Drohung ging, sondern um die Verhinderung der (künftigen, noch nicht gegenwärtigen) Realisierung des Drohungsinhalts. Jedoch besteht stets ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß einer vorhandenen Drohungswirkung und der (angenommenen) Wahrscheinlichkeit, die Realisierung des Drohungsinhalts noch abzuwen­ den: Gerade weil in der konkreten Situation die künftige Realisierung des Drohungsinhalts unabwendbar erschien, entfaltete die Drohung starke Druckwirkung. Der Wille der Verhinderung der Realisierung des Drohungs­ 685  Nach der unter einem materiellen Verbrechensbegriff verfehlten, weil zu weit ins bloße Vorfeld einer schweren Unrechtsverwirklichung greifenden Regelung des § 30 Abs. 2 StGB ist hier schon eine Strafbarkeit der Gäste wegen Raubverabredung nach §§ 249 Abs. 1, 30 Abs. 2 StGB gegeben. Diese Annahme impliziert die – aus gerade genanntem Grund unwahre – Behauptung der schon gegebenen Verwirklichung schweren Unrechts (dagegen treffend Köhler, AT, S.  544 ff. m. w. N.; siehe dazu auch Fn. 687).

428

B. Auflösung der Aufgabe

inhalts implizierte den Willen der Beendigung der Drohung (der Unrechts­ erfolg einer Drohung besteht nur, wenn der Bedrohte von einer Realisier­ barkeit des angekündigten Übels ausgeht, was nicht der Fall wäre, sofern ihm eine jederzeitige, sichere Abwendungsmöglichkeit verbliebe). Keinen Einwand gegen die Annahme einer notwehrrechtlichen Rechtfer­ tigung stellt die Feststellung dar, dass die Notwehr – anders als der von vielen Autoren hier herangezogene Defensivnotstand – keine Wahrung ei­ ner besonderen Verhältnismäßigkeit voraussetzt: Nach überwiegender und richtiger Ansicht stellt eine aufrechterhaltene, rechtswidrige Drohung bzw. Nötigung für die Dauer ihrer negativen Wirkung auf den Betroffenen einen gegenwärtigen Angriff dar (vgl. dazu oben). Dass extrem-einschneidende Notwehrhandlungen zur sofortigen Beendigung der damit verbundenen Druck- oder Zwangswirkung unzulässig (nicht „geboten“) sein können, re­ sultiert daraus, dass im Rechtsstaat grundsätzlich die Inanspruchnahme staatlicher Hilfe gegen die erst bevorstehende Realisierung des Drohungsinhalts (und damit gegen die Drohungswirkung selbst) mit dann milderen Wirkungen für den Drohenden zu erstreben ist. Gerade weil die Möglich­ keit der Inanspruchnahme staatlicher Not(wehr)hilfe besteht, ist das Aus­ maß der Druckwirkung einer Drohung (deren Erfolgsunrecht) solange ge­ mindert, wie die Realisierung des Drohungsinhalts dadurch abwendbar erscheint. Etwa eine Tötung des Drohenden zur sofortigen Abwendung der fortwirkenden Dauergefahr zwischen Drohungsakten ist in der Regel aus diesem Grund unzulässig686. Eine Ergebnisdifferenz stellt sich ggf. jedoch dann ein, wenn der Gastwirt-Fall dahingehend abwandelt wird, dass nicht der Wirt das Vorhaben der Gäste aus deren Gespräch heraushörte (sodass ihm von diesen unbe­ wusst-fahrlässig und doch rechtswidrig gedroht wird, siehe oben), sondern ein Dritter dem Wirt die – tatsächlich auf Raub zum Nachteil des Wirtes gerichtete – Absicht der speisenden Gäste mitteilte, woraufhin der Wirt die Gäste durch heimliche Eingabe eines starken Schlafmittels betäubte. Hier kann mangels auch nur unbewusst-fahrlässigen, äußeren rechtswid­ rigen Verhaltens der Gäste kein gegenwärtiger Angriff bejaht werden. Schmidhäusers Vorschlag (Fn. 653) einer erweiterten Auslegung des Merk­ mals der Gegenwärtigkeit, nämlich Gegebensein immer schon dann, wenn der Angriff so vorbereitet wird, dass eine spätere Abwehr nicht mehr mög­ lich ist, änderte daran wohl nichts: Die Einnahme des Essens in der Absicht, danach einen Raub zu begehen, ist keine Vorbereitungshandlung und kann mangels jeglicher handlungsunmittelbarer Überschreitung des äußeren Ver686  Man denke an den Diskussionsstand zu den sogen. „Chantage“-Fällen; siehe etwa BGH NJW 2003, 1955 ff.; auch BGH NStZ-RR, 1998, 135.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen429

hältnisses zum Gastwirt nicht als Beginn eines (dann gegenwärtigen) rechtswidrigen Angriffs betrachtet werden687 (ob Schmidhäuser selbst so weit gehen wollte, kann ebenfalls bezweifelt werden). Hier ist eine Notwehrrechtfertigung jedenfalls zu verneinen; Rechtfertigung kommt nur dann in Betracht, wenn ein in zeitlicher Hinsicht erweiterter, auf eine durch mensch­ liches Verhalten drohende Gefahr für den Betroffen abstellender Rechtferti­ gungsgrund des Defensivnotstands anerkannt wird. Ob man dies tut, scheint hingegen v. a. vom gewünschten Ergebnis abzu­ hängen. Ein Zweifel an der Annahme, die Gäste hätten schon die Bedingun­ gen eines physischen Zugriffs auf ihren Körper aus Unrechtsverantwortung hergestellt, bleibt – mangels des Beginns einer rechtlichen äußerlichen Grenzüberschreitung – bestehen. Konsequent ist die Verneinung einer Rechtfertigung mangels Vorliegens der Notwehrvoraussetzungen hinsicht­ lich dieser Abwandlung also allemal, obwohl die Gäste eine gegenwärtige „Gefahr“ für den Gastwirt darstellen bzw. eine Gefahrenlage durch die Verbrechensverabredung begründet haben. Die gefährliche Körperverletzung und die Freiheitsberaubung sind – wenn Rechtfertigung abgelehnt wird – nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt (sofern dem Wirt eine Beeinträchtigung seines Leibes oder seiner Fortbewegungs­ freiheit drohte). Schließlich kommen als Defensiv-Notstandsfälle bei drohendem rechts­ widrigen Verhalten noch die Fälle heimlicher Aufnahmen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes (§ 201 StGB) zu künftiger Rechtsdurchsetzung bzw. künftiger Unrechtsabwehr in Betracht. Der BGH nimmt an, die Rechtferti­ gung eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch heimliche Aufnahmen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in einem über die Notwehr688 (§ 32 StGB) hinausgehenden zeitlichen Umfang sei nach § 34

687  Der Fehler einer zu weiten Ausdehnung von Strafbarkeiten durch das positive Recht – hier mündend in der Annahme einer Strafbarkeit der Gäste schon wegen der ggf. lange zurückliegenden Raubverabredung nach §§ 249 Abs. 1, 30 Abs. 2 StGB – wird besonders augenfällig: Die Raubverabredung als – eben bloß vermeintliche – Begehung schweren Unrechts (von Strafunrecht) begründet an sich nicht einmal eine Notwehrlage (zu keinem Zeitpunkt bis zur handelnden, nämlich dem Deliktsbege­ hungsversuch unmittelbar vorgelagerten, Grenzüberschreitung). Das enthält eine Absurdität und offenbart deutlich, dass die Verbrechensverabredung der Sache nach bloße Gefahrenabwehrindikationen erfasst, die ins Polizei- und Ordnungsrecht, nicht ins Strafrecht gehören. 688  Notwehrrechtfertigungen kommen in Betracht in den Sachverhalten, die fol­ genden – nicht stets auf Notwehr abstellenden – Entscheidungen zugrundelagen: OLG Celle, NJW 1965, 1677; KG Berlin, JR 1981, 254 (Aufnahmen von Drohun­ gen); OLG Frankfurt, NJW 1967, 1047 (Aufnahme von Beleidigungen).

430

B. Auflösung der Aufgabe

StGB möglich, sofern eine „notwehrähnliche Lage“ vorliege689. Dies kom­ me, so der BGH, in Betracht, wenn „die Verwertung solcher Aufnahmen das einzige Mittel zur strafprozessualen Entlastung einer anderen Person von besonders schweren Anklagevorwürfen darstellen würde“690. Zur zivilprozessualen Beweisgewinnung soll eine heimliche Gesprächsaufnahme hinge­ gen unzulässig sein691. Im Ergebnis erscheint diese – anscheinend nach BGH eng zu verstehen­ de – Rechtfertigungsannahme zutreffend. Bezweifelt werden kann hingegen, dass sich dasselbe Ergebnis in den dem BGH vor Augen stehenden Kons­ tellationen nicht auch durch Subsumtion unter § 32 StGB ergibt: Denn für ein objektives Urteil auf das Vorliegen einer Gefahr (etwa der nicht anders abwendbaren Falschbelastung im Strafprozess) im Zeitpunkt der Tonaufnah­ me kann es jedenfalls nicht ausreichen, dass der Aufnehmende eine solche bloß subjektiv für wahrscheinlich hält (nicht jeder potentiell-zukünftig oder derzeit schon wirklich Beschuldigte darf zur Vorbeugung von Falschbezich­ tigungen das nichtöffentlich gesprochene Wort jedes potentiellen Zeugen aufnehmen). Insofern kommt als – ein Gefahrurteil auslösende – Tatsachen­ lage (Rechtfertigungslage) wohl wiederum nur eine die Falschaussage an­ kündigende (in Aussicht stellende) Äußerung des künftigen Zeugen oder eine schon erfolgte Falschbezichtigung gegenüber einer Ermittlungsbehörde in Betracht. Und eben eine solche Äußerung ist die (jedenfalls) objektive Ankündigung eines künftigen Übels (oder, falls schon ausgesagt wurde,

689  BGHZ

332.

690  BGHSt

27, 286; BGH NJW 1982, 278; wohl dasselbe gemeint von BGHSt 19,

19, 332. Stuttgart, MDR 1977, 683 (entgegen der als Minderheitsansicht be­ zeichneten Auffassung des KG, das mit BGHZ 3, 280 Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach einem „allgemeinen Rechtfertigungsgedanken“ entspre­ chend § 193 StGB in einem über den durch §§ 227, 229 BGB vorgestellten Um­ fang für rechtfertigbar hielt, KG Berlin, NJW 1956, 27); BGH, NJW 1982, 277: Der BGH differenziert im konkreten Fall von der Unzulässigkeit der Aufnahme die Frage der Zulässigkeit der Verwertung derselben als Beweismittel im Zivilprozess, weil die insoweit betroffene (nicht beweisbelastete) Partei vorgetragen hatte, gar nicht die Anruferin des aufgezeichneten Anrufs gewesen zu sein (weshalb sie nach eigenem Vortrag auch nicht die durch die rechtswidrige Tat Verletzte sein konnte). Diese Rechtsprechung zur Verwertbarkeit trotz Rechtswidrigkeit der Aufnahme dürfte sich deswegen auch nach den Entscheidungen des BVerfG und des BGH zur zivilprozessualen Unverwertbarkeit sogar von heimlich am Telefon bloß mithörenden Zeugen über einen Gesprächsinhalt (BVerfG, NJW 2002, 3619 ff.; BGH, IX ZR 165 / 02) halten lassen. Das Aufnehmen des Wortes zur Beweisgewinnung in bloß zivilprozessualer Hinsicht muss die Rechtsprechung hingegen in Anbetracht der Entscheidungen zum bloß mithörende potentiellen Zeugen erst recht und ohne Ausnahme als unzulässig bewerten. 691  OLG



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen431

sogar eine schon gegenwärtige Falschbezichtigung692) und als solche eine objektive Drohung, die rechtswidrig ist693. Insofern dürfte auch hier das Abstellen auf eine „notwehrähnliche Lage“ unter dem Terminus des Defensivnotstands wiederum ein unnötiges Auswei­ chen der Beantwortung der eigentlichen Sachfrage eines – beschränkten und gegenüber staatlicher Hilfestellung subsidiären – Verteidigungsrechts auch gegen Drohangriffe unter dem Notwehrbegriff (§ 32 StGB) sein. Es besteht somit jedenfalls ein starker Zweifel daran, dass für einen Rechtfertigungsgrund des Defensivnotstands im Sinne präventiver Not­ wehr – auch nach grundbegrifflicher Betrachtung – überhaupt Raum ver­ bleibt innerhalb einer Rechtsordnung, die durch das geschriebene Recht (§§ 32 StGB, 227 BGB) interpersonale Zwangs- bzw. Gewaltrechte wohl abschließend bestimmt. Der Sache nach liegt einigen Rechtsgrundlagen für staatliches, verhältnismäßiges Gefahrenabwehrhandeln ein Defensivnotstandsgedanke im Sin­ ne präventiver Notwehr(hilfe) zugrunde: Ein prägnantes Beispiel mögen die Regelungen zur Verhinderung der Weiterverbreitung ansteckender Krankhei­ ten sein (§§ 25 Abs. 1, 26 Abs. 2, 28, 29, 30, 31 IFSG)694. Zwar ist derje­ nige, der an einer ansteckenden gefährlichen Krankheit leidet, deren Über­ tragung im öffentlichen Raum nicht in den Bereich der erlaubten Risiko­ schaffung fällt, nicht schon per se eine Gefahr für andere, sondern nur, wenn auch die weiteren Bedingungen einer Übertragung der Krankheit hergestellt zu werden drohen (etwa eine gewisse räumliche Nähe). Sollte jemand, der an einer hochansteckenden schweren Krankheit leidet, auf de­ ren Eintritt sich andere auch im öffentlichen Raum nicht permanent im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos einzustellen haben (z. B. Lungen­ pest), sich trotzdem auf dem Boden eines anderen diesem nähern oder auf öffentlichem Boden (der nur insofern zum Gemeingebrauch offen steht, wie ein solcher konform mit dem allgemeinen Verletzungsverbot geschieht) den Kontakt zu anderen suchen, so bringt er diese in eine Notwehrlage. Denn diese Annäherung wäre ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff. Dass der Staat im Vorfeld dessen auch ohne eine – in den meisten solcher Fälle 692  Womit dann ggf. das durch §§ 186, 187, 164 Abs. 1 StGB gefasste Unrecht schon und noch in der Welt wäre (es wirkt nach formeller Deliktsvollendung fort). 693  Nochmals: Es kommt insoweit nicht darauf an, ob diese Inaussichtstellung selbst schon (etwa als versuchte Nötigung zu irgendeinem Verhalten nach §§ 240 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 StGB) strafbar ist. Zur Notwehrlagenbegrün­ dung ist ausreichend, dass sie rechtswidrig ist. 694  Merkel bezeichnet die Quarantäne (gemeint wohl nach § 30 IFSG) als Bei­ spiel einer rechtmäßigen Behandlung einer Person als Gefahrenquelle, in: JZ 2007, 382.

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B. Auflösung der Aufgabe

wohl vorliegende, dann sowieso rechtfertigende – Einwilligung Gefahrenab­ wehrmaßnahmen wie die Vorladung zur nicht- bzw. nur minimal-invasiven Untersuchung (§ 26 Abs. 2 IFSG), Beobachtungen (§ 29 IFSG) und notfalls sogar eine zwangsweise Unterbringung an einem abgesonderten Ort (Qua­ rantäne, § 30 IFSG) durchführen kann, beruht auf einem entsprechenden Defensivnotstandsgedanken. Die Existenz solcher positiver Rechtsgrundla­ gen für staatliches Gefahrenabwehrhandeln, also das Eingerichtetsein einer verhältnismäßigen Gefahrenvorsorge und -abwendung seitens der zuständi­ gen Institution im Vorfeldbereich möglicher Rechtsverletzungen, sind ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass Zwangs- und Gewaltrechte im (unmittel­ baren) Bürgerverhältnis durch die allgemeine Notwehrnorm wohl abschlie­ ßend bestimmt sind. Zusammenfassend: Ein Begriff des Defensivnotstands im Sinne der An­ nahme einer rechtlichen Abwendbarkeit von aus rechtswidrigem Handeln resultierenden Gefahren auch durch Zugriffe auf angeborene Güter des Gefahrensetzers ist, soweit er als Rechtfertigungsgrund bezogen auf das Verhältnis der Bürger untereinander seinem Inhalt nach legitim ist, als sol­ cher wohl überflüssig. Die jeweilige Sachfrage dürfte abschließend durch Subsumtion der Tatsachen unter die Notwehrnorm (§§ 32 StGB, 227 BGB) zu beantworten sein. Insoweit es also um Rechtfertigung beruhend auf Unrechtsverantwortung des anderen im eigentlichen Sinne (rechtswidriges Verhalten) geht, dürfte ein Rechtfertigungsbegriff des Defensivnotstands keinen eigenständigen Platz im System der Rechtfertigungsgründe haben. b) Zweite Defensivnotstands-Konstellation: „Zurechnung“ einer Gefahr zu einer Person unabhängig von einer rechtswidrigen Handlung (sogar bei Nicht-Verhalten)? Der Begriff des Defensivnotstands hat – richtig verstanden – einen ande­ ren Inhalt als die zeitliche Ausdehnung einer (notwehrrechtlichen) Rechtfer­ tigung aus Unrechtsverantwortung des von der Tat Betroffenen. Der Recht­ fertigungsgrund fasst ein Notstandsrecht im eigentlichen Sinne und bezieht sich gar nicht auf Unrechtsabwehr im Sinne der Abwehr rechtswidrigen Verhaltens (Kritik an der letztgenannten Annahme oben a)). Vielmehr han­ delt es sich um eine Regel der rechtlichen interpersonalen Raum(nutzungs) verteilung: Nach dem hier dargelegten Rechtsstandpunkt, soweit dieser bisher her­ ausgearbeitet ist, kommt eine Rechtfertigung von Zugriffen auf angeborene Güter an sich nur unter den Voraussetzungen der Notwehr (§§ 32 StGB, 227 BGB) oder bei Vorliegen einer wirksamen (wirklichen oder mutmaßlichen) Einwilligung in Betracht, weil dadurch – eben in der von dem Zugriff be­



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen433

troffenen Person selbst liegende – Bedingungen der ausschließlichen Zuord­ nung angeborener Güter konform mit dem Personenbegriff (bzw. dem konstruierten Rechtsbegriff) aufgestellt werden. Ein auf externen Bedingungen beruhender Notstand eines anderen löst hingegen – gerade in Abgren­ zung dazu – zwar ggf. die ausschließliche Zuordnung äußerer (rechtlicherworbener) Güter, nicht jedoch die ausschließliche Zuordnung der deshalb als „angeboren“ bezeichneten Materie auf (weil es sonst die Person auflös­ te, was rechtlich-unmöglich ist, B.II.3. und III.1.a)). Die Frage nach einem Rechtsbegriff des „Defensivnotstands“ ist somit die Frage nach einer mit dem Personsein (bzw. mit den damit korrespondierenden rechtlichen Unter­ lassungspflichten anderer) konformen rechtlichen Raumnutzungsverteilung, die dann – also vermittelt über die Raumnutzungsaufteilungsregel – Zugrif­ fe auf angeborene Güter zulässt, ohne deren Zuordnung also schon unmit­ telbar zu bedingen auf die Bedürfnisse eines anderen. Wie dargestellt ist schon in Konstellationen eines seitens eines Notleiden­ den willentlichen (Aggressiv-)Notstandszugriffs auf den Boden eines anderen und eines zum Zwecke der Durchsetzung des Sachgebrauchs erfolgenden Aus-dem-Weg-Schiebens des An-sich-Gebrauchsbefugten zur rechtlichen Beurteilung zu entscheiden, ob vor dem Zugriff auf den Körper des anderen ein notstandsrechtlicher Bodenerwerb seitens des Notleidenden stattgefunden hat und ob der andere die physische Möglichkeit hatte, dem Notleidenden aus dem Weg zu weichen, sodass – so vermittelt – der Körperzugriff des Notleidenden (dann notwehrrechtlich) zulässig ist (etwa Wegschieben von Fußgänger bei Flucht vor dem verfolgenden Auftragsmörder; Zugriff auf die Bäuerin seitens des brennenden Landstreichers; ausführlich dazu B.V.2.c)). Anderenfalls, bei Fehlen der Noterwerbsvoraussetzungen, steht dem An-sich-Gebrauchsbefugten – der auch konkret der Gebrauchsbefugte bleibt – gegen den dann rechtswidrig angreifenden Notstandstäter das Not­ wehrrecht zu (siehe B.III.1.b) und B.V.2.c)). Defensivnotstandskonstellationen – sofern der Begriff ausschließlich in einem sachhaltigen Sinne genommen wird – sind nun solche, in welchen ein Notleidender auf angeborene Güter eines anderen einzuwirken droht, der dadurch dann ebenfalls in Gefahr gerät, ohne dass (einerseits) die Not­ erwerbsvoraussetzungen hinsichtlich des Bodens bzw. des Geschehensortes im Raum vorliegen, jedoch (andererseits) auch ohne dass diese Einwirkung auf rechtswidrigem Verhalten beruht695. 695  Es beruht in den in Betracht kommenden Konstellationen die Gefahr in der Regel deshalb nicht auf rechtswidrigem Verhalten, weil derjenige, der physisch auf einen anderen bei unverändertem Fortgang einwirken wird, vollkommen die Kont­ rolle bzw. gar das Bewusstsein verloren hat und sich deshalb aktuell gar nicht mehr willentlich-verhält (und, solange seine Äußerungen Verhaltensqualität hatten, es sich

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B. Auflösung der Aufgabe

Das Thema wird anschaulicher, wenn bestimmte Notstandsfälle zur Beur­ teilung gestellt werden, in denen stets die rechtliche Raumverteilungsrege­ lung bei konkret nur alternativ möglicher physischer Besetzung desselben Ortes im Raum (innerhalb derselben Zeit) bei bevorstehender dortiger Kollision mehrerer Körper in Frage steht. Übrigens: Weil es weder in den oben (unter a)) besprochenen Fällen einer Gefahrentstehung aus rechtswid­ rigem (Vor-)Verhalten, und wohl auch nicht im oft als Defensivnotstands­ beispiel herangezogenen Bergsteiger-Fall696 um eine drohende (und nicht auf rechtswidrigem Verhalten beruhende697) Kollision zweier Körper im Raum geht, handelt es sich dabei jedenfalls nicht um charakteristische Bei­ spiele für echte Defensiv-Notstandskonstellationen (zum Bergsteiger-Fall noch unten). Spezifische Defensivnotstands-Konstellationen liegen hingegen in den folgenden Fällen: 1. Spaziergänger-Fall: Eine auf einer Wiese spazierengehende Person (P) erleidet, ohne dass sich dies der Person zuvor erkennbar ankündigte, einen Schlaganfall, ver­ liert augenblicklich das Bewusstsein und fällt zur Seite. Dort liegt das Kleinkind K, das bei Aufprall des P erheblich verletzt oder gar getötet würde. Die Mutter des Kindes A (oder, ohne dass dies etwas änderte: eine unbekannte Passantin A) tritt gezielt mit dem beschuhten Fuß gegen den fallenden Körper des P, um diesen von dem Liegeplatz des Kindes abzu­ lenken. Dies gelingt; jedoch erleidet P durch den Tritt körperliche Verlet­ zungen, an denen er im Zusammenhang mit den Folgen des Schlaganfalles verstirbt. Ist der Tritt der A gegen P, welcher die Tatbestände der §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 222, ggf. 227 StGB verwirklicht, rechtlich-erlaubt (ge­ rechtfertigt)?

um rechtmäßiges Verhalten handelte). Köhler bezeichnet von einer Person ausgehen­ de, nicht unmittelbar auf einer konkreten Handlung beruhende Gefahren als das „Feld des defensiven Notstandes“ in „insofern eindeutiger Abgrenzung von der Notwehr“, in: FS-Schroeder, 264. 696  Zwei Bergsteiger haben sich zur Sicherung aneinander geseilt; einer stürzt ab, der andere schneidet das Seil entzwei, um nicht mit in die Tiefe gerissen zu werden. Der Fallende stirbt. Defensivnotstandsrechtfertigung bejahen hier etwa Pawlik, JZ 2004, 1048; Renzikowski, S.  266 ff.; Günther, in: SK, § 34, Rn. 20. 697  Sofern das Verhalten als rechtswidrig bestimmt ist, ist der die Grenzüber­ schreitung zurückdrängende physische Zugriff auf den rechtswidrigen Angreifer, soweit erforderlich, zugleich als möglich bestimmt (Einheit von Recht und Zwangs­ befugnis, d. i. Notwehrrecht, siehe A.II.3., B.II.3.).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen435

2. Kfz-Fall698: Die Autofahrerin P fährt innerorts mit 40 km / h achtsam eine Straße ent­ lang, als sie plötzlich (ohne vorherige Ankündigung) einen Schlaganfall erleidet und das Bewusstsein verliert. Ihr Fuß rutscht jedoch nicht vom Gaspedal; vielmehr wird dieses erst recht durch das darauf lastende Gewicht des Fußes durchgedrückt. Mit steigender Geschwindigkeit rast der Wagen auf einen belebten Spielplatz (oder: Marktplatz) zu. Niemand dort könnte den Pkw rechtzeitig erkennen, um alle Personen zu warnen, so dass bei unbeeinflusster Fortentwicklung jedenfalls einige Kinder (oder: Marktplatz­ besucher) schwerste Verletzungen oder den Tod fänden. Der Kranführer A, der die P zufällig im Moment des In-Ohnmacht-Fallens mit einem Fernglas beobachtet und die Situation erfasst hat, lässt geistesgegenwärtig eine schwere Betonplatte auf den unter seinem Kran vorbeirasenden Wagen der P fallen, um diesen kurz vor Eintreffen auf dem belebten Platz zu stoppen. Dabei kommt die P ums Leben. Dies hatte A als sichere Folge vorausgese­ hen. Ist der durch Fallenlassen der Betonplatte seitens A tatbestandlich ver­ wirklichte Totschlag (§ 212 Abs. 1 StGB) gerechtfertigt? 3. Abschuss von entführten Fluggästen und den Entführern durch Abschuss der gesamten Passagiermaschine Ein gegenüber der Beurteilung der Fälle 1. und 2. zusätzliches Rechtspro­ blem, das in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der inzwischen durch das BVerfG für verfassungswidrig und nichtig erklärten Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG699 kontrovers diskutiert wurde700, wird in folgendem Sachverhalt anschaulich: Die beiden Piloten eines mit 100 weiteren Men­ schen besetzten Passagierflugzeugs werden von 10 stark bewaffneten Flug­ gästen überwältigt, welche die Bedienung des Flugzeugs übernehmen. Das Ziel dieser Gruppe ist es, die Maschine in ein von vielen Menschen be­ wohntes und besuchtes Hochhaus inmitten einer Großstadt zu fliegen. Da­ durch fänden neben allen sich an Bord befindlichen Personen jedenfalls noch etliche weitere Personen am Boden den sicheren Tod (Evakuierungen sind wegen Unkenntnis des genauen Angriffsziels in der verbleibenden Zeitspanne unmöglich). Der sich auf einem privaten Testflug mit seinem extrem schnellen Privatjet befindliche Millionär A erlangt über den Funk­ verkehr Kenntnis von dieser Sachlage, wobei er auch erfährt, dass das 698  Fall

384.

bei Merkel, in: „Die Zeit“ vom 08.07.2004, S. 33 f.; derselbe, JZ 2007,

699  BVerfGE

115, 118 ff. Überblick des Diskussionsstandes bei Roxin, ZIS 6 / 2011,

700  Zusammenfassender

S.  552 ff.

436

B. Auflösung der Aufgabe

Vorhaben der Entführer – unabhängig davon, ob überhaupt ein Interven­ tionswille beim etwaig zuständigen Minister besteht – von staatlicher Seite nicht verhindert werden kann, weil jedenfalls kein staatlicher Jet schnell genug am potentiellen Einsatzort sein könnte. M, der verhindern will, dass die Stadtbewohner umkommen, bringt seinen Privatjet über dem letzten, noch unbewohnten Gebiet vor der nahen Stadt auf Kollisionskurs mit der Passagiermaschine und katapultiert sich mit dem Schleudersitz von Bord. Bei der Kollision kommen, wie von A als sicher vorausgesehen, alle an Bord befindlichen Personen ums Leben. Das Verhalten des A verwirklicht u. a. handlungseinheitlich-einhundert­ zweifach den Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB (§§ 315, 315a StGB seien hier außer Betracht gelassen). Ist es gerechtfertigt? Insoweit soll es im Fol­ genden nur noch um eine etwaige Rechtfertigung der Tötung der 92 Menschen (90 Passagiere und beide Piloten) gehen, die nicht an der Entführung beteiligt, sondern deren Opfer waren. Denn: Die Tötung der 10 Entführer ist (unproblematisch) als erforderliche Notwehrhilfe zugunsten der Stadtbewoh­ ner nach § 32 StGB gerechtfertigt. Die Zerstörung der im Eigentum der Flug­ gesellschaft stehenden Passagiermaschine (§§ 303 Abs. 1, 305 Abs. 1 StGB) ist notstandsrechtlich gerechtfertigt nach § 228 S. 1 BGB701. Nach dem dargelegten Rechtskonzept von vornherein verfehlt, weil letzt­ lich bloß utilitaristisch und damit die Ebene rechtlicher Argumentation im Sinne der Klärung von Zustehensfragen gar nicht erreichend, sind solche Annahmen, die eine Rechtfertigung bloß auf einen quantitativen Vergleich („Abwägung“) der getöteten mit den geretteten Personen stützen702. Eben­ falls in diese Richtung gehen Vorschläge, die eine Rechtfertigung deshalb annehmen wollen, weil die von der Notstandstat Betroffenen (im Fall 2. ggf. die Frau im Auto; im Fall 3. die an Bord der Maschine befindlichen Passagiere) sowieso verloren seien703: Aus der Feststellung (Prognose) einer 701  Die überwiegende Ansicht bejaht eine „durch die Sache“ drohende Gefahr im Sinne von § 228 S. 1 BGB zu Recht auch dann, wenn ein Angreifer diese als An­ griffsmittel benutzt; vgl. Fn. 479; auch Rogall, NStZ 2008, 2. Im Ergebnis ist das nicht erheblich, weil in Bezug auf die Zerstörung des fremden Flugzeugs hier jeden­ falls auch die Voraussetzungen des § 904 S. 1 BGB verwirklicht sind. 702  So jedoch etwa Isensee, FS-Jakobs, S. 229. Merkel weist deutlich auf den generellen Mangel der „geläufigen Verfassungsdogmatik“ hin, wonach bei allen „Abwägungen“ von Gütern und Interessen (die m. E. nicht selten einem gewünsch­ ten Ergebnis beliebig untergeschoben werden können, anstatt selbst das Erkenntnis­ verfahren zum konkreten Urteil darzustellen, G. H.) fundamentale Rechtsprinzipien durchaus übersehen werden können; dies war bezeichnend für mehrere Stellungnah­ men zum (damaligen) § 14 Abs. 3 LuftSiG von Seiten der öffentlich-rechtlichen Literatur; Nachweise bei Merkel, JZ 2007, 373. 703  So Sinn, NStZ 2004, 585 ff.; Otto, Pflichtenkollision, S. 82 ff.; Neumann, in: NK, § 34, Rn. 76 ff.; Erb, in: MK, § 34, Rn. 114–115.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen437

besonderen Kürze des verbleibenden Lebens eines anderen folgt für das Rechtsverhältnis gar nichts. Die Zuordnung der Körpermaterie zu dem da­ hinter zu denkenden Subjekt (die Person) ist an sich weder auf eine Ange­ wiesenheit eines anderen auf einen Zugriff, noch auf eine besondere Quali­ tätsfeststellung bedingt (vgl. Fn. 308). Sofern damit auf dunkle Weise der Sache nach die Rechtfertigungsgründe der Einwilligung oder der mutmaß­ lichen Einwilligung (ethisierend) erweitert werden sollen, so trägt der Ge­ danke nicht: Unabhängig davon, ob eine wirkliche Einwilligung eines etwa (unterstellt) unrettbar verlorenen Fluggasts (3. Fall) konkret wirksam wäre (vgl. dazu Fn. 312), dürfte sie in der konkreten Handlungssituation weder bei jedem Nicht-Entführer vorliegen, noch könnte sie eingeholt werden. Was eine mutmaßliche Einwilligung (etwa in den Fällen 1. und 2.) angeht, so setzte eine allgemeine bejahende Annahme einer solchen jedenfalls die Beantwortung der offenen rechtlichen Zustehensfrage voraus; in dem Sinne geht es also beim Defensivnotstand gerade um eine willensunabhängige Zwangs- bzw. Zugriffsbefugnis704. Verständlicher sind demnach zunächst Ansätze, die eine besondere Gefahrenzuständigkeit des von der Abwendungsmaßnahme Betroffenen (etwa des Spaziergängers im 1. Fall oder der bewusstlosen Frau im 2. Fall) in dessen „rechtlicher Organisationsfreiheit“ suchen: Obwohl das dem Kontrollverlust (Ohnmacht) unmittelbar vorangehende Verhalten rechtmäßig war, soll eine „Sonderzuständigkeit in Form einer erhöhten Pflicht zur Duldung fremder Maßnahmen zur Gefahrenabwehr“ daraus resultieren, dass der in Ohnmacht Fallende „seine Rechtssphäre anders hätte organisieren können, während den anderen von vornherein die Rechtsmacht dazu fehlte“, weswegen „bei normativer Betrachtung“ der von der Notstandstat Betroffene der Gefahr näher stehe705. Mit dieser Begründung gelangt etwa Pawlik zu einer Rechtfertigung der Taten in den Fällen (1.) und (2.), während er im Fall (3.) eine solche ver­ neint, weil der Beitrag der Nicht-Entführer (sonstigen Passagiere) „lediglich darin bestand, dass sie das Flugzeug bestiegen haben“, allerdings „dadurch … die Gefahr für die Opfer eines Absturzes … nicht in relevanter Weise erhöht“ haben706. Letzteres bestreitet unter anderem Gropp, der auch im Fall (3.) Rechtfertigung aufgrund defensiven Notstands bejaht: Gropp nimmt an, die „Gefahr, die sich aus der Entführung ergibt, ist die Aktualisierung genau jener, die potentiell entsteht, wenn die Masse eines Flugzeugs – kumulativ verursacht durch die buchenden Passagiere – durch die Luft bewegt wird. Köhler, FS-Schroeder, S. 259. Pawlik, Notstand, S. 323 ff.; ähnlich der Sache nach wohl Renzikowski,

704  Präzise 705  So

S. 180. 706  Pawlik, JZ 2004, 1049.

438

B. Auflösung der Aufgabe

Für diese potentielle Gefahr bleiben sie den Menschen am Boden gegenüber auch dann zuständig, wenn sie durch eine Entführung oder einen techni­ schen Defekt aktualisiert wird … Wer fliegt handelt insoweit auf eigene Gefahr, auch falls er entführt wird“707. Das Problem beider Argumentationen ist: Sowohl der Auffassung Paw­ liks, als auch der Gropps fehlt das eigentliche Sachkriterium der jeweiligen relativen Gefahrentstehungszurechnungen (Gefahrzuständigkeitsannahmen). Zunächst ist es verständlich, wenn Pawlik das Zurechnungsurteil von einem (willentlichen) Vorverhalten abhängig machen will. Da jedoch nach der Prämisse dieses Vorverhalten gerade rechtmäßig ist (ansonsten kommt die durch § 32 StGB wohl abschließend geregelte Rechtfertigung aus Unrechts­ verantwortung in Betracht, dazu oben a)), bringt einen die Feststellung, dass dieses auch hätte anders organisiert sein können, normativ eben – entgegen Pawlik – gar kein Stück weiter. Es kann nämlich gerade nicht festgestellt werden, dass das Verhalten auch anders hätte organisiert sein sollen. Selbstverständlich hätte auch der jeweils andere (die Mutter für ihr Kind im 1. Fall; die Besucher des Marktplatzes im 2. Fall; die Bewohner bzw. Be­ sucher der potentiellen Absturzstelle im 3. Fall) sein Handeln vor Gefah­ rentstehung anders organisieren können (ohne dass dies rechtlich geboten war). Sofern die an die vorherige „Organisationsmacht“ anknüpfende Argu­ mentation nicht ein schlichter Zirkelschluss sein soll708, muss sie – wohl entsprechend der Argumentation Gropps – dahingehend verstanden werden, dass das als Anknüpfungspunkt der Gefahrzurechnung genommene Verhal­ ten (obwohl rechtmäßig) stets ein für andere abstrakt besonders risikoreiches sein muss (Inanspruchnahme besonderen zulässigen Gefahrhandelns), sodass damit zugleich das Tragen aller Risiken – auch dasjenige der Ver­ nichtung bei Abschuss zur erforderlichen Abwendung von Gefahren für angeborene Güter anderer – übernommen wird. Zunächst scheint eine solche Annahme eine gewisse Plausibilität zu haben: Stellt man sich etwa eine Kommunikationssituation aller in einem Staat Lebenden (oder der zur Ge­ setzgebung befähigten, also wahlberechtigten Bürger) zur Bestimmung des erlaubten Risikos in Abgrenzung zu verbotenen Risiken unter dem allgemei­ nen Rechtsprinzip (Zusammenstimmung der jeweiligen Willkür mit jeder­ manns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz) vor, so lautete die 707  Gropp,

GA 2006, 288. behauptet, der von einer Defensivnotstandstat Betroffene überschreite, obwohl er nicht rechtswidrig gehandelt habe, „den seinem Herrschaftsbereich zuge­ ordneten Handlungsspielraum und drohe in die Sphäre des Notstandstäters hineinzu­ wirken“, Otte, Defensivnotstand, S. 161. Pawlik hält dies für eine „offenkundige petitio principii“, Pawlik, Notstand, S. 322. Jedoch gelingt es ihm selbst ebenso wenig, eine bloße Erbittung eines Prinzips bzw. legitimierenden Sachkriteriums zu vermeiden. 708  Otte



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen439

Antwort etwa auf die Frage nach der Zulässigkeit der Ausübung des Wil­ lens, mit Kraftfahrzeugen zu fahren oder gar mit Luftfahrzeugen zu fliegen: Es ist im Rahmen einer das allgemeine Verletzungsverbot konkretisierenden, öffentlichen Verkehrsordnung (allgemeinen Raumnutzungsordnung) legitim. Wenn in einer solchen (fiktiven) Gesprächssituation die Frage aufgeworfen wird, wie es denn mit konkret nicht beherrschbaren Risiken dieser gefahr­ trächtigen Verkehrsmittel aussehe (etwa Bremsdefekt am Kfz; Absturz eines Flugzeugs) und ob man nicht in Anbetracht solcher Möglichkeiten ganz auf die Inbetriebnahme dieser Verkehrsmittel verzichten müsse, dann kann die Antwort wohl lauten: Nein, sofern denn derjenige, der die (erlaubte) Sondergefahrtätigkeit jeweils ausübt (Kfz-Führer; Fluggast), dabei auch sol­ che – für ihn konkret nicht willentlich-vermeidbaren – Abwendungsrisiken übernimmt. Mit dieser Argumentation, die der Sache nach dem Gedankengang Gropps entsprechen dürfte, wird ggf. der schlichte Zirkelschluss zwar vermieden; das allgemeine Sachkriterium der Gefahrzurechnung bzw. Gefahrzuständig­ keitsannahme wird dabei jedoch bloß vermeintlich benannt: Denn letztlich wird hier wiederum der Sache nach eine antizipierte, unwiderrufliche Ein­ willigung jedes Kfz-Führers bzw. jedes Fluggasts in die – ggf. für ihn tödliche – Gefahrabwendungsmaßnahme behauptet. Eine solche Einwilli­ gung gab es als realen Akt jedoch nicht (§ 14 Abs. 3 LuftSiG wäre nach dieser Argumentation erst durch seine Existenz als geschriebenes Recht legitim gewesen, sofern denn jeder Fluggast vor Flugantritt von dessen Inhalt in Kenntnis gesetzt wird). Wenn man trotzdem meint, eine solche Zustim­ mung der von der Notstandstat Betroffenen (der bewusstlosen Frau im 2. Fall bzw. der nicht rechtswidrig handelnden Passagieren im 3. Fall) allgemein unterstellen zu können, dann verweist das gerade auf ein vorgelagertes Sachkriterium, das also nicht bloß die Zustimmung (willentliche Risikoübernahme) selbst ist709. Im Übrigen ergäbe sich hinsichtlich des körperverletzenden (ggf. tötenden) Trittes gegen den bewusstlosen Passan­ ten zur Rettung des Kleinkindes im 1. Fall nach dieser Argumentation keine Rechtfertigung, weil das Spazierengehen auf einer Wiese gerade keine In­ anspruchnahme oder Setzung erlaubter Sondergefahren ist: Denn man kann nicht die räumliche Nähe des einen zum anderen, welche ein real-verletz­ bares Rechtsverhältnis erst bestimmbar werden lässt („… sofern die Hand­ lungen als Fakta … aufeinander Einfluss haben können“, Kant, MdS, RL, § B), per se als Sondergefahrschaffung betrachten. Sofern also der Begriff des Defensivnotstands als Rechtsbegriff überhaupt sinnvoll möglich ist (im Gesamtsystem widerspruchslos und erkenntniser­ 709  Zur entsprechenden, allgemeinen Kritik an kontraktualistischen Begründungs­ modellen bzw. Argumentationen vgl. oben bei B.IV.2.b.bb).

440

B. Auflösung der Aufgabe

weiternd), gründet er weder auf Unrechtsverantwortung im Sinne einer rechtlichen Handlungsverantwortung (dazu oben a)) noch auf „Organisa­ tionsherrschaft“ betreffend erlaubtes (Vor-)Verhalten und auch nicht auf Einwilligung oder (antizipierter) Zustimmung in Gefahrabwendungsrisi­ ken710. Die entscheidungserhebliche Frage lautet richtig gestellt: Ist der rechtliche Zugriff auch auf angeborene Güter einer Person (sogar einschließlich deren Tötung) möglich, wenn er erforderlich ist (einziges Mittel ist), um eine anderen Person dagegen zu wahren, dass der Ort im Raum, auf welchem sich letztere rechtmäßig befindet (den sie zum aktuellen Gebrauch erworben hat und auch nicht durch notstandsrechtlichen Erwerb eines anderen konkret wieder verloren hat), von einem anderen Körper eingenommen (physisch besetzt) wird und dadurch der rechtliche Besitzer des – nicht kumulativ besetzbaren – Ortes in angeborenen Gütern erheblich verletzt würde? Wird die Frage so gestellt, dann wird deutlich, dass es um eine rechtliche Regel der Raumverteilung geht, die nach den genannten Kriterien des Not­ rechtserwerbs zu beantworten ist: Als nunmehr selbstverständlich vorausgesetzt ist, dass allen in der Gefah­ rensituation betroffenen Personen ihre zum „inneren Mein“ gehörenden, deshalb angeborenen Güter ohne externe Bedingungen (in dem Sinne unbe­ dingt) zugeordnet sind. Erworben haben sie ebenfalls den derzeitigen Besitz des jeweiligen Bodens bzw. Ortes im Raum, den sie mit ihrem jeweiligen Körper aktuell einnehmen (konform mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz, also ohne in den demnach einem anderen zugeordneten Bereich äußerlich eingedrungen zu sein und somit Unrecht getan zu haben; vgl. A.II.3. und 4.; positivrechtlich: rechtmäßiger Besitz des konkreten Aufenthaltsortes). Defensivnotstands-Konstellationen sind solche, in denen eine Person durch Besetzung ihres Aufenthaltsortes im Raum in angeborenen Gütern verletzt zu werden droht, wobei der Aufenthaltsort gerade nicht seitens ei­ ner anderen Person notstandsrechtlich (zur konkret bevorstehenden Besetzung) erworben wurde: So hatte das auf der Wiese liegende Kind (1. Fall), so hatten die Besucher des Spiel- bzw. Marktplatzes (2. Fall) und so hatten die Bewohner bzw. Besucher der bevorstehenden Absturzstelle (3. Fall) rechtmäßigen Besitz an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort. Ein Körperzugriff 710  Dies arbeitet Köhler präzise heraus, in: FS-Schroeder, S. 257 ff.; insoweit zu­ stimmend (nämlich eine Bestimmung einer Defensivnotstandslage bloß durch voran­ gegangenes Gefahrhandeln ablehnend) auch Merkel, JZ 2007, 384; Rogall, NStZ 2008, 3.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen441

seitens eines anderen wäre nur dann legitim möglich, wenn dieser zuvor notstandsrechtlich diesen Aufenthaltsort in dem zur Gefahrabwendung er­ forderlichen Umfang zum Gebrauch erworben hätte und die an sich (zuvor ausschließlich) Gebrauchsbefugten den Notstandszugriff nicht zuließen (sie­ he oben B.V.2.c)). Diese Voraussetzungen sind in den DefensivnotstandsKonstellationen jedoch nicht gegeben: Zwar befinden sich auch die von der Abwendungshandlung (Defensivnot­ standstat) Betroffenen in einer ihr Dasein gefährdenden Notlage (Schlagan­ fall; Entführung etc.), sodass die erste Bedingung eines Noterwerbs vorliegt. Allerdings fehlt in der Regel schon die zweite oder dritte Noterwerbsbe­ dingung, nämlich eine Erforderlichkeit des Zugriff auf die Sache zur eigenen Notabwendung und ein diesbezüglicher (mutmaßlicher) Zugriffswille sowie die Erkennbarkeit dieser Umstände für die jeweils anderen (so bedürfen etwa die Passagiere im 3. Fall nicht der Absturzstelle für ihr Überleben; anders ggf. hinsichtlich der Frau im Auto in 2. Fall, sofern diese bei Wei­ terfahrt auf den Spielplatz überleben könnte). Jedenfalls aber fehlt es stets an der vierten Voraussetzung, nämlich der Nichtangewiesenheit des Vorerwerbers bzw. des An-sich-Gebrauchsbefugten auf die Sache: Zwar bedürfen diese der Sachnutzung (Nutzung des jeweili­ gen Bodens bzw. Raums, welchen ihre Körper einnimmt) nicht unmittelbar, um mittels der Sache eine Gefahr für angeborene Güter abzuwenden. Jedoch bedürfen sie deshalb eines – im Verhältnis zu den von der Notstandstat betroffenen anderen – ausschließlichen Gebrauchs ihrer Sache, weil sich die drohende Besetzung nicht mit der Wahrung eigener, angeborener Güter vereinbaren lässt. Weder das Kind K (1. Fall), noch die Besucher des Spiel­ platzes (bzw. Marktplatzes, 2. Fall) oder die Besucher des bevorstehenden Absturzortes des Flugzeugs (3. Fall) sind in der Lage, den jeweiligen Ort der drohenden Kollision rechtzeitig zu verlassen. Weil sie Gebrauchsbefugte des jeweiligen Kollisionsortes sind und der von der Gefahrabwendungs­ handlung Betroffene keine notstandsrechtliche Gebrauchsbefugnis (Beset­ zungsbefugnis) daran erwirbt, ist letzterer – relativ zu ersteren – als Gefah­ rensetzer zu beurteilen, ohne dass dies auf Unrechtsverantwortung in einem sachhaltigen Sinne beruht711. 711  Ggf. hat Michael Köhler diesen Gedanken in seiner Auseinandersetzung mit der Frage der Zulässigkeit des Abschusses entführter Passagiere in einem Flugzeug der Sache nach schon im Jahre 2006 dargestellt – wenn auch mit anderen Worten und entwickelnd von der Seite des von der Notstandstat Betroffenen, etwa des ent­ führten Flugpassagiers; vgl. Köhler, FS-Schroeder, S. 557 ff. Den Inhalt dieses Tex­ tes habe ich in persönlichen Gesprächen mit Köhler schon vor Publikation sowohl in der Begründung als auch in seinen Ergebnissen kritisiert. Diese Kritik mag auf einem Missverständnis meinerseits beruht haben. Sicher bin ich mir jedoch nicht, ob das hier vorgestellte Kriterium des – erworbenen und nicht verlorenen – rechtlichen

442

B. Auflösung der Aufgabe

Insofern – und das ist das eigentliche Sachkriterium der relativen Gefahr­ zurechnung (sofern ein Rechtsbegriff des „Defensivnotstands“ überhaupt sinnvoll möglich sein soll) – stellt der fallende Mann P (1. Fall) deshalb eine Gefahr für das Kind K dar, weil sein Körper auf ausschließlich einem anderen (nämlich dem Kind) zugeordneten Boden zu fallen droht, von wel­ chem das Kind (auch mit Hilfe von dazu bereiten Dritten) nicht rechtzeitig weichen kann. Ebenso stellt die Frau (2. Fall) deshalb eine Gefahr für die Marktbesucher dar, weil der sie transportierende Körper (ihr Auto) diejenigen Plätze (Orte im Raum) unausweichlich und mit der Folge der Verletzung angeborener Güter einzunehmen droht, die rechtlich noch immer ausschließlich anderen Personen zugeordnet sind. Sowohl die durch den Tritt verwirklichte gefährliche Körperverletzung (ggf. mit Todesfolge) im 1. Fall, als auch der durch das Fallenlassen der Betonplatte verwirklichte Totschlag zum Nachteil der Frau im 2. Fall sind aufgrund defensiven Notstands gerechtfertigt. Von untergeordneter (bloß dogmatischer) Bedeutung ist, ob diese Rechtfertigungsannahme im deut­ schen Recht eine dogmatische Umsetzung über eine Analogie zu § 228 BGB712 oder durch Integration in die Auslegung des – dem Wortlaut nach Boden- bzw. Raumbesitzes, welches den drohenden Zweitbesetzer zum rechtlichen Gefahrabwendungsträger werden lässt, dasselbe meint, wie Köhlers „im Einzelfall objektiv angemesseneres Urteil“, nämlich eine Abwehrbefugnis infolge „objektiver Unrechtszurechnung“ (ebenda, S. 263) wegen einer Auswirkung der „Eigengesetz­ lichkeit der Sache bzw. des Leibes“ (S. 264, 265) bzw. des „allem berechtigten Freiheitsdasein von Personen“ immanenten Moments „des Umschlagens in den Übergriff“ (S. 267). Zustimmen muss ich Köhler mittlerweile darin, dass „der objek­ tiven Abwendungsmöglichkeit im Rechtsverhältnis ein objektives Zurechnungsurteil je nach der Entwicklung der Gefahrenzustände“ korrespondieren kann (S. 265). Nur setzt ein solches in den gemeinten Konstellationen eine rechtliche Raumverteilung (relativ, nämlich im Verhältnis der Gefährdeten und in Bezug auf den Kollisionsort) voraus, durch welche erst der eine als Gefahrsetzer für den anderen beurteilt werden kann (auf welche Köhler nicht eingeht). 712  In Abgrenzung gerade zu der kritisierten Annahme, eine auf rechtswidrigem Verhalten beruhende Gefahrenlage sei eine gegenüber der Notwehrlage eigenständi­ ge Rechtfertigungslage („Defensivnotstandslage“) in Analogie zu § 228 BGB (oben a) und Fn. 633), erscheint in der hier als wirklich-defensivnotstandsrechtlich entwi­ ckelten Konstellation eine Analogie zu § 228 BGB möglich: Es geht hier gerade nicht (wie auch bei § 228 BGB nicht) um Rechtfertigung aus Unrechtsverantwor­ tung; vielmehr befindet sich eine gefahrträchtige Sache bei Umschlagen in eine konkrete Bedrohung gar nicht in der ausschließlichen Sondergebrauchsbefugnis des Eigentümers (§ 228 BGB). Entsprechend mag man die Begrenzung einer Gebrauchs­ befugnis des einen durch einen zurückstoßenden (abwehrenden) Gebrauch des ande­ ren annehmen hinsichtlich des Körpers einer Person, sofern dieser unausweichlich mit demjenigen des anderen auf einem ausschließlich diesem zugeordneten Boden bzw. Raum zu kollidieren droht.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen443

hochgradig unbestimmten, annähernd jede Interpretation zulassenden – § 34 StGB findet. Eine weitere, demnach noch nicht notwendig mitbeantwortete Frage ist, ob diese relative Gefahrzurechnung ggf. dadurch unterbrochen wird, dass Dritte die Gefahr vorsätzlich – nämlich als ihrerseits rechtswidrigen Verlet­ zungsversuch – setzen. Hier steht etwa die Rechtmäßigkeit des Abschusses des Passagierflugzeugs im 3. Fall in Frage. Einige bejahen Rechtfertigung: „Die der Person … zur Last fallende Gefahr ihrer eigenen personalen Freiheitssphäre, immanent zufällig auch verletzend für andere zu wirken, umschließt auch den einbeziehenden Gebrauch / Missbrauch durch das Han­ deln eines anderen“ (Köhler)713. Rogall will die im Anschluss an Köhler bejahte „Zustandsverantwortlichkeit“ von Personen, „die das Urteil erlaubt, dass die Gefahr aus einer Sphäre stammt, an der sie in ihrem Sosein Anteil haben“ dadurch stützen, dass „die Passagiere für rechtlich verpflichtet zu erachten sind, die Terroristen anzugreifen und die Gefahr zu beseitigen, wenn sie es denn können“714. Andere verneinen dies, weil die durch die Entführer vorsätzlich geschaf­ fene Gefahr den Passagieren nicht „als Ausdruck ihrer Organisationsfreiheit“ zuzurechnen ist (Pawlik715, Jakobs716) bzw. weil ihre „Auswirkungen nicht als Gefahrerhöhungen fassbar“ seien (Merkel717, Roxin718). Das BVerfG hat, wie Merkel zu Recht kritisiert („Gelegenheit versäumt, für eine Grundfrage von Recht, Staat und Individuum das tragfähige verfas­ sungsrechtliche Fundament zu klären und zu sichern“), zwar eine „Verding­ lichung“ der entführten Passagiere für in jeder Hinsicht verfassungsrechtlich unzulässig gehalten, den Sachgedanken des Defensivnotstands jedoch nicht herausgearbeitet719. 713  Köhler,

FS-Schroeder, S. 268. NStZ 2008, 3. 715  Pawlik, JZ 2004, 1049. 716  Jakobs, AT, 13 / 47. 717  Merkel, JZ 2007, 384, dort auch Fn. 71. 718  Roxin, ZIS 6 / 2011, 559 m. w. N. zu den jeweiligen Positionen. 719  Das BVerfG führt aus, die entführten Passagiere würden „… dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukomme“, BVerfGE 115, 124. Merkel meint, bei wohlwollender Auslegung könne man darin eine knappe Stellungnahme zu dieser Rechtsfrage sehen, welche dann allerdings viel zu pauschal ausfalle, Merkel, JZ 2007, 382 (obiges Zitat findet sich ebenda, S. 385). 714  Rogall,

444

B. Auflösung der Aufgabe

Da in diesem Kapitel bloß gezeigt werden sollte, dass nach der von mir auf Grundlage der Arbeiten Kants entwickelten Rechts- und Notrechtskonstruktion verbindliche Aussagen auch zur Möglichkeit und zum etwaigen Inhalt eines Rechtsbegriffs des Defensivnotstands zu gewinnen sind, be­ schränke ich mich auf einige Anmerkungen, die sich unmittelbar aus den entwickelten und dargelegten Begriffen ergeben. Erstens: Eine Hilfspflicht der entführten Passagiere als Rechtspflicht ge­ genüber den Bodenbewohnern / -besuchern besteht – entgegen Rogall – nicht. Insofern sei auf die obigen Ausführungen zur Unmöglichkeit einer ur­ sprünglichen Zuordnung oder eines ursprünglichen Erwerbs der Willkür eines anderen (B.III. und B.IV.2.b)cc)) und der daraus abgeleiteten Kritik auch der Strafnorm des § 323c StGB verwiesen (vgl. auch Fn. 423 und Fn. 565). Es besteht ein Unterschied etwa zwischen einem Hundehalter, den eine rechtliche Verkehrssicherungspflicht des Inhaltes trifft, ein Umschlagen der abstrakten Sachgefährlichkeit (Naturgefahr) in eine konkrete Gefahr oder Verletzung eines anderen aktiv zu vermeiden bzw. zu beenden (sofern er den öffentlichen Raum betritt bzw. sein Privatgrundstück anderen zum Zutritt öffnet) und einem Fluggast, der rechtlich keineswegs zur Sicherung des Luftraums oder der Personen am Boden gegen Flug- bzw. Tötungsge­ fahren verpflichtet ist. Zweitens: Nach dem dargelegten Sachkriterium, der rechtlichen Raum­ (besitz)verteilungsregel, durch welches eine (relative) Zuständigkeit derjeni­ gen Personen für das Tragens der Gefahrabwendungsfolgen begründet wird, die auf einen schon mit einer Person (die nicht ausweichen kann) besetzten Ort zu fallen drohen, dürfte – im Ergebnis mit Köhler und Rogall – selbst eine zur Gefahrabwendung für angeborene Güter der am Boden befind­ lichen Menschen erforderliche Tötung von entführten Passagieren rechtlich möglich sein. Es handelt sich dabei insofern nicht um eine bloße „Verding­ lichung“, als eben die Zuständigkeit für das Tragen der Gefahrabwendungs­ folgen aus einer allgemeingültigen – und wohl als solcher kaum bestreit­ baren – Raum(besitz)verteilungsregel resultiert, aus der dann das allgemeine Defensivnotstands-Rechtgesetz folgt. Eine Zurechnungsunterbrechung we­ gen der Entführung stellt das Kriterium deshalb nicht vor, weil es nicht auf Handlungsverantwortung beruht (auch etwa im Verhältnis zu einem seitens eines Dritten von einem Haus herabgestoßenen Menschen besteht für den unten stehenden, zum Ausweichen unfähigen anderen eine Defensivnot­ standslage). Auch eine „messbare Gefahrerhöhung“ durch das Vorverhalten (etwa Merkel, Roxin) ist demnach keine notwendige Voraussetzung einer Defensivnotstandslage; im Übrigen ist auch nicht klar, was das in Konstel­ lationen, in denen keinerlei rechtswidriges Vorverhalten feststellbar ist, ge­ nau bedeuten soll.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen445

Gerechtfertigt wäre der Abschuss der Passagiermaschine auch dann, wenn diese nach dem Willen der Entführer – lebensfremd, aber hypothetisch an­ genommen – auf ein unbemannt betriebenes Kernkraftwerk gelenkt werden soll: Da die Besetzung dieses Ortes im Raum durch das Flugzeug die Un­ bewohnbarkeit ganzer Regionen zur unmittelbaren Folge hätte, ist der Fall so zu beurteilen, als würde das abstürzende Flugzeug eben sämtliche von der Kraftwerksexplosion betroffene Regionen einnehmen und zum Leben ungeeignet machen. Anders als Köhler erscheint es mir jedoch mindestens überflüssig, diese personale Zuständigkeit der von der Defensivnotstandstat Betroffenen für das Tragen (ggf. Dulden) der Abwendungshandlung als „objektive Un­ rechtszurechnung“ zu bezeichnen (vgl. Fn. 711). Im Übrigen müssen nach dem von mir dargelegten Kriterium die sehr weitreichend scheinenden – ggf. so nicht gemeinten – Ausführungen Köhlers zum Einbezug eines „Missbrauchs“ einer Person durch eine andere eingeschränkt werden. Man nehme etwa den Fall eines Missbrauchs einer Person als lebendiges „Schutzschild“: A legt B von hinten ein Messer an die Kehle und droht ihm, für den Fall des Widerstandes mit dem Durchschneiden derselben. Sodann geht A dazu über, mit seiner noch freien Hand Schüsse auf den C abzugeben. C kann sich nur gegen A verteidigen, wenn er ebenfalls durch Abgabe von Schüssen auf B und A eben zugleich auch B schwer verletzt oder tötet. Ist eine solche Tat – sei es tatbestandlich eine gefährliche Körperverlet­ zung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB oder ein Totschlag nach § 212 Abs. 1 StGB – zulässig oder unzulässig? C befindet sich im Verhältnis zu A in einer Notwehrlage, insoweit ist die Tat nach § 32 StGB gerechtfertigt. Was jedoch gilt im Verhältnis zum „Schutzschild“ B? Während die über­ wiegende Ansicht hier weder eine Notwehr- noch eine Defensivnotstandsla­ ge bejaht, nahm Spendel als wohl einziger in jüngerer Zeit an, auch ein lebendiges „Schutzschild“ werde so in den Angriff „verstrickt“ und „auf die Seite des Unrechts gezogen“, dass auch gegen dieses Notwehr zulässig sei720. Es ist nicht klar, ob nach der von Köhler dargelegten Auffassung (zwar keine Notwehr-, aber ggf.) Defensivnotstandsrechtfertigung anzunehmen wäre. Nach dem hier herausgestellten Sachkriterium jedenfalls ist dieser Fall eindeutig zu beurteilen, nämlich: Anders als in Fällen, in denen ein (mensch­ licher oder mit Menschen besetzter) Körper einen seitens einer anderen 720  Spendel,

in: LK (Band 2, 11. Auflage, 2003), § 32, Rn. 210–216.

446

B. Auflösung der Aufgabe

Person rechtlich-besessenen Ort im Raum mit der Folge einer schweren Verletzung (ggf. Tötung) einzunehmen droht, stand im Schutzschild-Fall der Ort im Raum, an welchem sich das „Schutzschild“ B befindet, weder vorher dem notleidenden C, noch steht ihm dieser Ort aufgrund notstandsrechtli­ chen Erwerbs gegenwärtig zu. Der Standort des C, an welchem ihn die Kugeln des A träfen, droht nicht durch B besetzt zu werden. Insofern befin­ det sich C im Verhältnis zu B nicht in einer Defensivnotstandslage. Jede körperliche Verletzung des B seitens C ist rechtswidrig (die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands nach § 35 StGB liegen hingegen vor). Drittens: Wenn der erforderliche Abschuss einer gekaperten Passagierma­ schine auch im Verhältnis zu den entführten Passagieren nach dem hier dargelegten Begriff defensivnotstandsrechtlich zulässig ist – ein Ergebnis, das viele für das unmittelbar-interpersonale Bürgerverhältnis auch noch nach der den § 14 Abs. 3 LuftSiG für nichtig erklärenden Entscheidung des BVerfG teilen – so sind etwaige personale „Kollateralschäden“, also etwa Verletzungen von am Boden befindlichen Personen durch herabfallende Flugzeugteile, keinesfalls gerechtfertigt. Ein Abschuss über einem bewohn­ ten Gebiet kommt also rechtlich nicht in Betracht. Zuletzt soll der dargestellte Defensivnotstandsbegriff auf den bekannten Bergsteiger-Fall (vgl. Fn. 696) bezogen werden. Dieser Fall wird oftmals quasi als Paradebeispiel einer Defensivnotstandskonstellation herangezogen. Nach dem von mir dargelegten Kriterium muss das bezweifelt werden: Der herabstürzende Bergsteiger okkupiert keinen Platz (Ort im Raum), welchen der andere zuvor zu seiner Anwesenheit erworben hatte. Vielmehr entsteht die Gefahr für den oberen Bergsteiger nur deshalb, weil beide sich zuvor willentlich zur Sicherung (von sich selbst und dem jeweils anderen) physisch (durch das Seil) miteinander verbunden haben. Insofern lässt allein die Feststellung, dass ein abgerutschter Bergsteiger unten hängt und den anderen ohne Kappen des Verbindungsseils passiv-mitreißen wird, weil dieser nicht in der Lage ist, ihn – wie an sich geplant – zu sichern, noch gar keine rechtliche Bewertung dieser Situation bzw. eines etwaigen Durch­ schneidens des Seils durch den oberen Bergsteiger mit tödlicher Folge für den unteren zu. Bevor es überhaupt um eine Defensivnotstandsfrage im eigentlichen Sinne gehen kann, ist auszuschließen, dass sowohl das Abrut­ schen des einen, als auch die aktuelle Unfähigkeit des anderen, diesen nach oben zu ziehen, nicht auf (vorangegangenem) fahrlässigem Verhalten beru­ hen (ansonsten wäre Rechtfertigung in Bezug auf das tötende Durchschnei­ den des Sicherungsseils unproblematischer möglich bzw. – bei fahrlässigem Unterlassen der versprochenen Sicherung durch den oberen – ausgeschlos­ sen). Sofern bei keinem Bergsteiger fahrlässiges (Vor-)Verhalten gegeben ist (etwa bei einem für beide unvorhersehbaren Steinabbruch oder einem Ma­



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen447

terialfehler der Kletterausrüstung), stellt sich die Frage, wie sich die einge­ tretene Situation zu der vorab getroffenen Vereinbarung der Bergsteiger für Sicherungsfälle verhält. Sicher wird man bei Auslegung der Sicherungsver­ einbarung der Seilpartner annehmen müssen, dass aktive Sicherungsleistun­ gen nur im Rahmen des jeweils physisch möglichen geschuldet sein sollen und können. Insofern ist der obere Bergsteiger nicht verpflichtet, trotz zweifelsfreier Kenntnis seiner konkreten Unfähigkeit permanent zu versu­ chen, den anderen nach oben zu ziehen. Durch ein aktives Abschneiden des Seils, welches den Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB verwirklicht, wird demgegenüber jedoch ein beidseitig in gleichem Maße willentlich eingegangenes Risiko ohne ein vorausgesetz­ tes rechtliches Kriterium bloß aufgrund Bedürftigkeit des oberen zu Lasten des unteren Bergsteigers verteilt721. Das ist rechtswidrig. Die Tat ist nach § 35 StGB entschuldigt. Dass ein Dritter demnach den oberen Bergsteiger als Notwehrhilfeakt zugunsten des unteren am Durchtrennen des Seils hin­ dern darf (sofern er dadurch nicht selbst das Abstürzen des unteren bewirkt), ist kein Gegenargument, sondern die rechtliche Konsequenz aus dessen Unrechtsbegehung. 4. Anmerkung zum Nötigungsnotstand In Frage steht nun abschließend noch, ob der dargelegte allgemeine Not­ standsrechtsbegriff ggf. weiter verengt werden muss, indem solche Notlagen (gegenwärtige Gefahren), die nicht aus bloßem Naturzufall herrühren, son­ dern auf rechtswidriger Nötigung und somit auf dem Unrechtswillen eines Dritten beruhen, ausgenommen werden. Generell ist die rechtliche Behandlung des Nötigungsnotstands umstritten: Während die in der Literatur wohl überwiegend vertretene Ansicht auf Nötigungsnotstand reagierende Taten im selben Umfang für gerechtfertigt 721  Die Unfähigkeit des einen Bergsteigers, der Gravitation entgegen zu wirken, ist nach der beiderseitigen Abrede und willentlichen physischen Verbindung gerade derjenige Umstand, der für den anderen die Notwendigkeit auslöst, ihr in einem dem Gewicht des unteren entsprechend größerem Maße entgegen zu wirken. Sollte für den Fall der Unmöglichkeit eines (weiteren) Haltens des Unteren vorher keine Ver­ einbarung getroffen worden sein (so sei der Fall hier verstanden), dann dürfte auch eine ergänzende Vertragsauslegung dahingehend, dass im Falle des Eintritts eines solchen drohenden Untergangs beider der eine den andere abschneiden dürfe, nicht möglich sein. Eine solche (antizipierte, unwiderrufliche) Einwilligungsfiktion wäre nämlich eine bloße petitio principii. Etwas anderes wäre es hingegen, wenn der untere Bergsteiger in der aktuellen Gefahrenlage tatsächlich ein Durchschneiden des Seils und damit zugleich sein Getötetwerden verlangt: Eine solche (implizierte) wirkliche Einwilligung ist wirksam (vgl. Fn. 312).

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B. Auflösung der Aufgabe

hält wie solche, die bloß-naturbedingten Notstand abwenden sollen722, ver­ neint die Gegenauffassung diesbezüglich die Möglichkeit einer Rechtferti­ gung723. Der Nötigungsnotstand enthält insofern eine rechtliche Differenz, als je­ denfalls das Verhalten des Nötigers – welcher in den in Frage stehenden Kon­ stellationen stets als mittelbarer Täter, handelnd „durch“ den Genötigten (§ 25 Abs. 1 Var. 2 StGB) zu betrachten sein muss724 – Unrecht verwirklicht. Damit hängt zusammen, dass der Umfang des Notstandszugriffs seitens des Genötigten, dessen Rechtswidrigkeit in Frage steht, zwar von vornherein ebenfalls auf das zur Gefahrabwendung erforderliche Maß beschränkt ist, die Abwendungsmaßnahmen jedoch nicht durch ein für den Betroffenen zufälli­ ges Naturereignis situationsbedingt vorgegeben sein müssen, sondern nach dem Willen des Nötigers (theoretisch beliebig) gesetzt werden können, weil dieser durch seine Drohungen oder Gewalttätigkeiten die Gefahrenlage be­ stimmt. Kelker beschreibt diesen Umstand als Fehlen eines „inneren Ret­ tungszusammenhangs“ zwischen Gefahr und Abwendung725. Sind dies hinreichende Umstände, um eine notstandsrechtliche Differenz zu begründen? Betroffen ist dabei zum einen hinsichtlich des Genötigten die „innere Rechtspflicht“, nämlich die Notwendigkeit der Wahrung des Selbststandes im äußeren Verhältnis zu anderen. Dies ist eine spezielle (vollkommene) ethische Pflicht des Genötigten (differenziert von der unter dem Zweck der Selbstentwicklung der Person einzuordnenden ethischen Pflicht, eine bloße Naturgefahr zu überwinden, vgl. Fn. 315), die intrapersonal (für diesen) von Bedeutung ist. Für das Rechtsverhältnis zu weiteren Personen, nämlich den von der Notstandstat Betroffenen (Dritten), folgt daraus jedenfalls unmittelbar gar nichts. Hinsichtlich dieses interpersonalen Verhältnisses erscheint es mir – inso­ weit mit der überwiegenden Ansicht und wie in vereinzelten Fallbeurteilun­ 722  Etwa Küper, Nötigungsnotstand, S.  67 ff. m. w. N.; Freund, AT, § 4, Rn. 50 ff., der jedoch inkonsequenter Weise annimmt, der von der Notstandstat Betroffene habe trotz Rechtmäßigkeit des Handelns des Genötigten gegen diesen ein Defensivnot­ standsrecht. 723  Etwa Kelker, Nötigungsnotstand, S. 153 ff.; wohl auch KG Berlin, JZ 1997, 629. 724  Das gilt unabhängig davon, ob das Werkzeug gerechtfertigt handelt (was in Frage steht) oder nach § 35 StGB entschuldigt ist. Nicht-qualifizierte Nötigungen, die keinerlei rechtlich-greifbaren Verantwortungsmangel beim Vordermann (Tatmitt­ ler) begründen, können hier von vornherein außer Betracht bleiben, weil dann nicht einmal ein Notstand im eigentlichen Sinne vorliegt; das Verhalten des dann bloß durch Nötigung angestifteten Vordermannes ist unproblematisch rechtswidrig. 725  Kelker, Nötigungsnotstand, S. 156 ff.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen449

gen im Rahmen dieser Arbeit schon vorweggenommen – nicht richtig, Nötigungsnotstandstaten ganz generell für rechtswidrig zu halten: Für den Notleidenden (Genötigten) sind sowohl Naturgefahren, als auch durch rechtswidriges Handeln anderer gesetzte Gefahren externe Ereignisse. Selbstverständlich macht es insgesamt einen gewichtigen Unterschied, ob sich zum Nachteil sowohl des Genötigten, als auch des von der Notstands­ tat Betroffenen Unrechtverwirklichung – jedenfalls begangen seitens des Hintermannes – im Vollzug befindet, oder ob die auflösenden Bedingungen der Ausschließlichkeit einer bestimmten Sachzuordnung bloß naturhaft ein­ treten. Jedoch ist es gerade die Frage, ob es auch aus der Perspektive des von der Notstandstat Betroffenen im Verhältnis zum Genötigten (dem not­ leidenden Notstandstäter) einen rechtlich-relevanten Unterschied macht, woher die nicht anders abwendbare Gefahr für diesen rührt. Insofern füh­ ren, wie Küper zutreffend feststellt, „stereotype Hinweise“, der Genötigte trete „auf die Seite des Unrechts“ und fungiere als „verlängerte Arm“ des Rechtsbrechers, zunächst über „schlichte, mehr oder weniger anschauliche Problembeschreibungen nicht hinaus“726. Festzuhalten ist zunächst: Nach dem hier entwickelten Grundbegriff ist (auf der „Erhaltungsseite“) eine Gefahr der nicht unerheblichen Verletzung angeborener Güter voraus­ gesetzt, auf der „Eingriffsseite“ kommen notstandsrechtlich von vornherein sowieso nur Zugriffe auf erworbene Güter, nicht also auf den Körper einer anderen Person und auch nicht auf deren Willkür zu einer aktiven Handlung in Betracht (notbedingt begangene Körperverletzungen sind ebenso rechts­ widrig wie Nötigungen, siehe B.III.1.). Das entschärft jedenfalls die mögli­ chen Zumutungen, denen ein von ein Notstandstat Betroffener notstands­ rechtlich überhaupt ausgesetzt sein kann. Insofern besteht – entgegen etwa der Argumentation Kelkers727 – nicht die Möglichkeit, dass bei Einbezug auch von Nötigungsnotständen in den Notstandsrechtsbegriff „fast jede be­ liebige Tat“ als gerechtfertigt zu beurteilen und deshalb seitens des Betrof­ fenen hinzunehmen sein kann. Die notstandsrechtliche Möglichkeit eines Notleidenden (hier: des Genötigten), auf erworbene (Sach-)Güter anderer zuzugreifen, ist zudem durch die Erforderlichkeit dessen zur Gefahrabwen­ dung begrenzt. Und Erforderlichkeit kann nur gegeben sein, wenn sowohl 726  Küper,

Nötigungsnotstand, S. 59. Nötigungsnotstand, S. 158. Kelkers (ebenda, S. 142 ff.) Nebeneinan­ derstellung und „Abwägung“ von verschiedenen „kollidierenden Prinzipien“ (Soli­ darität, Rechtsbewährung, Autonomie) ist nach der hier vorgestellten Rechtskonzep­ tion verfehlt. Es kann sich bei Kelkers Ausführungen schon deshalb nicht um eine (folgerichtige) Ausarbeitung der kantischen Konzeption handeln, weil demnach „kollidierende Prinzipien“, mit denen Kelker hantiert (S. 148 f.), ein Ding der Un­ möglichkeit sind. 727  Kelker,

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B. Auflösung der Aufgabe

alle denkbaren Weisen der Gefahrabwendung durch ein Vorgehen gegen den Angreifer (gerade auch mit staatlicher Hilfe) als auch alle Möglichkeiten der Gefahrabwendung mit eigenen Mitteln (zu denen etwa auch die Flucht gehört) untauglich erscheinen. Zudem muss, entsprechend der Annahme des Bundesgerichtshofs zur auch-normativen Engfassung der (objektiven) Erforderlichkeit von einschneidenden privaten Gefahrabwendungsmaßnahmen gegen einen Nötiger („Haustyrannenfall“, siehe oben 3.a)bb), dort (1)) an­ genommen werden, dass im eingerichteten Rechtsstaat, der spezialisierte Gefahrenabwehrinstitutionen vorhält, in aller Regel eine jedenfalls länger andauernde Nötigungssituation durch staatliche (Notwehr-)Hilfe beim Vorgehen gegen den Nötiger abwendbar ist. Wenn also jemand für den Fall mit dem Tode bedroht wird, dass er fortlaufend Einbruchsdiebstähle begehe und die Beute dem Drohenden abliefere, dann wären solche Diebstahlstaten – unabhängig davon, ob es noch einen anderen Grund ihrer Rechtswidrigkeit bzw. Ausnahme vom Notstandsrecht gibt – jedenfalls mangels auch norma­ tiv bestimmter Erforderlichkeit der Taten rechtswidrig: Der Bedrohte muss sich ggf. mit staatlicher Hilfe gegen den Nötiger wenden. Diejenige Auffassung, nach der Nötigungsnotstandstaten generell als rechtswidrig zu qualifizieren sind, überzeugt so uneingeschränkt jedenfalls nicht. Zum einen kann es durchaus grenzwertig zu bestimmen sein, ob ein in Form eines qualifizierten Gewalt- oder Drohungsdrucks ausgeübter Un­ rechtswille der Anlass ist, welcher den Gefahrbetroffenen zu einem zur Abwendung erforderlichen Zugriff auf Güter Dritter veranlasst, ob also ein Nötigungsnotstand vorliegt: Handelt es sich um einen Nötigungsnotstand, wenn etwa jemand vor einem großen, wildgewordenen Kampfhund flieht, hinter welchem auch sein Besitzer herläuft, der es jedoch unterlässt, den Versuch zu unternehmen, den Hund (etwa durch Kommandos) zu stoppen? Hier ist diese Unterlassung des Hundebesitzers für den Fall, dass der Hund den Verfolgten beißt, bei vorheriger Abwendbarkeit durch den Besitzer jedenfalls als Körperverletzung begangen durch Unterlassen (§§ 229, 13 ­ StGB) zu beurteilen. Ist es aber (jedenfalls objektiv-tatbestandlich) auch eine Nötigung zum Davonlaufen, begangen durch Unterlassen (Gewaltan­ wendung durch Unterlassen)? Man kann dies bejahen. Was wäre dann die rechtliche Konsequenz, wenn der Verfolgte etwa mittels eines fremden Spatens (ohne eigene Mittel zur Verfügung zu haben) den Hund erschlägt, wobei der Spaten, wie vorausgesehen, zerbricht? Wäre diese Sachbeschädi­ gung (§ 303 Abs. 1 StGB) gerechtfertigt nach § 904 S. 1 BGB oder müsste Rechtfertigung verneint werden, weil ein Fall des (objektiv-tatbestandlichen) Nötigungsnotstandes vorlag? Man mag den Fall – auch was die subjektive Seite hinsichtlich des Hintermannes angeht – beliebig variieren: Der Hun­ debesitzer unterlässt das „Halt“-Kommando nur deshalb, weil er will, dass sein Hund den Verfolgten beißt, so dass der Besitzer dann auch den Tatbe­



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen451

stand der §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 22, 13 StGB verwirklicht; oder aber, weil er will, dass der andere den fremden Spaten an seinem Hund zerstört, so dass er zusätzlich nicht nur in objektiver, sondern auch in subjektiver Hinsicht die §§ 240 Abs. 1, Abs. 2, 13; 303 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 2, 13 StGB728 verwirklicht. In allen diesen Variationen ist – unabhängig von Vorhanden­ sein und genauem Inhalt eines Unrechtswillens beim Hundebesitzer – Rechtfertigung der Sachbeschädigung (Zerstörung des Spatens) gemäß § 904 S. 1 BGB zu bejahen729. Anhand eines solches Beispiels zeigt sich auch: Entgegen Kelker sind die von ihr von Nötigungsnotständen unterschiedenen Konstellationen der rechtswidrigen „Manipulation“ von „rechtlich neutralen Gewalten“ nicht so pauschal trennbar, denn es handelt sich, worauf auch Küper hinweist, wegen der rechtswidrigen Manipulation gar nicht um „rechtlich neutrale Ereignisse“730. Man nehme etwa an, es entstehe in einem Stadthaus mit mehreren Wohnungen ein Brand: Für die Frage, ob einer der Mieter etwa die Tür zu der fremden Wohnung aufbrechen und fremde Bettlaken oder das Wasser des Gartenteichs (Sachen anderer, durch welche selbst keine Gefahr droht) zum Löschen verwenden darf, kann es nicht entscheidend sein, ob und mit welcher Intention ein Dritter den Brand gelegt hat731. Dementsprechend macht es auch weder aus der Perspektive des Genötigten, noch aus der Perspektive der von der jeweiligen Notstandstat Betroffenen einen Unterschied (was den erforderlichen Zugriff auf das fremde Gut seitens des Notleidenden angeht), ob jemand auf der – anders nicht aussichtsreichen – Flucht vor einem großen Hund über für ihn fremde Zäune springt und dabei fremde Gartenanlagen beschädigt oder ob er dasselbe tut, während er vor einer kräftigen Person flieht, die ihn mit einem Baseball­ schläger zusammenschlagen will. Unerheblich ist insoweit auch, ob es dem Verfolger dabei auf Beschädigung der Sachen ankommt, ob er diese billi­ 728  §§ 17 Nr. 1 TierschG i. V. m. 25 Abs. 1 Var. 2, 13 StGB sei hier außer Betracht gelassen. 729  Dass die Beschädigung des Hundes gerechtfertigt ist (sei es nach § 32 StGB, sei es nach § 228 BGB; vgl. Fn. 479) versteht sich wohl von selbst und ist im Rahmen der Anmerkung zum Nötigungsnotstand nicht das Thema. 730  Küper kritisiert im Rahmen seiner knappen Rezension der Arbeit Kelkers ebenfalls zutreffend, dass diese pauschal ein „größeres Verletzungspotential“ des „Drohungsnotstandes“ gegenüber einer (von Kelker davon unterschiedenen) Insze­ nierung einer Naturgefahrenlage seitens eines Hintermannes behauptet, Küper, GA 95, 141. 731  Das sieht Kelker im Ergebnis ebenso. Nicht überzeugend ist jedoch, dass sie bei rechtswidriger Manipulation einer „rechtlich neutralen Gewalt“ (dabei soll nach Kelker Notstandsrechtfertigung möglich sein) das Vorliegen eines Nötigungsnotstan­ des pauschal verneint.

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B. Auflösung der Aufgabe

gend in Kauf nimmt oder ggf. gar nicht daran denkt732. Der Grundstücks­ eigentümer darf in keinem Fall den Notleidenden (Gefahrausgesetzten) zwangsweise oder gewaltsam hindern, sein Grundstück zu betreten; ansons­ ten beginge er, was die dann scheiternde Flucht vor dem Hund angeht, eine rechtswidrige Körperverletzung (bzw. im Fall der Flucht vor dem Schläger zumindest eine Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung). Insoweit lautet also das – allerdings bloß vorläufige – Fazit: Nötigungsbedingte Gefahrabwendungen sind nicht per se – wegen des besonderen Gefahrursprungs im Unrechtswillen eines anderen – rechtswid­ rig. Anders ausgedrückt: Ausgehend vom ursprünglichen Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie erfolgt eine ursprüngliche Teilung zu allseitigem Pri­ vatbesitz (umfassendste Sondergebrauchsbefugnis) mit korrespondierender Ausschließungskompetenz unter der Bedingung der Nichtangewiesenheit anderer zur Selbsterhaltung ihrer Person gegen Gefahren für angeborene Güter auch dann, wenn die Gefahr aus rechtswidrigem Handeln Dritter re­ sultiert733. Auf der anderen Seite hat Kelker mit dem Umstand, den sie als „Fehlen eines inneren Rettungszusammenhangs“ bezeichnet, tatsächlich eine rechtlich-relevante Besonderheit bestimmter Nötigungsnotstandskonstellationen herausgearbeitet. Ohne dass es besonders praxisfernen Fallkonstruktionen bedarf, sind Zu­ spitzungen denkbar, die verdeutlichen, weshalb Kelker das „Fehlen eines inneren Rettungszusammenhangs“ als Problem betrachtet: Man nehme – um das Problem anschaulich zu machen – etwa die Ent­ führung eines minderjährigen Kindes (K) und die Bedrohung des Vaters (V) mit der Tötung des K für den Fall, dass V nicht umgehend mehrere wert­ volle Antiquitäten eines anderen (oder auch mehrerer anderer) entwende und dem Entführer am Folgetag gegen Rückgabe des Kindes übergebe. Im Falle einer Einschaltung der Polizei werde das Kind sofort umgebracht. Der Vater V beschafft die fremden Antiquitäten. 732  Vgl. auch den oben (B.V.2.b)cc)) beurteilten, von Merkel gebildeten Fall der Beschädigung eines fremden Stuhls zur erforderlichen Verteidigung gegen einen rechtswidrig Angreifenden nach vorangegangener rechtswidriger Provokation: Notstandsrechtfertigung der Sachbeschädigung nach § 904 S. 1 BGB ist im Verhältnis zum Eigentümer dann, wenn die Notwehrvoraussetzungen im Verhältnis zum An­ greifer vorliegen, zu bejahen (und zwar unabhängig davon, ob der Angreifer den Verteidiger ggf. zum Zugriff auf fremdes Eigentum zu Verteidigungszwecken zwingen wollte oder nicht). 733  Nochmals: Mit rechtlicher „Solidarität“ wäre der – unter B.III.1.b) ausführlich dargestellte – Notstandsrechtsgrund unzutreffend und verzerrend bezeichnet. Solida­ rität ist kein Rechtsbegriff.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen453

Ist die Entwendung der Antiquitäten seitens des Vaters V, die jedenfalls die Tatbestände der §§ 242 Abs. 1, 123 Abs. 1 StGB verwirklicht, gerecht­ fertigt (positivrechtlich nach § 904 S. 1 BGB bzw. § 34 StGB)? Wenn dem so wäre, dann dürfte als Konsequenz dessen (entgegen Freund, Fn. 722) der hinzukommende Eigentümer bzw. Besitzer – sofern informiert – den Vater V nicht an der Mitnahme hindern. Hier ist eine Rechtfertigung von Hausfriedensbruch und Diebstahl tatsächlich zu verneinen. Das liegt jedoch nicht schon per se daran, dass es sich um einen Fall des Nötigungsnotstands (anstatt um eine Bedrohung durch eine „rechtlich-neutrale Gewalt“) handelt. Sondern: Auflösende Be­ dingungen der allseitigen Enthaltungsverpflichtungen hinsichtlich eines Sachgebrauchs (der ausschließlichen Zuordnung einer Sache zu einem an­ deren nach dessen Erwerb) können nur solche sein, deren Umfang schon durch die Gefahrenlage (die durchaus auch eine Nötigungslage sein kann, siehe oben) vorgegeben werden. Eine Grenze muss hingegen dann gezogen werden, wenn der Umfang der potentiellen Abwendungsmaßnahmen bloß durch das Belieben (den Un­ rechtswillen) des Hintermannes (Nötigers) und in dem Sinne unabhängig von der Gefahrenlage festgelegt wird, als auch die Tauglichkeit bzw. Er­ forderlichkeit des Zugriffs auf Güter Dritter zur Gefahrabwendung aus­ schließlich von seinem Willen abhängen. Das ist der Fall, wenn die poten­ tiellen Abwendungsmaßnahmen nicht auch durch die räumlich-zeitlichen Verhältnisse der Situation vorgegeben bzw. bestimmbar sind: In den oben als Rechtfertigungslagen qualifizierten Nötigungsnotstandsfällen ist die Feststellung der bestehenden Gefahrabwendungsmöglichkeiten – sowohl seitens des Genötigten als auch seitens eines etwaig anwesenden Dritten (etwa des von der Notstandstat Betroffenen) – bei Kenntnis der Gefahren­ lage einerseits, und andererseits der Beschaffenheit des Ortes im Raum, an welchem die jeweilige Nötigung stattfindet, möglich bzw. vorgegeben. So wird die ausschließliche Zuordnung des Spatens zum Eigentümer aufge­ löst, weil der durch Hundebisse Gefährdete dort des Gebrauchs des Spa­ tens zur Wahrung angeborener Güter bedarf. Dasselbe gilt für die Aus­ schließlichkeitszuordnung der Wohnungstür bzw. des Gartenteichs zum je­ weiligen Eigentümer im Falle des Brandes der Nachbarwohnung oder für die Gartennutzung im Falle der Verfolgung durch einen bissigen Hund oder einen brutalen Schläger. Anders ist es hingegen, wenn der Hintermann sich selbst auch die (wirklichen oder bloß behaupteten) Abwendungsmöglichkeiten im Hinblick auf eine von ihm (beliebig) geschaffene Gefahr rein nach seinem Belieben aussucht und als solche einfordert („Stehle die Gegenstände x, y und z …;

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B. Auflösung der Aufgabe

nur dann bekommst du dein Kind lebendig zurück“734). Vom ursprünglichen (ideellen) Gemeinbesitz des Bodens bzw. der äußeren Weltmaterie ausge­ hend, von welchem alle Rechte an körperlichen Gegenständen (Privatbesitz sowie die auflösende Notstandsbedingung im Hinblick auf dessen Aus­ schließungsbefugnis, also das Notstandsrecht) abgeleitet sind, verliert sich in diesen speziellen Drohungsnotstandsfällen der erforderliche Boden- bzw. Raumbezug zwischen Gefahr und (potentiellen) Abwendungsmöglichkeiten. In diesen Konstellationen erweitert der Sachzugriff durch den Genötig­ ten – in Abgrenzung zu den oben thematisierten Fällen von Nötigungsnot­ standstaten – dessen Willkür zur Abwendung der Gefahr auch nicht unmittelbar. Denn letztlich bleibt es auch bei Beschaffung der Gegenstände beim Wunsch, der Nötigende möge die Nötigungslage beenden735. Die Möglich­ keit (Macht) des physischen Zugriffs des Genötigten (oder eines seine 734  Bezüglich des Falles des entführten Kindes zur Nötigung des Vaters zu Dieb­ stählen: Eine Geheimhaltung des Hintergrunds ist nicht das entscheidende Problem. Zwar setzt jeder notstandsrechtliche Erwerb voraus, dass Notlage und Zugriffswille des Notleidenden (bzw. eines freiwilligen Notstandshelfers) für einen Anwesenden erkennbar sind. Aber selbst wenn man den Fall so fortspinnt, dass der Vater V vor Entwendung der Antiquitäten die Eigentümer oder auch die Polizei glaubhaft von der Situation in Kenntnis setzt, erwirbt weder er unmittelbar, noch als Notstandshelfer für sein Kind den notstandsrechtlichen Gebrauch dieser Sachen, eben weil diese als (wirkliche oder vermeintliche) Gefahrabwendungsgegenstände rein nach dem Belie­ ben des Entführers ausgewählt werden (also ohne vom Willen des Entführers bzw. Nötigers unabhängig als gefahrabwendungstaugliche Gegenstände bestimmbar zu sein). 735  Das ist anders, wenn jemand etwa mit dem Tode bedroht wird für den Fall, dass er sich nicht aus dem räumlichen Umfeld des Drohenden entferne und der Bedrohte zu seiner Flucht fremden Boden betreten muss (wie dem Drohenden be­ kannt und ggf. gar bezweckt). Dies ist notstandsrechtlich-möglich. Übrigens: Wer Nötigungsnotstandstaten ganz generell für rechtswidrig hält, der kann wohl auch kein Asylrecht im internationalen Verhältnis anerkennen. Das wäre nicht richtig. Angemerkt sei: Hinsichtlich des internationalen (Staaten-)Verhältnisses fragt sich, ob ein Staat einen anderen Staat angreifen darf, wenn dieser zwar im Inneren unrecht­ lich, nach außen aber kein rechtswidriger Angreifer ist. Die richtige Antwort, die sich daraus ergibt, dass die Staaten wie bzw. als gegenüberstehende Rechtspersonen betrachtet werden, lautet: Nein (so auch Kant, Zum ewigen Frieden, 5. Präliminar­ artikel). Gemäß dem dargestellten Gedankengang wird der fremde Staat jedoch ggf. dann zum Angreifer nach außen, wenn dessen Bürger nach dem dargelegten Not­ standsrecht ein solches zum Betreten des (vorher) fremden Staatsgebietes haben, denn das führt zu nicht-seinsollender (weil auf der Unrechtsorganisation im Inneren des anderen Staates beruhender) Boden- bzw. Sachsubstanzaufteilung. Dabei ist ein gewisses Ausmaß bzw. eine gewisse Organisation, etwa der Versuch der Ausrottung von Volksgruppen im fremden Staat, vorausgesetzt. In dem Sinne nimmt sich derje­ nige Staat (bzw. dessen Regierung), der bestimmten, zugehörigen Volksgruppen nicht ihr Auskommen belässt und damit die Bedingungen eines einseitigen rechtli­ chen Zugriffs dieser Personen auf den Boden eines anderen Staates (Asylrecht) herstellt, auch im äußeren Verhältnis zum anderen Staat zu viel.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen455

Willkür erweiternden Notstandshelfers) auf die zur Gefahrabwendung erfor­ derte Sache ist jedoch eine Noterwerbsvoraussetzung (siehe B.III.1.). Daran fehlt es auch dann, wenn zwar der Zugriff auf eine Sache möglich ist (in­ soweit Willkür), dessen Tauglichkeit zur Abwendung der Gefahr aber bloßer Wunsch bleibt (weil vom Willen des Hintermannes abhängig). Das bloße Belieben des Hintermannes ist interpersonal nicht nur keine notwendige, sondern nicht einmal eine akzeptable auflösende Bedingung der (Aus­ schließlichkeit einer) Gegenstandszuordnung: Die Idee der vereinigten Willkür derer, die gegeneinander in einem Rechtsverhältnis über ein äußeres Objekt des Besitzes stehen, schließt es aus, die Definition auflösender Bedingungen von Sachzuordnungen (Aus­ schließlichkeitsrechten an Sachen bzw. Gütern) ausschließlich der Forderung eines rechtswidrig Drohenden zu überlassen. Insofern stellt nicht der Nöti­ gungsnotstand an sich, wohl aber derjenige Drohungsnotstand, dessen (et­ waige) Abwendungsmöglichkeiten vom Drohenden ganz nach seinem Belieben forderbar und erst durch die Forderung als solche identifizierbar sind, diejenige Konstellation des Nötigungsnotstandes dar, die keine auflösende (notstandsrechtliche) Bedingung einer ausschließlichen Sachzuordnung be­ wirkt. Jedenfalls muss diese Einschränkung angenommen werden, wenn der Nötigende von einem anderen Ort als dem Ort der Notstandstat aus agiert und das angekündigte Übel auch an einem anderen Ort eintreten würde. Aus diesem Grund kann man nicht sagen: Das entführte Kind oder sein Vater erwirbt die seitens des Entführers geforderten Antiquitäten notstands­ rechtlichen zum insoweit erforderlichen Gebrauch. Wenn der Genötigte (hier: der Vater) dem Willen des Nötigers in solchen Konstellationen nach­ kommt, handelt er rechtswidrig (Entschuldigung nach § 35 Abs. 1 StGB kommt in Betracht). Insoweit ist also der eine Rechtfertigung von Nötigungsnotstandstaten ablehnenden Auffassung zuzustimmen. Man mag zwar solche Drohungsnot­ standstaten, die bloß Zugriffe auf erworbene Güter Dritter enthalten und die in permanenter räumlicher Gegenwart von Nötiger und Genötigtem began­ gen werden (Bemächtigungslagen, bei denen auch das angekündigte Übel am Ort der Notstandstat eintreten würde), trotz des gerade Gesagten für – nach § 34 StGB bzw. spezieller § 904 S. 1 BGB – gerechtfertigt halten. Denn obwohl nicht nur die Gefahr, sondern auch die potentiellen Gefahrab­ wendungshandlungen an sich rein dem Belieben des Nötigers entspringen (und als Abwendungshandlungen seitens des Genötigten letztlich eher Wunsch als Willkür sind), sind sie in ihrem möglichen Umfang begrenzt, denn: Die Voraussetzung der räumlichen Anwesenheit des Nötigers am Notstandstatort begrenzt einerseits den Umfang seiner möglichen Willkürerwei­ terung (durch den genötigten Tatmittler), andererseits sind unter dieser Vo­

456

B. Auflösung der Aufgabe

raussetzung die Gefahrabwendungschancen betreffend ein Vorgehen gegen den Nötiger selbst um die jeweiligen Eingriffsmöglichkeiten der von den Notstandstaten Betroffenen anderen erweitert bzw. erhöht. Die Nötigungs­ notstandslage hat dann auch für den von der Notstandshandlung Betroffenen (sofern er anwesend ist) eine erkennbare, auch-räumliche Dimension. Dies dürfte – allgemein bzw. aus der Perspektive eines jeden bei Aufteilung der gemeinsam besessenen Weltmaterie zu Privatbesitz – als hinreichend enge auflösende Bedingungen einer Sachzuordnung (des Ausschließlichkeitsrechts an Sachen) ausreichen736. Dementsprechend dürfte auch kaum jemand etwa das Verhalten einer Bankangestellten für eine rechtswidrige Unterschlagung halten, die der Forderung eines anderen nachkommend im Eigentum der Bank stehende Geldscheine in eine Tasche steckt und diesem übergibt, weil der andere für den Fall der Nichterfüllung der Forderung mittels gezückter Pistole mit der Tötung der Angestellten oder eines anwesenden Kunden droht: Dieses seitens des Drohenden verwirklichte, mehraktige Delikt der räuberischen (Dreiecks-)Erpressung im Sinne des § 255 StGB (hier i. V. m. § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) ist gerade durch die Überwindung eines an sich vermögenswahrenden Willens (hier desjenigen der Bankangestellten) ge­ kennzeichnet737, sodass der Mittler (die Angestellte) nicht als rechtswidrig Teilnehmender beurteilt werden kann. Was staatliche Rechtsgüter bzw. Rechtsgüter der Allgemeinheit im eigentlichen Sinne738 angeht, so scheidet eine Rechtfertigung von Aussagedelikten (§§ 153 ff. StGB) ebenso aus wie eine Rechtfertigung von Straftaten im Amt, die in direktem Zusammenhang mit Rechtsanwendung stehen (§§ 331 ff., 339 StGB; siehe B.V.2.e)). Offen blieb bislang, ob solche Tatbe­ standsverwirklichungen, welche in Abgrenzung zu den gerade genannten 736  Dem im Ergebnis entsprechend meint etwa Neumann, es dürfe ein Grund­ stückseigentümer C seinen Nachbarn B nicht davon abhalten, einen Baum in Garten des C zu fällen, wenn B dazu von A „mit vorgehaltener Pistole“ gezwungen wird, in: NK, § 34, Rn. 55. Dies mag (obwohl ein Grenzfall einer gerechtfertigten Nöti­ gungsnotstandstat) richtig sein, liegt aber entgegen Neumann nicht unmittelbar dar­ an, dass „ein Notwehrrecht … hier mit der in § 34 StGB grundsätzlich statuierten Rechtspflicht zur mitmenschlichen Solidarität nicht vereinbar“ wäre (ebenda). Eine Rechtspflicht zur „mitmenschlichen Solidarität“ gibt es nicht. Der Grund der Recht­ fertigung, falls er denn gegeben ist, liegt darin, dass trotz des Drohungsnotstands wegen der räumlichen Anwesenheit des Nötigers (A) solche Bedingungen vorliegen, die (weil hinreichend eng) interpersonal als auflösend in Bezug auf eine ausschließ­ liche Sachgebrauchsbefugnis betrachtet werden können. Wenn dieser Gedankengang mit der (an sich maßstabslosen) Floskel des „Interessenausgleichs“ (Neumann, eben­ da, Rn. 54) bezeichnet wird, macht das nichts. 737  BGHSt 41, 123 ff. 738  Womit also nicht bloß Zusammenfassungen von Individualrechtsgütern meh­ rerer Personen gemeint sind, wie dies etwa beim Rechtsgut der „Straßenverkehrssi­ cherheit“ der Fall ist; vgl. B.IV.1.a)aa).



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen457

keine direkten Verkehrungen von Rechtsdurchsetzungsbemühungen darstel­ len (etwa Begünstigung im Sinne von § 257 StGB; Strafvereitelung im Sinne von § 258 StGB; zweifelhafter bei der Gefangenenbefreiung nach § 120 StGB) notstandsbedingt gerechtfertigt sein können. Dazu kann nun Stellung genommen werden, nachdem festgestellt ist, dass einerseits Nöti­ gungsnotstände nicht per se eine Rechtfertigung der darauf reagierenden Taten ausschließen, andererseits solche Nötigungsnotstände nicht als auflö­ sende Bedingungen der Ausschließlichkeit einer Gegenstandszuordnung betrachtet werden können, in welchen nicht nur die Gefahrenlage, sondern auch die etwaigen Gefahrenabwendungsmöglichkeiten rein vom Belieben des Hintermannes abhängen, ohne dass die Gefahrenlage einen Raumbezug zu den Abwendungshandlungen hat. Deutlich sei jedoch darauf hingewie­ sen, dass es sich bei folgenden Anmerkungen nicht um strikte Ableitungen aus dem dargelegten Notstandsrechtsgrund (der ideellen Besitzgemeinbesitz der äußeren Weltmaterie) handelt. Denn insoweit (Bestimmung des Unrechts bestimmter Rechtspflegedelikte) geht es jedenfalls nicht primär bzw. aus­ schließlich um interpersonal-allgemeingültige Verteilungen von körperlichen Objekten im Raum: Begünstigung (§ 257 StGB) wird überwiegend in erster Linie wie auch Strafvereitelung im Sinne des § 258 StGB als „Rechtspflegedelikt“ aufge­ fasst. Bei der Wiederherstellung des Rechts nach schwerem Unrecht werden die Straftatfolgen durch die „Strafrechtspflege“ bzw. Strafgerechtigkeit im weiteren Sinne beseitigt und somit die Geltung des Rechts gegenüber dem Unrecht verwirklicht. Das Unrecht des Verhaltens im Sinne der §§ 257, 258 StGB ist also Vereitelung bzw. Erschwerung der notwendigen Beseitigung der Folgen des schweren Unrechts durch die Strafgerechtigkeit739. Man muss meines Erachtens diesbezüglich Notstandsrechtfertigungsmög­ lichkeiten nach § 34 StGB bejahen, wenn die Deliktstatbestände der §§ 257, 258 StGB notstandsbedingt durch Private (Bürger, die nicht als Strafverfolger tätig sind) verwirklicht werden: Wenn etwa A nach einem Totschlag zum Nachteil eines anderen den anwesenden B durch Drohung mit Erschießung nötigt, die Blutspuren zu 739  Diese Delikte sind wohl die denkbar-abstraktesten Verbrechen, weil das be­ sondere Unrecht des tatbestandsmäßigen Verhaltens nur erkannt werden kann, wenn der Begriff des Verbrechens als schwerer Rechtsverletzung (Straftat als Vortat) und die Notwendigkeit des Ausgleichs durch den Rechtsstaat (also der Rechtsstaatsbe­ griff in dem besonderen Aspekt Strafrechtspflege) zumindest dunkel gedacht und auf die Wirklichkeit bezogen werden. Erst dadurch wird die Vereitelung des Ausgleichs als (abgeleitetes, qualitativ anderes Restitutionsvereitelungs-)Unrecht begrifflich fassbar. Demgegenüber unkomplizierter ist die Unrechtsbestimmung, was die Heh­ lerei angeht (die Perpetuierungsunrecht im privatrechtlichen Bereich fasst und kein Delikt „gegen den Staat“ darstellt; vgl. Helmers, ZStW 121, 527 ff.).

458

B. Auflösung der Aufgabe

beseitigen und die Leiche im Kofferraum seines Pkw zu einem See zu transportieren, so sind diese abgenötigten Handlungen des B, die den Tat­ bestand des § 258 Abs. 1 StGB verwirklichen können, gerechtfertigt. Das­ selbe gilt, wenn A den B in permanenter Gegenwart durch Drohung mit dessen Erschießung dazu zwingt, ihn (den A), der die Beute eines gerade begangenen Banküberfalls bei sich trägt, an einen anderen (für A sicheren) Ort zu verbringen, was auch den Tatbestand des § 257 StGB740 verwirkli­ chen kann. Solche Handlungen (Beseitigen von Blutspuren, Mitnahme eines anderen im Kfz) sind, wenn man von der vorausgesetzten, vollendeten Straftat und der diesbezüglichen staatlichen Rechtsrestitutionsaufgabe absieht, rechtlichneutral; ihre Unrechtsqualität betrifft in keiner Weise den Bereich des Pri­ vatrechts. Erst die begangene Straftat und die dadurch ausgelöste Notwen­ digkeit staatlicher Verfolgung bewirkt eine Einschränkung der Willkür jedes einzelnen741, was den (rechtsrestitutionsvereitelnden) Gebrauch bestimmter Gegenstände (Tatspuren oder sonstige Beweismittel; Tatbeute) oder einen solchen Umgang mit dem Straftäter angeht, der den staatlichen Zugriff vereitelt (Überlassen einer Wohnung als Versteck; Überlassen eines Kfz als Fluchtmittel). Der Staat erlangt erst durch die Straftat eine – in seiner Straf­ verfolgungspflicht implizierte – Zugriffsbefugnis auf den Täter bzw. auf bestimmte Gegenstände (sei es, dass diese als Beweismittel relevant wer­ den742, sei es auf die Tatbeute als potentiellen Verfallsgegenstand), der dann eine entsprechende rechtliche Beschränkung von – ohne die Straftat voll­ kommen legitimen – Handlungsmöglichkeiten743 auf Seiten unbeteiligter Bürger korrespondiert. Der Gedanke, die der staatlichen Strafverfolgungs­ 740  Das im (allerdings bedenklich weit gefassten) Tatbestand des § 257 StGB definierte Unrecht dürfte sich der Sache nach (bei entsprechender Änderung des § 73 StGB) vollständig auf die von § 258 Abs. 1 StGB erfasste Verfallsvereitelung zurückführen lassen; ebenso Altenhain, Anschlussdelikt, S. 360; vgl. dazu meine Ausführungen in ZStW 121, 530 ff. (dort Fn. 59 i. V. m. Fn. 64). 741  Mit Ausnahme desjenigen, der die Straftat begangen hat: Der (Vor-)Täter kann sich selbst weder weitergehend rechtswidrig begünstigen, noch seine Bestrafung rechtswidrig vereiteln (es ist deshalb kein tauglicher Täter von Begünstigung oder Strafvereitelung). 742  Grundbegrifflich erwirbt der Staat jedoch keine Gebrauchsbefugnis betreffend den Körper einer vom Beschuldigten unterschiedenen Person (etwa des geschädig­ ten Tatzeugen), weshalb die Regelung des § 81c Abs. 1, Abs. 2 StPO als verfehlt (wohl verfassungswidrig) anzusehen sein dürfte, vgl. oben B.III.2.a)bb). 743  An sich legitime Handlungen wie etwa die Überlassungen des eigenen Kfz oder der eigenen Wohnung an einen anderen oder das Aufwischen von Spuren im eigenen Treppenhaus werden erst durch das in der staatlichen Strafverfolgungsnot­ wendigkeit implizierte Zugriffsrecht des Staates nach Straftaten auf den Täter oder die Tatgegenstände (Tatbeute; Tatspuren) als unrechtsmäßige Vereitelungs- oder Begünstigungsmaßnahmen denkbar.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen459

pflicht (Rechtsrestitutionspflicht nach schwerem Unrecht) korrespondieren­ de, durch die Straftat ausgelöste, rechtliche Beschränkung von Handlungs­ möglichkeiten ausschließlich auf Situationen zu erstrecken, in denen nie­ mand zur Erhaltung angeborener Güter auf die an sich bestehende Hand­ lungsmöglichkeit angewiesen ist, bereitet keine Probleme. Im Gegenteil: Die aus der Straftat eines anderen resultierende Willkür­beschränkung zu­ gunsten der Durchsetzbarkeit der staatlichen Straf- bzw. Rechtsrestitutions­ verpflichtung (keine restitutionsvereitelnden Maßnahmen durchzuführen) tritt nur ein, wenn diese Umorganisation nicht zugleich eine Beeinträchti­ gung bzw. Gefährdung angeborener Güter zur Folge hat. Wenn etwa ein Notarzt oder Sanitäter einen Schwerverletzen in extremer Eile in ein Kran­ kenhaus bringen muss, um dessen Leben zu retten, sich im letzten Moment vor der Abfahrt jedoch ein gerade flüchtender Straftäter in das Fortbewe­ gungsmittel setzt (den der Sanitäter nicht hinauswerfen kann), dann muss der Sanitäter fahren, auch wenn dies dem Straftäter die Flucht ermöglicht und somit objektiv- und subjektiv-tatbestandlich eine Strafvereitelung dar­ stellt; die Tat verwirklicht kein Unrecht (dogmatisch: die Verwirklichung des Tatbestandes des § 258 Abs. 1 StGB ist als Notstandshilfe nach § 34 StGB gerechtfertigt). Dieses Beispiel veranschaulicht die Bedingtheit der (durch die Straftat eines anderen im Rechtsstaat der Strafverfolgungspflicht korrespondierenden) Willkürbeschränkung auf Seiten der Bürger. Insofern ist es unproblematisch, auch Nötigungsnotstandstaten, die den Tatbestand des § 257 Abs. 1 StGB oder des § 258 Abs. 1 StGB verwirklichen, als nach § 34 StGB grechtfertigt zu betrachten744. Übrigens: Wenn der Hintermann (Nötiger) selbst der Vortäter ist, dann verwirklicht dieser auch in seiner Person kein Unrecht gegen Rechtsgüter des Staates745 (vgl. Fn. 741), sodass die (sowieso eher floskelhafte) Wendung, der Genötigte trete „auf die Seite des Unrechts“, insoweit in keiner Hinsicht zutrifft746. Ausgeschlossen ist hingegen eine Rechtfertigung einer abgenötigten Strafvereitelung im Amt nach § 258a StGB, jedenfalls sofern es sich um eine heimliche Tat handelt (was anders wohl auch kaum vorstellbar ist): 744  Zu notstandsrechtlichen Rechtfertigung der Aussageverweigerung durch einen (genötigten) Zeugen trotz Ladung und trotz Fehlens eines durch die StPO oder die ZPO benannten Zeugnisverweigerungsrechts siehe oben, B.V.2.e). 745  Selbstverständlich verwirklicht der Drohende durch die Nötigungshandlung Unrecht zum Nachteil des Genötigten. 746  Weil schon die Vereitelung der eigenen Bestrafung durch den (Vor-)Täter kein Unrecht verwirklicht, ist es ganz richtig, dass auch die Anstiftung eines Vortatunbe­ teiligten zur Strafvereitelung seitens des Vortäters nach positivem Recht für diesen straflos ist (§§ 258 Abs. 1, 26, 258 Abs. 5 StGB), während die Anstiftung zur Falschaussage (§§ 153 Abs. 1, 26 StGB) strafbar ist. Verfehlt ist hingegen die (schon systemimmanent unerklärliche Sonder-)Regelung des § 257 Abs. 3 S. 2 StGB für die Anstiftung zur Begünstigung durch einen Vortatbeteiligten.

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B. Auflösung der Aufgabe

Hier liegt das Unrecht in dem direkten Verstoß gegen die willentlich-über­ nommene (Amts-)Pflicht, an der notwendigen Staatsaufgabe der Strafge­ rechtigkeitsverwirklichung mitzuwirken. Diese Pflicht auflösend zu bedin­ gen durch (für Außenstehende unbekannten) Notstand hieße, die Staatsauf­ gabe selbst darauf zu bedingen. Und das ist unmöglich; es wäre ein direkter Widerspruch zur Strafgerechtigkeit. Der Staatsanwalt, der eine Ermittlungs­ akte heimlich dauerhaft verschwinden lässt, weil sein Kind entführt und er mit dessen Tötung bedroht wird, falls die Ermittlungen gegen den Beschul­ digten zu einer Anklage führen, mag entschuldigt sein (§ 35 Abs. 1 S. 1 StGB; denn die Zumutbarkeit, die Gefahr wegen eines besonderen Rechts­ verhältnisses hinzunehmen, § 35 Abs. 1 S. 2 StGB, kann verneint werden); gerechtfertigt (§ 34 StGB) ist er nicht. Problematischer ist die Möglichkeit einer (nötigungs-)notstandsbedingten Gefangenenbefreiung im Sinne von § 120 Abs. 1 StGB durch einen Bürger oder gar durch einen für den Staat handelnden Amtsträger (§§ 120 Abs. 1, Abs. 2 StGB bzw. Anstiftung dazu durch die jeweiligen Dienstvorgesetzten etwa nach vorangegangener Drohung mit der Tötung eines Entführten; Lo­ renz-Fall 1975). Eine Differenz zur Strafvereitelung im Sinne von § 258 StGB besteht darin, dass die Gefangenenbefreiung im Sinne von § 120 StGB die Aufhe­ bung eines staatlich (formal ordnungsgemäß) angeordneten und hergestellten Gewahrsams ist, was als Unrecht (Nehmen von der rechtlichen Habe eines anderen) zu identifizieren ist, ohne dass eine besondere Beschränkung der rechtlichen Handlungsmöglichkeiten der Bürger (zur Abgrenzung von an­ sonsten rechtlichen neutralen Handlungen) vorausgesetzt wäre. Auf der an­ deren Seite handelt es sich bei der Gefangenenbefreiung nicht um ein heimliches Delikt; das Unrecht besteht auch nicht in der Vereitelung der Vollstreckung (§ 258 Abs. 2 StGB), sondern nur in der (ggf. vollstreckungs­ unterbrechenden) Gewahrsamsaufhebung. Nötigungsnotstandsrechtfertigung kann angenommen werden, wenn auch der Nötigende am Tatort anwesend ist und das angekündigte Übel ggf. dort realisiert würde: Man nehme etwa die Geiselnahme eines Vollzugsbediens­ teten durch einen Gefangenen, der so seine Freilassung abnötigen will. Dem kann rechtlich entsprochen werden; so kann selbst eine Gefangenenbefrei­ ung im Sinne von § 120 Abs. 1, Abs. 2 StGB nach § 34 StGB gerechtfertigt sein. Zweifelhafter ist hingegen die Möglichkeit der Rechtfertigung einer (An­ stiftung zur) Gefangenenbefreiung begangen durch die Regierung eines Landes (bzw. den Regierungschef oder den zuständigen Minister), wenn diese sich als Erfüllung einer nötigenden Forderung zur Freilassung Gefan­ gener durch Drohung mit der Tötung entführter – an unbekanntem Ort be­



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen461

findlicher – Geiseln darstellt. Jedenfalls zwei solcher Fälle sind in der BRD zu allgemeiner Bekanntheit gelangt: 1975 wurde auf Veranlassung der Bundesregierung, die mit der Tötung eines entführten Politikers seitens einer Gruppierung der RAF bedroht wur­ de, dem Begehren der Entführer entsprochen und fünf Gefangene (jeweils ausgestattet mit einem gewissen Geldbetrag) aus der Haft entlassen und ins Ausland ausgeflogen (Lorenz-Fall). 1977 lehnte es die Bundesregierung ab, der Forderung der Entführer eines bekannten Wirtschaftsfunktionärs nachzukommen, nach welcher elf Gefan­ gene (wieder ausgestattet mit Fluchtgeld) freigelassen werden sollten; der Entführte wurde entsprechend der Ankündigung der Entführer für den ein­ getretenen Fall des Nichterfüllens ihres Begehrens erschossen (SchleyerFall). Das BVerfG führt dazu aus: „Ob im Falle einer erpresserischen Geisel­ nahme der Forderung der Entführer, inhaftierte Beschuldigte oder Straftäter im Austausch gegen den Entführten freizulassen, zum Schutze des Lebens der Geisel entsprochen werden soll, haben die verfassungsrechtlich zustän­ digen staatlichen Stellen in eigener Verantwortung zu entscheiden; die Verfassung schreibt ihnen in solchen Fällen prinzipiell keine bestimmte Entschließung vor“747. Dies ist unbefriedigend: Die „zuständigen Stellen“ (damit dürften Bundes- oder Landesregierungen gemeint sein), sind an die Verfassung und an das einfache Recht gebunden; die Regierung ist Teil der ausführenden Gewalt. Insofern muss benannt werden, welches Gesetz denn dem „zuständigen“ Teil der Exekutive eine solche eigene Verantwortung zur Entscheidung zur (Anstiftung zur) Gefangenenbefreiung einräumt. Gemeint sein kann wohl nur § 34 StGB. Dementsprechend wird auch überwiegend angenommen, Gefangenenbefreiungen wie im Lorenz-Fall seien, sofern von der Regierung angeordnet, nach § 34 StGB gerechtfertigt; eine Pflicht zur Freilassung der Gefangenen zugunsten des Entführten bestehe jedoch nicht748. Die Richtigkeit dieser Rechtfertigungsannahme kann man bezweifeln: Die Antwort auf die Frage, was denn die Subsumtion einer solchen ab­ genötigten Gefangenenbefreiung begangen durch die Regierenden als Not­ standshilfetat unter § 34 StGB ergibt (irrelevant hier, ob die anordnenden Regierenden als Mittäter oder Anstifter der die Freilassung unmittelbarausführenden Personen einzuordnen sind), kann jedenfalls nicht lauten: Dasjenige, was die Regierung entscheidet. Sofern es heißen soll: Die Vo­ raussetzungen des § 34 StGB sind in Bezug auf eine nötigungsnotstandsbe­ 747  BVerfGE 748  So

46, 223. etwa Erb, in: MK, § 34, Rn. 141 m. w. N.

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B. Auflösung der Aufgabe

dingt-begangene Gefangenenbefreiung, die erfolgt, um das Leben eines Entführten zu retten, stets verwirklicht (jedenfalls sofern die Regierung diese anordnet), so bedeutete dies eine extrem weite Bedingung des Verbots der Gefangenenbefreiung. Darf die Regierung wirklich etwa alle (in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden) Gefangenen freilassen, wenn ein Entführer eines Dritten dies mittels Tötungsdrohung fordert? Es erscheint naheliegender, eine Rechtfertigung der durch Entführer mit­ tels Tötungsdrohung abgenötigten Gefangenenbefreiung ganz abzulehnen. Der Grund dürfte demjenigen entsprechen, der oben zur Begrenzung der Rechtfertigung von Nötigungsnotstandstaten gegen private Sach- bzw. Er­ werbsgüter genannt wurde (auch wenn es hier der Materie nach um etwas anderes geht): Wenn nicht nur die Gefahrenlage, sondern auch der Umfang der (etwaig-tauglichen) Abwendungsmittel nicht auch durch die und in der räumlichen Situation bestimmbar ist, sondern ausschließlich vom Belieben des Nötigers abhängt, weil der Nötiger nicht am Tatort der Notstandstat anwesend ist und das seitens des Entführers angekündigte Übel auch an einem anderen Ort als dem Ort der Notstandshandlung eintreten würde, dann dürfte es an interpersonal-akzeptablen (eingrenzbaren) Definitionskri­ terien fehlen, was die Bestimmung von Rechtfertigungslagen und damit zugleich von Verbotsnormen angeht. Insofern ist es konsequent, etwa die durch Bemächtigung eines Vollzugsbediensteten abgenötigte Gefangenenbe­ freiung vor Ort für nach § 34 StGB gerechtfertigt zu halten (auch wenn dabei mehrere Personen als nur der Bemächtigende entsprechend dessen Forderung freigelassen werden müssen), hingegen die abgenötigte Gefange­ nenbefreiung durch Drohung mit der Tötung eines Entführten durch – eben an einem anderen Ort befindliche – Entführer als unzulässig zu beurtei­ len749. Selbstverständlich besteht insoweit ein Unterschied zur etwaigen Recht­ fertigung eines nötigungsnotstandsbedingten Zugriffs auf erworbene Sach­ güter, weil von der Verwirklichung des Tatbestandes der Gefangenenbefrei­ ung kein Bürger in individuellen (an sich nur ihm zustehenden) Gütern betroffen ist. Dementsprechend bewirkt, was die Gefangenenbefreiung und 749  Nochmals: Der Grund liegt darin, dass die Verbotsnormbedingung in erstge­ nannter Konstellation doch wesentlich enger ist, als im Falle der von anderem Ort als dem Ort der bezweckten Notstandstat aus agierenden Entführer, weil die Wirk­ macht des Nötigenden durch den Tatmittler bei Anwesenheit zugleich begrenzt wird. Im Übrigen ist die Möglichkeit des Betroffenen (hier: des Staates), gegen den an­ wesenden Nötigenden selbst vorgehen zu können, nur gegeben, wenn dieser nicht unerreichbar (ggf. anonym) aus dem Hintergrund operiert. Wem in Anbetracht dieser Argumentation floskelhafte Wendungen in den Sinn kommen wie etwa die Annah­ me, damit würden an unbekannten Ort Entführte für „weniger schutzwürdig“ gehal­ ten, als offen Bemächtigte, der hat nichts verstanden.



V. Konkretisierungen und Verdeutlichungen durch Fallbeurteilungen463

auch eine ggf. mitverwirklichte Strafverfolgungs- oder Strafvollstreckungs­ vereitelung angeht, die (potentielle) Verbotsnormauflösung durch Entfüh­ rungs-Nötigungsnotstände sozusagen keine besondere Beschwer eines Ein­ zelnen. Außerdem geschähe sie stets in der Perspektive, der befreiten Ge­ fangenen nach Aufhebung der Nötigungssituation wieder habhaft zu wer­ den750. In Anbetracht dessen kann man die Entscheidung der Regierung im Fall Lorenz sicherlich nicht als skandalösen Rechtsbruch betrachten; ein Rechtsbruch dürfte sie gleichwohl gewesen sein. Als Fazit zum Thema „Nötigungsnotstand“ bleibt festzuhalten: Nötigungsnotstandstaten, die nach dem dargelegten Rechts- und Not­ rechtsgrund rechtlich von vornherein keine Zugriffe auf angeborene Güter enthalten können, sind nicht per se (schon wegen des besonderen Gefahrenursprungs) rechtswidrig. In Ergänzung zu dem entwickelten Notstandsrechtsbegriff gilt jedoch: Rechtswidrig sind (als spezielle Drohungs-Notstandskonstellation) solche abgenötigten Taten gegen Eigentum und Vermögen anderer, die nicht nur auf eine seitens des Nötigenden beliebig gesetzte Gefahr reagieren, sondern die auch als potentielle Gefahrabwendungshandlungen (nochmals) rein dem Belieben des Nötigers entspringen, also ohne dass der Umfang der Abwendungshandlung zumindest auch durch die äußeren (zeitlich-räumlichen) Umstände der Gefahrensituation bestimmbar und damit eingrenzbar ist. Das ist jedenfalls in solchen Nötigungslagen der Fall, die von einem Nötiger bzw. gar Geiselnehmer (etwa eines Angehörigen, dann Drei-Personen-Ver­ hältnis) ausgehen, der von einem anderen Ort als dem Ort der Notstandstat aus agiert (droht), wenn das angekündigte Übel nicht am Ort der Notstands­ tat eintreten soll. Was solche Drohungsnotstände im Zwei-Personen-Verhält­ 750  Die staatliche Strafverpflichtung nach schuldhaft begangenem schweren Un­ recht, die darin implizierte Strafverfolgungspflicht und „der Anspruch aller im Straf­ verfahren Beschuldigter auf Gleichbehandlung“ implizieren selbstverständlich, dass die zuständigen staatlichen Stellen nach einer nötigungsbedingten Freilassung Ge­ fangener (sofern eine solche denn durchgeführt wird) „gleichwohl von Verfassungs wegen verpflichtet“ bleiben, „alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um der freigepressten Personen wieder habhaft zu werden und sodann das Strafverfah­ ren fortzusetzen oder die unterbrochene Strafvollstreckung gegen sie fortzusetzen“, BVerfGE 46, 222–224. Der sowohl vom BVerfG zur Herleitung dessen bemühte und auch von vielen Strafrechtlern gern verwendete Terminus des „staatlichen Strafan­ spruchs“ erscheint allerdings absurd: Was soll ein Anspruch des Staates (Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen) auf Strafe sein? Der Staat ist zur Verwirklichung von Strafgerechtigkeit im Sinne des primär-ideellen Ausgleich von schuldhaft begangenem schweren Unrecht verpflichtet, die Befugnis dazu ist darin impliziert; ein „Anspruch“ gegen jemanden darauf besteht nicht und ist nicht einmal ohne Widerspruch denkbar. Gemeint sein mag die Inanspruchnahme der al­ leinigen Strafkompetenz seitens des Staates (für sich selbst).

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B. Auflösung der Aufgabe

nis angeht, so dürfte es zudem in aller Regel auch an der Erforderlichkeit fehlen (die dann, wenn der Staat spezielle Rechtsdurchsetzungsinstitutionen für solche Fälle bereit hält, auch-normativ zu bestimmen ist). Im Übrigen bestimmen sich Nötigungsnotstandsfälle betreffend erworbe­ ne Sachgüter (privatrechtliche Beziehungen) nach dem – abgesehen von diesem nun erst gelieferten Zusatz schon vollständig dargelegten – Not­ standsrechtsbegriff (B.III.). Was (Nötigungs-)Notstandstaten gegen staatliche Rechtsgüter bzw. gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit im eigentlichen Sinne angeht, so ergibt sich aus der Entwicklung des (privat-)erwerbsrechtlichen Notstandsrechtsbegriffs keine unmittelbare Antwort. Rechtfertigung kommt in Betracht, soweit die Tat nicht eine direkte Verkehrung von Rechtsverwirklichungsbemühungen darstellt. Demnach ist etwa die Verwirklichung der Tatbestände der §§ 257, 258 StGB und ggf. auch des § 120 Abs. 1, Abs. 2 StGB einer (Nötigungs-)Notstandsrechtfertigung zu­ gänglich. Einer Notstandsrechtfertigung unzugänglich dürften hingegen (heimliche) Verwirklichungen der Tatbestände der §§ 153 ff. StGB, 258a StGB, 331 ff. StGB, 339 StGB sein751.

751  Solche Notstandstaten, die realistisch wohl nur als Nötigungsnotstandsfälle denkbar sind, sind stets rechtswidrig, weil dadurch direkte Verkehrungen notwendi­ ger Rechtsdurchsetzungsbemühungen verwirklicht werden (was absurd ist; das not­ standsbedingte Verweigern einer Zeugenaussage kann hingegen gerechtfertigt und dementsprechend als „gesetzlicher Grund“ im Sinne von § 70 Abs. 1 StPO bzw. § 390 ZPO anzuerkennen sein).

Gesamtzusammenfassung Die Frage nach einem Notstandsrecht betrifft die rechtliche Zulässigkeit eines notbedingten Zugriffs auf einer anderen Person zugeordnete Güter. Die Frage ist, ob das Unglück bzw. Pech des einen, der dadurch Not leidet, auf eine andere Person ganz oder zumindest teilweise umverteilt werden darf. Verändert sich mit der Entstehung einer Notlage des einen die rechtli­ che Güterzuordnung dahingehend, dass nun auch andere, die selbst nicht an der Entstehung der Notlage beteiligt waren, zu ihrer Abwendung in An­ spruch genommen werden dürfen? Obwohl seitens des Notbetroffenen ein starkes Bedürfnis zur Nutzung von an sich anderen zustehenden Gegenständen oder gar der Person des anderen bestehen kann, stellt sich eine zufallsbedingte Umverteilung für die davon Betroffenen ggf. als erhebliche Zumutung dar. Denn im Gegensatz zum – in jeder Rechtsordnung selbstverständlichen – Notwehrrecht, bei welchem sich der rechtswidrig Angreifende die erforderlichen Abwendungsmaßnahmen durch sein Verhalten selbst zuzieht, hat der von einem reinen Notstandszu­ griff Betroffene die Entstehung der Notlage nicht zu verantworten752. Dass dieses Thema die „Grundlagen unserer ganzen Rechtsordnung“ be­ rührt (Kohler) und „nahe verwandt … mit der Frage nach dem Wesen des Rechts überhaupt“ ist (Westerkamp), versteht sich von selbst; die praktische Bedeutung der Antwort ist dementsprechend enorm753. 752  Von erheblicher Bedeutung ist, dass es hier um striktes Recht geht, dem also eine Befugnis zur erforderlichenfalls zwangsweisen Durchsetzung korrespondiert. Nicht Thema ist hingegen die in der Regel einfacher und oftmals bejahend zu be­ antwortende Frage, ob es (im engen Sinne) ethisch geboten sein kann, Menschen in Not zu helfen bzw. ihnen etwas vom eigenen Güterbestand zur Leidabwendung oder -minderung zukommen zu lassen. Die Rechtsfrage ist: Kann ganz unabhängig von einem etwaig vorhandenen Hilfswillen auf den Güterbestand von Menschen oder gar auf Menschen selbst zugegriffen werden, um Notlagen anderer abzuwenden? Steht den notbetroffenen Personen oder gar dem Staat oder der Gesellschaft ein Mensch in seinem Güterbestand oder gar in seiner Physis und seinem Handlungswillen zum Zugriff zur Verfügung, wenn sich nur so die Not anderer abwenden lässt? 753  Muss sich jemand opfern bzw. verletzen lassen, wenn dadurch (ggf. viele) andere Personen gerettet werden können? Muss nach einem Verkehrsunfall ein un­ beteiligter Passant mit seltener Blutgruppe Blut spenden oder sich dieses gegen seinen Willen abnehmen lassen, wenn nur so die Rettung eines Unfallopfers möglich ist? Kann ein zufällig anwesender Passant gezwungen werden, einen ihm unbekann­ ten Verletzten in ein Krankenhaus zu bringen, wenn eine andere Möglichkeit des

466 Gesamtzusammenfassung

Es wäre zu erwarten, dass eine Rechtsordnung und insbesondere die aus­ differenzierte deutsche Rechtsordnung verbindliche Antworten auf Not­ standsfragen parat hat. Das ist nicht der Fall. Die Begriffslage zum Not­ standsrecht ist sowohl im geschriebenen deutschen Recht als auch in der diesbezüglichen Literatur defizitär. Zwar gibt die gelebte Rechtsordnung dann unausweichlich Antworten auf Notrechtsfragen, wenn die Faktizität entsprechende Fälle einer Beurteilung durch die zivil-, straf-, verwaltungsoder verfassungsgerichtliche Praxis zuführt. Diese Antworten erscheinen jedoch aufgrund der ungeklärten Begriffslage nicht frei von Beliebigkeit. Das geschriebene deutsche Recht macht zum Maßstab der Zulässigkeit eines Notstandszugriffs, ob „bei Abwägung der widerstreitenden Interessen … das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“, wo­ bei das nur gilt, „soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“ (§§ 34 StGB, 16 OWiG)754. Die durch diese Norm geforderte, unbefangen anmutende „Abwägung von Interessen“ stellt selbst keinen Maßstab zur Beurteilung von Notstands­ fällen bzw. -taten dar; sie setzt einen solchen vielmehr voraus. Wenn die Notstandsregelung in Rechtsprechung und Literatur dahingehend ausgelegt wird, es komme darauf an, welches Gut bzw. Interesse „in der konkreten Lebenssituation schutzwürdiger“ sei755, dann gilt insoweit dasselbe: Der Maßstab der Abwägung bzw. der Beurteilung von „Schutzwürdigkeiten“ ist offen. Das zu verkennen und zu glauben, er liege in den genannten Formu­ lierungen selbst, führt zur Produktion von Beliebigkeiten in den vorfind­ lichen Stellungnahmen zu konkreten Notstandsrechtsfragen756. Transports konkret nicht besteht? Haben Menschen ein Recht, das Gebiet anderer Staaten zu betreten und sich darin aufzuhalten, wenn sie in ihrem Heimatstaat durch Gewaltanwendungen oder Naturkatastrophen bedroht werden? Kann es Konstellati­ onen geben, in denen der von der Notabwendungshandlung Betroffene – obgleich auch er zur Notlagenentstehung nicht durch Fehlverhalten beigetragen hat – in be­ sonderer Weise für das Tragen der Abwendungsrisiken zuständig ist? Ist es etwa zulässig, ein gekapertes Passagierflugzeug abzuschießen mit der Folge des Todes sowohl der Entführer als auch der entführten Passagiere, wenn ansonsten das Flug­ zeug in ein belebtes Hochhaus gesteuert würde und alle stürben? Und wie verhält es sich mit der Zulässigkeit von abgenötigten Notstandstaten: Ist es zulässig, wenn Staatsbedienstete Strafgefangene freilassen, weil ihnen dies als einziges Mittel zur Rettung des Lebens entführter Geiseln seitens der Entführer benannt wird (LorenzFall, 1975; Schleyer-Fall, 1977)? 754  Für Notstandszugriffe auf Sachgüter enthalten die §§ 228, 904 BGB gegen­ über § 34 StGB speziellere Regelungen. 755  Etwa Perron, in: Schönke / Schröder, StGB-Kommentar, 29. Auflage 2014, §  34, Rn.  23 ff. m. w. N. 756  Auch ein unmittelbarer Rekurs auf das deutsche Grundgesetz hilft nicht wei­ ter. Denn was „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) konkret bedeutet, das steht in Frage.

Gesamtzusammenfassung467

Es ermangelt trotz der Menge der vorhandenen, einschlägigen Literatur eines allgemeingültigen und zur verbindlichen Fallbeurteilung hinreichen­ den Notrechtsbegriffs. Stellungnahmen zu Notrechtsfragen betreffen nicht etwa nur – jeweils mehr oder weniger dramatische – Einzelfälle. Es geht stets darum, was dem einen im Verhältnis zum anderen konkret zusteht und was nicht. Insofern sind Fragen nach der Existenz konkreter Notstandsrechte nichts anderes als Ausprägungen der philosophischen Grundfrage „Was ist Recht?“. Selbstgesetzte Aufgabe dieser rechtswissenschaftlichen Arbeit ist eine tragfähige Bestimmung eines Notstandsrechts nach Grund, Inhalt und Grenze. Schon in der Feststellung der Grundsätzlichkeit des NotstandsrechtsThemas impliziert ist, dass jede mögliche Antwort auf die Frage nach einer notbedingten Zugriffsbefugnis – entgegen einigen Stimmen aus der Litera­ tur – keine speziell „strafrechtliche“ sein kann757. Im Übrigen galt es von vornherein, einen in vielen Arbeiten zum Notstandsrecht vorkommenden Fehler zu vermeiden, der schon formallogischer Art sein dürfte: Weil Recht­ fertigungsgründe prinzipielle Verbotsbedingungen und damit als Erlaubnis­ sätze notwendige Bestandteile der Formulierung allgemeingültiger (rechtli­ cher) Verhaltensgesetze sind, können sie unmöglich als „Zulassungen von Ausnahmen“ (so u. a. Pawlik) vorgestellt werden. Gäbe es zu einem Rechts­ gesetz „Ausnahmen“, dann gäbe es dieses Rechtsgesetz nicht. Eine „Aus­ nahme“ vom Recht hat im Recht nichts zu suchen (siehe Einleitung, I.). Die Arbeit ist im ersten Teil im Hinblick auf die Ableitbarkeit von Not­ standsrechten gegliedert nach den sich wechselseitig ausschließenden Grundansätzen der praktischen Philosophie: Nach dem empiristisch-materialen Ansatz – inhaltlich verdeutlicht durch Darstellung der Theorie von Thomas Hobbes (A.I.1.) und dem klassischen Utilitarismus nach John Stuart Mill758 (A.I.2.) – ist die Annahme von weit­ 757  Es ging also – entgegen etwa Pawlik – nicht bloß darum, ein anscheinend schon als rechtlich-möglich vorausgesetztes „Institut des rechtfertigenden Notstands ohne axiologische Verwerfungen in das … Strafrechtssystem einzuordnen“ (Pawlik, Notstand, S. 5) und eine speziell-„strafrechtstheoretische“ Begründung dafür zu fin­ den (derselbe, a. a. O., S. 298, dort Fn. 83). Man läuft Gefahr, die Grundsätzlichkeit und damit die begriffliche Relevanz des Themas überhaupt aus dem Blick zu ver­ lieren, wenn man als Stellungnehmender sich selbst einer – anscheinend speziellen – Perspektive der „Strafrechtswissenschaft“ verschreibt (Pawlik, a. a. O., S. 6) oder eine bestimmte Bedeutungsrangfolge von (vermeintlich-)„kollidierenden Prinzipien … im Strafrecht“ voraussetzt oder genügend lässt (so Kelker, Nötigungsnotstand, S.  148 f.). 758  Beide Konzepte sollen nach dem Anspruch ihres jeweiligen Autors (Hobbes, Mill) eine in ihren Leitgedanken vollständige Rechtstheorie vom Ursprung aus vor­

468 Gesamtzusammenfassung

reichenden Notstandszugriffen unproblematisch möglich. Weil sinnliches Begehren (Übelsvermeidung, Wohl- und Nutzenmaximierung) demnach Zweck und Ausgangspunkt des Rechtsdenkens ist, wohnt solchen Konzep­ ten die folgende Funktion notwendig inne: Mit qualitativ und quantitativ steigender Not nimmt Qualität und Umfang der Verfügbarkeit anderer pro­ portional zu, wenn durch deren Inanspruchnahme die Not beseitigt werden kann. Veränderungen der Umwelt beeinflussen demnach unmittelbar das rechtliche Verhältnis der Menschen zueinander; das Postulat der Wohl- oder Nutzenmaximierung kann in Notsituationen Güterumverteilungen erfordern. Jedoch: Gewisse absolute Grenzen der Verfügbarkeit, wie heutzutage in Auslegung des § 34 StGB meist angenommen, können sich weder nach Hobbes (A.I.1.f)), noch im Rahmen eines Utilitarismus (A.I.2.e)) oder in­ nerhalb eines anderen, auf sinnlichem Begehren gründenden Normativitäts­ konzepts ergeben759. Demgegenüber erscheint die Möglichkeit der Annahme von Notstands­ rechten nach dem gegensätzlichen, nicht-materialen („freiheitsgesetzlichen“) Ansatz überhaupt zweifelhaft. Die Darstellung der Ausarbeitung dieses Ansatzes in den Werken von Immanuel Kant verdeutlicht dies (A.II.). Das Bedürfnis eines anderen ist, weil in diesem Rechtskonzept die Bewertung von Gegenständen, Zwecken bzw. Interessen nach erfahrungsabhängigen Begriffen von Wohl und Übel nicht in maßgeblicher Weise vorkommt, für sich betrachtet rechtlich irrelevant. Allerdings hat Kant – in der Sekundär­ literatur weithin übersehen – im Rahmen von Einzelfallbeurteilungen durch­ aus bejahende Notstandsrechtsbehauptungen aufgestellt, ohne jedoch inso­ weit eine Theorie zu formulieren (A.II.7.). Diese Ansätze des normativen Urteilens schließen sich wechselseitig aus; nur einer kann der Richtige sein. Die hier vorgenommene Einteilung der faktisch-möglichen Weisen der Generierung von Sollensbehauptungen ist auch vollständig. Insbesondere stellen weder der Rechtspositivismus, noch objektiv-teleologische Konzepte (etwa theologischer Provenienz) und auch nicht ältere oder neuere „Spielarten“ eines Kontraktualismus oder das Kon­ zept Hegels demgegenüber einen anderen Ansatz dar760. stellen. Unter anderem deshalb stehen sie hier beispielhaft für bloß im Detail unterschiedliche, unmittelbar-material ansetzende Rechtskonzepte. 759  Ein kategorischer Ausschluss etwa der Tötung von an der Notentstehung un­ beteiligten Menschen oder gewisser sonstiger Behandlungen (etwa einer zwangswei­ sen Blutentnahme) wäre nach einem unmittelbar-materialen Ansatz widersprüchlich: Ob solche Mittel zur Notabwendung zu wählen sind, hängt demnach stets von den faktischen Umständen und dem diesbezüglichen pragmatischen Urteil des jeweiligen Souveräns ab. 760  Objektiv-teleologische Konzepte sind unmittelbar-materiale Ansätze, sofern eine bestimmte Vorstellung als angenehm empfunden bzw. nach empirischen Begrif­

Gesamtzusammenfassung469

Durch die Grundsätzlichkeit des Themas bedingt zeigt sich die fundamen­ tale Differenz dieser Ansätze besonders deutlich in deren jeweiligen Konse­ quenzen betreffend die Möglichkeit und den Umfang von danach entwickel­ ten Notstandsrechten. Insofern kann keine konkrete Notstandsrechtferti­ gungsannahme getroffen werden, ohne dass dabei zugleich (explizit oder implizit) eine Stellungnahme zu den Grundprämissen des eigenen Rechts­ denkens abgegeben wird. Das gilt unabhängig davon, ob der über eine Notstandsrechtsfrage Urteilende sich dieser Prämissen deutlich bewusst ist, oder ob sie seinem Denken dunkel zugrundeliegen761. Der materiale Ansatz erweist sich als logisch-untauglich zur Generierung von wahren Pflichtbehauptungen. Das unauflösbare Dilemma jedes im Aus­ gangspunkt materialen „Rechts“-Konzepts liegt darin, dass es einerseits Menschen von seinem Inhalt überzeugen will, was die Erwirkung des Ur­ teils eines Fürwahrhaltens unter Absehung von allen subjektiven Gründen beim anderen ist. Andererseits setzt der Inhalt des Konzepts dabei – wie immer die materialen Prämissen gebildet sind, welcher Zweck also als zu setzen behauptet wird und was daraus dann folgen soll – voraus, dass nicht jedermann schon seinem Begehren entsprechend den jeweiligen Verhaltens­ forderungen zustimmt. Die fehlende Zustimmung wird dabei konzeptsintern als unzutreffende Kalkulation einer pragmatischen Vernunft betrachtet. Weil der eigentliche Grund der Annehmung des (jeweiligen) materialen Konzepts zugleich aber gar kein anderer als das sinnlich-bestimmte Begehren sein soll, wird jedes material-ansetzende Normativitätskonzept mit Verbindlich­ fen von Wohl und Übel – wenn ggf. auch unausgesprochen – so bewertet wird, deshalb der jeweilige Inhalt als „höchstes Gut“ zu Grunde gelegt und damit als letztes Ziel des Handelns (Zweck) behauptet wird. Sofern die „objektive“ Zweckbe­ stimmung hingegen in einem göttlichen Willen gesehen wird, entbehren solche Konzepte einer – in aufgeklärter Zeit als Minimalstandard eines normativen Dis­ kurses vorauszusetzenden – intersubjektiv nachvollziehbaren Rationalität. Kontrak­ tualistische Konzepte nehmen die – sich als daraus ergebend behaupteten – Folge­ rungen und insbesondere Grenzen (Ausschlüsse von faktisch-denkbaren Ergebnissen) dunkel in ihre Prämissen auf, welche dann selbst entweder unmittelbar-material oder nicht-unmittelbar-material generiert sein müssen (siehe A. und Fn. 29; zur Hegelkri­ tik B.II.2.). 761  Der sich anlässlich der Notstandsrechtsfrage stellenden intellektuellen Auffor­ derung zur Beantwortung der Grundfrage („Was ist Recht?“) entgeht – schon in Anbetracht der hochgradigen Unbestimmtheit der §§ 34 StGB, 16 OWiG – auch derjenige nicht, der sich auf eine (höchstens vermeintlich-mögliche) bloße Anwen­ dung des positiven Rechts beschränken wollte. So muss jeder Jurist – etwa ein Richter –, der diese Normen auf einen Sachverhalt bezieht und daraus ein Ergebnis ableitet diese Stellungnahme leisten (und zwar nicht etwa deshalb, weil er sich bei der Normanwendung über das positive Recht hinwegsetzen sollte oder dürfte, son­ dern weil die der Normanwendung vorausgesetzte Normauslegung eben diese Stel­ lungnahme zur Rechtsbegründungsfrage ist bzw. diese wiederum voraussetzt).

470 Gesamtzusammenfassung

keitsanspruch, dem jemand auch nach dessen Studium nicht zustimmt, schon durch diesen Umstand widerlegt. Offensichtlich stimmt das Begehren des Studierenden bzw. Lesers – auch nachdem es reflektiert oder reflektie­ rend gebildet wurde – schlichtweg nicht mit dem des Autors überein. Das Wort „Pflicht“ hat dabei keinen logischen Platz; sofern es vorkommt, dient es als Überredungsversuch762. Der Begriff der Pflicht enthält das Erforder­ nis der Selbstnötigung unter ein Vernunftgesetz. Pflichterfüllung ist gerade dann Selbstnötigung, wenn ein der Befolgung des Vernunftgesetzes entge­ genstehendes sinnliches Begehren vorhanden ist. Die demgegenüber in je­ dem materialen Rechtskonzept enthaltene Forderung, sich unter sein eigenes sinnliches Begehren zu nötigen, widerspricht sich selbst. Das nach materia­ lem Ansatz generierte Sollen hat somit bloß subjektive bzw. keine über das jeweilige Begehren hinausgehende Bedeutung. Deshalb misslingt dem­ nach – bildlich gesprochen – der Sprung vom Sein zum Sollen vollständig (B.I.)763. Eine Rechtsordnung beinhaltet eo ipso den Anspruch, eine richtige Ord­ nung zu sein. Dieser Anspruch kann nur erfüllt werden, wenn die Inhalte der Rechtsordnung – die konkreten Gesetze – von einem nicht-materialen („freiheitsgesetzlichen“) Ursprung aus gebildet werden. Wer an ein System ethischer und rechtlicher Begriffe mit Verbindlichkeitsanspruch glaubt, der glaubt notwendig – wenn auch ggf. dunkel – an ein zugrundeliegendes unbedingtes Verhaltensprinzip. Insofern war zu beantworten, ob aus dem nicht-materialen Ansatz der Generierung von Sollensbehauptungen ein Not­ standsrecht folgt und wie ggf. dessen Inhalt lautet. Dazu war zu verdeutlichen, wie nach diesem Ansatz inhaltlich bestimmte Verhaltensgesetze zu formulieren sind (wie Materie in die Form des Sollens gelangt; ausführlich B.II.3.). Dies diente zugleich der Widerlegung eines – unter anderem von Hegel erhobenen – Einwands gegen die vom kategori­ schen Imperativ anhebende Normativitätsbegründung, der lautet, diese sei 762  Eine Rechtsordnung, die auf das Wort „Pflicht“ als Korrelat des Wortes „Recht“ verzichtete, ist trotz der faktischen Wirkmacht materialer Rechtskonzepte bislang nicht erfunden worden. 763  Derjenige Umstand, der es Hobbes ermöglicht, seinen konzeptsinternen Be­ fund, das Recht könne auf mehreren entgegengesetzten Seiten zugleich sein (deut­ lich etwa im mehrseitigen, nur alternativ abwendbaren Lebensnotstand), nicht als begrifflichen Widerspruch zu betrachten, ist derselbe, der Mill die Akzeptanz von „widerstreitenden Prinzipien“ im Recht erlaubt; und dies ist zugleich derjenige Um­ stand, der alle unmittelbar-materialen Konzepte am Sein-Sollens-Übergang scheitern lässt: „Recht“ ist demnach nämlich letztlich nichts anderes als jeweiliges sinnli­ ches – wenn auch durchaus verstandesmäßig-reflektiertes – Begehren (ein empiri­ scher Umstand). Dass subjektives Wollen, wenn es für objektiv gehalten und – für den Fall abweichender Bedürfnisse anderer – als Sollen bzw. „Pflicht“ bezeichnet wird, bloß einen Scheinbegriff hervorbringt, versteht sich eigentlich von selbst.

Gesamtzusammenfassung471

inhaltsleer und, wenn es um konkrete Pflichten gehe, mit beliebigem Inhalt ausfüllbar (zu diesem Einwand B.II.1.)764: Schon die Reflexion auf die Bedingungen des menschlichen Erkenntnis­ vermögens zwingt dazu, den Menschen nicht nur als Objekt der Erkenntnis zu betrachten, sondern diesen als das jedwede theoretische wie praktische Erkenntnis produzierende Subjekt vorauszusetzen. Er ist dabei an bestimm­ te Formen des Erkennens, die jedem Erkenntnisakt zu Grund liegen, unhin­ tergehbar gebunden765. Die reinen, jedem Erkenntnisakt vorauszusetzenden Erkenntnisformen – etwa die Urteilsfunktionen bzw. Verstandeskategorien – sind kein Gegenstand physikalischer Erkenntnis, sondern Bedingungen ihrer Möglichkeit766 (A.II.1. und B.II.4.b)). Die Vernunft selbst wirft die Frage nach einem unbedingt-gültigen Ver­ haltensgesetz auf und liefert zugleich dessen Formulierung767. Der kategorische Imperativ impliziert die Notwendigkeit, den Menschen in zwei Hinsichten zu betrachten, nämlich als Einheit von einem erscheinenden Wesen (Phänomen) und einem immateriellen Subjekt. Das immate­ rielle Subjekt ist in praktischer Hinsicht überhaupt ein apodiktisch-notwen764  Dieser Einwand betrifft selbstverständlich nicht nur die Ethik im engeren Sinne, sondern auch die Rechtsbegründung, weil er die Frage der Generierung von Pflichten überhaupt betrifft. Das von Hegel selbst auf Basis seiner (Fehl-)Vorstellung entworfene Gegenkonzept sollte der Intention nach die fundamentale Differenz zwi­ schen materialem und nicht-materialem Ansatz „aufheben“ und damit der normati­ ven Weisheit letzter Schluss sein. Das hegelsche Konzept beruht darauf, kontradik­ torisch entgegengesetzte Positionen zu verbinden. Allerdings haben weder die ein­ zelnen Standpunkte für sich einen klar-nachvollziehbaren Inhalt, noch wird das Prinzip einer solchen Synthese dargelegt. Schon aufgrund der von Hegel behaupteten Konsequenzen – der aus seinem Ansatz (vermeintlich) abgeleiteten Ergebnisse – ent­ larvt sich dieses Konzept jedenfalls als bloß auf einem unmittelbar-materialen An­ satz beruhend (B.II.2.). Die von Pawlik auf Grundlage der hegelschen Konzeption entworfene umfangreiche Arbeit zum Notstandsrecht ist damit im Ausgangspunkt derselben Kritik ausgesetzt (B.IV.2.b)dd)). 765  Die gegenteilige Annahme dahingehend, der Mensch erlange Erkenntnisse auch unabhängig von seinem Erkenntnisvermögen, widerspricht sich selbst; ausführ­ lich A.II.1. und B.II.4.b). 766  Die Möglichkeit der Kategorien selbst beruht auf der Einheit des (reinen) Selbstbewusstseins; diese ist – als notwendiger Bezugspunkt der Verbindungsleistun­ gen der Urteilsfunktionen – somit Bedingung sowohl der Möglichkeit der reinen Verstandesbegriffe, als auch Bedingung der Möglichkeit jedes empirischen Selbstbe­ wusstseins (zur von Kant sogenannten „ursprünglichen“, „reinen“ oder „transzen­ dentalen Einheit der Apperzeption“ ausführlich A.II.1. und 2. sowie B.II.3.c)). 767  Der einzige Zweck des vom sinnlichen Begehren unabhängigen, deshalb kate­ gorischen Imperativs ist überhaupt-richtiges Verhalten bzw. die Beantwortung der Frage nach dessen Möglichkeit. Deshalb ist er aufgrund seiner Formulierbarkeit (erkennbaren Möglichkeit) als verbindender Maßstab zugleich wirklich; dazu B. II.3.a) und b).

472 Gesamtzusammenfassung

diges Element des Begriffs der Person, das als solches („intelligible Subs­ tanz“, Kant) nicht empirisch bestimmbar oder experimentell-erklärlich sein kann768. Recht ist der Inbegriff interpersonaler äußerer Zustehensbeziehungen, die nach einer allgemeinen Regel der Zuordnung von Etwas (Materie) zu Je­ mandem (immaterielles Subjekt) bedürfnisunabhängig konstruiert sind. Einem „realen Verhältnis zwischen Recht und Pflicht“ muss ein „äußeres verpflichtendes Subjekt korrespondierend gegeben werden“ (Kant): Die Bildung inhaltlich bestimmter Rechtsbegriffe beginnt ausgehend vom „intelligiblen Substrat in uns“ (Kant) bzw. intelligiblem Subjekt „in“ oder „hinter“769 der Erscheinung des lebendigen Menschen; es wird der Raum „von beiden Seiten gleich“ abgeteilt, was im Ausgangspunkt nichts anderes bedeutet als Materie (physikalische Objekte) zu dem jeweiligen immateriel­ len Subjekt nach einer allgemeinen Regel als diesem zustehend770 zuzuord­ nen. Der lebendige menschliche Körper – die Gesamtheit aller seiner jeweili­ gen physischen Bestandteile – ist notwendig die erste Materie dieser Zuord­ nung („angeborenes Recht“)771. Darauf aufbauend findet „nach der Analogie der Möglichkeit freier Be­ wegungen der Körper unter dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung“ (Kant) eine interpersonale Abgrenzung der rechtlichen Handlungssphären statt. 768  Ausführlich B.II.3.c); dort auch zum Verhältnis der transzendentalen Einheit der Apperzeption als unbedingter Voraussetzung von Erkenntnis überhaupt (Fn. 766) und der Annahme eines immateriellen Subjekts als Element eines unbedingten Sol­ lens. Durch die notwendige Annahme eines immateriellen Subjekts im Sinne einer intelligiblen Substanz wird die theoretische Erkenntnis nicht erweitert; es fehlt für eine Seinserkenntnis bzw. -erklärung jedes mit Prädikaten der Anschauung zu be­ stimmende Objekt (vgl. auch Fn. 293). 769  Der durch die Worte „in“ und „hinter“ hergestellte Raumbezug ist insoweit bloß metaphorisch zu verstehen; vgl. Fn. 768; ausführlich B.II.3.d) und e). 770  Dieser Begriff des Zustehens ist in dem Sinne „rein“, als er nicht als ein Eindruck der Sinne angesehen oder aus der Erfahrung gewonnen werden kann. 771  Dem Begriff der Person wird nur so die geforderte Anschauung gegeben. Der Begriff der Rechtsperson impliziert: 1. Die Annahme einer „Substanz in der Idee“ im Verhältnis zur realen Materie (Subjekt „hinter“ dem empirischen Menschen im Verhältnis zu diesem als Körper); 2. Die unbedingte Kausalität in der Idee (Freiheit) im Verhältnis zur Naturgesetzlichkeit in Bezug auf willentliche Bewegungen des menschlichen Körpers (die nur dadurch als Handlungen des Menschen bestimmt sind); 3. Die Gemeinschaft in der Idee („Reich der Zwecke“) in Bezug auf empiri­ sche Menschen als ein „Reich der Natur“ zu konstruieren. Zum Umfang des Begriffs des menschlichen Körpers siehe insbesondere B.V.2.a).

Gesamtzusammenfassung473

Daraus folgt: Nur hinsichtlich derjenigen Körperzugriffe (etwa Körper­ verletzungen) einschließlich Willenszugriffen (etwa Nötigungen) kann die Vorstellung eines wechselseitigen und gleichen Zwangs mit jedermanns Subjekts- und Grundstatus zusammen bestehen, die erforderliche Notwehrreaktionen auf rechtswidriges Verhalten des Zugriffsbetroffenen sind oder dessen Willen entsprechen (Einwilligung). Hingegen löste die (verallgemei­ nerte) Vorstellung eines auf zufälligen Notstand bedingten, einseitigen Zu­ griffs auf den Körper eines anderen die reale Rechtsperson als ursprüngliche, unbedingte Einheit von immateriellem Subjekt und lebendigem menschli­ chen Körper auf. Deshalb ist ein Zugriff auf „angeborene“ Güter eines an­ deren, der sich diesen Zugriff weder durch rechtswidriges Verhalten selbst zuzieht772, noch darin einwilligt, eine Verletzung der Person. Zu beachten ist: Die Zuordnung von Materie zum (immateriellen) Sub­ jekt, durch welche auch mögliche Rechtsverletzungen bestimmbar werden, ist vollkommen unabhängig davon, ob die Materie von dem jeweiligen Menschen, dessen „eigentlichem Selbst“ bzw. „intelligiblem Charakter“ sie – intellektuell, nicht etwa empirisch-nachweisbar – als ihm zustehend zugeordnet wird, sinnlich-begehrt wird oder nicht. Ebenfalls irrelevant ist, ob diese Zuordnung für irgendjemanden zu irgendeinem Zweck nützlich ist. Auch die Abgrenzung der Ethik (im engeren Sinne) vom strikten Recht wurde so verdeutlicht: Die Selbsterhaltungspflicht (das Selbsttötungsverbot) kann ebenso wie alle Pflichten bloß gegen sich selbst nur als ethische773, nicht als äußere Rechtspflicht eingeordnet werden; Recht kann nur das äußere Verhältnis unterschiedlicher Personen zueinander betreffen. Den Men­ schen als Person zu betrachten bedeutet nämlich, seine Erscheinung als seinem „intelligiblem Charakter“ zugeordnet und seine willentlichen Bewe­ 772  Erforderliche Notwehrhandlungen sind zwar einseitige (nicht willentlich-er­ worbene) rechtliche Zugriffsmöglichkeiten. Sie sind aber nicht auf – gegenüber der Person des davon Betroffenen – externe Umstände bedingt, sondern auf dessen rechtswidrigen Angriff. Somit ist ihre Zulässigkeit identisch mit der rechtlichen Zu­ ordnung desjenigen Gegenstandes zum Verteidiger, auf den der rechtswidrige Zugriff stattfindet (mit dessen Zustehen). 773  Das ethische Verbot der Selbsttötung, das vielen bei Kant – ebenso wie dessen sonstige Annahmen von Pflichten bloß gegen sich selbst – uneinsichtig erscheint, konnte entsprechend verdeutlicht bzw. dadurch überhaupt als existent erkannt wer­ den. Nicht weil der Mensch das Leben sinnlich begehrt, soll er leben, sondern: Weil der wirkliche Mensch notwendig als Subjekt-Objekt-Einheit zu bestimmen ist, kann (soll) er das im wirklichen Menschen gedachte Subjekt (bestimmende Selbst) nicht in seiner Existenz – von der nur in der gedanklichen Verbindung mit einem leben­ digen menschlichen Körper ausgegangen werden kann (siehe B.II.3.e)) – vom sinn­ lichen Begehren von Etwas (letztlich: des Lebens) abhängig machen (zur Grenze vgl. Fn. 312).

474 Gesamtzusammenfassung

gungen diesem unterworfen zu denken; das bedeutet zugleich, eine Zuord­ nungsbeziehung vom Materie zum Subjekt (von Etwas zu Jemandem) ge­ danklich herzustellen. Wollte man behaupten, ein Mensch nähme einer nicht in einer rechtlichen Sonderverbindung zu ihm stehenden anderen Person äußerlich etwas dieser Zustehendes, wenn er sich selbst tötete oder verletz­ te, dann setzte dies eine dem Personsein eben vorangegangene Zuordnung der Materie, die der lebendige menschliche Körper ist, zu dem anderen voraus. Dies verallgemeinert ist gar nicht vorstellbar, sondern implizierte einen übermenschlichen und damit einen seitens eines Menschen irrationa­ len Standpunkt (zum Ganzen ausführlich B.II.3.). Der Terminus „Gesetz der Freiheit“ impliziert diese Notwendigkeit der Herstellung intra- und interpersonaler Zustehensbeziehungen nach einer (streng) allgemeinen Regel774 (in Abgrenzung zu allgemeingültigen Regeln der Naturerklärung als Naturgesetzen)775. Dies mag – wenn einmal deutlich geworden – als selbstverständlich erscheinen und wird doch verkannt, wenn rechtswissenschaftliche Arbeiten ihre Gedankengänge in eine „Freiheits­ semantik“ (Pawlik) kleiden, ohne damit dasselbe zu meinen776. Auf der Grundlage der verdeutlichten Darstellung des Verhältnisses von kategorischem Imperativ, Rechtsbegriffskonstruktion und dem Begriff der (realen) Person war sodann der Notrechtsbegriff zu entwickeln, der sich im Kern als unmittelbare Konsequenz aus dem Rechtsbegriff ergibt (B.III.): Die alternativlose Annahme ursprünglicher Rechte („inneres Mein“, Kant) ist somit die Annahme der Unmöglichkeit eines notbedingten rechtlichen Zugriffs auf „angeborene“ Güter anderer: Notstandsbedingte Tötungen, Kör­ perverletzungen und auch Nötigungen durch Gewaltanwendung oder Dro­ 774  Alle ethisch in dem Blick zu nehmenden Maximen müssen als – ggf. auch bloß das intrapersonale Verhältnis betreffende – Zustehensaussagen betrachtet „wie allgemeine Naturgesetze“ gelten können. Sie müssen zugleich mit ihrer Annehmung als allgemeingültig gewollt werden können. 775  Gerade weil dies aus dem grundlegendsten Gesetz des Willens folgt und not­ wendig anzunehmen ist, um sich in theoretischer und in praktischer Hinsicht über­ haupt nicht mit seinem Erkenntnisvermögen bzw. mit sich selbst in Widersprüche zu verwickeln, kann sich daran und an den demnach zu ziehenden Konsequenzen auch durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse (etwa der Hirnforschung) nichts ändern – „Primat“ des Praktischen (dazu B.II.4.b)). Jede bewusst ablaufende Auseinanderset­ zung über Ethik und Recht setzt das letztlich auch – ggf. dunkel – voraus; eine demgegenüber unabhängige „Metaethik“ ist unmöglich (dazu B.II.4.a)). 776  Die inflationäre, verschiedene Bedeutungen verbergende Verwendung des Wortes „Freiheit“ in philosophischen oder rechtswissenschaftlichen Texten hat das Wort als Mittel zur normativen Verständigung über einen Begriff beinahe untauglich werden lassen. Deshalb wurde es, soweit möglich, im Rahmen dieser Arbeit bei Seite gelassen.

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hung sind rechtswidrig777. Die Weggabe angeborener Güter zur Hilfe ande­ rer, etwa eine Blutspende oder eine sonstige aktive Hilfeleistung, kann eine im engen Sinne ethische Pflicht sein. Deren Erfüllung ist jedoch mehr als das bloße Leisten des rechtlich Geschuldeten; das Unterlassen dessen ist keine Rechtsverletzung eines anderen im Sinne eines Nehmens von etwas diesem äußerlich Zustehenden. Die gegenteilige Annahme bedeutete, dem gesamten Konzept eine letzt­ lich unmittelbar-materiale Basis unterzuschieben und es so als zur Ethikund Rechtsbegründung einzig taugliches Konzept zu vernichten778. Gerade 777  Ein Notstandsrecht zum Zugriff auf „angeborene“ Güter gibt es nicht; dessen Annahme wäre in der Tat „ein Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst“ (Kant). Zur metaphorischen Bedeutung des Terminus des „angeborenen Guts“ siehe Fn. 353; zum Umfang dieses Begriffs siehe B.V.2.a). 778  Sie implizierte den übermenschlichen Standpunkt eines zuständigen Architek­ ten oder Schöpfers, der seine Gegenstände entsprechend bloß seiner Vorstellung (sei es nach Gesamtnutzenkalkül oder nach welchem Plan auch immer) ummodeln kann, indem er den menschlichen Körper oder Elemente dessen einem anderen Menschen oder sonstigen von ihm für wertvoll gehaltenen Gütern – und sei es in besonderen Situationen – zur Verfügung stellen bzw. opfern kann, weil er diese verschobene Materie eigentlich als seine betrachtet. Wollte man schon bei Konstruktion der ei­ nem realen Rechts-Pflichtverhältnis korrespondierenden (implizierten) wirklichen Subjekte (der Personen) diese – wenn auch bedingt – unmittelbar physisch mitein­ ander verknüpfen, dann setzte man als Urteilender eine ursprüngliche Gemeinschaft oder Einheit aller Menschen überhaupt voraus, wobei man sich selbst als Außenste­ hender mit übergeordneter Perspektive als darüber zu verfügen befugt betrachtete. Eine solche Vorstellung kann kein allgemeines, bedürfnisunabhängig gedachtes Ge­ setz des Zustehens von etwas zu Jemandem sein. Alle zum jeweiligen menschlichen Körper gehörende (darin eingeschlossene) Materie gehört rechtlich (vernunftnotwen­ dig) ausschließlich dem „darin“ / „dahinter“ zu denkenden, immateriellen Subjekt (insgesamt: reale Person). So bestimmt treten sich die realen Rechtspersonen gegenüber und es entwirft sich ein wirkliches Rechtsverhältnis im Sinne auch-anschaulich nachvollziehbarer, interpersonaler Zustehensverhältnisse (ist konstruierbar). Die Irrationalität einer als zwangsweise durchsetzbar betrachteten Annahme ursprünglicher physischer Verbundenheit mehrerer Menschen korreliert mit ihrer Überheblich­ keit (Überschwänglichkeit). Dabei ist es letztlich unerheblich, weil im Sachgrund kaum trennbar, ob das jeweilige Konzept, aus welchem eine solche Annahme folgt und das objektiv-teleologisch sein muss, etwa auf einer Gottesvorstellung beruht (die durch den sich selbst wohl als Medium vorstellenden Autor bekannt gegeben werden soll) oder auf einem (vom Autor erfundenen) Plan etwa einer effizienten Zukunfts­ organisation der Menschengattung insgesamt gründet (als welche man etwa den Utilitarismus verstehen kann): Vernunftverbindlichkeit entfaltet nichts davon. Viel­ mehr wird jedes objektiv-teleologisch ansetzende Normativitätskonzept, sobald ihm Verbindlichkeitsanspruch beigelegt wird, in sich widersprüchlich. Das Prinzip, nach welchem der Autor sich selbst in ein Verhältnis zu anderen setzt, indem er sich anmaßt, allgemeine Sollensbehauptungen aus bloß-seinen Zielvorstellungen zu ent­ wickeln ist nämlich – zur allgemeinen Regel gemacht – nichts anderes als Beliebig­ keit.

476 Gesamtzusammenfassung

die Unbedingtheit der Zuordnung eines lebendigen menschlichen Körpers zu einem immateriellen Subjekt ist ein den Begriff der (realen) Person aus­ zeichnendes Merkmal. Anders verhält es sich jedoch hinsichtlich des Zugriffs auf erworbene Sachgüter: Insoweit folgt aus dem vorgestellten Ansatz des Rechtsdenkens mit Not­ wendigkeit ein Notstandsrecht im Sinne einer einseitigen Zugriffsbefugnis (B.III.1.b)). Nichts gegenüber der Körpermaterie Äußeres ist nämlich ur­ sprünglich Jemandem in besonderer Weise zugeordnet. Jeder Zuordnung zu Sondergebrauchsbefugnis vorausgesetzt ist ein willentlicher Akt, der Erwerb. Zu Grunde liegt dabei notwendig der (ideelle) Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie als Einheit: Vor allem besonderen Privatbesitz bzw. -eigentum steht die überhaupt erreichbare Weltmaterie als Einheit779 allen Personen gemeinschaftlich zu780. Der anfängliche Erwerb ist diesbezüglich zu denken als äußerer rechtli­ cher Akt jeder Person, wodurch etwas Gegenständliches ihres wird, ohne dass dieses also vom Privatbesitz eines anderen abgeleitet wäre. Der ideelle Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie und der allseitig-einseitige (erste) Erwerb eines Teils davon sind der Grund der Anerkennung von Sonderge­ brauchsbefugnissen an körperlichen Gegenständen (Privatbesitz bzw. Privat­ eigentum; ausführlich A.II.4.b) und verdeutlichend B.II.3.f)). Diese Begriffe sind allen vertraglichen Austauschbeziehungen vorausgesetzt. Und um etwaige Missverständnisse auszuschließen: Die Begriffe des ur­ sprünglichen Gemeinbesitzes der äußeren Weltmaterie und des allseitigeinseitigen (ursprünglichen) Erwerbs beschreiben nicht etwa einen empiri­ schen, historisch-abgeschlossenen Vorgang. Es handelt sich dabei um zu aller Zeit gültige, praktische Grundbegriffe, nach denen „jedem Subjekt der Menschheit von Beginn seiner Existenz an kontinuierlich Erwerbsrechte 779  Das ist die gesamte, durch Menschen überhaupt zu erreichende Weltmaterie abzüglich derjenigen, die zum inneren Mein von jemandem gehört (zur Konstitution der – dem Privatrechtserwerb vorausgesetzten – realen Personen siehe oben). 780  Die Annahme des ideellen Gemeinbesitzes der äußeren Weltmaterie ist rechts­ logisch alternativlos: Vor aller Begründung von wirklichem Privatbesitz durch ersten (anfänglichen) Erwerb besteht die allgemeine Möglichkeit des Erwerbs von Objek­ ten zu (Sonder-)Gebrauchsbefugnis, wobei es ausgeschlossen ist, dass nur einige Menschen sämtliche äußere Gegenstände erwerben und die anderen dementspre­ chend von der Nutzung der Erde ausschließen können. Diese Einschränkung bedeu­ tet: Jedermann ist vor allem Erwerb besonderer äußerer Gegenstände jedem anderen in Bezug auf äußere Gegenstände insoweit zur Enthaltung verbunden. Und das be­ deutet eben nichts anderes als: Alle sind ursprünglich im Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie (zur Begriffsbestimmung Fn. 322 und Fn. 323 sowie A.II.4.b)).

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entsprechend seinem Vermögen zu selbständiger Freiheitsverwirklichung“ (Köhler) garantiert sind. In der vernunftrechtlichen Privatrechtbegründung selbst liegt der Grund der Möglichkeit eines Notstandsrechts zum Zugriff auf an sich anderen Personen zugeordnete Sachgüter: Bildlich gesprochen ist der einseitige (ursprüngliche) Erwerb einer Sache zu Privatbesitz / -eigentum wegen des der Erwerbung zugrundeliegenden, ideell-ursprünglichen Gemeinbesitzes aller äußeren Materie ein Loslassen aller anderen von demjenigen Gegenstand (der Materie), auf den sich der Erwerbsakt der jeweiligen Person richtet. Insofern basiert alles private Ha­ ben äußerer Gegenstände auf einem Abgerücktsein aller anderen als dem Privatbesitzer bzw. -eigentümer von dieser Materie, aus welcher der jeweils erworbene Gegenstand besteht781. Ein unbedingtes Loslassen bzw. Abrücken von der ursprünglich gemein­ sam besessenen Materie ist nicht rechtlich-wirksam möglich, weil sonst die der Privatrechtsbegründung vorausgesetzten Rechtspersonen in ihrer Exis­ tenz auf zufällige, empirische Umstände bedingt würden, was ihrem Begriff widerspräche. Die Unbedingtheit der Person782 schließt es aus, Erwerbsge­ setze im Sinne von Regeln der allseitigen Anerkennung privater Sonderge­ brauchsbefugnis an äußerer Gegenständlichkeit als unbedingt zu denken. Die Unbedingtheit der Person hat in Bezug auf die – gegenüber dem ange­ borenen Recht – allseitige Willkürerweiterung durch Erwerb von Sachen zu rechtlichem Privatbesitz jedenfalls eine auflösende Bedingung der korrespondierenden Willkürbeschränkung auf Seiten des jeweils anderen zur Konsequenz: Jede äußere Sache bleibt, ausgehend vom ursprünglichen Gemeinbesitz der Weltmaterie, trotz des Erwerbs seitens eines anderen zu dessen Sonder­ gebrauch, insoweit stets auch noch diejenige des anderen, wie sie für diesen erforderliches Mittel zum selbständigen Selbsterhalt auf der Welt ist und der Erwerber (Eigentümer bzw. An-sich-Gebrauchsbefugte) nicht selbst zur Er­ haltung seiner angeborenen Güter darauf angewiesen ist783. Privateigentum 781  Dabei soll das Bild des Loslassens / Abrückens selbstverständlich nur veran­ schaulichen, was mit der dem jeweiligen Erwerbsakt des einen korrespondierenden Enthaltungsnotwendigkeit aller jeweils anderen (allseitig-wechselseitig) gemeint ist. 782  Der Personenbegriff wird maßgeblich gerade durch die Unbedingtheit der Zuordnung des lebendigen menschlichen Körpers zu einem immateriellen Subjekt definiert (oben). 783  Diese auflösende Not-Bedingung des ausschließlichen Zustehens äußerer Sa­ chen zu einer Person (als deren Privateigentum bzw. -besitz) ist notwendiger Inhalt des Erlaubnisgesetzes der praktischen Vernunft: „Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“ (Kant). Zu ergänzen ist: Es ist

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an äußeren Sachen im Sinne der relativ-umfassendsten Gebrauchsbefugnis daran (vgl. Fn. 359) bedeutet nichts anderes als die – eben zumindest auf die Nichtangewiesenheit anderer zum (Selbst)Erhalt als selbständige Person bedingte – Befugnis zu „einstweiliger Benutzung“784 (Kant) des jeweiligen Teils der Weltmaterie785. Dementsprechend besteht ein Notstandsrecht zur Gebrauchsanmaßung oder auch zur Sachbeschädigung, soweit solche Taten zur Abwendung von akutem Lebens- oder Leibesnotstand erforderlich sind: Gerechtfertigt ist etwa das notbedingte Betreten fremder Grundstücke oder Staatsgebiete (Asylrecht786). Bewegliche Sachen sind aus der ursprünglich gemeinsambesessenen Materie geformt („inhärierende Akzidenzen“ des Bodens, Kant); sie sind ebenfalls als Zugriffsgegenstände notstandsfähig787. jedoch rechtlich unmöglich, eine äußere Sache so ausschließlich mir zuzuordnen, dass selbst dann, wenn ein anderer auf den Gebrauch dieser Sache zum Selbsterhalt als selbständige Person notwendig angewiesen ist und ich ihrer zur Erhaltung ange­ borener Güter nicht bedarf, dieser andere trotzdem keine Gebrauchsbefugnis diesbe­ züglich hätte. 784  Zum Umfang des Begriffs siehe Fn. 367. 785  Wollte man dies bestreiten, so müsste man es für möglich halten, dass für eine Rechtsperson ggf. kein Platz auf der Welt mehr vorhanden ist, weil jeder Ort durch andere zu Privatbesitz erworben sein kann. Dann wäre die Rechtsperson durch ihr bloßes Dasein rechtswidriger Angreifer bzw. Störer – eine Konsequenz, die sich selbst evident widerspricht und somit die Richtigkeit (Notwendigkeit) des vorgestell­ ten Begriffs verdeutlicht. 786  Das Asylrecht leitet sich aus dem grundbegrifflichen Notstandsrecht ab. Grundbegrifflich besteht das Asylrecht in einem weitergehenden Umfang als es des­ sen derzeitige positivrechtliche Normierungen erkennen lassen, insoweit die objektiv tatbestandlich vorausgesetzte Gefahr für angeborene Güter auch eine reine Naturge­ fahr sein kann (etwa aufgrund einer Naturkatastrophe; vgl. auch Fn. 232). Die auf eine politische (Art. 16a GG) oder sonstige diskriminierende Verfolgung abstellen­ den positivrechtlichen Asylrechte normieren zwar echte Notstandsrechte (AsylG, Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951). Deren Herlei­ tung ist jedoch gerade deshalb nicht in gleicher Weise selbstverständlich wie dieje­ nige des Notstandsrechts aufgrund einer reinen Naturgefahr, weil der Gefahrursprung in fremdem Unrechtswillen liegt (zur gebotenen, teilweisen Verengung des Not­ standsbegriffs in Konstellationen des Nötigungsnotstands B.V.4. und Fn. 735). 787  Das insoweit vorgestellte Notstandsrecht beschreibt – entgegen üblicher Kennzeichnungen des Notrechtsproblems – nicht etwa einen „Rechtsverlust“ oder einen Eingriff in die „rechtlich geschützte Freiheitssphäre“ (Kühl) des von der Not­ standstat Betroffenen; auch verliert niemand einen bestehenden „Freiheitsanspruch“ (Pawlik); keineswegs wird „das Recht auf Kosten eines anderen Rechts“ gewahrt (v. Liszt). Denn Recht bedeutet stets das Zustehen von Etwas zu jemandem (B.II.3.) – das Zustehen einer Sache (nach deren Erwerb) zu jemandem ist stets auflösend bedingt auf die Nichtangewiesenheit anderer auf den Gebrauch der Sache zum selb­ ständigen Erhalt der Person. Ein „Freiheitsanspruch“ (Pawlik) des von der Notstand­ stat Betroffenen (etwa des Sacheigentümers) dahingehend, jedermann müsse die

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Der Notstandsrechtsgrundbegriff lautet dementsprechend788: „Wer in einer zufälligen Gefahrenlage für sein Leben oder seine Körper­ integrität den selbständigen (Selbst-)Erhalt auf der Welt nur durch den Zu­ griff auf an sich anderen zustehende Güter erreichen kann, der darf auf fremde Sachen in zur Rettung erforderlichem Umfang zugreifen (handelt nicht rechtswidrig), es sei denn, der bisherige Inhaber (Vorerwerber) ist ebenfalls zur Bewahrung seiner angeborenen Güter auf diese Gegenstände angewiesen789. Dieselbe Befugnis hat ein Dritter, sofern er im wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Notleidenden handelt (Notstandshilfe)“. Die Merkmale des notstandsrechtlichen Sacherwerbstatbestandes konnten genauer bestimmt werden. Eine rechtmäßige notbedingte Sachnutzung hat folgende Voraussetzungen: 1. Eine enge, das selbständige Dasein jedenfalls partiell bedrohende Notlage einer Person, 2. den wirklichen oder mutmaßlichen Willen dieser Person zum rettenden Zugriff auf eine Sache einer anderen Person sowie die physische Erreich­ barkeit der erforderten Sache durch den Notleidenden bzw. einen freiwil­ ligen Notstandshelfer790, Sache ausschließlich und unbedingt ihm lassen, besteht gar nicht und kann demge­ mäß auch nicht mit einem Anspruch des Notleidenden „kollidieren“: Der Glaube, äußeres Mein absolut-unbedingt erworben zu haben, wäre freiheitsgesetzlich bloß ein Irrglaube. 788  Dieser Grundbegriff eines Notstandsrecht war in der Folge noch zu konkreti­ sieren, insbesondere hinsichtlich folgender Themen (ausführlich B.IV.1. und B.V.): Welche Tatsachen sind – als Prognosegrundlage – dem Gefahrenurteil zu Grunde zu legen? Kann eine Zugriffsbefugnis auf erworbene (äußere) Güter auch bei geringerer, nicht-existenzbedrohender Not bestehen, etwa bei Gefahr einer nur leichteren Körperverletzung oder gar bei Gefahr der Einbuße bloß äußerer Güter wie Sachei­ gentum oder wirtschaftlichem Vermögen? Ist zur Wahrung von Rechtsgütern der Allgemeinheit ein Notstandszugriff zulässig? Sind solche Allgemeingüter auf der Eingriffsseite einem Notstandszugriff zugänglich? Weiterhin: Was gilt, wenn die Gefahr vom durch die Notstandstat Betroffenen selbst mitgeschaffen wurde. Was bedeutet „Defensivnotstand“? Macht es einen Unterschied, wenn die Notstandslage durch fremden Unrechtswillen herbeigeführt wird und dadurch gerade der Zugriff auf fremde Güter bewirkt werden soll („Nötigungsnotstand“)? 789  Insoweit bleibt die Priorität der Erwerbung in der Zeit von Bedeutung. 790  Die (freiwillige) Notstandshilfe durch Dritte erweitert insoweit die Hand­ lungsmacht des Notleidenden. Eine Hilfspflicht als Rechtspflicht besteht nicht; an­ geborene Materie ist weder ursprünglich mehreren zugeordnet, noch kann sie einsei­ tig erworben werden (was Ersteres voraussetzte), vgl. Fn. 778. § 323c StGB ist als Strafnorm verfehlt; sofern – nicht unzweifelhaft, aber akzeptabel – öffentliches, ethisch hochgradig-verwerfliches Verhalten als Ordnungswidrigkeit betrachtet wird,

480 Gesamtzusammenfassung

3. die äußere Erkennbarkeit des Zugriffswillens in der konkreten Situation und 4. (als vollendendes Merkmal) einen empirischen Zugriff auf die zur Ret­ tung erforderte Sache. Die dem Notrechtserwerb korrespondierende rechtliche Einschränkung des Umfangs der Gebrauchsbefugnis des Eigentümer bzw. Besitzers (Vorer­ werbers) – nämlich dessen Verpflichtung zur Enthaltung des Sachgebrauchs, insoweit dieser dem zur Rettung erforderlichen Zugriff entgegenstünde – wird schon durch den Versuch des Notrechtserwerbs (Voraussetzungen 1. bis 3.) ausgelöst. Mit Vollendung des Noterwerbs-Tatbestandes durch empirischen Zugriff (4.) tritt jedoch erst vollständiger Erwerb ein. Letzteres ist maßgeblich im Verhältnis mehrerer auf die Sache alternativ angewiesener Notleidender: Hier wird der empirisch (räumlich-zeitlich) Erstzugreifende alleiniger (Ret­ tungsgebrauchs-)Berechtigter und zugleich insoweit auch Inhaber eines Verteidigungsrechts betreffend den Sachgebrauch (Notwehr). Vorher ist und bleibt die Anwendung von Gewalt oder Drohung der gleichrangig Noter­ werbsberechtigten untereinander Unrecht. So verwirklicht etwa das Herun­ terstoßen eines Schiffbrüchigen, der sich an eine Planke klammert, die nur einen tragen kann („Brett des Karneades“), Unrecht. Dasselbe gilt, wenn ein Schiffbrüchiger einen anderen auf dem Weg zur bislang noch unbesetzten Planke gewaltsam aufhält, um diese selbst als Erster zu erreichen791 (aus­ führlich B.III.1.b)). Durch den ideell allseitig-notwendigen Staats(mit)begründungsakt wird der Umfang der interpersonalen Notrechte und -pflichten nicht erweitert: Der Inhalt dieses ideellen Aktes ist kein anderer als die Errichtung und Erhaltung des Staates als gewaltengeteilter Institution zur kontinuierlichen Rechtsverwirklichung: Die Aufgabe des Staates ist Durchsetzung und Kon­ kretisierung vorpositiver Zustehensbeziehungen betreffend das äußere Per­ wäre die Norm als solche haltbar (vgl. B.II.2. und Fn. 209, Fn. 423, Fn. 565 und Fn. 612). 791  Der an sich Gebrauchsbefugte (Vorerwerber) hat zwar im Verhältnis zu den bis zum empirischen Zugriff des Ersten zueinander gleichrangigen Erwerbsanwärtern (den Erwerb Versuchenden) einen Gebrauch der Sache insoweit unterlassen, wie der Sachgebrauch die Rettung überhaupt verhinderte. Er kann jedoch – sollte er zur (rechtlich nicht geschuldeten) aktiven Hilfe bereit sein und sollte aufgrund der phy­ sischen Gegebenheiten nur einer der Notleidenden alternativ zum anderen gerettet werden können – wählen, wem er den ersten Zugriff ermöglicht. Dies darf nur durch Annäherung an den Ausgewählten, nicht durch gewaltsame Abwehr des Zugriffs anderer geschehen (weil der zuerst physisch Zugreifende dem an sich Gebrauchsbe­ fugten durch den Zugriffsakt eben kein Unrecht tut; ausführlich zum Ganzen B. II.1.b)).

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sonenverhältnis; gerade darin liegt seine Notwendigkeit. Insofern werden durch die Staatserrichtung nicht etwa beliebig neue Rechtsbeziehungen zwischen den Menschen generiert. Zwar impliziert der Inhalt des allseitigen (ideellen) Aktes der Staats(mit)begründung die Anerkennung einiger – ge­ genüber dem rechtlichen Grundverhältnis zusätzlicher – staatsbürgerlicher Verhaltensnotwendigkeiten: Die primäre staatsbürgerliche Pflicht besteht dabei im Leisten öffentlicher Abgaben (Steuerzahlung) zur Wirklichma­ chung der Rechtsdurchsetzungsinstitutionen (Legislative, Exekutive und Judikative) und Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit792. Gefahrenabwehr ist eine notwendige Staatsaufgabe: Sie stellt sich einerseits unmittelbar als Rechtsverwirklichung dar, näm­ lich sofern im Vollzug befindliche oder bevorstehende Unrechts- oder Rechtsgefährdungshandlungen oder auch Gefahren personaler Rechtssicher­ heit durch Sachzustände abgewendet werden (präventives Vorgehen gegen Verhaltens- oder Zustandsstörer). Weitergehend hat der Rechtsstaat auch die Abwendung von bloßen – keiner Person auch nur im weitesten, gefahren­ abwehrrechtlichen Sinne zurechenbaren – Naturgefahren zu leisten. Deren Auftreten beeinflusst das Rechtsverhältnis insofern (mittelbar), als durch Notstände, welche die Integrität angeborener Güter in nicht unerheblichem Ausmaß gefährden, eben die auflösenden Bedingungen der notwendigen Anerkennung ausschließlicher Sondergebrauchsbefugnisse anderer betref­ fend diejenigen Sachen eintreten, auf deren Gebrauch der Notleidende zur Gefahrabwendung angewiesen ist793.

792  Im

Einzelnen ausführlich A.II.5. und 6. sowie B.II.3.g) und B.III.2. ist die Beauftragung von staatlichen Institutionen mit der Vermeidung oder Abwendung bloßer Naturgefahren aus der Perspektive des Einzelnen – trotz der dafür anfallenden, von den Bürgern durch Steuerzahlungen aufzubringenden Kos­ ten – auch in pragmatischer bzw. ökonomischer Hinsicht sinnvoll. Der Staat ist je­ doch seinem Begriff nach kein schlichtes Wohlmaximierungsinstrument. Das rechtliche Erfordernis der Abwendung bloßer Naturgefahren durch Polizei- und Ord­ nungsbehörden resultiert vielmehr aus der Notwendigkeit, den notstandsrechtlichen Eintritt auflösender Gegenstandszuordnungen im Verhältnis der Menschen (Bürger) zueinander zu verhindern, durch welche der Güterbestand der Bürger (die Folge ihrer Erwerbsleistungen) verstärkt dem Zufall ausgesetzt wäre. Die Einrichtung wirksamer, staatlicher Gefahrenabwehrbehörden bewirkt insoweit eine Erweiterung der Handlungsmacht des Einzelnen gegenüber dem vorstaatlichen Rechtsverhältnis, wie die Entstehung von Notständen im Staat möglichst vermieden wird und dem Bürger die Hilfe des zur Gefahrenabwehr zuständigen Staatsbediensteten bei dessen Anwesenheit oder auf Abruf zusteht: Der Staatsbedienstete (etwa ein Polizist) ist im Rahmen seiner gefahrenabwehrrechtlichen Zuständigkeit garantenpflichtig; diese Sonderpflicht beruht auf der willentlichen Übernahme der Staatsaufgabe; vgl. B.III.2.a)aa). 793  Zwar

482 Gesamtzusammenfassung

Sofern der Staat im sogen. „polizeilichen Notstand“ als Notstandshelfer tätig wird, er also die Gefahrabwendung weder durch die ausschließliche Inanspruchnahme von Verhaltens- oder Zustandsstörern, noch aus eigenen (staatlichen) Mitteln leisten kann, haben auch nicht-gefahrverantwortliche Bürger „Inanspruchnahmen“ zu dulden. Dabei entsprechen jedoch Eingriffsqualität und Umfang solcher Inan­ spruchnahmen von „Nichtstörern“ dem interpersonalen Notstandsrecht: Es ist lediglich der zur Gefahrabwendung erforderliche, staatliche Zugriff auf erworbene Güter der Bürger zulässig. Gefahrenabwehrrechtlich unzulässig sind und bleiben hingegen Nötigungen nicht-gefahrverantwortlicher Staatsbürger zur aktiven Mithilfe bei Gefahrabwendungsmaßnahmen sowie unmittelbare Zugriffe auf deren Körper794. Auch im Sozialstaat795 als Rechtsstaat ist eine Hilfs-Rechtspflicht der Bürger zur Gefahrabwendung ebenso wenig wie eine Pflicht zur Körperge­ währung herleitbar; es gibt keine einseitige Zuordnung der Physis des einen zum anderen oder zum Staat796. Der Bürger ist auch „in einer Rechtsord­ nung, die einen rechtfertigenden Aggressivnotstand anerkennt“ – entgegen Pawlik – gerade nicht „in einem gewissen Umfang … eine wandelnde Hilfsressource für andere“: Eine Rechtsordnung, sofern der Terminus nicht fehlgebraucht sein soll, schließt dies notwendig aus797 (ausführlich B.III.2. und 3.). 794  Positivrechtliche Normen der Inanspruchnahme von Nichtstörern sind dement­ sprechend eng auszulegen. 795  Auch im Rechtsstaat kann es durchaus eine weitergehende, „sozialstaatliche“ Komponente geben: Darunter fällt noch gar nicht die sowieso rechtsstaatliche Auf­ gabe, jedermann seinen Selbststand in der Welt durch die Möglichkeit „kontinuier­ licher Einbindung in den gesellschaftlichen Vermögenserwerb“ (Köhler) ausgehend von den privatrechtlichen Grundbegriffen des ursprünglichen Gesamtbesitz aller an der äußeren Weltmaterie und deren ursprünglicher Teilung durch allseitig-einseitigen Erwerb zu garantieren („Teilhabegerechtigkeit“, vgl. Köhler, Fn. 418). Auch die Zuwendung des Existenzminimums an zum Selbsterhalt nicht Fähige aus – durch öffentliche Abgaben finanzierten – staatlichen Mitteln ist notwendiger Rechtsstaats­ inhalt. Jedenfalls im Wohlstandsstaat, in dem die Gesellschaft also im Mittel relativ reich ist, kann es darüber hinaus rechtlich weitere soziale Absicherungen der Bürger wie Grundvorsorge gegen Unfälle und Krankheit als Weisen der Partizipation am (dadurch) allgemeinen Wohlstand geben („Pflichtversicherungen“ betreffend das bloße Selbstverhältnis sind hingegen nach Grundbegriffen als Rechtspflichten nicht denkbar). Die einer solchen allgemeinen Partizipation am gesellschaftlichen Vermö­ gen korrespondierenden Verbindlichkeiten der Staatsbürger können jedoch ausschließlich erworbene Güter betreffen: Sie sind lediglich aus privatrechtlich erwor­ benen Mitteln durch Leistung öffentlicher Abgaben zu erfüllen; dazu B.III.2.a)cc). 796  Es besteht also – entgegen der nach der hegelschen Rechtsphilosophie entwi­ ckelten Auffassung Michael Pawliks – insbesondere keine „quasi-institutionelle“ Hilfspflicht.

Gesamtzusammenfassung483

Der entwickelte Notstandsrechtsbegriff wurde sodann ins Verhältnis zu den als interpersonale Rechtfertigungsgründe ausgestalteten Normen des deutschen Rechts (§§ 34 StGB, 16 OWiG, §§ 228, 904 BGB) in deren Aus­ legungen durch Rechtsprechung und -literatur gesetzt und abschließend konkretisiert und ergänzt798 (B.IV. und B.V.): Die §§ 228 S. 1, 904 S. 1 BGB normieren in zutreffender Weise die – mit der Grund- und Privatrechtsbegründung einhergehenden – auflösenden Bedingungen von Sondergebrauchsbefugnissen einer Person hinsichtlich einer Sache (im Verhältnis zu allen anderen). Der Rechtfertigungsgrund des § 228 S. 1 BGB fasst dabei kein Notstandsrecht im grundbegrifflichen Sinne: Eine enge Notlage ist keine Vorausset­ zung des Rechtfertigungstatbestands. § 228 S. 1 BGB normiert vielmehr eine – nahezu selbstverständliche – Grenze des Eigentums bzw. jeglicher Privatrechte an abstrakt-gefahrträchtigen Sachen: Eigentum an einer Sache (§ 903 BGB) ist eine relativ-umfassende Zuord­ nung der Sache zu einer bestimmten Person im Verhältnis zu anderen, vom Sachgebrauch dadurch ausgeschlossenen Personen nach einer allgemeinen Regel. Diese Sachzuordnung umfasst nicht die Einwirkung auf den erwor­ benen Güterbestand der anderen799. Sofern eine aufgrund der Beschaffenheit der Sache bestehende abstrakte Gefährlichkeit für die körperliche Integrität oder den Sachgüterbestand anderer Personen als dem Eigentümer / Besitzer in eine durch die Sache konkret „drohende Gefahr“ umschlägt, ist der zur Gefahrabwendung erforderliche Zugriff seitens der anderen erlaubt. Der Rechtfertigungsgrund des § 228 S. 1 BGB ist weit auszulegen, indem das Merkmal des Außer-Verhältnis-Stehens der zur Gefahrabwendung erforder­ lichen Beschädigung der gefahrträchtigen Sache eng gefasst wird800 (B.IV.1.b) und V.2.b)aa)). 797  Die Ableitung solcher Konsequenzen („Hilfsressource“) – aus welchem An­ satz auch immer – entlarvt diesen zwingend als einen objektiv-teleologischen (letzt­ lich unmittelbar-materialen). 798  Vgl. Fn. 788. Der kasuistische Teil (B.V.) dient – neben der Begriffskonkreti­ sierung – dem Test der praktischen Leistungsfähigkeit des entwickelten Notrechts­ begriffs. Dieser erweist sich dabei selbst in Detailfragen als leitend. 799  So bedeutet beispielsweise Privateigentum hinsichtlich einer Maschine das Innehaben der diesbezüglich (relativ zu anderen) umfassendsten Gebrauchsbefugnis. Das schließt jedoch die Anerkennung eines absoluten Zustehens der Sache im Sinne einer völligen Unantastbarkeit auch dann noch, wenn deren Wirkung zu einem Ver­ lust der rechtlichen Habe eines anderen führen würde (die Maschine droht zu explo­ dieren) gar nicht ein. 800  Ein den Sachzugriff ausschließendes Außer-Verhältnis-Stehen des zur Gefahr­ abwendung anzurichtenden Schadens kann nur bejaht werden, wenn lediglich die Gefahr der Beschädigung von einfach zu ersetzenden Sachgütern ohne wesentliche

484 Gesamtzusammenfassung

In Abgrenzung zum Inhalt des § 228 BGB normieren §§ 904 BGB, 34 StGB echte Notstandsrechte. § 904 S. 1 BGB ist die gegenüber § 34 StGB speziellere Norm, was den notstandsrechtlichen Zugriff auf Sachen angeht. Ihr Inhalt ist nicht zu bean­ standen801 bzw. sogar insoweit grundbegrifflich geboten, wie er sich aus dem dargelegten Notstandsrechtsbegriff ergibt: Demnach ist ein „drohender Schaden“ für Leib und Leben einer Person, der deren Selbständigkeit einschränken würde, stets als unverhältnismäßig groß im Vergleich mit dem einem „Eigentümer entstehenden Schaden“ an Sachen zu beurteilen. Sofern unmittelbar bloß eine Gefahr eines Sachunter­ gangs bzw. -verlusts besteht, der Sacheigentümer jedoch zur Bewahrung seiner Körperintegrität auf die gefährdete Sache angewiesen ist, sodass mittelbar also auch die Körperintegrität in der Gefahr einer Beeinträchti­ gung ist, gilt dasselbe. Eigentum ist kein notwendiges „Erhaltungsgut“; das rechtsgrundbegriff­ lich vorgegebene Notstandsrecht setzt eine Gefahrenlage für angeborene Güter voraus (siehe oben). Der Gesetzgeber hat bezüglich der Aufnahme von Eigentum als notstandsrechtlichem „Erhaltungsgut“ jedoch ein – grundbzw. verfassungsrechtlich legitimes – Ermessen, sodass es an sich nicht zu beanstanden ist, dass §§ 904 S. 1 BGB, 34 StGB ein Notstandsrecht auch bei Vorliegen einer Gefahr für das Eigentum vorsehen. Insoweit müssen die Normen jedoch eng ausgelegt werden: Gerechtfertigt sein kann insoweit nur eine Beschädigung / Zerstörung einer fremden Sache, wenn diese für ihren Eigentümer ohne weiteres ersetzlich und von bloß geringer Bedeutung für dessen Handlungskonzept ist und sofern der Zugriff erforderlich ist zur Rettung eine Sache mit großer Bedeutung für das Handlungskonzept des anderen Eigentümers. Das Verhältnis der Marktwerte der Sachen hat inso­ weit höchstens mittelbare Bedeutung. Die in § 904 S. 2 BGB genannte, verschuldensunabhängige Wertersatzfol­ ge ist notwendig: Der Erwerb des Eigentümers als seine Leistung bzw. sein Vermögen bleibt dadurch insofern beachtet, als ihm – neben seiner vorran­ gigen Gebrauchsbefugnis bei eigener Angewiesenheit auf die Sache zur Bewahrung seiner Körperintegrität – der wirtschaftliche Wert seiner Leis­ tung bleibt802 (zum Ganzen B.IV.1.c) und B.V.1.). Bedeutung für das Handlungskonzept des jeweiligen Rechtsinhabers droht und diese nur durch Beschädigung einer Sache mit enormer Bedeutung für das Handlungsbzw. Lebenskonzept des Eigentümers abgewendet werden könnte. Dem Marktwert der jeweiligen Sache kommt dabei lediglich mittelbare Bedeutung zu. 801  Abgesehen von einer geringen Unsauberkeit in der Formulierung; vgl. Fn. 378. 802  Der Vorschlag etwa Pawliks, der Staat bzw. die Allgemeinheit müsse (de lege ferenda) – quasi in Form einer gesetzlichen Ausfallbürgschaft – dem von der recht­

Gesamtzusammenfassung485

§ 34 StGB muss dem dargelegten Begriff entsprechend restriktiv interpre­ tiert werden. Die Normformulierung ist in ihrer „Abwägungs“-Terminologie missglückt und unmittelbar maßstabslos; die gebotene restriktive Interpreta­ tion ist jedoch schon aufgrund der unbestimmten Normformulierung mög­ lich: Der entwickelte notstandsrechtliche Grundbegriff stellt als notwendig anzuerkennende „Erhaltungsgüter“ lediglich angeborene Güter vor. Darunter fallen auch Gefährdungen unbestimmt vieler angeborener Güter, etwa durch schwere Straßenverkehrsordnungsverstöße803 oder Brände. Es liegt jedoch im gesetzgeberischen Ermessen, auch Eigentum als Erhaltungsgut in engen Grenzen aufzunehmen (dazu oben). Nicht unmittelbar804 als Erhaltungsgüter notstandsfähig sind hingegen überindividuelle – durch Staatserrichtung erschaffene – Rechtsgüter, also beispielsweise die staatliche Rechtspflege als solche (angegriffen etwa durch Delikte nach §§ 153 ff., 257, 258 StGB) oder die Richtigkeit bzw. Sachlich­ keit und Neutralität des Staatshandelns selbst (Rechtsdurchsetzung; ange­ griffen etwa durch Delikte nach §§ 331 ff. StGB). Was die Eingriffsseite – also die einem notstandsrechtlichen Zugriff po­ tentiell zugänglichen Güter – angeht, so ist § 34 StGB zu weit formuliert805: Es wird jedenfalls durch den Wortlaut der Norm keine notstandsbedingte Tat einer Rechtfertigung strikt entzogen. Die ganz überwiegende Ansicht in Literatur und Rechtsprechung generiert richtigerweise per Normauslegung gewisse absolute notstandsrechtliche Unverfügbarkeiten. Solange Grund, Inhalt und damit eben Grenze eines Notstandsrechts jedoch im Unklaren liegen und anstatt dessen etwa eine „Gesamtabwägung von Interessen“ bzw. der „Vorzug eines höherwertigen Interesses“ als ein elementarer Rechts­ grundsatz betrachtet wird806, erscheinen solche Unverfügbarkeitsannahmen mäßigen Notstandstat Betroffenen die finanzielle Entschädigung garantieren, ist sehr erwägenswert. 803  Hierbei ist die „Verkehrssicherheit“ nicht etwa ein überindividuelles Rechts­ gut, sondern sie ist die Sicherheit unbestimmt vieler Individualrechtsgüter. 804  Eine Notstandstat, die diesbezüglich bestehende Gefahren abwendet, kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn bei Verletzung des überindividuellen Gutes – als Folge – angeborene Güter betroffen würden (vgl. B.IV.1.a)aa)). 805  Den nahezu gleichlautenden § 16 OWiG trifft diese Kritik in wesentlich ge­ ringerem Ausmaß, weil diese Norm sich nach ihrer systematischen Stellung im Gesamtsystem nur auf Ordnungsnormverstöße beziehen soll. Diesbezüglich ist eine Notstandsrechtfertigung grundbegrifflich möglich (dazu im Folgenden). 806  Etwa Lenckner, Notstand, S. 83  ff. Roxin will in diesen „Rechtssatz“ auch noch „das Autonomieprinzip“ als „bedeutenden Abwägungsgesichtspunkt“ hinein­ mengen (AT I, § 16, Rn. 3). Was immer das heißen soll: Hätte ein Terminus wie „das Autonomieprinzip“ vorher einen rechtsbegrifflich nachvollziehbaren Inhalt ge­

486 Gesamtzusammenfassung

tatsächlich als die Wirkungen eines „Schusses irrationaler Erwägungen“ (Perron)807. Der entwickelte notstandsrechtliche Grundbegriff stellt demgegenüber die strikte Grenze jedes zulässigen Notstandszugriffs mit Notwendigkeit dar: Weder ein zwangsweiser Körperzugriff (etwa eine Blutentnahme ohne Ein­ willigung) noch eine Nötigung eines nicht in einer rechtlichen Sonderver­ bindung zum Notleidenden stehenden anderen zu einer Hilfeleistung (etwa zu einer Blutabgabe) sind rechtlich-möglich: Die jeweils einzusetzende (Köper-)Materie kann gemäß der Weise der Konstruktion des Rechtsbegriffs ausschließlich einer Person zugeordnet sein; diese Zuordnung kann nicht auf den Eintritt zufälliger Umstände auflösend bedingt sein (zur Eingriffs­ seite des § 34 StGB ausführlich B.IV.1.a)cc) und B.V.2.a))808. Ebenfalls nicht durch Notstand gerechtfertigt sein können ehrbetreffende Einwirkungen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht (etwa Verleumdun­ gen nach § 187 StGB). Das dadurch betroffene Individualrechtsgut ist im Ausgangspunkt ein angeborenes und nicht bloß ein erworbenes Gut (B.V.2.a)). Was Ordnungsnormverstöße bzw. dadurch bewirkte konkrete oder abs­ trakte Körpergefährdungen auf der Eingriffsseite – beurteilt nach § 16 OWiG bzw. § 34 StGB – angeht, so gilt: Ordnungsnormverstöße, etwa Eingriffe in die Straßenverkehrssicherheit, sind nur zulässig, sofern sie zur Abwendung schwerer körperlicher Beeinträchtigungen (nicht zur Rettung bloßer Sachgüter) erforderlich sind und sofern sie im Hinblick auf Gefähr­ dungen angeborener Güter anderer gänzlich abstrakt bzw. konkret folgenlos bleiben. Bei Ordnungsvorschriften, etwa Straßenverkehrsordnungsnormen, handelt es sich um allgemeine Raumnutzungsaufteilungen und damit um habt, so ginge dieser jedenfalls beim Wurf in den beliebig durchrührbaren Topf der Abwägungen über Bord. 807  Auch kann der Umfang (absoluter) Unverfügbarkeiten, etwa was die Frage der Zulässigkeit von Nötigungen zu aktiven Hilfeleistungen bzw. von sonstigen Wil­ lens- oder Körperzugriffen wie zwangs- oder gewaltsamen Blutentnahmen angeht, unmöglich bestimmt werden, wenn man auf „außerrechtliche Wertungen“ wie die „in der Gemeinschaft herrschenden Kulturanschauungen“ (Perron), „symbolische Gehalte an Entfaltungschancen“ (Jakobs) oder einen „durch die gesellschaftliche Überhöhung natürlicher Tatsachen“ begründeten „symbolischen Freiheitswert“ (Pawlik) abstellt: Das alles geht am Thema vorbei, weil hier gerade keine Kulturan­ schauungen oder beliebige Symboliken interessieren, sondern eben nur Rechtsgrün­ de (dazu B.IV.1.a)cc)). 808  Eine allgemeine Hilfspflicht als Rechtspflicht (dem Notleidenden gegenüber) besteht nicht, denn es ist weder ein ursprüngliches Zustehen, noch ein ursprüngli­ cher (einseitiger) Erwerb der Willkür einer Person durch eine andere denk- bzw. konstruierbar (siehe oben). Die Existenz des § 323c StGB, dessen Tatbestand mate­ riell lediglich Ordnungsunrecht fasst, ändert daran nichts (vgl. Fn. 790).

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abstrakte Handlungsbereichsabgrenzungen809. Der einem Verkehrsteilnehmer in seiner jeweiligen Handlungsposition durch die einschlägige Verkehrsord­ nung zugeordnete Raum oder Boden ist ein erwerbliches Gut und steht somit einem Notstandszugriff an sich offen. Dementsprechend sind schon in den Verkehrsordnungen besondere Regeln zur Ermöglichung von Reaktio­ nen auf veränderte Umstände vorgesehen (etwa §§ 1, 36 ff., 38 Abs. 1 S. 2 StVO). Wenn und soweit andere Verkehrsteilnehmer jedoch die Erforder­ lichkeit einer notbedingten veränderten Raumnutzung – beispielsweise einer Geschwindigkeitsüberschreitung oder eines Rotlichtverstoßes als konkret erforderliche Mittel eines Bürgers, einen Schwerverletzten ins rettende Krankenhaus zu bringen – mangels eines allgemeinverständlichen und wahrnehmbaren Zeichens (z. B. Blaulicht, Einsatzhorn) nicht erkennen können, stellt die Überschreitung von öffentlichen Ordnungsnormen eine bloßsubjektiv gesetzte konkrete Neuordnung dar. Weil jeglicher Zugriff auf den Körper oder den Willen eines anderen rechtlich nur bodenvermittelt bzw. sachgebrauchserwerbsvermittelt möglich ist810 und durch nicht allgemeinerkennbare, notstandsbedingte Ordnungsnormverstöße keine interpersonalbindende, neue – an die Notumstände angepasste – Raumnutzungsverteilung herbeigeführt werden kann, wird das äußere Zustehensverhältnis des Notlei­ denden bzw. des Notstandshelfers zu den anderen Verkehrsteilnehmern also jedenfalls unzulässig überschritten, sobald andere Verkehrsteilnehmer wegen der Ordnungsnormübertretung in konkrete Kollisionsgefahr (konkrete Ge­ fahr für Leib oder Leben) geraten. Nach § 16 OWiG gerechtfertigt ist also nur diejenige notstandsbedingte, abstrakte Ordnungsnormverletzung, auf die sich alle potentiell Anwesenden anderen – sei es wegen deutlicher Erkennbarkeit des abstrakten Ordnungs­ verstoßes, sei es wegen besonderer Vorsicht des Notstandstäters – permanent einstellen können (dazu B.IV.1.a)cc) und B.V.2.c))811. Hinsichtlich notstandsbedingter Eingriffe in echte überindividuelle – also staatliche bzw. durch Staatserrichtung ihrem Inhalt nach erst erschaffene – Rechtsgüter gilt: Nicht durch Notstand gerechtfertigt sind solche Tatbe­ standsverwirklichungen, die eine direkte Verkehrung von Rechtsdurchsetzungsbemühungen darstellen. Das sind Verwirklichungen der Tatbestände 809  Ordnungsnormen sind Konkretisierungen des allgemeinen Rechtsgebots der Beschränkung aller äußeren Handlungsmöglichkeit auf die Zusammenstimmung mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Zustehensgesetz. 810  Indem also zunächst die Sache notstandsrechtlich im zur Gefahrabwendung erforderlichen Gebrauch erworben und dieses Recht dann ggf. zwangsweise durch­ gesetzt wird. 811  Mit Beispielen auch zu Fragen ggf. fehlender objektiver Zurechenbarkeit von durch die Notstandstat geschaffenen konkreten Gefahren bei diesbezüglich grobem Fehlverhalten anderer.

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der §§ 153 ff. StGB812, 258a StGB, 331 ff. StGB, 339 StGB813. Hingegen ist etwa die Verwirklichung der Tatbestände der §§ 257, 258 StGB und ggf. auch des § 120 Abs. 1, Abs. 2 StGB einer Notstandsrechtfertigung nach § 34 StGB zugänglich (im Einzelnen B.V.2.e) und B.V.4.). Der Begriff der „Gefahr“ als objektives Erlaubnistatbestandsmerkmal der positiven Notstandsnormen bezeichnet ein Prognoseurteil. Der Wortlaut ist insofern missverständlich, als der objektive Notstandsrechtfertigungstatbe­ stand nicht voraussetzt, dass eine Person ein solches Prognoseurteil in der Handlungssituation gefällt haben müsste; maßgeblich ist vielmehr der Ein­ tritt tatsächlicher Umstände, die objektiv-gültig als eine Gefahrenlage zu bestimmen sind. Ein objektiv gültiges Gefahrenurteil beruht auf der realen Faktenlage (Gefahrenlage). Kenntnis der Faktenlage schon im potentiellen Handlungszeitpunkt ist hingegen nicht vorausgesetzt, um objektiv-gültig auf das Vor­ liegen einer Gefahr zu einem bestimmten Zeitpunkt – wenn auch ggf. erst ex post – zu urteilen814. Ein inhaltlich unzutreffendes – und sei es konkret unvermeidbares – Ge­ fahrenurteil begründet also keine wirkliche „Gefahr“ und kann auch die Konsequenz des Vorliegens einer objektiven Notstandslage – die Verände­ rung der konkreten Gegenstandszuordnung bzw. des Umfangs von Ge­ brauchsbefugnissen an Sachen – nicht bewirken815 (ausführlich B.IV.1.a) bb)). 812  Das notstandsbedingte bloße Verweigern einer Zeugenaussage kann hingegen gerechtfertigt und dementsprechend als „gesetzlicher Grund“ im Sinne von § 70 Abs. 1 StPO anzuerkennen sein. 813  Das gilt jedenfalls, sofern diese Taten heimlich begangen werden, was anders kaum vorstellbar sein dürfte. 814  Eine Gefahr kann auch dann bestehen und sich realisieren, wenn bis zu dieser Realisierung niemandem die Tatsachen bekannt waren, die die Gefahrenlage darstel­ len. Umgekehrt gilt – entgegen der überwiegend vertretenen ex-ante Bestimmung – dasselbe: Auch wenn alle in einer bestimmten Situation anwesenden Akteure nach den ihnen bekannten tatsächlichen Umständen auf das Vorliegen einer Gefahr bzw. einer Gefahrenlage urteilen, kann es an einer solchen tatsächlich fehlen. 815  Das Vorliegen einer „Gefahr“ objektiv ex ante zu bestimmen ist nur dann akzeptabel, wenn ein Staatsbediensteter in seiner Funktion als solcher – also im Rahmen seiner Zuständigkeit zur Rechtsdurchsetzung als Staat – handelt. Dessen – bestenfalls aus professionalisierter Perspektive getroffenes, inhaltlich jedoch ggf. unzutreffendes – Gefahrenurteil kann deshalb für ein objektiv verbindliches Gefah­ renurteil gehalten werden, weil der Staatsbedienstete, gerade sofern er als Staat zur Rechtsdurchsetzung handelt, die Allgemeinheit der Idee nach repräsentiert („An­ scheinsgefahr“ als echte Gefahr im öffentlichen Recht, vgl. Fn. 397 und Fn. 446). Hier liegt eine Differenz gegenüber dem Verhältnis des einen Bürgers zum anderen Bürger.

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Der notstandsrechtliche Zugriff auf Sachen anderer wird durch eine Mitwirkung des Gefährdeten an der Entstehung der Gefahrenlage nicht ausge­ schlossen: Ein Notstandsrecht besteht sowohl bei (unvorhergesehenem) Außer-Kontrolle-Geraten einer zunächst – ohne Rechtsverletzung – bewusst eingegangenen Selbstgefährdung bzw. eines bewussten Sich-in-Gefahr-Be­ gebens, als auch bei fahrlässiger Herbeiführung einer konkreten Gefahrenlage seitens des dadurch Gefährdeten. Anders ist dies hingegen bei rechtswidriger Herbeiführung einer – in der Folge naturkausal ablaufenden – Gefahrenentstehung (Tiergefahrauslösung, Brandgefahrschaffung etc.) durch einen auch in Ansehung aller Folgen – inklusive der eigenen künftigen Notstandshandlung – vorsätzlich Handelnden: Sofern dieser solche rechtswidrig selbstgesetzten Gefahren ausschließlich zugunsten seiner Person abwendet, handelt er rechtswidrig (ausführlich mit Fallbeurteilungen B.V.2.b)cc))816. Abschließend war zu klären, ob der dargelegte Notstandsrechtsbegriff auf der Eingriffsseite durch einen Begriff des „Defensivnotstands“ zu erweitern ist, nach welchem unter besonderen Voraussetzungen auch notstandsrecht­ liche Zugriffe auf angeborene Güter möglich sein können. Andererseits war auf Basis des dargelegten Standpunkts Stellung zu beziehen zur umstrittenen Frage einer Verengung des Notrechts durch Ausnahme solcher Gefahrentste­ hungen, die durch Unrechtshandeln eines Dritten (Hintermannes) entstehen (sogen. „Nötigungsnotstand“): Der Begriff des Defensivnotstands fasst ein Notstandsrecht im Sinne einer allgemeingültigen Regel der interpersonalen Raumverteilung. Defensivnot­ stands-Konstellationen sind nur solche, in welchen jemand auf angeborene Güter eines anderen einzuwirken droht, ohne dass (einerseits) diese Einwir­ kung auf rechtswidrigem Verhalten beruht817, jedoch (andererseits) auch ohne dass die dargelegten Noterwerbsvoraussetzungen hinsichtlich des konkreten Geschehensortes im Raum vorliegen. Stets steht also die rechtli­ che Raumverteilungsregelung bei konkret nur alternativ möglicher Beset­ zung desselben Ortes im Raum (innerhalb derselben Zeit) bei bevorstehen­ der dortiger Kollision mehrerer Körper in Frage. Der Zweitbesetzer wird deshalb zur Gefahr für den Erstbesetzer, weil letzterer den Raum – jedenfalls 816  Dort auch zur Abgrenzung einer echten actio illicita in causa bei Auslösung bloßer Naturverläufe von der sogen. „Absichtsprovokation“. 817  Soweit unter dem Begriff des Defensivnotstands in Teilen der Literatur dem­ gegenüber ein in zeitlicher Hinsicht ausgedehnter Rechtfertigungsgrund aus Un­ rechtsverantwortung („präventive Notwehr“) verstanden wird, dürfte der Begriff als Rechtfertigungsgrund – bezogen auf das Verhältnis der Bürger untereinander – über­ flüssig sein und keinen eigenständigen Platz im System der Rechtfertigungsgründe haben (ausführlich mit Fallbeurteilungen B.V.3.a)).

490 Gesamtzusammenfassung

relativ zum erstgenannten – rechtlich zum Gebrauch erworben hat und in Bezug auf den Zweitbesetzer die Kriterien eines notstandsrechtlichen (Be­ sitz-)Erwerbs des Bodens bzw. Ortes im Raum nicht vorliegen: Der Ort im Raum bleibt dann rechtlich ausschließlich dem Erstbesetzer zugeordnet, so dass er den dort also nicht hingehörenden anderen rechtlich zurückhalten kann (mit erforderlichenfalls sogar tödlicher Wirkung auf diesen818; ausführ­ lich mit Fallbeurteilungen B.V.3.). Nötigungsnotstandstaten, die nach dem dargelegten Rechts- und Not­ rechtsgrund rechtlich von vornherein keine Zugriffe auf angeborene Güter enthalten können (siehe oben), sind nicht schon wegen des besonderen Gefahrenursprungs rechtswidrig. In verengender Ergänzung zum dargeleg­ ten Notrechtsbegriff gilt jedoch: Rechtswidrig sind als spezielle DrohungNotstandskonstellation solche abgenötigten Taten, die nicht nur auf eine seitens des Nötigenden beliebig gesetzte Gefahr reagieren, sondern die auch als potentielle Gefahrabwendungshandlungen nochmals rein dem Belieben des Nötigers entspringen, ohne dass der Umfang der Abwendungshandlun­ gen zumindest auch durch die zeitlich-räumlichen Umstände der Gefahren­ situation bestimmbar und damit eingrenzbar ist. Das ist jedenfalls in solchen Nötigungslagen der Fall, die etwa von einem Geiselnehmer ausgehen, der von einem anderen Ort als dem Ort der Notstandstat aus agiert (droht), wenn das angekündigte Übel nicht am Ort der Notstandstat eintreten soll819. Die Idee der vereinigten Willkür derer, die gegeneinander in einem Rechts­ verhältnis über ein äußeres Objekt des Besitzes stehen, schließt es aus, die Definition auflösender Bedingungen rechtlicher Sachzuordnungen aus­ schließlich der Forderung eines rechtswidrig Drohenden zu überlassen (ausführlich mit Fallbeurteilungen B.V.4.)820. 818  Der Abschuss einer gekaperten Passagiermaschine über unbewohntem Gebiet als erforderliches Mittel zur Abwendung von Lebensgefahren für andere Menschen, die sich am voraussichtlichen Absturzort aufhalten, dürfte demnach im Verhältnis zu den entführten Passagieren defensivnotstandsrechtlich zulässig sein. Andererseits fallen bestimmte, in Teilen der Literatur für gerechtfertigt gehaltene Taten nicht unter den dargelegten Defensivnotstandsbegriff, sodass insoweit Rechtfertigung aus­ scheidet (etwa die Verletzung einer als „Schutzschild“ missbrauchten Person; die Tötung des Abgestürzten im bekannten „Bergsteiger-Fall“; siehe B.V.3.b)). 819  Die zur Rechtfertigung der Notstandstat erforderte Voraussetzung der räumli­ chen Anwesenheit des Nötigers am Notstandstatort begrenzt einerseits den Umfang seiner möglichen Willkürerweiterung (durch den genötigten Tatmittler), andererseits sind unter dieser Voraussetzung die Gefahrabwendungschancen betreffend ein Vor­ gehen gegen den Nötiger selbst um die jeweiligen Eingriffsmöglichkeiten der von den Notstandstaten Betroffenen anderen erweitert bzw. erhöht. Die Nötigungsnot­ standslage hat dann auch für den von der Notstandshandlung Betroffenen, sofern er anwesend ist, eine erkennbare (auch-räumliche) Dimension. Dadurch wird ein ge­ wisser „innerer Rettungszusammenhang“ (Kelker) hergestellt.

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Insgesamt konnte der Notstandsrechtsbegriff in seinem Inhalt und zu­ gleich seiner festen Grenze als notwendiges Element eines vernunftgemäß zu konstruierenden Gesamtrechtssystems ausgewiesen werden. Das grund­ begrifflich bestimmte und begrenzte821 Notstandsrecht stellt weder eine „Ausnahme“ im oder vom Recht (Pawlik, Küper) dar, noch beruht es auf „Solidarität“822 oder tritt als ein „Stück Kommunismus“ (v. Alberti) auf. Sein Grund ist der auch allem Privatbesitz zu Grunde liegende (ideelle) Gemeinbesitz der äußeren Weltmaterie; diesbezüglich mag es als Ausdruck von Teilhabegerechtigkeit bezeichnet werden.

820  Was Nötigungen von Amtsträgern zu Zugriffen auf staatliche Rechtsgüter angeht, so ergab sich eine entsprechende Lösung (die jedoch nicht unmittelbar aus dem erwerbsrechtlichen Notstandsbegriff zu entwickeln war, weil hier eben nicht das interpersonale Sachzuordnungsverhältnis betroffen ist): Wenn nicht nur die Ge­ fahrenlage, sondern auch der Umfang der (etwaig-tauglichen) Abwendungsmittel nicht auch durch die und in der räumlichen Situation bestimmbar ist, sondern ausschließlich vom Belieben des Nötigers abhängt, weil der Nötiger nicht am Tatort der Notstandstat anwesend ist und das angekündigte Übel auch an einem anderen Ort als dem Ort der Notstandshandlung eintreten würde, dann dürfte es an interpersonalakzeptablen (eingrenzbaren) Definitionskriterien fehlen, was die Bestimmung von Rechtfertigungslagen und damit zugleich von Verbotsnormen angeht. Aus diesem Grund kann etwa eine Gefangenenbefreiung im Sinne des § 120 Abs. 1, Abs. 2 StGB gerechtfertigt sein, wenn es sich beim Befreiten um den sich einer anderen Person als Druckmittel bemächtigenden, mit Tötung drohenden Nötiger handelt, nicht hin­ gegen, wenn Entführer von unbekanntem Ort aus Amtsträger zur Befreiung anderer nötigen (Lorenz-Fall; Schleyer-Fall; ausführlich B.V.4.). 821  Wer ein strikt begrenztes Notstandsrecht anerkennt, der zeigt dadurch einen Einfluss des vom reinen Pflichtbegriff anhebenden Ansatzes und sollte dann auch dessen Konsequenzen ziehen: Wer glaubt, beim Bilden normativer Urteile nach dem nicht-unmittelbar-materialen Ansatz zu verfahren, kann ebenso wenig zur Annahme von ursprünglichen Körpergewährungspflichten wie zur Annahme allgemeiner Rechtspflichten zu aktiven Hilfeleistungen gelangen. Und damit gilt (umgekehrt): Wer Körpergewährungen oder aktive Hilfspflichten als Notstandsrechtspflichten be­ jaht, der urteilt – jedenfalls insoweit – nach unmittelbar-materialem Ansatz. 822  Eine Solidaritätspflicht ist als Rechtspflicht inexistent (ein „hölzernes Eisen“, Denninger). Sofern der Terminus im Rahmen eines rechtlichen Diskurses auftaucht, steckt dahinter entweder eine rechtsgrundbegrifflich nicht haltbare, letztlich utilita­ ristische Gesellschaftsvorstellung oder ein ggf. haltbarer Gedanke, der sich dann jedoch präziser anders beschreiben lassen muss. Soll der Inhalt hinter dem Wort „Solidarität“ nicht von jedem einsichtigen ethischen Gehalt befreit, das Wort in diesem Sinne entwertet und zur Verständigung untauglich gemacht werden, dann sollte es in einem ernsten Diskurs über Rechtsfragen beiseitegelassen werden.

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494 Literaturverzeichnis – Buchbesprechung zu „Pflichten gegen sich selbst in Kants Metaphysik der Sit­ ten“ von V.D. Casas, Kant-Studien 92, 232 ff. [zitiert: Geismann, Kant-Studien 92. S.] Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“, Darmstadt 1995 [zitiert: Gerhardt, Kants Entwurf, S.] Gropp, Walter: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auflage 2005 [zitiert: Gropp, AT, S.] – Der Radartechniker-Fall – ein durch Menschen ausgelöster Defensivnotstand?, GA 2006, S. 284 ff. [zitiert: Gropp, GA 2006, S.] Günther, Hans-Ludwig: Defensivnotstand und Tötungsrecht, in: Festschrift für Knut Amelung, 2009 [zitiert: Günther, FS-Amelung, S.] Haensel, Werner: Kants Lehre vom Widerstandsrecht. Ein Beitrag zur Systematik der kantischen Rechtsphilosophie, Berlin 1926 [zitiert: Haensel, S.] Hammacher, Emil: Der Charakter der Notstandshandlung vom rechtsphilosophischen und legislativen Standpunkte, Leipzig 1907 [zitiert: Hammacher, Notstandshand­ lung, S.] Hardtung, Bernhard: Die Körperverletzungsdelikte, JuS 2008, 864 ff. [zitiert: Hardtung, JuS, S.] Harzer, Regina: Die tatbestandsmäßige Situation der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB [zitiert: Harzer, Unterlassene Hilfeleistung, S.] Heesen, Dietrich / Hönle, Jürgen / Peilert, Andreas: Kommentar zum Bundesgrenz­ schutzgesetz, 4. Auflage 2002 [zitiert: Heesen / Hönle / Peilert, BGSG-Kommentar, §§, Rn.] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Na­ turrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1821 [zitiert: Hegel, Grundlinien, §§] Hegler, August: Die Merkmale des Verbrechens, ZStW 36 (1915), 19 ff. [zitiert: Hegler, ZStW 36 (1915), S.] Heimsoeth, Heinz: Persönlichkeitsbewusstsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie, in: Heimsoeth, Gesammelte Aufsätze, S. 227 ff. [zitiert: Heimsoeth, Persönlichkeitsbewusstsein, S.] Helmers, Gunnar: Zum Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe (§ 211 Abs. 2 StGB), HRRS 02 / 2016, S. 90 ff. [zitiert: Helmers, HRRS 02 / 2016, S.] – Zum Tatbestand der Geldwäsche (§ 261 StGB): Beispiel einer rechtsprinzipiell verfehlten Strafgesetzgebung, ZStW 121 (2009), S. 509  ff. [zitiert: Helmers, ZStW 2009, S.] Henkel, Heinrich: Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, Mün­ chen 1932 [zitiert: Henkel, S.] Herb, Karlfriedrich / Ludwig, Bernd: Naturzustand, Eigentum und Staat, Kant-Studien 84 (1993), 283 ff. [zitiert: Herb / Ludwig, Kant-Studien 84, S.] Herzberg, Rolf Dietrich: Die Differenz zwischen Handeln und Unterlassen im Straf­ recht, in: Festschrift für Klaus F. Röhl, 2003, S. 270 ff. [zitiert: Herzberg, FSRöhl, S.]

Literaturverzeichnis495 Hirsch, Hans-Joachim: Anmerkung zu BGH, Urteil vom 15.05.1979, 1 StR 74 / 79, JR 1980, 115 [zitiert: Hirsch, JR 1980, 115.] Hobbes, Thomas: De cive, Paris 1642 / 1647 [Hobbes, De cive, S.; Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Meiner-Verlages] – Leviathan, Paris / London 1651 [Hobbes, Leviathan, S.; Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Meiner-Verlages] – De corpore, London 1655 [Hobbes, De corpore, S.; Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Meiner-Verlages] – De homine, London 1658 [Hobbes, De homine, S.; Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Meiner-Verlages] Höffe, Otfried: Medizin ohne Ethik, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2003 [zitiert: Höffe, Medizin ohne Ethik, S.] Hold-Ferneck, Alexander von: Die Rechtswidrigkeit. Eine Untersuchung zu den allgemeinen Lehrendes Strafrechts. Band I: Der Begriff der Rechtswidrigkeit, Jena 1903 und Band II: Notstand und Notwehr, Jenna 1905 [zitiert: Hold von Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd., S.] Hornmann, Gerhard: Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG), Kommentar, 2. Auflage 2008 [zitiert: Hornmann, HSOG-Kommentar, §§, Rn.] Hruschka, Joachim: Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, in: Festschrift für Eduard Dreher, Berlin 1977, S. 189 ff. [zitiert: Hruschka, FS-Dreher, S.] – Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Auflage, Berlin 1988. [zitiert: Hruschka, Strafrecht, S.] – Rechtfertigung oder Entschuldigung im Defensivnotstand?, NJW 1980, 21 [zi­ tiert: Hruschka, NJW 1980, S.] Hume, David: A Treatise of Human Nature (Traktat über die menschliche Natur), London 1739 / 1740 [zitiert: Hume, Menschliche Natur, Buch, Teil, Abschnitt; Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Verlages von Leopold Voss, 1906] Isensee, Josef: Leben gegen Leben – Das grundrechtliche Dilemma des Terroran­ griffs mit gekapertem Passagierflugzeug, in: Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag, 2007, S. 205 ff. [zitiert: Isensee, FS-Jakobs, S.] Jakobs, Günther: Strafrecht, Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurech­ nungslehre, 2. Auflage, Berlin 1991 [zitiert: Jakobs, AT, Abschnitt, Rn.] Janka, Karl: Der strafrechtliche Notstand, Erlangen 1878 [zitiert: Janka, Notstand, S.] Jescheck, Hans-Heinrich / Weigend, Thomas: Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1995 [zitiert: Jescheck / Weigend, AT, §§, Rn.] Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissen­ schaft wird auftreten können, Königsberg 1783 [zitiert: Kant, Prol., § (etwaige Seitenangabe nach der Akademie-Ausgabe)]

496 Literaturverzeichnis – Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Königsberg 1787 [zitiert: Kant, KrV, Teil, Abteil., Buch, Abschnitt, ggf. Seite (etwaige Seitenangabe nach der AkademieAusgabe)] – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Königsberg 1785 [zitiert: Kant, GMS, Abschnitt, Seite (Seitenangabe nach der Akademie-Ausgabe)] – Kritik der praktischen Vernunft, Königsberg 1788 [zitiert: Kant, KpV, Teil, Buch, Hauptstck. §§ oder Abschnitt (etwaige Seitenangabe nach der Akademie-Ausga­ be)] – Kritik der Urteilskraft, Königsberg 1790 [zitiert: Kant, KU, §§ oder S. (Seitenan­ gabe nach der Akademie-Ausgabe)] – Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, Königsberg 1791 [zitiert: Kant, Fortschritte, S. (nach AA XX)] – Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Königsberg 1793 [zitiert: Kant, Theorie und Praxis, S. (nach AA VIII)] – Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1793 [zitiert: Kant, Religion, S. (nach AA VI)] – Zum ewigen Frieden, Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795 [zitiert: Kant, Zum ewigen Frieden, S. (nach AA VIII)] – Die Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797 [zitiert: Kant, MdS, Teil, Abschnitt bzw. §§, S. (Seitenangabe nach der Akademie-Ausgabe)] – Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, Königsberg 1800 [zitiert: Kant, Logik, Abschnitt bzw. §§ oder S. (Seitenangaben nach AA IX)] – Handschriftlicher Nachlass, Opus postumum – Akademie-Ausgabe XXI bzw. XXII sowie Vorarbeiten und Nachträge, AA XXIII [zitiert: Kant, Opus post. (bzw. Vorarbeiten), Band, S.] – Reflexionen zur Metaphysik, abgedruckt in zwei Teilen, erster Teil in AA XVII, zweiter Teil in AA XVIII [zitiert: Kant, Reflexionen I bzw. II, S.] Keil, Geert: Naturgesetze, Handlungsvermögen und Anderskönnen, DZPhil, Berlin 55 (2007) 6, 929–948 [zitiert: Keil, DZPhil 2007, S.] – Willensfreiheit, 1. Auflage, Berlin 2007 [zitiert: Keil, Willensfreiheit, S.] Kelker, Brigitte: Der Nötigungsnotstand, Berlin 1993 [zitiert: Kelker, Nötigungsnot­ stand, S.] Keller, Rainer: Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, Berlin 1989 [zitiert: Keller, Provokation, S.] Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 1. Auflage, Genf 1934 [zitiert: Kelsen, Reine Rechtslehre, Kapitel, Unterkapitel] Kern, Eduard: Grade der Rechtswidrigkeit, ZStW 64 (1952), 255 [zitiert: Kern, ZStW 64, S.] Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit, 3. Auflage, Kiel 2007 [zitiert: Kersting, S.]

Literaturverzeichnis497 Kiesewetter, Hubert: Von Hegel zu Hitler. Eine Analyse der hegelschen Machtstaa­ tsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus, Hamburg 1974 [zitiert: Kiesewetter, Machtstaatsideologie, Kapitel, Abschnitt] Kleingeld, Pauline: Kant’s Cosmopolitan Patriotism, Kant-Studien 2003, 299 ff. [zi­ tiert: Kleingeld, Kant-Studien 2003, S.] Klesczewski, Diethelm: Kants Ausdifferenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs als Leit­ faden der Unterscheidung von Unrechtsformen, ARSP Beiheft 66 (1997), S. 77 ff. [zitiert: Klesczewski, Gerechtigkeitsbegriff, S.] – Ein zweischneidiges Recht – Zu Grund und Grenzen der Notwehr in einem vor­ positiven System der Erlaubnissätze, in: Festschrift für E. A. Wolff, S. 225 ff., Frankfurt 1998 [zitiert: Klesczewski, FS-Wolff. S.] Kohler, Josef: Das Notrecht, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 8 (1914 / 1915), 411 [zitiert: Kohler, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, S.] Köhler, Michael: Der Begriff der Strafe, 1986 [zitiert: Köhler, Strafe, S.] – Personensorge und Abtreibungsverbot, GA 1988, 435 ff. [zitiert: Köhler, GA 1988, S.] – Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluss an Kant und Fichte, in: Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, hrsg. von Michael Kahlo, Frankfurt am Main 1992, S.  93 ff. [zitiert: Köhler, Rechtszwang, S.] – Strafrecht Allgemeiner Teil, Hamburg 1996 [zitiert: Köhler, AT, S.] – Ursprünglicher Gesamtbesitz, ursprünglicher Erwerb und Teilhabegerechtigkeit, Festschrift für E. A. Wolff, S. 247 ff., Frankfurt 1998 [zitiert: Köhler, Ursprüng­ licher Gesamtbesitz, S.] – Iustitia fundamentum regnorum, Gerechtigkeit als Grund der Politik, in Gerech­ tigkeit und Politik (hrsg. Schmücker / Steinvorth), 2002 [zitiert: Köhler, Gerech­ tigkeit als Grund der Politik, S.] – Das ursprüngliche Recht auf gesellschaftlichen Vermögenserwerb, in: FS-Mest­ mäcker zum 80. Geburtstag, 2006 [zitiert: Köhler, Ursprüngliches Erwerbsrecht, S.] – Die Rechtspflicht gegen sich selbst, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 14 (2006), S. 425 ff. [zitiert: Köhler, Rechtspflicht gegen sich selbst, S.] – Die objektive Zurechnung der Gefahr als Voraussetzung der Eingriffsbefugnis im Defensivnotstand, in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder, 2006, S.  257 ff. [zitiert: Köhler, FS-Schroeder, S.] Krey, Volker: Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, 3. Auflage, Stuttgart 2008 [zi­ tiert: Krey, AT I, Rn.] Kühl, Kristian: Wertordnung oder Freiheitsordnung? – Zur Bedeutung der Rechts­ philosophie für die Kriminalpolitik, GA 1977, 353 ff. [zitiert: Kühl, GA 1977, S.] – Zur rechtsphilosophischen Begründung des rechtfertigenden Notstandes, Fest­ schrift für Theodor Lenckner, S. 143 ff., 1996 [zitiert: Kühl, FS-Lenckner, S.]

498 Literaturverzeichnis – Aktualität der Prinzipien der kantischen Rechts- und Eigentumslehre, Festschrift für Ernst Amadeus Wolff, 1998, S. 273 ff. [zitiert: Kühl, FS-Wolff, S.] – Freiheit und Solidarität bei den Notrechten, Festschrift für H.-J. Hirsch, 1999 [zitiert: Kühl, FS-Hirsch, S.] – Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Auflage, München 2008 [zitiert: Kühl, AT, §§, Rn.] – Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 27. Auflage, München 2011 [zitiert: Bearbeiter, in: StGB-Kommentar, §§, Rn.] Kühnbach, Lena: Solidaritätspflichten Unbeteiligter, 2007 [zitiert: Kühnbach, Soli­ daritätspflichten, S.] Küper, Wilfried: Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, Berlin 1979 [zitiert: Küper, Pflichtenkollision, S.] – Darf sich der Staat erpressen lassen? Zur Problematik des rechtfertigenden Nöti­ gungsnotstandes, Heidelberg 1986 [zitiert: Küper, Nötigungsnotstand, S.] – Grundsatzfragen der „Differenzierung“ zwischen Rechtfertigung und Entschuldi­ gung, JuS 1987, 81 ff. [zitiert: Küper, JuS 1987, S.] – „Es kann keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte.“, Fest­ schrift für E. A. Wolff, S. 285 ff., Frankfurt 1998 [zitiert: Küper, FS-Wolff, S.] – Von Kant zu Hegel, JZ 2004, 105 ff. [zitiert: Küper, JZ 2004, S.] Laubenthal, Klaus: Anmerkung zum Beschluss des BayObLG vom 18.10.1990 – 5  St 92 / 90, JR 1991, 519 ff. [zitiert: Laubenthal, JR 1991, S.] Lawen, Irene: Konzeptionen der Freiheit, Zum Stellenwert der Freiheitsidee in der Sozialethik John Stuart Mills und M. A. Bakunins, Saarbrücken 1996 [zitiert: Lawen, Konzeptionen der Freiheit, S.] Lenckner, Theodor: Der rechtfertigende Notstand, Tübingen 1965 [zitiert: Lenckner, Notstand, S.] Lisken, Hans: Für eine demokratische Polizeiverfassung, ZRP 1998, 270 ff. [zitiert: Lisken, ZRP 1998, S.] Liszt, Franz von: Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 11. Auflage, Berlin 1896 [zi­ tiert: v. Liszt, Lehrbuch, §§, S.] Liszt, Franz von / Schmidt, Eberhard: Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 26. Aufla­ ge, Berlin 1932 [zitiert: v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch, §§, S.] Longuenesse, Beatrice: Selbstbewusstsein und Bewusstsein des eigenen Körpers, Variationen über ein kantisches Thema, DZPhil, Berlin 55 (2007) 65, 859–875 [zitiert: Longuenesse, Selbstbewusstsein, S.] Löwe, Ewald / Rosenberg, Werner: Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfas­ sungsgesetz, Großkommentar, 26. Auflage 2006 [zitiert: Bearbeiter, in LR, §§, Rn.] Ludwig, Bernd: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes’ philosophischer Entwicklung von „De Cive“ zum „Leviathan“ im Pari­ ser Exil 1640–1651, Frankfurt am Main 1998 [zitiert: Ludwig, Hobbes-Entwick­ lung, S.]

Literaturverzeichnis499 – Kants Rechtslehre, Hamburg 1988 [zitiert: Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, S.] Ludwig, Dominik: „Gegenwärtiger Angriff“, „drohende“ und „gegenwärtige Gefahr“ im Notwehr- und Notstandsrecht, Frankfurt 1991 [zitiert: D. Ludwig, Notwehrund Notstandsrecht, S.] Ludwig, Ralf: Kategorischer Imperativ und Metaphysik der Sitten (Die Frage nach der Einheitlichkeit von Kants Ethik), München 1991 [zitiert: Ralf Ludwig, S.] Luf, Gerhard: Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Festschrift für E. A. Wolff, Frankfurt 1998 [zitiert: Luf, Menschenwürde, S.] – Freiheit und Gleichheit, Wien 1978 [zitiert: Luf, Freiheit und Gleichheit, S.] Maatsch, Asmus: Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, Hamburg 2000 [zitiert: Maatsch: Selbstverfügung, S.] Mangakis, Georgios: Die Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84 (1972), 449 [zitiert: Mangakis, ZStW 84, S.] Matt, Holger: Kausalität aus Freiheit, Baden-Baden 1993 [zitiert: Matt, Kausalität aus Freiheit, S.] Meißner, Andreas: Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den recht­ fertigenden Notstand (§ 34 StGB), Berlin 1990 [zitiert: Meißner: Interessenabwä­ gungsformel, S.] Merkel, Reinhard: Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumen­ te in der Strafrechtswissenschaft (und einige verbreitete Missverständnisse zu § 34 S. 1 StGB), in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt 1995, S. 171 [zitiert: Reinhard Merkel, Zaungäste, S.] – Der moralische Status menschlicher Embryonen, 2002 [zitiert: Reinhard Merkel, Status, S.] – § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 ff. [zitiert: Merkel, JZ 2007, S.] – Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt, in: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, 2008, S. 193 ff. [zitiert: Reinhard Merkel, FS-Herzberg, S.] – Willensfreiheit und rechtliche Schuld, Hamburg 2008 [zitiert: Reinhard Merkel, Willensfreiheit, S.] Merkel, Rudolf: Die Kollision rechtmäßiger Interessen und die Schadensersatz­ pflichtbei rechtmäßigen Handlungen, Straßburg, 1895 [zitiert: Rudolf Merkel, Kollision, S.] Mezger, Edmund: Strafrecht, ein Lehrbuch, 3. Auflage 1949 [zitiert: Mezger, Straf­ recht, S.] Meyer-Goßner, Lutz: Strafprozessordnung, Kommentar, 52. Auflage 2009 [zitiert: Meyer-Goßner, StPO, §§, Rn.] Mill, John Stuart: System der deduktiven und induktiven Logik, in: Gesammelte Werke, Bände 2–4 (mit Anmerkungen von Theodor Gomperz), Leipzig 1886 [zitiert: Mill, Logik, Buch, Kapitel, §]

500 Literaturverzeichnis – Der Utilitarismus (Utilitarianism), letzte korrigierte Buchausgabe 1871 [zitiert: Mill, Utilitarismus, Kapitel oder Seite (Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Reclam-Verlages; Seitenangaben beziehen sich ebenfalls auf diese Ausgabe)] Morgenstern, Henrike: Unterlassene Hilfeleistung. Solidarität und Recht, Frankfurt 1997 [zitiert: Morgenstern, Unterlassene Hilfeleistung, S.] Müller, Andreas: Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants Metaphysik der Sitten, Basel 1995 [zitiert: Müller, Verhältnis Recht und sittliche Autonomie, S.] Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 6. Band, 5. Auflage [zitiert: Bearbeiter, in MüKo, §§, Rn.] Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2011 [zitiert: Bearbeiter, in: MK, §§, Rn.] Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Auflage 2005 [zitiert: Bearbeiter, in: NK, §§, Rn.] Novoselec, Petar: Notwehr gegen Erpressung i. e. S. einer Chantage, NStZ 1997, 218 [zitiert: Novoselec, NStZ 1997, S.] Otte, Lars: Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998 [zitiert: Otte, Defensivnotstand, S.] Otto, Harro: Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3. Auflage, Marburg 1978 [zitiert: Otto, Pflichtenkollision, S.] – Anmerkung zu BGHSt 48, 255, in: NStZ 2004, S. 142 f. [zitiert: Otto, NStZ 2004, S.] Palandt: Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, 67. Auflage 2008 [zitiert: Bearbeiter, in: Palandt, §§, Rn.] Pawlik, Michael: Der rechtfertigende Notstand, Berlin / New York 2002 [zitiert: Pawlik, Notstand, S.] – Der rechtfertigende Defensivnotstand, Jura 2002, 26 ff. [zitiert: Pawlik, Jura 2002, S.] – § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch?, JZ 2004, 1045 [zitiert: Pawlik, JZ 2004, S.] Reich, Klaus: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, 2. Auflage, Berlin 1948 [zitiert: Reich, Urteilstafel, S.] Rengier, Rudolf: Totschlag oder Mord und Freispruch aussichtslos? – Zur Tötung von (schlafenden) Familientyrannen, NStZ 2004, 233 ff. [zitiert: Rengier, NStZ 2004, S.] Renzikowski, Joachim: Notwehr und Notstand, 1994 [zitiert: Renzikowski, S.] Rogall, Klaus: Ist der Abschuss gekaperter Flugzeuge widerrechtlich?, NStZ 2008, 1 ff. [zitiert: Rogall, NStZ 2008, S.] Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Amsterdam 1762 [zitiert: Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Buch, Kapitel (Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Reclam-Verlages)]

Literaturverzeichnis501 – Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Amsterdam 1754 [zitiert: Rousseau, Ungleichheitsabhandlung, Teil, S. (Seitenzahlangaben und Zitate in deutsch nach der Übersetzung der Ausgabe des Reclam-Verlages)] Roxin, Claus: Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage, 2000 und Band II, 2003 [zitiert: Roxin, AT I / II, §§, Rn.] – Anmerkung zu BGH, JZ 2001, 664 ff., ebenda, 667 f. [zitiert: Roxin, JZ 2001, S.] – Der Abschuss gekaperter Flugzeuge zur Rettung von Menschenleben, ZIS 6 / 2011, S. 552 ff. [zitiert: Roxin, ZIS 6 / 211, S.] Rudolphi, Hans-Joachim: Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln 1989, S. 371 ff. [zitiert: Rudolphi, GS Armin Kauf­ mann, S.] Ryffel, Hans: Zur Problematik der Rechtfertigung des Staates bei Hobbes, in: Tho­ mas Hobbes, Anthropologie und Staatsphilosophie, hrsg. v. Otfried Höffe, Frei­ burg (Schweiz) 1981 [zitiert: Ryffel, Rechtfertigung des Staates, S.] Sachsse, Hans: Kausalität – Gesetzlichkeit – Wahrscheinlichkeit. Darmstadt 1979 [zitiert: Sachsse, Kausalität, S.] Samson, Lothar: Zur Funktion des Natur- und Gottesbegriffs im Leviathan, in: Tho­ mas Hobbes, Anthropologie und Staatsphilosophie, hrsg. v. Otfried Höffe, Frei­ burg (Schweiz) 1981 [zitiert: Samson, Hobbes-Gottesbegriff] Sänger, Monika: Die kategoriale Systematik in den „Metaphysischen Anfangsgrün­ den der Rechtslehre“, 1982 [zitiert: Sänger, S.] Sauer, Wilhelm: Grundlagen des Strafrechts nebst Umriß einer Rechts- und Sozial­ philosophie, Berlin 1921 [zitiert: Sauer, Grundlagen, S.] Schaffstein, Friedrich: Der Maßstab für das Gefahrurteil beim rechtfertigenden Not­ stand, in: Festschrift für Hans-Jürgen Bruns, Köln 1978, S. 89 [zitiert: Schaffstein, FS-Bruns, S.] Scheffler, Uwe: Selbsthilfe des einen oder Notwehr des anderen, Jura 1992, 352 [Scheffler, Jura 1992, S.] Schenke, Wolf-Rüdiger: Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, Heidelberg 2007 [zitiert: Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn.] Schmidhäuser, Eberhard: Strafrecht Allgemeiner Teil, Studienbuch, 2. Auflage, 1984 [zitiert: Schmidhäuser, AT – Studienbuch, S.] – Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2.  Auflage 1975 [zitiert: Schmidhäuser, AT, Kap. / Rn.] Schmidt, Eberhard: Das Reichsgericht und der „übergesetzliche Notstand“, ZStW 49 (1929), 350 ff. [zitiert: Eb. Schmidt, ZStW 49, S.] Schoch, Friedrich: Grundfälle zum Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 1994, 932 ff. [zitiert: Schoch, JuS 1994, S.] Schönke, Adolf / Schröder, Horst: Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Auflage, 2006 [zitiert: Bearbeiter, in: Schönke / Schröder, §, Rn.]

502 Literaturverzeichnis Schünemann, Wolfgang: Selbsthilfe im Rechtssystem, Tübingen 1985 [zitiert: W. Schünemann, Selbsthilfe, S.] Siegert, Kurt: Notstand und Putativnotstand, Tübingen 1931 [zitiert: Siegert, S.] Sinn, Arndt: Tötung Unschuldiger aufgrund § 14 III Luftsicherheitsgesetz – rechtmä­ ßig?, NStZ 2004, S. 585 ff. [zitiert: Sinn, NStZ 2004, S.] Stammler, Rudolf: Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Nothstandes, Er­ langen 1878 [zitiert: Stammler, Notstand, S.] Steigleder, Klaus: Kants Moralphilosophie, Die Selbstbezüglichkeit reiner prakti­ scher Vernunft, Weimar 2002 [zitiert: Steigleder, S.] Stratenwerth, Günter / Kuhlen, Lothar: Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 5. Auflage 2004 [zitiert: Stratenwerth / Kuhlen, AT I, §§, Rn.] Suppert, Hartmut: Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage“, Bonn 1973 [zitiert: Suppert, Notwehr, S.] Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, fortlaufende Loseblattwerke [zi­ tiert: Bearbeiter, in: SK, §§, Rn.] Thur, Andreas von: Notstand im Zivilrecht, Heidelberg 1888 [zitiert: v. Thur, Not­ stand im Zivilrecht, S.] Weiß, Ulrich: Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart 1980 [zi­ tiert: Weiß, Hobbes-System] Weizsäcker, Carl Friedrich von: Zum Weltbild der Physik, 13. Auflage 1990 [zitiert: von Weizäcker, Weltbild der Physik, S.] Wessels, Johannes / Beulke, Werner: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 38. Auflage, Heidel­ berg 2008 [zitiert: Wessels / Beulke, AT, Rn.] Westerkamp, Wilhelm: Streitfragen des Notstandsrechts, Hannover 1918 [Westerkamp, Notstandsrecht, S.] Westphal, Kenneth R.: Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?, Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 5 (1997), 141 ff. [zitiert: Westphal, Jahrbuch für Recht und Ethik (1997), S.] Wolff, Ernst Amadeus: Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, ZStW 97 (1985), S. 786 ff. [zi­ tiert: E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S.] Zaczyk, Rainer: Staat und Strafe, in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selb­ ständigkeit, 1999, S. 73 ff. [zitiert: Zaczyk, Staat und Strafe, S.] – Das Unrecht der versuchten Tat, 1989 [zitiert: Zaczyk, Versuchsunrecht, S.] Zeidler, Kurt Walter: Grundriss der transzendentalen Logik, Cuxhaven 1992 [zitiert: Zeidler, Transzendentale Logik, S.] Zielinski, Diethart: Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973 [zitiert: Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S.] Zimmermann, Theo: Die Gefahrengemeinschaft als Rechtfertigungsgrund, MDR 1954, 147 [zitiert: Zimmermann, MDR 1954, S.]

Stichwortverzeichnis Absichtsprovokation  367 ff., 378 Achtung  89 (Fn. 130), 91 (Fn. 135), 93 f., 97, 152, 161 f., 174 f., 213 (Fn. 307) Actio illicita in causa  363 ff. Analogie  78 (Fn. 113), 84 (Fn. 122), 86, 93 (Fn. 136), 105, 106 (Fn. 160), 109, 184 (Fn. 266), 203 (Fn. 292), 207, 405 f., 442 (Fn. 712) Angriff siehe Notwehr Anscheinsgefahr  278 (Fn. 379), 306 (Fn. 446), 488 (Fn. 815) Antinomie siehe Vernunft Apperzeption, transzendentale  71, 82 (Fn. 120), 207 (Fn. 299), 472 (Fn. 768) Auslegung  24 Asylrecht  144 (Fn. 232), 256, 454 (Fn. 735), 478 (Fn. 786) Besitz – Begriff (intelligibler / empirischer)  118 (Fn. 178), 119 ff., 223 ff., 251 ff. – Gemeinbesitz, Gesamtbesitz  121 ff., 223 ff., 252 ff., 476 ff. – provisorischer / peremtorischer  127, 128, 256 Böse  31 ff., 80 ff., 154, 199 (Fn. 286), 204 Charakter  109 (Fn. 165), 202 (Fn. 289), 203, 207, 211, 214 ff. (Fn. 308), 216 (Fn. 310), 221, 241 (Fn. 340), 473 Defensivnotstand siehe Notstand Determiniertheit, Determination  232 ff. Dialektik siehe Vernunft

Eigentum – als Eingriffsgegenstand  251 ff., 358 ff. – als Erhaltungsgut  302, 322 ff., 329, 353 ff. – Begriff  252 (Fn. 359), 257 (Fn. 367) Eigenverantwortlichkeit siehe Zurech­ nung Einwilligung  116 f., 222 (Fn. 315), 250 (Fn. 353) Erkenntnistheorie – nach Hobbes  30 ff. – nach Kant  60 ff., 238 (Fn. 338) – nach Mill  43 ff. Erlaubnistatbestandsirrtum  306, 416 (Fn. 666) Ethik  161 ff., 191 ff., 206 (Fn. 297), 220 ff., 473 – nach Hobbes  31 ff., 39 ff. – nach Kant  101 ff., 134 (Fn. 209) – nach Mill  50 ff., 53 ff. – normative / deskriptive  231 Freiheit – nach Hobbes  33 ff., 37 – nach Kant  74 ff., 95 ff., 107 (Fn. 163), 149, 151 ff., 159 (Fn. 244, 245), 174 (Fn. 258), 190 (Fn. 273), 199 ff. (Fn. 287, 288), 205 (Fn. 295), 210 (Fn. 301), 232 ff. Garantenpflicht, Garantenstellung  227 (Fn. 326), 280 (Fn. 400), 285 (Fn. 409), 294, 327, 350, 374 (Fn. 601), 377, 398 (Fn. 636), 481 (Fn. 793) Gebot  16 ff. (Fn. 17)

504 Stichwortverzeichnis Gefahr (Begriff)  303 ff., 488 Gefahrengemeinschaft  308 (Fn. 450) Gemeinbesitz, Gesamtbesitz siehe Besitz Gemeinschaft (Verstandesbegriff)  67, 70, 109 (Fn. 165), 472 (Fn. 771) Gemeinschaftsgefühle  52 ff., 156, 170 Gemeinschaftsinteressen  56, 133 (Fn. 207), 156 Gerechtigkeit  25, 169 (Fn. 254), 178 (Fn. 262), 296, 482 (Fn. 795) – nach Hobbes  31 – nach Kant  126, 130 – nach Mill  53 ff., 56 ff., 156 Gesetz – der Freiheit, Freiheitsgesetz  104, 152 f., 174 (Fn. 258), 205, 209 (Fn. 301), 474 – der Natur, Naturgesetz  68 ff., 81, 84 (Fn. 122), 94 (Fn. 138), 96 (Fn. 142), 98, 160, 175 ff., 203, 226 (Fn. 323), 232, 237 (Fn. 336), 238 ff. Gesetzgebung – der Vernunft  81, 86 (Fn. 124), 92 ff., 95, 98, 103 (Fn. 156), 151 ff., 191 ff. – des Verstandes  81, 98, 99 (Fn. 146), 103 (Fn. 156), 159 (Fn. 244) – staatliche – nach Hobbes  37 ff. – nach Kant  103, 126 ff., 133 ff., 228 ff. – nach Mill  53 ff. Gewissen – nach Kant  92 (Fn. 135), 175 – nach Mill  52 Handeln  95 (Fn. 140), 190 (Fn. 273), 204 (Fn. 294), 234 ff., 239 ff. Hilfspflicht  14 (Fn. 8), 41, 141, 164, 251 (Fn. 355), 280, 291, 294, 342 ff., 349 ff., 361 (Fn. 576), 374 (Fn. 601), 380, 383 (Fn. 614), 444, 479 (Fn. 788), 486 (Fn. 808), 491 (Fn. 821)

Ich  71 ff., 82 (Fn. 120), 94, 98, 100, 200 (Fn. 287, 288), 203 (Fn. 293), 207 (Fn. 299), 209, 212, 213 (Fn. 307), 236 f. Imperativ – hypothetischer  39, 84 ff., 168 – kategorischer  80 ff., 89 ff., 151 f., 173 (Fn. 256), 176, 194 ff., 245 (Fn. 347), 470 ff. – Rechtsimperativ  106 ff. Kategorien siehe Verstandesbegriffe Kausalität – als Naturmechanismus (Verstandes­ begriff in Bezug auf Anschauungen)  67 ff., 81, 98, 109 (Fn. 165), 159 (Fn. 244), 207 (Fn. 299), 214 (Fn. 308), 234 (Fn. 333), 241 (Fn. 340) – aus Freiheit  75, 81, 84, 90, 95, 98 f., 101 (Fn. 151), 109 (Fn. 165), 174 (Fn. 257), 203 f. (Fn. 293), 207 (Fn. 299), 214 f. (Fn. 307, 308), 241 (Fn. 340), 344 (Fn. 545), 472 (Fn. 771) Metaethik  229 ff. Moralität  64 (Fn. 96), 80, 91, 134, 174, 175 (Fn. 259), 177 (Fn. 262), 213 (Fn. 307), 216 (Fn. 311), 230 f., 242 (Fn. 341) Natur (Begriff)  12 (Fn. 6), 67 ff. Naturerkenntnis, Naturwissenschaft siehe Gesetzgebung des Verstandes, siehe Naturforschung Naturforschung  67 (Fn. 100), 232 f., 239 Naturzufall  12 (Fn. 6), 13, 63, 74, 79, 241 (Fn. 340), 277, 359 (Fn. 571), 447 Naturzustand – nach Hobbes  33, 34 (Fn. 48), 35, 42 (Fn. 67), 155 – nach Kant  120 (Fn. 182), 126 ff. (Fn. 192)

Stichwortverzeichnis505 Nötigungsnotstand siehe Notstand Notstand, Notstandsrecht – Begriff    267 f., 479 – defensiver  395 (Fn. 633), 404 ff., 432 ff., 489 f. – Mitverursachung  363 ff. – nach Hobbes  40 ff. – nach Kant  137 ff. – nach Mill   55 ff. – Nötigungsnotstand  447 ff., 490 – Notstandslage  12 f., 302, 322 ff. – notstandsrechtlicher Erwerb  260 ff., 479 f. – polizeilicher  278 f., 355, 363 Notwehr, Notwehrrecht – Absichtsprovokation  367 ff., 378 – Angriff, rechtswidriger  12, 110, 318 (Fn. 479), 362, 365 ff., 378, 392 ff., 405 ff. – Begriff  12, 17, 105, 110 – Gebotenheit  365 (Fn. 582), 374 (Fn. 600, 602), 416 (Fn. 666) – Gegenwärtigkeit des Angriffs  407 ff., 425 ff. – präventive  405 ff., 425 ff. – Provokation  363 ff. Nützlichkeitsprinzip, Nutzen  33 ff., 45 ff., 56 ff., 138 (Fn. 218), 156 ff., 327 ff., 336 ff., 347 (Fn. 555), 468  Objektivität  65 ff., 69, 149, 238 ff. Ordnungsnormverstoß, Ordnungswidrig­ keit siehe Ordnungsunrecht – Notstandsrechtfertigung  316 f., 388 ff., 486 f. Ordnungsunrecht  134 (Fn. 209), 292, 317, 351 (Fn. 565), 381 f. (Fn. 609, 612), 479 (Fn. 790), 486 (Fn. 808) Person (Begriff)  82, 91, 100, 108 f., 118, 151, 200 ff., 210 ff., 243, 251 f., 356, 471 f., 477 (Fn. 782) Pflicht (Begriff)  23, 191 ff., 201 (Fn. 288, 289), 244 f., 469 f.

– nach Hobbes  33 ff. – nach Kant  85 ff., 151 ff. – nach Mill  50 ff. – Rechtspflicht siehe Recht – staatsbürgerliche Pflichten  272 ff. Prognose  304 ff., 436 Provokation – der Notstandslage  363 ff. – der Notwehrlage siehe Notwehr Recht (Begriff)  206 ff., 472 f. – nach Hobbes  33 ff. – nach Kant  101 ff. – nach Mill  53 ff. Rechtfertigungsgrund (Begriff)  17, 467 Rechtsgut (Begriff)  148, 160 (Fn. 247), 246, 268 (Fn. 382), 299, 328 – der Allgemeinheit, Allgemeinrechts­ güter  302, 352, 401 ff., 456 (Fn. 738), 464 ff., 485, 487, 491 (Fn. 820) Rechtsstaat siehe Staat Schein  65, 69 (Fn. 103), 75, 77, 80 (Fn. 115), 192, 234, 238 (Fn. 338), 470 (Fn. 763) – transzendentaler Schein siehe Dialektik Schema  67 ff., 120 (Fn. 180), 203 f., 226 (Fn. 324), 262 ff. (Fn. 376, 377) Schuld, Schuldfähigkeit  241 ff. Schuldigkeit  111, 153, 291 Schuldmaß  16 (Fn. 16), 139 (Fn. 218), 241 (Fn. 340), 242 Selbstbestimmung  95 ff. Selbstbewusstsein  236 ff, 471 (Fn. 766, siehe auch Apperzeption, siehe Ich) Sollen, Sollensaussage, Sollensbehaup­ tung, Sollenssatz  20 ff., 165 ff., 191 ff., 229, 233, 237 f. (Fn. 337), 244 f., 247, 331, 468 ff. – nach Hobbes  32, 155 f. – nach Kant  76, 80 ff., 97 (Fn. 144), 100 ff. – nach Mill  45 ff., 156

506 Stichwortverzeichnis Staat – in der Idee  131, 133, 137 (Fn. 215, 216), 228, 247 siehe auch Rechtsstaat – nach Hobbes  35 ff. – nach Kant  126 ff. – Rechtsstaat (Begriff)  133, 228, 271 – Sozialstaat  289 ff., 482 (Fn. 795) Strafe  463 (Fn. 750) – nach Hegel  187 – nach Hobbes  39 – nach Kant  138 (Fn. 218) – nach Mill  53, 54 (Fn. 85) Strafrecht  228 (Fn. 327), 667 Strafunrecht  15 (Fn. 14), 54 (Fn. 85), 144 (Fn. 231), 284 (Fn. 407), 292, 317 (Fn. 476), 351 (Fn. 565), 371 (Fn. 595, 596), 381 (Fn. 609), 419, 421, 423, 427 (Fn. 685), 429 (Fn. 687), 457 (Fn. 739) Subjekt-Objekt-Einheit  94, 109, 202, 207 (Fn. 299), 209, 214 (Fn. 308, 309), 219, 234, 237 (Fn. 336), 473 (Fn. 773, siehe auch Person) Substanz – als Verstandesbegriff (in Bezug auf Anschauungen)  67 ff., 73 (Fn. 109), 84 (Fn. 122), 109, 203, 204 (Fn. 294), 207 (Fn. 299) – intelligible (Substanz in der Idee)  84 (Fn. 122), 109 (Fn. 165), 200, 201 (Fn. 287, 289), 203, 204 (Fn. 294), 207 (Fn. 299), 209, 213, 217 f., 223, 472 Tat (Begriff)  92 (Fn. 135), 241 Transzendental, Transzendentalphilo­ sophie (Begriff)  64 (Fn. 96), 311 – transzendentale Ästhetik  62 ff., 109 – transzendentale Einheit des Selbst­ bewusstseins siehe Apperzeption, siehe Ich – transzendentale Logik  66 ff.

Tugend – nach Hegel  185 f. – nach Hobbes  32 – nach Kant  102 (Fn. 153), 104 (Fn. 159), 111 (Fn. 168), 140, 180 (Fn. 263), 231 (Fn. 331, siehe auch Ethik) Unrecht siehe Recht  105 Urteil (Begriff)  66, 83 (Fn. 121) – a priori / a posteriori  61 ff. – analytische / synthetische  60 ff. – normatives Urteil  19 ff., 150 ff., 211 ff., 468 f., 491 (Fn. 821) – objektiv-gültige Urteile siehe Objektivität Urteilsfreiheit  83 (Fn. 121) Urteilsfunktionen  66 ff., 72 Verantwortlichkeit, Verantwortung siehe Schuldfähigkeit, siehe Zurech­ nung Verbot  16 ff. (Fn. 17) Verbrechen siehe Strafunrecht Vernunft – Antinomie der Vernunft  74 ff., 101 (Fn. 151) – Dialektik der Vernunft  65 (Fn. 97), 98, siehe auch Antinomie – Vernunftbegriffe siehe Vernunftideen, siehe auch Recht – Vernunftideen  72 ff., 77 ff., 91 ff., 101, 149, 152, 201 (Fn. 289), 202 ff., 216 (Fn. 311), 235, 472 (Fn. 771) – Vernunftschlüsse  72, 131 Verstand, Verstandesbegriffe  65 ff., 82 ff., 98 f., 149, 204, 213 (Fn. 307), 238 ff., 471 (Fn. 766) Wahrheit  17 (Fn. 18), 70, 160 (Fn. 246) Wertersatz  326 f., 484

Stichwortverzeichnis507 Wille (Begriff) – nach Hobbes  31 (Fn. 39) – nach Kant  90 – Autonomie des Willens  92, 97 (Fn. 143, siehe auch Freiheit, siehe kategorischer Imperativ, siehe Selbstbestimmung) – moralischer / unbedingt-guter Wille  86 ff., 150 ff., siehe auch katego­ rischer Imperativ – nach Mill  173 Würde – nach Hobbes  33, 161

– nach Kant  93, 97, 100, 110, 152, 158, 161, 193 (Fn. 276), 248 f. siehe auch Achtung, siehe Person – nach Mill  47, 161 ff. Zufall, Zufälligkeit siehe Naturzufall Zurechnung  92 (Fn. 135), 108, 241, 350, 355 (Fn. 567), 384 (Fn. 606), 400 – Unterbrechung bei Eigenverantwort­ lichkeit  367, 369, 376 (Fn. 603), 389 f. Zwangsbefugnis siehe Recht, siehe Notwehrrecht