Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung: Zugleich ein Beitrag zur Theorie positiver Generalprävention [1 ed.] 9783428473830, 9783428073832


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Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung: Zugleich ein Beitrag zur Theorie positiver Generalprävention [1 ed.]
 9783428473830, 9783428073832

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Schriften zum Strafrecht Band 91

Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung Zugleich ein Beitrag zur Theorie positiver Generalprävention

Von

Kai Hart-Hönig

Duncker & Humblot · Berlin

KAI

HART-HÖNIG

Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung

Schriften zum Strafrecht Heft 91

Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung Zugleich ein Beitrag zur Theorie positiver Generalprävention

Von Dr. Kai Hart-Hönig

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hart-Hönig, Kai: Gerechte und zweckmässige Strafzumessung : zugleich ein Beitrag zur Theorie positiver Generalprävention / von Kai Hart-Hönig. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum Strafrecht ; H. 91) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07383-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-07383-5

Vorwort Die Arbeit hat i m Sommersemester 1991 der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am M a i n als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript wurde Ende März 1991 abgeschlossen. Herrn Prof. Dr. Winfried Hassemer möchte ich an dieser Stelle für die vielfältigen Anregungen, die ich in den Jahren meiner Assistentenzeit und auch schon vorher von ihm erhalten habe, danken. Danken möchte ich ebenfalls dem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Naucke, für seine intensive Auseinandersetzung mit meiner Arbeit. Frankfurt am Main, i m Juli 1991 Kai

Hart-Hönig

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11 1. Kapitel Das herrschende Strafzumessungsmodell

§ 1. Die Kardinalprinzipien A. Die Schuld als Grundlage der Strafzumessung I. Erfordernis und Begründungslast eines subsistent-strafbegründenden präventionsfreien Schuldbegriffs II. Präventive Determinationen der Schuld 1. Das herrschende Schuldverständnis a) Das Schuldverständnis der herrschenden Doktrin b) Das Schuldverständnis von Gesetz und Rechtsprechung (§§ 20, 21 StGB) 2. Die Strafzumessungsschuld

13 13 13 19 19 20 25 31

a) Mittelbare präventive Schulddetermination durch Unrechtsfixierung der Schuld

31

b) Unmittelbare präventive Schulddeterminationen

32

aa) Unrechtsinkongruente gesetzliche Strafdrohungen aus präventiven Gründen

32

bb) Prävention als Leitprinzip des Strafensystems

39

cc) Präventive Steuerung schuldrelevanter Strafzumessungsfaktoren (am Beispiel „Vorleben des Täters", § 46 I I 2 StGB)

40

III. Fazit

43

B. Die Prävention im Schuldrahmen und bei der Strafzumessung im weiteren Sinn I. Herkömmliche Einwände gegen die Schuldrahmentheorie vor dem Hintergrund der Konfundierung von Schuld und Prävention II. Fehlende Legitimität unmittelbar-präventiver Strafzumessung 1. Die Generalprävention a) Die Abschreckungsgeneralprävention

44 44 46 47 47

aa) Die empirischen Probleme

47

bb) Die normativen Probleme

49

b) Die Integrationsgeneralprävention

50

aa) Die empirischen Probleme

50

bb) Die normativen Probleme

51

Inhaltsverzeichnis

8

2. Die Spezialprävention a) Die empirischen Probleme (der individuellen Kriminalprognose) aa) Die statistische Prognose

52 52 53

bb) Die klinische Prognose

56

cc) Die Strukturprognose

57

dd) Die intuitive Prognose

58

b) Die normativen Probleme aa) Zur Illegitimität spezialpräventiver Strafmaßerhöhung

59 59

(1) Das Verbot heteronomer Besserung

59

(2) Das Verbot tätiger individueller Abschreckung ....

65

(3) Das Verbot unmittelbarer Sicherung

66

bb) Zur begrenzten Legitimität spezialpräventiver Strafmaßsenkung cc) Zur begrenzten Legitimität spezialpräventiver Entscheidungen zur Straf(rest)aussetzung und zur Verhängung kurzer Freiheitsstrafen dd) Zur Problematik des Erfordernisses individualprognostischer Fundierung aller Strafzumessungsentscheidungen III. Fazit

68

69 72 78

§ 2. Die praktische Relevanz

78

A. Die Herstellungsrelevanz

80

I. Die Festsetzung der Strafhöhe

80

1. Die Prädominanz von Tatschwere und Vorstrafenbelastung

80

2. Der eigenständige Einfluß präventiver Erwägungen

82

3. Ausnahmen von der regelmäßig unrechtszentrierten Strafhöhenbestimmung II. Die Strafzumessung im weiteren Sinn

85 85

1. Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB)

85

2. Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB)

87

3. Aussetzung des Strafrests bei zeitiger Freiheitsstrafe (§ 57 StGB) 4. Aussetzung des Strafrests bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57 a StGB)

88

III. Fazit

90 91

B. Die Darstellungsrelevanz

92

§ 3. Fazit: Die legitimatorischen und praktischen Defizite

95

2. Kapitel Straf(rechts)theoretische Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Strafzumessungsmodells § 4. Zur ausschließlichen Eignung und der Begründungspotenz des positivgeneralpräventiven Ansatzes

98

Inhaltsverzeichnis § 5. Die Theorie positiver Generalprävention A. Empirische Bestätigung

100 100

I. Das Strafrechtssystem als wirksames Teilsystem sozialer Kontrolle

100

II. Gerechtigkeit als notwendige Voraussetzung von Zweckmäßigkeit 1. Die tatsächliche Erfüllung der Formalisierungsaufgabe: Zum Gerechtigkeitsbezug präventiver Determination der Schuld a) Der Bezug auf Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft b) Gesamtgesellschaftlich konsentierte Gerechtigkeitsvorstellungen in einer heterogenen Gesellschaft: Gerechtigkeit, soziale Schichtung und selektive Strafverfolgung 2. Die Wahrnehmungen der Bevölkerung: Einstellung und soziales Handeln a) Positive Kenntnis und Einstellung der Bevölkerung zum gerechten Strafrecht b) Zum Verhältnis von sozialer Ordnung und Gerechtigkeit (Autonomie)

102

B. Normative Legitimation

102 103

106 107 108 109 111

I. Argumentative und faktische Sicherung der Prävalenz der Gerechtigkeit

112

II. Zur fehlenden Überlegenheit objektivistischer Ethiken (am Beispiel von Kant, Hegel und der Diskursethik)

115

III. Bestimmtheitsgebot und Gesetzesbindungspostulat § 6. Fazit: Das Leistungsprofil der Theorie positiver Generalprävention

119 122

3. Kapitel Das Strafzumessungsmodell der (kriminalpolitischen) Theorie positiver Generalprävention § 7. Die Grundlage der Strafzumessung A. Die Schuld: Schuldbegriff und Aufgaben des Schuldprinzips I. Die volle Einzeltatschuld als Grundlage des vorläufigen Höchststrafmaßes Exkurs: Wiedergutmachung II. Höchstmaßmindernde Faktoren 1. Freiheitsdefizite 2. Keine Kompensation struktureller Benachteiligung 3. Strafempfindlichkeit B. Die Prävention: Kein selbständig-unvermittelter Strafzumessungsgrund § 8. Zur Ausgestaltung der Strafzumessungsgrundsätze § 9. Form und Maß der abstrakten Strafdrohung : Die Strafrahmen

127 127 128 131 132 132 134 136 137 138 140

A. Strafrahmen als adäquates Mittel gesetzlicher Strafmaßbestimmung

140

Β. Prinzipien, Kriterien und Daten zur Bestimmung des Strafrahmenumfangs

142

10

Inhaltsverzeichnis

§10. Zur Strafzumessung im weiteren Sinn

147

A. Zur Strafaussetzung zur Bewährung

147

Β. Zur Strafrestaussetzung (zur Bewährung)

150

§11. Zum Strafprozeß

153

A. Höchststrafmaß-Interlokut

153

B. Begründungspflicht

154

§12. Fazit: Das positiv-generalpräventive Strafzumessungsmodell in Programmund Leitsätzen

154

Literaturverzeichnis

157

Einleitung Die vorliegende Arbeit handelt über gerechte und zweckmäßige Strafzumessung. Ausgangspunkt ist eine umfänglich delegitimierende Analyse des herrschenden Strafzumessungsmodells — d. h. der kardinalen Prinzipien und Institute der i m weiteren Sinn 1 strafzumessungsrelevanten Vorschriften des geltenden Strafrechts i m herrschenden, an der Freiheitsstrafe als zentraler Sanktion 2 orientierten Verständnis — und dessen praktischer Relevanz 3 . Dabei werden die empirischen und normativen Probleme der Spezialprävention i m Hinblick auf den i m allgemeinen (weitestgehend) vernachlässigten Zusammenhang von Strafzumessung und Strafvollzug 4 besonders eingehend erörtert 5 . Da diese Analyse keine tragfähige positive Legitimationsbasis hervorbringt 6 , folgt eine straf(rechts)theoretische Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Strafzumessungsmodells 7 . Ausgegangen w i r d davon, daß ein Konzept, welches Strafrecht aus der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit als deren notwendiger prävalenter Voraussetzung vollständig und konsistent zu begründen vermag, auf größte Akzeptanz rechnen kann. Eng auf das Strafzumessungsrecht bezogen w i r d gezeigt, daß allein die Theorie positiver Generalprävention — verstanden als an dem autonomistischen Selbstkonzept der Menschen orientiertes, sich von der Integrationsgeneralprävention des herrschenden Modells wesentlich unterscheidendes Konzept — eine solche Begründung leistet. Und es w i r d dargelegt, daß die positiv-generalpräventive Theorie über die argumentativen und kriteriellen M i t t e l verfügt, welche es ermöglichen, die Prävalenz der Gerechtigkeit nicht nur auf der Ebene der Strafgesetzgebung, sondern auch auf der Ebene der Strafgesetzanwendung faktisch zu sichern. Schließlich w i r d nach den Vorgaben des positiv-generalpräventiven Konzepts als kriminalpolitische Theorie ein gerechtes und zweckmäßiges Strafzumessungsmodell entwickelt 8 . Die Überlegungen de lege ferenda werden dabei nicht an ι D. h. auch die Vollstreckungsvorschriften umfassend: wegen möglicher Mißverständnisse kritisch gegen diese weite Begriffsfassung E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 4. 2 Vgl. Jescheck, Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, S. 1975 ff. 3 Unten 1. Kapitel, S. 13 ff. 4 Vgl. Calliess / Müller-Dietz, Einl. Rn. 38. 5 Unten 1. Kapitel, S. 52 ff. 6 Dazu unten 1. Kapitel, S. 43 ff., 78, 95 ff. 7 Unten 2. Kapitel, S. 97 ff. « Unten 3. Kapitel, S. 125 ff.

12

Einleitung

dem für politische Planungspapiere bedeutsamen Kriterium der (derzeitigen) innenpolitischen Durchsetzbarkeit ausgerichtet 9 . Ausschlaggebend ist vielmehr, was gesellschaftlich möglich ist, gemessen nicht an aktuellen Strafbedürfnissen, sondern am Stand der sachlich und zeitlich stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung 1 0 . Die am Anfang stehende Analyse des herrschenden Modells und dessen praktischer Relevanz soll nicht nur einen konkreten Bezugsrahmen bereitstellen und die Daten über die Strafzumessungspraxis liefern, welche von einer (kriminalpolitischen) Theorie, die gewährleisten w i l l , daß sich die strafzumessungsgesetzlichen Bestimmungen in die Strafzumessungspraxis verlängern (lassen), zu verarbeiten sind. Insbesondere w i r d hervorgehoben, daß das herrschende Strafzumessungsmodell die beiden eigenen Hauptforderungen an eine Strafrechtsdogmatik — die geltenden gesetzlichen Vorschriften konzeptuell und legitimatorisch konsistent sowie praxisrelevant zu konkretisieren und systematisieren 11 — nicht erfüllt 1 2 . U n d mit Bezug auf andere Interpretationen des geltenden Strafgesetzes 13 , die faktisch entscheidungsleitenden Programme 1 4 , die Handlungsbedingungen und die Leistungsfähigkeit der Strafzumessungspraxis 15 w i r d sichtbar werden, daß das Interesse an einer akzeptablen Strafzumessungsdogmatik zu kriminalpolitischen Überlegungen drängt, da sie sich in den Grenzen der lex lata nicht erreichen läßt 1 6 . Dadurch soll gleich zu Beginn deutlich werden, daß nicht nur grundlagentheoretisches Interesse oder alternative kriminalpolitische Vorstellungen nach einem Modell gerechter und zweckmäßiger Strafzumessung de lege ferenda verlangen, sondern daß sich dieses Erfordernis auch in der Binnenperspektive der herrschenden Strafzumessungsdogmatik zeigt 1 7 .

9 Vgl. BT-Drs. 10/5828 (Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zur Beurteilung des strafrechtlichen Sanktionensystems). 10 Dazu eingehend unten S. 112 ff., 109 ff., 102 ff. 11 S. nur Jescheck, A T § 6 I 1. 12 Zusammenfassend dazu unten S. 19, 30, 43 f., 78, 91 f., 95 ff. 13 Dazu unten S. 95 f. 14 Dazu unten S. 78 ff. 15 Dazu unten S. 80 ff., 91 f., 92. 16 S. unten S. 95 f. 17 Vgl. dazu die kontrastierenden Beurteilungen von Bruns, RdStrZ, S. 14 bis 18; dems., NStrZR?, S. 4 f., 5 bis 9.

1.

Kapitel

Das herrschende Strafzumessungsmodell § 1. Die Kardinalprinzipien A. Die Schuld als Grundlage der Strafzumessung I . Erfordernis und Begründungslast eines subsistent-strafbegründenden präventionsfreien Schuldbegriffs „ D i e Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe" (§ 46 I 1 StGB) — dieser Satz bestimmt nach der Auslegung der Rechtsprechung und herrschenden Ansicht i m Schrifttum die Schuld zum Maß- und Vergeltungs- / Sühne- bzw. Schuldausgleichsprinzip 1 der Strafzumessung i m engeren Sinn; präventive Strafziele dürfen wegen dieses Vorrangs des Schuldausgleichs bei der Strafhöhenfestsetzung nur i m Rahmen der nach unten und oben noch schuldangemessenen Strafe berücksichtigt werden (Schuldrahmentheorie 2 ) 3 . Die Verhängung schuldunterschreitender Strafen aus spezialpräventiven Gründen (und bei generalpräventiver Vertretbarkeit 4 ) verwirft die herrschende M e i 1 Zu der —von absoluten Straftheorien sich ausdrücklich distanzierenden — Terminologie s. LK-G. Hirsch, Vor § 46 Rn. 13, 7; Jescheck, A T § 82 I I I 3 (S. 785); Bruns, RdStrZ, S. 89; vgl. Theune , Strafzumessung, S. 162 Sp. 1; M/Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 24, 17 ff. m. w. N. 2 Die Termini Schuldrahmentheorie und Spielraumtheorie werden oft als gleichbedeutend gegeneinander ausgetauscht. Der BGH differenziert, indem er doch häufiger die Spielraumtheorie bemüht, wo es nur um den Beurteilungsspielraum geht, der dem Tatrichter bei der Strafzumessung insgesamt verbleibt; s. Theune, Strafzumessung, S. 163 Sp. 2 f.; vgl auch Bruns, RdStrZ, S. 106. Hier wird von Schuldrahmentheorie gesprochen, um das materiell(rechtlich)e Moment sowie die dogmatische und tatrichterbezogene Intention der herrschenden Meinung — im Gegensatz zur (ursprünglich) prozeß- bzw. revisionsrechtlichen Intention der Spielraumtheorie — zum Ausdruck zu bringen; s. Μ / G/Zipf, A T / 2 § 63 Rn. 14; vgl. E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 7 f. 3 S. BGHSt 7, 28; 20, 264 (266 f.); 24, 132 (133 f.); (GS) 34, 345 (349); LK-G. Hirsch, Vor § 46 Rn. 13 f.; Bruns, RdStrZ, S. 89 ff, 105 ff.; dens., NStrZR?, S. 25 f., 34 ff. je m. w. N.; w. (Rspr.-)N. bei Mösl, Tendenzen, S. 165 f.; Theune, Strafzumessung, S. 162 ff.; Sch / Sch / Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 6, 10; Lackner, § 46 Anm. I I I 1, 2. 4 S. Lackner, § 46 Anm. I I I 2 m. w. N. — Hier kommt es nur darauf an, daß die herrschende Meinung die Schuldunterschreitung auch bei angenommener generalpräventiver Vertretbarkeit verwirft; ob sich diese überhaupt im Rahmen der Rechtsanwendung hinlänglich ermitteln läßt, kann an dieser Stelle offen bleiben. S. dazu unten S. 47 ff., 50 f.

14

1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

nung 5 ebenso wie die Verhängung schuldüberschreitender Strafen 6 . A u c h in den Fällen, in denen die schuldangemessene Strafe präventiv verfehlt ist, w i r d den präventiven Strafzielen also keine korrekturgebietende Bedeutung zugestanden. Hieraus erhellt, daß die herrschende Meinung ausnahmslos die Schuld nicht nur als eine notwendige Voraussetzung neben der weiteren präventiver Erforderlichkeit versteht, sondern als alleinige notwendige und hinreichende Bedingung für das Ob und das Maß der zu verhängenden Strafe. Zur Begründung dieser Prädominanz der Schuldvergeltung genügt es nicht, sich auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz nulla poena sine culpa 7 zu berufen. Hierin ist nämlich die Schuld, selbst wenn dieses Schuldprinzip nicht nur eine Begrenzung der Strafe gebietet, sondern Schuld auch als Voraussetzung der Strafbarkeit anzusehen ist 8 , nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung 9 ; das i m Rechtsstaatsprinzip und in Art. 1 I G G fundierte Schuldprinzip 1 0 besagt nur: wenn Schuld vorliegt, dann darf gestraft werden 1 1 . A u c h der herrschenden Meinung ist klar, daß damit nur das Verbot der präventiv bedingten Schuldüberschreitung, nicht aber das der Schuldunterschreitung verfassungsrechtlich gedeckt i s t 1 2 . Diese Variante des Schuldprinzips ist offenkundig zu schwach, um den Vorrang der Schuldvergeltung zu rechtfertigen. Rekurriert werden muß folglich auf die starke Variante des Schuldprinzips, der die Forderung aus der Prädominanz der Schuldvergeltung: immer dann, wenn Schuld vorliegt, muß eine dem Schuldmaß entsprechende Strafe verhängt werden, eignet: nulla culpa sine poena. Die starke Variante des Schuldprinzips ist nun aber nur in einem absolut begründeten Strafrecht möglich. Ein rein präventives Strafkonzept hätte zwar vielleicht die Kraft, die notwendige Verhängung der in seinem Sinn schuldange5 BGHSt, 29, 319 (321); 32, 60 (65); (GS) 34, 345 (349); Bruns, NStrZR?, S. 37; ders., Grundfragen, S. 764; Schaff stein, Spielraum-Theorie, S. 105; Miiller-Dietz, Grundfragen, S. 29. — Der Entscheidung BGH NJW 1986, 1764 läßt sich keine Öffnung der Schulduntergrenze entnehmen; dazu eingehend Bruns, Unterschreitung; femer ders., NStrZR?, S. 36 f.; Μ / G / Z i p f A T / 2 § 63 Rn. 81, 34. 6 Fast einhellige Ansicht; s. nur BGHSt 20, 264 (267); BVerfGE 45, 187 (260); 54, 100 (108); w. (Rspr.-)N. bei Jescheck, A T § 82 I I I 3 (S. 785 u. Fn. 38);Sch / Sch / Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 13, 17. 7 BVerfGE 6, 389 (439); 9, 167 (169); 20, 323 (331); 28, 386 (391); 50, 125 (133); ferner s. nur M / D /Herzog, Art. 1 Rn. 32. 8 S. nur Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 268; densBetrachtungen, S. 230 Sp. 2; Η. Otto, AT, S. 225; Wessels, AT, S. 112; Sch / Sch /Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 109, je m. w. N. — Diese Frage kann hier offen bleiben. 9 Sch/Sch /Lenckner, Vorbem §§13 ff. Rn. 109; wohl auch Arthur Kaufmann, Betrachtungen, S. 228 Sp. 1 (Schuldmaßunterschreitung zulässig). •ο N. oben Fn. 7; kritisch Frister, Schuldprinzip, S. 28 f. 11 Zur legitimatorischen Bedeutung dieser replikativen Verknüpfung von Schuld und Strafe s. auch Haffke, Schuldlehre, S. 161. 12 S. etwa Jescheck, AT § 4 I 3; Bruns, RdStrZ, S. 93; U/Zipf A T / 1 § 7 Rn. 24; s. auch Frister, Schuldprinzip, S. 45; vgl. Haffke, Schuldlehre, S. 161 mit Fn. 31.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

15

messenen Strafe zu begründen 1 3 ; indes würde mit der rein präventiven Funktionalisierung des Schuldbegriffs zugleich die für die Schuldrahmentheorie wesentliche Differenz von Schuld und Prävention 1 4 beseitigt, der Vorrang der Schuld gegen den Vorrang der Prävention ausgetauscht 15 . Aber kein nicht-absolutes Konzept kommt ex definitione umhin, präventive Strafziele zu berücksichtigen 1 6 . Ein hierauf gestütztes konstitutives Schuldprinzip wäre infolgedessen zwar nicht ebenfalls vollständig präventiv funktionalisiert, aber doch in einem solchen Maß präventiv bestimmt, daß die Prävention — wie vermittelt auch immer — die Rolle einer notwendigen Bedingung für das Ob und Maß der zu verhängenden Strafe inne hätte 1 7 . A l l e i n ein absolutes Straf(rechts)konzept hat mithin die Potenz, jedwede präventionsorientierte Zumutung der Korrektur rein schuldangemessener Bestrafung zurückzuweisen und daher die starke Variante des Schuldprinzips stützen zu können 1 8 . Das absolute Strafkonzept verlangt jedoch nicht nur eine Limitierung der Verfolgung präventiver Strafziele — die dem Präventionsstrafrecht als normativ selbstverständliche Begrenzung staatlichen Handelns g i l t 1 9 , welche die rein präventive Strafrechtsbegründung nicht in Frage stelle 2 0 — , und es beschränkt sich auch nicht auf die Strafzumessung i m engeren S i n n 2 1 ; es fordert den Verzicht

13 s. nur Jakobs, A T 17/31. 14 Vgl. Μ / G / Z i p f , A T / 2 § 63 Rn. 3. 15 So etwa bei Jakobs, Schuld, S. 32 u. passim; demsAT 17 / 18 ff.; Streng, Schuld, S. 679 u. passim; dies kritisch feststellend ζ. B. Arthur Kaufmann, Betrachtungen, S. 229; Μ / Zipf, A T / 1 § 30 Rn. 49; Wessels, AT, S. 112; Sch / Sch / Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 117; Stratenwerth, Schuldprinzip, S. 31; Schünemann, Schuldprinzip, S. 170 ff. ι 6 Hierzu s. nur Jescheck, A T § 8 III, bes. 4; W. Hassemer, Strafziele, S. 45 f. 17 S.Ellscheid, Strafmaßschuld, S. 81 ff.; vgl. Grünwald, Rechtsfolgensystem AE, S. 97; Arthur Kaufmann, Betrachtungen, S. 229 Sp. 2; dens., Schuld und Prävention, S. 895; Roxin, Strafzumessung, S. 466 f.; dens., Diskussion, S. 305. is S. als einschlägige Referenztexte Kant, Metaphysik der Sitten, A 199; Hegel, Philosophie des Rechts, §§ 99 f.; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 116, 201 ff., 206 u. passim; knappe Zusammenfassung bei Jescheck, AT § 8 III; vgl. Naucke, Kant, S. 36. Ob Kant und Hegel hierfür zu Recht in Anspruch genommen werden — was, in neuester Zeit zunehmend, bezweifelt wird, vgl. nur R. Schmidt, Aufgaben, S. 24 f.; Seelmann, Hegels Straftheorie; Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 8 ff.; W. Hassemer, Symbolisches Straf recht, S. 555 Fn. 29; s. auch die Differenzierungen bei E. A. Wolff, Generalprävention, S. 787 f. — kann jedenfalls an dieser Stelle dahinstehen; wären die Zweifel berechtigt, dann fielen zwar starke Autoritäten aus, dies änderte aber nichts daran, daß nur eine absolute Straf(rechts)begründung die starke Variante des Schuldprinzips zu stützen vermag. 19 S. Baumann / U. Weber, AT, S. 13; LK-G. Hirsch, Vor § 46 Rn. 14; Lackner, § 46 Anm. I I I 2 a ; Jescheck, A T § 4 I 2, je m. w. N. 20 Dazu s. nur Μ / Z i p f A T / 1 § 7 Rn. 1, 11 ff.; M/G/Zipf A T / 2 §63 Rn. 1; Schünemann, Schuldprinzip, S. 195, 188 f.; W. Hassemer, Strafziele, S. 41 f. 21 Wobei hier noch weiter problematisiert werden könnte, ob die absolute Theorie die Berücksichtigung präventiver Strafziele im Schuldrahmen erlaubt — so ζ. B. Schild, Aktualität, S. 218 f., 226 ff.; ders., Ende und Zukunft, bes. S. 104, 110 — oder nicht — so ζ. B. Köhler, Strafzumessung, S. 25.

16

1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

auf Präventionszwecke überhaupt 2 2 . Ein solches Strafkonzept ist daher m i t einem Strafrecht, das — wie beispielsweise die Vorschriften zur Strafzumessung i m weiteren Sinn deutlich zeigen — Prävention beabsichtigt und das sich nach herrschender Ansicht präventiv als M i t t e l des Rechtsgüterschutzes legitimiert 2 3 , schlechterdings unvereinbar. Das sieht auch die herrschende Meinung so 2 4 . A u ßerdem erachtet sie die absolute Straftheorie für verfassungsrechtlich zumindest höchst bedenklich 2 5 und philosophisch nicht (mehr) haltbar 2 6 ; den Grundsatz nulla culpa sine poena lehnt sie aus vornehmlich kriminalpolitischen Gründen a b 2 7 . Die herrschende Meinung ist somit von den eigenen Prämissen her gezwungen, die auf die starke Variante des Schuldprinzips angewiesene Schuldrahmentheorie aufzugeben. Daß die herrschende Meinung dennoch an der Schuldrahmentheorie festhält, resultiert ganz offensichtlich nicht daraus, daß der höchst unbestimmte § 46 I 1 StGB nur diese Auslegung gestattet 28 , sondern erklärt sich w o h l aus fehlender Einsicht in dieses notwendige Bedingungsverhältnis von Prädominanz des Schuldausgleichs, starker Variante des Schuldprinzips und absolutem Strafkonzept. Diese Einsicht bleibt aus, da die herrschende Meinung Inkonsistenzen ihrer Straf(rechts)konzeption oder jedenfalls deren legitimatorische Konsequenzen nicht realisiert. Sie behauptet, ihr vereinigungstheoretisches Konzept entspreche den präventiven Legitimationsanforderungen durchgängig, weil neben der unmittelbaren Verfolgung präventiver Z i e l e 2 9 auch mit dem repressiven Einsatz der Strafe „mittelbar immer eine vorbeugende Aufgabe" erfüllt werde, „die gerechte Strafe" sei „ein i m Interesse der Allgemeinheit unerläßliches Instrument zur Erhaltung der sozialen O r d n u n g " 3 0 : Generalprävention durch gerechte Vergeltung 3 1 . Die präventive 22

„Poena absoluta ab effectu". Zu dieser Aufgabenbestimmung und Legitimation s. nur Rudolphi SK-StGB Vor § 1 Rn. 12 ff., 1 ff.; Jescheck, A T § 1 III, I f.; Μ / Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 1 ff., je m. w. N. 2 * Μ / Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 17; Jescheck, A T § 8 I I I 4. 2 5 Rudolphi SK-StGB Vor § 1 Rn. 1; Müller-Dietz, Strafe, S. 31 Rn. 59, je m. w. N.; vgl. Neumann / Sehroth, Kriminalität und Strafe, S. 14 f.; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 318 ff. 26 Als paradigmatischer Text der Strafrechtsreform darf Klug, Abschied von Kant und Hegel, bes. S. 41, gelten; s. ferner Noll, Begründung, insb. S. 6; Müller-Dietz, Strafbegriff, S. 13 ff.; vgl. m. w. N. W. Hassemer, Strafziele, S. 40 f., 48 ff.; MüllerDietz, Grundfragen, S. 80 ff.; Schünemann, Schuldprinzip, S. 158. 2 ? Gallas, Ndschr. Bd. I, S. 64; Müller-Dietz, Schuldgedanke, S. 39 m. w. N. 2 8 Zu den Interpretationsmöglichkeiten und zur Unbestimmtheit des § 46 I 1 StGB s. nur Stratenwerth, Tatschuld; Lackner, Fehlleistung; densEntwicklungen, S. 24 ff.; Horstkotte, Strafbemessung; Höche / K. F. Schumann, Strafzumessung, S. 220 ff. 29 Im Rahmen der schuldangemessenen Strafe, bei der Strafzumessung im weiteren Sinn, beim Strafvollzug usf.; näher Jescheck, AT § 1 I I 2. 30 Jescheck, AT, S. 4 (bis zum Wort „Aufgabe" im Original hervorgehoben). 31 S. etwa Gallas, Verbrechenslehre, S. 4; Baumann HJ. Weber, AT, S. 18; Bruns, StrZR, S. 312; Jescheck, A T § 1 I I 1; § 8 V 1, 2 m. w. N. 23

§ 1. Die Kardinalprinzipien

17

Legitimität ist danach gegeben, wenn die schuldvergeltende Strafe generalpräventiv wirkt oder wenn in Fällen von Strafzielantinomie, und das heißt zugleich bei erbrachtem Gegenbeweis, die Schuldstrafe den generalpräventiven Erfordernissen gemäß korrigiert wird. Dem zuwiderlaufend gibt das herrschende Konzept bei Antinomie jedoch dem Schuldausgleich den V o r z u g 3 2 . Das bedeutet, daß Generalprävention bei der Entscheidung über das Ob und Maß der Strafe konzeptionell als bloßes Derivat gerechter Vergeltung rangiert. Die so von der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts abgekoppelte Strafe 3 3 steht infolgedessen auch außerhalb des allgemeinen präventiven Rechtfertigungszusammenhangs: sie bedarf einer gesonderten Begründung 3 4 . Dies gilt unabhängig davon, wie häufig und intensiv Strafzielantinomien auftreten. Denn da der Prävention bei der Strafzumessung i m engeren Sinn nicht einmal der Status einer notwendigen Bedingung zugestanden wird, vermag eine noch so weitgehende Kongruenz von Schuld- und Präventionsstrafen nichts daran zu 32 Bruns, StrZR, S. 219 f.; LK-G. Hirsch, Vor § 46 Rn. 19; Zipf, Strafmaßrevison, S. 55 ff., je m. w. N. — Wenngleich sich viele Konzepte als „Vereinigungstheorie", „Spielraumtheorie" oder der Formel „Generalprävention durch gerechte Vergeltung" verpflichtet bezeichnen, muß scharf zwischen der herrschenden und abweichenden Varianten unterschieden werden. Denn Autoren, die wie Roxin, Diskussion, S. 306, zumindest von einer Rückwirkung der Prävention auf die Schuld ausgehen, kommen infolgedessen zu anderen Vorzugsregeln und Ergebnissen als die herrschende Schuldrahmentheorie. So sieht z. B. Roxin, Strafzumessung, S. 466 f.; Diskussion, S. 306, die „Spielraumtheorie" zwar im Recht, aber nur „erkenntnistheoretisch", und vertritt aufgrund seiner Annahmen daher im übrigen gegen die herrschende Meinung die Auffassung, daß der Spielraum allein spezialpräventiv auszufüllen sei, die Schuldstrafe aber auch unterschritten werden könne. Nur für solche „Vereinigungstheorien" trifft deshalb die Ansicht von W. Hassemer, Strafziele, S. 42 mit Fn. 14, zu, die Vergeltungstheorien hätten darin keinen bestimmenden Einfluß auf die Strafbegründung mehr. S. auch Jakobs, A T 1 / 50 mit Fn. 73. Zum allgemeinen Bekenntnis zur „Spielraumtheorie" vgl. Schünemann, Schuld und Kriminalpolitik, S. 309 Fn. 79; dens., Schuldprinzip, S. 188 (Fn. 70), 190. 33 Vgl. Ellscheid, Strafmaßschuld, S. 79; Schünemann, Schuldprinzip, S. 157, 158 f. — Vor diesem Konzept der Entkopplung von Strafrechts- und Strafbegründung wird auch deutlich, weshalb die herrschende Meinung in dem oft bemühten Satz aus BGHSt 24, 40 (42), „daß die Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um ihrer [wohl: seiner — K. H.-H.] selbst willen zu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist", anders als insbesondere die Befürworter einer spezialpräventiv begründeten Unterschreitung des Schuldstrafmaßes — s. nur Sch / Sch / Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 18 a; Lackner, § 46 Anm. I I I 2 a m. w. N. — keine Abweichung von der in den späteren Entscheidungen fortgesetzten Orientierung am Schuld-Sühne-Prinzip zu sehen vermag. Zum einen, weil diese Entscheidung zur präventiven Ziele unmittelbar verfolgenden Strafzumessung im weiteren Sinn ergangen ist — dies betont zu Recht Bruns, NStrZR?, S. 26 Fn. 55. Zum anderen aber, und vor allem, weil sich das Zitat als Programm der herrschenden Vereinigungstheorie lesen läßt, was durch den voranstehenden Halbsatz — „Dem 1. Strafrechtsreformgesetz liegt der Gedanke zugrunde" — bestätigt wird. Und nach dieser Theorie versteht es sich von selbst, daß die präventive Schutzaufgabe auch durch gerechte Vergeltung erfüllt wird oder — sollten Schuld und Prävention nicht zusammenfallen — der Schuld der Vorrang gebührt; hierzu s. nur Bruns, StrZR, S. 312; Jescheck, A T § 8 I I 4, V 3, § 82 I I I 3. 34 Vgl. Schünemann, Schuldprinzip, S. 159. 2 Hart-Hönig

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

ändern, daß die präventive Wirksamkeit nur Derivat, nicht aber Konstituens ist. Es besteht daher eine Divergenz von Strafrechts- und Strafbegründung. Das sich präventiv rechtfertigende Strafrecht darf eine geringe Zahl von Antinomien für sich legitimierend in Anspruch nehmen. Hinsichtlich der Strafzumessung i m engeren Sinn jedoch entlastet eine weitgehende Kongruenz präventiv und repressiv gebotener Strafen nur von dem V o r w u r f präventiver Un- oder gar Kontraproduktivität 3 5 , verschafft aber keine L e g i t i m i t ä t 3 6 . Die Prädominanz der Schuldvergeltung fordert eine nicht-präventive Legitimation: an die Stelle der Begründung über Folgen tritt die Begründung über Begriffe 3 7 . Während eine solche Begründung für das Verbot der Schuldmaßüberschreitung gegeben w i r d 3 8 , findet sich zum Verbot der Schuldmaßunterschreitung nur das lapidare Bekenntnis zur „Bestimmung" der Strafe „als gerechter Schuldausgleich", von der man sich auch nach unten nicht lösen dürfe 3 9 . Dieser Imperativ ist aber selbstverständlich allein innerhalb eines Vergeltungsstrafrechts 40 , das sich freilich — wie gezeigt — nur absolut begründen läßt und auf das hier daher auch implizit nicht zurückgegriffen werden darf. M i t Differenzierungen wie denen zwischen Rechtfertigung und Sinn der Strafe 4 1 oder denen nach Stufen der Strafrechtsverwirklichung 4 2 wird i m wesentlichen nur die Herauslösung der Strafe aus dem allgemeinen präventiven Rechtfertigungszusammenhang des Strafrechts terminologisch gefaßt und eine theoretische Ordnungsfunktion erfüllt 4 3 . Soweit damit auch eine Begründung des herrschenden Konzepts intendiert i s t 4 4 , werden entweder die gerade erörterten systemlogischen

35 Vgl. Noll, Strafe, S. 52; Schiinemann, Schuldprinzip, S. 155 Fn. 4. Allgemeiner zur Reaktion der Strafrechtstheorie auf Legitimationsdruck und wechselnde Legitimationsanforderungen W. Hassemer, Einführung, S. 22 f. 36 Zu diesem begründungstheoretischen Zusammenhang s. prägnant Köhler, Strafzumessung, S. 22 ff. — Da sich die legitimatorische Irrelevanz des Antinomieumfangs bereits begründungstheoretisch ergibt, kann hier offen bleiben, ob sich die geringe Zahl von Antinomien nicht der tatsächlichen Konfundierung von Schuld und Prävention verdankt, was zur Folge hätte, daß dieser Befund nur in Anspruch genommen werden dürfte, wenn auch die Strafe auf präventive Rechtfertigung verpflichtet würde. 3 ? Eingehend zu diesem Zusammenhang von Strafkonzept und Legitimation W. Hassemer, Strafziele, S. 44 ff. m. N. 3 « S. oben S. 14, 15. 3 9 BGHSt 24, 132 (134). Mehr als dieses Zitat oder Paraphrasen sind nicht zu finden; exemplarisch Jescheck, A T § 82 I I I 3 (S. 786); Μ j Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 24. 40 Vgl. Schiinemann, Schuldprinzip, S. 156; dens., Strafzumessung, S. 210. 41 So ζ. B. Jescheck, AT § 8 I I (S. 58); vgl. auch die Differenzierungen bei Gössel, Sanktionen. 4 2 So ζ. B. Müller-Dietz, Grundfragen, S. 30 ff.; Κ / Κ / Schöch, Strafvollzug, S. 90 f., je m. w. N. 43 Vgl. Neumann / Sehroth, Kriminalität und Strafe, S. 5. 44 D. h. Ansätze, die sich jenseits der Maßgaben der herrschenden Meinung bewegen — wie ζ. B. Haffke, Strafrecht; W. Hassemer, Strafzumessung, Strafvollzug —, bleiben außer Betracht.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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und legitimatorischen Inkonsistenzen reproduziert 4 5 oder nur die hier festgestellten Mängel und Widersprüche beklagt 4 6 . Die herrschende Meinung bleibt die (explizite) Begründung der durch den strikten Vorrang der Schuldvergeltung gekennzeichneten Variante der Schuldrahmentheorie schuldig. Sie legt nicht dar, wie sich deren notwendige Voraussetzung, das Nulla-culpa-sine-poena-Prinzip, anders als absolut begründen läßt. Unabhängig von ihrer Ablehnung des absoluten Straf(rechts)konzepts hält sie zumindest objektiv i m Widerspruch zu ihren eigenen präventionsstrafrechtlichen Prämissen und deshalb ungerechtfertigt an dieser Auslegung des § 46 I 1 StGB fest. Daß sich diese Auslegung schließlich durch den Aufweis der rudimentären (Fort)existenz des vergeltungsstrafrechtlichen Nulla-culpa-sine-poena-Grundsatzes 4 7 — z. B. in Gestalt nur so erklärbarer Strafdrohungen — verteidigen läßt, ist höchst zweifelhaft. Nicht nur sprächen methodologische und verfassungsrechtliche Gründe dagegen, diesem systemunverträglichen Rudiment — noch dazu verallgemeinernd — Geltung zu verschaffen. Vielmehr gewinnt man angesichts mancher abweichenden Interpretation 4 8 und der über § 46 StGB hinausführenden Auseinandersetzung um den Schuldbegriff den Eindruck, daß i m geltenden Strafrecht überhaupt keine von Prävention gänzlich unberührten Inseln der starken Variante des Schuldbegriffs zu finden sind. Sollte sich feststellen lassen, daß die Schuld i m ganzen gesehen in einem nicht zu vernachlässigenden Umfang präventiv (mit)bestimmt wird, dann wäre das jedoch nicht nur ein weiteres Argument gegen die herrschende Version der Schuldrahmentheorie. Denn wenn sich dem geltenden Strafrecht kein präventionsfreier Schuldbegriff entnehmen ließe, wäre darüber hinaus dem herrschenden wie allen anderen Strafzumessungsmodellen insoweit die sachliche Grundlage entzogen, als sie auf präventionsfreier Schuld und der (sauberen) Trennung von Schuld und Prävention aufbauen 4 9 .

I I . Präventive Determination der Schuld 1. Das herrschende Schuldverständnis Die Chancen, i m geltenden Strafrecht einen präventionsfreien Schuldbegriff auszumachen, stehen äußerst schlecht. Nicht nur das ausschließlich an präventi-

45 Vgl. z. B. Jescheck, AT, S. 3 f., 57 f., 61, 67; w. N. und näher ausgeführte Kritik bei Haffke, Strafrecht, S. 45 f. 46 Vgl. Müller-Dietz, Grundfragen, S. 33, 50 f., ferner S. 119 f. 47 Knappe Wiedergabe und N. vergeltungstheoretischer Argumente in der Entstehungsgeschichte des § 46 StGB bei Stratenwerth, Tatschuld, S. 10 ff.; Schünemann, Schuldprinzip, S. 155 Fn. 4. 48 Insb. Roxin, Strafzumessung, S. 466 f. u. passim; ders., Diskussion, S. 304 ff. 49 Vgl. Jakobs, Schuld, S. 5. 2*

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

ven Strafzielen orientierte Schuldverständnis weist nämlich auf das Gegenteil hin, sondern auch das der herrschenden Doktrin. a) Das Schuldverständnis

der herrschenden

Doktrin

Die herrschende Doktrin hält zwar an der menschlichen Entscheidungsfreiheit fest 5 0 , aber zur Begründung beruft sie sich nicht auf faktische individuelle W i l lensfreiheit, sondern darauf, daß die Gewißheit der Freiheit als Voraussetzung menschlichen Handelns „eine unbezweifelbare Realität unseres sozialen und moralischen Bewußtseins" sei 5 1 . Als Maßstab für das Schuldurteil nimmt die herrschende Lehre dementsprechend nicht das (festzustellende) individuelle Können, sondern ein generelles Können. Hierunter versteht sie konsequent nicht das Können eines empirischen Durchschnittsmenschen, sondern das von der Rechtsgemeinschaft erwartete, das Können eines „ ,maßgerechten ' Menschen" 5 2 . Es geht also nicht um die Erkenntnis wirklicher Schuld, sondern um die normative Festlegung von Verantwortlichkeit, um die Zuschreibung von Schuld 5 3 . Daß nach dem Maßstab eines normativen Menschen zugeschriebene Schuld anstelle w i r k l i cher Schuld eine mit einem persönlichen V o r w u r f verbundene 5 4 schuldbezogene Strafe zu rechtfertigen vermag, begründet die herrschende Lehre damit, daß „die Verantwortlichkeit des erwachsenen und seelisch gesunden Menschen eine unentbehrliche Vorbedingung jeder auf Freiheit gegründeten Sozialordnung" sei 5 5 . Das unterscheidet sich nur unwesentlich 5 6 von Kohlrauschs berühmtem D i k t u m v o m „individuellen Können . . . als staatsnotwendige[r] F i k t i o n " 5 7 und dessen so Sch / Sch / Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 110; Jescheck, A T § 37 I 1, S. 366; Wessels, A T § 10 I 2; Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 13, je m. w. N. 51 Jescheck, A T § 37 I 3, S. 370 — im Original hervorgehoben; unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Jescheck oder in demselben Sinn s. etwa m. w. N. Rudolphi SK-StGB Vor § 19 Rn. 1; Sch / Sch / Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 110; Wessels, A T § 10 I 2; Naucke, Strafrecht, § 7 II 3 f aa, S. 229; Lackner, Vor § 13 Anm. I I I 4a aa; vgl. Schiinemann, Schuldprinzip, S. 163 ff. 52 Nowakowski, Grundzüge, S. 67; s. ebenda S. 65 ff. u. WK-Nowakowski, Vorbem 47 vor § 3; s. ferner Jescheck, A T § 39 I I I 2, S. 385 f. — vgl. auch S. 386 Fn. 33 — , § 37 I 2 a, S. 368; Sch / Sch / Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 110; Bockelmann I Volk, AT, S. 110 f.; LK-Lange, § 21 Rn. 6; je m. w. N. 53 Neumann, Argumentationsmuster, S. 586; Müller-Dietz, Grundfragen, S. 12; Sch/ Sch!Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 110; Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 150; Roxin, Problematik, S. 650; Backes, Lebenswirklichkeit, S. 55; P.-A. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 196 f.; vgl. Rudolphi SK-StGB Vor § 19 Rn. 1; Schild AK-StGB Vor § 13 Rn. 34; s. auch Kerner, Unrechtsbewußtsein, S. 102 f. 54 S. nur Rudolphi SK-StGB Vor § 19 Rn. 1 m. w. N.; vgl. Neumann, Argumentationsmuster, S. 585 ff. 55 Jescheck, A T § 39 I I I 2, S. 386; w. N. wie Fn. 51. 56 So wohl auch Stratenwerth, A T I Rn. 11 (vgl. aber dens., Willensfreiheit, zu den normativen Bedingungen, die ein Strafrecht erfüllen muß, wenn es sich auf diese Fiktion gründen will); Seelmann, Schuldbegriff, S. 508. 57 Kohlrausch, Sollen und Können, S. 26 — im Original hervorgehoben. — Die reale Existenz von Vorstellungen von individueller Freiheit spricht nicht dagegen, die Unter-

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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Rechtfertigung der darin liegenden „Umdrehung von Können und Sollen": Das Strafrecht „verwertet den großen Grundsatz aller Erziehung, daß der Mensch vor Forderungen und Aufgaben gestellt werden muß, damit seine Kräfte daran wachsen. Das Sollen hat die Kraft des Könnens zu stählen. ,Du kannst, denn du sollst; du sollst eben können! 1 ,, 5 8 . Die Bestrafung des Täters ist demnach — zugespitzt formuliert — „ M i t t e l zum Zweck, Verantwortungsappelle an die Allgemeinheit zu entsenden" 5 9 . Es für die Begründung der mit einem persönlichen V o r w u r f verbundenen Schuldstrafe genügen zu lassen, daß „andere an diese Schuld glaub e n " 6 0 , beruht auf Zweckmäßigkeitserwägungen über die Aufrechterhaltung der Ordnung einer sich über die Freiheit(süberzeugungen) ihrer Mitglieder definierenden Gesellschaft, also auf einem präventiven Strafkonzept 6 1 . Stellung tatsächlicher individueller Freiheit Fiktion zu nennen (so aber z. B. Jescheck, AT, S. 370 Fn. 22 m. w. N.; vgl. auch Neufelder, Schuldbegriff, S. 306; Griffel, Prävention und Schuldstrafe; dens., Widersprüche; Tiemeyer, Grundlagenprobleme, bes. S. 221 ff.; dens., Möglichkeit). Diese Bezeichnung ist aber jedenfalls dann unter ideologiekritischem Aspekt gerechtfertigt, wenn — wie die h. M. bzgl. der Schuldrahmentheorie — präventionsfreie Individualschuld insinuiert, d. h. die sozialkommunikative Dimension ausgeblendet wird. — Ob eine Gegenüberstellung von staatsnotwendiger und freiheitsverbürgender Fiktion (so Roxin, Problematik, S. 651) dem Staatsbegriff Kohlrauschs und mehr noch einem modernen (freiheitlichen, demokratischen) Staatsbegriff gerecht wird, mag dahinstehen. Hier genügt es, vorläufig festzuhalten, daß sich eine Freiheitsfiktion sowohl als Mittel zur Herstellung tatsächlicher Freiheit (so wohl die Intention Roxins; s. dieselbe Stoßrichtung bei H. Otto, Schuld, sowie Arthur Kaufmann, Betrachtungen, S. 233 Sp. 2) als auch dazu nutzen läßt, durch Vortäuschung realer Freiheit die tatsächliche Unfreiheit aufrechtzuerhalten (so mit Hinweis auf Adorno, Negative Dialektik, S. 214: „Die intelligible Freiheit der Individuen wird gepriesen, damit man die empirischen hemmungsloser zur Verantwortung ziehen, sie mit der Aussicht auf metaphysisch gerechtfertigte Strafe besser an der Kandare halten kann", Ellscheid / W. Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, S. 275 f. u. Fn. 20). 58 Kohlrausch, Sollen und Können, S. 26 f.; vgl. hierzu wiederum Nowakowski, Grundzüge, S. 67: „ . . . nicht das individuelle Können des Täters. . sondern ein generelles Sollen entscheidet". 59 Krümpelmann, Schuldfähigkeit, S. 32 f.; zustimmend Roxin, Diskussion, S. 291 f.; s. ferner Noll, Schuld und Prävention, S. 227; Krümpelmann, Sozialer Schuldbegriff, S. 337 f. u. dem beipflichtend Lackner, Prävention, S. 260; vgl. die ähnlichen Beurteilungen bei Brauneck, Schuldstrafrecht, S. 137, 139 u. passim; Schmidhäuser, A T (LB) 3 / 18; s. auch den grundlegenden Beschluß zum Verbotsirrtum BGHGSSt 2, 194 (201). 60 Stratenwerth, A T I Rn. 11 — „andere" im Original hervorgehoben; vgl. Schild AK-StGB Vor § 13 Rn. 32; ferner Roxin, Schuld und Verantwortlichkeit, S. 186; die N. zur normativen Schuldlehre bei Μ / Zipf, A T / 1 § 30 Rn. 19. — Dem läßt sich nicht entgegenhalten, daß auch der über ein Gewissen verfügende Täter Schuld als Wirklichkeit erlebe (so etwa Baumann I U. Weber, A T § I I I 1, S. 359; s. auch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 207 Fn. 418 m. w. N.). Denn das Gewissen sperrt sich gegen positive Feststellungen ebenso wie die individuelle Freiheit {Jescheck, A T § 37 I I 1, S. 371), so daß sich das über Indikatoren oder Abfragen „feststellbare" Schulderleben nicht als originär deuten läßt, es sich jedenfalls nicht hinreichend ausschließen läßt, daß es sich dabei nur um das Derivat eines vorgängigen sozialen Zuschreibungsprozesses, einer sozialisierenden Interaktion handelt (s. nur Berger / Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion, S. 122, 181; McPartland / Cumming, Selbstkonzept). 61 Stratenwerth, A T I Rn. 11; Roxin, Diskussion, S. 291 f.; Jakobs, A T 17 / 25; ders., Verhältnis, S. 129.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell Wenngleich nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, daß auch prä-

ventiv unbeeinflußte Gerechtigkeitsvorstellungen die Schuldzuschreibung bestimmen 6 2 , so w i r d die Schuld aber jedenfalls so weit präventiv determiniert, daß sie als Strafgrund i m Sinn der starken Variante des Schuldprinzips nicht in Betracht kommt. Z u m Abrücken von der Schuldvoraussetzung der individuellen Willensfreiheit des Täters — und damit von der starken Variante des Schuldprinzips 6 3 — und deren Ersetzung durch die Willensfreiheit des maßgerechten Menschen hatte die herrschende Lehre freilich keine Alternative. Unter den von ihr akzeptierten — und daher hier nicht weiter als nicht-dispositiv zu rechtfertigenden — Randbedingungen: wissenschaftlich-empirische Beweisbarkeit 6 4 , strafprozessuale Feststellbarkeit 6 5 und nicht-absolute Strafbegründung, bot einzig der Rückgriff auf gesellschaftliche Vorstellungen über die Freiheit menschlichen Handelns die Möglichkeit, eine Schuldstrafe, und das heißt eine an die Freiheit des Menschen geknüpfte Strafe, — wie vermittelt und triftig auch immer — zu begründen. Empirisch bzw. in den Formen und mit den Mitteln des Strafverfahrens läßt sich nur die Einschränkung von Freiheit durch Kausalfaktoren feststellen, nicht aber positiv die Freiheit des konkreten Täters (in der Situation der T a t ) 6 6 . Das heißt zugleich, daß auch hinsichtlich des empirischen Durchschnittsmenschen nur der Durchschnitt seiner Freiheitsdefizite, nicht aber der seiner Freiheit nachgewiesen werden kann. Maßstab des positiven Schuldurteils kann also nur ein normativer Durchschnittsmensch sein, der sich aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein gewinnen läßt, in dem allein Freiheit auf positiv feststellbare Weise erscheint, und der folgerichtig in der Weise normativiert und gesetzestechnisch umgesetzt ist, daß er dem Richter nicht die Feststellung der Freiheit, sondern nur der Freiheitsbeschränkungen des Täters abverlangt 6 7 . Mithilfe dieses Maßstabs wird aber nicht die wirkliche Schuld des Täters ermittelt, ihm w i r d Schuld zugeschrieben. Gegen diese Bewertung w i r d eingewendet, das generelle Können sei lediglich derjenige Maßstab, der wegen des notwendig analogischen Charakters der Schuldfeststellung schon immer zugrunde gelegen habe; mit dessen Offenlegung werde zwar die Unsicherheit des Schuldurteils sichtbar, ändere sich aber nichts daran, daß so die Schuld des konkreten Täters ermittelt werde 6 8 . 62 Vgl. Lüderssen, Tendenzen, S. 182; Neumann, Argumentationsmuster, S. 589, 592 f.; dens., Zurechnung, S. 271 ff.; K.-L. Kunz, Prävention und gerechte Zurechnung, S. 830 ff.; Neumann / Schroth, Kriminalität und Strafe, S. 10. 63 Stratenwerth, A T I Rn. 11; vgl. Naucke, Kant, S. 23. 64 S. nur Schreiber, Schuldstrafrecht, S. 285; Jescheck, A T § 37 I 2 a, S. 368 m. w. N. 65 S. nur Stratenwerth, A T I Rn. 13; Schreiber, Schuldstrafrecht, S. 285; eingehend dazu W. Hassemer, Einführung, S. 232 f. 66 W. Hassemer, Einführung, S. 229 f., 233; Stratenwerth, A T I Rn. 12 f., 513; Bokkelmann / Volk, AT, S. 109; Blei, AT, S. 178 f.; LK-Lange, § 21 Rn. 6; Schmidhäuser, A T (LB) 6 / 2 4 ; Haddenbrock, Freiheit; Neufelder, Schuldbegriff, S. 301 ff.; Jescheck, A T § 37 I 2 a, S. 368, m. w. N. 67 S.W. Hassemer, Einführung, S. 233; dens., Schuld und Verantwortung, S. 379.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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Soweit sich dieser Einwand auf das generelle Können des empirischen Durchschnittsmenschen bezieht, geht er fehl, weil er entweder bereits verkennt, daß sich auch analogisch nur dessen Unfreiheit (Nicht-Können) empirisch feststellen läßt, oder aber jedenfalls, daß Freiheit (Können) auf einer anderen Ebene als Unfreiheit angesiedelt ist und deshalb der Schluß v o m Fehlen feststellbarer Unfreiheit des Täters auf dessen Freiheit kategorial falsch i s t 6 9 . Es geht nicht darum, ob eine notwendig an dem empirischen Durchschnittsmenschen sich ausrichtende analogische Ermittlung individueller Freiheit bzw. Schuld ein Zuschreibungsmoment enthält, sondern darum, daß es notwendige Voraussetzung für ein positives Schuldurteil ist, von diesem Kriterium des empirischen zu dem des normativen Durchschnittsmenschen zu wechseln 7 0 , es sich damit aber der Sache nach nicht mehr um Schulderkenntnis, sondern um Schuldzuschreibung handelt. Soweit sich der Einwand auf das generelle Können des normativen Durchschnittsmenschen bezieht, verkennt er die Voraussetzungen für einen Analogieschluß und dessen Struktur. Der Analogieschluß ist ein Schluß v o m Besonderen zum Besonderen über ein Allgemeines, das tertium comparationis 7 1 . Der normative Durchschnittsmensch taugt aber weder zum Analogat noch zum tertium comparationis. Der normative Durchschnittsmensch repräsentiert nämlich nicht das Können realer Individuen, sondern das gesollte Können eines Konstrukts; er hat also nicht den Status des Besonderen, sondern weist eine Abstraktionsleistung auf wie ein tertium comparationis 7 2 , kommt mithin als Analogat nicht in Betracht. Aber auch als tertium comparationis zur analogischen Feststellung individueller Schuld ist die Figur des normativen Durchschnittsmenschen nicht geeignet, da sie auf einer Ebene angesiedelt ist, von der aus eine Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Können wirklicher Menschen herzustellen nicht möglich ist. Der normative Durchschnittsmensch mag zwar ein T y p u s 7 3 sein, d. h. „ m i t dem einen Bein in der Welt des Wahrnehmbaren, mit dem anderen in der Welt des I n t e l l i g i b l e n " 7 4 68 Mit Variationen, Differenzierungen und Einschränkungen vertreten von Mangakis, Strafrechtsschuld, S. 519; Arthur Kaufmann, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 29 ff.; demsSchuld und Prävention, S. 893; dems., Betrachtungen, S. 227 — vgl. dens., Schuldprinzip, S. 223 ff; Schuld und Prävention, S. 896 f. —; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 27 f.; dens. SK-StGB Vor § 19 Rn. 1, § 20 Rn. 4 a, 26; H. Otto, Unrecht, S. 583; dens., Schuld, S. 486; dens., AT, S. 228; Maiwald, Sozialer Schuldbegriff, S. 164 ff.; Sch / Sch / Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 110. — Den vielen Nuancen kann hier nicht Rechnung getragen werden; es wird daher im folgenden nur exemplarisch und partiell ad personam, grundsätzlich aber nur systematisch-verallgemeinernd argumentiert; es ist also zu beachten, daß die genannten Autoren nicht in jeder Hinsicht und nicht in demselben Maß von der folgenden Kritik betroffen sind. 69 Neumann, Argumentationsmuster, S. 587. 70 So wohl auch Arthur Kaufmann, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 30; Rudolphi SK-StGB § 20 Rn. 4 a. 71 Dazu eingehend Arthur Kaufmann, Analogie, S. 34 ff. u. passim. 72 Dazu Arthur Kaufmann, Analogie, S. 44, 47 u. passim. 73 Dazu grundlegend W. Hassemer, Tatbestand und Typus, bes. S. 65 ff.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

stehen. Aber auch wenn man dem folgt und die Begründung individueller Freiheit in gesellschaftlichen Vorstellungen von individueller Freiheit nicht als Fundierung allein i m Intelligiblen betrachtet, so steht dieser Typus mit dem einen Bein aber jedenfalls nicht i n der Welt wahrnehmbarer individueller Freiheit, sondern in der kategorial differenten Welt wahrnehmbarer Vorstellungen über Freiheit, Erwartungen an das Können des Menschen, d. h. in der W e l t beobachtbarer Sollensanforderungen. V o n dem so konstituierten Typus einen gültigen Schluß auf die wirkliche individuelle Schuld zu erwarten, beruht daher auf einem Kategorienfehler. W i r d ein Täter mittels dieses Typus beurteilt, so wird nicht seine wirkliche Schuld festgestellt, i h m w i r d Schuld zugeschrieben 75 . Die Feststellung wirklicher Täterschuld (in der Situation der Tat) scheitert jedoch nicht allein an fehlenden statthaften und geeigneten Erkenntnismöglichkeiten: M i t der Individualisierung des Schuldurteils soll gar nicht Ernst gemacht werden. Die herrschende Lehre lehnt es nämlich ab, „den individuellen Täter zum Maßstab seiner Schuld zu nehmen", da infolgedessen absolute Charakterlosigkeit zur absoluten Verneinung des Schuldvorwurfs zwänge, „während die Rechtsordnung gar nicht u m h i n " könne, „ein Mindestmaß an Willensanstrengung zu fordern, wenn sie überhaupt durch Normen (anstelle von unmittelbarem Zwang) aufrechterhalten werden" solle 7 6 . V o r allem macht sie darauf aufmerk74

Arthur Kaufmann, Betrachtungen, S. 227 Sp. 2. 75 Sch / Sch / Lenckner, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 110; Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 150; Roxin, Problematik, S. 850; Neumann, Argumentationsmuster, S. 586 m. w. N. — Dieses Verfahren im praktisch(-forensisch)en Diskurs — in dem es (wenn die normalerweise als gegeben unterstellte Schuld ausnahmsweise und oft nur auf Initiative des Beschuldigten hin einmal thematisiert wird — zu diesem strafprozessualen Datum in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht s. Kerner, Unrechtsbewußtsein, S. 95 ff. und knapp Rudolphi, Widerstreit, S. 23 ff., je m. w. N.) vordergründig ja um die Ermittlung von Freiheitsbeschränkungen über beobachtbare Indikatoren geht — dennoch weiterhin Schuldfeststellung zu nennen, ist nicht zu beanstanden und wird im folgenden auch hier so gehandhabt. Wenn dagegen die Schuldzurechnung im theoretischen Diskurs bewertet wird, sollte aufgrund der klaren sprach- und handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen Feststellung und Festlegung / Zuschreibung von Zuschreibung gesprochen werden. — In welchem Sinn der Terminus Zuschreibung hier konkret gebraucht wird, sollte durch die vorangegangenen Ausführungen hinreichend klar geworden sein. Zur Vermeidung von insbesondere durch die radikale Variante des labeling approach (exemplarisch für Glanz und Elend der radikalen Variante Keckeisen, Definition; detaillierte Darstellung aller Varianten bei Rüther, labeling approach; s. die knapp referierte zutreffende kriminalpolitische, theoretische und empirische Kritik der radikalen Variante m. w. N. bei Neumann / Schroth, Kriminalität und Strafe, S. 80 ff.; W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 174 ff.; s. auch Schild, Strafrichter, S. 28 ff.; dens. AK-StGB §§ 20, 21 Rn. 63 ff.; eingehend Kuhlen, Objektivität) veranlaßten Mißverständnissen bzw. zur Abgrenzung von deren Zuschreibungs-These sei dennoch hervorgehoben, daß Zuschreibung von Schuld nicht heißt, daß das Schuldurteil ein reines definitorisches, situativ immer wieder neu herzustellendes Produkt ohne Realien außerhalb der Definition ist: Das Schuldurteil hat durchaus ein fundamentum in re; nur eben nicht in einem (ontisch vorgegebenen) positiver Schuldfeststellung zugänglichen Schuldsubstrat im Täter, sondern vornehmlich in einem sozialen Konstitutionszusammenhang. 76 Jescheck, A T § 39 I I I 1.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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sam, daß die immer weiter voranschreitende Erforschung der Entstehungszusammenhänge menschlichen (abweichenden) Verhaltens zunehmend deutlicher zeige, daß „der Schuldvorwurf gegenüber einem Großteil der Täter, auch bei schweren Delikten, nicht aufrechterhalten werden k ö n n t e " 7 7 , wenn man den Maßstab des individuellen Dafürkönnens zugrunde legte. Hieran knüpft sich die Sorge, daß die Schuldstrafe dann in derart weitem Umfang von der Maßregel abgelöst würde, daß das System des Schuldstrafrechts insgesamt bedroht wäre 7 8 . Diese Überlegung macht die Einstellung verständlich, dem Schuldprinzip diene man am besten dadurch, daß man es nicht konsequent individualistisch ausgestalte 79 .

b) Das Schuldverständnis

von Gesetz und Rechtsprechung

(§§ 20, 21 StGB)

M i t der Forderung, Schuld auch in (manchen) Fällen zuzuschreiben, in denen es empirisch-nachweislich am individuellen Andershandelnkönnen fehlt, entspricht die herrschende Lehre dem geltenden Strafgesetz und der Rechtsprechung. Die lex lata gebietet eine solche Zuschreibung immer dann, wenn das Nichtandershandelnkönnen auf Gründen beruht, welche von den gesetzlichen Schuldausschließungs-, Schuldminderungs- und Entschuldigungstatbeständen nicht erfaßt werden. Hinsichtlich der § § 2 0 , 21 StGB gilt dies einmal für alle Fälle, in denen das Andershandelnkönnen durch soziale Faktoren, wie z. B. familiale Konfliktlagen, oder wirtschaftliche Faktoren, wie z. B. durch drohenden Ruin erzeugte Ausweglosigkeit, aufgehoben gewesen i s t 8 0 . Das gilt aber trotz der grundsätzlichen Beachtlichkeit aller heute bekannten psychischen Störungen auch bei diesen dann, wenn es sich um „Bewußtseinsstörungen" handelt, die nicht „tiefgreifend" sind, oder um „andere seelische Abartigkeiten", die nicht „schwer" sind. Zwar ist bei der Neufassung der Bestimmungen über die Schuldunfähigkeit durch das 2. S t r R G 8 1 nicht die vor allem mit der vielzitierten Gefahr des „ D a m m b r u c h s " 8 2 begründete „differenzierende Lösung", derzufolge „andere seelische Abartigkeiten" (wie Neurosen, Psychopathien und Triebstörungen) nur zur Dekulpation führen sollten, sondern die diese Befunde auch bei der Exkulpation berücksichti-

77 Stratenwerth, A T I Rn. 13. 78 S. nur Haddenbrock, Freiheit, S. 124 Sp. 1 f.; Schreiber, Schuldstrafrecht, S. 287; Stratenwerth, Schuldprinzip, S. 14 m. N. der einschlägigen Diskussion im Zusammenhang mit der Großen Strafrechtsreform; vgl. Hajfke, Strafrechtsdogmatik, S. 148 f. 79 S. dazu auch die N. bei Schreiber, Schuldstrafrecht, S. 287. so Ellscheid / W. Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, S. 274; Bernsmann ! Kisker, Entschuldbarkeit, bes. S. 332; Jakobs, A T 18/4; Seelmann, Schuldbegriff, S. 506; s. auch Kaiser, Kriminologie (LB) § 105 Rn. 14. 81 vom 4. 7. 1969, BGBl. I, 717; in Kraft getreten am 1. 1. 1975. 82 Schafheutie, Prot. V, 248; dann auch z. B. in BT-Drs. V / 4 0 9 5 , 11.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

gende „Einheitslösung" Gesetz geworden 8 3 . Der Gesetzgeber hat dieser Gefahr aber doch — wenn auch wegen der Einheitslösung insgesamt weniger restriktiv — durch (sinngemäße 84 ) Übernahme der von der „differenzierenden Lösung" vorgeschlagenen einschränkenden Attribute Rechnung tragen wollen. Die Attribute „tiefgreifend" und „schwer" sind keine überflüssigen Kennzeichnungen solcher Bewußtseinsstörungen bzw. seelischen Abartigkeiten, die typischerweise das Andershandelnkönnen ausschließen oder mindern 8 5 ; vielmehr ordnen sie an, diesen nichtkrankhaften „normalpsychologischen" — als tendenziell ubiquitär und deshalb eine Dammbruchgefahr begründend eingeschätzten 86 — Störungen unabhängig von ihren Auswirkungen auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit keine ex- oder dekulpierenden Bedeutung beizumessen, wenn sie nicht als „tiefgreifend" bzw. „schwer" zu quantifizieren sind 8 7 . Die Rechtsprechung folgt den restriktiven Intentionen des Gesetzgebers 88 . Sie übersteigert diese Absichten sogar noch, sofern sie sich der agnostischen somatologisch-psychiatrischen Auffassung anschließt 8 9 , die selbst die Feststellbarkeit

83 Eingehende Darstellung der Entstehungsgeschichte m. N. in Schild AK-StGB §§ 20, 21 Rn. 16 ff.; knapper Überblick bei Schreiber, Bedeutung. 84 In den E 1960 und E 1962 (jeweils § 24) sollte die normalpsychologische Bewußtseinsstörung durch eine Gleichwertigkeitsklausel an die voranstehende krankhafte seelische Störung gekoppelt werden; vgl. E 1962, Begr., S. 139 u. Horstkotte, Prot. V, 342. Aufgrund des Widerstands der Vertreter der Psychologie, wegen der Befürchtung, ihnen könne die Kompetenz zur Vergleichung mit somatischen Störungen bestritten werden, wurde der Ausdruck „gleichwertig" durch „tiefgreifend" ersetzt; die neue Formulierung war gegen die Tiefenpsychologie gerichtet und sollte keine sachliche Änderung bedeuten: Scheiber, Bedeutung, S. 47 Sp. 2 f.; Schild AK-StGB §§ 20, 21 Rn. 19, je m. w. N. 85 So aber wohl Rasch, Abartigkeit, S. 177 Sp. 2. 86 So z. B. Ehrhardt, Prot. IV, 689. 87 S. nur E 1962, Begr., S. 139 Sp. 2: „Erst wenn die Bewußtseinsbeeinträchtigung einen solchen Grad erreicht, daß sie wie eine Psychose die Fähigkeit des Täters zu sinnvollem Handeln in Frage stellt, soll die Frage nach der Beeinträchtigung der Einsichtsoder Steuerungsfähigkeit... aufgeworfen werden dürfen", und von Winterfeld, Bewußtseinsstörung, S. 2230 sowie m. w. N. Rudolphi SK-StGB § 20 Rn. 3 f., 10, 14; LKLange, § 21 Rn. 30, 115; Lackner, § 20 Anm. 2 b, 2 c bb; irreführend die Formulierung bei Sch / Sch / Lenckner, § 20 Rn. 14 („in ihrer Wirkung für die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit . . . gleichwertig"). 88 Schreiber, Bedeutung, S. 49 ff.; Schild AK-StGB §§ 20, 21 Rn. 21 m. w. N. Die relativ umfangreiche Anwendung des § 21 StGB bei Tötungsdelikten widerlegt das nicht; die Richter legen die Schuldunfähigkeitsbestimmungen hier nur ausnahmsweise extensiv (im Vergleich zur sonstigen Praxis) aus, um die lebenslange Freiheitsstrafe zu umgehen: Arzt, Auswirkungen, S. 150; Bertram, Auswirkungen, S. 169 f.; Kreuzer, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 51; Eser, 53. DJT, D 54 ff.; Schreiber, Bedeutung, S. 50 Sp. 2. 89 Wenn „krankhafte" Zustände in Betracht kommen, hält die Rechtsprechung die Beiziehung eines Psychiaters für unentbehrlich: BGHSt 23, 8 (12 f.; vgl. 14 f.). Hinsichtlich „nicht-krankhafter" Zustände ist nach pflichtgemäßem Ermessen zwischen verschiedenen Fachrichtungen zu wählen: BHGSt 34,355 (357 f.) m. w. Rspr.-N. Zu der Fragwürdigkeit dieser Zuweisung nach dem ja gerade zwischen den „Psychiatern" und den „Psychologen" streitigen Krankheitsbegriff und der damit verbundenen Präjudizierung (ein weiterer voraussichtlich abweichender Sachverständiger braucht nicht gehört zu

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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von individuellen Freiheitseinschränkungen weitestgehend verneint. Nach dieser Position können tiefgreifende Bewußtseinsstörungen allenfalls in extremen Fällen verläßlich beurteilt werden 9 0 , schwere seelische Abartigkeiten können keinesfalls zur Exkulpation führen 9 1 ; es handele sich ganz überwiegend um rein strafrechtliche Wertungsfragen, die hinsichtlich der Ordnungsaufgabe des Strafrechts i m Sinn grundsätzlich anzunehmender voller Schuldfähigkeit zu beantworten seien 9 2 . Diese Position argumentiert auch hinsichtlich der „schweren seelischen Abartigkeit" i m wesentlichen nicht empirisch-psychowissenschaftlich oder unter dem Gesichtpunkt der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit, sondern offen kriminalpol i t i s c h 9 3 ; die agnostische somatologisch-psychiatrische Auffassung interpretiert die §§ 20, 21 StGB daher contra legem entgegen der gesetzgeberischen Entscheidung für die Einheitslösung i m Sinn der restriktiveren „differenzierenden L ö sung"94. Insgesamt deutlich weniger restriktiv ist die Rechtsprechung demgegenüber freilich, wenn sie mit der „empirisch-pragmatischen" Position davon ausgeht, daß sich die streitigen Befunde empirisch-psychowissenschaftlich verläßlich erheben lassen 95 . Aber auch die so orientierte Rechtsprechung versucht nicht, die restriktiv-normativen Absichten des Gesetzgebers zu unterlaufen, sondern beachtet den „tatbestandsmäßigen Sperreffekt der ,doppelten Quantifizierung' , , 9 6 und interpretiert die Attribute „tiefgreifend" und „schwer" daher als weiteren normativen Filter neben dem hiervon unabhängigen der fehlenden oder erheblich verminderten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit. Diese Attribute ordnen die Zuschreibung von Schuld trotz fehlenden individuellen Andershandelnkönnens aus generalpräventiven Gründen an; das geht

werden, wenn das Gericht von dem bisherigen Gutachten überzeugt ist: D/Tröndle, § 20 Rn. 27 m. Rspr.-N.) s. M. Bauer / Thoss, Schuldunfähigkeit, bes. S. 307 ff. und die Kontroverse zwischen G. Wolff, Gutachterliche Kompetenz, und Rauch, Gutachterliche Kompetenz. Zu den die Auswahl faktisch leitenden Faktoren Plewig, Strafrichter und Sachverständiger, bes. S. 1168 ff. (ca. 2 / 3 der Richter räumen bei allen Fragen der Schuldfähigkeit allein den Psychiatern entsprechende Kompetenz ein). 90 Haddenbrock, Forensische Psyschiatrie, S. 1237; Bresser, Probleme, S. 1189 Sp. 2 f.; w. N. bei P. A. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 203 f. 91 Bresser, Probleme, S. 1190 Sp. 2 ff.; Witter, Krankheitsbegriff, S. 730 ff.; w. N. bei P.- Α. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 209 ff. 92 Bresser, Probleme, S. 1188; Haddenbrock, Schuldfähigkeit, S. 36; w. N. bei P.-A. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 204, 210. 93 Vgl. die Belege Fn. 89 bis 91. 94 Schreiber, Schuldstrafrecht, S. 286; P.-A. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 210. 95 Venzlaff, Probleme, S. 255 Sp. 2 ff.; ders., Affektive Bewußtseinsstörungen; Mende, Tiefgreifende Bewußtseinsstörungen, S. 321; Rasch, Affektdelikte; Wegener, Forensische Psychologie, S. 71, 81 ff., 102; w. N. bei P.-A. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 207 ff., 211 ff.; Krümpelmann, Sozialer Schuldbegriff, S. 348 ff. 96 P.-A. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 216, Venzlaff, Probleme, S. 257 Sp. 2, zitierend (dort hervorgehoben).

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

klar aus den Gesetzesmaterialien 97 und der kriminalpolitischen Diskussion 9 8 hervor und läßt sich triftig nicht bestreiten 99 . Generalpräventive Gründe sind es auch, welche die überwiegende Rechtsprechung veranlassen, hinsichtlich der praktisch w i c h t i g e n 1 0 0 normalpsychologischen tiefgreifenden Bewußtseinsstörung durch (genügend) hochgradigen Affekt einen dritten Filter einzuschieben, der nur unverschuldete Affekte als Ex- oder Dekulpationsgründe passieren l ä ß t 1 0 1 . Daß diese Rechtsprechung generalpräventiv motiviert i s t 1 0 2 , liegt nicht nur nahe, weil die Affekttaten bei der Diskussion um die „Dammbruchgefahr" eine prominente Rolle spielten 1 0 3 und in der kriminalpolitischen Argumentation noch spielen 1 0 4 ; dies zeigt sich auch deutlich daran, 97 S. Schreiber, Bedeutung, S. 46 ff., mit N. der einschlägigen Belege; knappe Zusammenfassung bei Stratenwerth, Schuldprinzip, S. 13 ff. 98 Vgl. nur Krümpelmann, Schuldfähigkeit, S. 6 ff.; Streng, Schuldbegriff, S. 277 f., je m. N.; zur bestätigenden Kriminalpolitik der agnostischen somatologisch-psychiatrischen Position vgl. die Belege oben S. 26 f. Fn. 89 bis 91. 99 Im allgemeinen wird das gar nicht thematisiert; ausdrücklich nehmen generalpräventive Gründe an etwa Müller-Dietz, Grundfragen, S. 3 f.; P.-A. Albrecht, Unsicherheitszonen, S. 194 f.; Schreiber, Schuldstrafrecht, S. 286, 287; Krümpelmann, Schuldfähigkeit, S. 6; Streng, Schuldbegriff, S. 277; wohl auch Stratenwerth, A T I Rn. 534, 542; Lackner, Prävention, S. 260 ff.; Krauß, Schuldzurechnung, S. 96. 100 Lackner, § 20 Anm. 2b aa m. w. N. •οι Beschränkung auf unverschuldete Affekte z. B. OGHSt 3, 19, 23, 80, 82; BGHSt 3, 195 (199); 11, 20 (23); zweifelnd z. B. BGHSt 7, 326 (327 f.); die „zweifelhafte Frage" offen lassend z. B. BGHSt 8, 113 (125); w. Rspr.-N. bei Rudolphi SK-StGB § 20 Rn. 11; zur neueren — aber weiterhin uneinheitlichen — (Rspr.-) Entwicklung s. BGHSt 35, 143 (Präzisierung und Einschränkung der Fälle „verschuldeten" Affekts) und dazu die Anm. von Frisch NStZ 1989, 263 ff. sowie Frisch, Affekttaten; vgl. Saiger, Affekttat, bes. S. 212 f. (Unterscheidung nach Verschulden jedenfalls bzgl. § 21 StGB sei als überholt anzusehen). 102 Stratenwerth, A T I Rn. 13; Müller-Dietz, Grundfragen, S. 3 f.; Schreiber, Schuldstrafrecht, S. 287; Eisenberg, Kriminologie § 24 Rn. 6; Roxin, Diskussion, S. 293 f.; Kaiser, Kriminologie (LB) § 105 Rn. 21; Neumann, Zurechnung, S. 241; Frisch, Affekttaten, S. 602. 103 S. nur Prot. V, 440; BT-Drs. V / 4 0 9 5 , 10. Der E 1962, Begr., S. 139 Sp. 2, hat auf eine präventiv hinreichende Reduzierung affektbezogener Ex- bzw. Dekulpationen mittels der Gleichwertigkeitsklausel (Krankheitswert) vertraut und daher angenommen, daß es dann auf ein Verschulden nicht mehr ankommen könne; er hat der Rspr. aber dennoch nicht vorgreifen wollen; s. auch die N. bei Rasch, Affektdelikte, S. 1311 Sp. 1. ι 0 4 Krümpelmann, Schuldfähigkeit, S. 26 f.; ders., Sozialer Schuldbegriff, S. 354 — s. auch die Klarstellungen S. 353 u. Fn. 62 u. 63; Schreiber, Bedeutung, S. 49 Sp. 1; Stratenwerth, A T I Rn. 13; ders., Schuldprinzip, S. 18. — Eine erhebliche Uberschätzung der kriminalpolitischen Auswirkungen einer hohen Exkulpationsrate kritisiert Venzlaff, Restaurierung, S. 63 (wie in ders., Affektive Bewußtseinsstörungen, S. 396, sich auf eine unveröffentlichte Untersuchung von Schipowensky berufend); ihm angeschlossen haben sich Kaiser, Kriminologie (LB) § 105 Rn. 22 und Frisch, Affekttaten, S. 602 f. (mit weiteren Argumenten); zweifelnd auch Mende, Tiefgreifende Bewußtseinsstörung, S. 321. Ob die der Kritik zugrundeliegenden Daten und Argumente die Realität der generalpräventive Bedeutung zutreffender erfassen kann hier dahinstehen, denn kriminalpolitisch wirksam sind nun einmal nicht die real vorhandenen (generalpräventiv relevanten) Gefahren, sondern die real vorhandenen Gefahrperzeptionen.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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daß sich diese Rechtsprechung ohne systemische Widersprüche und inkonsistente Anforderungsreduzierungen nur i m Rahmen einer generalpräventiv angeleiteten Dogmatik rekonstruieren und legitimieren l ä ß t 1 0 5 . I n die herkömmliche Schulddogmatik hingegen läßt sich die von der herrschenden Lehre wegen Mißachtung des die Schuldfähigkeit des Täters i m Zeitpunkt der Tat fordernden Gesetzestextes („unzulässige Schuldvermutung") abgelehnte Strafbarkeit bei Affektverschulden 1 0 6 nicht konsistent einfügen. Die in dieser Absicht entwickelten Zurechnungsmodelle scheitern entweder, weil sie auf nicht tragfähigen Parallelen zu § 17 S t G B 1 0 7 oder § 35 I 2 S t G B 1 0 8 beruhen, oder — i m Fall des auf die Affektgenese gegründeten „mittelbaren" Tatschuldvorwurfs 1 0 9 und dem des auf die actio libera in causa gestützten V o r w u r f s 1 1 0 — , weil diese Konstruktionen in der üblichen A n w e n d u n g 1 1 1 nur einen Fahrlässigkeitsvorwurf zu begründen vermögen, die

105 Dies gilt sowohl für (explizit) rein generalpräventiv konzipierte Dogmatiken — s. nur Jakobs, A T 18/18 — als auch für solche, die von einer Wechselwirkung von (positiver) Generalprävention und Gerechtigkeit ausgehen — s. nur Neumann, Zurechnung, S. 269 ff. sowie 240 ff.; vgl. Bernsmann, Affekt und Opferverhalten, bes. S. 165 Sp. 2 f.; vgl. auch Blau, Affekttat, S. 114, 118. Für den hiesigen Zweck dürfen Differenzierungen und Einschränkungen gegenüber der Rspr. vernachlässigt werden; dies um so mehr, als die Rspr. im Fluß — vgl. Frisch, Affekttaten m. N. passim — und nach wie vor uneinheitlich ist. 106 Ablehnend Stratenwerth, A T I Rn. 536; Baumann / U. Weber, AT, S. 383; Sch/ Sch /Lenckner, § 20 Rn. 15; Μ /Zipf, A T / 1 § 36 Rn. 38; ebenfalls BGHSt 6, 329; s. auch in dieser Richtung Bockelmann / Volk, AT, S. 115 f. u. BGHSt 7, 325 (327 f.); der E 1962, Begr., S. 139 Sp. 2, ging davon aus, daß die Frage des Affektverschuldens wegen der Restriktion durch die Gleichwertigkeitsklausel keine Rolle mehr spielen könne, wollte der Rspr. aber dennoch nicht durch eine ausdrückliche Regelung vorgreifen; von Winterfeld, Bewußtseinsstörungen, S. 2230 Sp. 2 f., entnimmt den Materialien insgesamt, der Gesetzgeber habe die Erheblichkeit des Affektverschuldens verneint. Zustimmend— mit Differenzierungen — Geilen, Affekt; LK-Lange, § 21 Rn. 28; ders., Schuld, S. 275; Rudolphi, Affekt und Schuld; ders., Widerstreit, S. 16 ff.; Rudolphi SK-StGB § 20 Rn. 12; Lackner, § 20 Anm. 2 b aa; Bernsmann, Affekt und Opferverhalten sowie — freilich — die (auch) generalpräventiv orientierten Konzepte von Jakobs, AT 18/ 18; Neumann, Zurechnung, S. 268. ιόν — Geilen, Affekt; vgl. auch L K -Lange, § 21 Rn. 29; dens., Schuld, S. 274 —, denn § 17 StGB kennt anders als § 20 StGB keine Steuerungsfähigkeit; § 20 StGB stellt anders als § 17 StGB nicht auf Unvermeidbakeit, sondern auf Fähigkeit ab: Jescheck, A T § 40 I I I 2 b, S. 396; Sch / Sch / Lenckner, § 20 Rn. 15; Behrendt, Affekt und Vorverschulden, S. 46 ff.; Krümpelmann, Sozialer Schuldbegriff, S. 356; eingehend m. w. N. Neumann, Zurechnung, S. 242 ff.; vgl. Stratenwerth, Vermeidbarer Schuldausschluß, S. 494 ff., bes. S. 494 mit Fn. 36. io« — Witter, Affekt, S. 95 f.; s. auch Geilen, Affekt, S. 191 f. u. Lange, Schuld, S. 274 — Zumutbarkeit statt Fähigkeit in § 20 StGB: Rudolphi, Affekt und Schuld, S. 206; Neumann, Zurechnung, S. 246; Baumann / U. Weber, AT, S. 383; Μ /Zipf A T / 1 § 36 Rn. 38. 109 Rudolphi, Affekt und Schuld. no Jescheck, A T § 40 I I I 2 b, S. 396; Sch / Sch / Lenckner, § 20 Rn. 15; Behrendt, Affekt und Vorverschulden, bes. S. 77 ff. 111 Ohne Überdehnung des Vorsatzbegriffs bei der action libera in causa / in omittendo: Rudolphi SK-StGB § 20 Rn. 12; Stratenwerth, A T I Rn. 536.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Vorsatztaten also nur mithilfe ungerechtfertigter Modifikationen erfassen könnten112. Daß i m Begriff der Schuldfähigkeit neben generalpräventiven auch spezialpräventive Überlegungen ihren Niederschlag gefunden haben dürften — und bei der Rechtsanwendung noch finden — , w i r d bei Bockelmann / Volk ganz deutlich: „ D i e Begriffe von ,normal' und ,anormal 4 bestimmen sich . . . auch nach den Reaktionsformen, die i m System der strafrechtlichen Sozialkontrolle zur Verfügung stehen. A n o r m a l . . . sind danach solche Personen, die für eine Behandlung nach den Methoden des Strafvollzuges (selbst nach denen eines ausschließlich auf Resozialisierung ausgerichteten Vollzuges) nicht geeignet sind, weil sie einer besonderen, gegebenenfalls einer zusätzlichen Erziehung oder Therapie bedürfen. Das Gesetz erklärt sie, indem es aus dem Erfordernis der Anwendung spezifischer Formen der Spezialprävention den Mangel oder die Minderung des Bedürfnisses nach Repression ableitet, für schuldunfähig oder vermindert schuldfähig" 1 1 3 . Dies braucht nicht näher untersucht zu werden. Für den hiesigen Zweck genügte es, den spezialpräventiven Gesichtspunkt plausibel zu machen und an ausgewählten Aspekten des zentralen Instituts der Schuldfähigkeit exemplarisch für die Strafbegründungsschuld 114 eingehend darzulegen, wie groß auch in den Fällen empirisch-nachweislichen Andershandelnkönnens der Umfang generalpräventiv (mit)determinierter Schuldzuschreibung ist. Damit ist zugleich gezeigt, daß sich das geltende Strafrecht weder insgesamt noch wenigstens i m Kern als präventionsfreies Schuldstrafrecht verstehen läßt. Denn es handelt sich bei den präventiven Einfärbungen der Schuldfähigkeitstatbestände nicht nur um marginale Zugeständnisse an präventive Forderungen, die sich als notwendig zur grundsätzlichen Erhaltung des Schuldstrafrechts rechtfertigen könnten. Vielmehr träfen die so ausgestalteten bzw. ausgelegten Vorschriften ein präventionsfreies Schuldstrafrecht ins Herz. Ein positiver Schuldspruch, der sich i m wesentlichen präventiven Gründen verdankt, verdammte die sich hieran anschließende Ermittlung einer präventionsfreien Schuld(rahmen)strafe zum absurden Unterfangen und desavouierte damit ein sich als präventionsfrei und rein schuldbezogen gerierendes Strafzumessungskonzept.

112 Rudolphi SK-StGB § 20 Rn. 12; Stratenwerth, A T I Rn. 536; Krümpelmann, Sozialer Schuldbegriff, S. 356 Fn. 80; ders., Schuldfähigkeit, S. 35; Neumann, Zurechnung, S. 246 f. 113 Bockelmann / Volk, AT, S. 111. Zwei Sätze weiter wird noch gesagt, daß es auch ungerecht sei, Normale und Nichtnormale grundsätzlich den gleichen Sanktionen zu unterwerfen; wie sich Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit zueinander verhalten, wird indes nicht mitgeteilt. — Vgl. v. Liszt, Deterministische Gegner, S. 43 f. 114 Zum Aufweis präventiver Determinationen bei §§ 17, 33, 35 StGB s. E. Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, bes. S. 150 f.; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, bes. S. 276 ff.; Roxin, „Schuld" und „Verantwortlichkeit", u. dens., Diskussion m. w. N.; vgl. die Differenzierungen bei Neumann AK-StGB § 17 Rn. 5 f.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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2. Die Strafzumessungsschuld Die bisherige Analyse läßt die Hoffnung auf einen präventionsfreien Schuldbegriff i m geltenden Strafrecht schwinden. Dieser Befund gilt auch — über den Gesichtspunkt der Desavouierung einer schuldbezogenen Strafzumessung durch einen i m wesentlichen präventiv begründeten Schuldspruch hinaus — für den Strafzumessungsbereich; und zwar sowohl allgemein sub specie Schuldprinzip 1 1 5 als auch speziell, soweit sich die Strafzumessungsschuld als quantifizierte Strafbegründungsschuld darstellt 1 1 6 . Vollends zerschlägt sich die Hoffnung auf einen präventionsfreien Schuldbegriff, wenn man die zur Bestimmung der Strafzumessungsschuld relevanten Komponenten (verschuldetes) Unrecht, gesetzliche Strafdrohung als abstraktes Maß des verschuldeten Unrechts, Strafensystem des geltenden Strafrechts insgesamt und Strafmaßschuld i m Sinn des § 46 I I S t G B 1 1 7 näher untersucht und somit das ganze strukturelle Ausmaß präventiver Schulddetermination sichtbar wird. a) Mittelbare präventive Schulddetermination durch Unrechtsfixierung der Schuld Maßprinzip der Strafe ist die Schuld i m Sinn verschuldeten Unrechts 1 1 8 . Der Schuldgehalt der Tat w i r d durch deren Unrechtsgehalt m i t b e s t i m m t 1 1 9 , wenn nicht wesentlich vorgegeben 1 2 0 . Die Unterschiedlichkeit der gesetzlich vorgegebenen Strafrahmen beruht auf der differenten Bewertung der jeweiligen Rechtsgüt e r 1 2 1 und widerstreitet dem Prinzip individueller Tatschuld; nach dem Kriterium individuellen Dafürkönnens ist der potentielle Schuldumfang für alle Delikte derselbe, geboten wäre daher ein U n i Versalstrafrahmen 122 . Die Schuldhöhe an

us Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 151; Seelmann, Schuldbegriff, S. 508. 116 Rudolphi SK-StGB Vor § 19 Rn. 1; Schünemann, Schuldprinzip, S. 162 f. Daß es diesen Zusammenhang von Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld gibt, wird nicht bestritten — vgl. nur Achenbach, Schuldlehre, S. 4 ff. u. passim, 11 —; streitig ist allein, in welchem Umfang eine sachliche Differenzierung geboten ist. Vgl. dazu außer den Genannten noch E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 42 ff. m. w. N. n7 Der in der vorigen Fußnote angesprochenen Frage, ob und inwieweit es sachlich angezeigt ist, Strafzumessungsschuld und Strafbegründungsschuld zu differenzieren, braucht hier nicht nachgegangen zu werden. us S. nur Achenbach, Schuldlehre, S. 13; Stratenwerth, AT I Rn. 191; E. Horn SKStGB § 46 Rn. 42, 44. 119 Jescheck, A T § 39 IV 3; vgl. — auch sub specie Strafbegründungsschuld — Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 183; Gallas, Verbrechenslehre, S. 44; Rudolphi SK-StGB Vor § 19 Rn. 2; Jakobs, A T 17/44. 120 Vgl. Jescheck, A T § 8311 ; Noll, Schuld und Prävention, S. 230; Roxin, Diskussion, S. 305. 121 S. nur Fn. 119 sowie Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 151 f.; Gimbernat Ordeig, Sanktionensystem, S. 113. 122 Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 151 f.; W. Hassemer, Einführung, S. 292 f.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

der Unrechtshöhe auszurichten, verdankt sich Gründen der Gerechtigkeit 1 2 3 , aber auch Gründen der Zweckmäßigkeit, der Generalprävention: „ein erhöhtes Unrecht, eine erhöhte Irritation des allgemeinen Normbewußtseins fordern eine erhöhte Strafe, eine besonders nachdrückliche Reaktion des strafenden Staates auf den N o r m b r u c h " 1 2 4 . Die Rolle der Prävention erschöpft sich jedoch nicht darin, die Zumessung der dem Maß verschuldeten Unrechts entsprechenden Strafe zu verlangen. Die Prävention bestimmt das Maß der Strafzumessungsschuld auch unmittelbar. b) Unmittelbare

präventive

Schulddeterminationen

aa) Unrechtsinkongruente gesetzliche Strafdrohungen aus präventiven Gründen Unmittelbar bestimmt die Prävention das Maß der Strafzumessungsschuld beispielsweise durch die Erhöhung der gesetzlichen Strafdrohungen über das v o m abstrakten Gehalt verschuldeten Unrechts gedeckte Maß hinaus. Jenseits des unrechtskongruenten Maßes repräsentieren die gesetzlichen Strafrahmen nicht mehr die zumindest von unmittelbarer Prävention freie abstrakte Strafzumessungsschuld. Da das herrschende Strafzumessungskonzept dies aber nicht realisiert, verlängert sich die unmittelbare präventive Determination über die präventiv angehobenen Schuldrahmen in die konkreten Schuldstrafen. Eine solche Erhöhung der gesetzlichen Strafdrohungen aus generalpräventiven Gründen läßt sich gut an den §§ 316a, 239a, 239b, 316c StGB exemplifizieren. Der räuberische A n g r i f f auf Kraftfahrer w i r d mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft (§ 316a I 1 StGB). Erst durch das 11. S t r Ä n d G 1 2 5 wurde diese Mindeststrafdrohung für minder schwere Fälle auf ein Jahr reduziert (Abs. I Satz 2). Diese Vorschrift setzt weder eine konkrete noch auch nur eine abstrakte Gefährdung der Verkehrsteilnehmer voraus 1 2 6 ; sie inkriminiert allein Vorbereitungshandlungen zu den Raubdelikten 1 2 7 , und dieser vorverlagerte Rechtsgüterschutz geht wegen der Ausgestaltung als Absichts- und Unternehmensdelikt 1 2 8 ι » S. dazur nur W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 196 ff., 207. •24 W. Hassemer, Einführung, S. 292; s. auch Baurmann, Zweckrationalität, S. 269 f. m. w. N. 125 vom 16. 12. 1971, BGBl. I, 1977. 126 Μ / Schroeder / M, BT / 1 § 35 Rn. 45 m. w. N.; Sch / Sch / Cramer, § 316 a Rn. 1 ; E. Horn SK-StGB § 316 a Rn. 2. Die gegenteilige Auffassung beruht auf einer petitio principii (die Verschärfung der Strafe lasse sich nur hinsichtlich der Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs erklären) — s. E 1962, Begr. zu § 348, S. 534 Sp. 1; LK-Schäfer, § 316 a Rn. 3 — oder einer mangelhaften Auswertung der Gesetzesmaterialien zur Einfügung des § 316a StGB durch das 1. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs, vgl. die eingehende Analyse von Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 35 ff. 127 E. Horn SK-StGB § 316a Rn. 2; Μ/Schroeder/M, B T / 1 § 35 Rn. 45. 128 Vgl. Μ ! Schroeder IM, B T / 1 § 35 Rn. 46; E. Horn SK-StGB § 316a Rn. 4, 7.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

33

extrem weit. Bewertet man die von § 316 a StGB erfaßten Vorbereitungshandlungen anhand der den Raubdelikten zugrundeliegenden üblichen und der allgemeinen unrechtsevaluativen K r i t e r i e n 1 2 9 , so lassen sich weder die Mindeststrafdrohung vor noch die Mindeststrafdrohungen nach dem 11. StrÄndG — insb. wegen der beschränkteren Rücktrittsmöglichkeit (Abs. I I ) 1 3 0 — unter Gesichtspunkten des Unrechts hinreichend rechtfertigen 1 3 1 ; nichts anderes ergibt sich, wenn man § 316 a StGB sub specie Straßenverkehrsdelikt p r ü f t 1 3 2 . Die Gesetzgebungsmaterialien bestätigen denn auch, daß der Gesetzgeber des „Gesetzes gegen den Straßenraub mittels A u t o f a l l e n " 1 3 3 wie der des § 316 a S t G B 1 3 4 durch spektakuläre konkrete V o r f ä l l e 1 3 5 veranlaßt wurde aus Gründen der Abschreckung 1 3 6 , vor allem aber der Demonstration der Bereitschaft und Fähigkeit des Staates zu wirksamem Rechtsgüterschutz 1 3 7 , einen überflüssigen 1 3 8 Straftatbestand zu schaffen und diesen m i t einer den Unrechtsgehalt übersteigenden Mindeststrafdrohung zu versehen 1 3 9 . Ein nur generalpräventiv fundierter Mindeststrafdrohungsanteil hat sich — wenn auch erheblich reduziert — bis heute erhalten. Während der Verlauf der einschlägigen realen oder imaginierten kriminellen Konjunktur die Karriere des § 316 a StGB als nicht nur historisches Musterbeispiel einer partiell nur generalpräventiv determinierten Vorschrift fast beendet hat, hat der Konjunkturverlauf die Karriere der §§ 239 a, b StGB durch das sogenannte Artikelgesetz v o m 9. 6. 1 9 8 9 1 4 0 zu einem neuen Höhepunkt geführt. Der erpresserische Menschenraub und die Geiselnahme werden in nicht minder schweren Fällen jetzt mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft (§§ 239 a I, 239b I StGB). Bereits bei der zuvor geltenden Mindeststrafdrohung von drei Jahren 1 4 1 tat man sich schwer mit der Bestimmung des geschützten Rechtsguts und der abzuwehrenden Beeinträchtigungen. Für Arzt lag es auf der Hand, daß 129 Dazu eingehend Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, bes. S. 68 ff., 96 ff. 130 S. Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 72, 76, 116; vgl. Μ / Schroeder / M, B T / 1 §35 Rn. 46, 60 f. 131 Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 76, 106 f., 117 f., 121 f. u. passim. 132 S. Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 68 ff., 96 ff. 133 vom 22. 6. 1938, RGBl. I, 651. 134 l . StrVerkSichG vom 19. 12. 1952, BGBl. I, 832. 135 Anlaß für das AutofG waren die Taten der Brüder Max und Walter Götze und deren neue Methode, die Führer von Kraftfahrzeugen mit gespannten Drahtseilen und über die Straße gelegten Bäumen zum Anhalten zu zwingen; § 316a StGB verdankt sich schwerwiegenden Taten auf Autobahnen und gegen Taxifahrer; vgl. ausführlicher m. N. Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 21 ff., 35. 136 S. Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 76, 118, 119, 122. 137 S. Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 22, 76, 98, 118, 122. 138 Eingehende Begründung Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 68 ff. u. passim. 139 S. auch Maiwald, Sozialer Schuldbegriff, S. 156 f. 140 BGBl. I, 1059. 141 Fassung der Vorschriften nach dem 12. StrÄndG vom 16. 12. 1971, BGBl. I, 1979.

3 Hart-Hönig

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

die Strafdrohung zum Schutz des Vermögens, der Willensfreiheit des genötigten Dritten oder des Entführten 1 4 2 unverhältnismäßig hoch w ä r e 1 4 3 . Arzt rechtfertigte die Strafdrohungen daher damit, daß die Geisel einem „lebensgefährlichen Risik o " ausgesetzt werde 1 4 4 . Ob der Unrechtsgehalt einer abstrakten Lebensgefährdung 1 4 5 — auch mit Rücksicht auf die anderen genannten Rechtsgüter 1 4 6 — eine Mindeststrafdrohung von drei Jahren trägt, sei zumindest bezweifelt 1 4 7 ; eine Mindeststrafdrohung für den Normalfall von fünf Jahren w i r d durch den Unrechtsgehalt jedenfalls nicht gedeckt. Die jüngste Verschärfung w i r d denn auch damit begründet, terroristisch motivierte spektakuläre Entführungsfälle der letzten Jahre zeigten, daß die „präventive Wirkung der Strafvorschriften verstärkt werden" müsse 1 4 8 . Hierin wie in den Materialien zu allen bisherigen Gesetzesfassung e n 1 4 9 wird deutlich, daß die Mindeststrafdrohungen der §§ 239 a, b StGB zu einem guten T e i l aus der gesetzgeberischen Absicht resultieren, abzuschrecken und Handlungsmacht vorzuführen 15 °. Das gleiche gilt für die Mindeststrafdrohungen für Angriffe auf den Luftverkehr (§ 316c StGB). Die abstrakte Gefährdung 1 5 1 von Leib, Leben, Freiheit und Eigentum 1 5 2 in nicht minder schweren Fällen m i t einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren zu sanktionieren, kann mit den üblichen strafrechtlichen Kriterien zur Bemessung verschuldeten Unrechts nicht überzeugend begründet werden 1 5 3 . A u c h der Rückgriff auf das zweifelhafte 1 5 4 Rechtsgut Sicherheit des Luftverkehrs 1 5 5 läßt den Unrechtsgehalt nicht i m erforderlichen Maß aufwachsen. Die

142 Vgl. D / Tröndle, § 239 a Rn. 4; E. Horn SK-StGB § 239 a Rn. 2; Lackner, § 239 a Anm. 1; Sch / Sch / Eser, § 239 a Rn. 3; Μ / Schroeder / M, BT / 1 § 15 Rn. 19; Gössel, BT / 1 § 22 Rn. 1 ff.; Bockelmann, B T / 2 , S. 116. 143 Arzt / W, L H 3, S. 129 Fn. 4. 144 Arzt ! W, L H 3 Rn. 367 (im Original hervorgehoben). 145 Allenfalls: Μ/Schroeder/M, B T / 1 § 15 Rn. 19 m. w. N.; daß § 239b StGB ein konkretes Gefährdungsdelikt darstellt — so D / Tröndle, § 239 b StGB Rn. 1 ; LK-Schäfer, § 239b Rn. 2 — ist nicht erkennbar: E. Horn SK-StGB § 239b Rn. 2; M/Schroeder/ M, B T / 1 § 15 Rn. 19. 146 Vgl. D/Tröndle, § 239a Rn. 4 m. w. N. 147 S. hierzu eingehend Meurer-Meichsner, Geigenheitsgesetz, S. 131 ff. 148 Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 11 / 2834, 9 Sp. 2. 149 S. die N. und Mitteilungen bei Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 17 ff., 131 ff., u. LK-Schäfer, § 239a Rn. 1. 150 Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 18, 133, 134, 135; Maiwald, Zweck, S. 297; Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 199 m. w. N. 151 S. nur Μ/Sch/Maiwald, B T / 2 § 53 Rn. 56 m. w. N. 152 Μ / S c h / Maiwald, B T / 2 §53 Rn. 56; Sch / Sch / Cramer, §316 c Rn. 2; D / Tröndle, 316 c Rn. 2; Lackner, 316 c Anm. 1 153 S. die Argumente bei Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 135 ff. 154 Treffend Μ/Sch/Maiwald, B T / 2 §53 Rn. 57; vgl. auch Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 136. 155 D/Tröndle, § 316 c Rn. 2; Sch/Sch/Cramer, § 316 c Rn. 2; Lackner, § 316 c Anm. 1.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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Entstehungsgeschichte gibt auch hier Aufschluß. Der Gesetzgeber 1 5 6 erfüllte seine durch die internationalen A b k o m m e n von Den Haag v o m 16. 12. 1970 und Montreal v o m 23. 9. 1971 übernommene Verpflichtung zur Bekämpfung der Luftpiraterie 1 5 7 „unter dem Eindruck konkreter V o r f ä l l e " 1 5 8 . Durch diese aktuellen Geschehnisse gestärkt, konnte sich der generalpräventive cantus firmus der Abkommen ungehindert 1 5 9 in die Ausgestaltung des § 316 c StGB verlängern 1 6 0 . Die untersuchten Vorschriften sind allesamt kriminalisierende (verschärfende) Gelegenheits- oder Ad-hoc-Gesetze 1 6 1 . Das legt die Frage nahe, ob die dargelegte Form präventiver Determination nicht nur ein Spezifikum solcher Gelegenheitsgesetze ist und daher als Ausnahmeerscheinung allenfalls am Rande Beachtung verdient. Ein B l i c k auf die neuere Strafrechtsentwicklung belehrt indessen, daß sich an diesen Gelegenheitsgesetzen zwar besonders sinnenfällig und deutlich die Diskrepanz von Unrechtsgehalt und nur aus Gründen der Prävention erhöhter Strafdrohung zeigt; i m übrigen weisen diese Gelegenheitsgesetze aber dieselben, auf einen solchen nur präventiv begründeten Strafdrohungsanteil hindeutenden Merkmale auf wie viele neuere Gesetze bzw. Vorschriften. Beispiele sind das B t m G und die §§ 264, 264a, 303b, 324 StGB. Gemeinsame — nicht notwendig, aber oft kumulativ vorliegende — Kennzeichen sind: Kriminalisierung i m Vorfeld einer Rechtsguts Verletzung 1 6 2 durch die Kreation diffuser Universalrechtsgüter 1 6 3 ;

156 des 11. StrÄndG vom 16. 12. 1971, BGBl. I, 1977. 157 Angabe der Bezugsdokumente und Materialien bei D /Tröndle, § 316 c Rn. 1. 158 Kunath, Luftpiraterie, S. 199; s. auch Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 135 f., u. Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 198, je m. w. N. 159 „Dieser Novelle zu widersprechen erschien so gut wie niemandem opportun": Arzt, Recht und Ordnung, S. 68; vgl. AE-BT, Person / 2, Begründung zu § 163 (Flugzeugentführung), S. 103. 160 Ebenso Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 198 m. N.; Arzt, Recht und Ordnung, S. 133; Maiwaid, Sozialer Schuldbegriff, S. 156 f.; ders., Zweck, S. 297. 161 Zum Begriff eingehend Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 13 ff. 162 Dazu grundlegend, aber mit besonders kritischem Akzent gegen das Rechtsgüterschutzkonzept („Täter als Rechtsgutsfeind" versus „Täter als Bürger", S. 753) Jakobs, Kriminalisierung. — Gemeint sind hier neben Individual- auch Universalrechtsgüter; aber eben nur solche, die über ein hinreichendes empirisches Substrat verfügen und die personalen Interessen dienen; zu der dahinterstehenden (monistischen personalen) Rechtsgutslehre s. W. Hassemer, Personale Rechtsgutslehre; dens. AK-StGB Vor § 1 Rn. 274 ff. 163 § 316a StGB: Funktionsfähigkeit und Sicherheit des Straßenvekehrs (s. nur Lackner, § 316a Anm. 1 u. Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz, S. 98 ff. m. N.); § 316 c StGB: Sicherheit des Luftverkehrs; BtmG: Volksgesundheit (s. nur Körner, § 29 BtmG Rn. 72); § 264 StGB: Wirksame staatliche Wirtschaftsförderung (s. nur Lackner, § 264 Anm. 1 a; Sch / Sch / Cramer, § 264 Rn. 4, je m. w. N.); § 264a StGB: Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts (s. nur Lackner, § 264a Anm. 1 m. w. N.); § 303b StGB: Funktionstüchtigkeit der Datenverarbeitung der Wirtschaft und Verwaltung (s. nur D / Tröndle, § 303b Rn. 1, 2 m. w. N.); § 324 StGB: Das ,,menschliche[n] ,WohP in einem das rein somatische übersteigenden Sinne" (E. Horn SK-StGB Vor § 324 Rn. 2 m. w. N.). — Dazu kritisch W. Hassemer, Symbolisches Strafrecht, S. 557 u. passim; Μ / Schroeder / Μ , B T / 2 §51 I 1; vgl. auch Μ/Sch/Maiwald, B T / 1 §41 Rn. 166. *

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Kriminalisierung abstrakter Gefährdung 1 6 4 ; tendenzieller Ziel- und Funktionswechsel von „punktueller Repression konkreter Rechtsverletzungen" hin zu „großflächiger Prävention von Problemlagen" 1 6 5 . A u c h hinsichtlich der so gekennzeichneten Nicht-Gelegenheitsgesetze läßt sich zumindest plausibel machen, daß sie nach den herkömmlichen Kriterien von Unrecht und Schuld kein K r i m i nalunrecht enthalten oder jedenfalls nicht genug, um die jeweiligen Strafdrohungen nur damit zu rechtfertigen 1 6 6 . Die unmittelbare präventive Konstitution oder zumindest Modifikation von (schuld- bzw. unrechtskongruenten) Strafdrohungen ist also kein marginales Phänomen, sondern ein zentrales Charakteristikum des zu beobachtenden Trends zu präventiver Funktionalisierung des Strafrechts 1 6 7 . Diese Form unmittelbarer präventiver Determination der Strafzumessungsschuld darf daher nicht vernachlässigt werden. Unmittelbare präventive Determinationen der Strafzumessungsschuld durch unrechtsinkongruente Strafdrohungen finden sich jedoch nicht nur bei Gelegenheitsgesetzen und jüngeren präventionsorientierten Strafgesetzen. Sie sind auch bei den ehrwürdigen delieta (mala) per se aufzuspüren. A l s Exempel bieten sich die §§211, 2 1 2 / 2 1 3 StGB an. Es fehlt nämlich an einer triftigen Begründung dafür, daß dem enormen Sanktionssprung zwischen M o r d (zwingend angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe, § 211 I StGB) und Totschlag (Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bis zu höchstens fünfzehn Jahren, § § 2 1 2 I, 38 I I StGB; in minder schweren Fällen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, § 213 StGB) eine vergleichbare Differenz i m tatbestandlichen Unrechts- oder Schuldgehalt korrespondiert. Eine solche Begründung beruhte auf einer Überschätzung der Mordmerkmale, die zugleich eine Geringschätzung des Rechtsguts Leben bedeutete 1 6 8 . Den Tötungsdelikten ist nämlich „ein Unrechtskern gemeinsam . . . , der schon als solcher einen derart hohen Unwertgehalt aufweist, daß für Unrechtssteigerungen . . . nur wenig Räum bleibt — es sei denn, man setzt den Wert des Lebens von vornherein so niedrig an, daß ein durch zusätzliche Faktoren auffüllbarer Steigerungsrahmen entsteht" 1 6 9 . A u c h wenn man (deswegen) mehr auf die

164 §§ 316 c StGB; 264 StGB (streitig; zu den Auffassungen konkretes und abstraktkonkretes Gefährdungsdelikt s. nur Lackner, § 264 Anm. l b m. N.); 264a StGB; zu §§ 324 ff. StGB s. Sch / Sch / Cramer, Vorbem §§ 324 ff. Rn. 9; zur Kreation eines „Kumulationsdelikts" durch Kuhlen, Gewässerverunreinigung, bes. S. 399 ff., kritisch W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 280. 165 W. Hassemer, Symbolisches Strafrecht, S. 558 Sp. 1; eingehende Analyse passim. S. auch dens., Prävention; ferner P.-A. Albrecht, Entwicklungstendenzen, S. 184 u. passim; dens., Prävention. 166 Zum BtmG eingehend W. Hassemer, Prävention, bes. S. 260 Sp. 1; zu den anderen genannten Vorschriften s. die delegitimierenden allgemeinen Argumente bei dems. AKStGB Vor § 1 Rn. 376 ff., 400, je m. w. N. 167 Zu diesem Trend und dessen Indikatoren W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 481 ff.; ders., Prävention; P.-A. Albrecht, Prävention, je m. w. N. 168 Arzt, Delikte gegen das Leben, S. 12 f.; ders., Auswirkungen, S. 144; vgl. Gössel, Reform, S. 283 f., 285 Sp. 2.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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S c h u l d 1 7 0 abstellt, „ist zu bezweifeln, daß ein nicht oder nur geringfügig abstufbares Unrecht, das j a zugleich das Zentrum des Schuldvorwurfs bildet, so vielfältige Modifikationen i m Schuldbereich ermöglicht, daß ein Strafrahmen von 6 Monaten bis lebenslang zu rechtfertigen i s t " 1 7 1 . Eine solche Spanne wäre nur in bezug auf den Maßstab individuellen Dafürkönnens zu begründen; der unrechtsunabhängige Maßstab individueller Tatschuld liegt aber weder dem Strafrecht i m allgemeinen 1 7 2 noch den Tötungsdelikten zugrunde 1 7 3 . Geht man davon aus, der Strafrahmen des § 212 I StGB entspreche dem Unrechts- oder Schuldgehalt der „einfachen" vorsätzlichen Tötung, so mag sich eine Höchststrafdrohung von 20 bis 25 Jahren für M o r d noch als Unrechts- oder schuldkongruent rechtfertigen lassen 1 7 4 ; eine lebenslange Freiheitsstrafe hingegen — vor allem, wenn sie absolut angedroht w i r d — läßt sich aus diesen Kriterien nicht legitimieren. Die (Beibehalt u n g 1 7 5 der) absolut angedrohte(n) lebenslangen Freiheitsstrafe findet indessen eine Erklärung durch eine weitverbreitete generalpräventive Ansicht: „ I n der Höhe der angedrohten Strafe" bringe „der Gesetzgeber sein Unwerturteil über die mit der Strafe bedrohte Tat zum Ausdruck. Durch dieses Unwerturteil" trage „er wesentlich zur Bewußtseinsbildung in der Bevölkerung bei. Gerade eine so schwerwiegende Strafe wie die lebenslange Freiheitsstrafe" sei „besonders geeignet, i m Bewußtsein der Bevölkerung die Erkenntnis zu festigen, daß das menschliche Leben ein besonders wertvolles und unersetzliches Rechtsgut" sei, „das besonderen Schutz und allgemeine Achtung und Anerkennung" verdiene 1 7 6 . I m „Bewußtsein der Rechtsgemeinschaft" bestehe „eine innere Verbindung zwischen ,Mord' und »Lebenslang4 " , so daß die „ w e i t h i n sichtbare Zurücknahme der Sanktion als Signal dafür aufgefaßt werden" könne, „daß sich die Wertschätzung 169 Eser, 53. DJT, D 37; vgl. Beckmann, Neuregelung, S. 350. 170 So z. B. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 217 f., 223 ff., 243; ders., Gesinnungsbegriff, S. 117; vgl. dazu Stratenwerth, Gesinnungsmerkmale, S. 181 ff. 171 Arzt, Auswirkungen, S. 149; vgl. Beckmann, Neuregelung, S. 350 f. — Es gibt nun gewiß Fälle extrem hohen verschuldeten Unrechts, z. B. Massentötungen im KZ. Zu fragen ist, ob ein solcher Fall nach normativen oder präventiven Kriterien bei der Bestimmung der gesetzlichen Strafdrohung berücksichtigt werden muß oder darf. Diese Frage kann hier offen bleiben (sie wird systematisch behandelt unten S. 144), da die lebenslange Freiheitsstrafe auch bei Berücksichtigung solcher Fälle nur als Höchststrafe, nicht aber als absolut angedrohte Regelstrafe für alle Fälle des § 211 StGB gerechtfertigt werden könnte. 172 S. oben S. 19 ff. 173 Die subjektiven Mordmerkmale sind demgegenüber sogar häufig Indikatoren regelmäßig verminderter Schuldfähigkeit; s. Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 154; Krauß, Subjektive Elemente, S. 112 f. 174 Vgl. die Überlegungen de lege ferenda bei H. Otto, Straftaten gegen das Leben, S. 77 ff.; rechtsvergleichend zur Strafhöhe Eser ! Koch, Vorsätzliche Tötung, S. 553 m. N. 175 Zur Reformdiskussion vgl. Eser, 53. DJT; 53. DJT-Sitzungsbericht, Teil M; H.M. Weber / Scheerer (Hrsg.), Leben ohne Lebenslänglich; knapp m. vielen w. Ν. Μ / Schroeder/U, BT / 1 § 2 Rn. 4. 176 BVerfGE 45, 187 (256 f.).

1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

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des Gesetzgebers für das bislang ,absolut' geschützte Rechtsgut,Leben' vermindert h a b e " 1 7 7 . E i n weiteres häufig geführtes generalpräventives Argument — zur Erhaltung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung sei es erforderlich, auf besonders „gemeinschaftsbedrohlich" erscheinende Tötungen mit der „Eliminierung" des Täters zu reagieren 1 7 8 — enthält zugleich den Ansatzpunkt zu einer spezialpräventiven Erklärung der Strafdrohung : Es gehe „bei den Mordmerkmalen primär gar nicht um Tatschuld, sondern u m Tätergefährlichkeit"; die lebenslange Freiheitsstrafe übernehme „die Funktion der Sicherungsverwahrung, ohne daß die für Sicherungsverwahrung allgemein vorausgesetzten Kriterien" vorlägen 1 7 9 ; sie orientiere sich am „Schutz der Gesellschaft vor dem gefährlichen T ä t e r " 1 8 0 . Diese Deutung kann sich darauf stützen, daß sich viele Mordmerkmale der lex lata zwanglos allein auf das Leitprinzip der Tätergefährlichkeit zurückführen lassen 1 8 1 ; dies wird tendenziell bestätigt durch die jüngste Rechtsprechung, in der die Tätergefährlichkeit zunehmend an Bedeutung g e w i n n t 1 8 2 , teilweise sogar w o h l allgemein als Strafgrund des M o r des 1 8 3 . Daß sich einige Mordmerkmale nicht oder aber nur gequält aus dem Grundgedanken der Tätergefährlichkeit ableiten lassen 1 8 4 , verschlägt hier nichts. Denn zum einen kann auch hinsichtlich dieser Merkmale nicht dargetan werden, daß sie einen Unrechts- und Schuldgehalt repräsentierten, der die absolute Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe rechtfertigen vermöchte 1 8 5 . Z u m anderen kann m i t Blick auf die anhand der Kriterien der tatsächlichen Vollzugsdauer — sowie historisch 1 8 6 — belegbare Funktion der lebenslangen Freiheitsstrafe als Sicherungsstrafe 187 angenommen werden, daß der Gedanke der Tätergefährlich-

177

Bertram, Auswirkungen, S. 160, vgl. S. 163; vgl. Staiger, Auswirkungen, S. 190; Woesner, Neuregelung, S. 1138 Sp. 2. S. ferner zur generalpräventiven Unverzichtbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe Gribbohm, Neuabgrenzung, S. 223 Sp. 2; Fuhrmann, 53. DJT, Μ 20 f.; Lackner, 53. DJT, Μ 30; vgl. Rieß, 53. DJT-Sitzungsbericht, Μ 95 f. 178 S. nur Eser, 53. DJT, D 167; dort „gemeinschaftsbedrohlich' 4 und „Eliminierung" ebenfalls in Anführungsstrichen. 179 Arzt, Tatbestandsmerkmale, S. 54; „Tätergefährlichkeit" hervorgehoben. 180 Rüping, Mordtatbestand, S. 619 Sp. 2; vgl. auch Beckmann, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 457. 181 Dazu vor allem Arzt, Delikte gegen das Leben, S. 16 ff.; ders., Tatbestandsmerkmale, S. 54; Rüping, Mordtatbestand, S. 619 Sp. 2 ff.; Gössel, Reform, S. 285 Sp. 2. Zum de lege ferenda vom 53. DJT favorisierten Gefährlichkeitsprinzip s. Eser, 53. DJT, D 168 ff. u. passim; 53. DJT-Sitzungsbericht, Μ 164, I I 2. 182 Arzt / W, L H 1 Rn. 78 m. Fn. 21. 183 Ebenfalls in diesem Sinn versteht Arzt / W, L H 1 Rn. 78 Fn. 21 die Ausführungen des 1. Strafsenats, BGHSt 34, 59 (61); nur auf das Mordmerkmal der Mordlust bezogen versteht Gössel, BT / 1 § 4 Rn. 7 Fn. 7 die Ausführungen des Senats. 184 Dazu Eser, 53. DJT, D 51 f.; Schroeder, Grundgedanken der Mordmerkmale, S. 276 Sp. 1 ff.; Frommel, Tötungsdelikte, S. 74 f. iss S. Arzt, Delikte gegen das Leben, S. 20 ff.; Gössel, Reform, S. 285 Sp. 2 f. 186 S. Röhl, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 135 ff.; s. auch Arzt/ W, L H 1 Rn. 88.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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keit, auch wenn er sich bislang weder als gesetzlich postuliertes noch als allein bestimmendes latentes Leitprinzip etablieren konnte, sich dennoch als weiterer Grund neben der Generalprävention durchgesetzt hat, für M o r d die lebenslange Freiheitsstrafe absolut anzudrohen 1 8 8 . Aber auch die Ansicht, „eine Tötung, für die es keine spezifischen Schuldminderungsgründe" gebe, bedeute „wegen der Verwirklichung absoluten Unrechts zugleich auch absolute Schuld" und verdiene „deshalb die Höchststrafe des Systems" 1 8 9 , kann den gesetzlichen Sanktionssprung nicht ohne Rückgriff auf präventive Argumente begründen. Sie meint, der Gesetzgeber verzichte „aus Gründen der Kriminalpolitik in einem gewissen Bereich darauf, das, was schuldadäquat [sei], zu verhängen"; nur bei dem Typus von Fällen, „die nach außen hin die besondere Gefährlichkeit des Täters erkennbar machen", sei „aus Gründen der Generalprävention die höchste Strafe geboten" 1 9 0 . Nach dieser Konzeption ist zwar nicht die Strafdrohung des § 211 I StGB, dafür aber die des § 212 I StGB in Teilen nicht nach den Kriterien von Unrecht oder Schuld, sondern nach Kriterien der Generalprävention — und sub specie Tätergefährlichkeit w o h l auch der Spezialprävention — determiniert.

bb) Prävention als Leitprinzip des Strafensystems Bei der Musterung der Komponenten unvermittelt-präventiver Determination der Strafzumessungsschuld ist aber auch das Strafensystem i m ganzen in Betracht zu ziehen. Denn nicht nur die Strafrahmen einiger Deliktstatbestände, sondern das Strafensystem insgesamt — wenn auch nicht in der Ausprägung wie bei einzelnen besonders präventiv aufgeladenen Vorschriften — spiegelt weder präventionsfreie Schuld noch auch nur präventionsfreies verschuldetes Unrecht. Nicht nur, daß Schuld, die nicht empirisch positiv feststellbar ist, auch nicht positiv quantifizierbar i s t 1 9 1 (und auch feststellbare Schuld eine Quantifizierung allenfalls relativ zu einem gegebenen Strafensystem anleiten könnte 1 9 2 ). Der Festlegung der Strafrahmen des geltenden Rechts liegt gar kein Leitprinzip puren Schuldausgleichs zugrunde, sondern allenfalls das des Schuldausgleichs i m Rah-

187 S. Rüping, Mordtatbestand, S. 619 Sp. 1 f.; Arzt, Delikte gegen das Leben, S. 16 f.; dens., Tatbestandsmerkmale, S. 54; Kaiser, Sanktionensystem, S. 141 Rn. 55; rechtsvergleichend: Jescheck, Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, S. 2072 ff.; zur Bejahung der lebenslangen Freiheitsstrafe als Sicherungsstrafe durch BVerfGE 45, 187 (242) Kerner, Wandel, S. 44; Haffke, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 80 f., 86. iss S. noch Arzt / W, L H 1 Rn. 89. 189 Lackner, 53. DJT-Sitzungsbericht, Μ 97; vgl. Köhler, Strafbarkeit des Mordes, S. 763 Sp. 1 m. w. N. 190 Lackner, 53. DJT-Sitzungsbericht, Μ 97. 191 Vgl. Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 151; dens., Schuldlehre, S. 162. 192 Grundlegend von Liszt, Zweckgedanke, S. 151 ff., bes. 153 u. 157.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

men des präventiv Erforderlichen 1 9 3 . Die „Generalprävention als allgemeine Strafidee" bestimmt „die Existenz und Gestaltung" der Strafrahmen zumindest m i t 1 9 4 ; jedenfalls in den Zeiten ihrer Hochkonjunktur w i r d auch die Spezialprävention Einfluß auf die Strafrahmengestaltung genommen haben 1 9 5 . Die Strafrahmen reflektieren mithin das (auch unvermittelt) präventiv determinierte abstrakte Maß verschuldeten Unrechts. cc) Präventive Steuerung schuldrelevanter Strafzumessungsfaktoren (am Beispiel „Vorleben des Täters", § 46 I I 2 StGB) A l s weitere Komponente, über die es zu unvermittelt-präventiver Determination der Strafzumessungsschuld kommt, ist schließlich noch der in § 46 I I 2 StGB aufgeführte (nicht abgeschlossene 196 ) Katalog der Umstände, die als Strafzumessungstatsachen in Betracht kommen, zu nennen. Jedenfalls einigen der namentlich genannten Faktoren fehlt es entgegen der herrschenden Meinung an der behaupteten doppelten A m b i v a l e n z 1 9 7 : sie sind entweder nur präventionsrelevant oder sie sind schuldrelevant nur unter dem Gesichtspunkt der Schuldminderung, also zugunsten des Täters; unterlassene Schuldmaßsenkungen und Schuldmaßerhöhungen wegen angeblich gesteigerter Schuld beruhen in Wahrheit auf präventiven Erwägungen. A n dem Faktor „Vorleben des Täters", insbesondere i m Hinblick auf Vorstrafen 1 9 8 — deren alleinige schuldstrafrechtliche sedes materiae nach Aufhebung des § 48 S t G B 1 9 9 § 46 StGB i s t 2 0 0 — soll das exemplarisch gezeigt werden.

193 Jakobs, A T 17 / 30; dersSchuld, S. 4; von Liszt, Zweckgedanke, S. 157 f.; Haffke, Schuldlehre, S. 163. 194 Zipf, Strafmaßrevision, S. 106 f. (wörtl. Zitat S. 107); desgleichen Noll, Schuld und Prävention, S. 230; Roxin, Diskussion, S. 305; s. auch Timpe, Strafmilderungen, S. 67 ff.; vgl. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 266 ff. 195 Vgl. von Liszt, Zweckgedanke, S. 158. 196 s. nur LK-G. Hirsch, § 46 Rn. 32. 197 Zur Ambivalenz im doppelten Sinn — für oder gegen den Täter, schuld- oder präventionsrelevant — Jescheck, A T § 82 I V 3; LK-G. Hirsch, § 46 Rn. 30; Lackner, § 46 Anm. IV; D / Tröndle, § 46 Rn. 17; Sch / Sch / Stree, § 46 Rn. 10; Horstkotte, Strafbemessung, S. 125 Sp. 2. Vgl. grundlegend und kritisch Frisch, „Bewertungsrichtung" von Strafzumessungstatsachen. 198 Vorstrafen lassen sich auch unter den in § 46 I I 2 StGB genannten Gesichtspunkten „Gesinnung, die aus der Tat spricht" und „der bei der Tat aufgewendete Wille" (kriminelle Energie) berücksichtigen. Wie die Untersuchungen von Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 774 f., 765 ff.; Stratenwerth, Tatschuld, S. 15 ff. u. Walter, Handlungsunwert, bes. S. 200 f., Bestimmung, bes. S. 494 f., 500 f., 504 f., zeigen, erfolgt die Bewertung von Vorstrafen auch unter diesen Gesichtspunkten vornehmlich aufgrund präventiver Erwägungen. 199 durch Art. 1 Nr. 1 des 23. StrÄndG vom 13. 4. 1986, BGBl. I, 393. 200 Zur Lagebeurteilung vgl. Zipf, Rückfall und Vorstrafen; Jung, Sanktionssystem, S. 743; Geiter, Rückfallvorschrift (§ 48 StGB) aufgehoben.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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Frühere Verurteilungen sind unter dem Aspekt der individuellen Tatschuld 2 0 1 nur relevant, wenn sie einen Rückschluß 2 0 2 auf das Dafürkönnen des Täters bei der zu beurteilenden neuen Tat zulassen. W i e o b e n 2 0 3 eingehend dargelegt worden ist, läßt sich empirisch bzw. mit den M i t t e l n des Strafverfahrens jedoch nur die Einschränkung von Freiheit durch Kausalfaktoren feststellen, nicht aber positiv die Freiheit des konkreten Täters. D. h. empirisch läßt sich von früheren Verurteilungen allenfalls auf geminderte, keinesfalls jedoch auf erhöhte individuelle Tatschuld schließen. Die empirische Feststellung, bei dem Täter seien durch die vorangegangenen Verurteilungen besondere Hemmungsimpulse wirksam geworden, die dessen Motivation zu rechtstreuem Verhalten verstärkt und die Ausführung der neuen Tat erschwert hätten 2 0 4 , darf deshalb nicht als Aufweis eines erweiterten Freiheitsspielraums verstanden werden. I m Gegenteil: festgestellt ist damit die Einschränkung der Freiheit des Täters, sich für das Unrecht zu entscheiden, durch den Kausalfaktor frühere Verurteilungen. Eine solche sich zugunsten der Rechtstreue auswirkende Freiheitseinschränkung begründet zwar keine Schuldminderung, aber auch keine Schulderhöhung. Denn es kann empirisch nicht gezeigt werden, daß die Überwindung der größeren Hemmungen nicht ebenfalls kausal determiniert war. Die sub specie rechtstreuen Verhaltens Gegenläufigkeit kausaler Determination erzeugt keinen Freiheitsspielraum 2 0 5 ; die Feststellung von zur Rechtstreue determinierenden Kausalfaktoren ändert nichts daran, daß die Entscheidung des Täters gegen das Recht sich in empirischer Perspektive als vollständig kausal determiniert, d. h. als unfrei getroffene Entscheidung darstellt. Frühere Verurteilungen scheiden also auch dann, wenn sie sich hemmungserhöhend oder hemmungsaufbauend ausgewirkt haben, aus erkenntnistheoretischen Gründen als Indikatoren gesteigerter individueller Tatschuld aus. Sie sind insoweit schuldmaßneutral. Wirken sie sich hingegen hemmungssenkend aus, so sind frühere Verurteilungen sogar schuldmindernd zu berücksichtigen 2 0 6 .

201 Andere Schuldkonzepte und präventive Konzepte sind bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 48 StGB durch das BVerfG (E 50, 125 (134, 136)) und vordergründig auch vom Gesetzgeber — vgl. Horstkotte, Rückfall und Maßregeln, S. 153 Sp. 2 m. N. u. dazu E. Horn SK-StGB § 48 Rn. 3 ff. (3. Aufl., Stand April 1981); aber auch zur Spannung zwischen Schuld und Prävention, S. 154 — verworfen worden. Zu Vordergründen und Hintergründen beim Rückfallrecht Haffke, Rückfall und Strafzumessung, S. 204 ff. 202 Zur Indizkonstruktion und deren Bedeutung in der tatrichterlichen Praxis und obergerichtlichen Rechtsprechung Bruns, RdStrZ, S. 220 m. N. 2 03 S. 22 ff. 2 04 Das ist der deskriptive Gehalt der im Sinn individueller Tatschuld verstandenen Warnungsformel; näher dazu m. N. Haffke, Rückfall und Strafzumessung, S. 206 f., 201 ff. 2 05 Vgl. Stratenwerth, Tatschuld, S. 17 f.; Grünwald, Rechtsfolgensystem AE, S. 98 u. AE-AT, S. 213. 2 06 Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 155; E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 124.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Alles kriminologische Wissen spricht nun dafür, daß frühere Verurteilungen regelmäßig geminderte Schuld indizieren. Bei dem typischen Rückfalltäter werden nämlich motivatorische Wirkungen der Vorstrafen nicht nur „regelmäßig durch habituelle oder entwicklungsbedingte Defizite der Vermeidemacht wieder v o l l kompensiert" 2 0 7 , vielmehr wird dessen Deliktsresistenz mit der ersten Straftat und deren Folgen (Verringerung sozialer Chancen bzw. soziale Desintegration durch — stigmatisierende — Verurteilung bzw. — kriminogenen — Vollzug) noch weiter geschwächt 2 0 8 . Hieraus folgt, daß die diesen Erkenntnissen zuwiderlaufende regelmäßig schulderhöhende Berücksichtigung der Vorstrafen durch die Rechtsprechung und herrschende L e h r e 2 0 9 i m Rahmen des jetzt aufgehobenen 48 StGB wie des § 46 I I 2 S t G B 2 1 0 gewiß nicht durch Kriterien individueller Tatschuld gesteuert w i r d 2 1 1 . Diese Zuschreibung erhöhter Schuld resultiert stattdessen daraus, daß jede soziale Gruppe dazu neigt, „ein größeres Maß an Auflehnung gegen ihre Normen mit einem größeren Maß an repressivem Zwang zu beantworten. Je hartnäckiger der kriminelle W i l l e ist, desto schärfer muß die Sanktion sein, die ihn beugen soll . . . Der härtere Zwang soll offenbar die rechtliche Ordnung nachdrücklicher bekräftigen und zugleich den Täter durch Abschreckung oder „Besserung" wirksamer von künftigen Straftaten abhalten. Es sind, mit anderen Worten, sehr vertraute, obschon unreflektierte M o t i v e der General- und der Spezialprävention, die hier i m Hintergrund stehen. Sie haben seit Jahrtausenden, in unentwirrbarer Verfilzung mit dem Vergeltungsdrang, vor allem die Rückfallschärfung getragen" 2 1 2 . Infolgedessen ist es nicht verwunderlich, daß die herrschende Rückfalldogmatik, gerade weil sie das deklaratorisch hochgehaltene Tatschuldprinzip unterläuft, 207 Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 774; s. dazu Stratenwerth, Tatschuld, S. 16; dens., A T I I (CH), § 7 Rn. 40 sowie je m. w. N. B.-D. Meier, Strafzumessung bei Rückfalltätern, S. 1338 f,; Geiter, Rückfallvorschrift (§48 StGB) aufgehoben, S. 378 Sp. 1. 208 Dazu detailliert Frosch, Rückfall Vorschrift, S. 105 ff.; Schöch, Kriminologie und Gesetzgebung, S. 167 f.; C. Pfeiffer, Rückfall, S. 301; s. auch Stratenwerth, Tatschuld, S. 16 f.; dens., A T I I (CH) § 7 Rn. 40; Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 155. 209 Vgl. nur m. w. (Rspr.-)N. LK-G. Hirsch, § 48 Rn. 36; D / Tröndle (42. Aufl. 1985), § 48 Rn. 10 ff.; Lackner (16. Aufl. 1985), § 48 Anm. 3 b aa; Ό/Tröndle, § 46 Rn. 24 a; Sch / Sch / Stree, § 46 Rn. 31 ff. S. die Ergebnisse der empirischen Untersuchung von B.-D. Meier, Bestrafung von Rückfalltätern, S. 174 ff.; dens., Strafzumessung bei Rückfalltätern, S. 1341 ff.; ferner Haffke, Rückfall und Strafzumessung, S. 209 f.; Walter, Bestimmung, S. 500 f. 210 Sowohl vor Aufhebung des § 48 StGB und wegen der grundsätzlichen Identität der Dogmatiken — vgl. oben die N. in Fn. 208 sowie Μ / G/Zipf A T / 2 § 63 Rn. 161 — wohl auch danach unverändert hinsichtlich aller Vorstrafen: so auch Walter, Bestimmung, S. 500; Bruns, NStrZR?, S. 59; Geiter, Rückfallvorschrift (§ 48 StGB) aufgehoben, S. 379 Sp. 2 f.; vgl. C. Pfeiffer, Rückfall, S. 308. 211 Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 155; Stratenwerth, AT I I (CH) § 7 Rn. 40; Walter, Bestimmung, S. 504 f.; Frosch, Rückfallvorschrift, S. 87 f., 108 ff., je m. w. N. 212 Stratenwerth, Tatschuld, S. 18 f.; sich dieser Erklärung anschließend oder in derselben Richtung argumentierend Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 155; ders., Rückfall und Strafzumessung, S. 211 f.; Streng, Schuld, S. 651 f.; Walter, Bestimmung, S. 504 f.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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i m Einklang mit der gesetzgeberischen Intention handelt. Daß sich der jeweilige Gesetzgeber am wenigsten von Tatschulderwägungen leiten ließ, bestätigen die Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, die sich an dem ehrwürdigen Zurechnungsmaßstab „iteratio äuget p o e n a m " 2 1 3 orientierten 2 1 4 , und das ergibt sich daraus, daß § 48 StGB nicht wegen allgemeiner Unvereinbarkeit mit dem Tatschuldprinzip aufgehoben worden ist, sondern hauptsächlich wegen seiner Entbehrlichkeit und praktischer NichtbeWährung 2 1 5 . Daß sich auch das Argument findet, eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten erscheine bei i m Rückfall begangenen Bagatelldelikten nicht stets schuldangemessen 216 , kann sicherlich weder als Appell noch auch nur als Signal des Gesetzgebers an die Rechtsprechung verstanden werden, auch i m Rahmen des § 46 I I 2 StGB von der in langer Tradition gepflegten grundsätzlich identischen Rückfalldogmatik Abschied zu nehmen 2 1 7 . I I I . Fazit Der Schuldrahmentheorie in der auf dem strikten Vorrang der Schuldvergeltung beharrenden Variante der herrschenden Meinung stehen nicht nur deren eigene Prämissen entgegen; ihr stehen auch das geltende Strafrecht und das Schuldverständnis der herrschenden Doktrin entgegen. Die herrschende Schuldrahmentheorie, die sich präventionsstrafrechtlich nicht legitimieren kann, absolut-vergeltungsstrafrechtlich nicht legitimieren w i l l und eine andere (dritte) Begründung nicht gibt, kann sich auch nicht positivistisch derivativ eine (schon allein wegen fehlender konzeptueller Verträglichkeit ohnehin bestenfalls) brüchige Legitimation verschaffen. Der wegen des strikten Vorrangs der Schuldvergeltung erforderliche präventionsfreie Schuldbegriff läßt sich i m geltenden Strafrecht nicht nachweisen. Dem Strafgesetz und der Strafrechtsprechung geht es nicht um die Feststellung (des Maßes) wirklicher individueller Täterschuld, sondern um die generalisierende Zuschreibung von Schuld, und dies auch in Fällen, in denen es empirisch-nachweislich am individuellen Andershandelnkönnen fehlt. Die Zuschreibung von Schuld mag zu einem T e i l von Kriterien gesteuert werden, die sich alleine präventionsunabhängigen Gerechtigkeitsvorstellungen verdanken — das wurde nicht systematisch untersucht, sondern nur gelegentlich angesprochen; zumindest in erheblichem Umfang bestimmen aber auch solche Kriterien die Schuldzuschreibung, die auch oder nur präventiv fundiert sind. Die herrschende 213 Zu diesem Zurechnungskriterium der partikularrechtlichen Gesetzgebung des 18. Jahrhunderts Frosch, Rückfall Vorschrift, S. 4 m. N. s. Dreher, Müller-Emmert, Prot. V, 2187 f. und den Überblick bei Frosch, Rückfallvorschrift, S. 34 ff. (s. auch S. 148 ff., 156 ff.); vgl. Haffke, Rückfall und Strafzumessung, S. 211 f. 2 *5 BT-Drs. 10/2720, 10 Sp. 1; vgl. Bruns, NStrZR?, S. 58 f. 2 ·6 BT-Drs. 10/2720, 10 Sp. 1. 2,7 So auch Bruns, NStrZR?, S. 59. Anders, aber nicht überzeugend und inkonsistent Geiter, Rückfallvorschrift (§ 48 StGB) aufgehoben; vgl. S. 380 Sp. 1 mit S. 377 Sp. 1.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Doktrin trägt dem Schuldverständnis von Gesetz und Rechtsprechung nicht nur w i d e r w i l l i g Rechnung. Unter deren an präventionsfreier Schuldvergeltung orientierter terminologischer Oberfläche, in weiten Teilen aber auch (relativ) offen zutage liegend, findet sich vielmehr eine eigenständige Herleitung und Legitimation des Konzepts generalisierter normativer Festlegung von Verantwortlichkeit, d. h. Zuschreibung von Schuld, aus — jedenfalls auch — präventiven Gründen. Die herrschende Schuldrahmentheorie ist also außer wegen konzeptuell inkonsistenter und fehlender Begründungen auch deshalb delegitimiert, weil ihr die umfangreiche strukturelle Konfundierung von Schuld und Prävention und deren mangelnde Trennbarkeit die erforderliche sachliche Grundlage für die Verfolgung des vorrangigen absoluten Strafziels der Vergeltung entzogen haben. Nur eine präventionsfreie bzw. von Prävention zu reinigende Schuld ermöglicht eine zweckfreie Strafmaßbestimmung. Ist indes eine zweckfreie Strafmaßermittlung nicht möglich, so hat das freilich auch legitimatorische und sachliche Konsequenzen für die Berücksichtigung der Prävention durch die Schuldrahmentheorie.

B. Die Prävention im Schuidrahmen und bei der Strafzumessung im weiteren Sinn I . Herkömmliche Einwände gegen die Schuldrahmentheorie vor dem Hintergrund der Konfundierung von Schuld und Prävention A u f den Schuldrahmen, den der Richter durch Bewertung der konkreten Tatschuld in Orientierung am gesetzlichen Stafrahmen und an den anderen Gesichtspunkten der Strafzumessungsschuld gewinnt, schlägt die präventive Prägung der Schuld v o l l durch. Kann die Rahmenstrafe aber nicht als rein oder wenigstens hinreichend schuldbezogen, d. h. als Maß zweckfrei zu vergeltender Schuld ausgewiesen werden, dann kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs der Schuldvergeltung begründet werden, daß Prävention nur innerhalb der Rahmenstrafe und bei der Strafzumessung i m weiteren Sinn berücksichtigt werden darf. Das bedeutet, daß die Schuldvergeltung als Kriterium der Strafhöhenfestsetzung ausscheidet und der L o g i k der Schuldrahmentheorie zufolge 2 1 8 nunmehr allein die präventiven Strafziele die konkrete Strafhöhe innerhalb der durch die gesetzliche Mindeststrafdrohung und das Schuldstrafmaß 2 1 9 bzw. die gesetzliche 218

Die auf der Beachtung von Präventionsaspekten bei der Strafzumessung im engeren Sinn besteht; s. nur Μ /Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 23; Lackner, § 46 Anm. I I I 3; D /Tröndle, § 46 Rn. 5; Jescheck, A T § 82 III, S. 786 m. w. N. 219 Fragen wie die, ob sich angesichts der Konfundierung von Schuld und Prävention überhaupt eine hinreichend präventionsdifferente Schuldgrenze bestimmen läßt oder die nach dem (normativen) Umgang mit dem Spielraum des Schuldstrafmaßes, werden hier ausgeklammert; systematisch behandelt werden sie unten S. 104 ff.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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Höchststrafdrohung gezogenen Grenzen bestimmen. V o r diesem Hintergrund der Konfundierung von Schuld und Prävention und des qualitativ und quantitativ veränderten Status der Prävention gewinnen die schon innerhalb des herkömmlichen schuldstrafrechtlichen Paradigmas gegen das herrschende Konzept der Berücksichtigung der Prävention bei der Strafzumessung erhobenen gravierenden Einwände noch an Gewicht. Der Einwand, das Strafziel der Generalprävention sei für die Strafzumessung verbraucht, weil j a — auch nach der herrschenden Meinung selbst 2 2 0 — die schuldangemessene zugleich die generalpräventiv wirksamste Strafe s e i 2 2 1 , erhält mit dem Nachweis generalpräventiver Schulddetermination eine neue Dimens i o n 2 2 2 . Die Einwände: man verfüge über keine tauglichen Kriterien zur Bestimmung der Strafhöhe unter Präventionsaspekten 223 ; selbst wenn man hierüber verfügte, scheiterte eine präventive Strafhöhenfestsetzung an der empirischen Antinomie der Strafzwecke 2 2 4 , für deren normative Entschärfung es der herrschenden Schuldrahmentheorie auch an einer konsistenten und überzeugenden Strafzielhierarchie 2 2 5 (bzw. an der Einsicht in den Verbrauch der Generalprävent i o n 2 2 6 ) mangele; treffen die präventiven Strafziele nach dem Wegfall der Schulduntergrenze nicht mehr nur als Elemente der Konkretisierung einer bereits weitgehend bestimmten Schuldstrafhöhe, sondern als konzeptionell erheblich aufgewertete, in weitem Umfang allein maßgebende Elemente einer präventionsstrafrechtlichen Strafhöhenbestimmung. Diese Einwände und deren Bedeutungszuwachs brauchen indes zunächst nicht i m einzelnen vertieft behandelt zu werden. Denn wenn die Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit präventiver Strafhöhenfestsetzung konsequenterweise zur Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit von Prävention bei der gesamten Strafzumessung erweitert wird, dann gelangt man über die herrschende Schuldrahmentheorie hinaus zu dem empirischen T e i l der alle Strafzumessungskonzepte, die an irgendeiner Stelle präventive Strafziele verfolgen, betreffenden vorgängigen Frage nach der Legitimität der Prävention bei der Strafzumessung. U n d soweit diese grundsätzliche Frage nach der (empirischen und normativen) Legitimität der Verfolgung der jeweiligen präventiven Strafziele überhaupt bei der

220 s. etwa Gallas, Verbrechenslehre, S. 4; Baumann / U. Weber, AT, S. 18; Bruns, StrZR, S. 312; Jescheck, A T § 1 II, § 8 V 1, 2 m. vielen w. N. 221 Roxin, Strafzumessung, S. 469 ff.; ders., Prävention und Strafzumessung, S. 196; ders., Diskussion, S. 306 f. S. auch Schmidhäuser, A T (LB) 20/67. Vgl. Müller-Dietz, Grundfragen, S. 29 f. 222 Vgl. Jakobs, A T 17/31. 223 s. nur Henkel, Die „richtige" Strafe, S. 47 ff.; E. Horn, Strafhöhenzumessung, S. 245 f.; Schöch, Strafe; E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 25 ff. m. w. N. 224 s. nur E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 31 f.; s. auch Giehring, Generalprävention, S. 4 f. 225 Zum Stand der Vorrang-Diskussion s. nur Bruns, RdStrZ, S. 105; Μ ! Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 30; Jescheck, § 82 I I I 3, S. 785, je m. w. N. 226 Roxin, Prävention und Strafzumessung, S. 196 f. Vgl. Bruns, RdStrZ, S. 105.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Strafzumessung zu verneinen ist, erübrigt es sich dann, legitimitätsabhängige Fragen — wie die nach Antinomien und deren Entschärfung — i m hiesigen Zusammenhang weiter zu erörtern.

I I . Fehlende Legitimität unmittelbar-präventiver Strafzumessung Soweit sich das Strafrecht präventiv, d. h. über die Wirkungen der Strafrechtspflege, rechtfertigt, unterwirft es sich empirischen Legitimationsanforderung e n 2 2 7 . Es muß nicht nur den herkömmlichen (strafrechtlichen Wertprinzipien (wie dem der Wahrung der Menschenwürde) 2 2 8 genügen, sondern zudem zeigen, daß die behaupteten Wirkungen erreicht werden. E i n unmittelbar-präventives Strafzumessungskonzept ist freilich nicht schon dann empirisch legitimiert, wenn sich allgemein präventive Wirkungen des Strafens überhaupt nachweisen lassen. Erforderlich ist vielmehr, daß wissenschaftlich hinreichend gesicherte Erfahrungssätze 2 2 9 über den positiven Zusammenhang von Strafurteil und Prävention vorliegen und daß der Tatrichter über Verfahren, Kriterien und Indikatoren verfügt, um diese Erfahrungssätze unter den tatsächlichen und normativen Bedingungen des Strafprozesses methodisch k o r r e k t 2 3 0 auf den Einzelfall anzuwenden, d. h. befähigt ist, die präventiven Wirkungen des Strafurteils verläßlich zu prognostizieren 2 3 1 .

227 Speziell zum Sanktionensystem s. Müller-Dietz, Grundfragen, S. 51, 61; dens., Probleme, S. 49 f., 75 f.; W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 49 ff.; dens., Strafziele, S. 45 f., 51 ff.; Kaiser, Kriminologie (LB) § 104 Rn. 16; Giehring, Ungleichheiten, S. 82, 96; dens., Generalprävention, S. 3 f.; H.-J. Albrecht I Dünkel I Spieß, Sanktionsforschung, S. 311 ; Herzog, Manifestation, S. 47; K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 37 f. Allgemeiner: das grundlegende Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der sog. Fristenlösung BVerfGE 39, 1 (45, 51) und dazu Müller-Dietz, Pönalisierungsgebote, S. 92 f. u. passim, Driendl, Strafgesetzgebungswissenschaft, S. 33 ff. (35 f.), je m. w. N.; sowie m. w. N. H.-L. Günther, Strafgesetzgebungslehre, S. 9 Sp. 1 \Amelung, Strafgesetzgebung, S. 71; Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 110 f.; Zipf, Kriminalpolitik, S. 53 ff. Zu Kriterien der Strafwürdigkeit aus Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit eingehend W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 191 ff. 228 Zu diesen normativen Grundsätzen s. nur Jescheck, A T § 4; W. Hassemer AKStGB Vor § 1 Rn. 318 ff. 22 9 Vgl. Haag, Strafzumessung, S. 135 f.; Giehring, Ungleichheiten, S. 82, 102 f. 2 30 Gemessen an der Methodologie der jeweils einschlägigen empirischen Wissenschaft: Haag, Strafzumessung, S. 136; W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 50. 2 31 Vgl. W. Hassemer, Berücksichtigung von Folgen, S. 520 f. u. passim; dens., Generalprävention und Strafzumessung, S. 42, 47 ff.; dens., Sozial wissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung, S. 21; Giehring, Ungleichheiten, S. 82, 102 ff.; H.-J. Albrecht / Dünkel / Spieß, Sanktionsforschung.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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1. Die Generalprävention a) Die

Abschreckungsgeneralprävention

aa) Die empirischen Probleme Die empirische Legitimation der negativen Variante der Generalprävention 2 3 2 , welche die Abschreckung verbrechensgeneigter anderer durch Strafverhängung bzw. Strafvollzug bezweckt, scheitert i m allgemeinen schon daran, daß zwei notwendige Bedingungen 2 3 3 nicht, jedenfalls nicht kumulativ, erfüllt sind: entweder mangelt es bereits an der Vermittlung des erforderlichen Wissens von der Strafzumessungsentscheidung an die Adressaten oder aber an der Motivierbarkeit der Adressaten durch das Urteil. V o m Strafrecht überhaupt haben die Leute gemeinhin nur allgemeine, vage und tendenziell verzerrte Vorstellungen 2 3 4 ; jedenfalls das für eine wirksame generalpräventive Strafzumessung notwendige Wissen — neben der Tatsache des Urteils insbesondere v o m spezifischen generalpräventiven Faktor des Urteils (Strafhöhe, Nichtaussetzung zur Bewährung) und davon, daß diese Strafzumessungsentscheidung mit Sicherheit — zumindest für die Zukunft — exemplarisch i s t 2 3 5 — fehlt ihnen in der Regel v ö l l i g 2 3 6 . Auch die gelingende Vermittlung dieses spezifischen Wissens beseitigt freilich nicht das Problem der M o t i v ierbarkeit. Denn die Menschen richten sich nach sozialen Normen, die mit den strafrechtlichen nicht deckungsgleich s i n d 2 3 7 , sie werden weitgehend von Faktoren motiviert, die mit Strafrecht nichts zu tun

232 Negative und Abschreckungsgeneralprävention einerseits, positive und Integrationsgeneralprävention andererseits, werden gemeinhin als Synonyme verwendet: vgl. nur Lackner, § 46 Anm. I I I 3 b. Es soll hier aber dennoch bereits darauf aufmerksam gemacht werden, daß bei der straf(rechts)theoretischen Grundlegung (2. Kapitel) in starker Anlehnung an W. Hassemer, Einführung, S. 324 ff., Integrationsgeneralprävention und positive Generalprävention als in wesentlichen Punkten differierende Konzepte begriffen werden und daher die Wahl an dieser Stelle nicht beliebig ist. — Zu terminologischen Unklarheiten des Begriffspaares allgemein / speziell bezogen auf die Generalprävention und zum Umfang des Begriffs „Verteidigung der Rechtsordnung" eingehend m. w. N. Stratenwerth, Strafzumessung, S. 26 f. 233 Vgl. die Zusammenstellung aller Bedingungen der Möglichkeit generalpräventiven Handelns bei W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 41 f. 234 s. nur Smaus, Strafrecht, S. 39 ff., 140 ff.; Dölling, Strafeinschätzungen; dens., Rechtsgefühl; Westermann I Hager, Schwereeinschätzungen; M/G/Zipf, A T / 2 §63 Rn. 91. 235 w. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 42. 236 w. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 44 f.; Μ / G / Z i p f \ A T / 2 §63 Rn. 91. 237 Müller-Dietz, Präventive Wirkungen, S. 110 ff.; W. Hassemer / Hart-Hönig, Generalprävention, S. 251 ff. Bsp. bei Lüderssen, Erfahrung, S. 167 ff.; Möllers-Oberiick, Urteile über Verkehrsdelikte.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

haben 2 3 8 , und sie handeln nicht so Kosten und Nutzen abwägend, wie es die Theorie der Abschreckungsgeneralprävention voraussetzt 2 3 9 . Dies gilt auch für die Gruppen potentieller Täter, denen man besondere Kenntnis der für sie einschlägigen Strafrechtsprechung und besonderes Risikobewußtsein zuschreibt; die möglichen Täter etwa organisierter Kriminalität, der Betäubungsmittelkriminalität, der Wirtschafts- und Umweltdelinquenz 2 4 0 sind ebenfalls i n soziale Strukturen der Normbildung und Normverarbeitung eingebunden, die einer Motivation durch Strafurteil entgegenstehen 241 . Soweit das Konzept der Abschreckungsgeneralprävention die kriminologischen Befunde zur Kenntnis nimmt, geht es denn auch von der Irrelevanz der Strafschwere 2 4 2 aus und setzt auf die Vergrößerung des Strafrisikos 2 4 3 , d. h. Generalprävention w i r d von der Strafverfolgung, jedoch nicht von der Strafzumessung erwartet 2 4 4 . Aber auch wenn man hinsichtlich eines kleinen abgrenzbaren, informierten und risikobewußten Täterkreises gewisse Chancen für eine abschreckungsgene-

238 Kaiser, Kriminologie (LB) § 37 Rn. 59; Müller-Dietz, Präventive Wirkungen, S. 111. Bsp. bei Haferkamp, Kriminelle Karrieren, bes. S. 260 ff., 368 ff., 405 ff., 462 ff. 239 Hart, Prolegomena, S. 58; Lüderssen, Generalpräventive Funktion, S. 70; Neumann / Sehroth, Kriminalität und Strafe, S. 35; Müller-Dietz, Präventive Wirkungen, S. 112; Schüler- Springorum, Resozialisierung, S. 505 f.; W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 424. S. auch Vanberg, Abschreckung, S. 22 ff., u. Schünemann, Strafzumessung, S. 222, der das für die „Androhungs-Generalprävention" tendenziell anders beurteilt. 240 Zu deren besonderer Stellung vgl. W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 43 f.; dens. AK-StGB Vor § 1 Rn. 424. 241 Zu den einschlägigen Stichworten wie „Grenzmoral", „Abhängigkeit von Bezugsgruppennormen", „Finanzpsychologie" s. W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 47; Lüderssen, Erfahrung, bes. S. 167 ff. m. N.; Schünemann, Alternative Kontrolle der Wirtschaftskriminalität, S. 630 f. 242 Vgl. Eisenberg, Kriminologie §41 Rn. 7; Neumann I Sehr oth, Kriminalität und Strafe, S. 36; Kaiser, Kriminologie (LB) § 37 Rn. 57; dens., Strafe, S. 931; dens., Verkehrsdelinquenz, S. 383 ff.; dens., Präventive Wirkungen; Schöch, Strafzumessungspraxis, S. 86 ff., 96 f., 197 ff.; dens., Generalprävention, S. 1090; dens., Strafzumessungsfall Rn. 30; Schreiber, Strafkonzeptionen, S. 283, 292; Dölling, Generalprävention, S. 3, 4, 6; Schumann, Positive Generalprävention, S. 37 (auch zu Bumerang-Effekten von Strafbarkeitsausweitungen). S. Schumann / Berlitz / Guth / Kaulitzki, Jugendkriminalität und Generalprävention, S. 127 ff.; S. 163 m. w. N. dazu, daß Strafschwere auch in Kombination mit dem Entdeckungsrisiko keine Bedeutung erlangt, wenn man Extremwerte außer Betracht läßt; vgl. Dölling, Generalprävention, S. 8. S. auch Köberer, Generalprävention. 243 S. nur Schöch, Verstehen, Erklären, Bestrafen?, S. 319; Schwind, Poenologie, 5. 1028 f., 1039 ff.; Kaiser, Kriminologie (LB) § 37 Rn. 58. 244 Wobei man sich freilich — ganz abgesehen von der Frage nach den normativ akzeptablen Kosten an Freiheit und Geld (s. dazu nur H.-J. Albrecht, Generalprävention, S. 138 f.; Dencker, Gefährlichkeitsvermutung, S. 266 Sp. 1) und des Wegfalls der „Präventiv W i r k u n g des Nichtwissens" (Popitz) — im allgemeinen darüber im klaren ist, daß die Vergrößerung des Strafrisikos zwar das wirkungsvollste Instrument der Strafrechtspflege ist, aber dennoch sehr schwach im Vergleich zu sozialen Faktoren wie informelle Reaktionen, moralische Verbindlichkeit: vgl. nur m. w. N. Kaiser, Kriminologie (LB) § 37 Rn. 59.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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raipräventiv motivierte Strafzumessung sieht 2 4 5 , scheitert deren Realisierung auch hier jedenfalls daran, daß das einschlägige Wissen (noch) nicht die Voraussetzungen potentiellen Verwendungswissens erfüllt. Die empirischen Befunde über Vermittlung und Motivierbarkeit sind noch zu partikulär und methodologisch wie theoretisch anfechtbar 2 4 6 , um — ungeachtet der Frage nach spezifischen Problemen 2 4 7 oder gar der prinzipiellen Möglichkeit richterlicher Folgen voraussage und - k o n t r o l l e 2 4 8 — verläßliche Prognosen zu erlauben 2 4 9 .

bb) Die normativen Probleme Abschreckungsgeneralprävention bei der Strafzumessung zu betreiben, kann schon allein wegen der v ö l l i g ungesicherten empirischen Grundlage nicht legitimiert werden 2 5 0 . Indes stünde die abschreckungsgeneralpräventive Strafzumessung selbst bei vorhandener empirischer Legitimation vor einer unüberwindbaren normativen H ü r d e 2 5 1 : den Täter zu bestrafen, um andere abzuschrecken, heißt, ihn als M i t t e l zur Förderung des allgemeinen Wohls zu mißbrauchen; das verstößt gegen die durch die Verfassung geschützte Menschenwürde (Art. 1 I G G ) 2 5 2 .

245 Wie etwa Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, S. 248 ff.; Br eland, Lernen, S. 142 ff.; Ostendorf, Generalprävention, S. 284 Sp. 2; Maiwald, Verteidigung der Rechtsordnung, S. 71; Schünemann, Strafzumessung, S. 222; D. K. Pfeiffer / Scheerer, Kriminalsoziologie, S. 99 f.; E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 11. 246 Eisenberg, Kriminologie § 41 Rn. 9. Zu Breland, Lernen, s. Schumann I Berlitz I Guth / Kaulitzki, Jugendkriminalität und Generalprävention, S. 9; Schöch, Strafzumessungsfall Rn. 30; vgl. auch Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, S. 250 Fn. 23. 247 infolge der besonderen Randbedingungen (tat)richterlicher Informationsgewinnung: Entscheidungsdruck, Verbot bestimmter Mittel der Informationsgewinnung usf.; s. nur W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 48. 248 Zur Diskussion um die richterliche Folgenorientierung s. nur Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 31 ff.; Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen; W. Hassemer, Berücksichtigung von Folgen, S. 494 ff. m. w. N. 249 Stüber, Generalpräventive Strafzumessung, S. 104 f. (zu Breland, Lernen), 185 ff. Allg. vgl. Schöch, Strafzumessungsfall Rn. 21; Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 365; Stratenwerth, A T I Rn. 30; dens., A T I I (CH) § 7 Rn. 69. 250 So auch Eb. Schmidt, Vergeltung, Sühne und Spezialprävention, S. 193; Zipf, Strafmaßrevision, S. 107 ff.; W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 49, 50 f.; Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 365; Roxin, Strafzumessung, S. 471; Stüber, Generalpräventive Strafzumessung, S. 185 ff.; E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 30. S. auch Neumann / Schroth, Kriminalität und Strafe, S. 36 ff. Vgl. Jakobs, A T 1 / 29. 251 Die gesamte normative Problematik behandelt eingehend Naucke, Generalprävention, bes. S. 21 ff. 252 Warda, Richterliches Ermessen, S. 162 ff.; Badura, Generalprävention, S. 344, 343; Bruns, Generalprävention, S. 89 (anders dann ders., StrZR, S. 207 f., 307; RdStrZ, S. 98, 99; NStrZR?, S. 27); Schmidhäuser, Strafe, S. 95, 80 ff.; ders., A T (LB) 3 / 23; Calliess, Theorie der Strafe, S. 190 f.; Köhler, Strafzumessung, S. 40; Bemmann, Vollzug, S. 550 Sp. 2; W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 423. Wohl auch Baumann / U. Weber, AT, S. 18. 4 Hart-Hönig

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Dieses Verdikt betrifft die abschreckungsgeneralpräventive Strafzumessung nicht nur dann, wenn sie die Grenze der Schuldangemessenheit überschreitet 2 5 3 . A u c h wenn abschreckungsgeneralpräventive Gesichtspunkte nur innerhalb der schuldkongruenten Rahmenstrafe, bei der Frage der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen oder bei der Frage nach der Aussetzung der Vollstreckung einer schuldangemessenen Strafe berücksichtigt werden 2 5 4 , fällt die Strafzumessungsentscheidung anders aus als sie ausgefallen wäre, wenn diese Gesichtspunkte nicht in Betracht gezogen worden w ä r e n 2 5 5 ; wird die Strafe geschärft, so w i r d damit das durch die Rahmenuntergrenze bezeichnete Maß der aus Schuldgründen notwendigen Strafe überschritten 2 5 6 . Das Statuieren eines abschreckenden Exempels läßt sich auch nicht damit rechtfertigen, daß der Täter selbst durch seine Tat zum Entstehen eines Bedürfnisses nach Generalprävention beigetragen habe 2 5 7 . Denn Abschreckungsgeneralprävention w i r d j a nur bei einigen der wegen desselben Delikts verurteilten Tätern betrieben, und dies z. B. wegen der Zunahme dieses Delikts, also wegen eines aus der Sicht des hierfür nicht verantwortlichen Täters „ganz zufälligen F a k t u m [ s ] " 2 5 8 .

b) Die Integrations gener alprävention aa) Die empirischen Probleme Die positive Variante der Generalprävention, welche die Bewahrung und Stärkung der Rechtstreue der Bevölkerung und deren Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung durch Strafverhängung bzw. Strafvollzug bezweckt, 253 Wovon z. B. Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 38 ff., 45 f.; Sch/Sch/ Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 13; Bruns, StrZR, S. 207 f., 307; ders., RdStrZ, S. 98, 99; dersNStrZR?, S. 27; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, S. 248 und die Rspr. — vgl. BGHSt 7, 28 (32 f.); 34, 150 (151) sowie BVerfGE 28, 386 (391), w. Rspr.-N. bei Sch / Sch / Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 13 — ausgehen. S. auch Foth, Generalprävention. Ό /Tröndle, § 46 Rn. 12, hält sogar eine „gewisse Überschreitung" für statthaft. 254 Das wird hier in Betracht gezogen mit Blick auf das Verständnis der „Verteidigung der Rechtsordnung", welches das Abschreckungselement begrifflich — unter Berufung auf BGHSt 24, 40 (44 ff.) wird das sowohl bejaht: ζ. B. Sch / Sch / Stree, Vorbem §§38 ff. Rn. 20, als auch verneint: ζ. B. Stratenwerth, Strafzumessung, S. 27, je m. w. N. — oder jedenfalls kraft faktischen Zusammenhangs — vgl. Schumann, Positive Generalprävention, S. 4 ff., 11 — enthalten sieht. S. auch Luzon, Generalprävention, S. 396 f. 255 W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 41; Ψ arda, Richterliches Ermessen, S. 166. 256 Warda, Richterliches Ermessen, S. 166; Badura, Generalprävention, S. 343\ Bruns, Generalprävention, S. 89; Henkel, Die „richtige" Strafe, S. 42. 257 Sch / Sch / Stree, Vorbem 38 ff. Rn. 14. S. auch Ostendorf, Generalprävention, S. 284 Sp. 1. 258 Ηoers ter, Generalprävention, S. 275 Fn. 6. In demselben Sinn Eb. Schmidt, Strafzweck und Strafzumessung, S. 18 f.; ders., Vergeltung, Sühne und Spezialprävention, S. 193.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

51

hat i m wesentlichen die gleichen empirischen Legitimationsprobleme wie die Abschreckungsgeneralprävention 259 . Ein Unterschied besteht nur darin, daß diese Probleme bei der Integrationsgeneralprävention noch schärfer hervorstechen. Z u m einen, weil sie — anders als die Abschreckungsvariante hinsichtlich spezieller Täterkreise — sich w o h l nicht einmal schwache Hoffnungen auf Effekte bei einzelnen Adressatensegmenten machen kann, und die Fälle, in denen ein großes öffentliches Interesse auf eine konsistente Zumessungspraxis t r i f f t 2 6 0 , vernachlässigt werden können; sie mißlingt durchweg bereits wegen des Vermittlungsproblems. Z u m anderen, weil bei der Erweiterung der Perspektive von der Gruppe potentieller (kalkulierender) Täter auf die Bevölkerung insgesamt die Einbindung der Strafrechtspflege in die gesellschaftlichen Strukturen von Normbildung und Normstabilisierung deutlicher sichtbar w i r d 2 6 1 ; und je gegenstandsadäquater sich das Integrationskonzept ausdifferenziert, um so klarer wird, daß ein solches Konzept —jedenfalls als richterlich operationalisierbare Zielbestimmung unmittelbar-präventiver Strafzumessung — keinerlei Chance auf eine methodologisch akzeptable empirische Valutierung besitzt 2 6 2 . bb) Die normativen Probleme Angesichts dieser vollständigen empirischen Delegitimation sei nur knapp darauf hingewiesen, daß die integrationsgeneralpräventive Strafzumessung strukturell der abschreckungsgeneralpräventiven Strafzumessung entspricht und deshalb auch denselben normativen Bedenken unterliegt. Der Unterschied besteht nur darin, daß der Täter statt zur Abschreckung tatgeneigter Dritter bestraft wird, um die Bevölkerung zur Rechtstreue zu m o t i v i e r e n 2 6 3 , 2 6 4

259 Vgl. W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 41, 52. 260 w. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 45, nennt als mögliches Bsp. die Strafurteile gegen Terroristen. 261 W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 52 f.; Dölling, Generalprävention, S. 8 f.; Müller-Dietz, Probleme, S. 66. S. auch Driendl, Strafgesetzgebungswissenschaft, S. 39 ff.; Maiwald, Zweck, S. 303; Neumann / Schroth, Kriminalität und Strafe, S. 34; Eisenberg, Kriminologie § 41 Rn. 2. 262 Müller-Dietz, Probleme, S. 66 f.; ders., Präventive Wirkungen, S. 108 ff.; K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 38 f.; W. Hassemer, Generalpräventive Strafzumessung, S. 52; Schumann, Positive Generalprävention, S. 15 ff., 24 f., 35 ff., 50 ff.; Giehring, Generalprävention, S. 7. 263 S. nur Köhler, Strafzumessung, S. 41 (wenn „der Delinquent und seine Bestrafung unmittelbar-primär als Instrumente eines Motivierungsmechanismus gedacht werden"). Vgl. Μ /Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 8; M / G / Z i p f A T / 2 §63 Rn. 96, 102 (legitim, wenn Integrationsprävention „sekundär" hinter Sanktion nach Täterpersönlichkeit). 264 Mittelbar wird zur normativen Legitimität einer generalpräventiv fundierten Strafzumessung eingehend Stellung genommen unten S. 98 ff. *

52

1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell 2. Die Spezialprävention

Die Generalprävention ist als unmittelbar zu verfolgendes Z i e l der Strafzumessung nicht zu rechtfertigen. Bleibt zu untersuchen, ob sich zumindest die unmittelbare Verfolgung spezialpräventiver Ziele legitimieren läßt. a) Die empirischen

Probleme

(der individuellen

Kriminalprognose)

Empirisch legitimiert ist eine spezialpräventiv orientierte Strafzumessungsentscheidung, d. h. eine Entscheidung unter den Gesichtspunkten von individueller Abschreckung, Resozialisierung 2 6 5 oder Sicherung 2 6 6 , dann, wenn sie auf einer verläßlichen Prognose des Legalverhaltens 2 6 7 des Täters bzw. der zur Rückfallverhütung erforderlichen Einwirkung(sdauer) beruht. Eine solche Individualprognose ist nur möglich, wenn auf hinreichend empirisch überprüfte und bewährte Kriminalitäts- / Kriminalisierungstheorien und Theorien zur W i r k u n g von Sanktionen zugegriffen werden kann und wenn ein Verfahren zur Verfügung steht, mit dem sich diese Theorien i m Rahmen der faktischen und normativen forensischen Handlungsbedingungen methodisch korrekt auf den Einzelfall anwenden lassen. Diese Bedingungen der Möglichkeit sind derzeit allesamt nicht (hinlänglich) erfüllt.

265 Dieses gebräuchliche Wort wird im folgenden ohne differenzierende Variationen verwendet eingedenk des allgemeinen Wissens, daß es oft um (Ersatz-)Sozialisation statt um Re-Sozialisation geht: s. dazu und zur terminologischen Vielfalt nur Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, S. 157 ff.; Κ / Κ / Schöch, Strafvollzug, S. 78; vgl. Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 11. 266 Zu terminologischen und sachlichen Nuancen dieser im Grunde auf v. Liszt, Zweckgedanke, S. 163 ff., zurückgehenden Untergliederung des spezialpräventiven Strafziels s. Neumann / Schroth, Kriminalität und Strafe, S. 19 ff.; Jescheck, A T § 8 II 3 b; Schmidhäuser, Strafe, S. 26 ff., 59 ff.; Roxin / A / T, Einführung, A I 4 b; Bruns, RdStrZ, S. 94 ff.; Gössel, Sanktionen, S. 18. 267 Das Strafrecht darf nur ein „Leben ohne Straftaten" (§ 2 S. 1 StVollzG; vgl. §§ 56 I 1, 57 I Nr. 2, 59 I Nr. 1 StGB) verlangen; an der Auschließlichkeit dieses Ziels muß festgehalten werden, um Bestrebungen, den Verurteilten an die herrschenden Sozialnormen anzupassen (s. dazu nur Stratenwerth, Sozialtherapie, S. 902 ff.; vgl. H.-M. Weber, Gefährlichkeitsprognose, S. 94 f.) abzuwehren. Dadurch wird die Berücksichtigung der „Sozialbewährung" jedoch nicht insgesamt unstatthaft. Denn die Legalbewährung setzt ein gewisses Maß an Sozialbewährung voraus (K/K/Schöch, Strafvollzug, S. 78; Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 28; Bemmann, Ziel des Vollzugs, S. 896; Eser, Resozialisierung, S. 280 ff.; vgl. Jakobs, A T 1 / 41). Daher ist es zulässig (und zur Messung von Resozialisierungserfolgen, die noch nicht zur Legalitätshaltung geführt haben, auch sinnvoll und notwendig: vgl. Kaiser, Erfolg, S. 92, 94; Kury, Behandlungsforschung, S. 54; K.-L. Kunz, Strafbemesung, S. 39; dies verkennt Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 74), in diesem Umfang auf die (relative) Sozialbewährung abzustellen. Daher wird das Vollzugsziel durch den Zusatz der „soziale(n) Verantwortung" auch nicht unzulässig modifiziert (vgl. AE-StVollzG, S. 55, Begr. zu § 2); dieser Zusatz gibt vielmehr nur den zur Erreichung des Vollzugsziels erforderlichen Verfahrensmodus an {Eser, Resozialisierung, S. 284 ff.; Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 28 m. w. N.); vgl. Feest AK-StVollzG § 2 Rn. 11. S. noch unten S. 60 Fn. 327 und S. 65 Fn. 362.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

53

aa) Die statistische Prognose Die statistische Prognosemethode ist zunächst schon deshalb von nur begrenztem Wert, weil sie keine Voraussagen zur individuellen Rückfallwahrscheinlichk e i t 2 6 8 erlaubt, sondern nur die Zuordnung eines Täters zu einer bestimmten Risikogruppe 2 6 9 . Die statistischen Prognosetafeln können und dürfen daher auch nur als Basis oder Auslöser 2 7 0 individualprognostischer Bemühungen dienen 2 7 1 . Aber auch diese Aufgabe vermögen sie nicht zu erfüllen; jedenfalls die existierenden Prognosetafeln 2 7 2 leiden aus vielfältigen Gründen an ungenügender Validität: mit ihrer Hilfe kann Kriminalität nicht hinreichend zutreffend vorausgesagt werden; ganz zu schweigen von der Voraussage der je individuell erforderlichen Einwirkungsdauer 2 7 3 . Die i m statistischen Verfahren berücksichtigten prognostischen Faktoren werden durchweg gewonnen, indem durch den Vergleich der Lebensläufe von (nach einer bestimmten Sanktion) Rückfälligen und Nichtrückfälligen Merkmale ermittelt werden, die besonders hoch mit Rückfall korrelieren 2 7 4 . Für diese wenigen meist äußerlichen Merkmale (wie Deliktsart, Alter bei der (ersten) Verurteilung, Schul- und Berufskarriere, Familienverhältnisse, Alkoholbelastung) werden sogenannte Schlechtpunkte vergeben; Gutpunkte für prognostisch günstige Merkmale

268

Die Unterscheidung von Rückfall- und Wirkungsprognose ist weitestgehend unerheblich: Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 39 Fn. 164. 269 Geerds, Kriminelle Prognose, S. 106; Leferenz, Kriminalprognose, S. 1365; Schöch, Prognosefall Rn. 12; Böllinger, Prognoseproblem, S. 300; Kögler, Unbestimmtheit, S. 101. 270 Göppinger, Kriminologie, S. 359 (intuitive Prognose durch Prognosetafeln überprüfen; bei Differenz weiteres Material heranziehen bzw. klinische Prognose erstellen); Tenckhojf, Kriminalprognose, S. 100 Sp. 2 („Warnlampe"); Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 113 („Hinweisfunktion", im Original hervorgehoben); Schöch, Prognosefall Rn. 35 („die intuitive Prognose . . . bereichern, absichern oder zu neuen Überlegungen Anlaß geben"); Schneider, Kriminalprognose, S. 274 Sp. 2 (ein Hilfsmittel; nur für kriminologisch geschultes Personal); LK-Hanack, Vor § 61 Rn. 118 (eine Quelle, die wichtige Erfahrungen fixiert; hinzukommen muß individuelle Prüfung; bei Diskrepanzen „Warnfunktion"); Ostendorf AK-JGG § 5 Rn. 15 („auf diesen kriminologischen Erfahrungssätzen eine Individualprognose aufbauen"). Zu diesen Konzeptionen s. auch Kögler, Unbestimmtheit, S. 107 ff. 27 1 Vgl. Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 148: „Möglichkeiten, die nichts weiter sind als die Kehrseite von Unwissen, reichen nicht: Der Täter darf nicht zum Gegenstand irgendwelcher unerprobter Strategien oder spekulativer Konzepte gemacht werden"; Bae, Verhältnismäßigkeit, S. 127. 272 Z. B. F. Meyer, Prognoseverfahren, S. 262 f.; ders., Prognoseforschung, S. 243 f. S. Übersichten bei Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 8 ff.; Schneider, Kriminalprognose, S. 277 ff.; Eisenberg, Kriminologie § 21 Rn. 6 ff.; Leferenz, Kriminalprognose, S. 1354 ff. 273 Vgl. Schöch, Strafe, S. 262, 263; Schöneborn, Regulative Funktion, S. 274 Fn. 17, S. 275 Fn. 20. 27 4 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 8; Schöch, Prognosefall Rn. 11; Spieß, Kriminalprognose, S. 256.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

werden indes ganz selten berücksichtigt 2 7 5 . Nach der Quote der unter einer bestimmten Merkmalskonstellation rückfällig gewordenen Personen w i r d das Maß des Delinquenzrisikos einer diese Merkmale aufweisenden Person bestimmt. Daß solcherart konstruierte Prognosetafeln ein die meisten Täter umfassendes breites Mittelfeld von Fraglich-Prognosen hervorbringen 2 7 6 , die starke Tendenz zu ungerechtfertigt ungünstigen Voraussagen haben 2 7 7 , aber auch hinsichtlich der relativ kleinen Extremgruppen mit besonders günstigen und besonders ungünstigen Prognosen keine genügende Treffsicherheit erreichen 2 7 8 , ist nicht verwunderlich. Der Konstruktion der Prognosetafeln liegen nämlich nur Stichproben zugrunde, die eine spezifisch ausgelesene Straftätersubpopulation repräsentieren; an prospektiven Validierungen durch Überprüfung an unausgelesenen repräsentativen (z. B. zufallsausgewählten) Gruppen mit zum Prognosezeitpunkt noch unbekannter Legalbewährung fehlt e s 2 7 9 . Hieraus erklärt sich zwanglos, weshalb sich bei der — wegen mangelhafter V a l i d i e r u n g 2 8 0 methodologisch unzulässigen — verallgemeinernden A n w e n d u n g 2 8 1 der Prognosetafeln auf alle Straftäter eine kleine Gruppe mit extremer Merkmalshäufung, deren extrem merkmalfreies Gegenstück sowie aufgrund der Wahl von i m einzelnen kriminoindifferenten M e r k m a l e n 2 8 2 ein breites Mittelfeld mit ambivalenter Merkmalshäufung herausbilden 2 8 3 . Daß

275 Spieß, Kriminalprognose, S. 256; Schöch, Prognosefall Rn. 11; Eisenherg, Kriminologie § 21 Rn. 4; vgl. Geerds, Kriminelle Prognose, S. 100 ff. 2 76 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 12; Schöch, Prognosefall Rn. 25. Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 42 f., betont zu Recht, daß das breite Mittelfeld kein spezifisches Manko der statistischen Methode ist, sondern auch von der klinischen Methode hervorgebracht wird. Trotz der Berechtigung dieser Feststellung für die Gegenwart darf nicht das unterschiedliche strukturelle Voraussagepotential übersehen werden. Sollte sich die klinische Methode entscheidend verbessern lassen, dann wird das zwar nicht unbedingt zu einer Verkleinerung des Mittelfelds führen, aber doch — und nur darauf kommt es ja an — zur — nur einer einzelfallbezogenen Methode möglichen — Feststellung, wie sich kriminonegative und -positive Faktoren verteilen und wie sie zu gewichten sind und daß gerade diese Faktoren-Mischung eine bestimmte Sanktionsentscheidung nahelegt. Die so aufgeklärten Mittelfeldfälle wären nicht fraglich, d. h. von diffuser Ambivalenz und klar abgrenzbar nur von den Extremgruppen, sondern klar einzuordnen. Vgl. Kerner, Prognostizieren, S. 325 f. 27V Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 12, vgl. auch § 112 Rn. 6; Eisenberg, Kriminologie § 21 Rn. 5. 2 78 Rasch, Prognose; Kaiser, Kriminologie (LB) § 110 Rn. 4, § 111 Rn. 12; H.-M. Weber, Gefährlichkeitsprognose S. 103 ff., 117 f. 2 79 Schöch, Prognosefall Rn. 25; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 2; Spieß, Kriminalprognose, S. 256. 280 Zu Problemen der retrospektiven und der Kreuzvalidierung s. nur Spieß, Kriminalprognose, S. 256; Schöch, Prognosefall Rn. 25. 281 Schöch, Prognosefall Rn. 26; Spieß, Kriminalprognose, S. 256; Eisenberg, Kriminologie § 21 Rn. 13. 282 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 43; Spieß, Kriminalprognose, S. 258 (Überschätzung der Trennschärfe von Prädikatoren als Folge von Extremgruppen vergleichen).

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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die statistische Methode hinsichtlich der negativen Extremgruppe zu einer erheblichen Überschätzung des Rückfallrisikos neigt, resultiert — neben der Vernachlässigung von Gutpunkt-Faktoren 2 8 4 — ebenfalls aus der Beschränkung auf Extremgruppenvergleiche 2 8 5 ; daß die extremgruppenbezogenen Prognosen darüberhinaus insgesamt an mangelnder Treffsicherheit leiden und das diffuse Mittelfeld so umfangreich ist, beruht jedoch vor allem auf theoretischen Defiziten. Z u m einen auf Defiziten, die daher rühren, daß die statistische Methode nicht nur was ihre Konzentration auf die sogenannten Intensivtäter 2 8 6 angeht, sondern auch i m übrigen getreulich an den rein täterorientierten Mehrfaktorenansatz anknüpft 2 8 7 . Zentriert auf den offiziell registrierten Täter wird die Perspektive auf wenige gut sichtbare bzw. leicht feststellbare Merkmale verengt 2 8 8 ; die Auswahl der Faktoren verdankt sich nicht einer auf Kohärenz und Vollständigkeit bezüglich eines allgemeinen Erklärungszusammenhangs drängenden theoretischen Anleitung, sondern forschungspragmatischen Gründen 2 8 9 ; soziale und kriminaljustizielle Kontroll- und Zuschreibungsprozesse bzw. das Dunkelfeld werden v ö l l i g ausgeblendet 2 9 0 . Die Prognosetafeln tragen daher der „Komplexität und Dynamik des Rechtsbruchs . . . nicht genügend R e c h n u n g " 2 9 1 , und jedenfalls einige der Prognosefaktoren sind weniger Indikatoren der Rückfallgefährung als Indikatoren sozialer oder justizieller Selektion 2 9 2 . Z u m anderen hat die ungenügende Treffsicherheit ihren Grund in Defiziten, die sich daraus ergeben, daß die statistische Metho-

283 Wobei freilich der Umfang der drei Gruppen und die Zuordnung der Täter aus einer bestimmten Population in Abhängigkeit von der die jeweils verwendete Prognosetafel fundierenden Konstruktionsstichprobe variieren. Vgl. Frisch, Unsichere Prognose und Erprobungsstrategie, S. 360 Sp. 1; dens., Prognoseentscheidungen, S. 40 ff. 284 Schöch, Prognosefall Rn. 11. 285 Spieß, Kriminalprognose, S. 258: „Da in einem solchen Vergleichsgruppendesign der Anteil der Risikofälle im Vergleich zur Risikorate in der unausgelesenen Population (base rate) künstlich überhöht ist, kann dieses Verfahren bei späterer Anwendung auf unausgelesene Populationen zu einer (auch in der Praxis zu beobachtenden) erheblichen Überschätzung des Kriminalitätsrisikos führen, und zwar desto stärker, je geringer die „base rate", d. h. je sehender das vorherzusagende Ereignis ist". 286 Zu den Problemen dieser Typologisierung s. nur Kaiser, Intensivtäter. 287 Vgl .Jung, Prognoseentscheidung, S. 255; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 12; Schöch, Prognosefall Rn. 10; Fenn, Kriminalprognose, S. 712, 764 f. 288 Böllinger, Prognoseprobleme, S. 300; Eisenberg, Kriminologie § 21 Rn. 5; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 8. Vgl. Kerner, Prognostizieren, S. 325. 289 Vgl. Kaiser, Kriminologie (LB) § 34 Rn. 5, 10, 17; Böllinger, Prognoseprobleme, S. 291, 299. 290 Schöch, Prognosefall Rn. 28. Vgl. Kerner, Rückfall, bes. S. 362 f., 365; H.-M. Weber, Gefährlichkeitsprognose, S. 91 f., 117 m. N. 291 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 12; vgl. Kerner, Möglichkeiten, S. 813 („Alle bisherigen Kriminalitätstheorien sind überdeterministisch konzipiert"). 292 Kaiser, Strafrechtliche Sozialkontrolle, S. 67; Spieß, Kriminalprognose, S. 258; Fenn, Kriminalprognose, S. 712 f. Gegen eine Überbetonung des Aspekts (insbesondere schichtspezifischer) Zuschreibung bzw. Selektivität mit Recht Schreiber, Verfahrensrecht und Veifahrenswirklichkeit, S. 130 ff.; Schöch, Prognosefall Rn. 28.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

de fast ausschließlich vergangenheitsorientierte Prognosefaktoren berücksichtigt. Nicht beachtet 2 9 3 werden die voraussichtliche SanktionsWirkung und die Nachentlassungssituation bzw. die Randbedingungen der Bewährungszeit 2 9 4 . W i e vergleichsweise gesicherte Befunde der Sanktions- und Behandlungsforschung (z. B. zur desozialisierenden W i r k u n g des geschlossenen Normal Vollzugs 2 9 5 , zur Gefahr einer „self-fulfilling prophecy" durch Übernahme der negativen prognostischen Erwartungen ins Selbstkonzept des Täters und das Auslösen sozialer Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse 296 , zu Problemen der sozialen Integration von Haftentlassenen und Bewährungsprobanden 2 9 7 ) zeigen, werden damit Umstände, welche die Legalbewährung i m Risikozeitraum ganz erheblich beeinflussen, vernachlässigt. N i m m t man schließlich hinzu, daß die Anwendung der Prognosetafeln durch verschiedene Personen wegen der Vagheit von Merkmalen wie „offenkundige Trunksucht" obendrein noch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen d ü r f t e 2 9 8 , dann ist es vollends klar, daß die statistische Methode auch nicht als Auslöser oder Basis, geschweige denn zur Überprüfung 2 9 9 von anderweitig erstellten Individualprognosen tauglich ist. bb) Die klinische Prognose Das Verdikt mangelhafter Validität trifft nun aber nicht nur das individualprognostisch prinzipiell entbehrliche statistische Prognoseverfahren, sondern in demselben Maße auch das einzige wissenschaftliche Individualprognoseverfahren, nämlich die klinische Methode. Dies liegt daran, daß dieses weitgehend (differential-)psychodiagnostisch geprägte Verfahren zwar einzelfallsensibler und merkmalsdifferenzierter ist als das statistische, i m übrigen aber dieselben oder ver-

293 Selbst bei Entlassungsprognosen: Schöch, Prognosefall Rn. 31 m. N. 294 Schöch, Prognosefall Rn. 31; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 12; MüllerDietz, Probleme, S. 60; Spieß, Kriminalprognose, S. 259; ders. y Bewährungserfolg, S. 567. 295 S. nur m. w. Ν. Κ / Kerner / Schöch, Strafvollzug, S. 29 f., 343 ff.; P.-A. Albrecht, Spezialprävention, S. 839 f., 857 f.; Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 17 f., § 2 Rn. 9, 12, § 3 Rn. 14, Vor § 71 Rn. 5 ff.; K.-L. Kunz, Lernen, S. 77, 80 f., 92 f; H.-J. Albrecht I Dünkel / Spieß, Sanktionsforschung, S. 323; Weis, Subkultur der Strafanstalt; Ortmann, Prisonisierung. 296 Göppinger, Kriminologie, S. 335 f.; Schöch, Prognosefall Rn. 20; Schneider, Kriminalprognose, S. 276 Sp. 2, 327 Sp. 1; Spieß, Kriminalprognose, S. 259; Becker- Toussaint / de Boor / Goldschmidt / Lüderssen / Muck, Psychoanalytische Begutachtung, S. 13 ff. u. passim; ν. Trotha, Strafvollzug, S. 31 ff. (Rückfall als sekundäre Devianz). 297 Spieß, Bewährungserfolg; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 10; vgl. Lüderssen, Rehabilitationshilfen, bes. S. 934 ff. 298 Zur fehlenden Reliabilität s. nur Schöch, Prognosefall Rn. 24. 299 Wie es von Göppinger, Kriminologie, S. 359, vorgesehen ist; wohl auch von Schöch, Prognosefall Rn. 40; vgl. Haag, Strafzumessung, S. 173.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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gleichbare konzeptionelle Schwächen hat. Auch die verschiedenen Verfahren dieser M e t h o d e 3 0 0 werden empirisch durchweg an offiziell registrierten kriminellen Extremgruppen gesichert und an nur kleinen Zahlen von nicht zufällig ausgewählten Personen erprobt 3 0 1 ; sie sind häufig am Mehrfaktorenansatz orientiert 3 0 2 , ansonsten an theoretisch unzulänglichen und empirisch nicht bewährten Konzept e n 3 0 3 ; berücksichtigt werden nahezu ausschließlich vergangenheitsorientierte Prognosefaktoren 304 . Dementsprechend ist auch die klinische Methode durch ein breites Mittelfeld von Fraglich-Prognosen, Überschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit und insgesamt ungenügende Treffsicherheit gekennzeichnet 3 0 5 ; sie zeigt ähnlich hohe Raten unzutreffender Prognosen wie das statistische Verfahren306. cc) Die Strukturprognose Das Strukturprognoseverfahren ist der Versuch, die klinische Methode — welche wegen der Abhängigkeit von kriminologischem Wissen und Erfahrungen mit Delinquenten nur von einem kleinen Kreis von Sachverständigen kompetent angewendet werden k a n n 3 0 7 — in ein richterlich handhabbares statistisches Verfahren zu transponieren bzw. das statistische Verfahren durch Einbeziehung der Erkenntnisse der Persönlichkeitsforschung und der Interkorrelationsstruktur der Prognoseverfahren zu einem tauglichen Instrument der Individualprognose zu machen 3 0 8 . Fehlgeschlagen ist dieser Versuch schon allein deshalb, weil ein noch 300 Wegener, Forensische Psychologie, S. 23 ff.; Schöch, Prognosefall Rn. 9; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 7; Göppinger, Kriminologie, S. 338, 118 ff. 301 Eisenberg, Kriminologie § 21 Rn. 3; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 7. 302 Spieß, Kriminalprognose, S. 255; Schneider, Kriminalprognose, S. 275 Sp. 2. 303 Vgl. Spieß, Kriminalprognose, S. 256; Sonnen, Kriminalität und Strafgewalt, S. 194; Kögler, Unbestimmtheit, S. 216; Lösel, Täterpersönlichkeit, bes. S. 473, 475, 477; dens., Psychologische Kriminalitätstheorien; Wegener, Forensische Psychologie, S. 18 ff. 304 Spieß, Kriminalprognose, S. 259; vgl. Lösel, Täterpersönlichkeit, S. 475. 305 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 7; Kögler, Unbestimmtheit, S. 103. 306 Spieß, Kriminalprognose, S. 259; Kögler, Unbestimmtheit, S. 218; Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 42 f., je m. w. N.; dies gilt nicht nur für die Urteilsprognose, sondern auch für die Entlassungsprognose, die sich auf eine längere Beobachtungszeit stützen kann: Kögler, Unbestimmtheit, S. 210 ff., bzgl. der zeitlich unbestimmten freiheitsentziehenden Sanktionen in den USA. Vgl. die unzutreffenden Einschätzungen bei Schöch, Prognosefall Rn. 19 („Für die klinische Methode ist [die] Überlegenheit evident"); Schneider, Kriminalprognose, S. 303 Sp. 1 („statistische Kriminalprognose im Ergebnis der klinischen überlegen"). Vgl. auch Göppinger, Kriminologie, S. 339; Tenckhojf, Kriminalprognose, S. 95 Sp. 2. 307 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 7; Schöch, Prognosefall Rn. 9. Vgl. Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 113 Fn. 463 a: keinen Zwang zur Heranziehung von Sachverständigen „bei hinreichender Vorbildung und Erfahrung des Gerichts"; s. dazu unten S. 72 f. 308 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 14; Schöch, Prognosefall Rn. 15; Spieß, Kriminalprognose, S. 257.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

so differenziertes statistisches Strukturprognoseverfahren nicht wesentlich besser sein kann als das zugrundeliegende klinische Prognoseverfahren 309 . Angesichts dessen Defizite überrascht es daher nicht, daß die Strukturprognosetafeln den herkömmlichen Prognosetafeln nicht überlegen s i n d 3 1 0 . dd) Die intuitive Prognose Die sogenannte intuitive Methode, welche auf der Menschenkenntnis und der mit Straftätern gemachten Erfahrungen des Urteilenden beruht, ist, was ihre Treffsicherheit anbelangt, auch nicht schlechter als die zuvor erörterten wissenschaftlichen Prognoseverfahren 311 . Sie kommt aber trotzdem noch weniger in Betracht, da bei diesem Verfahren die Prognoseentscheidungen durch keinerlei methodische Vorkehrungen vor dem Einfluß individueller Werthaltungen geschützt s i n d 3 1 2 , j a genaugenommen von einer methodisch korrekten Anwendbarkeit dieses Verfahrens nicht einmal sinnvoll gesprochen werden k a n n 3 1 3 . Diese methodologischen Bedenken mögen hinsichtlich der Urteilenden, die sich i m Laufe längerer Berufserfahrung intuitiv die Prognosekriterien der klinischen und statistischen Methode angeeignet haben 3 1 4 , an Gewicht verlieren. Aufgrund der Defizite dieser Methoden führt aber auch das nicht zu einer insgesamt 3 1 5 besseren Treffsicherheit, und es sind diese Defizite, welche schließlich die Hoffnungen, dem intuitiven Prognoseverfahren durch Kombination mit den wissenschaftlichen Methoden eine legitime Rolle zu erhalten 3 1 6 , zunichte machen. Hinreichend zuverlässige und treffsichere Methoden zur Prognose individuellen kriminellen Verhaltens gibt es also derzeit nicht, und eingedenk des Stands kriminologischer Forschung wird man sich jedenfalls auf absehbare Zeit mit der Unmöglichkeit verläßlicher Individualprognosen abzufinden haben 3 1 7 . Denn es

3

09 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 14. 310 Vgl. Göppinger, Kriminologie, S. 352 m. N. (teils gleich, teils den herkömmlichen Prognosetafeln unterlegen); Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 14 („auch die Strukturprognosetafeln . . . unstabil"); Schöch, Prognosefall Rn. 15 („kaum überlegen"). 311 Treffend gegen Böllinger, Prognoseprobleme, S. 302 („mit Sicherheit bessere(n) Ergebnisse" der wissenschaftlichen Prognoseverfahren), Kerner, Prognostizieren, S. 326 f. („so sicher sicherer als intuitive Prognosen bisher wohl doch nicht"). Vgl. Kögler, Unbestimmtheit, S. 105 m. N.; Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 5 („sehr begrenzte Überlegenheit wissenschaftlicher Prognose verfahren", vgl. § 112 Rn. 2); ebenso Eisenherg, Kriminologie § 21 Rn. 13. A. A. z. B. Schöch, Prognosefall Rn. 19 m. N. 312 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 5 m. N.; Kögler, Unbestimmtheit, S. 100. 313 Schöch, Prognosefall Rn. 8. 314 Fenn, Kriminalprognose, S. 765, 743 ff.; Schöch, Prognosefall Rn. 8. 315 Zur beachtlichen Treffsicherheit im Einzelfall Schöch, Prognosefall Rn. 8 m. N. 316 N. oben S. 53 Fn. 270. 317 Spieß, Kriminalprognose, S. 254 (vgl. S. 260); Kögler, Unbestimmtheit, S. 106, 132; vgl. Böllinger, Prognoseprobleme, S. 291; Kaiser, Kriminologie (LB) § 112 Rn. 2; dens., Strafe, S. 927, 932; Müller-Dietz, Probleme, S. 60 ff., 67; W. Hassemer, Berück-

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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gibt zwar zahlreiche Anstrengungen zu einer integrativen Theoriebildung jenseits fruchtloser Theorienstreite und der trostlosen Alternative von Mehrfaktorenansatz und universeller T h e o r i e 3 1 8 , aber die so erreichten Erklärungsprogramme sind noch nicht empirisch bewährt und weit davon entfernt, in ein individualprognostisches Verfahren verlängert werden zu k ö n n e n 3 1 9 . b) Die normativen

Probleme

Indes: auch wenn ein hinreichend valides Individualprognoseverfahren zur Verfügung stünde, bliebe die Frage, ob die damit empirisch legitimierte unmittelbare Verfolgung spezialpräventiver Ziele auch normativ gerechtfertigt ist: ob bzw. inwieweit die Prognose die Strafzumessungsentscheidung bestimmen darf. aa) Zur Illegitimität spezialpräventiver Strafmaßerhöhung (1) Das Verbot heteronomer Besserung Nicht gefolgt werden darf der Prognose, soweit sie wegen des Zeitbedarfs einer resozialisierenden Behandlung zu einer Strafmaßerhöhung auffordert: das resultiert aus dem Verbot, dem Strafgefangenen eine Besserungstherapie aufzuz w i n g e n 3 2 0 ; darf der Gefangene zu einer Behandlung nämlich nicht gezwungen werden, dann darf er freilich auch nicht zur wirkungsvolleren Durchführung einer von ihm j a dann ohne weiteres abzulehnenden oder jederzeit abzubrechenden Behandlung durch Erhöhung des Strafmaßes länger als es nach anderen Kriterien gerechtfertigt ist i m Strafvollzug festgehalten werden. sichtigung von Folgen, S. 520; Schünemann, Strafzumessung, S. 218; Walter, Ambulante Behandlung, S. 699; K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 38 (vgl. S. 40); vgl. Bock, Kriminologie und Spezialprävention, S. 507. 318 S. ζ. Β Lüderssen, Kriminologie, bes. Rn. 7 ff., 345 ff., 738 ff. und den Überblick bei Kaiser, Kriminologie (LB) §34, bes. Rn. 3 ff., 12 ff., 15 ff. Vgl. W. Hassemer, Einführung, S. 78 f., 27 ff. S. auch Geisler, Prognoseentscheidungen, bes. S. 262 ff. 319 Vgl. Wegener, Forensische Psychologie, S. 18 ff. — Dies liegt freilich nicht daran, daß diese Erklärungen nicht deterministisch, sondern nur probabilistisch sind, und folglich auch nur probabilistische Prognosen erlauben; zu diesem Mißverständnis Kerner, Prognostizieren, S. 321 ff.; vgl. Eisenberg, Kriminologie § 21 Rn. 14. 320 Ein solches Besserungsverbot bejahen etwa Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, S. 44; Hellmuth Mayer, Strafrechtsreform, S. 25 ff., bes. S. 37, 39 f., 47; Haffke, Besserungsverbot, bes. S. 250 ff; Hoerster, Strafe, S. 462 Sp. 2 f.; Stratenwerth, Sozialtherapie, bes. S. 907, 912 f., 915 ff.; W. Hassemer, Einführung, S. 295; Lüderssen, Freiheitsbegriff, S. 83; ders., Öffentlicher Strafanspruch, S. 17; Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 73 f.; K.-L. Kunz, Lernen, bes. S. 77, 86, 87 ff., 99, 100, 101; Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 28, § 4 Rn. 3, 5 f.; Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 14 f., § 2 Rn. 10 f., § 4 Rn. 5; Schneider, Kriminaltherapie, S. 500 Sp. 2 f., 496 Sp. 2; Schumann, Kriminalpolitik, S. 373; Jakobs, A T 1/47; Bruns, RdStrZ, S. 94 f. Die — insb. wegen der faktischen Verschränkung von Legal- und Sozialbewährung, s. oben S. 52 Fn. 267 — virulente Frage des zulässigen Therapieinhalts kann hier vernachlässigt werden: keine Besserungstherapie, welchen Inhalts auch immer, darf aufgezwungen werden.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Das Verbot fremdbestimmter Behandlung ergibt sich bereits unter dem Aspekt formeller Rechtsstaatlichkeit e contrario daraus, daß die Beschränkung von Menschen· bzw. Grundrechten nur durch die Verfassung selbst oder bei in der Verfassung ausdrücklich genannten Gesetzesvorbehalten durch das StVollzG vorgenommen werden d a r f 3 2 1 und daß Grundgesetz und StVollzG keine Beschränkungen vorsehen, wie sie mit heteronomen Resozialisierungsmaßnahmen verbunden wären. M i t der Fassung der Vollzugszielbestimmung (§ 2 S. 1 StVollzG) als Sollvorschrift w i r d nämlich nur klargestellt, daß die infrastrukturellen (personellen, sächlichen und organisatorischen) Bedingungen der Institution Strafvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten sind, jedoch gerade nicht zum Ausdruck gebracht, daß auch der Strafgefangene diesem Z i e l zu unterwerfen i s t 3 2 2 . § 4 1 StVollzG bestätigt das, indem er zwar den Vollzugsstab anweist, die Bereitschaft zur M i t w i r k u n g an der Behandlung zu wecken und zu fördern 3 2 3 , nicht aber den Gefangenen zur M i t w i r k u n g oder auch nur Duldung verpflichtet 3 2 4 . Das StVollzG schützt damit nicht nur den status negativus des Gefangenen 3 2 5 , sondern berücksichtigt zudem, daß es zur Erreichung des Vollzugsziels zwar auf die M i t w i r k u n g des Gefangenen notwendig ankommt, bei einer erzwungenen M i t w i r k u n g indes nur eine aufgesetzte, oberflächliche Anpassung erwartet werden kann, die — auch angesichts der Herausforderungen außerhalb des Schonklimas des Strafvollz u g s 3 2 6 — kaum über die Haftzeit hinaus Bestand haben wird, die angestrebte dauerhafte Resozialisierung daher nur zu erhoffen ist, wenn der Gefangene freiw i l l i g 3 2 7 m i t w i r k t 3 2 8 . Aus diesem Grunde sind auch indirekte Zwänge — wie die 321 Eingehend m. N. Calliess / Müller-Dietz, § 4 Rn. 12 ff., Einl. Rn. 22, 27 ff.; Feest AK-StVollzG § 4 Rn. 17 ff. 322 Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 20 f. 323 Sch / Β / Böhm, § 4 Rn. 7; Calliess / Müller-Dietz, § 4 Rn. 5. Auch wenn man ein immer wieder neu ansetzendes Bemühen um die Mitwirkung für zulässig hält — s. dazu die Nuancen bei Müller- Dietz, Grundfragen, S. 155; Sch/B/Böhm, § 4 Rn. 4 f. —, rechtfertigt das keine Strafmaßerhöhung: hierin läge eine vorweggenommene Sanktionierung einer prognostizierten Mitwirkungsunwilligkeit, zugleich die Ausübung eines indirekten Zwangs — keine Strafmaßerhöhung bei erwarteter Mitwirkungsbereitschaft; ein solches Vorgehen wäre auch therapeutisch verfehlt, da es vor allem zum Vorgaukeln von Mitwirkungsbereitschaft und zu oberflächlicher Anpassung führen würde. 324 Feest AK-StVollzG § 4 Rn. 5; Calliess / Müller-Dietz, § 4 Rn. 3; Sch / Β I Böhm, § 4 Rn. 4, je m. w. N. 325 Vgl. Würtenherger, Kriminalpolitik, S. 221, 223, zum Verhältnis von „Abwehrstatus" und „sozialem Integrationsstatus". 326 w. Hassemer, Einführung, S. 295; vgl. Calliess I Müller-Dietz, § 4 Rn. 5; Sch/ Β ! Böhm, § 2 Rn. 12. 327 Zu dem Problem, die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Zwang in concreto zu bestimmen: Lüderssen, Freiheitsbegriff, S. 83 f.; K.-L. Kunz, Lernen, S. 88 ff.; MüllerDietz, Grundfragen, S. 155 ff.; ders., Behandlungsorientierter Vollzug, S. 75; vgl. Sch/ Β / Böhm, § 4 Rn. 9. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, auf welche pädagogischen / therapeutischen Konzepte sich das im Strafvollzug anzubietende Resozialisierungsprogramm stützen darf bzw. kann. Hierzu — insbesondere sub voce „Pädagogik der Selbstbestimmung versus Antipädagogik" — Haffke, Therapie und Herrschaft; ders Emanzipierende Sozialtherapie; Stratenwerth, Sozialtherapie, S. 913 ff.; K.-L. Kunz, Ler-

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Berücksichtigung der Behandlungsbereitschaft als Eignungskriterium zur Urlaubsentscheidung 3 2 9 — nicht statthaft 3 3 0 ; sie machen nicht nur das „Freiwilligkeitsprinzip zur F a r c e " 3 3 1 , sie konterkarieren auch das Vollzugsziel. Eine direkt oder indirekt erzwungene Behandlung degradiert den Menschen zum bloßen O b j e k t 3 3 2 , mißachtet sein „right to be let a l o n e " 3 3 3 , verlangt ein „Auskundschaften der internsten Bezirke der Persönlichkeit" 3 3 4 ; sie verletzt die Persönlichkeit in ihrem Kernbereich 3 3 5 und berührt daher den durch den Menschenwürdegrundsatz bestimmten Wesensgehalt des Grundrechts der persönlichen Freiheit 3 3 6 : die Befugnis zu direktem oder indirektem Zwang ins StVollzG aufzunehmen 3 3 7 , wäre daher gemäß Art. 2 I I 2 in Verbindung mit Art. 1, 19 G G auch unter dem Aspekt materieller Rechtsstaatlichkeit verfassungswidrig, eine entsprechende Interpretation der Vorschriften des StVollzG nicht verfassungskonform. Insbesondere auf die dazu herangezogenen Entscheidungen B V e r f G E 22, 180; 35, 202 und 40, 276 läßt sich eine solche Auslegung nicht stützen 3 3 8 . Bei der

nen, sowie — psychoanalytisch orientiert — Lüderssen, Freiheitsbegriff. Vgl. auch Schreiber, Strafkonzeptionen, S. 296 f. Vgl. noch oben S. 52 Fn. 267, unten S. 65 Fn. 362. 328 Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 14, 20; Calliess / Müller-Dietz, § 4 Rn. 3 f. 329 Gem. VVStVollzG Nr. 4 I 2 zu § 13. Der Bundesrat will dieses Kriterium in das StVollzG aufgenommen haben: BT-Drs. 11 / 3694, S. 3, 8 Sp. 2, mit teilweise ablehnender Stellungnahme der Bundesregierung, S. 16 Sp. 1. 330 Calliess I Müller-Dietz, § 4 Rn. 3 (§ 13 Rn. 9); P.-A. Albrecht, Spezialprävention, S. 847 ff.; K.-L. Kunz, Lernen, S. 87 f.; Walter, Alternativen, S. 576 f.; Schumann, Kriminalpolitik, S. 373; Feest AK-StVollzG § 2 Rn. 11, Vor § 2 Rn. 19 m. vielen w. N. (Hoffmann / Lesting AK-StVollzG § 13 Rn. 23, § 11 Rn. 50); (Sch / Β / Kühling, § 13 Rn. 25); s. auch Ostendorf AK-JGG §§ 91, 92 Rn. 11; vgl. H.-M. Weber, Gefährlichkeitsprognose, S. 94 f. m. Ν. Α. A. mit der Rspr. Sch / Β / Böhm, § 4 Rn. 5, 9; Κ / Κ / Schöch, Strafvollzug, S. 79 f. (zu § 13 S. 80 m. Rspr.-N.). 331 K.-L. Kunz, Lernen, S. 88. 332 Haffke, Besserungsverbot, S. 252; Stratenwerth, Sozialtherapie, S. 912 f., 916 ff.; Μ / D / Dürig, Art. 1 Rn. 28. 333 w. Hassemer, Resozialisierung, S. 165; Schumann, Kriminalpolitik, S. 373. Zu diesem Grundsatz allg. Benda, Menschenwürde, S. 119 m. N. 334 Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, S. 44. 335 Zur Sphärentheorie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts BVerfGE 27, 344 (350 ff.); 32, 373 (378 ff.); 34, 238 (245 ff.); Wolter SK-StPO Vor § 151 Rn. 29 m. w. (Rspr.-)N. Zur Kritik und begrenzten Leistungsfähigkeit dieser Theorie allg. Luhmann, Grundrechte, S. 53 ff.; Alexy, Grundrechte, S. 327 ff., sowie m. w. N. exemplarisch Amelung, Zweite Tagebuchentscheidung, S. 1755 Sp. 1 (bes. bzgl. BVerfGE 80, 367); Wolter, Freiheitlicher Strafprozeß, S. 359 Sp. 1 (bzgl. StVÄGE 1988). 336 s. allg. nur Μ / D / Dürig, Art. 1 Rn. 9, 14; Art. 2 Abs. I Rn. 25, 31 f.; Denninger, Staatsrecht 2, S. 148, je m. w. (Rspr.)N. 337 wie das der Bundesrat in bezug auf Vollzugslockerungen (§ 11 StVollzG) vorschlägt: BT-Drs. 11 / 3694, 3, 8 Sp. 2. 338 Daß Κ / Κ / Schöch, Strafvollzug, S. 78 ff., aus diesen Entscheidungen Zwangsbefugnisse ableiten will, die über die ausdrücklich genannte Berücksichtigung der Resoziali-

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Entscheidung B V e r f G E 22,180 zur Verfassungswidrigkeit der Anstaltsunterbringung sozial gefährdeter Erwachsener nach § 73 I I , I I I B S H G ist m i t B l i c k auf den Wortlaut der Entscheidungsbegründung 3 3 9 und der zu prüfenden Vorschrift schon zweifelhaft, ob sie sich überhaupt zur Unterbringung zwecks Zwangsbesserung äußert oder nicht stattdessen nur zur Zwangsunterbringung zwecks Besserung. Aber auch wenn man diese Lesart ablehnt und der Ansicht ist, dieses Urteil sei zur Zeit der noch v o l l geltenden Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis 3 4 0 ergangen und daher sei, wenn über „Besserung" gehandelt werde, die Zwangsbesserung selbstverständlich mitgemeint, so daß das der Entscheidung zu entnehmende relative, nämlich nur bei fehlender Selbst- oder Fremdgefährdung eingreifende, Besserungsverbot 341 bei Gefährdung auch die Zwangsbesserung zulasse, hat man nichts gewonnen. Denn dann ist diese Entscheidung mittlerweile überholt. Die Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses ist für den Strafvollzug mit der Entscheidung B V e r f G E 33, l 3 4 2 aufgegeben w o r d e n 3 4 3 ; die damit korrespondierende relative Wesensgehaltstheorie war in der Judikatur des B V e r f G ohnehin nur vereinzelt anzutreffen 3 4 4 , die schon immer ganz überwiegend vertretene absolute Theorie, die einen abwägungsresistenten Grundrechtskern postuliert 3 4 5 , ist erst kürzlich wieder bekräftigt w o r d e n 3 4 6 . U n d Argumente, mit denen sich die sierungsbereitschaft bei Ermessensentscheidungen (S. 80) hinausgehen, ist dem Text nicht zu entnehmen. Die grundsätzlichen Ausführungen gegen das verfassungsrechtliche Besserungsverbot sprechen freilich für eine Erweiterungstendenz (ebenso ders., Verstehen, Erklären, Bestrafen?, S. 317 f.; vgl. aber auch K / K /ders., Strafvollzug, S. 98), die insgesamt restriktiven Interpretationen der Vorschriften des StVollzG indessen dagegen. Ob Benda, Resozialisierung, eine allgemeine Pflicht zur Mitwirkung an Resozialisierungsprogrammen behauptet oder nur meint, daß derjenige, der seinen Anspruch auf Resozialisierung explizit geltend macht, nicht passiv auf Erfolge warten darf, wird ebenfalls nicht deutlich (vgl. S. 313, 310 f., 321 f.). Klar für eine Mitwirkungspflicht Einsele, Sozialtherapeutische Anstalt, S. 392. 339 BVerfGE 22, 180 (218 ff.). 340 derzufolge die Rspr. „jede Beschränkung der Rechte der Strafgefangenen" als statthaft erachtete, „soweit sie zur Erreichung der Strafzwecke und wegen der durch sie bestimmten Natur des Anstaltsverhältnisses notwendig ist": KG NJW 1969, 672. Zur Kritik an dieser Rechtsfigur s. grundlegend Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, S. 59 ff.; Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung, S. 74 ff. 341 Vgl. K/K/Schöch, Strafvollzug, S. 79; Alexy, Grundrechte, S. 269 f. Zum Schwanken der Entscheidungsbegründung zwischen absolutem und relativem Besserungsverbot Haffke, Besserungsverbot, S. 249 m. N. 342 Bes. BVerfGE 33, 1 (10-13). 343 und die vom Bundesrat vorgeschlagene Fassung von § 4 I I StVollzG (BT-Drs. 7 / 918, S. 109), die eine Erneuerung der Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses bedeutet hätte, ist nicht Gesetz geworden; s. Calliess / Müller-Dietz, § 4 Rn. 9, 22; Müller-Dietz, Behandlungsorientierter Vollzug, S. 7 f., 52. 344 Denninger AK-GG Art. 19 Abs. 2 Rn. 9; Alexy, Grundrechte, S. 269 ff., jeweils m. Rspr.-N. 345 S. nur Denninger, Staatsrecht 2, S. 147 f.; Alexy, Grundrechte, S. 269; M / D / Maunz, Art. 19 I I Rn. 3; Wolter SK-StPO Vor § 151 Rn. 29, je m. N., und die Rspr.N. oben S. 78 Fn. 335. S. auch Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, S. 95 u. passim; Müller-Dietz, 48. DJT, C 11 f.

§ 1. Die Kardinalprinzipien Verletzung

des Kernbereichs

des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

63 durch

Zwangsbesserung bestreiten ließe, enthält die Entscheidung B V e r f G E 22, 180 nicht. Die i m sogenannten Lebach-Urteil (BVerfGE 35, 202) gegebene verfassungsrechtliche Begründung dafür, daß sich die Gestaltung des Strafvollzugs am „Interesse 3 4 7 an der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft, an seiner Resozialisierung" zu orientieren h a t 3 4 8 3 4 9 , kann zur Rechtfertigung einer fremdbestimmten Behandlung ebenfalls nicht herangezogen werden. Denn das Sozialstaatsprinzip soll zwar auch dafür sorgen, daß nicht um der Würde des einzelnen willen dessen — bereits aus dem Menschenbild des Grundgesetzes folgende 3 5 0 — Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit übersehen w i r d 3 5 1 ; wegen der i m Lebach-Urteil nicht angezweifelten absoluten Wesensgehaltsgarantie läßt sich aber auch aus dem Sozialstaatsprinzip keine Sozialpflichtigkeit herleiten, welche den Kernbereich personaler Freiheit gefährdet 3 5 2 , also auch keine Befugnis zum Zwangstherapieren. Eine solche Befugnis kann auch nicht mit dem aus der Menschenwürde und dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gefolgerten „Interesse" des Täters an seiner Resozialisierung, das in der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe zum „Anspruch auf Resozialisierung" 3 5 3 verdichtet wurde, begründet werden. Dem säkularisierten freiheitlichen Rechtsstaat des Grundgesetzes ist es nicht gestattet, den — j a immerhin für schuldfähig befundenen — Gefangenen gegen dessen W i l l e n zu behandeln unter Berufung auf dessen vernünftigerweise vorhanden sein müssendes Resozialisierungsinteresse 3 5 4 . Das StVollzG w i l l solche — durch manche Konstruktionen der Staats-

346 BVerfGE 80, 367 (373 ff.): Zweite Tagebuchentscheidung. Vgl. aber auch die relative Theorie Alexys, die hier zu keinem anderen Ergebnis führen dürfte, Grundrechte, S. 271 f. 347 Zu diesem Begriff Haffke, Besserungsverbot, S. 250 Fn. 25. 348 BVerfGE 35, 202 (235). 349 BVerfGE 35, 202 (236): „Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen. Nicht zuletzt dient die Resozialisierung dem Schutz der Gemeinschaft selbst: diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, daß der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger oder die Gemeinschaft schädigt." 350 BVerfGE 4, 7 (15 f.); 12,45 (51); m. w. (Rspr.-)N. Μ / D / Dürig, Art. 1 Rn. 46 ff. 351 Benda, Menschenwürde, S. 110. 352 Benda, Menschenwürde, S. 110. Unzutreffend daher Einsele, Sozialtherapeutische Anstalt, S. 392. 353 BVerfGE 45, 187 (239). 354 Stratenwerth, Sozialtherapie, bes. S. 907, 916 ff.; Herzog, Manifestation, S. 34 ff.; K.-L. Kunz, Lernen, S. 86 f.; W. Hassemer, Resozialisierung, S. 165. Vgl. Maiwald, Zweck, S. 294.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

rechtslehre 3 5 5 unterstützte — paternalistisch-vernunftsstaatlichen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Anmaßungen verhindern, indem es grundsätzlich nur enumerati ν i m Gesetz vorgesehene Freiheitsbeschränkungen erlaubt (§ 4 I I 1 StVollzG) und andere Beschränkungen ausnahmsweise nur zuläßt, sofern sie „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerläßlich sind" (§ 4 I I 2 S t V o l l z G ) 3 5 6 . Diese restriktive Tendenz des StVollzG läßt sich mithilfe der vor Inkrafttreten des StVollzG ergangenen Entscheidung B V e r f G E 40, 276 nicht aufweichen. Erstens, weil die — wohl auch in der Absicht, eine A r t Synallagma zwischen Anspruch auf Resozialisierung und Verpflichtung zur M i t w i r k u n g zu insinuieren — vornehmlich herangezogene allgemeine Aussage der Entscheidung, ein der Resozialisierung verpflichteter Strafvollzug könne „nicht nur Ansprüche des Gefangenen begründen, sondern unter Umständen auch grundrechtsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen, die erforderlich" seien, „ u m die inneren Voraussetzungen für eine spätere straffreie Lebensführung des Gefangenen zu f ö r d e r n " 3 5 7 , wegen der absoluten Wesensgehaltsgarantie schon vor Inkrafttreten des StVollzG keine Befugnis zu zwangsresozialisierenden Maßnahmen gestützt werden konnte. Zweitens, weil diese Aussage nunmehr vollständig aufgehoben ist in der maßgebenden und abschließenden Konkretisierung durch das geltende S t V o l l z G 3 5 8 . U n d schließlich drittens, weil dieser Beschluß zur Nichtaushändigung der St. Pauli-Nachrichten an den Beschwerdeführer i m Grunde nicht über die Regelung des § 68 I I 2 StVollzG hinausgeht; daß diese Entscheidung i m einzelnen das Grundrecht auf freie Information (Art. 5 GG) bedenklich einschränkt 3 5 9 , kann hier vernachlässigt werden, denn mit dieser Einschränkung sollte nicht auf fehlende Resozialisierungsbereitschaft reagiert werden. Bezieht man die — oft zu weit geratenen — abstrakten dogmatischen Sätze oder programmatischen Formeln aus den Gesetzgebungsmaterialien auf die zugrundeliegende konkrete Gerichtsentscheidung bzw. den konkreten Verlauf und das Ergebnis der Gesetzgebung 3 6 0 , so finden sich keine Anknüpfungspunkte für eine überzeugende Rechtfertigung von Maßnahmen zur Erzwingung von Behand-

355 wie ζ. B. die Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis oder die institutionelle und wertsystematische Grundrechtstheorie (dazu die knappe und treffende Kritik bei Denninger, Staatsrecht 2, S. 183 ff.; s. auch Grimm, Grundrechte, S. 54 ff.): Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, S. 85 ff.; Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung, S. 86 ff.; Calliess i Müller-Dietz, § 4 Rn. 14. 356 κ / Κ ! Schöch, Strafvollzug, S. 82 f., 99 f., 105; Calliess / Müller-Dietz, §4 Rn. 22, 9 f.; Feest AK-StVollzG § 4 Rn. 8 ff. Zur Ablehnung des gegenläufigen Bundesratsvorschlags oben S. 62 Fn. 343. 357 BVerfGE 40, 276 (284 f.). 358 Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 4; dazu auch BVerfGE 33, 1 (12 f.). 359 Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 15 m. N. 360 s. ζ. B. die Analysen bei Calliess / Müller-Dietz, Einl. Rn. 34 f., § 4 Rn. 2 ff., § 13 Rn. 9; Feest AK-StVollzG Vor § 1 Rn. 2, 10, § 2 Rn. 3, § 4 Rn. 5.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

65

lungsbereitschaft. Die i m StVollzG vorgesehenen am Vollzugsziel ausgerichteten — und i m Lichte der Vollzugsgrundsätze ( § § 2 — 4 StVollzG) auszulegenden 361 — Freiheitsbeschränkungen intendieren allesamt nur, äußerliche resozialisierungshinderliche Einflüsse fernzuhalten, und zwar gleichermaßen von behandlungsbereiten wie von sich verweigernden Gefangenen; sie sanktionieren nicht die Weigerung, Resozialisierungsangebote anzunehmen, m i t dem Ziel, Behandlungsbereitschaft zu erreichen. Das StVollzG verlangt mithin, Resozialisierungsprogramme anzubieten 3 6 2 , es verbietet aber, sie aufzuzwingen. Dem Verbot, den Gefangenen zu einer Behandlung zu zwingen, korrespondiert notwendig das Verbot, ihn zur wirkungsvolleren Durchführung einer von ihm ohne weiteres abzulehnenden oder abzubrechenden Behandlung durch Erhöhung des Strafmaßes länger i m Strafvollzug festzuhalten. Eine hierzu anhaltende Individualprognose ist also insoweit unbeachtlich.

(2) Das Verbot tätiger individueller Abschreckung Nicht zu beachten ist die Individualprognose auch dann, wenn sie aus Gründen der individuellen Abschreckung zu einer Strafmaßerhöhung r ä t 3 6 3 . Die Abgren361 K / K I S c h ö c h , Strafvollzug, S. 88; Calliess/Müller-Dietz, § 2 Rn. 3 ff., § 4 Rn. 11; Feest AK-StVollzG Vor § 1 Rn. 4, § 4 Rn. 8. 362 Auch wenn der Nachweis positiver Wirkungen des Behandlungsvollzugs aus methodischen Gründen (dazu eingehend Kury, (Hrsg.), Methodische Probleme; knappe Überblicke bei Kury, Behandlungsforschung, S. 53 ff.; Kaiser, Erfolg, S. 92 ff.; Eisenberg, Kriminologie § 42 II) prinzipiell nicht gelingen sollte (s. die unterschiedlichen Beurteilungen der Effizienz(untersuchungen) m. w. N. bei Härtung, Spezialpräventive Effektivitätsmessung; Κ / Kerner / Sch, Strafvollzug, S. 450 ff.; Dünkel, Sozialtherapie, S. 422 ff.; Kury (Hrsg.), Prognose; Ortmann, Resozialisierung, S. 49 ff.; Kaiser / Dünkel / Ortmann, Sozialtherapeutische Anstalt; Schöch u. a., Sozialtherapeutische Anstalt, S. 208 f.; Schwind, Sozialtherapeutische Anstalt, S. 123 f.; H.-J. Otto, Generalprävention, S. 5 ff.; Frehsee, Schadens W i e d e r g u t m a c h u n g , S. 75 ff.), verlangen das Sozialstaatsprinzip und der Respekt vor der Würde und Freiheit des Menschen, zusammen mit den resozialisierungswilligen Strafgefangenen weiter an Resozialisierungsprogrammen zu arbeiten (vgl. nur Noll, Begründung, bes. s. 16 f., 25 ff.; Haffke, Emanzipierende Sozialtherapie, S. 301 f.; Stratenwerth, Sozialtherapie, S. 921; Jescheck,Kriminalpolitik, S. 1050; Schultz, Kriminalpolitik, S. 796 f.; Schreiber, Strafkonzeptionen, S. 296 f.; Lüderssen, Öffentlicher Strafanspruch, S. 16 f.; Kaiser, Resozialisierung, S. 371; Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 79; Schünemann, Schuldprinzip, S. 172 Fn. 37; W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 421). Daß sich mithilfe des individualisierenden Resozialisierungskonzepts sozialstrukturelle Ursachen von Kriminalität und Kriminalisierung verschleiern lassen (P.-A. Albrecht, Prävention, S. 74 ff.; Kargl, Schuldprinzip, S. 265 ff., 28 ff., 313 ff. u. passim; Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 9, 11, 12, 17, 20 f., je m. w. N.) und eine „Uniformierung von Lebensstilen und Existenzformen" betreiben läßt (Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 74), befreit nicht von dieser Verpflichtung, sondern nennt nur Probleme, denen ein normativ akzeptables Resozialisierungskonzept theoretisch und praktisch Rechnung zu tragen hat (vgl. H. Kaufmann, Kriminologie III, S. 152 ff., 159; Schreiber, Strafkonzeptionen, S. 293 ff., 296; Lüderssen, Öffentlicher Strafanspruch, S. 17 ff. u. 17 Fn. 40; Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 16). S. noch oben S. 52 Fn. 267 und S. 60 Fn. 327. 5 Hart-Hönig

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

zung zwischen Abschreckung und Resozialisierung nach den M i t t e l n zur Verhinderung künftiger Straffälligkeit, d. h. danach, ob die mit dem schlichten Verhängen oder Vollziehen der Strafe verbundenen Wirkungen genügen oder ob Behandlung erforderlich i s t 3 6 4 , verstellt allzu leicht den B l i c k auf das ausschlaggebende normative Legitimationskriterium. Denn —jedenfalls — hinsichtlich des schuldfähigen Straftäters ist es normativ ohne wesentliche Bedeutung, ob zur Abschrekkung weniger intensiv zugegriffen w i r d als zur Resozialisierung. Es kommt entscheidend darauf an, ob die jeweilige Einwirkung ohne oder gegen den W i l l e n des Täters geschieht. Ist das der Fall, dann w i r d der Täter zum bloßen Objekt degradiert; für die darin liegende Verletzung des „Elementarschutzbereichs" 3 6 5 des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist es unerheblich, wodurch die Degradierung erfolgt: ob durch das Einspannen i n die Mechanik besserungstherapeutischer Manipulation oder durch das Einspannen in die Mechanik aversiver Stimulat i o n 3 6 6 . Ebenfalls normativ irrelevant ist der Umstand, daß man zur Abschreckung nicht eigens aversive Stimuli erzeugt, sondern nur aversive Stimuli, die mit der Bestrafung gewöhnlich verbunden sind, ins spezialpräventive K a l k ü l einstellt. Z u m einen, weil die Erhöhung des Strafmaßes gerade wegen dieser aversiven Stimulationseffekte der Bestrafung nicht anders zu beurteilen ist als die Schaffung neuer oder die Verstärkung vorzufindender Stimuli (um so in der nicht erhöhten Strafzeit dieselbe Wirkung zu erzielen). Z u m anderen, weil sich diese aversive Stimulation — wenn auch vielleicht nicht gemeinhin oder überwiegend, so jedoch — zumindest oft Effekten wie z. B. sozialer Stigmatisierung verdankt 3 6 7 , also tendenziell desozialisierenden bzw. kriminogenen Bestrafungseffekten, welchen ein der Resozialisierung verpflichtetes Strafrecht j a gerade entgegenzuwirken hat368. (3) Das Verbot unmittelbarer Sicherung Nicht gefolgt werden darf der Prognose schließlich, soweit sie eine Erhöhung des Strafmaßes zur Sicherung der Gesellschaft vor dem Täter fordert. Die Allgemeinheit unmittelbar vor weiteren Straftaten, die der Gefangene nach seiner Entlassung begehen könnte, zu sichern, ist allein Aufgabe des Maßregelrechts 3 6 9 .

363 Den Gesetzesmaterialien ist deutlich zu entnehmen, daß die individuelle Abschrekkung kein Ziel des Strafvollzugs sein soll: m. N. K / K /Schöch, Strafvollzug, S. 81. 364 S. nur M/G/Zipf, A T / 2 § 63 Rn. 108; Zipf, Strafmaßrevision, S. 114 f. 365 Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, S. 95 u. passim. 366 Zu diesem lerntheoretischen Konzept Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, S. 73; Koller, Utilitaristische Strafrechtfertigung, S. 63 u. passim (beide befürwortend), sowie Neumann / Sehr oth, Kriminalität und Strafe, S. 21; vgl. auch Schwind, Poenologie, S. 1029 (II.). 367 Neumann / Sehr oth, Kriminalität und Strafe, S. 21. 368 Ausdrücklich angeordnet in § 3 I I StVollzG bzgl. Freiheitsentzug; vgl. Sch / Β / Böhm, § 3 Rn. 11 f.; Feest AK-StVollzG § 3 Rn. 14; K.-L. Kunz, Lernen, S. 80 ff.

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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A u c h deshalb darf § 2 S. 2 S t V o l l z G nur so verstanden werden, daß die Begehung v o n Straftaten während der Verbüßung der — nach anderen als unmittelbar sicherungbezogenen Kriterien festgesetzten — Freiheitsstrafe verhindert werden s o l l 3 7 0 . A b e r auch insofern ist die Sicherung nur eine die Verfolgung des Vollzugsziels beschränkende und nach dessen Maßgabe zu erfüllende A u f g a b e 3 7 1 . D i e Sicherung ist m i t h i n i n keiner Hinsicht ein eigenständiges Z i e l des V o l l z u g s oder des materiellen Strafrechts 3 7 2 . Für den Schutz der A l l g e m e i n h e i t v o r weiteren Straftaten nach der Entlassung bedeutet das: Sicherung allein mittelbar durch Resozialisierung 3 7 3 . D i e I l l e g i t i m i t ä t der Erhöhung des Strafmaßes hängt nicht davon ab, daß die Grenze der Schuldangemessenheit überschritten w i r d 3 7 4 . A u c h w e n n spezialpräventive Gesichtspunkte nur innerhalb der schuldkongruenten Rahmenstrafe berücksichtigt werden, fällt die Strafzumessungsentscheidung anders aus als sie ausgefallen wäre, wenn diese Gesichtspunkte nicht i n Betracht gezogen worden

369 Henkel, Richtige Strafe, S. 42 f.; Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 5 m. N. Vgl. (die zumindest unglücklichen Formulierungen bei) Schünemann, Strafzumessung, S. 218. 370 Vgl. κ / Κ I S c h ö c h , Strafvollzug, S. 81; Feest AK-StVollzG § 2 Rn. 15; Haffke, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 46. 371 K / K /Schöch, Strafvollzug, S. 82; Calliess I Müller-Dietz, § 2 Rn. 5. 372 Calliess, Theorie der Strafe, S. 173 ff.; Bemmann, Ziel des Strafvollzugs, S. 893; Calliess I Müller-Dietz, § 2 Rn. 5 m. w. N. Böhm, Strafvollzug, S. 29 f., meint in der Sache wohl nichts anderes, ist aber der Ansicht, der „Vorrang" des Vollzugs(d. h.: Resozialisierungs)ziels sei nicht hinreichend deutlich bestimmt. — Eine darüber hinausgehende Sicherung zu Resozialisierungszwecken (s. Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 5 m. N.) ist aufgrund des oben zur Resozialisierung Gesagten nicht erlaubt. — Busch, Selective Incapacitation, S. 406 a, geht deshalb unzutreffend — und mit sinnverkehrender Bezugnahme auf Köhler, Strafzumessung, S. 16 — davon aus, daß der in den USA verfolgte Strafzweck der „Incapacitation" (Unschädlichmachung) auch im bundesrepublikanischen Strafrecht als Zumessungsgesichtspunkt grundsätzlich zulässig sei. Vgl. dazu K.-L. Kunz, Lernen, S. 79; Schüler-Springorum, Resozialisierung, S. 507. — Gegen die tendenzielle Infragestellung des alleinigen Vollzugsziels der Resozialisierung durch die Zulassung von allgemeinen Strafzwecken als Ermessenskriterien der Vollzugsgestaltung durch BVerfGE 64,261 —dieser Tendenz folgend Arloth, Strafzwecke im Strafvollzug — zutreffend schon Mahrenholz in seinem abweichenden Votum (BVerfGE 64, 261 (285 ff., bes. 287 ff.) sowie Feest AK-StVollzG § 13 Rn. 48; Calliess / MüllerDietz, § 13 Rn. 26, alle m. w. N. Vgl. Müller-Dietz, Strafvollzug, Tatopfer und Strafzwekke, S. 160 ff.; Eisenberg, Kriminologie § 36 Rn. 60. 373 Feest AK-StVollzG § 2 Rn. 15; Calliess I Müller-Dietz, § 2 Rn. 5. — Empirisch ist außerdem zu bedenken, daß infolge der tendenziell desozialisierenden Vollzugswirkungen etwaige Sicherungseffekte der Haft durch eine höhere Rückfallrate nach der Entlassung (über)kompensiert werden können: Giehring, Ungleichheiten, S. 101 Fn. 30; Lüderssen, Steuerungsfunktion, S. 159. 374 Wovon z. B. Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 47 ff., 48, 55; S c h / S c h / Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 17 f.; D/Tröndle, § 46 Rn. 12, und die Rspr. — vgl. nur BGHSt 24, 132 (133 f.) m. w. Rspr.-N. und die blasse, ohne weiteres dem BGH folgende und auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers abstellende, Stellungnahme des Β VerfG zur Legitimität der Strafzwecke / Vereinigungstheorie in BVerfGE 45, 187 (253 f. m. Rspr.-N.) — ausgehen. 5*

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w ä r e n 3 7 5 ; w i r d die Strafe geschärft, so wird damit das durch die Rahmenuntergrenze bezeichnete Maß der aus Schuldgründen notwendige Strafe überschritten 3 7 6 . bb) Zur begrenzten Legitimität spezialpräventiver Strafmaßsenkung In den Erörterungen zur Rechtfertigung der Strafmaßerhöhung zu spezialpräventiven Zwecken ist bereits vorgezeichnet, inwieweit die Prognose zu berücksichtigen ist, wenn sie eine Strafmaßsenkung verlangt. Aus dem Verbot der Zwangsbesserung folgt, daß das Strafmaß nicht i m Hinblick darauf gesenkt werden kann, daß man für eine erfolgreiche Resozialisierung durch Zwangstherapie weniger Zeit braucht als mit der nach nicht-spezialpräventiven Kriterien bemessenen Strafe zur Verfügung gestellt wird. Das Strafmaß darf aber auch nicht m i t Rücksicht auf den Zeitbedarf für eine resozialisierende Behandlung, zu der sich der Täter freiwillig bereit erklärt hat, gesenkt werden. Wegen des Rechts des Gefangenen, jederzeit die Behandlung abzubrechen, und um zu vermeiden, daß sich behandlungsablehnende Täter eine Strafmaßreduzierung erschwindeln, müßte nämlich zu der ermäßigten Strafe unter der aufschiebenden Bedingung der (wohl auch: erfolgreichen) M i t w i r k u n g an der Behandlung bzw. unter dem Vorbehalt, i m Falle des Behandlungsabbruchs usf. auf das Ausgangsstrafmaß zu erkennen, verurteilt werden. Abgesehen davon, daß eine solche Konstruktion gesetzlich nicht vorgesehen i s t 3 7 7 , wären damit die notwendigen Randbedingungen eines freiwilligkeitsorientierten Behandlungsvollzugs zerstört. Unter dem Damoklesschwert des Wegfalls der Strafmaßsenkung ist der Gefangene objektiv und, worauf es sub specie Resozialiserung besonders ankommt, auch in seiner eigenen Wahrnehmung 3 7 8 in seiner Autonomie, über die M i t w i r k u n g an der Behandlung zu bestimmen, erheblich beeinträchtigt. Er steht unter gesteigertem Anpassungsdruck und w i r d verstärkt dazu getrieben, auf den Behandlungsabbruch oder auch nur Widerstand gegen die konkrete Behandlung zu 3 75 Vgl. die parallele Argumentation zur generalpräventiven Strafzumessung bei W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 41; Warda, Richterliches Ermessen, S. 166 (der jedoch spezialpräventive Einwirkungen als mit Art. 1. I GG vereinbar ansieht, da hier die Gefahr von dem Täter selbst ausgehe, ebenda), und zur Parallelität allg. Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 48. 376 Vgl. Blei, AT, S. 427, und wiederum die parallele Argumentation zur Generalprävention bei Warda, Richterliches Ermessen, S. 166; Badura, Generalprävention, S. 343; Bruns, Generalprävention, S. 89. 377 Eine ähnliche Konstruktion sehen nur die §§ 35 — 38 BtmG vor (Bei Verurteilungen zu / der Erwartung von einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren wegen einer Tat, die aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde, Zurückstellung der Strafvollstreckung — § 35 — bzw. Absehen von der Verfolgung — § 37.); vgl. W. Hassemer, Prävention, S. 259 Sp. 1 ff. Dazu, daß und warum die Praxis die Aussetzungs-Vorschriften des StGB den „bürokratischen" des BtmG vorzieht s. D / Tröndle, Vor § 56 Rn. 12 f., u. Frommel, Zurückstellung. 378 Vgl. nur Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 26, 28, § 4 Rn. 2, 4; W. Hassemer, Resozialisierung, S. 163.

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verzichten und stattdessen den Schein gelungener Resozialisierung zu erzeug e n 3 7 9 . Eine Strafmaßsenkung i n positiv-resozialisierender Absicht ist daher unstatthaft 3 8 0 . Gegen die Absenkung des Strafmaßes zur Vermeidung entsozialisierender, d. h. einen Rückfall wahrscheinlicher machender, Wirkungen der bloßen Bestrafung ist freilich nichts zu erinnern 3 8 1 . Das gleiche gilt für die Reduzierung des Strafmaßes mit Rücksicht darauf, daß sich wegen der vorhandenen Sozialisation des Täters 3 8 2 oder der mit der bloßen Bestrafung verbundenen AbschreckungsWirkung das Ausbleiben erneuter Straffälligkeit auch bei entsprechender Minderung der Strafe gleichermaßen erwarten läßt. Diese drei legitimen Gründe für eine Strafmaßsenkung tragen der nach Maßgabe des alleinigen Vollzugsziels zu bestimmenden Sicherungsaufgabe des Vollzugs Rechnung; ein Teil der Strafzeit, in der der Gefangene noch für eine Behandlungsmitwirkung hätte gewonnen und resozialisierungsfeindliche äußere Einflüsse noch hätten abgewehrt werden können, wird nämlich nur erlassen, wenn dies keine Einbuße an mittelbarem Schutz der Allgemeinheit durch Resozialisierung zur Folge hat bzw. wenn durch das Ausschöpfen der Strafzeit die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht und damit dieser mittelbare Schutz sogar vermindert würde. cc) Zur begrenzten Legitimität spezialpräventiver Entscheidungen zur Straf(rest)aussetzung und zur Verhängung kurzer Freiheitsstrafen Noch zu prüfen bleibt schließlich, inwieweit die Prognose die Entscheidungen zur Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 I 1, I I StGB), zur Aussetzung des Strafrests (§§ 57 I Nr. 2; 57 a I Nr. 3 StGB) und zur Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten (§ 47 I StGB) bestimmen darf. Die normative Proble-

379 S. Feest AK-StVollzG Vor § 2 Rn. 14. Vgl. zu den Folgen der durch die Jugendstrafe von unbestimmter Dauer (§ 19 JGG — aufgehoben durch das 1. JGG-ÄndG vom 30. 6. 1990, BGBl. I, 1853) bewirkten ähnlichen Konstellation Ostendorf AK-JGG § 19 Rn. 6; Eisenberg, JGG (3. Aufl. 1988) § 19 Rn. 17; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 221 ; — der Hinweis, dieses Problem werde auch durch das Institut der Strafrestaussetzung erzeugt (Böhm, Jugendstrafrecht, S. 185 f.; Schaffstein / Beulcke, Jugendstrafrecht (9. Aufl. 1987), S. 114) macht nicht die Einwände gegen § 19 JGG hinfällig, sondern legt nahe, diese Einwände auch gegen § 57 StGB zu richten. 380 Vgl. Schüler-Springorum, Resozialisierung, S. 513 f. 381 Wobei hier freilich wegen der unklaren Randbedingungen bzgl. Schuld und Generalprävention nicht diskutiert werden kann, ob unter diesen Gesichtspunkten Grenzen zu ziehen sind. S. unten S. 137 f. 382 z. B. bei sogenannten Einmaltätern (vgl. Kerner, Ersttäter, S. 97). Kritisch gegen die landläufige Annahme, bei Tötungsdelikten handele es sich nicht um Rückfalldelikte (vgl. zum Rückfall bei vorsätzlichen Tötungsdelikten Hajfke, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 25, 22; Kaiser, Kriminologie (LB) § 70 Rn. 13, je m. N.) Lüderssen, Öffentlicher Strafanspruch, S. 58 m. N. Zu den voll angepaßten NSG-Tätern Schünemann, Ungelöste Rechtsprobleme, S. 238 m. N.

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matik variiert m i t dem für die Entscheidungen für maßgeblich gehaltenen Prognoseumfang. Die herrschende Meinung w i l l bei den Entscheidungen zur Straf(rest)aussetzung ausschließlich Umstände in Betracht ziehen, welche Rückschlüsse auf das künftige Legalverhalten des Verurteilten ohne Einwirkung des Strafvollzugs zulassen, d. h. die voraussichtlichen Auswirkungen des (weiteren) Vollzugs werden ignoriert 3 8 3 . Der insoweit begrenzten Prognose zu folgen, ist hinsichtlich der gewöhnlich berücksichtigten, teilweise gesetzlich aufgezählten ( § § 5 6 I 2, 57 I StGB), Faktoren 3 8 4 weitestgehend normativ unproblematisch, sofern sie sich als relevant(e) (Indikatoren) für das künftige Legalverhalten ausweisen lassen 3 8 5 . Nicht beachtet werden darf diese Prognose nur, soweit sie auf Wirkungen, die von der Erbringung gemeinnütziger Leistungen zu erwarten sind, abstellt. V o r a l l e m 3 8 6 , weil diese Auflage (§ 56 b I I Nr. 3 StGB) nicht mit Art. 12 I I G G zu vereinbaren ist, da der Verurteilte unter intensivem mittelbarem Zwang steht und die auferlegte Leistung nur höchstpersönlich erbracht werden d a r f 3 8 7 . Die den Vollzug ausklammernde herrschende Ansicht kann sich zwar auf den Wortlaut berufen 3 8 8 , sie verstößt aber gegen das rechtsstaatliche Erforderlichkeitsprinzip 3 8 9 und brüskiert das Erfordernis empirischer Legitimation, da sie zuläßt, eine Straf(rest)aussetzung wegen zu hoher Rückfallwahrscheinlichkeit abzulehnen, ohne ausgeschlossen zu haben, daß diese Rückfallwahrscheinlichkeit durch die Vollstreckung der Strafe noch gesteigert wird. Die Aussetzungsentscheidungen sind infolgedessen auf den Vergleich zwischen der Legalbewährung bei (weiterer) Vollstreckung und der bei NichtVollstreckung (des Rests) der Strafe

383 Sch / Sch / Stree, §56 Rn. 18, §57 Rn. 10 ff.; LK-Ruß, §56 Rn. 10; Dencker, Besprechung, S. 155 Sp. 2; D ! Tröndle, §56 Rn. 4 m. Rspr.-N. Vgl. Jescheck, AT, S. 753 Fn. 11. 384 s. nur m. w. N. Sch / Sch / Stree, § 56 Rn. 19 ff., § 57 Rn. 17: Zu § 56 II, § 57 I I Nr. 2 StGB E. Horn SK-StGB § 56 Rn. 28-30, § 57 Rn. 17. 385 D. h. die Prognose wird unter der Voraussetzung bewertet, daß der Versuchung widerstanden worden ist, die Faktoren normativ-moralisierend oder generalpräventiv zu verwenden (vgl. E. Horn SK-StGB § 47 Rn. 26, § 46 Rn. 116 ff.), und sie nur als gültige spezialpräventive Indikatoren operationalisiert worden sind. 386 Problematisch ist zudem die Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot (Art. 103 I I GG): Sch / Sch / Stree, § 56b Rn. 14; E. Horn SK-StGB § 56b Rn. 12, je m. w. N. 387 Sch / Sch / Stree, § 56b Rn. 15; E. Horn SK-StGB § 56b Rn. 12; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 184 ff.; Mrozynski, Weisungen, S. 400 Sp. 1 ; Blau, Gemeinnützige Arbeit, S. 206; Köhler, Zwangsarbeitsstrafe, bes. S. 149 f. (insgesamt allgemein gegen die in jüngster Zeit favorisierte „gemeinnützige Arbeit" als (Element in) strafrechtliche(n) Sanktion(en); s. zu einer derartigen Idee des Gesetzgebers E. Horn, „Bewährungsstrafe", m. N.); vgl. Μ / G / Zipf, A T / 2 § 65 Rn. 42. 388 § 56 I 2 StGB: „ . . . Wirkungen . . . , die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind". Bzgl. § 57 StGB s. Dencker, Besprechung, S. 155 Sp. 2. 389 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 138, 135 f.; E. Horn SK-StGB § 56 Rn. 11 a; Schünemann, Schuld und Kriminalpolitik, S. 348 f., 347. Vgl. Schöch, Anm. zu OLG Schleswig JR 1981, 162, S. 165 Sp. 2.

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zu stützen 3 9 0 . Nach den zur Illegitimität der Strafmaßerhöhung herausgearbeiteten Kriterien darf dem daher hinzukommenden, sich auf die (weitere) Vollstreckung beziehenden T e i l der Prognose jedoch nicht gefolgt werden, soweit er Wirkungen berücksichtigt, die von einer Zwangsbesserung, der freiwilligen M i t w i r k u n g an einer (ja jederzeit abzubrechenden) Behandlung oder einer jenseits des Unvermeidlichen liegenden, v o m resozialisierungsorientierten Vollzug zu beseitigenden aversiven Stimulation (Abschreckung) 3 9 1 zu erwarten sind. Da dem Sicherungsaspekt nur vermittelt über das Resozialisierungsziel Geltung zukommt, darf die Strafaussetzung zur Bewährung auch dann nicht m i t Rücksicht auf den Sicherungseffekt des Eingesperrtseins abgelehnt werden, wenn die zu vergleichenden Rückfallprognosen gleich extrem schlecht ausgefallen sind (d. h. die Vollstreckung nicht erforderlich oder geeignet i s t ) 3 9 2 . Die zu §§ 56, 57, 57a StGB formulierten normativen Einschränkungen der Prognoserelevanz gelten bei der Entscheidung über die spezialpräventive 3 9 3 Uner390 E. Horn SK-StGB § 56 Rn. 11 a, § 57 Rn. 9 m. w. N.; Schünemann, Schuld und Kriminalpolitik, S. 347. S. auch Stratenwerth, Strafzumessung, S. 34. 391 Vgl. in diesem Zusammenhang die nicht akzeptable Ansicht von LK-G. Hirsch, § 47 Rn. 20; dagegen mit Recht E. Horn SK-StGB § 47 Rn. 9. 392 So wohl auch E. Horn SK-StGB § 56 Rn. 11 a (vgl. Schünemann, Strafzumessung, S. 235 f., der unzutreffend der Sicherungs-Spezialprävention eine eigenständige Rolle zugesteht, die damit verbundenen Folgen aber dadurch mildert, daß er verlangt, daß die entsozialisierenden Wirkungen der Vollstreckung nicht den Sicherungseffekt überkompensieren). — Die Ansicht von Schöch, Anm. zu OLG Schleswig JR 1981, 162, S. 165 Sp. 2, die „strafrechtliche Resozialisierungsprognose" sei „deshalb kein reiner Relationsbegriff, weil sie in Grenzfällen durch andere Strafzwecke, denen sie nicht massiv widersprechen darf, korrigiert werden" müsse, ist nicht akzeptabel: sub specie Spezialprävention nicht, weil ausschließlich der Aspekt der Resozialisierung legitimerweise berücksichtigt werden darf; im übrigen nicht, weil andere Strafziele auch dann, wenn sie korrigierend eingreifen dürfen, nicht den Charakter der Resozialisierungsprognose verändern, sondern nur die Relevanz der Resozialisierungsprognose beschränken. Der letzte Punkt wurde im hiesigen Zusammenhang ausgeklammert. — Diese rigoros anmutende Konsequenz, die auch bei optimaler Ausgestaltung eines resozialisierungsorientierten Vollzugs und der Bewährungshilfe noch realiter gezogen werden müßte, führt in eine Reihe normativer Probleme, die hier — da die Untersuchung in ihrem konstruktiven Teil davon ausgeht, daß ein valides Individualprognoseverfahren auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung steht und auch aus den im folgenden dargelegten normativen Gründen nicht der Strafzumessung zugrunde gelegt werden darf — nur angedeutet werden sollen. Man kann sich nämlich — auch wenn die zur Bewährung ausgesetzten Strafen nicht häufig strenger als unbedingte Strafen wären (Pallini Η.Albrecht / Fehérvàry, Strafe, S. 228) — nicht damit beruhigen, daß die Möglichkeit besteht, den Verurteilten über einen Aussetzungswiderruf nach § 56 f I Nr. 1 StGB dem Strafvollzug doch noch zuzuführen. Denn an der spezialpräventiven Berechtigung der Aussetzungsentscheidung ändert die erneute Straffälligkeit nichts, und nähme man die Gesetzesformulierung („. . . zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat") wörtlich, dürfte nicht einmal widerrufen werden, da angesichts der extremen Schlechtprognose die Aussetzung ja gerade nicht auf der Erwartung der Straflosigkeit beruht hat. Zur Rechtfertigung des Widerrufs muß mithin auf Kriterien aus der Generalprävention und der Gerechtigkeit rekurriert werden, die dann freilich auch den Ausgangspunkt, die Straf(rest)aussetzung auch bei gleichermaßen extrem schlechter Prognose, verändern könnten.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

läßlichkeit der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter (§ 47 I StGB), also darüber, ob die Freiheitsstrafe das einzig taugliche M i t t e l und ob deren Vollstreckung unverzichtbar ist, um einen einschlägigen Rückfall des Täters zu verhindern, entsprechend 394 . dd) Zur Problematik des Erfordernisses individualprognostischer Fundierung aller Strafzumessungsentscheidungen V o n der Prognose darf sich die Strafzumessung ausschließlich bei Entscheidungen zur Strafmaßsenkung, zur Straf(rest)aussetzung und zur Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe leiten lassen 3 9 5 . U n d dies nur, soweit die Prognose nicht auf Effekte setzt, die sich unvermittelter Sicherung, einer Zwangsbesserung, der freiwilligen Behandlungsmitwirkung oder der Steigerung der unvermeidlichen AbschreckungsWirkung der Bestrafung verdanken. Das faktische und theoretische Potential der Spezialprävention darf also nur sehr begrenzt über die Prognose bei der Strafzumessung aktualisiert werden; aber aufgrund der in den §§ 46 I 2 3 9 6 , 47, 56 I 1, 57 I Nr. 2, 57 a I Nr. 3 StGB getroffenen Anordnungen, die durch die Begrenzung des Prognosesubstrats sämtlich nicht gegenstandslos geworden sind, muß es in diesem Umfang auch verwirklicht werden. Der normativen Einschränkung der Prognoserelevanz entspricht mithin keine Beschränkung auf bestimmte Typen von Strafzumessungsentscheidungen oder Entscheidungsabschnitte; es gibt keine Strafzumessungsentscheidung, für die auf eine Prognose verzichtet werden dürfte. Aus der unabdingbaren Verpflichtung, jeder Strafzumessungsentscheidung eine Prognose zugrunde zu legen, erwachsen jedoch normative Probleme, welche geeignet sind, das Erfordernis der individualprognostischen Fundierung der Strafzumessung prinzipiell in Frage zu stellen. Diese Probleme ergeben sich allesamt daraus, daß nur die klinische Methode zu einem hinreichend validen Prognose verfahren auszubauen sein dürfte. Denn die einzige Alternative, das Strukturprognoseverfahren, dürfte sich aus drei Grün393 Andere Elemente, die hier evtl. eine Rolle spielen (dürfen) (s. nur E. Horn SKStGB § 47 Rn. 22, 20), werden hier vernachlässigt. 394 Vgl. E. Horn SK-StGB § 47 Rn. 20, 20 ff., 13, 9; Sch / Sch / Stree, § 47 Rn. 11; Grünwald, Offene Fragen, S. 226 f. — Wegen des Zwecks des § 47 StGB, die für regelmäßig schädlich gehaltene kurzfristige Freiheitsstrafe zur Ausnahme zu machen, werden die voraussichtlichen Wirkungen des Vollzugs bei dieser Vorschrift auch von der herrschenden Meinung grundsätzlich berücksichtigt: Lackner, § 47 Anm. 1 , 2 b . 395 Auch bei Entscheidungen nach dem hier nicht explizit behandelten § 60 StGB. Eingehende Kritik des herrschenden Verständnisses der „Vollzweckerreichung" (vgl. Lackner, § 60 Anm. 2 b; E. Horn SK-StGB § 60 Rn. 10) bei Bassakou, § 60 StGB, S. 73 ff.; vgl. deren — auf lerntheoretischer Grundlage erfolgende — ausschließlich spezialpräventive Konstruktion de lege ferenda S. 135 ff. 396 In dem hier dargelegten Sinn ähnlich jetzt auch die Stellen W e r t t h e o r i e : E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 39, 17, 35; ders., „StellenWerttheorie", bes. S. 173 ff.

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den nicht zu einem genügend leistungsfähigen Instrument entwickeln lassen: die klinischen Prognosekriterien sind nur unter wesentlichen Verlusten an Einzelfallsensibilität in eine Strukturprognosetafel zu transformieren; eine Instruktion der Anwender w i r d nicht so intensiv sein können, daß damit eine ausreichend valide und reliable Handhabung von Kriterien sichergestellt werden k a n n 3 9 7 , deren zuverlässige klinische Operationalisierung man mit Recht nur von Psychologen oder Psychiatern mit besonderer kriminologischer Erfahrung erwartet 3 9 8 ; schließlich ist zu beobachten, daß bei statistischen Verfahren die Zunahme an Komplexität mit der Abnahme der Vorhersagegüte korreliert 3 9 9 und deshalb zu besorgen, daß Strukturprognosetafeln (relativ) adäquater Komplexität zu große Validitätsdefizite aufweisen. Das zuverlässige Stellen der klinischen Prognose setzt nun jedoch eine psychowissenschaftliche Ausbildung und spezielle kriminologische Erfahrung voraus 4 0 0 , und diese Anforderungen erfüllt nur eine kleine Anzahl von Sachverständigen 401 , die sich jedenfalls nicht soweit erhöhen läßt, daß die Sachverständigenprognose zum Normalfall werden k ö n n t e 4 0 2 . Hiergegen kann nicht eingewendet werden, daß die Sachverständigenprognose aus Gründen der Prozeßökonomie und der Kosten j a auch wenigen Fällen vorbehalten bleiben müsse 4 0 3 . Die Maxime ökonomischen Prozedierens geböte eine Beschränkung auf wenige Fälle nur dann, wenn für die anderen Fälle weniger aufwendige Prognosemethoden vergleichbarer Güte zur Verfügung stünden 4 0 4 . Da es aber — wie gezeigt — solche Methoden nicht gibt, bezeichnet diese Maxime hier vor dem Hintergrund nur eines (hypothetisch) tauglichen Prognoseverfahrens und eines uniformen Gesetzesbefehls zur Berücksichtigung des künftigen Legalverhaltens nur ein weiteres gravierendes Problem der klinischen Prognose, weist aber keinen Weg zu dessen dogmatischer Lösung de lege lata. Dasselbe gilt hinsichtlich des Einwands, die regelmäßige Erstellung einer klinischen Prognose sei mit der Struktur der geltenden Strafprozeßordnung nicht

397 Vgl. zu den Schwierigkeiten, auch nur die Zusammenarbeit zwischen Richtern und Sachverständigen zu verbessern, Schreiber, Sachverständiger, S. 1017 ff.; Krauß, Sachverständiger, S. 338 u. Fn. 47. 398 s. oben S. 57 m. Fn. 307, S. 95 ff. 399 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 14 a. E. (es muß aber im drittletzten Satz „nicht zu [vjerkennen" heißen wie in ders., Kriminologie (TB), S. 514) m. N. 400 Anders Böllinger, Prognoseprobleme, S. 302 f.; was allerdings damit zusammenhängt, daß er zu Unrecht auf die Leistungsfähigkeit der anderen Prognosemethoden vertraut; so wohl auch Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 113 mit Fn. 463 a. 401 Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 7; Tenckhoff, Kriminalprognose, S. 95 Sp. 2. 402 Gegen den Vorschlag des „Sachverständigen auf der Richterbank" mit durchschlagenden Argumenten Eb. Schmidt, Sachverständige; Schreiber AK-StPO Vor § 72 Rn. 14, je m. w. N. 403 S. Eisenberg, Kriminologie §21 Rn. 3; Müller-Dietz, Probleme, S. 70, 74; vgl. Kaiser, Kriminologie (LB) § 111 Rn. 7; Sonnen, Kriminalität und Strafgewalt, S. 194; Tenckhoff, Kriminalprognose, S. 95 Sp. 2. 404 Vgl. Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 113 f.; Schöch, Prognosefall Rn. 42.

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vereinbar 4 0 5 . Nur eine Änderung des materiellen Rechts oder des Prozeßrechts führt aus dem Problem heraus, daß Gründe des Persönlichkeitsschutzes die Erstellung der Prognose grundsätzlich 4 0 6 nicht vor dem Schuldspruch zulassen, die Strafprozeßordnung aber nicht darauf zugeschnitten ist, die Strafzumessung einschließlich der zeitaufwendigen Prognostizierung 4 0 7 erst nach dem Schuldspruch durchzuführen 4 0 8 . Der immense Bedarf an Sachverständigen darf und kann auch nicht über die normative Festlegung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses bei der Auslegung prognosefordernder Vorschriften 4 0 9 reduziert werden. Dieses von Frisch elaborierte M o d e l l — zu ermitteln, ob die jeweilige Vorschrift die Fraglich-Fälle der Rechtsfolge für die positive oder die negative Extremgruppe unterwerfen w i l l 4 1 0 , und nur noch solche Fälle näher prognostisch zu untersuchen, die nach den offenkundigen 4 1 1 Täter-Merkmalen nicht als Regelfälle eingeordnet werden könn e n 4 1 2 — führt zu einer Beschränkung der Anwendung der klinischen Methode auf die Ausnahmefälle nämlich nur unter der Prämisse, daß sich die Einstufung in die Extremgruppen und das Mittelfeld durch den Richter aufgrund offen zutage liegender Umstände regelmäßig ohne weiteres bewerkstelligen l ä ß t 4 1 3 . Infolgedessen versagt dieser Ansatz sowohl in bezug auf den gegenwärtigen Stand der Kriminalprognoseforschung — denn er setzt unzutreffend auf bestimmte Leistungspotentiale der Prognosemethoden und treibt daher die Normativierung nicht weit g e n u g 4 1 4 — als auch hinsichtlich möglicher Forschungsfortschritte — denn allenfalls von der klinischen Sachverständigenmethode können hinreichend verläßliche Voraussagen erwartet werden, so daß sich eine Beschränkung auf die vermeintlichen Ausnahmefälle nicht rechtfertigen läßt: die Zugehörigkeit zu einer

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Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 114; Bae, Verhältnismäßigkeit, S. 128. Vgl. Loos, Grenzen der Umsetzung, S. 262 m. N. 406 Vgl. §§ 80 a, 246a StPO sowie § 160 I I I 1 StPO u. dazu Müller-Dietz, Probleme, S. 68. 407 Allein schon wegen der aus dem Zeitbedarf resultierenden internen Kollisionen kann man sich nicht mit einem „informellen Schuldinterlokut" (allg. Schöch, Strafzumessung und Persönlichkeitsschutz, m. w. N.) begnügen. So würde z. B. die regelmäßige Wahrung der Unterbrechungsfristen durch das Verlesen (relativ belangloser) Urkunden, bis die Prognose erstellt ist, alle Prozeßbeteiligten und nicht zuletzt § 229 StPO selbst überstrapazieren (zum Normzweck s. nur KK-Treier, § 229 Rn. 1). Vgl. Müller-Dietz, Probleme, S. 68 ff., 70 f. 408 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 114 m. N. Vgl. Fezer, Strafprozeßrecht II, Fall 11 Rn. 39 f. 4 09 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 54; vgl. in derselben Richtung de lege ferenda Krainz, Prognose. 410 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 54 f. 411 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 56 f. 412 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 59. 413 Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 56 f. 414 Was aus Frischs zutreffender Ansicht, unmögliche Gesetzesforderungen könnten nicht binden (Prognoseentscheidungen, S. 59 f.(60)), folgen würde.

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Tätergruppe kann kein sinnvolles Kriterium für das Erfordernis einer klinischen Prognose sein, da sich die Zugehörigkeit nur durch eine solche Prognose verläßlich ermitteln läßt. Die ungenügende Sachverständigenkapazität und das damit zusammenhängende Problem der gerechten und zweckmäßigen Allokation der Prognoseressourcen verlangte von dem Gesetzgeber 4 1 5 , das Erfordernis der individualprognostischen Fundierung aller Strafzumessungsentscheidungen durch eine den legitimen Aspekten der Spezialprävention Rechnung tragende Bestimmung abzulösen. Daß sich der Gesetzgeber bei einer Reform aber nicht nur, und sogar eher nachrangig, um dieses kapazitätsinduzierte Problem kümmern müßte, zeigt ein anderer — den Sachverständigenbedarf tendenziell minimierender — Grundsatz, der ebenfalls auf die Verabschiedung der uniformen Prognoseanweisung drängte: Nach den Kriterien des materiell-rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigk e i t 4 1 6 ist die klinische Prognose problematisch, da sie sich nicht auf wenige, den Akten zu entnehmende oder jedenfalls leicht zu ermittelnde Daten abstützen l ä ß t 4 1 7 , sondern eine intensive — sich auch auf den Familien- und Freizeitbereich erstreckende — Persönlichkeitserforschung voraussetzt 4 1 8 . Daß die aus der klinischen Prognose resultierende Belastung des Täters — : durch die Ausforschung 4 1 9 , durch die Erstattung des Gutachtens in der Hauptverhandlung 4 2 0 , durch die Auferlegung der Kosten (Sachverständigenentschädigung) 421 — bei allen Strafzumes415 Die sich besonders auf den Wortlaut stützende Gesetzesauslegung von Frisch, Prognosentscheidungen, S. 59, wonach nicht jeder Einzelfall prognostisch beurteilt werden müsse, überzeugt nicht, sondern ist allenfalls pragmatisch bzgl. des defizitären Zustands der Prognoseverfahren vertretbar; vgl. die ähnliche Konsequenz bei E. Horn SK-StGB §46 Rn. 39, 17, 35. 416 Jescheck, A T § 4 I I 2; Bae, Verhältnismäßigkeit, S. 33 ff. m. w. N. Vgl. zum Folgenden W. Hassemer, Resozialisierung, S. 164, 166; Müller-Dietz, Probleme, S. 74; Schüler-Springorum, Sachverständiger und Verhältnismäßigkeit, bes. S. 311 f., 316, 318 f. 417 Vgl. Schöch, Verstehen, Erklären, Bestrafen?, S. 315. 418 S. nur Krauß, Sachverständiger, S. 328 ff.; Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 58; Böllinger, Prognoseprobleme, S. 303, je m. w. N. Vgl. Maiwald, Zweck, S. 294. 419 Die über die Beobachtung in der Hauptverhandlung und die Befragung von Dritten auch dann noch sehr intensiv ist, wenn sich der Angeklagte der de lege lata nicht erzwingbaren Mitwirkung (1Wassermann AK-StPO §81 Rn. 5 m.(Rspr.-)N.; s. auch Calliess I Müller-Dietz, § 6 Rn. 1) an der Prognoseerstellung verweigert. 420 Vgl. §§ 72, 244 IV StPO. Mit der Einfügung des § 171b GVG durch das OpferschutzG vom 18.12.1986 (BGBl. I, 2496) ist jedoch nunmehr in der Regel die Belastung durch die Erörterung vor der Öffentlichkeit entfallen: s. m. N. KK-Mayr, § 171b GVG Rn. 2, 3 ff.; Kl Meyer, § 171 b GVG Rn. 1. 421 Daß dem Angeklagten de lege lata die Sachverständigenentschädigung auch bei ubiquitärer klinischer Prognostizierung auferlegt wird, ist trotz der gegen die Kostentragungspflicht des verurteilten Angeklagten durchschlagenden dogmatischen und verfassungsrechtlichen Bedenken (s. W. Hassemer, Kostentragungspflicht) zu erwarten: im herrschenden Verständnis hat der Angeklagte auch die Gutachterauslagen „veranlaßt" (vgl. ebenda, S. 658,660); und daß die am Billigkeitsgrundsatz orientierte — hinsichtlich der präventiven Sanktionsentscheidung ohnehin kaum sinnvoll operational!sierbare —

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

sungsentscheidungen verhältnismäßig wäre, w i r d niemand behaupten. Die klinische Prognosemethode ist zwar das einzige als geeignet in Frage kommende Verfahren, aber vor dem Hintergrund der jetzigen tendenziell entsozialisierenden V o l l z u g s w i r k l i c h k e i t 4 2 2 müßte schon deren Erforderlichkeit für Entscheidungen zur Strafaussetzung zur Bewährung zumindest genauestens geprüft werden 4 2 3 . Jedenfalls nicht mehr verhältnismäßig i m engeren Sinn (hier freilich immer nur bezogen auf die oben als legitim ausgewiesenen Ausschnitte aus dem spezialpräventiven Strafzweck) dürfte die klinische Prognose bei einer Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten zur Bewährung sein; dasselbe dürfte für die Aussetzung entsprechend kurzer Reststrafen gelten sowie für Entscheidungen zur Absenkung des Strafmaßes dann, wenn andere maßgebende Strafmaßkriterien den Ermäßigungsspielraum entsprechend eng halten. Das rechtsstaatliche M o n i t u m aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verliert auch dadurch nichts an Berechtigung, daß sich die Prognosen infolge der hier vorgenommenen normativen Begrenzung der Verfolgung spezialpräventiver Ziele auf die Strafzumessungsentscheidungen durchweg allenfalls zugunsten des Täters auswirken können. Denn mit der Strafmaßsenkung oder Straf(rest)aussetzung zur Vermeidung von Desozialisation beispielsweise verfolgt die „Gemeinschaft" auch ihr „unmittelbares eigenes Interesse daran, daß der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger oder die Gemeinschaft schädigt" 4 2 4 . U n d selbst wenn mit solchen Strafzumessungsentscheidungen nur dem „Anspruch [des Täters] auf Resozialisierung" 4 2 5 entsprochen würde, so könnte diese Herleitung ausschließlich aus dem Individualinteresse zwar womöglich zu einer Verschiebung der Zweck-Mittel-Gewichtung führen, aber auch zur Erfüllung einer allein aus dem Menschenwürdegrundsatz und dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit folgenden Verpflichtung darf sich der explizit auf die Menschen- und Grundrechte verpflichtete (Art. 1 I 2, I I I GG) Rechtsstaat keiner M i t t e l bedienen, die — gerade — in diese Rechte unverhältnismäßig eingreifen; und er darf das auch nicht dadurch überspielen, daß er die Gewährung von „Resozialisierungsleistungen" an die Einwilligung in eine unverhältnismäßige Ausforschung k n ü p f t 4 2 6 . Damit hängt eine weitere nur de lege ferenda zu regelnde Frage 4 2 7 zusammen: W i e soll entschieden werden, wenn sich der Angeklagte selbst einer verhältnismä-

Freistellungsvorschrift (§ 465 I I 1 StPO) auch nur zu einer weitgehenden Befreiung von den Sachverständigenkosten führen könnte, ist nicht zu erkennen. Vgl. auch Naucke, Relevanz, S. 46 Fn. 49. Für die Berechtigung der folgenden Ausführungen ist die Kostenfrage aber nur von gradueller Bedeutung. 422 N. oben S. 56 Fn. 295. 423 Vgl. H.-J. Albrecht I Dünkel ! Spieß, Sanktionsforschung, S. 316 ff. 424 So zutreffend BVerfGE 35, 202 (236). 425 BVerfGE 45, 187 (239). 426 Zu dieser beobachtbaren Tendenz allg. Grimm, Prävention, S. 45 f. (46).

§ 1. Die Kardinalprinzipien

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ßigen Ausforschung verweigert und eine Prognosestellung wegen dessen fehlender M i t w i r k u n g scheitert? Eine prozeßrechtliche Lösung durch Einführung von Befugnissen zur Erzwingung der M i t w i r k u n g an klinischen Untersuchungen, welche das geltende Recht mit guten Gründen nicht enthält 4 2 8 , ist — ganz abgesehen davon, ob eine sinnvolle M i t w i r k u n g erzwingbar ist — sicherlich aus normativen Gründen abzulehnen. Eine materiellrechtliche Lösung, die glatt aufgeht, ist indes auch nicht zu erwarten; sie gerät in einen kaum aufzuhebenden Zwiespalt. Aus dem Umstand, daß die Prognose nach der hier vertretenen Auffassung nicht zur Strafschärfung, sondern nur zur Strafmaßsenkung oder zur Straf(rest)aussetzung statt (Fortsetzung der) Vollstreckung führen darf, kann nämlich nicht einfach gefolgert werden, daß solche Straf(maß)modifikationen zugunsten des Angeklagten (Gefangenen) i m Fall der wegen fehlender M i t w i r k u n g gescheiterten Individualprognose unterbleiben müssen. Jedenfalls bei Entscheidungen über eine Straf(rest)aussetzung oder die Senkung eines zu verbüßenden Strafmaßes könnte man es sich sub specie (gesellschaftlichen Interesses an) Spezialprävention nur dann so einfach machen, wenn es die tendenziell desozialisierenden Wirkungen des Strafvollzugs nicht gäbe. Trägt man jedoch dieser Erkenntnis Rechnung und läßt spezialpräventive Straf(maß)modifizierungen auch bei fehlender Individualprognose zu, dann läuft das dem Interesse an einer exakten spezialpräventiven Strafzumessung zuwider, da es die Bereitschaft zur M i t w i r k u n g an der hierfür nötigen Prognoseerstellung mindert. Schließlich ist wenigstens noch zu erwähnen, daß das Erfordernis der individualprognostischen Fundierung aller Strafzumessungsentscheidungen das ohnehin schon bestehende prozeßrechtliche Problem der „praktisch vielfach beherrschenden Stellung" des Sachverständigen i m Strafverfahren, „die sich namentlich i m Bereich der diagnostischen und therapeutischen Täterbeurteilung mit der Konzeption des Gesetzes kaum in Einklang bringen l ä ß t " 4 2 9 , erheblich verschärfen würde430. 427 Eine Regelung liegt zwar schon für § 57 a StGB vor: § 454 I 5 StPO: verweigert der Verurteilte die erforderliche Mitwirkung, dann darf die Strafe nicht ausgesetzt werden (Rspr.-N. bei Κ / Meyer, § 454 Rn. 37; Sch / Sch / Stree, § 57 a Rn. 12). Aber diese Vorschrift müßte hinsichtlich der empirischen Delegitimation der Individualprognose beseitigt, davon abgesehen nach Maßgabe der folgenden Überlegungen novelliert werden. 428 N. oben S. 75 Fn. 419. 429 Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 178. 430 Vgl. Krauß, Sachverständiger, S. 334 f.; Rüping, Strafverfahren, S. 61 f.; Fezer, Strafprozeßrecht II, Fall 12 Rn. 68 f.; Schreiber AK-StPO Vor § 72 Rn. 8, je m. w. N. S. auch Bruns, RdStrZ, S. 10. Soweit sich die klinische Prognose qualitativer (auch nicht-standardisierter interpretativer) Verfahren bedient (Krauß, Sachverständiger, S. 336 f.; s. auch Leferenz, Kriminalprognose, S. 1377: „Der forensische Psychiater sollte . . . kraft seiner Ausbildung imstande sein, kriminogene Persönlichkeitsstrukturen mit unmittelbarer Evidenz zu erfassen"; Bock, Prognostische Entscheidungen, S. 461 ff.: wertbezogene „Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse" (S. 461 Sp. 2)) — und es gibt gute Gründe, anzunehmen, daß sie für eine valide Individualprognose unverzichtbar sind (s. Lösel, Täterpersönlichkeit, bes. S. 477 ff.; Böllinger, Prognosepro-

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell Die Spezialprävention ist nach alledem als unmittelbar zu verfolgendes Ziel

der Strafzumessung empirisch nicht zu rechtfertigen. Aber auch wenn ein empirisch legitimierendes hinreichend valides Individualprognoseverfahren zur Verfügung stünde, verlangten normative Prinzipien eine beträchtliche Einschränkung der Prognoserelevanz und eine wesentliche Änderung der prognosefordernden Vorschriften. I I I . Fazit Unmittelbar-präventive Strafzumessung begegnet nicht nur weitgehend durchgreifenden normativen Einwänden (vor allem aus dem grundgesetzlich verankerten Menschenwürdegrundsatz, Art. 1 GG); sie kann gar nicht betrieben werden, zumindest nicht in der erforderlichen methodologisch akzeptablen und verläßlichen Weise, und ist deshalb empirisch vollständig — und damit bereits i m ganzen — delegitimiert. Das Problem der Strafzielantinomie braucht daher hier, d. h. als Problem der Rechtsanwendung, nicht weiter behandelt zu werden. Da es dem Richter somit weder möglich ist, ein zweckfreies Schuldrahmenstrafmaß zu bestimmen 4 3 1 , noch, innerhalb dieses Rahmens bei der endgültigen Strafhöhenfestsetzung und bei der Strafzumessung i m weiteren Sinn präventive Strafziele unmittelbar zu realisieren, bedeutet das: das herrschende Strafzumessungsmodell ist als Programm richterlicher Entscheidungsherstellung undurchführbar.

§ 2. Die praktische Relevanz Implementationsunfähigkeit kennzeichnet nicht nur die Schuldrahmentheorie, sondern auch alle prognosefordernden Vorschriften. Da das Prognoseerfordernis durch keine Interpretation v ö l l i g geleugnet werden k a n n 4 3 2 , bedeutet das — abgesehen von der Legitimitätsfrage i m ganzen — , daß sich ein implementationsfähiges Strafzumessungsprogramm nicht allein durch ein konsistentes und empi-

bleme, S. 291 /290; 297 f.; Lüderssen, Kriminologie Rn. 901 ff.; aber auch Göppinger, Kriminologie, S. 339 („fehlt bis jetzt noch an dem . . . Nachweis der Überlegenheit des einen oder anderen Vorgehens innerhalb der klinischen Prognosestellung"); vgl. auch die allgemeine methodologische Bewertung bei Soeffner, Auslegung des Alltags, S. 51 ff., bes. S. 59 ff.) —, dürfte das die ohnehin fragwürdige Annahme, der Richter prüfe und würdige das Sachverständigengutachten in fachlicher Hinsicht (s. nur Schreiber AK-StPO Vor § 72 Rn. 8), vollends zur Fiktion machen (vgl. Spieß, Kriminalprognose, S. 256; Steller, Forensische Begutachtung; Kögler, Unbestimmtheit, S. 103 m. N.). 431 S. oben S. 19 ff. Ganz abgesehen davon, daß es ihm — wie z. B. die Strafrahmen und die §§20, 21 StGB zeigen — ja gar nicht erlaubt ist. 432 Auch Frisch, der die Normativierung wohl am weitesten treibt — und dabei die Wortlautauslegung ziemlich strapaziert —, behauptet nur, daß im Regelfall, nicht aber, daß überhaupt auf Einzelfallprognosen verzichtet werden dürfte: Prognoseentscheidungen, S. 59. S. auch oben S. 75 Fn. 415.

§ 2. Die praktische Relevanz

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risch instruiertes Verständnis der geltenden Strafzumessungsvorschriften erreichen läßt, sondern daß Überlegungen de lege ferenda anzustellen sind. Auch hinsichtlich solcher Überlegungen empfiehlt es sich, zunächst noch die Praxis der Strafzumessung in den B l i c k zu nehmen. Die Aufhellung der tatsächlichen richterlichen Entscheidungsherstellung führt nämlich nicht nur zu einer konkretisierenden Bestätigung der bisherigen Untersuchung. Ein differenzierteres B i l d der realen Entscheidungsdeterminanten gibt zudem Aufschluß darüber, wie sich der Strafrichter zu dem herrschenden M o d e l l verhält, d. h. ob und inwieweit er es modifiziert, substituiert oder ignoriert. Die Analyse der richterlichen Rechtsfindung informiert also darüber, auf welche entscheidungsleitenden Faktoren und Handlungsmuster sich andere Strafzumessungskonzeptionen (de lege ferenda) stützen können bzw. welche ihnen entgegenstehen, und schafft somit die Voraussetzung zur Beurteilung von Implementationschancen. A u c h von der Beleuchtung der faktischen Entscheidungsdarstellung sind nicht nur entbehrliche Einsichten zu erwarten. Denn es ist keineswegs klar, daß das herrschende Modell die Darstellung beherrscht, und es ist auch eher auszuschließen, daß es die Darstellung in der hier hinsichtlich der Kriterien empirischer und normativer Legitimität entfalteten anspruchsvollen Form beherrscht und wegen fehlender Verbindung mit der Herstellung dadurch die rechtliche Kontrolle der Strafzumessung vollständig verhindert. Daß der B G H wesentlicher Miturheber des herrschenden Modells i s t 4 3 3 , besagt nur, daß dieses Modell in der Darstellung erscheint, nicht aber, in welchem Umfang, m i t welchem Stellenwert und ob mit Notwendigkeit. Und die zum Teil leicht sichtbaren erheblichen Unzulänglichkeiten des herrschenden Modells legen es nahe, daß sich das faktisch herstellungsleitende Programm in gewissem Umfang und in spezifischer Weise in der Entscheidungsbegründung niederschlägt. Sofern diese Vermutung bestätigt w i r d und sich herstellungsrepräsentative Darstellungsbestandteile feststellen lassen, ermöglicht das die Beurteilung der rechtlichen (revisionsgerichtlichen) Kontrollierbarkeit der jeweils korrespondierenden praktisch wirksamen Herstellungsdeterminanten und damit der Kontrollierbarkeit der Konzeptionen, die auf solche Determinanten aufbauen wollen.

4 33 Zur Rspr. zur Schuldrahmentheorie und zu den Strafzwecken bis zum 1. StRG Bruns, StrZR, S. 230 ff.; Μ / G / Zipf, A T / 2 § 62 Rn. 1 ff.; zu § 46 I I StGB als kodifizierte Rspr. Jescheck, A T § 82 IV 3; vgl. Bruns, NStrZR?, S. 8.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

A. Die Herstellungsrelevanz I . Die Festsetzung der Strafhöhe 1. Die Prädominanz von Tatschwere und Vorstrafenbelastung Bei der Festsetzung der Strafhöhe läßt sich die richterliche Praxis, was zu erwarten war, nicht von einem präventionsfreien Schuldbegriff, sondern von dem gesetzesadäquaten herrschenden Schuldverständnis leiten. Das Strafmaß w i r d vor allem durch die Faktoren Tatschwere (Ausmaß des Erfolgsunrechts, Tatbegehungsart) und Vorstrafenbelastung (einschlägige wie nicht-einschlägige 4 3 4 ) bestimmt. Diese radikale Reduktion der zumessungsrelevanten Faktoren findet sich nicht nur bei der Massenkriminalität 4 3 5 ' 4 3 6 , sondern ebenso bei schwerer Kriminal i t ä t 4 3 7 einschließlich vorsätzlicher Tötungsdelikte 4 3 8 . Die Prädominanz der Tatschwere und der Vorstrafenbelastung erklärt sich wohl daraus, daß diese beiden Merkmale zugleich die praxisbeherrschenden Vorstellungen von gerechter und zweckmäßiger Bestrafung hinreichend umfänglich und intensiv repräsentieren 439 , auf relativ einfache und gewohnte Weise zu operationalisieren sind und von unerfüllbaren Begründungsanforderungen freistellen 4 4 0 . Durch die Orientierung an der Höhe des verschuldeten Unrechts sieht sich die Praxis imstande, auf einfach handhabbare Weise eine gerechte wie i m Normalfall generalpräventiv zweckmäßige Strafe zuzumessen 4 4 1 . Indem sie die

434 R. Hassemer, Bestimmungsgründe, S. 28; Pallin / H.-J. Albrecht / Fehérvàry, Strafe, S. 169, 282, 294, 298. 435 Vgl. Giehring, Straftatfolgen, S. 199 („vor allem im Bereich der Massenkriminalität"). 436 Gleichermaßen für Freiheitsstrafe, Geldstrafe und Fahrerlaubnisentziehung: Schöch, Strafzumessungspraxis, S. 74 f., 144; H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei Geldstrafen, S. 308 f.; R. Hassemer, Bestimmungsgründe, bes. S. 25 f., 28. S. auch H.-G. Meine, Steuerhinterziehung; dens., Unterstützungsbetrug; B.-D. Meier, Strafzumessung bei Rückfallkriminalität, S. 1350. 437 So das Ergebnis von eingehenden (vergleichenden) Aktenanalysen in Deutschland und Österreich: Pallini H.-J. Albrecht ! Fehérvàry, Strafe, S. 112 ff., 168 ff., 294. 298; H.-J. Albrecht, Strafzumessung Deutschland / Österreich, S. 69; ders., Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 614, 610. Was an der österreichischen Praxis besonders interessant ist, rechtfertigt auch deren Berücksichtigung: nämlich, daß sie ungeachtet der engeren Strafrahmen und differenzierteren Strafzumessungsvorschriften im ÖStGB dasselbe faktisch wirksame Entscheidungsprogramm aufweist wie die deutsche Praxis (vgl. H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 607 f., 609 ff.). 438 Sessar, Tötungskriminalität, S. 203, 209 (für die Entscheidung zwischen §§ 211 und 212 wie für die Höhe bei § 212 StGB). 439 Vgl. Kerner, Normbruch und Auslese, S. 147; Pallin / H.-J. Albrecht I Fehérvàry, Strafe, S. 276 f. 440 R. Hassemer, Sanktionsentscheidungen, S. 27 f.; K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 34; H.-J. Albrecht, Strafzumessung Deutschland / Österreich, S. 69 f. 44 1 Vgl. K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 35.

§ 2. Die praktische Relevanz

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Vorstrafenbelastung — auch nach Aufhebung des § 48 StGB unverändert 4 4 2 — hauptsächlich als strafschärfenden Schuldsteigerungsfaktor 443 verwendet, kann die Rechtsprechung die vor allem angesichts rückfälliger Täter für notwendig erachteten Strafschärfungen vornehmen, ohne das i m Hintergrund stehende, durch eine diffuse Mischung aus Generalprävention, Spezialprävention und Vergeltung bestimmte M o t i v 4 4 4 operationalisieren und begründen bzw. der Verletzung des Schuldüberschreitungsverbots gewahr werden zu müssen. Die Konzentration auf die vergleichsweise verläßlich objektivierbaren und komparativ quantifizierbar e n 4 4 5 Faktoren Tatschwere und Vorstrafenbelastung ermöglicht es der Rechtsprechung, (mithilfe von Taxenpapieren bei Massendelikten 4 4 6 und über die Orientierung an der ortsüblichen Spruchpraxis i m übrigen 4 4 7 ) eine relativ gleichmäßige Strafzumessungspraxis 448 , d. h. wenn schon nicht die absolute, so doch wenigstens eine relative Gerechtigkeit 4 4 9 zu erreichen. Da diese beiden Faktoren durchweg die Selektionsprozesse i m Strafverfolgungsgang beherrschen 4 5 0 , stützt sich die Rechtsprechung zudem auf ein Bewertungsmuster, das eine weitgehende justizinterne Entscheidungskonsonanz gewährleistet. Der Richter w i r d deshalb z. B. i m Hinblick auf die Dauer der Untersuchungshaft, jedenfalls bei vorbestraften Tä-

442 S. nur BGH NStZ 1988, 125 Sp. 2 (126 Sp. 1), sowie Bruns, NStrZR?, S. 59; G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 275 ff.; D/Tröndle, § 46 Rn. 24 a, je m. w. Rspr.-N. 443 Vgl. B.-D. Meier, Strafzumessung bei Rückfalltätern, S. 1343, 1347 f. 444 s. oben S. 42. 445 K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 34. 446 Hassemer, Sanktionsentscheidungen, S. 30 ff.; K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 35 f.; Lackner, Entwicklungen, S. 9. 447 H.-G. Meine, Strafzumessung, S. 95; Grasnick, Strafzumessung als Argumentation, S. 84 Sp. 2; P. Albrecht, Skepsis, S. 392 f.; K. Peters, Strafzumessung, S. 134 Sp. 2 f.; vgl. H.-J. Albrecht, Gleichmäßigkeit, S. 1324 f. 448 Die oft beklagte Ungleichmäßigkeit zeigt sich wohl hauptsächlich beim interlokalen (s. die Zusammenstellung bei Streng, Strafzumessung, S. 6 ff.; S. 8 dazu, daß manche Untersuchung nicht überprüft, ob die verglichenen Delikte die gleiche Schwere hatten), viel weniger jedoch beim intralokalen Vergleich (Pallin / H.-J. Albrecht / Fehérvàry , Strafe, S. 216 f.; H.-G. Meine, Steuerhinterziehung; zur relativen Gleichförmigkeit auch bei interlokalen Vergleichen sowie zu methodologischen Fragen — Aktenanalyse vs. fiktive Fälle — vgl. H.-J., Albrecht, Gleichmäßigkeit, S. 1321, 1307 ff.; dens., Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 605 Fn. 37; Theune, Vergleichende Strafzumessung, S. 149: relative Gleichmäßigkeit der Strafzumessung zum Totschlag im Zuständigkeitsbereich des 2. Strafsenats des BGH). Ursache dürfte die fehlende Information über die Spruchpraxis der anderen Gerichtsbezirke sein; vgl. Theune, Vergleichende Strafzumessung, S. 152; K.-L. Kunz, Strafbemessung, S. 35 f. 449 Zur großen eigenständigen Bedeutung dieses Ziels Giehring, Ungleichheiten, S. 80 m. vielen N. 450 Kerner, Normbruch und Auslese, S. 147 f.: Von der polizeilichen Strafverfolgung (Sessar, Tötungskriminalität, S. 211; vgl. Kreuzer, Sanktionensystem, S. 174) über die Untersuchungshaftentscheidung (Tatschwere nicht als legaldefinierter Haftgrund gem. § 112 I I I StPO, sondern als apokrypher Grund der Bejahung der Fluchtgefahr: vgl. K / Meyer, § 112 Rn. 23 ff., bes. 25 m. Rspr.-N., sowie Anagnostopoulos, Haftgründe, S. 20 f.) bis zur tatbestandlichen Einordnung (Sessar, Tötungskriminalität, S. 203, 209). 6 Hart-Hönig

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

t e r n 4 5 1 , kaum der Irritation durch eine dissonante, d. h. eine die Höhe der vorgesehenen Strafe übersteigende Straferwartung des Haftrichters 4 5 2 ausgesetzt 453 ; und er sieht sich daher i m allgemeinen auch nicht zu einer konformitätsgeneigten 4 5 4 Überprüfung seiner Strafmaßentscheidung — und damit auch der zugrundeliegenden Kriterien — genötigt. Schließlich ist der positive Zusammenhang zwischen defizitärer sozialer Lage bzw. Sozialisation und Vorstrafenbelastung so d i r e k t 4 5 5 , daß sich die Praxis nicht bemüßigt fühlt, ihrer auf die Sozialbiographie und das Sozial verhalten ausgerichteten Kriminalitäts- und Präventions Vorstellungen 456 wegen sozialen Merkmalen eine eigenständige Strafmaßrelevanz einzuräumen 4 5 7 .

2. Der eigenständige Einfluß präventiver Erwägungen Die Absorption spezialpräventiver Motive durch das Kriterium Vorstrafenbelastung schmälert den eigenständigen Einfluß spezialpräventiver Erwägungen auf die Strafhöhe ganz erheblich. Strafschärfend wirkt sich die Spezialprävention nahezu ausschließlich mittelbar über die vorgeblich schulderhöhende Berücksichtigung des Rückfalls aus 4 5 8 . Sofern Richter überhaupt selbständige spezialpräventive Strafmilderungen in Betracht ziehen 4 5 9 , beschränken sich diese Überlegungen i m allgemeinen darauf, aus den der Tatschwere und Vorstrafenbelastung entsprechenden Strafhöhen diejenigen auszuwählen, von denen sie die geringsten desozialisierenden Wirkungen erwarten. Die Richter, welche sich nicht von den Strafzielen der Sicherung oder (individuellen) Abschreckung leiten lassen, erstellen hierzu keine individuellen Sanktionswirkungsprognosen, sondern neigen — wohl eingedenk der allgemeinen Erkenntnisse über die schädlichen Wirkungen

451 Zu nicht vorbestraften Tätern vgl. Pallin I H.-J. Albrecht / Fehérvàry , Strafe, S. 181, 206. 4 52 Vgl. Κ /Meyer, § 112 Rn. 11, 23. 453 S. Kerner, Untersuchungshaft, S. 554,557; Hermann / Kerner, Entscheidungen im Strafverfahren, S. 206; vgl. Pallini H.-J. Albrecht I Fehérvàry, Strafe, S. 176 ff., 206; H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 615; Stratenwerth, A T I I (CH) § 7 Rn. 80. 4 4 ^ Zu Konformitätsneigung und Konformitätsdruck s. die Ergebnisse der Befragung einer Zufallsstichprobe von Strafrichtern: H.-J. Albrecht, Gleichmäßigkeit, S. 1322 ff.; vgl. Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 183 f. 4 55 S. nur Müller-Dietz, Strafvollzug, S. 452. 4 56 S. oben S. 68 ff.; vgl. Mikinovic I Stangl, Strafprozeß und Herrschaft, S. 93, 96 ff., 82 ff.; D. Peters, Richter im Dienst der Macht, S. 61 f., 60 ff., 96 ff., 106 ff. ^ H.-J. Albrecht, Gleichmäßigkeit, S. 1304; Pallini H.-J. Albrecht I Fehérvàry , Strafe, S. 184 ff., 203 ff., 206. 4 58 Vgl. G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 359; zu Ausnahmen (z. B. Strafmaßerhöhung, um Berufsausbildung zu ermöglichen) s. W. Hassemer, Formalisierung, S. 80 f. 459 Über die Hälfte der von Streng, Strafzumessung, Befragten hielten eine Prognose gem. § 46 I 2 StGB für nicht entscheidungsmaßgeblich: S. 212, 355 (Frage 19), 383 (Var 043).

§ 2. Die praktische Relevanz

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des Vollzugs — schlicht dazu, eine milde und zudem möglichst aussetzungsfähige (oder auch z. B. disziplinarrechtlich unbeachtliche) Strafe zu verhängen 4 6 0 . Dieses Bestreben, entsozialisierende Wirkungen der Bestrafung zu vermeiden, drängt die Richter aber wohl nur ausnahmsweise zu einer signifikanten Unterschreitung der — aufgrund der durch die Konzentration auf Tatschwere und Vorstrafenbelastung erreichten relativ gleichmäßigen Strafzumessungspraxis wenigstens ungefähr fixierbaren — Untergrenze des Strafmaßspielraums, i m wesentlichen angesichts von Fällen, bei denen eine Vollstreckung der Strafe als offensichtlich verfehlt, d. h. aus Gründen der Zweckmäßigkeit wie der Gerechtigkeit zweifelsfrei unangemessen, angesehen w i r d 4 6 1 . Infolge der Absorption generalpräventiver M o t i v e durch die beiden praxisbeherrschenden Strafmaßkriterien ist auch die Bedeutung von eigenständigen generalpräventiven Erwägungen als eher gering einzustufen 4 6 2 . Die Praxis sieht sich in der Regel nicht veranlaßt, dem generalpräventiven Strafzweck anders Rechnung zu tragen als durch die strafschärfende Berücksichtigung von Vorstrafen und dadurch, daß sie innerhalb des Strafmaßspielraums — wenn sie sich v o m Strafziel der Abschreckung oder der Integrationsgeneralprävention hinsichtlich leichterer Delikte leiten läßt — eine tendenziell strenge 4 6 3 oder — bei integrationsgeneralpräventiver Ausrichtung hinsichtlich schwerer Delikte — eine tendenziell milde Strafe verhängt 4 6 4 4 6 5 . Die Prävention verschafft sich demnach fast nur über die Berücksichtigung der Vorstrafenbelastung und innerhalb des durch die Tatschwere und die Vorstrafenbelastung abgesteckten Strafmaßspielraums Geltung. Daß die Prävention derart als nicht unmittelbar und normativ unbegrenzt strafmaßdeterminierend auftritt, ändert freilich nichts daran, daß sie das Strafmaß unmittelbar und normativ (relativ) unbegrenzt bestimmt. Denn die strafschärfende Berücksichtigung der

460 Streng, Strafzumessung, S. 212, 214; vgl. E. Horn, „Bewährungsstrafe", S. 81 Sp. 2; G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 360. Zur Tendenz, bedingte Strafen strenger zu bemessen, Pallin I H.-J. Albrecht / Fehérvàry, Strafe, S. 225. 461 Exemplarisch BGHSt 29, 319 (321). 462 Vgl. H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 614. 463 Streng, Strafzumessung, S. 217 ff., 220 f. 464 Streng, Strafzumessung, S. 220 f. 465 Strafmilderungen wegen unangemessen langer Verfahrensdauer und bei Tatprovokation durch polizeilich gesteuerte V-Leute (Rspr.-N. bei G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 356 f.) fallen aus dem Rahmen. Sie lassen sich zwar mit generalpräventiven Beweggründen (i. S. einer Konfundierung von Gerechtigkeit und Prävention) erklären, werden von der Rspr. aber nur vorgenommen, soweit sie sich bei diesen Konstellationen nicht zu rechtsstaatlich und dogmatisch überzeugenden Lösungen (bzgl. Verfahrensdauer: Verfahrenshindernis — vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht § 16 C (S. 89) m. w. N. —, bzgl. Tatprovokation: Verfahrenshindernis, unter bestimmten Umständen sogar Freispruch — vgl. Lüderssen, Zynismus, Borniertheit oder Sachzwang?, S. 36, 25 ff.; den Uberblick über die unterschiedl. Auffassungen und den Diskussionsstand bei Roxin, Strafverfahrensrecht § 21 Β I I I 4 und E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 147) durchringen kann.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Vorstrafenbelastung ist weder aus Schuld- noch aus Unrechtsgesichtspunkten zu rechtfertigen 4 6 6 , d. h. die Vorstrafenbelastung hat — anders als das (rechtsgutorientierte) Unrecht — keinen normativen Gehalt, der sich bei deren strafschärfender Berücksichtigung aus präventiven Gründen präventionsbindend und begrenzend auswirken könnte. U n d auch wenn die eigenständigen präventiven Strafschärfungen den „Schuldrahmen" respektieren, so führen sie dennoch zur Überschreitung des durch die Rahmenuntergrenze bezeichneten Maßes der aus Schuldgründen notwendigen Strafe. Dieser unmittelbare Einfluß der Prävention ist insofern groß, als die Rechtsprechung auf die Vorstrafenbelastung Strafschärfungen von 50% und m e h r 4 6 7 stützt und der Spielraum für eine Strafschärfung innerhalb des Schuldrahmens auch bei einer relativ gleichförmigen Spruchpraxis j e nach Deliktsart bis zu ca. einem Jahr betragen k a n n 4 6 8 . Dennoch ist diese präventive Strafmaßdetermination nicht so groß, daß sie die wegen Vorstrafenbelastung verschärften Strafen aus dem unteren, überwiegend sogar untersten Strafrahmenbereich heraustreibt, den die Praxis als dem verschuldeten Unrecht der faktischen typischen Regelfälle angemessen erachtet 4 6 9 . Die Praxis der Strafhöhenbestimmung ignoriert also die unrechtsinkongruenten Überhöhungen der Strafrahmen — j a sie mißachtet, wie die UmgehungsStrategien bei § 211 S t G B 4 7 0 und die Gesamtwürdigung bei der Strafrahmen w ä h l 4 7 1 zeigen, sogar unrechtsinkongruente Strafdrohungen i m ganzen — , und sie gewährt der Prävention zwar großen unmittelbaren Einfluß, aber dennoch nur so viel, daß die Unrechtsadäquanz der Strafe jedenfalls i m Kern erhalten bleibt; zudem handhabt die Praxis die Strafschärfung i m allgemeinen relativ gleichmäßig, d. h. auf aktuelle Kriminalitätsentwicklungen und individuelle Tätermerkmale w i r d nur innerhalb des üblichen, relativ eng gehaltenen Spielraums reagiert.

466 s. oben S. 40 ff. 46? Vgl. Pallini H.-J. Albrecht ! Fehérvàry, Strafe, S. 289. 468 Vgl. Pallini H.-J. Albrecht I Fehérvàry, Strafe, S. 217. 4 69 H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 610; ders., Strafzumessung bei Geldstrafen, S. 26 ff. (referiert auch ältere Untersuchungen); K. Peters, 41. DJT, S. 15 f; vgl. Dreher, Strafrahmen, S. 161 f.; Sarstedt, 41. DJT, D. 44 f.; K. Peters, Praxis, S. 53 f.; E. Horn, Strafschärfung und Strafmilderung, S. 169 Sp. 2; Montenbruck, Abwägung und Umwertung, S. 55 f. m. w. N. Auch bei engen Strafrahmen besteht eine starke Tendenz nach unten: zu Österreich Pallin / H.-J. Albrecht I Fehérvàry, Strafe, S. 209 ff., 289; vgl. M / G ! Zipf, A T / 2 § 62 Rn. 45, 13. 470 S. Eser, 53. DJT, D 53 ff., und w. N. oben S. 26 Fn. 88; zur in BGHGSSt 30, 105 entwickelten „Rechtsfolgenlösung 4', welche beim Vorliegen außergewöhnlicher schuldmindernder Umstände den Strafmilderungsrahmen des § 49 I Nr. 1 StGB eröffnet, s. m. N. Sch / Sch / Eser, § 211 Rn. 10 a f., 57; vgl. Müller-Dietz, Mord, S. 576. 471 S. E. Horn, Gesamtwürdigung, S. 579 ff.; vgl. m. w. (Rspr.-)N. Timpe, Strafmilderungen, S. 32 ff.; Bergmann, Milderung, S. 20 ff.

§ 2. Die praktische Relevanz

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3. Ausnahmen von der regelmäßig unrechtszentrierten Strafhöhenbestimmung V o n dieser relativ gleichförmigen, distanzierten und unrechtszentrierten Generallinie weicht die Rechtsprechung nur ausnahmsweise ab, wenn sie mit T a t e n 4 7 2 , Tätern 4 7 3 oder Kriminalitätsformen konfrontiert wird, die s i e 4 7 4 als dermaßen atypisch oder bedrohlich 4 7 5 wahrnimmt, daß die Strafzwecke der Generalprävention, vor allem der Abschreckung, und der Sicherung 4 7 6 derart in den Vordergrund treten, daß sie m e i n t 4 7 7 , das Strafmaß auch u n t e r 4 7 8 Nutzung der sich diesen Strafzwecken 4 7 9 verdankenden unrechtsinkongruenten (oberen) Strafrahmenbereiche festsetzen bzw. über die sonst beachteten Grenzen hinaus schärfen zu müssen. I I . Die Strafzumessung i m weiteren Sinn 1. Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) Der bei der Strafhöhenfestsetzung schuldsteigernd berücksichtigte Faktor Vorstrafenbelastung beherrscht als wesentlicher spezialpräventiver Rückfallindikator auch die Strafaussetzung zur Bewährung 4 8 0 . Je häufiger, einschlägiger und in kürzeren Abständen der Täter rückfällig wird, desto ungünstiger fällt die Prognose gemäß § 56 I StGB aus 4 8 1 . 4 72 Z. B. einen durch nichts gemilderten „besonders verwerflichen Mord"; vgl. BGHSt 23, 119 und dazu W. Hassemer, Mordmerkmale. 473 z. B. Drogenhändlern aus Ländern, in denen „drakonische Strafen" üblich sind; vgl. BGH NStZ 1982, 112 m. Anm. Wolfslast. 474 — überhaupt (z. B. Betäubungsmittelkriminalität: vgl. oben S. 114 Fn. 473 und BGH NStZ 1983, 501 Sp. 1; Ό/Tröndle, § 46 Rn. 6 a; oder Raub: vgl. — insb. zur „Scheinwaffen"-Rspr. Lüderssen, Steuerungsfunktion, S. 162; BGH StrVert 1990, 546 Sp. 2 f. (Schwerer Raub trotz Einsatzes einer vom Opfer als solche erkannten Scheinwaffe) m. Anm. Herzog, je m. w. N.) oder wegen ihres ungewöhnlichen, ζ. B. erheblich häufigeren Auftretens (vgl. die hiermit sich rechtfertigende Rspr. zur generalpräventiven Strafschärfung: BGHSt 17, 321 (324); BGH NStZ 1986, 358). 475 Vgl. Streng, Strafzumessung, S. 171 ff.; Burgstaller, Regionale Unterschiede, S. 11 f.; Pallin / H.-J. Albrecht / Fehérvàry, Strafe, S. 49. 476 Vgl. zu den parallelen Tendenzen bei der Gesetzgebung Lüderssen, Steuerungsfunktion, S. 162 f. 477 — d. h. ohne empirische Legitimationsgrundlage sich veranlaßt sieht — 478 — genereller (ζ. B. bei Betäubungsmittelkriminalität) oder spezieller (ζ. B. bei §211 StGB) — 479 — bzw. überschießend-symbolischer Gesetzgebung, d. h. einer Gesetzgebung, in der die symbolische Komponente das für die instrumentelle Effektivität bzw. für die adäquate Kennzeichnung des Unrechts erforderliche Maß übersteigt, in der über die symbolische Komponente latent „andere als die von der Norm bezeichneten Zustände realisiert werden" sollen (W. Hassemer, Symbolisches Strafrecht, S. 556 Sp. 1; vgl. ebenda, S. 555 f., 558 Sp. 2 f.); s. oben S. 33 ff. 480 H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 615 f.; Pallin / H.-J. Albrecht ! Fehérvàry, Strafe, S. 224, 228.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

Fällt die auf zweifelhafter kriminologischer Grundlage intuitiv erstellte 4 8 2 — und wegen der Außerachtlassung der voraussichtlichen Wirkungen des Vollzugs ohnehin rechtsstaatlich und spezialpräventiv bedenkliche 4 8 3 — Prognose günstig aus, so führt dies tendenziell gleichermaßen zur Aussetzung von Freiheitsstrafen von nicht mehr als einem Jahr (§ 56 I 1 StGB) wie zur Aussetzung von Freiheitsstrafen, die zwei Jahre nicht übersteigen (§ 56 I I StGB). Die in § 56 I I formulierte Voraussetzung, daß „nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen" müssen, ist für die Aussetzungsentscheidung tendenziell irrelevant 4 8 4 . Trotz einer günstigen Prognose w i r d die Aussetzung in Fällen, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten geahndet worden sind, versagt, wenn die „Verteidigung der Rechtsordnung" dies gebietet (§ 56 I I I StGB). A u f dieses generalpräventive 4 8 5 Korrektiv greift die Praxis zurück, wenn „schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalls" vorliegen, angesichts derer eine Strafaussetzung „für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müßte und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen A n g r i f f e n . . . erschüttert werden k ö n n t e " 4 8 6 . Welche Besonderheiten zu berücksichtigen sind, ermittelt die Rechtsprechung freilich nicht durch empirische Erforschung des Empfindens der „ v o n dem Sachverhalt v o l l und zutreffend unterrichtete[n] B e v ö l k e r u n g " 4 8 7 . Sie versetzt sich stattdessen in die „Rolle eines (fiktiven) verständigen Betrachters" 4 8 8 und schreibt denjenigen Merkmalen eine die Versagung der Strafaussetzung gebietende Bedeutung zu, welche die Gesinnung der Bevölkerung erschüttern sollten 4 8 9 . U n d das Rechtsvertrauen sollte vor allem erschüttert werden durch

481 Vgl. die Rspr.-N. bei Μ / G / Zipf, AT / 2 § 64 Rn. 21 ; G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 113. 482 Fenn, Kriminalprognose, S. 732 ff.; vgl. G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 109; Sch / Sch / Stree, § 56 Rn. 15 a; Lüderssen, Strafaussetzung, mit einer Zusammenstellung typischer prognostischer Erwägungen, S. 372 ff. Jedenfalls in der Tendenz — Wissenschaft nicht zu einer (besseren) Prognose befähigt — wohl immer noch repräsentativ die zur Strafrestaussetzung ergangenen Entscheidungen KG NJW 1972, 2228 Sp. 2; KG NJW 1973, 1420 Sp. 2 (s. dazu Müller-Dietz, Sozialprognose; Sonnen, Sozialprognose); vgl. BGH NStZ 1990, 334 Sp. 2 (zur Gefährlichkeitsprognose gem. § 66 I Nr. 3 StGB). 483 S. oben S. 70 ff. 484 E. Horn, Gesamtwürdigung, S. 577 ff.; vgl. zur Novellierung des § 56 I I StGB und der Rechtsprechungsentwicklung G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 122 ff. 485 i m ganzen sieht die Rspr. von der „Verteidigung der Rechtsordnung" die Abschrekkungs- und die Integrationsgeneralprävention umfaßt: vgl. BGHSt 34, 150 (151) sowie die Rspr.-N. bei D/Tröndle, § 46 Rn. 6 a; s. oben S. 50 Fn. 254. 486 BGHSt 24, 64 (66); fast wortgleich 24, 40 (46). 487 BGHSt 24, 64 (69). 488 BayObLG JR 1978, 513 (514 Sp. 2) m. Anm. E. Horn; vgl. OLG Celle JR 1980, 256 m. Anm. Naucke. 489 Vgl. Giehring, Straftatfolgen, S. 209; Haffke, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 67 f.; Maiwald, Verteidigung der Rechtsordnung, S. 66 ff.

§ 2. Die praktische Relevanz

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Taten und Täter, welche die Rechtsprechung als außergewöhnlich rechtsmißachtend und bedrohlich wahrnimmt und welche sie deshalb intuitiv unter den Gesichtspunkten der Generalprävention 4 9 0 außergewöhnlich nachdrücklich, d. h. hier durch die Vollstreckung der Strafe, meint sanktionieren zu müssen: durch ein „besonders hartnäckige[s] rechtsmißachtende[s] Verhalten" des Täters 4 9 1 , eine Tat, die geeignet ist, „den öffentlichen Frieden besonders zu gefährden" 4 9 2 oder eine Tat, die „Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen erheblichen Unwertgehalt gekennzeichnete N o r m nicht ernst nimmt und von vornherein auf die Strafaussetzung vertraut" 4 9 3 .

2. Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) Die Strafartentscheidung nach § 47 StGB wird primär — unter speziai- wie generalpräventivem 4 9 4 Aspekt — an der Vorstrafenbelastung 4 9 5 , sekundär daran ausgerichtet, ob es möglich erscheint, triftig zu begründen, daß „besondere U m stände . . . die Verhängung einer Freiheitsstrafe . . . unerläßlich machen" (Abs. I ) 4 9 6 . Die Entwicklung der Strafhöhenanteile nach V e r k ü n d u n g 4 9 7 bzw. Inkrafttreten des § 47 (§ 14 a. F . 4 9 8 ) StGB läßt nämlich den Schluß zu, daß die Praxis, wenn sie die Verhängung einer Freiheitsstrafe für angebracht hält, aber Schwierigkeiten sieht, die Unerläßlichkeit zu begründen, dazu neigt, bei Strafhöhen, die

490 Sofern die Rspr. der Schwere der Schuld „(mittelbare) Bedeutung" zumißt (so BGHSt 24, 40(44)), rekurriert sie hauptsächlich auf die „erhebliche verbrecherische Intensität" (ebenda, 47; BGH NStZ 1985, 165 Sp. 2), so daß sich auf diesem Weg ebenfalls die Generalprävention Geltung verschaffen dürfte (Walter, Bestimmung, S. 504 ff., 508 f.). 491 Behauptet z. B. bei fortgesetzt in zahlreichen Einzelakten verübter Volksverhetzung (BGH NStZ 1985, 165 Sp. 2). 492 z. B. bei besonders auffällig angebrachten NS-Emblemen und gravierenden volksverhetzenden Parolen (BGH NStZ 1985, 165 Sp. 2). 493 BGHSt 24, 40 (47). Eine solche Einstellung wird in Betracht gezogen z. B. bei Trunkenheitsfahrt mit schweren Unfallfolgen (BGHSt 24, 64 (67 f.)), Steuerhinterziehung beträchtlichen Ausmaßes (BGH NStZ 1985, 459) und Kindesmißhandlung (OLG Koblenz GA 1975, 121). 494 Daß die Vorstrafenbelastung nur in besonderen Konstellationen bei § 56 StGB / Verteidigung der Rechtsordnung auftaucht, liegt daran, daß das intuitive spezialpräventive Reaktionsmuster dieselbe Logik wie das generalpräventive aufweist — je mehr, desto schärfer — (vgl. Stratenwerth, Tatschuld, S. 15 ff., 18 f.). Bei den stark vorstrafenbelasteten Fällen wird deshalb bereits negativ prognostiziert, und damit entfällt der generalpräventive Korrekturbedarf. 495 Vgl. Sch / Sch / Stree, § 47 Rn. 11, 14 m. Rspr.-N. 496 Zu den praktischen Schwierigkeiten insg. instruktiv Stratenwerth, Strafzumessung, S. 24 ff. 497 Zu Vorwirkungen vor Inkrafttreten des § 47 StGB (§ 14 StGB a. F.) und Wirkungen des § 27b StGB a. F. (1. StRG v. 25. 6. 1969, BGBl. I, 645) Terdenge, Strafsanktionen, S. 79. 498 2. StRG V. 4. 7. 1969 (BGBl. I, 717), in Kraft ab 1. 1. 1975.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

zum Freiheitsstrafenminimum (ein Monat: § 38 I I StGB, Art. 12 I EGStGB) tendieren, auf die Verhängung zu verzichten, bei Strafhöhen, die zur Obergrenze der kurzen Freiheitsstrafe tendieren, eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten und m e h r 4 9 9 zu verhängen 5 0 0 .

3. Aussetzung des Strafrests bei zeitiger Freiheitsstrafe (§ 57 StGB) Die für die Aussetzung des Strafrests bei zeitiger Freiheitsstrafe vorausgesetzte Entlassungsprognose (§ 57 I 1 Nr. 2 StGB) w i r d intuitiv erstellt 5 0 1 , gestützt vor allem auf das Vollzugsverhalten 5 0 2 , die Legalbiographie 5 0 3 und die Verhältnisse nach der Entlassung 5 0 4 . E i n generalpräventives Korrektiv oder die Möglichkeit einer (mittelbar generalpräventiv motivierten) Aussetzungsversagung wegen der Schwere des verschuldeten Unrechts werden in § 57 StGB nicht genannt. Daß dies auch der Intention der Vorschrift entspricht, läßt sich mit der (gesetzessystematischen) Argumentation, daß die Schuldschwere und die Generalprävention bei der Höhe der verhängten Strafe sowie durch die Notwendigkeit und Länge der Verbüßungszeit und durch die Mindestverbüßungsdauer 5 0 5 abschließend berücksichtigt sind und daher über die Strafrestaussetzung — einheitlich für Abs. I und I I 5 0 6 — ausschließlich nach spezialpräventiven Kriterien zu befinden i s t 5 0 7 , überzeugend begründen.

4 99 Im hiesigen Sinn interpretierbare Zunahmen wurden verzeichnet bei Freiheitsstrafen von 6-9 und Monaten und 9-12 Monaten: Terdenge, Strafsanktionen, S. 84. 500 Terdenge, Strafsanktionen, S. 77 ff., 84; Kreuzer, Sanktionensystem, S. 174 f. (auch zur Funktion der Untersuchungshaft als Lückenbüßer für kurze Freiheitsstrafen; dazu auch Heinz, Neue Formen, S. 974). 501 S. Rspr.-N. bei Sch / Sch / Stree, § 57 Rn. 12 und oben S. 115 Fn. 482. Zur Praxis des Landgerichts Hamburg Nonhoff\ Strafvollstreckungskammer, S. 159. 502 insb. Verhalten in der Anstalt, Verhalten bei Vollzugslockerungen und Urlaub, Bewährung im offenen Vollzug: Ν orthoff, Strafvollstreckungskammer, S. 162; Böhm/ Erhard, Strafrestaussetzung, S. 375 f. (Praxis in Hessen); Aufsattler / Oswald / Geisler / Graßhoff, Strafrestaussetzung, S. 308, 316 (Praxis in Baden-Württemberg); Dünkeil Ganz, Strafrestaussetzung, S. 163 ff., 172 f. (Praxis Landgericht Freiburg); Eisenberg I Ohder, Aussetzung, S. 53 ff., 65, 69, 76 f. (Praxis in Berlin / West). Die kriminologische Fragwürdigkeit dieser Kriterien betont Sonnen, Aussetzung des Strafrestes, S. 301. 503 Vorstrafenbelastung und früheres Be währungs verhalten: Ν orthoff, Strafvollstrekkungskammer, S. 162 f.; Böhm ! Erhard, Strafrestaussetzung, S. 374; Dünkel ! Ganz, Strafrestaussetzung, S. 163 ff., 167,169; Eisenberg / Ohder, Aussetzung, S. 56 ff., 66 ff., 77; Aufsattler I Oswald ! Geisler ! Graßhoff, Strafrestaussetzung, S. 316. 504 Soziale Beziehungen (Familie / Freund-in), Arbeitsplatz, Wohnung; dieser Faktor wird ungleichgewichtig berücksichtigt, d. h. bei Vorliegen positiv, bei Fehlen weniger negativ: Ν orthoff, Strafvollstreckungskammer, S. 162 f.; Dünkel / Ganz, Strafrestaussetzung, S. 165, 167, 169, 172 f.; Aufsattler / Oswald/ Geisler / Graßhoff\ Strafrestaussetzung, S. 316; Eisenberg / Ohder, Aussetzung, S. 56 ff., 66 ff., 76 f. 505 Zipf, Anm. zu OLG Karlsruhe JR 1975, 295, S. 296 Sp. 2. 506 Roxin, Prävention und Strafzumessung, S. 193 f.; Bruns, RdStrZ, S. 112 f.

§ 2. Die praktische Relevanz

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Zudem ist es empirisch plausibel, daß das Bedürfnis nach Generalprävention i m Fortgang der Strafverfolgung zunehmend schwächer w i r d 5 0 8 . Dennoch glaubt die Rechtsprechung, auf generalpräventiv motivierte Versagungen der Strafrestaussetzung nicht verzichten zu können. A m deutlichsten zeigt sich das bei Entscheidungen zur Aussetzung des Strafrests nach Verbüßung der halben Strafzeit in Fällen „besonderer Umstände" ( § 5 7 I I Nr. 2 StGB). Die Praxis beruft sich zum einen darauf, daß die Aussetzung der Halbstrafe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt sei; bei der Ermessensausübung seien alle Strafzwecke in Betracht zu ziehen 5 0 9 . E i n Teil der Praxis restringiert den Anwendungsbereich zum anderen noch dadurch, daß er § 57 I I Nr. 2 StGB trotz der Novellierung durch das 23. S t r Ä n d G 5 1 0 nicht extensiv versteht wie die wortgleich veränderte Zwei-Jahres-Aussetzung nach § 56 I I StGB, sondern nach wie vor als Ausnahme Vorschrift behandelt 5 1 1 . Hinsichtlich der Erstverbüßer-Fälle nach § 57 I I Nr. 1 StGB, d. h. eingedenk von Tätern ohne Vorstrafenbelastung, dürften generalpräventive M o t i v e eine geringere Rolle spiel e n 5 1 2 . Insgesamt betrachtet drängen generalpräventive Beweggründe die Rechtsprechung bei der Halbstrafe aber derart massiv zur Versagung der Aussetzung, daß von den nach § 57 StGB formell aussetzungsfähigen Strafen nur sehr wenige nach Abs. I I ausgesetzt werden 5 1 3 . Generalpräventive M o t i v e bestimmen aber auch die Entscheidungen nach § 57 I StGB mit, obgleich die Strafrestaussetzung nach Zweidrittel-Verbüßung nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt ist. Generalpräventive Überlegungen bringt die Praxis i n Fällen, in denen die Tatschuld als besonders schwerwiegend wahrgenommen w i r d und die Vorstrafenbelastung nach dem gewöhnlichen Maßstab keine negative Prognose erlaubt 5 1 4 , dadurch zur Geltung, daß sie von der Schuld-

507 Schöch, Anm. zu OLG Celle NStZ 1986, 456 Sp. 2, S. 458 Sp. 2; M/G/Zipf, A T / 2 §65 Rn. 75, je m. w. N. 508 Haffke, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 56. 509 So die ganz herrschende OLG-Rspr.: s. nur OLG Karlsruhe JR 1975, 295; w. Rspr.-N. bei OLG Celle NStZ 1986, 456 Sp. 2; E. Horn SK-StGB § 57 Rn. 18; Sch/ Sch ! Stree, §57 Rn. 25. 510 vom 13. 4. 1986 (BGBl. I, 393). 5Π OLG Düsseldorf StrVert 1987, 353 Sp. 2 (= MDR 1986, 870); zustimmend D / Tröndle, § 57 Rn. 9 f.; eingehende Kritik bei E. Horn, Gesamtwürdigung, S. 579; vgl. Böhm, Anm. zu OLG Düsseldorf StrVert 1987, 353 Sp. 2. 512 Vgl. Maatz, Anm. zu OLG Oldenburg u. a. StrVert 1987, 70, S. 73 Sp. 2; E. Horn SK-StGB § 57 Rn. 18 m. w. N. 513 Die verfügbaren Daten stammen zwar aus der Zeit vor der Novellierung durch das 23. StrÄndG (zusammengestellt bei Schöch, Anm. zu OLG Celle NStZ 1986, 456 Sp. 2, S. 457 Sp. 2 f.). Daß sich aber die faktischen Aussetzungskriterien verändert haben — wie Kaiser, Kriminologie (TB), S. 543, meint —, erscheint hinsichtlich der dargestellten Orientierung der Praxis und des Umstands, daß die Vollzugsbehörden im allgemeinen keine verwaltungsmäßigen Verfahrensweisen zur Prüfung der Halbstrafenaussetzung etabliert haben (Walter, Rücknahme, S. 187 m. N.), höchst unwahrscheinlich.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

schwere auf die Tätergefährlichkeit schließt und dann mit Verweis auf das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit die Verantwortbarkeit des m i t der Bewährungsprobe verbundenen Risikos von einer besonders hohen Erfolgswahrscheinlichkeit abhängig m a c h t 5 1 5 ; je stärker die Bedeutung des generalpräventiven Strafzwecks wird, desto strenger werden die Anforderungen an die Täterprognose 5 1 6 .

4. Aussetzung des Strafrests bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57 a StGB) Die nach § 57 a I Nr. 3 (i. V . m. § 5 7 1 1 Nr. 2) StGB erforderliche Entlassungsprognose w i r d i m wesentlichen von den zu § 57 StGB genannten Kriterien bestimmt. Das Gericht wird nämlich nach herrschender Meinung durch § 454 I 5 StPO nur dann zur Einholung eines Sachverständigengutachtens verpflichtet, wenn es den Strafrest aussetzen w i l l 5 1 7 . Die Rechtsprechung prüft deshalb vorgreiflich nicht nur, ob der Aussetzung nicht die „besondere Schwere der Schuld" (§ 57 a I 1 Nr. 2 StGB) entgegensteht, sondern ebenfalls — mit ihren intuitiven M i t t e l n — , ob eine günstige Prognose überhaupt in Betracht kommt. (General)präventive Versagungsmotive schlagen nicht nur über die Verschärfung der Anforderungen an die Prognose 5 1 8 durch, sondern auch darüber, daß der vereinigungstheoretischen These, die schuldangemessene Strafe sei grundsätzlich zugleich generalpräventiv erforderlich, f o l g e n d 5 1 9 angenommen wird, daß z. B. die Erfordernisse der Verteidigung der Rechtsordnung bei besonderer Schuldschwere in der Regel auch die weitere Vollstreckung gebieten 5 2 0 . Das reicht einem Teil der Rechtsprechung noch nicht. Er vergrößert deshalb die Menge der Fälle besonderer Schuldschwere dadurch, daß er das Kriterium der besonderen Schuldschwere aufweicht. Diese Rechtsprechung ignoriert zu diesem Zweck die sonst für M o r d 5 2 1 übliche — j a auch schon präventiv eingefärbte 5 2 2 — Schuldschwereskala 5 2 3 , derzufolge die Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren 514 Vgl. Eisenberg / Ohder, Aussetzung, S. 66 f. mit einem typischen Beschluß in Fn. 43. 515 Vgl. OLG Düsseldorf NJW 1973, 2255 Sp. 2; KG JR 1970, 428 Sp. 2; KG JA 1986, 457 mit Besprechung Sonnen. 516 Unterschiede in dieser Strenge erklären wohl zu einem guten Teil die regional stark differierenden Aussetzungsquoten: vgl. Eisenberg / Ohder, Aussetzung, S. 78 ff.; Sonnen, Aussetzung des Strafrestes, S. 299 f. 517 D / Tröndle, § 57 a Rn. 9; Sch / Sch / Stree, § 57 a Rn. 12; Κ / Meyer, § 454 Rn. 37; KK-Chlosta, § 454 Rn. 48; Kunert, Aussetzung, S. 93 Sp. 2. 518 Vgl. noch Kunert, Aussetzung, S. 93. 519 Lackner, § 57 a Anm. 2 b cc. 520 Lackner, § 57 a Anm. 2b cc; Stree, Besonders schwere Schuld, S. 292 Sp. 2. 521 Für den § 57 a StGB vor allem Bedeutung hat: Fünfsinn, Bestrafung wegen Mordes, S. 167. 522 S. oben S. 36 ff. 523 Präzise beschrieben von Sonnen, Aussetzung des Strafrestes, S. 294 f.

§ 2. Die praktische Relevanz

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auf alle Fälle faktisch durchschnittlicher Schuldschwere zugeschnitten ist, und geht davon aus, daß die Mindestverbüßungszeit dem bei lebenslanger Freiheitsstrafe vorausgesetzten Mindestmaß an Schuld entspricht 5 2 4 . Konsequent schreibt sie dann nicht nur Fällen, deren Schuldschwere das Maß durchschnittlicher Schuld d e u t l i c h 5 2 5 oder gar außergewöhnlich 5 2 6 übersteigt, besondere Schuldschwere zu, sondern allen Fällen, die eine Steigerung der Mindestschuld aufweisen.

I I I . Fazit Der faktische Herstellungsprozeß reflektiert zugleich die Inkonsistenzen, Konfundierungen und die fehlende Implementierbarkeit des herrschenden Strafzumessungsmodells wie das Bemühen der Praxis um Handlungsfähigkeit. Die Rechtsprechung gewinnt ihre Handlungsfähigkeit dadurch, daß sie das aussichtslose Unterfangen, das komplexe M o d e l l in normativ und empirisch valider Weise zu operationalisieren, unterläßt und stattdessen an einfach handhabbare, intuitiv plausible alltagsfundierte 5 2 7 Reaktions- und Bewertungsmuster 5 2 8 anknüpft, denen die strikte saubere Trennung von verschuldetem Unrecht und Prävention und der Strafzwecke untereinander fremd ist. Diese Muster bestimmen, welche Bestandteile des herrschenden Modells als brauchbar oder unbrauchbar gelten und daher selegiert (z. B. verschuldetes Unrecht, Vorstrafen), modifiziert (z. B. die spezialpräventive Prognose bei der Strafzumessung i m weiteren Sinn) oder ignoriert (z. B. die Prognose nach § 46 I 2 StGB, viele der in § 46 I I StGB genannten Faktoren) werden. U m die konsistente Anwendbarkeit ihres Herstellungsprogramms zu sichern, bedient sich die Praxis auch Strategien der Gesetzesumgehung (z. B. die Umgehung der absoluten Strafdrohung in § 211 I StGB

524 OLG Karlsruhe NStZ 1983, 74 Sp. 2 (75 Sp. 1); OLG Hamm NStZ 1983, 318 (318 Sp. 2 f.); w. Rspr.-N. bei Laubenthal, § 57 a StGB, S. 473; dieselbe Ansicht vertreten Kunert, Aussetzung, S. 94 Sp. 1; Lenzen, Besondere Schwere der Schuld, S. 544 Sp. 1. 525 So z. B. OLG Koblenz NStZ 1984, 167; Bode, Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe, S. 333; Sch/Sch I Stree, § 57a Rn. 5; Lackner, § 57a Anm. 2b aa; E. Horn SK-StGB § 57 a Rn. 9 a. 526 So z. B. OLG Nürnberg NStZ 1982, 509 m. ablehnender Anm. Kunert; OLG Celle StrVert 1983, 156 Sp. 2 (mit Argumenten zur Verteidigung der Entscheidung des OLG Nürnberg); Müller-Dietz, Schuldschwere, S. 166 Sp. 2; Laubenthal, § 57a StGB, S. 473 Sp. 2; Sonnen, Aussetzung des Strafrestes, S. 295; Fünfsinn, Bestrafung wegen Mordes, S. 170. 527 Zur Orientierung an der Tatschwere (insb. am Erfolgsunwert) Lüderssen, Erfolgszurechnung, S. 29 f.; Haffke, Strafrechtsdogmatik, S. 156 f.; Maiwald, Erfolgsunwert, S. 71; vgl. Dencker, Erfolg, S. 451 f., 454 f. Zur Vorstrafenbelastung s. Stratenwerth, Tatschuld, S. 18 f. Zur intuitiven Prognose s. oben S. 73 f. Zum „Alltags-Naturrecht" der Praxis Naucke, Verhältnis, S. 429,431 f.; Neumann, Alltagsnaturrecht, bes. S. 149 ff. (vgl. die in Bezug genommene Kontroverse Dreier, Begriff / Hoerster, Rechtspositivismus, die darauf folgende Kritik von Krawietz, Naturrecht, und die Erwiderung von Dreier, Naturrecht). Vgl. auch Jescheck, A T § 82 I 4 und S. 785 Fn. 40. 528 Zu „pragmatischen Richtertheorien" vgl. Opp / Peuckert, Ideologie, S. 98 ff.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

durch exzessiven Einsatz des § 21 StGB oder die „Rechtsfolgenlösung" (BGHGSSt 30, 105); der Strafrahmen über eine Gesamtwürdigung; die generalpräventive Korrektur des § 57 a StGB durch Aufweichen des Kriteriums der besonderen Schuldschwere). Das Herstellungsprogramm an intuitiv plausiblen alltagsfundierten Handlungsmustern auszurichten, führt i m allgemeinen zu einer relativ gleichförmigen maßvollen unrechtszentrierten Strafzumessung und nur hinsichtlich von Fallkonstellationen, die als besonders atypisch und bedrohlich wahrgenommen werden, auch zu extrem unrechtsinkongruenten Strafschärfungen.

B. Die Darstellungsrelevanz Der Zustand des herrschenden Modells und das spezifische Verhältnis des faktisch wirksamen Herstellungsprogramms zu diesem M o d e l l lassen schon erkennen, daß die Praxis größtenteils keinen Anlaß hat, die wahrhaftige Begründung ihrer Entscheidungen zu scheuen. Die Rechtsprechung teilt denn auch all die Elemente des Herstellungsprogramms offen mit, welche nicht mit einem konsentierten Gewißheitsanspruch als außerhalb des herrschenden Modells liegend kritisiert werden können, sowie solche Elemente, welche sich der Anpassung an das (forensisch) Mögliche verdanken und mangels handhabbarer Alternativen mit Akzeptanz rechnen dürfen. W i l l die Praxis beispielsweise die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes vermeiden, so teilt sie das freilich nicht offen mit, sondern begründet entweder, daß keines der Mordmerkmale verwirklicht s e i 5 2 9 , oder daß ein die angestrebte Strafmilderung gestattender Grund vorliege 5 3 0 . Die gesetzesumgehende Strafrahmenwahl verbirgt sich i m Dunkel der diffusen Gesamtwürdigung531. Die bedeutsame Strafhöhendeterminante Tatschwere hingegen erscheint in den Urteilsgründen relativ vollständig. M a n darf die Perspektive jedoch nicht auf die oftmals auf einen oder wenige Aspekte reduzierten Mitteilungen im Rahmen der Abwägung der Strafzumessungsfaktoren verengen, sondern muß auch die Sachverhaltsschilderung und die Rechtfertigung des Schuldspruchs einbeziehen. Die Vorstrafenbelastung findet sich bei den Darlegungen zu den persönlichen Verhältnissen und bei den Strafzumessungserwägungen als Schuldsteigerungsfaktor,

529 Wofür z. B. das „bewußte Ausnutzen" der Arg- und Wehrlosigkeit beim Heimtükkemerkmal als normatives Korrektiv benutzt wird: offenkundig z. B. in BGH MDR (Holtz) 1979,455 Sp. 2; vgl. Geilen, Tötungsdelikte, S. 312 Sp. 2; Staiger, Auswirkungen, S. 186; Bertram, Auswirkungen, S. 170 f.; Eser, 53. DJT, D 46 m. zahlreichen Rspr.N. Fn. 147, 150. 530 s. oben S. 26 Fn. 88; S. 84 Fn. 470. 531 S. oben S. 84 Fn. 471.

§ 2. Die praktische Relevanz

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wobei regelmäßig über die den Vorverurteilungen zugrundeliegenden Straftaten und Sachverhalte, die Zeiten der Verurteilungen und die Tatzeiten sowie A r t und Höhe der verhängten Rechtsfolgen berichtet w i r d 5 3 2 . Die oft vorgebrachte Klage, daß sich viele Strafzumessungsbegründungen auf die Mitteilung dieser beiden Faktoren und deren strafschärfende oder strafmildernde Berücksichtigung beschränken, ist nur zu einem kleineren T e i l berechtigt. Denn wenngleich auch andere Faktoren für die Rechtsfindung von Bedeutung sein k ö n n e n 5 3 3 , sind die Tatschwere und die Vorstrafenbelastung doch von so großem Gewicht, daß sich komplexe faktorenreiche Abwägungsdarstellungen eher der Nötigung durch unvermeidlich darzulegende Sachverhaltsangaben und § 46 I I S t G B 5 3 4 verdanken als der Herstellungsrelevanz dieser Faktoren; die reichhaltigen Strafzumessungsbegründungen sind tendenziell unwahrhaftiger als die kargen Begründungen 5 3 5 . Die durch richterliche Strafzweckpräferenzen gesteuerte Entscheidung für eine milde oder strenge Strafe innerhalb des durch die Konzentration auf Tatschwere und Vorstrafenbelastung relativ bestimmten Strafmaßspielraums zeigt sich i m allgemeinen nicht in der Darstellung 5 3 6 . Strafschärfungen aus eigenständigen Gründen der Abschreckungsgeneralprävention tauchen gewöhnlich nur dann auf der Rechtfertigungsebene auf, wenn das angezielte Strafmaß den bei den typischen faktischen Regelfällen üblichen Strafrahmenbereich so weit übersteigt, daß zu besorgen ist, das Revisionsgericht werde das Strafmaß ohne Offenlegung sub specie Vertretbarkeit 5 3 7 aufheben, und wenn sich die Tatrichter in der Lage sehen, den strengen Anforderungen an die Darlegungen zur Nachahmungsgefahr oder zur gemeinschaftsgefährlichen Zunahme solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung anstehen 5 3 8 , zu genügen. Die offene generalpräventive Strafschärfung ist einer der wenigen Fälle, in denen die Schuldrahmentheorie in Erscheinung tritt. Freilich macht das Tatgericht auch hierbei keine quantitativen 532 Vgl. OLG Düsseldorf StrVert 1987, 381; OLG Frankfurt StrVert 1989, 155 Sp. 2 f., sowie die Rspr.-N. bei E. Horn, sLSK § 46 Rn. 14, bes. Nr. 3, 14, 16, 18, 21. 533 s. nur B.-D. Meier, Strafzumessung bei Rückfalltätern, S. 1351. 534 Vgl. zur prozessualen (§ 267 I I I StPO) und materiellrechtlichen Begründungspflicht Bruns, RdStrZ, S. 264 f., 268 ff.; KK-Hürxthal, § 267 Rn. 24 f.; G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 617 ff.; Theune, Gerechte Strafe, S. 453 ff., je m. Rspr.-N. 535 H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 622; Pallin I H.-J. Albrecht I Fehérvàry, Strafe, S. 230 ff., 254, 297. 536 N. von Ausnahmen bei Sch / Sch / Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 15; daß jedoch die genannten Gründe auch (immer) die Herstellung bestimmt haben, ist damit noch nicht gesagt: vgl. zum Verlust des Arbeitsplatzes einerseits (strafmildernd) BGH NStZ (Theune) 1986, 496 Sp. 2 Fn. 49, andererseits (indifferent) R. Hassemer, Bestimmungsgründe, S. 27. 537 Vgl. BGH MDR (Daliinger) 1967, 898 Sp. 2, sowie Theune, Vergleichende Strafzumessung, S. 150; MI Gl Zipf, A T / 2 § 63 Rn. 206; Dahs / Dahs, Revision Rn. 359; KK-Pikart, § 337 Rn. 32,jem. w. Rspr.-N. S. auch Frisch, Revisionsrechtliche Probleme, S. 44 ff. m. (Rspr.-)N. 538 Vgl. etwa die Anforderungen in BGH StrVert 1983, 326 Sp. 2; BGH NStZ 1986, 358; BayObLG StrVert 1989, 155 Sp. 2.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

A n g a b e n 5 3 9 , sondern erwähnt die Schuldrahmentheorie nur, um dem Revisionsgericht die Beachtung des SchuldüberschreitungsVerbots zu versichern 5 4 0 . Das intuitive Verfahren der spezialpräventiven Prognose bei der Strafzumessung i m weiteren Sinn w i r d in den Entscheidungsgründen offen vorgeführt. Genauso offen werden die für die Prognosen jeweils herstellungsrelevanten Faktoren genannt 5 4 1 . Die Normativierung des generalpräventiven Korrektivs „Verteidigung der Rechtsordnung" läßt sich an den Urteilsgründen ohne weiteres ablesen; dasselbe gilt für die korrekturrelevanten Zuschreibungskriterien 5 4 2 . A u c h die generalpräventiv motivierte Versagung der Halbstrafenaussetzung w i r d offen gerechtfert i g t 5 4 3 ; die kriminalpolitisch veranlaßte — und gesetzgeberisch weitgehend sanktionierte — tendenzielle Gleichbehandlung aller zwei Jahre nicht übersteigenden Freiheitsstrafen bei der Strafaussetzung zur Bewährung nur dürftig durch gesamtwürdigende Floskeln abgeschattet 544 . Bedeckt hält sich die Praxis dagegen bei den (general)präventiven Korrekturen der Strafrestaussetzung nach Zweidrittel-Verbüßung und bei lebenslanger Freiheitsstrafe; und selbstverständlich verschweigt sie auch Umgehungen des § 47 StGB. Das Herstellungsprogramm erscheint mithin zu einem großen Teil auf der Darstellungsebene und ist insoweit auch der Rechtskontrolle zugänglich. U n d diese Kontrolle w i r d auch in dem problematischen Bereich der Umwertung ausgeübt: Dem tatrichterlichen Bestreben, i m allgemeinen eine relativ gleichförmige unrechtsorientierte Strafzumessung zu erreichen, korrespondiert das revisionsgerichtliche Bemühen, den vertretbaren Strafmaßspielraum zu verengen 5 4 5 .

539 Der BGH verzichtet auf Auszeichnung des Strafrahmens: Theune, Strafzumessung, S. 164 Sp. 1 m. N. 540 Vgl. BGH StrVert 1984, 71 Sp. 1. 541 Vgl. etwa die Entscheidungsauszüge bei Lüderssen, Strafaussetzung, S. 372 ff., und die bei Sch / Sch / Stree, § 56 Rn. 19 ff.; D / Tröndle, § 56 Rn. 6 a ff., referierte Rspr. 542 Vgl. oben S. 86 Fn. 488 und BGH NStZ 1985, 165 Sp. 2 f., sowie Sch/Sch/ Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rn. 20 m. w. N. 543 S. oben S. 89 Fn. 509, 511. 544 s. oben S. 86 Fn. 484. 545 Vgl. Theune, Gerechte Strafe, S. 455 ff.; Μ / G / Zipf, A T / 2 § 63 Rn. 206; Bruns, RdStrZ, S. 309 ff., je m. w. (Rspr.-)N. — Dieses Bemühen treibt jedoch nicht alle Senate in demselben Maß (zur erheblichen Zurückhaltung des 5. Strafsenats des BGH Theune, Gerechte Strafe, S. 459 m. Fn. 61 f.), manche Senate gar nicht; Theune, Gerechte Strafe, S. 459 f., beurteilt eine Vorlage des 1. Strafsenats an den Großen Senat (ebenda, Fn. 63), wonach es dem Tatrichter erlaubt sein soll, innerhalb eines weiten Beurteilungsspielraums im Rahmen einer „Ganzheitsbetrachtung" zu entscheiden, als Vorschlag zum Rückzug von der rechtlichen Überprüfung der Strafzumessung. Ob Theunes Beurteilung zutrifft und der Umstand, daß der Große Senat der Ansicht des 1. Senats im Kern gefolgt ist (so interpretiert G. Schäfer, Strafzumessung Rn. 469 plausibel BGHGSSt 34, 345 (349 ff., bes. 350, 351 f.)), auch die Vertretbarkeitsprüfungen der anderen Senate redu-

§ 3. Fazit: Die legitimatorischen und praktischen Defizite

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§ 3. Fazit: Die legitimatorischen und praktischen Defizite Das herrschende Strafzumessungsmodell ist umfänglich delegitimiert. Die Schuldrahmentheorie leidet nicht nur an konzeptuell inkonsistenten und fehlenden Begründungen; sie verfügt darüber hinaus — infolge der umfangreichen strukturellen Konfundierung von Schuld und Prävention und deren mangelnder Trennbarkeit i m geltenden Strafrecht — nicht über die erforderliche sachliche Grundlage zur Verfolgung ihres vorrangigen absoluten Strafziels der Vergeltung. Aber nicht nur die zweckfreie Strafmaßbestimmung ist mangels präventionsfreier bzw. von Prävention zu reinigender Schuld nicht möglich. A u c h die ebenfalls von dem herrschenden M o d e l l geforderte unmittelbare Verfolgung präventiver Strafziele kann nicht bewerkstelligt werden, zumindest nicht in der notwendigen methodologisch akzeptablen und verläßlichen Weise. Die empirisch und bereits damit hinreichend delegitimierte unmittelbar-präventive Strafzumessung ist zudem weitgehend durchgreifenden normativen Einwänden (vor allem aus dem Menschenwürdegrundsatz) ausgesetzt. Das herrschende M o d e l l ist in der Konfiguration, die sich aus seinen Ansprüchen, logisch notwendigen Voraussetzungen und den damit verbundenen Legitimationserfordernissen ergibt, als Herstellungsprogramm nicht implementationsfähig, und als Darstellungsprogramm eignet es sich nur in Teilen. Daß es der Rechtsprechung trotzdem möglich ist, ihr faktisches Entscheidungsprogramm auf dieses Modell zu beziehen und gleichwohl zu einem guten Teil wahrhaftig zu begründen, verdankt sich denn auch nur dem Umstand, daß sich das herrschende M o d e l l gerade wegen seiner defizitären Verfassung weitgehend den einfach handhabbaren, intuitiv plausiblen alltagsfundierten Reaktions- und Bewertungsmustern assimilieren läßt, welche die Entscheidungspraxis bestimmen. Das Verdikt der empirischen Illegitimität unmittelbar-präventiver Strafzumessung trifft freilich nicht nur das herrschende Modell, sondern gleichermaßen alle Modelle und Interpretationen, welche und soweit sie dieses Ziel anstreben, also auch sowohl die „Theorie der Strafzumessung als eines sozialen Gestaltungsakt e s " 5 4 6 als auch — trotz fehlender oder zumindest geringerer normativer Bedenklichkeit — die Stellenwert-Theorie 5 4 7 sowie die „Theorie einer Schuldstrafe mit spezialpräventivem V o r b e h a l t " 5 4 8 . Eine vollständig normativierende oder gene-

ziert, bleibt abzuwarten. Sollte dies aber eintreffen, so würde das bedeuten, daß dem BGH, der ja auch wissen dürfte, wie reduziert die Entscheidungsfindung verläuft (vgl. Theune , Vergleichende Strafzumessung, S. 151), mehr an der Einlösung der komplexen Rhetorik des herrschenden Strafzumessungsmodells liegt als an einer wirksamen rechtlichen Strafzumessungskontrolle. 546 D/Tröndle, §46 Rn. 12. 547 Henkel, Die „richtige" Strafe, S. 50 f.; Schöch, Strafe, S. 270 ff.; E. Horn, Strafhöhenzumessung, S. 247 ff.; ders. SK-StGB §46 Rn. 34, §47 Rn. 20 f., 35 ff., §56 Rn. 9 ff., § 57 Rn. 9, § 57 a,b Rn. 13.

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1. Kap.: Das herrschende Strafzumessungsmodell

ralisierende 5 4 9 Interpretation der prognosefordernden Vorschriften ist allerdings auch nur gegen den Wortlaut m ö g l i c h 5 5 0 (wenngleich sub voce ultra posse nemo obligatur zu rechtfertigen 5 5 1 ); d. h. die empirische Delegitimation erfaßt diese Vorschriften selbst. Ob und inwieweit sich die übrigen strafzumessungsrelevanten Bestandteile des geltenden Strafrechts behaupten können, ist noch offen. Hinsichtlich dieser Bestandteile sind Strafrechtsbegründungen — welche die (Begründung der) Strafe determinieren müssen, weil nur so die „Einheit zwischen den Aufgaben des Strafrechts und den Aufgaben seiner Instrumente" herzustellen i s t 5 5 2 und legitimatorische Inkonsistenzen sowie Antinomien des Sanktionensystems vermieden werden können — nämlich bislang nur in bezug auf die Schuldrahmentheorie und beschränkt auf die Gesichtspunkte der Begründungskonsistenz und der Kompatibilität erörtert worden. D. h. es sind nicht alle möglichen Strafrechtskonzepte behandelt worden, es ist nicht untersucht worden, welches Strafrechtskonzept als akzeptabel gelten darf, und die Konzepte sind auch nicht i n dem Maß entfaltet worden, wie es nötig ist, u m trennscharfe Kriterien zur positiven Bestimmung eines Strafzumessungsmodells herleiten zu können. U m mithilfe solcher Kriterien ein implementationsfähiges Strafzumessungsmodell entwerfen zu können — und dabei dann auch darüber zu befinden, ob die nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich der unmittelbar-präventiven Strafzumessung dienenden Bestandteile des geltenden Strafrechts darin Verwendung finden können und inwieweit man auf die Handlungsmuster der Praxis bauen kann oder sie auszuschalten versuchen muß — , muß also zunächst die Frage des akzeptablen Straf(rechts)konzepts beantwortet werden.

548 Roxin, Strafzumessung, S. 475, welcher für die Strafhöhenfestsetzung innerhalb des Schuldrahmens nur spezialpräventive Gesichtspunkte zuläßt und ausnahmsweise eine Schuldunterschreitung bis an die Grenze des zur Verteidigung der Rechtsordnung Unerläßlichen erlaubt. 549 Z. B.: daß wegen desozialisierender Wirkungen des Strafvollzugs alle zwei Jahre nicht übersteigenden Strafen zur Bewährung auszusetzen seien. 550 s. oben S. 78 Fn. 432. 551 Vgl. Frisch, Prognoseentscheidungen, S. 59 f. (60). 552 w. Hassemer, Strafziele, S. 60; s. auch S. 58.

2.

Kapitel

Straf(rechts)theoretische Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Strafzumessungsmodells A u f größte Akzeptanz kann prima facie ein Konzept rechnen, welches Strafrecht zugleich aus der Gerechtigkeit und aus der Zweckmäßigkeit zu legitimieren vermag. Daß eine solche Begründung gelingen kann, ist freilich nach der bisherigen Untersuchung recht zweifelhaft. Nach den Befunden zur unmittelbar-präventiven Strafzumessung ist es nicht fernliegend, daß auch präventive Strafrechtskonzepte bereits an der empirischen Legitimation scheitern. Nicht weniger fraglich ist, wie ein präventives Strafrecht zugleich als gerecht legitimierbar sein könnte. Es scheint nämlich so, als rechtfertige sich Strafrecht als zweckmäßig allein durch den Grad empirisch meßbarer Effektivität und als berücksichtige das immanente Kalkül, welches der Prävention erst dort eine Grenze zieht, w o die Präventionskosten den Präventionsnutzen zu übersteigen beginnen, nur gerechtigkeitsdifferente Faktoren. Kriterien der Gerechtigkeit wären demnach nur von einer externen Quelle zu erwarten Κ Extern würde hierbei aber bedeuten, daß die Quelle außerhalb des präventiven Rechtfertigungszusammenhangs stehen muß. Eine präventionsfreie Quelle läßt sich jedoch nur absolut begründen, und das würde die zugleich angestrebte Legitimation aus der Zweckmäßigkeit ausschließen. Diesen Überlegungen zufolge kann man mithin nur eins haben: entweder ein gerechtes oder ein zweckmäßiges Strafrecht, tertium non datur. Dieser Schluß verdankt sich freilich einer Argumentation, die Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit bzw. Schuld und Prävention als einander ausschließend begreift 2 . Eine konsistente Legitimation des Strafrechts aus der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit muß daher zeigen können, daß bereits für die empirische Legitimation eines präventiven Konzepts notwendig auf Gerechtigkeit rekurriert werden muß, daß die Gerechtigkeit prävalent ist und daß sich diese Prävalenz sichern läßt.

ι S. nur Jescheck, A T § 8 IV 5; Μ/Zipf, A T / 1 § 7 Rn. 11 f.; Maiwald, S. 292, 293; Roxin, Sinn und Grenzen, S. 379 Sp. 1 f., 380 Sp. 1. 2 Vgl. Jakobs, Schuld, S. 5. 7 Hart-Hönig

Zweck,

2. Kap.: Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Modells

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§ 4. Zur ausschließlichen Eignung und der Begründungspotenz des positiv-generalpräventiven Ansatzes Die theoretische Potenz zu einer konsistenten Legitimation des Strafrechts aus der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit kann nur ein straf(rechts)theoretischer Ansatz haben, der zwei Voraussetzungen erfüllt. Er muß es zulassen, das Zweckmäßigkeitsproblem so weit zu fassen, daß nicht nur (im herkömmlichen engen Sinn) alle präventionstheoretisch für beachtlich gehaltenen WirkungsVoraussetzungen in den B l i c k kommen, sondern auch die Berücksichtigung von Kriterien aus der Gerechtigkeit als notwendige Wirkungsbedingung thematisiert wird. Ferner muß dieser Ansatz das Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit als eine von deren notwendigen Bedingungen hinsichtlich aller Straf(rechts)zielbestimmungen reflektieren. Der spezialpräventive Ansatz scheidet deshalb schon wegen präventionstheoretischer Unzulänglichkeit aus 3 . Sozialpsychologische bzw. gesellschaftliche Faktoren reflektiert er ex definitione nämlich nur unter dem Aspekt zweckmäßiger Spezialprävention 4 , nicht aber unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit strafrechtlichen Handelns i m ganzen; verengt auf den Täter, blendet die spezialpräventive Perspektive aus, ob eine Bestrafung nach Kriterien der Sicherung, Abschreckung oder Resozialisierung — selbst dann, wenn Rückfallverhütung gelingen sollte — von der Bevölkerung (auch) als zutreffende Antwort auf die Tat akzeptiert wird, ob nicht sogar eine effiziente Spezialprävention die Generalprävention dermaßen beeinträchtigen kann, daß die Effizienz des Strafrechts insgesamt minimiert wird, weil z. B. das m i t abschreckender Bestrafung verbundene Übel als zu groß oder das mit therapeutischer Vollzugsgestaltung verbundene Übel von der Gesellschaft als zu gering empfunden w i r d 5 . A u c h das Konzept der Abschreckungsgeneralprävention kommt schon allein wegen präventionstheoretischer Defizite nicht in Betracht. Aufgrund der Vorstellung von einem autarken Strafrecht, das in eigener Zuständigkeit und aus eigener Kraft Normgeltung sichert, übersieht dieser Ansatz die Einbindung der Strafrechtspflege in gesellschaftliche Strukturen und läßt daher strafrechtsexterne Faktoren außer acht 6 . Den so verengten B l i c k richtet der abschreckungsgeneralpräventive Ansatz zudem nur auf die Tatgeneigten, wodurch auch die Wirkungen eines abschreckenden Strafrechts auf die übrige Bevölkerung vernachlässigt werden 7 . Hinzu kommt, daß das am Kosten und Nutzen kalkulierenden Menschen

3 Vgl. zum Folgenden Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, S. 68 ff. Z. B. Stigmatisierung von Haftentlassenen; s. oben S. 56. 5 Vgl. Stratenwerth, Leitprinzipien, S. 17; Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, S. 71; Jakobs, A T 1 / 37 ff. 6 W. Hassemer, Einführung, S. 316; s. oben S. 47 f. 7 W. Hassemer, Einführung, S. 325. 4

§ 4. Zur Eignung des positiv-generalpräventiven Ansatzes

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orientierte Abschreckungskonzept den Strafvollzug nur als Verwirklichung der Strafdrohung, als Belastung des Täters mit den den Tat-Nutzen übersteigenden Kosten begreift, also nur unter dem spezialpräventiv-inhaltlich v ö l l i g beliebigen Aspekt der Übelszufügung betrachtet 8 . Das Konzept der Integrationsgeneralprävention 9 beseitigt zwar viele Sichtbegrenzungen des Abschreckungskonzepts, es geht dabei aber noch nicht weit genug. Denn wenngleich der Integrationsansatz die Perspektive von der Gruppe potentieller Täter auf die Bevölkerung insgesamt und von dem Strafrechtssystem auf alle gesellschaftlichen Systeme der Normbildung und Normstabilisierung erweitert, beschränkt er sich dabei auf den Aspekt der Einübung der Bevölkerung in Normanerkennung, der Durchsetzung des Rechts „gegenüber dem v o m Täter begangenen U n r e c h t " 1 0 . Damit w i r d jedoch die auch unter rein präventionstheoretischen Gesichtspunkten relevante Frage vernachlässigt, ob eine erfolgreiche strafrechtliche Normdurchsetzung auch (notwendig) davon abhängt, daß Grenzen der Normdurchsetzung gewahrt, daß Kriterien aus der Gerechtigkeit berücksichtigt werden 1 1 . I n dem auf die Behauptung strafrechtlicher Verhaltensnormen verengten Horizont des integrationsgeneralpräventiven Konzepts läßt sich die Unwirksamkeit des Strafrechts nur mit mangelnder Sanktionsintensität oder fehlender Korrespondenz mit sozialen Verhaltensnormen erklären; der Strafvollzug bzw. die Spezialprävention kann nur als M i t t e l der Anpassung an die strafrechtlichen Verhaltensnormen verstanden werden 1 2 . Daß die Ineffizienz des Strafrechts aus der Bornierung auf die Durchsetzung der materiellrechtlichen Handlungsgrenzen, aus zu intensiver Sanktionierung, aus der Mißachtung strafrechtlicher Wertprinzipien (z. B. Schuldprinzip, Beweisverbote) oder dem Verfehlen sozialer Sanktionsmaßnormen und GerechtigkeitsVorstellungen resultiert, kommt als Erklärung hingegen nicht in Betracht; daß die Wirksamkeit des Strafrechts von einer die Autonomie des Menschen respektierenden spezialpräventiven Gestaltung der Bestrafung abhängig sein könnte, vermag das Integrationskonzept ebenfalls nicht zu erkennen 1 3 .

8 Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, S. 75. 9 Zur üblichen Terminologie und der hier in starker Anlehnung an W. Hassemer, Einführung, S. 324 ff. verwendeten s. oben S. 47 Fn. 232. 10 BGHSt 24, 40 (44); BVerfGE 45, 187 (256); ähnlich BGHSt 24, 64 (66); BGH GA 1976, 113 (114); Müller-Dietz, Grundfragen, S. 41; Roxin, Wiedergutmachung, S. 47 f.; Jakobs, A T 1 / 15 f. — Durch diese Beschränkung lenkt die Intergrationsgeneralprävention auch den Verdacht auf sich, doch auf Abschreckung zu bauen (und den Menschen zu verfehlen): Schumann, Positive Generalprävention, S. 4 f., 6; Kargl, Generalprävention, S. 112 m. N. Kritisch unter dem Aspekt der Anpassung an die Normen einer als statisch gedachten Gesellschaft Luzon, Generalprävention, S. 399 f. 11 W. Hassemer, Einführung, S. 326. Dies wird auch von Müller-Dietz, Integrationsprävention, S. 819 ff. aufgenommen; er steht, abgesehen von der Terminologie, dem hier entwickelten positiv-generalpräventiven Ansatz nahe. 12 W. Hassemer, Einführung, S. 327. 13 W. Hassemer, Einführung, S. 327. 7*

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2. Kap.: Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Modells

A l l e i n der positiv-generalpräventive Ansatz nimmt auch die Beachtung von Kriterien aus der Gerechtigkeit als Wirkungsbedingung wahr, und er versteht die Beachtung von Kriterien aus der Gerechtigkeit auch nicht nur als mögliche, sondern als notwendige Wirkungsbedingung. Das Konzept positiver Generalprävention sieht nämlich nicht nur in der M i t w i r k u n g an der Sicherung der Normgeltung, sondern gleichermaßen in der Markierung und Einhaltung von Grenzen normsichernder Handlungen, in der Formalisierung normsichernden Handelns durch Schutztechniken und Wertprinzipien 1 4 , eine Aufgabe und notwendige Legitimationsbedingung des Strafrechts 15 . Eine hinreichende Legitimation durch uneingeschränkte Erfüllung beider Bedingungen kann aber nur erwartet werden, wenn die Formalisierung zwar die normsichernden Handlungen, nicht aber die normsichernden Wirkungen begrenzt, wenn die Begrenzung normsichernden Handelns zugleich eine notwendige Voraussetzung normsichernder Wirksamkeit ist. U n d diese Sicht der Aufgaben von Strafrecht und Strafe und des Verhältnisses von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit bestimmt auch mühelos das Verständnis der Spezialprävention als Würde und Freiheit des Menschen achtendes Anbieten freiwilliger Resozialisierungsprogramme und als Verpflichtung, Desozialisierung zu vermeiden 1 6 . Das Theorieprogramm des positiv-generalpräventiven Ansatzes hat somit die Potenz zur vollständigen und konsistenten Begründung des Strafrechts aus Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit. A l s tragfähiges Fundament kann die Theorie der positiven Generalprävention aber erst gelten, wenn ihre Wirkungsbehauptungen und Annahmen auch empirische Bestätigung finden und wenn sich zeigen läßt, daß die Gerechtigkeit trotz ihrer Verbindung mit dem präventiven Rechtfertigungszusammenhang prävalent ist und daß diese Prävalenz hinreichend abgesichert ist.

§ 5. Die Theorie positiver Generalprävention A. Empirische Bestätigung I . Das Strafrechtssystem als wirksames Teilsystem sozialer Kontrolle Für die empirische Bestätigung der Theorie positiver Generalprävention 1 7 ist nur der Nachweis einer relativ schwachen W i r k u n g erforderlich. Anders als die

14 Zum Formalisierungskonzept eingehend W. Hassemer, AK-StGB Vor § 1 Rn. 291 ff.; ders., Einführung, S. 320 ff. is W. Hassemer, Einführung, S. 326. 16 Vgl. W. Hassemer, Strafziele, S. 64 f.; dens., Einführung, S. 326. S. oben S. 65 Fn. 362.

§ .

ie Theorie positiver Generalprävention

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herkömmlichen präventiven Konzepte, welche die Bewirkung konkreter Zustände und Veränderungen in der Außenwelt (wie Abschreckung und Besserung) behaupten müssen, begnügt sich der positiv-generalpräventive Ansatz nämlich mit der empirischen Behauptung, daß das Strafrechtssystem auf spezifische, d. h. formalisierte Weise an der allgemeinen Sozialkontrolle mitwirkt. Das Strafrechtssystem w i r d als lediglich ein Teilsystem der gesellschaftlichen Verarbeitung von Abweichungskonflikten, welches in seiner Wirksamkeit von den anderen Teilsystemen sozialer Kontrolle abhängt, begriffen 1 8 . Z u dieser Bescheidenheit nötigt freilich die hinsichtlich des Abschreckungskonzepts gewonnene Einsicht, daß sich das Strafrecht nicht gegen normativ inkongruente gesellschaftliche Strukturen durchsetzten k a n n 1 9 . Dieser empirisch gesicherte Befund trägt jedoch nur den Umkehrschluß, daß Wirksamkeit nur zu erwarten ist, wenn das Strafrechtssystem in tendenzieller — d. h. die spezifische Formalisierung nicht aufgebender — normativer Übereinstimmung mit den anderen Subsystemen sozialer Kontrolle handelt; daß eine M i t w i r k u n g an sozialer Kontrolle dann auch tatsächlich stattfindet, ist indes zunächst nur hochplausibel. Eine empirische Valutierung dieser Mitwirkungshypothese scheint aus methodologischen Gründen nun zwar — da es hier nicht wie bei der unmittelbar-präventiven Strafzumessung um die forensische Feststellbarkeit der Effekte jedes einzelnen Strafzumessungsakts 20 , sondern um die wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Wirkungen der Strafrechtspflege geht — nicht a limine ausgeschlossen, aber doch nur schwer zu leisten. Denn je größer die tendenzielle normative Übereinstimmung des Strafrechtssystems mit den anderen Subsystemen sozialer Kontrolle ist, und je größer die Aussichten auf M i t w i r k u n g daher sind, desto mehr mögliche Wirkungsfaktoren müssen in Betracht gezogen werden und desto schwieriger w i r d eine eindeutige kausale Zurechnung von Wirkungen bzw. Wirkungsbeiträgen 2 1 . M i t den Problemen eines hochkomplexen Forschungsdesigns, welches imstande ist, diese Vielzahl interdependenter Variablen zu kontrollieren 2 2 , muß man sich jedoch nur abmühen, wenn man messen w i l l , welche nicht-substituierbaren Normgeltungsverstärkungen oder relativ autonomen Normbildungen das Strafrechtssystem trotz Abhängigkeit von den übrigen Sozialsystemen leisten kann. Das sind indes Leistungen, die aus der Sicht des von einer Wechselbezüglichkeit

17 Zur folgenden Entfaltung dieser Theorie vgl. die mehr oder minder verwandten Ansätze bei W. Hassemer, Einführung, S. 316 ff.; Lüderssen, Generalpräventive Funktion; H.-J. Otto, Generalprävention, S. 255 ff.; Neumann, Zurechnung, S. 269 ff.; Noll, Schuld und Prävention; K.-L. Kunz, Prävention und gerechte Zurechnung; Streng, Schuldbegriff, S. 287 ff.; Achenbach, Zurechnung, S. 140 ff.; s. auch Baurmann, Zweckrationalität, bes. S. 50 f., 61 ff., 118, 149 f., 168. •8 W. Hassemer, Einführung, S. 318 ff. 19 S. oben S. 50 f., 47 ff.; vgl. H.-J. Otto, Generalprävention, S. 283 f. 20 S. oben S. 51 Fn. 262. 21 Vgl. W. Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 43. 22 Vgl. Schumann, Positive Generalprävention, S. 16 f., 24 f., 52.

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der Subsysteme sozialer Kontrolle ausgehenden positiv-generalpräventiven A n satzes zwar möglich, für die Legitimation des Strafrechts aber nicht erforderlich sind. Hierfür genügt, daß das Strafrecht die Geltung derjenigen Normen, deren Verletzung i m gesellschaftlichen (vorrechtlichen) Verstand als strafwürdig und strafbedürftig bewertet wird, bestätigt 2 3 . Ob und inwieweit das Strafrecht die gesellschaftlichen Perzeptionen strafrechtlicher Geltungsbehauptungen i m einzelnen bewirkt, ist für den Nachweis dieser Mitwirkungsleistung belanglos 2 4 . Die M i t w i r k u n g des Strafrechts darf schon deshalb als bestätigt gelten, da empirisch gesichert ist, daß die Bevölkerung das Strafrecht hinsichtlich der fundamentalen Sozialnormen als geltungsbekräftigend w a h r n i m m t 2 5 und da — und nur diesbezüglich kommt es auf eine eindeutige Kausalattribution an — aufgrund allgemeiner handlungs-/ wissenssoziologischer Erkenntnis davon ausgegangen werden kann, daß dieses handlungsleitende Alltagswissen Bestand hat, weil es durch faktisches strafrechtliches Handeln tendenziell Bestätigung erfährt 2 6 : die Bevölkerung hält an ihrem Wissen über das Strafrecht fest, weil es sich als Orientierungs- und Deutungswissen praktisch bewährt, weil die Handlungs- und Interpretationserwartungen in strafrechtsorientierten (strafrechtskommunizierenden) Kontexten 2 7 —jedenfalls i m Kern, insgesamt und à la longue — nicht enttäuscht werden.

II. Gerechtigkeit als notwendige Voraussetzung von Zweckmäßigkeit 1. Die tatsächliche Erfüllung der Formalisierungsaufgabe: Zum Gerechtigkeitsbezug präventiver Determination der Schuld Es ist mithin empirisch gesichert, daß das Strafrecht normgeltungssichernde Wirkungen entfaltet. Gesichert ist zudem, daß sie ausreichen, u m das strafrechtliche Monopol zur Verarbeitung schwerster Abweichungskonflikte zu behaupten; diese Abweichungskonflikte werden dem Strafrecht regelmäßig zur Verarbeitung zugeführt 2 8 , es kann also auch seine Formalisierungsaufgabe erfüllen.

23 S. Streng, Schuldbegriff, S. 289 ff. m. w. Ν 24 Insofern dürfte der entsprechende Einwand von Schumann, Positive Generalprävention, S. 33 f., gegen Schöch, Generalprävention, S. 1103, gegenstandslos sein. 25 Schöch, Generalprävention, S. 1103; Dölling, Strafeinschätzungen, S. 75; Schumann, Positive Generalprävention, S. 51 ; vgl. Maiwald, Verteidigung der Rechtsordnung, S. 69 f.; Schreiher, Effektivitätskontrolle, S. 37; Rottleuthner, Einführung, S. 70. 26 Smaus, Strafrecht, S. 144 f.; Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 37 m. N.; allg. Matthes / Schütze, Einführung, bes. S. 46 ff., 49 ff. 27 Ζ. B. in der Rolle eines Zeugen, Anzeigeerstatters, Opfers, Beschuldigten, Lesers von Kriminalberichten und Gesetzgebungsvorhaben usf. 28 Ca. 90 % aller Straftaten werden aufgrund privater Anzeigen verfolgt; W. Hassemer AK-StGB Vor § Rn. 78 m. N. Trotz der vielfältigen Motive der Anzeigeerstattung durch Opfer oder nicht-justizielle Zeugen — s. Kaiser, Kriminologie (LB) § 54 Rn. 6 ff. m.

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U m die noch empirisch zu klärende Frage, ob sich normgeltungssichernde Wirkungen nur einstellen, wenn das Strafrecht gerecht handelt, sinnvoll beantworten zu können, muß aber zuvor auch noch untersucht werden, ob das geltende Strafrecht die Abweichungskonflikte w i r k l i c h formalisiert verarbeitet. Wenn es diese Aufgabe realiter erfüllt, bedeutet das zwar noch nicht, daß dies eine notwendige Bedingung für die festgestellte normgeltungssichernde W i r k u n g ist; umgekehrt würde aus der Nichterfüllung der Formalisierungsaufgabe aber bereits folgen, daß faktische Gerechtigkeit keine notwendige Bedingung von Zweckmäßigkeit ist. a) Der Bezug auf Gerechtigkeitsvorstellungen

der Gesellschaft

I m allgemeinen w i r d man gewiß davon ausgehen dürfen, daß die strafrechtlichen Wertprinzipien und Schutztechniken zu einem großen Teil realisiert sind und werden 2 9 . Für die Strafzumessung hat die hier unternommene Analyse gezeigt, daß präventive Interessen i m herrschenden M o d e l l in manchen Bereichen sogar zur Mißachtung von so wesentlichen Prinzipien wie dem der Wahrung der Menschenwürde 3 0 und dem der Schuldangemessenheit von Deliktsfolgen 3 1 führen. Es ist aber auch nachgewiesen worden, daß die Rechtsprechung zwar bei der Strafzumessung i m weiteren Sinn aus generalpräventiven Beweggründen teilweise den Schuldgrundsatz verletzt 3 2 und die Anforderungen an die spezialpräventive Prognose ungerechtfertigt verschärft 3 3 , bei der Strafhöhenfestsetzung hingegen regelmäßig die unrechtsinkongruenten Strafdrohungen ignoriert 3 4 und der Prävention trotz starker Berücksichtigung der Vorstrafenbelastung nur so viel unmittelbaren Einfluß gewährt, daß die Unrechtsadäquanz der Strafe zumindest i m Kern erhalten b l e i b t 3 5 . Das besagt zunächst jedoch nur, daß die Rechtsprechung i m Kern weniger ungerecht handelt als sie nach Maßgabe des herrschenden Strafzumessungsmodells handeln würde. Z u prüfen bleibt, ob sie insoweit schon gerechte Strafzumessung betreibt. Denn sowohl die Unrechtsfixierung der Schuld 3 6 als auch die Schuldzuschreibung 3 7 konnten j a auf präventive Motive

N. — eignet sich diese Anzeigeerstattung hinsichtlich der identifizierbaren nicht strafrechtsfremden Motive (Kaiser, ebenda, Rn. 10 f.) als Indikator. Werden Verletzungen nicht angezeigt, dann ganz überwiegend, weil sie nicht als schwerer Abweichungskonflikt wahrgenommen werden (ebenda, Rn. 10); einer strafrechtlichen Formalisierung bedarf es daher auch nicht. 29 S. nur W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 471 f.; vgl. allerdings auch Rn. 487 ff. 30 S. oben S. 49 f., 59 ff. 31 S. oben S. 32 ff. 32 S. oben S. 90 f. 33 S. oben S. 89 f., 90 f. 34 S. oben S. 84. 35 S. oben S. 84. 36 S. oben S. 31 f. 37 S. oben S. 19 ff.

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zurückgeführt werden. Freilich ist bei der Analyse präventiver Determination der Schuld nur gelegentlich auf Gerechtigkeitsbezüge hingewiesen worden. Während es aber zur Delegitimation der herrschenden Schuldrahmentheorie ausreichte, die Konfundierung von Schuld und Prävention nachzuweisen, muß hier nun weiter untersucht werden, ob die präventiv motivierten Schuldzuschreibungen durchgängig von Gerechtigkeitsvorstellungen bestimmt werden und ob diese Gerechtigkeitsvorstellungen prävalent sind. Anzuknüpfen ist hierfür an den — auch Gesetz und Rechtsprechung zugrundeliegenden 3 8 — Ausgangspunkt der herrschenden Doktrin. Sie begründet die Schuldzuschreibung damit, daß „die Verantwortlichkeit des erwachsenen und seelisch gesunden Menschen eine unentbehrliche Vorbedingung jeder auf Freiheit gegründeten Sozialordnung" sei 3 9 , aber auch damit, daß die Gewißheit der Freiheit als Voraussetzung menschlichen Handelns „eine unbezweifelbare Realität unseres sozialen und moralischen Bewußtseins" sei 4 0 . Diese Begründung enthält mithin nicht nur eine Kohlrauschs D i k t u m von der „staatsnotwendigen Fiktion" der Schuld 4 1 entsprechende ordnungspolitische Dimension, sondern auch eine alltagsmoralische Gerechtigkeitsdimension. Ein Strafrecht, das trotz des Wissens um vielfältige faktische Freiheitsdefizite der Menschen grundsätzlich uneingeschränkt Schuld zuschreibt, verfolgt damit zwar auch Ordnungsinteressen; das bedeutet aber nicht, daß es dadurch den „Täter . . . dem Gemeinwohl" opfert 4 2 , denn es trägt zugleich den aus dem autonomistischen Selbstkonzept der Menschen (also auch der Täter) entspringenden Gerechtigkeitsvorstellungen Rechnung. Dabei liegt die Prävalenz bei der Gerechtigkeit, denn die Ordnung wird mittelbar über die Berücksichtigung des autonomistischen Selbstkonzepts stabilisiert. Daß dem Vorgriff auf Freiheit als transzendentaler Bedingung des Menschseins und der intersubjektiven Anerkennung als Mensch (Person 4 3 ), 4 4 durch dieses am sozialen und moralischen Bewußtsein orientierte Schuldverständnis starke Geltung verschafft wird, führt jedoch nur zu einer Mediatisierung, nicht aber zu einer Ausschaltung präventiver Determinationen. Dieses Schuldverständnis bezieht sich nämlich nicht nur auf das allgemeine abstrakte Problem der Ordnung, um das sich jede interpersonale bzw. soziale Gerechtigkeitskonzeption kümmern muß, sondern auch auf die konkrete faktische Ordnung der Gesellschaft. W i e

38 S. oben S. 25 ff.; BGHGSSt 2, 194 (200 f.). 39 Jescheck, A T § 39 I I I 2, S. 386; w. N. oben S. 16 Fn. 55. 40 Jescheck, A T § 37 13, S. 370 (im Original hervorgehoben); w. N. oben S. 20 Fn. 51. Kohlrausch, Sollen und Können, S. 26 (im Original hervorgehoben). 42 Kohlrausch, Sollen und Können, S. 26. 43 Vgl. Arthur Kaufmann, Vorüberlegungen, S. 271 ff., 275, 276. 44 W. Hassemer, Einführung, S. 230; Lüderssen, Freiheitsbegriff, S. 76; Schild, Strafrichter, S. 21 ff., 35 ff.; Streng, Schuldbegriff, S. 297 ff.; H. Otto, Schuld, S. 492 f.; Arthur Kaufmann, Betrachtungen, S. 233 Sp. 2; Roxin, Problematik, S. 651; Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 755 ff.; ders., Ich und Welt, S. 108 ff., alle m. w. N. Vgl. Burkhardt, Zweckmoment, S. 338 ff.

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die Untersuchung zu den § § 2 0 , 21 StGB gezeigt hat, berücksichtigen Gesetz und Rechtsprechung daher nicht gleichermaßen alle empirisch nachgewiesenen Freiheitsdefizite, sondern lassen nur Freiheitsdefizite als De- oder Exkulpationsgründe zu, von deren Anerkennung sie keine erheblichen Stabilitätsverluste befürchten 4 5 . Aber auch diese präventionsorientierte Selektivität stellt die Prävalenz der Gerechtigkeit bei der Festlegung von Verantwortlichkeit nicht in Frage, soweit sie nur solche Freiheitsdefizite unbeachtet läßt, deren Berücksichtigung eine Destabilisierung des autonomistischen Selbstkonzepts der Menschen und als mittelbare Folge eine erhebliche Ordnungsstörung erwarten läßt 4 6 . W i e die Auswahl von De- und Exkulpationsgründen durch Gesetz und Rechtsprechung nach diesem Maßstab zu beurteilen ist, muß erst bei der Ausgestaltung eines gerechten und zweckmäßigen Strafzumessungskonzepts überlegt werden. Da die Rechtsprechung die Schuldzuschreibung zumindest tendenziell in Übereinstimmung mit den GerechtigkeitsVorstellungen der Gesellschaft vornimmt, genügt es hier darzulegen, daß die Vernachlässigung empirisch-nachweislicher Freiheitsdefizite die Prävalenz der Gerechtigkeit nicht unbedingt, sondern nur dann verletzt, wenn das Vernachlässigen nicht zur Stabilisierung des autonomistischen Selbstkonzepts erforderlich ist. Die Unrechtsfixierung der Schuldhöhenfestsetzung i m allgemeinen wie auch die regelmäßig maßvollen Festsetzungen durch die Rechtsprechung befinden sich ebenfalls in tendenzieller Übereinstimmung mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft. Auch in nicht(straf)rechtlichen sozialen Kontrollsystemen wird das Maß des Zur-Verantwortung-Ziehens nicht unwertindifferent und rein schuldbezogen bestimmt; die Sanktionsintensität w i r d wesentlich an dem personalen und sozialen Wert der verletzten Norm ausgerichtet 47 . Dieses Reaktionsmuster entspricht gewiß auch generalpräventiver L o g i k 4 8 , aber eben der L o g i k positiver Generalprävention; es geht nicht um Abschreckung oder allein effizienzorientierte Einübung in Normanerkennung, sondern um die Manifestation der Normgeltung durch Sanktionierung nach Maßgabe des nur sekundär präventiv bestimmten Normwerts. Zwar führen häufige Verletzungen von Normen zu realen Bedrohungsgefühlen, die sich wertsteigernd auswirken können 4 9 . Dieser (auch präventiv deutbare 5 0 ) Faktor hat aber jedenfalls die Unrechtsbewertung der Rechtsprechung i m allgemeinen nicht so stark beeinflußt, daß die strafrechtliche Normenhierarchie (Legalordnung) aufgelöst worden wäre, welche den Wert der Normen 45

Zu auch hier zu vernachlässigenden Differenzierungen s. oben S. 29 Fn. 105. 6 Und das heißt jenseits der Frage der Behandelbarkeit: so bzgl. der Triebtäter zu Recht Stratenwerth, Schuldprinzip, S. 32 f., gegen Jakobs, Schuld, S. 11. 47 S. Popitz, Normative Konstruktion von Gesellschaft, S. 59 f.; m. w. N. v. Trotha, „GegenstandsVerantwortung", u. F.-X. Kaufmann, Verantwortung. 48 S. oben S. 32; vgl. oben S. 87 Fn. 494. 49 W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 200 f.; dazu, daß die Beachtung normativ gesollt ist, Rn. 196, jeweils m. N. so Vgl. Neumann / Schroth, Kriminalität und Strafe, S. 43 f. 4

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primär nach deren gegenwärtiger Bedeutung für die materielle oder immaterielle Bestandserhaltung von Person und Gesellschaft bestimmt 5 1 . Daß auch die judikative Umwertung des verschuldeten Unrecht in relativ niedrige Strafmaßquanten den gesellschaftlichen Bewertungen entspricht, läßt sich aus der Zusammenschau empirischer Befunde zu Delikts- und Sanktionsschwereeinschätzungen der Bevölkerung 5 2 , zum Vorrang des Ob vor dem W i e strafrechtlicher Reaktion 5 3 und zur relativ realistischen und verständnisvollen Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem Strafvollzug 5 4 herleiten. Die Rechtsprechung genügt also insgesamt jedenfalls i m Kern den Kriterien aus der Gerechtigkeit.

b) Gesamtgesellschaftlich konsentierte Gerechtigkeitsvorstellungen in einer heterogenen Gesellschaft: Gerechtigkeit, soziale Schichtung und selektive Strafverfolgung Das Handeln der Rechtsprechung darf aufgrund seiner tendenziellen Übereinstimmung m i t den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft als mindestens i m Kern gerecht beurteilt werden. Das gilt freilich nur, wenn eine Übereinstimmung mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft i m Sinn einheitlicher gesamtgesellschaftlich konsentierter Vorstellungen besteht. Es ist anzunehmen, daß ein solcher Konsens dort notleidend ist, wo das Strafrecht soziale Gruppen ohne — gesamtgesellschaftlich, d. h. auch von den betroffenen Gruppen konsentierte — sachliche Gründe erheblich ungleich belastet. Außerhalb konkreter Anwendung läßt sich eine derartige ungleiche Belastung jedenfalls nicht erkennen hinsichtlich eines sehr großen Teils der i m Besonderen Teil des StGB niedergelegten Normen und der Zurechnungsregeln des Allgemeinen T e i l s 5 5 . Bei der konkreten Anwendung dieser Normen zeigt sich jedoch in den Bereichen der Gewalt- und Eigentumskriminalität bei den älteren Mehrfachtätern eine signifikante Überrepräsentation unterer Sozialschichten 5 6 ; diese Überrepräsentation verdankt sich aber nicht nur einer kriminalisierenden schichtenspezifischen Selektion, die das Dunkelfeld zum Nachteil der unteren Schichten un-

si Zur Rechtsgüterordnung des BT Μ/Schroeder / M, B T / 1 Einleitung Rn. 7 ff.; zur historischen Relativität s. Würtenberger, Rechtsgüterordnung; Lüderssen, Kriminologie Rn. 104 ff. 52 Villmow, Schwereeinschätzung, S. 150 ff., 167; Dölling, Strafeinschätzungen, S. 63 ff.; Schöch, Generalprävention, S. 1096. 53 Schöch, Generalprävention, S. 1102, 1104; H.-J. Albrecht / Dünkel / Spieß, Sanktionsforschung, S. 323. 54 Kury, Einstellung, bes. S. 141 ff., 149 f.; Kaiser, Kriminologie (LB) § 38 Rn. 8 f., je m. w. N. 55 Vgl. Kaiser, Kriminologie (LB) § 37 Rn. 96; Streng, Schuldbegriff, S. 290; Schumann, Konflikttheoretische Kriminologie, S. 82. 56 Kaiser, Kriminologie (LB) § 41 Rn. 26 f. m. N.

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gleich aufhellt 5 7 , sondern auch umfangreicherer K r i m i n a l i t ä t 5 8 . Unter dem Gesichtspunkt umfangreicherer Kriminalität entbehrt eine überproportionale Verurteilung i m ganzen jedoch auch dann nicht des Konsenses der betroffenen Schichten, wenn sich deren sozioökonomische Mangellage als eindeutige wesentliche Ursache identifizieren ließe. Das auch den Angehörigen der unteren Schichten eigene autonomistische Selbstkonzept spräche auch mit Bezug darauf gegen eine Freistellung von Strafe und verstünde sich allenfalls bei ganz außergewöhnlichen Mangellagen zu starken, i m übrigen — und w o h l auch nur in besonderen Fällen — zu schwachen Strafmilderungen 5 9 . Unter dem Aspekt der Überrepräsentation infolge schichtenspezifisch verzerrter Selektion darf man davon ausgehen, daß das autonomistische Selbstkonzept sich zwar ebenfalls gegen eine Nichtbestrafung wendet, nicht aber gegen eine allgemeine Strafmilderung; eine Strafmilderung wäre in diesem Fall nämlich keine Reaktion auf eine — wenn auch schichtspezifisch überproportionale — Freiheitseinschränkung, sondern die K o m pensation einer strukturellen Benachteiligung. Die Frage, ob eine Kompensation schichtenspezifischer Überrepräsentation auf der Ebene der Strafzumessung geleistet werden sollte oder könnte 6 0 , braucht an dieser Stelle gleichwohl nicht erörtert zu werden. Denn die von einer solchen Strafzumessung zu erwartenden Strafmilderungen würden die Strafen nicht so stark senken, als daß man die nicht-kompensatorische Strafzumessung der Rechtsprechung — die trotz der die unteren Schichten stärker belastenden strafschärfenden Berücksichtigung von Vorstrafen 6 1 als noch unrechtsadäquat beurteilt werden k a n n 6 2 — nicht mehr als i m Kern auch von den betroffenen Schichten konsentiert und daher gerecht betrachten dürfte.

2. Die Wahrnehmungen der Bevölkerung: Einstellung und soziales Handeln Für die Begründung des Strafrechts aus Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit i m Rahmen der Theorie positiver Generalprävention konnte bislang die Erfüllung von zwei notwendigen Voraussetzungen festgestellt werden: Das geltende Strafrecht ist zweckmäßig, denn es entfaltet normgeltungssichernde Wirkungen, und es handelt in der Anwendung durch die Rechtsprechung i m Kern auch gerecht, denn es stimmt tendenziell mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft überein. Eine notwendige Bedingung kann das gerechte Handeln aber nur sein,

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Eisenberg, Kriminologie § 27 Rn. 7 m. N. Zipf, Kriminalpolitik, S. 135; Eisenberg, Kriminologie § 44 Rn. 12 m. N. 59 Vgl. Streng, Schuldbegriff, S. 290 f. 60 S. Kerner, Unrechtsbewußtsein, S. 118; Jäger, Veränderung, S. 19 f. m. w. N. 6 1 S. oben S. 81 ff. 6 2 S. oben S. 84. 58

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wenn zwei weitere Voraussetzungen gegeben sind: Die Bevölkerung darf nicht nur unterstellen, daß das Strafrecht ihren Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht, sie muß zumindest positive Kenntnis von der grundsätzlichen Wertorientierung des Strafrechts haben; und schließlich muß die Akzeptanz durch die Bevölkerung gerade von dem gerechten Handeln abhängen.

a) Positive Kenntnis und Einstellung der Bevölkerung zum gerechten Strafrecht Das Bild, welches die Bevölkerung v o m Strafrecht hat, w i r d stark durch die Massenmedien geprägt. Das gilt wohl auch für den T e i l der Bevölkerung, der als Beschuldigter, Opfer, Zeuge oder Gerichtsöffentlichkeit mit dem Strafrecht i n unmittelbare Berührung gekommen ist. In den Massenmedien erscheint die Strafjustiz jedoch spezifisch verzerrt und verkürzt. Überwiegend wird von Gewaltdelikten berichtet 6 3 ; die Tat oder der erste polizeiliche Zugriff stehen i m Vordergrund, der weitere Gang des Verfahrens oder gar der Strafvollzug kommen in der Berichterstattung nur selten v o r 6 4 . Dennoch reichen die Mitteilungen über beispielsweise schuldmindernde Umstände bei Tötungsdelikten und die infolgedessen verhängten ermäßigten Strafen oder über kriminalpolitische Auseinandersetzungen — w o h l i m Verbund mit dem aus vielen Quellen gespeisten (sozialisatorisch) tradierten Alltags wissen 6 5 — offenkundig aus, um die Bevölkerung über das zu informieren, was hier als gerechtes Handeln ausgezeichnet worden i s t 6 6 . Allerdings bieten die Untersuchungen, welche die positive Kenntnis der Bevölkerung von der grundsätzlichen Wertorientierung des Strafrechts belegen, hinsichtlich der zentralen Frage, ob sich normgeltungssichernde Wirkungen nur einstellen, weil das Strafrecht die Abweichungskonflikte — wenigstens i m großen und ganzen — formalisiert verarbeitet, ein widersprüchliches Bild. Einerseits gibt es Untersuchungen, die die Zustimmung zu einer unrechtszentrierten Strafzumessung belegen 6 7 , die zeigen, daß von dem Strafrecht diese formalisierte Verarbeitung erwartet w i r d 6 8 . Andererseits existieren gegenläufige Befunde, aus denen sich der überwiegende Wunsch der Bevölkerung nach härteren und stigmatisierenderen Strafen 6 9 oder das Verlangen nach Beseitigung effizienzstörender Verfahrenssicherungen 70 ergibt. 63

Jung, Massenmedien, S. 295; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 24 m. N. 64 Kerner / Feltes, Medien, S. 101. 65 Vgl. Schöch, Generalprävention, S. 1087; Müller-Dietz, Integrationsprävention, S. 825. 66 Vgl. Schild, Strafrichter, S. 91 f.; Kury, Einstellung, S. 136 ff., je m. N. 67 S. oben S. 106 mit Fn. 52. 68 Vgl. Schumann, Positive Generalprävention, S. 45, 48. 69 S. Kaiser, Kriminologie (LB) § 38 Rn. 7 m. N. 70 Arzt, Recht und Ordnung, S. 75 ff.

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V o n dieser Widersprüchlichkeit darf man sich jedoch nicht zu dem Schluß verleiten lassen, daß das Strafrecht klug zwischen den schwankenden 7 1 gegenläufigen Erwartungen lavieren müsse 7 2 oder gar daß gerechtes Handeln für die Wirksamkeit des Strafrechts ohne Bedeutung sei. A u c h die Ausführungen zu den Gerechtigkeitsvorstellungen müssen entgegen dem ersten Anschein nicht revidiert werden. Diese Befunde beruhen nämlich allesamt auf Untersuchungen über die Einstellungen der Bevölkerung zum Strafrecht, und die Methodologie belehrt darüber, daß (jedenfalls derart unspezifische 7 3 ) Einstellungsuntersuchungen zwar einen Verhaltensbezug haben, aber infolge der Ausblendung der konkreten Erlebens- und Handlungssituationen keine Verhaltensprognosen erlauben 7 4 . Die Einstellungen der Bevölkerung sind daher für das Strafrecht allenfalls — hinsichtlich (längerfristiger) Wechselbeziehungen zu Verhaltensdispositionen — von sekundärer Bedeutung; primär muß das Strafrecht an die tieferliegenden persistenten handlungsleitenden Werte der Gesellschaft anknüpfen, welche das Verhalten der Menschen ihm gegenüber bestimmen. Welche Werte das sind, läßt sich ordnungstheoretischen Einsichten entnehmen, und diese Einsichten bestätigen die Darlegungen zu den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft: Das strafrechtsrelevante soziale Handeln w i r d von utilitätsbegrenzenden Wertorientierungen und autonomiezentrierten Gerechtigkeitsvorstellungen determiniert. b) Zum Verhältnis

von sozialer Ordnung

und Gerechtigkeit

(Autonomie)

Stabile Verhaltenserwartungen kommen überhaupt nur zustande, wenn sich die Folgen des Verhaltens bzw. das Verhalten der anderen und systemischer Instanzen einigermaßen verläßlich vorhersagen lassen 7 5 . Schon aus diesem Grund ist ein Strafrecht, das sich an einem rein präventiven (utilitaristischen) — d. h. komplexen situativen Unterschieden jeweils Rechnung tragenden — Nutzenkalk ü l orientierte, unter dem Aspekt sozialer Ordnung kontraproduktiv 7 6 . Das gleiche gilt für jedes Strafrecht mit schwankenden Zurechnungsregeln 7 7 und Verfahrensmodi78'79. 71

Besonders deutlich bei der Einstellung zur Todesstrafe: Rottleuthner, Einführung, S. 162 ff.; Kaiser, Kriminologie (LB) § 118 Rn. 5. 7 2 Vgl. Kaiser, Kriminologie (LB) § 38 Rn. 10. 73 Zum Spezifitäts-Prinzip Frey / Möhle, Einstellung, S. 137 Sp. 2 m. N. 74 Eingehend Steinert, Strafbedürfnis, S. 322 ff.; s. auch Kaiser, Kriminologie (LB) § 38 Rn. 2. Allg. Meinefeld, Einstellung, bes. S. 188 ff.; Frey / Möhle, Einstellung, S. 137 Sp. 1 ff. Bes. zum Problem der Befragungsmethoden Eisenberg, Kriminologie § 13 Rn. 17 f. Zur Einstellung zur Todesstrafe Steinert, Todesstrafe. 7 5 Popitz, Machtbildung, S. 35; Münch, Parsons und die Theorie des Handelns I, S. 395. ™ S. H.-J. Otto, Generalprävention, S. 274 f. 77 Das dürfte auch die Beständigkeit des personalen Zurechnungsmodus — Schöneborn, Grenzen, S. 690 ff. — erklären. Vgl. Lüderssen, Tendenzen, S. 182. 78 H.-J. Otto, Generalprävention, S. 270 f. 79 Hoerster, Generalprävention, S. 277.

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2. Kap.: Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Modells

Soll darüber hinaus das hohe Maß innerer Stabilität, welches die freiheitlichen westlichen Demokratien derzeit i m allgemeinen kennzeichnet, mindestens erhalten werden, dann muß das Strafrecht nicht nur berechenbar, sondern auch i m Einklang mit den Voraussetzungen dieser Stabilität handeln. Die freiheitliche Demokratie bezieht ihre Stabilität daraus, daß sie i m Gegensatz zu totalitären oder diktatorischen Systemen, in denen gewöhnlich apathische Konformität und Rebellion einander ablösen 8 0 , primär nicht auf externe Verhaltenskontrolle (durch Zwang), sondern auf die Bekräftigung des Selbstverständnisses der Menschen, zur autonomen Selbstbestimmung fähig zu sein 8 1 , setzt 8 2 . Das bedeutet für das strafrechtliche (staatliche) Handeln jedoch nicht, daß es Zweckmäßigkeitsüberlegungen auszuscheiden und sich auf die rein gerechte Bewertung und Sanktionierung der als frei begriffenen Entscheidungen für das Unrecht zu beschränken hätte. Folgenorientierung (Nutzenrationalität) ist nicht nur ein wesentlicher Topos der (jedenfalls heutigen) Legitimationskultur 8 3 ; Zweckgesichtspunkte müssen schon allein deshalb in Betracht gezogen werden, weil Sanktionen für die Verletzung bestimmter Normen ohne Zweckbezug zwar vielleicht hierarchisierbar, nicht aber quantifizierbar s i n d 8 4 , und weil sich ein zweckfreies Recht (als Ausdruck einer zweckfreien Ordnungsvorstellung) den j a auch (eigennützig-) zweckrational handelnden Menschen nicht konkret und wirksam vermitteln läßt 8 5 . Die Zweckverfolgung darf aber die Autonomie des einzelnen nicht grundsätzlich in Frage stellen. Sobald das Strafrecht nämlich Prävention nicht mehr durch Appell an die persönliche Verantwortung, sondern durch externe Zwangskontrolle betreibt, verliert es seine „moralische A u t o r i t ä t " 8 6 und Akzeptanz 8 7 . A u c h ein Strafrecht, dem es um die Sicherung individueller Autonomie geht, erscheint dann, wenn es sich i m wesentlichen auf Abschreckung und Dressur stützt, Einbußen an individueller Gerechtigkeit hinnimmt oder sogar Beweiserfordernisse bzw. die Unschuldsvermutung geringschätzt, als ein Akteur, der w i l l k ü r l i c h nach

so H.-J. Otto, Generalprävention, S. 272 f. m. N. 81 S. oben S. 104 Fn. 44. 82 Eingehend H.-J. Otto, Generalprävention, S. 264 ff. m. N. Daß sich H.-J. Otto hierbei wesentlich auf Parsons — in der Rekonstruktion von Münch, Parsons und die Theorie des Handelns I — stützt, bedeutet nicht den Ausschluß berechtigter konflikttheoretischer — dazu knapp Neumann / Sehr oth, Kriminalität und Strafe, S. 116 ff. — Aspekte: gegen dieses (konsens- / integrationstheoretische) Mißverstehen des Strukturfunktionalismus zutreffend Kiss, Soziologische Theorien II, S. 216 f. m. N. 83 W. Hassemer, Konstanten, S. 510 m. Fn. 41 m. N.; s. dens., Einführung, S. 22 f., 284 f. 84 S. oben S. 39 m. N. Daß dies auch für eine auf Kant rekurrierende Strafbegründung gilt, bestätigen Forschner, Kant versus Bentham, S. 389, 393 f.; Oberer, Kantische Strafrechtslehre, S. 415, 418 f. 85 Becker, Konsenskonzept, S. 402 f.; M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 475; H.-J. Otto, Generalprävention, S. 266, 263, 286 m. N. 86 Durkheim, Soziologie und Philosophie, S. 129; s. auch S. 131. 87 Habermas, Legitimität, S. 11 f., 12; ders., Volkssouveränität, S. 473; H.-J. Otto, Generalprävention, S. 269.

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dem Gesetz des Stärkeren handelt; das Strafrecht erscheint nicht als legitimer Inhaber des Gewaltmonopols, sondern als ungebändigte Macht. Bedient sich das Strafrecht vornehmlich äußerer Kontrollmechanismen, dann zerstört es damit nicht nur langfristig seine ordnungsstiftende Kraft, es untergräbt auch das Ordnungsfundament der freiheitlichen Gesellschaft 8 8 und trocknet die wesentliche Quelle der individuellen Motivation zu normkonformem Verhalten aus 8 9 . Ein abschreckendes und dressierendes Strafrecht bekundet starkes Mißtrauen in die Fähigkeit zur Eigenverantwortung und behandelt alle Menschen tendenziell als heteronom. A u f Dauer schwächt das die Selbstkontrolle aus individueller Verantwortung und verändert damit einhergehend die Selbstwahrnehmung der Menschen; sie begreifen sich zunehmend als fremdbestimmt und fremdbestimmungsbedürftig 9 0 . Und j e mehr das Strafrecht sich veranlaßt sieht, auf die Schwächung der Selbstkontrolle mit der Verschärfung externer Zwangskontrolle zu reagieren, um so intensiver w i r d das autonomistische Selbstkonzept beschädigt. Diese ordnungstheoretischen Erkenntnisse schließen nicht aus, daß sich m i t ungerechten rein präventiven Maßnahmen kurzfristig normsichernde Wirkungen erzielen lassen 9 1 ; eine dauerhafte Zweckmäßigkeit erreicht das Strafrecht jedoch nur, wenn es in tendenzieller Übereinstimmung mit den sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen h a n d e l t 9 2 9 3 .

B. Normative Legitimation Normative und empirische Legitimation sind i m hier verfolgten Begründungsansatz wegen des Verhältnisses von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit als deren notwendiger Bedingung nicht in der gewohnten Weise zu trennen. Die empirische Legitimation der Theorie positiver Generalprävention hat den Aufweis der normativen Legitimität des geltenden Strafrechts bzw. der von einem Strafrecht zu erfüllenden Legitimationserfordernisse sowie der Prävalenz der Gerechtigkeit zwingend eingeschlossen. M i t Bezug auf diese Darlegungen sind daher nur noch

88 H.-J. Otto, Generalprävention, S. 282 f. 89 H.-J. Otto, Generalprävention, S. 270 f.; vgl. Lüderssen, Generalpräventive Funktion, S. 69. 90 H.-J. Otto, Generalprävention, S. 270 f. 91 Neumann, Zurechnung, S. 270, 273. 92 S. noch W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 437; Streng, Schuldbegriff, S. 294 f., 291 Fn. 55; vgl. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 92 ff. (Fazit S. 112). 93 Vor dem Hintergrund dieser ordnungstheoretischen Überlegungen wird man genau zu prüfen haben, ob z. B. die Abschaffung der Todesstrafe oder die Liberalisierung des Sexualstrafrechts sich „sorgfältig kalkulierten Ablösungen der Rechtsordnung von kollektiver Irrationalität" (Jäger, Verbrechensmerkmale, S. 194), d. h. der Ausnutzung des Spielraums möglicher Inkongruenz, oder dem Durchgriff auf die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft verdanken.

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2. Kap.: Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Modells

die Sicherungen der Gerechtigkeit, die dieses strafrechtstheoretische Konzept enthält, genauer zu bestimmen und zu bewerten, und es muß untersucht werden, ob diese Sicherungen als hinreichend zu akzeptieren sind. Z u klären ist ferner, ob die positiv-generalpräventive Strafrechtsbegründung wegen ihres Zweckmäßigkeitsbezugs m i t dem Bestimmtheitsgebot kollidiert und ob der Rekurs auf die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft bei der Normanwendung einen (besonderen) Rückbezug verlangt, der das Gesetzesbindungspostulat zu verletzen droht.

I. Argumentative und faktische Sicherung der Prävalenz der Gerechtigkeit Die wesentliche Sicherung der Gerechtigkeit beruht auf dem ordnungstheoretisch begründeten Umstand, daß gerade das scheinbar gegenläufige präventive Interesse an der Aufrechterhaltung einer stabilen Ordnung à la longue auf ein jedenfalls i m Kern gerechtes Strafrecht angewiesen ist. Rechtsspezifische Legitimitätsgewinne kann die Politik nur erzielen, wenn sie den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung hinreichend Rechnung trägt 9 4 . Die Strafjustiz w i r d auch bei den gesellschaftlichen Gruppen, welche Nutznießer eines über Strafrecht betriebenen Status-Managements 95 oder einer über die Auslegung der Strafgesetze (first code) verfolgten Durchsetzung eines „second code" (ζ. Β . einer bestimmten Arbeitsmoral) 9 6 sind, die Akzeptanz verlieren, sobald eine solche Rechtsanwendung den Gleichbehandlungsgrundsatz erheblich verletzt und das Recht daher nicht mehr als gerechtes Recht erlebt w i r d 9 7 . Das bedeutet, daß die kritische Differenz des Rechts gegenüber der Macht, welche Recht als prävalent gerechtes Recht i m Gegensatz zu bloß rechtsförmiger Macht auszeichnet 98 , nicht nur konzeptuell-argumentativ, sondern auch faktisch in der Gesellschaft erzeugt wird. Die Theorie positiver Generalprävention kann mithin zeigen, daß die von ihr postulierte Formalisierungsaufgabe des Strafrechts — in einer an größtmöglicher dauerhafter innerer Stabilität interessierten freiheitlichen Demokratie — nicht nur zufällig, sondern notwendig erfüllt wird. Diese strukturelle Sicherung der Gerechtigkeit enthält zugleich eine inhaltliche Sicherung: eine dauerhafte Zweckmäßigkeit erreicht das Strafrecht nämlich nur, wenn es primär auf die tieferliegenden persistenten Werte der Gesellschaft rekur-

94 S. oben S. 109 ff. 95 D. h. der Reproduktion der vertikalen Schichtungsstruktur bzw. der Marginalisierung niederer Schichten: Steinen, Statusmanagement; Smaus, Strafrecht, S. 31 ff. 96 MacNaughton-Smith, Der zweite Code, und exemplifizierend D. u. H. Peters, Legitimationswissenschaft, S. 129; vgl. Neumann ! Sehr oth, Kriminalität und Strafe, S. 108. 97 Smaus, Strafrecht, S. 98 u. passim. 98 Noll, Gesetzgebungslehre, S. 63 f.

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riert. Dadurch werden die weniger utilitätsresistenten reflexionsinstabilen 9 9 Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung, die in isolierten, zeitlich und sachlich begrenzten Handlungssequenzen entstehen und darin dominant sein k ö n n e n 1 0 0 (und die sich in entsprechend begrenzt angelegten Einstellungsuntersuchungen widerspiegeln 1 0 1 ), zu nachrangigen Faktoren. U m zweckmäßig zu sein, darf sich das Strafrecht nicht kurzschlüssig mit den vielfältigen und schwankenden gesellschaftlichen Wertewelten verbinden; es muß in erster Linie an die sachlich und zeitlich stabile normative gesellschaftliche Verständigung 1 0 2 anknüpfen, aktuelle Verständigungen müssen nur hinsichtlich (längerfristiger) Auswirkungen auf Verhaltensdispositionen berücksichtigt werden 1 0 3 . Aber auch diese stabilen Verständigungen dürfen nicht direkt ins Strafrecht verlängert werden, sondern müssen erst noch prozedurale und materiale Filter passieren. A u f der Normsetzungsebene hält das Grundgesetz als Filter das Gesetzgebungsverfahren und die Grundrechte bereit. Das heißt jedoch nicht, daß der Einfluß der normativen sozialen Verständigung staatlich-heteronom reguliert würde. Denn diese Filter sind nichts anderes als institutionelle Verfestigungen normativer gesellschaftlicher Verständigungen , 0 4 . U n d dafür, daß das Gesetzgebungsverfahren nicht demokratiewidrig zur Neutralisierung jedenfalls der grundlegenden gesellschaftlichen Wertorientierungen mißbraucht werden kann, sorgt der Umstand, daß die an größtmöglicher Stabilität interessierte Politik auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen ist; und eine freiheitliche Gesellschaft, die sich über einen auch auf materiale Richtigkeit bezogenen Sozialisationsmodus reproduziert 1 0 5 , akzeptiert politische Entscheidungen eben nicht schon, wenn sie prozedural korrekt zustande gekommen sind, sondern nur, wenn ihre fundamentalen Wertorientierungen nicht verletzt werden 1 0 6 .

99 Neumann, Zurechnung, S. 275: „reflexionsstabil . . ., d. h.: wenn der Urteilende ohne persönliches, durch die Beziehung zu einem Beteiligten bestimmtes Engagement sine ira et studio die Entscheidung über die Zurechenbarkeit trifft". 100 Und die in diesem Horizont wohl auch gerecht zu nennen sind. ιοί S. oben S. 109 Fn. 71, 73 f. 102 Der Begriff „normative gesellschaftliche Verständigung" stammt von W. Hassemer, Theorie; eingehend und exemplifizierend S. 160 ff., 221 ff. ι 0 3 Zum Element der Distanz im rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff Marxen, Strafgesetzgebung, S. 547 f. m. N. 104 Vgl. Habermas, Volkssouveränität, bes. S. 467,469,470,474,476; dens., Kommunikatives Handeln 1, S. 332 ff., bes. 344 f., 347, 351 f., 353; dens., Kommunikatives Handeln 2, S. 528 ff., 536 ff.; Münch, Parsons und die Theorie des Handelns II, S. 16 f.; Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 342 ff.; Göhler u. a. (Hrsg.), Politische Institutionen. i° 5 Vgl. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 167 f.; dens., Volkssouveränität, S. 473. 106 Da das Strafrecht primär an die sachlich und zeitlich stabile autonomiebezogene normative gesellschaftliche Verständigung angeschlossen wird, ist deutlich, daß der Vorwurf, zirkelschlüssig nur die jeweils vorherrschenden Strafzielpräferenzen der Menschen abzubilden (Lüderssen, Tendenzen, S. 181; ders., Öffentlicher Strafanspruch, S. 16), zwar vielleicht gegen die Integrationsgeneralprävention (vgl. Müller-Dietz, 8 Hart-Hönig

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Die Theorie positive Generalprävention verfügt somit über gesellschaftlich verankerte Sicherungen; sie verbürgen die Prävalenz der Gerechtigkeit daher nicht nur argumentativ, sondern zugleich faktisch. Strukturell ist die Gerechtigkeit i m Strafrecht stark gesichert; sie muß nämlich auch von einem reinen Ordnungsinteresse, das Gerechtigkeit nicht als eigenständigen Wert anerkennt, als M i t t e l der Normstabilisierung angestrebt werden. Inhaltlich hingegen ist die Gerechtigkeit nur schwach gesichert; denn die Akzeptanz durch die Bevölkerung geht — insbesondere wegen ihres nur groben und spezifisch vermittelten Wissens — nur durch ein gravierend und dauerhaft ungerecht handelndes Strafrecht verloren: die Prävalenz der Gerechtigkeit ist nur i m Kern und nur längerfristig gewährleistet. Jedoch ist auch das insoweit gesicherte gerechte Strafrecht nur — sit venia verbo — relativ unverfügbar. Machtresistent in dem dargelegten Maß ist das Strafrecht allein in einer freiheitlichen Gesellschaft, d. h. in einer Gesellschaft, in der die Idee der Unverfügbarkeit selbst verankert i s t 1 0 7 . Wenngleich der empirisch belegte Zusammenhang von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit — trotz der zu beobachtenden neueren (funktionalistischen) strafrechtstheoretischen und kriminalpolitischen E n t w i c k l u n g e n 1 0 8 hin zu einem „sozial-autoritären" 1 0 9 Strafr e c h t 1 1 0 — dafür spricht, daß die für die Differenz von Recht und Macht grundlegende Idee der Unverfügbarkeit auch weiterhin notwendigerweise beachtet werden wird, so läßt sich das doch nicht mit Gewißheit sagen. Trotz aller Unzulänglichkeiten wird die Prävalenz der Gerechtigkeit i m Strafrecht aber dennoch in nicht unbeträchtlichem Maß und auf absehbare Zeit sichergestellt. Jedenfalls ist kein Begründungsansatz zu sehen, von dem eine i m Vergleich zur Theorie positiver Generalprävention umfänglichere oder dauerhaftere faktische Sicherung erwartet werden darf. Das gilt auch für die objektivistischen Moraltheorien, die den Anspruch erheben, als einzige eine wissenschaftlich gesicherte Begründung richtigen Rechts leisten zu k ö n n e n 1 1 1 .

Rechtsgefühl, S. 42 f.), nicht aber gegen die Theorie positiver Generalprävention berechtigt ist. Aus demselben Grund muß auch nicht erst auf die (grundgesetzlichen) materialen und prozeduralen Filter hingewiesen werden, um den möglichen Einwand, auf einem naturalistischen Fehlschluß zu beruhen (s. Smaus, Generalprävention, S. 97 ff.), zu entkräften: vgl. v. Kutschera, Ethik, S. 227 ff. (52 ff.); Bien, Menschliche Meinungen und das Gute, S. 371; Geädert, Recht und Moral, S. 257 ff. ιόν S. noch W. Hassemer, Unverfügbares, S. 200 ff., bes. 201. io« W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 481 ff. m. N. 109 Calliess, Strafzwecke, S. 1338 Sp. 1; vgl. P.-A. Albrecht, Entwicklungstendenzen. HO s. oben S. 35 f. in S. Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, S. 94 ff., 117.

§ 5. Die Theorie positiver Generalprävention

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I I . Z u r fehlenden Überlegenheit objektivistischer Ethiken (am Beispiel von Kant, Hegel und der Diskursethik) Auch mithilfe der anspruchsvollsten objektivistischen Ansätze zur Begründung der Autonomie des Menschen oder einer universalistischen Ethik läßt sich nicht zeigen, daß das autonomistische Selbstkonzept der Menschen, d. h. das Substrat der Gerechtigkeitsvorstellungen freiheitlicher Gesellschaften und das Fundament des auch aus reinen Ordnungsinteressen resultierenden Postulats gerechten Strafens, faktisch universelle und umfassende Geltung hat. Diese Ansätze geben auch nichts dafür her, daß sich autonomiebezogene Gerechtigkeitsvorstellungen mit einer v o m Stand gesellschaftlicher Entwicklung unabhängigen Notwendigkeit i m Strafrecht niederschlagen w ü r d e n 1 1 2 . Der von Kant unternommene Versuch, durch Verweis auf das „Faktum der V e r n u n f t " 1 1 3 die Wirklichkeit der transzendental 1 1 4 deduzierten moralischen A u tonomie des Menschen 1 1 5 , verstanden als Freiheit von allen empirisch-kausalen Bestimmungsgründen und zur Selbstgesetzgebung nach den verpflichtenden I m perativen der reinen praktischen V e r n u n f t 1 1 6 , zu beweisen 1 1 7 , ist nicht akzeptab e l 1 1 8 . Untersucht man diesen Begründungsschritt nämlich genauer, so erweist er sich als Anstrengung, den triftigen Einwand, dieser Autonomiebegriff sei zwar denkmöglich, handele aber nur von einer Fiktion, allenfalls von einer partikulären W i r k l i c h k e i t 1 1 9 , und dürfe die anthropologischen Grundlagen einer Ethik daher nicht v ö l l i g bestimmen, durch Rekurs auf Erfahrung zu entkräften, ohne die begriffswidrigen empirischen Verschmutzungen autonomen Handelns zur Kenntnis nehmen und konzeptuell verarbeiten zu müssen 12 °. Bestätigung w i r d in einer „Erfahrung" gesucht, die sich nicht an tatsächliches Geschehen anschließt, sondern nur auf die Anwendbarkeit der deduzierten „Ordnung der Begriffe" hin-

112 Andere Probleme der objektivistischen Ethiken — wie z. B. die Einwände gegen traditionell-metaphysische Ansätze (s. nur Schulz, Ethik, S. 128 ff., 252 ff., bes. 317 ff.; Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 35 ff.; zur Diskussion um eine nicht-traditionelle Metaphysik s. Oelmüller (Hrsg.), Metaphysik heute?, darin insb. Poser, Metaphysik) oder Bedenken staatstheoretischer bzw. verfassungsrechtlicher Art (s. oben S. 9 Fn. 25) — bleiben im allgemeinen außer Betracht. 113 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 56. Vgl. z. B. Wolff, Generalprävention, S. 810 f. 114 Zu diesem Begriff im Kantischen Sinn Höffe, Transzendentale Ethik, S. 145 ff.; vgl. Prauss, Freiheit als Autonomie, S. 146 ff. 115 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, §§4 — 8; ders., Grundlegung, Β 97 ff.; s. auch dens., Kritik der reinen Vernunft, Β 472 ff. 116 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 8; vgl. die Differenzierungen bei Prauss, Freiheit als Autonomie, S. 62 ff. 117 Zu dem Begründungsgang im ganzen s. nur Höffe, Kant, S. 197 ff., 204 f. 118 Treffende eingehende Kritik bei Schwemmer, Ethische Untersuchungen, S. 182 ff. •19 Vgl. Höffe, Kant, S. 202, 203. 120 Vgl. Schulz, Ethik, S. 131 ff.

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w e i s t 1 2 1 . Die L o g i k dieses „idealistischen Fehlschlusses" 1 2 2 kommt darin, wie Kant die von ihm exemplifizierend gestellte Frage, ob jemand, „wenn sein Fürst ihm, unter Androhung" einer „unverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann . . . a b z u l e g e n , . . . so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte", erörtert 1 2 3 , deutlich zum Ausdruck. Kant diskutiert nicht erwartbare tatsächliche Handlungsmöglichkeiten, sondern nur die begrifflich notwendige Antwort, deren W i r k l i c h keit aber erst durch das Beispiel zu bestätigen gewesen wäre: „ O b er es tun würde, oder nicht, w i r d er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es s o l l " 1 2 4 . Ist aber die universelle und umfassende Wirklichkeit der moralischen Autonomie des Menschen nicht zu beweisen, dann kann auch nicht als bewiesen gelten, daß ein den Imperativen der reinen Vernunft unterstehender Gesetzgeber, der über das V o l k nur das beschließen darf, was das V o l k über sich selbst beschließen k a n n 1 2 5 , sich notwendig an einem Nutzenrationalität ausschließenden autonomistischen Selbstkonzept der Menschen und den daraus resultierenden Gerechtigkeitsvorstellungen orientiert. Aber selbst wenn die Gesetzgebung auf der Grundlage einer solchen Anthropologie erfolgte — und hier schließt sich der Kreis — , dann könnten die Gesetze zwar einen homo noumenon 1 2 6 , nicht aber einen w i r k l i chen Menschen verpflichten 1 2 7 . Trägt man nun jedoch dem Umstand, daß die Nutzenrationalität Element auch eines primär autonomistischen Selbst- und Rationalitätskonzepts wirklicher Menschen ist, dadurch Rechnung, daß man die strikte kategoriale Trennung von Intelligiblem (Noumenalem) und Empirischem (Phänomenalen) 1 2 8 aufgibt und von einer Spannung ausgeht, die sich innerhalb der

•2i Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 54; vgl. A 56. Dazu Schwemmer, Ethische Untersuchungen, S. 191. 122 „der uns die /contingente Komplexität des Faktischen — also der Welt, in der wir tatsächlich leben und von der wir ein Teil sind — als (zumindest letztlich) notwendiges Ergebnis der Verwirklichung des Vernünftigen sehen lassen möchte, uns tatsächlich dadurch aber den Blick für das Faktische nimmt. Der Fehlschluß entsteht aus der Verwechslung der (methodischen) Feststellbarkeit und (terminologischen) Darstellbarkeit von Fakten in theoretisch verallgemeinernder Absicht mit der (methodisch nicht geregelten) Erlebbarkeit und (terminologisch nicht bestimmten) Wahrnehmbarkeit des Faktischen": Schwemmer, Ethische Untersuchungen, S. 189; vgl. Apel, Diskurs und Verantwortung, S. 354 f., 442 f. m. w. N. 123 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 54. 124 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 54 (Hervorhebungen von K. H.-H.); vgl. Schwemmer, Ethische Untersuchungen, S. 191. 12 5 Kant, Gemeinspruch, A 266; ders., Metaphysik der Sitten, A 192; vgl. Dreier, Recht, S. 299 f. 126 Kant, Metaphysik der Sitten, A 48; s. hierzu m. vielen w. Text-N. Ricken, Homo noumenon. 127 Becker, Konsenskonzept, S. 402; Habermas, Moralität, S. 28; vgl. Fleischer, Autonomiekultur, S. 61.

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tatsächlichen gesellschaftlichen Alltagspraxis als (kontrafaktischer, mit der Nutzenrationalität zu vermittelnder) Vorgriff auf Freiheit bemerkbar m a c h t 1 2 9 , erhält man einen Begründungsansatz, der dem der Theorie positiver Generalprävention i m Grunde entspricht 1 3 0 . A u f dem bei Kant festgestellten idealistischen Fehlschluß beruht auch die Begründung Hegels. Die fundamentale Annahme, daß Idee und Wirklichkeit des vernünftigen freiheitsgesetzlichen Rechts notwendig aufeinanderzulaufen 131 , w i r d nicht durch die tatsächliche geschichtliche Entwicklung, sondern durch den Gang des absoluten Geistes bestätigt 1 3 2 : Der absolute Geist stellt sicher, daß in dem Verbrecher, nachdem er verbrochen hat, der substantiell-allgemeine Vernunftwille wieder wirksam wird; dies führt notwendig dazu, daß sich der Verbrecher seiner Vernünftigkeit bewußt w i r d und selbst verlangt, als Vernünftiger, d. h. „als frei v o m natürlichen D a s e i n " 1 3 3 , unter das von ihm aufgestellte Gesetz als sein Recht subsumiert zu werden 1 3 4 ; die notwendige Erfüllung dieses Anspruchs verdankt sich ebenfalls dem absoluten G e i s t 1 3 5 . Lehnt man die traditionell-metaphysische 1 3 6 teleologische Spekulation 1 3 7 , auf der diese Konstruktion fußt, ab und interpretiert Hegel z. B. auf einer sich empirisch vergewissernden entwicklungstheoretischen oder ethnomethodologischen 1 3 8 Grundlage, dann gewinnt man zwar ein wirklichkeitsnahes Konzept, aber dieses Konzept einer auf die gegenseitige Unterstellung von Autonomie angewiesenen „interpersonalen A n e r k e n n u n g " 1 3 9 entspricht dann — wenn man seinen Realitätsgehalt nicht durch Vernachlässigung der damit zu vermittelnden Nutzenrationalität des Menschen wieder beseitigt 1 4 0 — wiederum dem in der Theorie positiver Generalprävention zugrundegelegten A n s a t z 1 4 1 . 128 Zur Kritik an der Zwei-Reiche-Lehre s. die vorige Fn. sowie Bubner, Handlung, S. 139 ff., 207 ff. (vgl. S. 251 ff.); Baurmann f Zweckrationalität, S. 33 ff. 129 Vgl. Habermas, Moralität, S. 24,28; oben S. 20 f. Die nicht-dualistische Interpretation, die Schnädelbach, Das Gesicht im Sand, S. 243 ff., gibt, um Kant (gegen eine Kritik aus Hegelscher Perspektive) zu verteidigen, stärkt die hier vertretene Position. ι 3 0 S. oben S. 144 f., 152 ff. Zum ordnungspolitischen Inhalt der Kantischen Argumentation s. H.-J. Otto, Generalprävention, S. 277 f., u. vgl. oben S. 15 Fn. 18. 131 Hegel, Philosophie des Rechts, § 40; ders., Geschichte der Philosophie II, S. 107; s. Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, S. 111 f. m. w. Text-N. 132 Hegel, Philosophie des Geschichte, S. 32, 77; s. Schulz, Ich und Welt, S. 261 ff. m. w. Text-N. 133 Hegel, Propädeutik, S. 119 (im Original hervorgehoben). 134 Hegel, Philosophie des Rechts, § 100. 135 Dazu und zum ganzen Begründungsgang Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, S. 91 ff. m. w. Text-N. 136 S. oben S. 115 Fn. 112. 137 Dreier, Recht, S. 339; vgl. Habermas, Moralität, S. 29. 138 Vgl. Daniel, Hegel, S. 192 ff.; s. auch Siep, Anerkennung, S. 294 ff. 139 Vgl. Herzog, Manifestation, bes. S. 65 ff., 104 ff. 140 Wie dies bei Herzog, Manifestation, der Fall ist. Er thematisiert das Problern zwar nicht, will aber alle Spuren von Wirkungsbezug tilgen (vgl. S. 48 — 56) und muß daher

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A n der Diskursethik 1 4 2 schließlich kann besonders eindrucksvoll demonstriert werden, daß keine moraltheoretische Begründung, die sich in fallibler Weise der Wirklichkeit stellt und der es auf praktische Wirksamkeit ankommt, eine dem positiv-generalpräventiven Ansatz überlegene Sicherung der Prävalenz der Gerechtigkeit zu gewährleisten vermag. Hinsichtlich ihres deontologischen Charakters 1 4 3 w i r d der Diskursethik eingewendet, daß sie die Nutzenrationalität w i r k l i cher Menschen vernachlässige und so das reale — und für die praktische Effektivität einer Ethik zentrale — Entscheidungsdilemma angesichts konkreter Verpflichtungen umgehe und die realen Bedingungen der Möglichkeit des „moral point of v i e w " ignoriere 1 4 4 . I n dieselbe Richtung geht der V o r w u r f des intellektualistischen Fehlschlusses 145 bzw. des ethischen Intellektualismus 1 4 6 : Entscheidung sei nicht rest-dezisionistisch, sondern in Rationalität kontextuell eingebunden. Ferner ist kritisiert worden, der deontologischen Bevorzugung des Richtigen gegenüber dem Guten liege selbst eine bestimmte Theorie des Guten zugrunde 1 4 7 . Das Selbstverständnis der Diskursethik, wegen ihres prozeduralen Charakters eine formalistische Ethik zu sein, w i r d durch den Nachweis, daß das angezielte Verfahren ein bestimmtes kulturspezifisches materiales Gerechtigkeitsprinzip zwingend voraussetze, bestritten 1 4 8 . U n d allein schon mit B l i c k auf die genannten anthropologischen und kulturellen Voraussetzungen w i r d endlich der universalistische Charakter der Diskursethik angegriffen 1 4 9 . Diese Einwände — die ebenfalls die

die Nutzenrationalität ausklammern. Infolgedessen vermag auch die ethnomethodologische Reformulierung (S. 89 ff.) den zu Recht vorweggenommenen Vorwurf, „Vernünftelei jenseits der in Frage stehenden Praxis" zu betreiben (S. 88), nicht zu entkräften. Vielmehr mündet dieser Versuch dann — wie bei Kant — in einen idealistischen Fehlschluß (s. oben S. 116). 141 Vgl. Habermas, Moralität, S. 22; Schild, Strafrichter, bes. S. 35 ff. 142 Insb. Habermas, Moralbewußtsein, S. 53 ff.; ders., Moralität. — Auf eine Unterscheidung von transzendentalpragmatischer (Apel) und universalpragmatischer (Habermas) Variante (vgl. Apel, Fallibilismus, S. 207 Fn. 84; Habermas, Moralbewußtsein, S. 86 ff., 106) der Diskurstheorie wird verzichtet. Abgesehen davon, daß man Apel mit guten Gründen bestreiten kann, eine Letztbegründung zu leisten (s. nur Baumgartner, Geltung; Höffe, Kantische Skepsis; Becker, Absolutismus) — also gerade das, um dessen willen er auf der Differenz beharrt, vgl. Apel, Begründung —, kann diese Differenz vernachlässigt werden, weil auch der transzendentalpragmatische Ansatz bei der folgenden Erörterung des hier allein interessierenden Aspekts des deontologischen, formalistischen und universalistischen Charakters mittelbar behandelt wird. 143 Die folgenden Charakteristika der Diskursethik sind explizit formuliert bei Habermas, Moralität. 144 Becker, Konsenskonzept, S. 402 f. 145 Ilting, Geltungsgrund. 146 Schnädelbach, Neoaristotelismus, S. 57 ff. 1 47 Taylor, Verfahrensethik, bes. S. 119. us Honneth, Implizites Gerechtigkeitskonzept, bes. S. 188. i49 S. insb. Taylor, Verfahrensethik; Bubner, Geschichtsprozesse, S. 173 ff.; dens., Rationalität; Waidenfels, Lebenswelt, S. 79 ff., bes. 85, 87, 89, 91, 95/ 122, 9 8 / 121, 110, 138 f., 144 f. Vgl. bei Habermas, Moralbewußtsein, S. 88 f. m. Fn. 49, den Hinweis auf den begründeten Verdacht eines „ethnozentrischen Fehlschlusses".

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von der Diskursethik kommunikationstheoretisch reformulierte Kantische M o raltheorie betreffen 1 5 0 — sind nicht nur nicht (überzeugend) entkräftet worden; Habermas hat sie in seiner Antwort auf die Frage nach der M o t i v - und Umsetzungsfähigkeit der Diskursethik i m Grunde sogar ausdrücklich anerkannt: „Soviel also ist richtig: jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen. Sie bedarf einer gewissen Übereinstimmung m i t Sozialisationsund Erziehungspraktiken, welche in dem Heranwachsenden stark internalisierte Gewissenskontrollen anlegen und verhältnismäßig abstrakte Ich-Identitäten fördern. Eine universalistische Moral bedarf auch einer gewissen Übereinstimmung mit solchen politischen und gesellschaftlichen Institutionen, in denen postkonventionelle Rechts- und Moralvorstellungen bereits verkörpert s i n d " 1 5 1 . A l l z u entgegenkommend sind die Lebensformen indes nicht. Trotz festzustellender Spuren universalistisch zu nennender Moral in den Institutionen 1 5 2 verkörpern diese doch vornehmlich nur die Verallgemeinerung von Partikulärem 1 5 3 . Und die Menschen in den westlichen Industriegesellschaften orientieren sich ganz überwiegend immer noch an der konventionellen M o r a l 1 5 4 . U m praktisch zu werden, müßte die Diskursethik daher die in der faktischen gesellschaftlichen Alltagspraxis bestehenden Spannungen zwischen deontologischen und teleologischen, prozeduralen und materialen, universalistischen und partikularistischen Orientierungen konzeptuell verarbeiten. Heraus käme wiederum ein dem, j a auch wesentlich durch ein prozedurales Moment gekennzeichneten 1 5 5 , positiv-generalpräventiven Ansatz entsprechendes moraltheoretisches Konzept. Die Theorie positiver Generalprävention verbürgt mithin lenz der autonomiebezogenen Gerechtigkeit i m Strafrecht von den sub specie praktischer Wirksamkeit modifizierten objektivistischen Moraltheorien jedenfalls nicht übertroffen

die faktische Prävain einem Maß, das bzw. reformulierten wird.

I I I . Bestimmtheitsgebot und Gesetzesbindungspostulat Die faktische Sicherung der Prävalenz der Gerechtigkeit umfaßt auch die Bestimmtheit des Gesetzes 1 5 6 und die Verwirklichung der lex certa durch die 150 Vgl. Habermas, Moralität, S. 16 f.; Taylor, Verfahrensethik; Bubner, Geschichtsprozesse, bes. S. 223 ff. 151 Habermas, Moralität, S. 28 f.; im selben Sinn ders., Volkssouveränität, S. 475 ff. 152 Habermas, Moralität, S. 29. 153 Vgl. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 154. Hieran ändert auch die Rechtsform nichts; Schnädelbachs, Neoaristotelismus, S. 57, Verweis auf die Legalität trifft daher notwendig nur ein generalistisches Element unseres Ethos, ein universalistisches nur historisch-kontingent. 154 Kohlberg, Moral Stages. 155 S. oben S. 113. 156 § 1 StGB; Art. 103 I I GG. Zur Bestimmtheit als Kriterium der Gerechtigkeit W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 210.

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2. Kap.: Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Modells

Bindung des Strafrichters an das Gesetz 1 5 7 . Die Argumentationen, die demgegenüber nachzuweisen versuchen, daß auch eine positiv-generalpräventive Strafrechtsbegründung wie die hier entwickelte zwingend zu einer Verletzung des Bestimmtheitsgebots und des Gesetzesbindungspostulats f ü h r t 1 5 8 , greifen nicht durch, denn sie verfehlen diese Strafrechtsbegründung in mehreren Hinsichten. Sie unterstellen fälschlich, daß Folgenorientierung notwendig auch unmittelbare Folgenorientierung durch den Strafrichter umfasse 1 5 9 ; sie nehmen den Unterschied zwischen Integrationsgeneralprävention und positiver Generalprävent i o n 1 6 0 nicht zur K e n n t n i s 1 6 1 ; sie gehen davon aus, daß der Rückbezug auf die gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen die Orientierung an aktuellen Einstellungen der Bevölkerung bedeute , 6 2 ; und sie nehmen an, daß eine Orientierung an der normativen Stabilität der Gesellschaft ein überschießend-symbolisches Strafrecht 1 6 3 zur Konsequenz habe, welches über die Tatbestände latent bestimmte aktuelle Moralen oder staatliche Ordnungsinteressen durchsetze 1 6 4 . Daß ein w i r k l i c h folgenorientiertes Strafrecht, und das heißt eben auch, ein sich den empirischen Legitimationsanforderungen unterwerfendes Strafrecht 1 6 5 , nicht nur nicht unbedingt eine unmittelbare Folgenorientierung durch den Strafrichter vorsehen, sondern diese strikt ablehnen muß, hat schon die Analyse der unmittelbar-präventiven Strafzumessung deutlich gemacht 1 6 6 . Insbesondere die ordnungstheoretische Argumentation bekräftigt diese ablehnende Haltung i m Rahmen der Theorie positiver Generalprävention durch den Nachweis, daß eine die Menschenwürde verletzende unmittelbare Verfolgung präventiver Strafziele i m ganzen und längerfristig unzweckmäßig wäre. A u c h die Folgenorientierung gebietet also, präventive Strafziele nur mittelbar über die — dem Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit als deren notwendiger Voraussetzung Rechnung tragende — Bestimmung und Bewertung von Schuld und Unrecht und über die Ausgestaltung eines mittelbar-präventiven Strafbemessungsrechts zu verfolgen. Das darf aber nicht als Aufforderung verstanden werden, durch die Kreation von diffusen Universalrechtsgütern und Kriminalisierungen i m Vorfeld von 157 § ι GVG; Art. 97 I, 20 I I I GG u. bzgl. des Analogie- und Rückwirkungsverbots § 1 StGB; Art. 103 I I GG. 158 Smaus, Generalprävention, S. 95 ff.; Kar gl, Generalprävention, S. 108. 159 Smaus, Generalprävention, S. 96. 160 S. oben S. 99 f. 161 Smaus, Generalprävention, S. 94 ff. (wenngleich die Theorie von W. Hassemer, Einführung, — der der hier entwickelte Ansatz in vielen wesentlichen Punkten entspricht — erst in der 2. Aufl. intensiv ausgearbeitet worden ist (S. 316 ff.), war sie doch auch in der 1. Aufl. (S. 292 ff.), auf die Smaus sich bezieht, in den wesentlichen Punkten schon hinreichend deutlich zu erkennen (S. 298 ff.)); Kargl, Generalprävention. 162 Kargl, Generalprävention, S. 108. 163 S. die Differenzierungen oben S. 85 Fn. 479. 164 Kargl, Generalprävention, S. 107 ff.; vgl. Smaus, Generalprävention, S. 96. 165 S. oben S. 46. 166 S. oben S. 46 ff.

§ .

ie Theorie positiver Generalprävention

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Rechtsgutsverletzungen oder von abstrakten Gefährdungen Tatbestände zu schaffen, die weit und unbestimmt genug sind, u m die Verfolgung präventiver Strafziele, die Durchsetzung moralischer Anschauungen oder staatlicher Ordnungsinteressen zu decken 1 6 7 . Solche Tatbestände lassen nämlich die kritische Differenz des Rechts gegenüber der Macht, welches Recht als prävalent gerechtes Recht auszeichnet, vermissen und werden deshalb nicht mehr als gerechtes Recht erlebt; längerfristig mindern solche Tatbestände daher die normgeltungssichernde Kraft des Strafrechts 168 . Da die „Geltung sozialethischer Gesinnungswerte . . . die Bedingung der Möglichkeit für den Rechtsgüterschutz" i s t 1 6 9 , muß das Strafrecht die Stärkung und Sicherung dieser Werte betreiben 1 7 0 ; längerfristig erfolgreich ist das Strafrecht aber nur, wenn es die Prävalenz der Gerechtigkeit beachtet, d. h. wenn es die Gesinnungswerte nicht umfänglich und direkt, sondern nur durch das „Nadelöhr" von Rechtsgütern anzielt 1 7 1 , von anschaulichen und konkreten Rechtsgütern freilich, die in tendenzieller Übereinstimmung mit den persistenten autonomiebezogenen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft personalen Interessen dienen 1 7 2 1 7 3 1 7 4 . Hieraus folgt für das Gesetzesbindungspostulat, daß das positiv-generalpräventiv begründete Strafrecht die Richterbindung ermöglicht und gebietet. Sie ist möglich, weil das Strafrecht dem Strafrichter nicht die nicht zu leistende Aufgabe der unmittelbaren Verfolgung präventiver Ziele aufbürdet. Sie w i r d neben anderen Gründen verlangt, weil das Strafrecht auch der Zweckmäßigkeit wegen sicherstellen muß, daß der Strafrichter nicht seinerseits den Rechtsgutsbezug der Tatbestände lockert, um das Strafrecht für die Durchsetzung strafrechtsfremder Interessen zu öffnen. Die Bindung des Richters darf jedoch nicht dadurch angestrebt werden, daß man ihm die Spielräume nimmt, die es ihm ermöglichen, dem Einzelfall gerecht zu werden und den W i l l e n des Gesetzes zeitgerecht weiterzuentwickeln. Der Gesetzgeber kann weder alle konkreten Fallgestaltungen, die unter seinem Gesetz beurteilt werden müssen, noch den sozialen Wandel voraussehen 175 . U m die normgeltungssichernde Zweckmäßigkeit und die Gerechtigkeit des Strafrechts zu sichern, muß der Gesetzgeber daher richterliche Entscheidungsspielräume wollen, die es der Rechtsprechung erlauben, die tendenzielle Übereinstimmung

167 Vgl. Kargl, Generalprävention, S. 108. Vgl. oben S. 33 ff. u. 38 ff. 168 S. oben S. 111 ff. 169 W. Hassemer, AK-StGB Vor § 1 Rn. 251 (im Original hervorgehoben) im Anschluß an Welzel, Strafrecht, S. 5; s. auch eingehend dens., Theorie, S. 87 ff. no W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 252 mit Präzisierungen. 171 W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 252 (im Original hervorgehoben). 172 S. oben S. 105 f. 173 Das schließt Universalrechtsgüter nicht aus: s. oben S. 35 Fn. 162. 174 Damit ist auch gesagt, daß die monistisch-personale Rechtsgutslehre — s. W. Hassemer, Personale Rechtsgutslehre; dens. AK-StGB Vor § 1 Rn. 274 ff. — als Rechtsgutslehre der Theorie positiver Generalprävention auszuweisen ist. 175 S. nur W. Hassemer AK-StGB § 1 Rn. 19, 17 f. m. N.

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2. Kap.: Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Modells

von Strafrecht und Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Daß der Strafrichter auch nicht durch die Beseitigung von Entscheidungsspielräumen an das Gesetz gebunden werden kann, zeigen die juristische Methodologie und Argumentationstheorie 1 7 6 sowie die empirischen Einsichten in die Voraussetzungen der faktischen Gesetzlichkeit des Strafrechts 1 7 7 . Der über diese Voraussetzungen und die regelungsbereichsspezifisch tatsächlich entscheidungsleitenden Kriterien der Rechtsprechung informierte Strafgesetzgeber muß versuchen, das Strafgesetz so auszugestalten, daß einerseits intentionswidrige Kriterien ausgeschaltet, andererseits das Gesetz auch in den Teilen verwirklicht wird, in denen es nicht an faktisch etablierte Handlungsmuster der Rechtsprechung anknüpfen kann. Ob und wie es dem Strafgesetzgeber bei der Strafzumessung gelingen kann, die Rechtsprechung auf eine Verarbeitung des sozialen Wandels und konkreter Fallkonstellationen festzulegen, die primär auf die zeitlich und sachlich stabilen und nur sekundär und vermittelt auf die aktuellen normativen gesellschaftlichen Verständigungen durchgreift, so daß die Formalisierungsaufgabe des Strafrechts erfüllt und dessen normgeltungssichernde Wirksamkeit nicht nur kurzfristig, sondern langfristig gewährleistet wird, w i r d in dem abschließenden Kapitel, in dem das Strafzumessungsmodell der Theorie positiver Generalprävention zu entwerfen ist, beantwortet.

§ 6. Fazit: Das Leistungsprofil der Theorie positiver Generalprävention Die Theorie positiver Generalprävention liefert eine vollständige und konsistente Begründung des Strafrechts aus der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit als deren notwendiger Voraussetzung. A m geltenden Strafrecht läßt sich zeigen, daß es nur deshalb langfristig normgeltungssichernde Wirkungen entfaltet, weil trotz erheblicher Unzulänglichkeiten insbesondere die Rechtsprechung i m Kern und insgesamt gerecht handelt. Die Prävalenz der Gerechtigkeit ist strukturell gesichert, weil selbst reine Ordnungsinteressen Gerechtigkeit als notwendiges M i t t e l der Normstabilisierung anstreben müssen. Inhaltlich ist die Prävalenz der Gerechtigkeit hinsichtlich aller positiv-generalpräventiv legitimierten Aufgaben des Strafrechts und der Strafe i m Kern und langfristig dadurch gesichert, daß das Strafrecht nur dann von der Bevölkerung als gerecht erlebt und akzeptiert wird, wenn es tendenziell mit der sachlich und zeitlich stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung übereinstimmt, die in den freiheitlichen westlichen Industriegesellschaften v o m autonomiezentrierten Selbstkonzept der Menschen geprägt ist.

176 S. nur m. w. N. Neumann, Argumentationslehre, S. 6 ff., 19 ff.; W. Hassemer A K StGB § 1 Rn. 102 ff. 177 S. nur W. Hassemer AK-StGB § 1 Rn. 129 m. w. N.

§ 6. Fazit: Leistungsprofil der Theorie positiver Generalprävention

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Die Strafrechtsbegründung kann auf größte Akzeptanz rechnen. Aufgrund des spezifischen Verhältnisses von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit führt die Einbeziehung der Nutzenrationalität (Folgenorientierung) nämlich nicht nur zu einer der heutigen empiristischen Legitimationskultur 1 7 8 entsprechenden praktisch wirksamen Begründung, sondern zugleich zu einer Begründung der Prävalenz der Gerechtigkeit, welche aber eben die Zweckmäßigkeit nicht beeinträchtigt, sondern erst ermöglicht. Das Strafrecht auch zweckorientiert nicht-absolut zu begründen, bedeutet also nicht, das „Recht in politischer Bewegung" aufgehen zu lassen , 7 9 . Rein präventiven Interessen muß die positiv-generalpräventive Strafrechtsbegründung in keinem höheren Maß Rechnung tragen, als dies alle objektivistischen Begründungen müßten, wenn sie die Prävalenz der Gerechtigkeit faktisch sichern wollten. Die Theorie der positiven Generalprävention kann widrige kriminalpolitische Strömungen oder ungerechtes Strafrecht nicht verhindern — das kann keine Theorie; sie kann aber Grenzen markieren und zeigen, daß diese Grenzen längerfristig nur um den Preis des Wegfalls normgeltungssichernder Wirkungen und gesellschaftlicher Destabilisierung überschritten werden können. Da die theoretische Bestimmung des Verhältnisses von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit als deren notwendiger Voraussetzung gesellschaftlich verankert ist, verhindert das Durchschlagen der Interferenz der straf(rechts)konstitutiven Elemente auf die Begriffe nicht die begriffliche Kontrollierbarkeit, sondern macht sie erst möglich. Nur mithilfe der diese Interferenz reflektierenden Begriffe von Schuld und Prävention läßt sich differenzierend erfassen, ob in den immer auch präventiv motivierten Schuldzuschreibungen die Gerechtigkeit oder die Zweckmäßigkeit prävalent ist. Die Theorie der positiven Generalprävention verfügt mithin über die argumentativen und kriteriellen M i t t e l zur faktischen Sicherung der Prävalenz der Gerechtigkeit. Der Bestimmtheitsgrundsatz und das Gesetzesbindungspostulat werden durch die positiv-generalpräventive Strafrechtsbegründung nicht spezifisch bedroht. Die gerechtigkeitsabhängige Zweckmäßigkeit fordert, präventive Strafziele nur mittelbar über die Bestimmung und Bewertung von Schuld und Unrecht und die Ausgestaltung eines mittelbar-präventiven Strafbemessungsrechts zu verfolgen. U n d sie verlangt, die Sicherung der Geltung sozialethischer Gesinnungswerte, d. h. der Bedingung der Möglichkeit für den Rechtsgüterschutz, nicht umfänglich und direkt anzugehen, sondern nur durch das „Nadelöhr" von monistisch-personal legitimierten Rechtsgütern 18 °. Die Theorie positiver Generalprävention verpflichtet den Strafgesetzgeber daher, sicherzustellen, daß der Strafrichter die an diesen Maßgaben ausgerichteten Gesetze nicht unterläuft und für die gerechte Entschei-

de S. oben S. 110 Fn. 83. 179 Wie Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, S. 176 (im Original hervorgehoben), meint. '«ο S. oben S. 121 Fn. 171.

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2. Kap.: Grundlegung eines gerechten und zweckmäßigen Modells

dung des Einzelfalls und die zeitgerechte Weiterentwicklung des Gesetzeswillens primär auf die sachlich und zeitlich stabilen und nur sekundär und vermittelt auf die aktuellen normativen gesellschaftlichen Verständigungen durchgreift. Es liegt also nunmehr eine akzeptable Straf(rechts)begründung vor, welche Kriterien zur vollständigen konsistenten Bestimmung eines gerechten und zweckmäßigen Strafzumessungsmodells bereitstellt. Die bereits außerhalb dieses Konstitutionszusammenhangs vorgenommene Delegitimation der unmittelbar-präventiven Strafzumessung ist von dem positiv-generalpräventiven Konzept bekräftigt worden. W i e die übrigen strafzumessungsrelevanten Bestandteile des geltenden Strafrechts zu beurteilen sind, ist i m Umriß und teilweise auch schon konkret sichtbar geworden. Hieran kann bei der jetzt folgenden systematischen Entfaltung des Strafzumessungsmodells der Theorie positiver Generalprävention angeknüpft werden.

3.

Kapitel

Das Strafzumessungsmodell der (kriminalpolitischen) Theorie positiver Generalprävention Keine kriminalpolitische Theorie stellt Kriterien zur Verfügung, welche die deduktiv-analytische Ableitung eines konkreten Gesetzes oder auch nur eines konkreten Modells erlauben. Diese Kriterien sind vage, und sie enthalten nicht die Regeln ihrer Anwendung; ihre konkrete Verwendung muß unter Rückbezug auf die zugrundeliegende Theorie argumentativ gerechtfertigt werden. Der Argumentationsbedarf und der Bedarf an zusätzlichen Begründungen wächst mit der Konkretisierung des Modells. Da die vorangegangene strafrechtstheoretische Grundlegung mit konkretem Bezug auf das geltenden Strafrecht erfolgt ist, sind solche Argumentationen aber vielfach schon geleistet; der Rückgriff auf diese Argumentationen darf also nicht als strikte Ableitung mißdeutet werden. Jede kriminalpolitische, d. h. unter anderem wirklichkeitsbezogene Theorie muß begründen, wie sie sich zur Ungewißheit i n Tatsachenfragen verhält 1 . Unter dem Gesichtspunkt der Depönalisierung stellt sich daher in jedem freiheitsorientierten Konzept die Frage, ob eine die Freiheit des Täters vermehrende Regelung auch getroffen werden darf, wenn zweifelhaft ist, ob dadurch die normgeltungssichernde Wirksamkeit des Strafrechts beeinträchtigt und deshalb die Freiheit potentieller Opfer vermindert wird oder nicht. Der auf dem Panier jedes freiheitsorientierten Konzepts stehende In-dubio-pro-libertate-Grundsatz scheint nicht weiterzuführen. Denn um die Bevorzugung der Freiheit vor anderen Werten oder die Vermehrung der Gesamtfreiheitsmenge (Täter und Opfer) geht es hier nicht 2 , und als an der Qualität oder Quantität der Freiheit von Täter und Opfer orientierte Vorzugsregel scheint der Grundsatz dadurch neutralisiert zu werden, daß — jedenfalls bei gleichwertigen Rechtsgütern 3 , aber (weil sichere Freiheitsvermehrung und nur riskierte Freiheitsminderung gegenüberstehen) w o h l auch i m allgemeinen tendenziell — Äquivalenz gegeben ist. Diese Betrachtung übersieht indes einschlägige kriminologische Befunde. Die — sich teilweise überschneidenden

ι Vgl. Giehring , Ungleichheiten, S. 101 ff. 2 Vgl. Arzt/W , L H 1 Rn. 7; Vogler , Entkriminalisierung, S. 143; H.-L. Günther , Strafgesetzgebungslehre, S. 10 Sp. 1 f.; Marxen , Strafgesetzgebung, S. 550. 3 Vgl. Müller-Dietz , Strafe, S. 47 ff.; Arzt / W, L H 1 Rn. 8; Grimm , Prävention, S. 49.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

— Erkenntnisse zur positiven Funktion des Verbrechens 4 , zur selektiven Strafverfolgung 5 und zum exemplifikativen Charakter des Strafrechts 6 , zu der Präventivwirkung des Nichtwissens 7 bzw. dem eufunktionalen budget des crimes 8 belegen nämlich allesamt, daß der Täter ein Sonderopfer 9 für die Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung erbringt 1 0 . U n d da es ein Sonderopfer an Freiheitsminderung ist, gebietet der In-dubio-pro-libertate-Grundsatz, daß die nutznießende Gesellschaft zum Ausgleich die Beweislast dafür tragen muß, daß eine die Freiheit des Täters vermehrende Regelung zu einer relevanten Minderung der Normgeltung führt. Ist das nicht zu beweisen, so müssen die potentiellen Opfer das Risiko einer Freiheitsbeschränkung durch kriminelles Handeln tragen 1 1 . Das zu tragende Risiko ist freilich nicht allzu groß. Denn der Strafgesetzgeber darf den potentiellen Opfern zwar das Risiko der Freiheitsminderung aufbürden, er darf aber die Realisierung dieses Risikos nicht ohne weiteres hinnehmen. Er ist vielmehr verpflichtet, die auf Entscheidungen unter Unsicherheit beruhende Gesetzgebung als kontrolliertes Experiment durchzuführen 1 2 . Das eröffnet die Möglichkeit, sobald sich die Realisierung dieses Risikos abzeichnet, unverzüglich gegensteuern zu können.

4 S. m. vielen N. Neumann / Sehr oth, Kriminalität und Strafe, S. 98 ff., bes. 109 ff.; W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 57 ff.; Eisenberg, Kriminologie § 10. 5 Rottleuthner, Einführung, S. 122 ff.; Kaiser, Kriminologie (LB) §41; Eisenberg, Kriminologie § 27 Rn. 7, 12 ff., 35 ff.; je m. w. N. 6 Lüderssen, Kriminologie Rn. 617 ff.; vgl. Vogler, Entkriminalisierung, S. 144 m. N., sowie K. Peters, Strafrechtsgestaltende Kraft, S. 13 ff. 7 Ρ opitz, Präventiv Wirkung (differenzierend Lüderssen, Dunkelziffer, S. 257 f.; kritisch Neumann / Schroth, Kriminalität und Strafe, S. 105 ff., jedoch nicht überzeugend, da die relative Autonomie von Rechts- gegenüber Sozialnormen (S. 106) überzogen wird); Brauneck, Kriminalitätsumfang; Kaiser, Kriminologie (LB) § 37 Rn. 92. » Kaiser, Kriminologie (LB) § 37 Rn. 92 m. N. 9 Kohlrausch, Sollen und Können, S. 26; Krümpelmann, Schuldfähigkeit, S. 33. Vgl. Noll, Begründung, bes. S. 16; Lüderssen, Dunkelziffer, S. 255 ff., bes. 259 f., m. w. N. 10 Auch verfehlt von der Ansicht, welche die Argumentations- und Beweislast demjenigen aufbürdet, der eine existierende Norm bekämpft: s. nur Gallwas, Strafnormen als Grundrechtsproblem, S. 895 Fn. 24; vgl. Müller-Dietz, Strafe, S. 42, 44. 11 Im Ergebnis zustimmend: Klug, Sexualstrafrecht, S. 31 ff.; Rudolphi, Rechtsgutsbegriff, S. 161 Fn. 42; W. Hassemer, Theorie, S. 200; ders., Einführung, S. 26 f.; w. N. bei Jäger, Strafgesetzgebung, S. 91 Fn. 40. Die von Jäger, S. 94 ff. m. N., gegen den In-dubio-pro-libertate-Grundsatz vorgetragenen Bedenken betreffen nicht diese Vorzugsregel selbst, sondern nur die Frage, wieviel Sicherheit für einen Beweis verlangt werden kann und darf. 12 Für die Strafgesetzgebung grundlegend W. Hassemer, Einführung, S. 294, 299, 301, 308. S. w. N. bei Marxen, Strafgesetzgebung, S. 533 Fn. 2. —Marxens Ablehnung des Gesetzgebungsexperiments wegen Verkürzung der Distanz zwischen Gesetzgebung und konkreten Fällen ist jedenfalls im Rahmen der Theorie positiver Generalprävention nicht einschlägig. Denn es geht darum, die stabile normative gesellschaftliche Verständigung gegen aktuellere (vom status quo repräsentierte) Verständigungen durchzusetzen, also gerade nicht um Distanzverkürzung, sondern um Distanzverlängerung.

§ 7. Die Grundlage der Strafzumessung

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Die Institutionalisierung der Korrektur von Gesetzen ist jedoch kein exklusives Kennzeichen experimenteller Gesetzgebung. Novellierungen i m übrigen nur zufällig, bei offensichtlich verunglückten Gesetzen oder als Jahrhundertunternehmungen zu betreiben 1 3 , wäre nämlich nur unproblematisch, wenn man Gesetzgebung i m allgemeinen als Positivierung relativ ewiger Normen verstehen könnte 1 4 . Sieht man indes, daß Strafgesetzgebung — auch wenn sie mit einer bedeutend weniger dynamischen Materie als z. B. das Verwaltungs-, Wirtschafts- oder Arbeitsrecht 1 5 zu tun hat — wegen der sich wandelnden normativen gesellschaftlichen Verständigung immer vorläufig i s t 1 6 und auch gelungene Gesetze, die der Rechtsprechung den nötigen Spielraum gewähren, nicht dauerhaft angemessen angewendet werden können, dann erscheint die Institutionalisierung der Korrektur von Gesetzen als notwendige Voraussetzung jeder zweckmäßigen und gerechten Strafgesetzgebung. Die Rechtsprechung und alle anderen relevanten Faktoren sind permanent zu beobachten und auszuwerten, und behutsam ohne Gefährdung einer kontinuierlichen Rechtsentwicklung sind Fehler zu korrigieren bzw. die Gesetze dem Stand normativer gesellschaftlicher Verständigung anzupassen. Die Stabilität der Normgeltung leidet nicht unter einer derart — d. h. bei gut vorbereiteten und justierten sowie an der personalen Rechtsgutslehre ausgerichteten Strafgesetzgebung dann auch: relativ selten — vorgenommenen Gesetzesanpassung, sondern unter der Unterlassung einer solchen Anpassung 1 7 . Der volle positiv-generalpräventive Gehalt des nun vorzustellenden Modells w i r d daher nur sichtbar, wenn man es auch dort, wo sich die Ausgestaltung nicht dem In-dubio-pro-libertate-Grundsatz verdankt oder das Erfordernis gesetzgeberischer Justierung nicht ausdrücklich thematisiert ist, vor dem Hintergrund dieses spezifischen Gesetzgebungsverständnisses liest.

§ 7. Die Grundlage der Strafzumessung A. Die Schuld: Schuldbegriff und Aufgaben des Schuldprinzips Die Illegitimität einer unmittelbar-präventiven Strafzumessung ist bereits eingehend begründet worden 1 8 ; ebenso, daß die freiheitsantezipierende Zuschrei13 Vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, S. 160 ff. Vgl. W. Hassemer, Einführung, S. 255. ι 5 S. Ηöland, Gesetzesevaluation, S. 204. 16 Vgl. W. Hassemer AK-StGB Vor § 1 Rn. 463 ff. m. vielen N. — Hier ist freilich nicht die Vorläufigkeit von „Zeit- und Gelegenheitsgesetzen" (dazu kritisch W. Hassemer, Zeitgesetze), denen man mit guten Gründen einen minderen normativen Status zuerkennen kann (ebenda, S. 204; vgl. Marxen, Strafgesetzgebung, S. 537), sondern die von „Dauergesetzen" gemeint. 17 Vgl. Zipf, Kriminalpolitik, S. 39 ff. 14

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

bung von Schuld als Grund und Maß des Zur-Verantwortung-Ziehens tief in der normativen gesellschaftlichen Verständigung verankert i s t , 9 . Die Strafzumessung muß also wesentlich auf das Schuldprinzip gestützt werden. Aus der empirisch bestätigten positiv-generalpräventiven Bestimmung des Verhältnisses von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit als deren notwendiger Voraussetzung folgt, daß die autonomiebezogen konstituierte Schuld die notwendige und hinreichende Grundlage für die Zumessung der zweckmäßigen und gerechten Strafe ist: sofern die Schuld präventive Bestimmungen nur mittelbar über die Stabilitätserfordernisse des autonomistischen Selbstkonzepts der Menschen aufnimmt, verbürgt sie zugleich die optimal normgeltungssichernde und die prävalent gerechte Zurechnung und Sanktionierung. A u c h die so definierte Schuld w i r d freilich nicht i n einem objektivistischen Sinn festgestellt, sondern in einem sozialen Zuschreibungsprozeß festgesetzt 20 . Eine nicht nur i m Kern, sondern durchgängig prävalent gerechte Strafzumessung ist daher nur zu sichern, wenn sich unvermittelt-präventive Funktionalisierungen und unkontrollierbare Konfundierungen vermeiden lassen und wenn sich der komplizierte Konstitutionszusammenhang unter Bewahrung des Autonomiebezugs in die konkrete Schuldmaßbestimmung transponieren läßt 2 1 .

I. Die volle Einzeltatschuld als Grundlage des vorläufigen Höchststrafmaßes Sucht man nach Kriterien, welche die stabile normative gesellschaftliche Verständigung repräsentieren und eine prävalent gerechte Schuldzuschreibung steuern könnten, so stößt man zunächst auf das Unrecht und die innere Beteiligung an der Tat (Vorsatz, Fahrlässigkeit). Diese Kriterien sind nach unangefochtenen empirisch gesicherten handlungs- und attributionstheoretischen Erkenntnissen tief in der gesellschaftlichen Verständigung verwurzelt 2 2 ; sie lassen sich — insbesondere wegen ihres Rechtsguts- bzw. Tatbezugs — auf eine gleichmäßige Anwendung gewährleistende, relativ einfache und richterlich gewohnte Weise operationalisieren 23 und sind deshalb für eine unmittelbar-präventive Funktionalisierung ziemlich unanfällig. Es fragt sich aber, ob diese Kriterien — zunächst einmal abgesehen von den zu berücksichtigenden Freiheitsdefiziten — hinrei-

18 S. oben S. 46 ff. 19 S. oben S. 104 ff. 20 S. oben S. 24 Fn. 75. Es kommt dabei aber anders als Jakobs, Schuld, S. 5, meint nicht auf eine präventionsfreie, sondern auf eine von einer rein präventionsbestimmten Zuschreibung differente Zuschreibung an. 21 Vgl. Baurmann, Zweckrationalität, S. 259. 22 S. nur m. N. Bierbrauer, Verantwortlichkeit; Schild, Soziale und rechtliche Verantwortungen, und oben S. 105 Fn. 47. 2 3 S. oben S. 80 ff., 82 f.

§ 7. Die Grundlage der Strafzumessung

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chend komplex sind, um alleine auch individuell gerechte Entscheidungen zu ermöglichen. Die herrschende Doktrin verneint das. Die in § 46 I I 2 StGB genannten bzw. auch als Täterschuldfaktoren 2 4 interpretierbaren Umstände dürften nicht vernachlässigt werden. Eine triftige Begründung fehlt jedoch. Daß es sich um Faktoren handelt, auf die „die Rechtsprechung bisher nicht verzichten zu können" glaubt 2 5 , ist unzutreffend. Gerade die Rechtsprechung hat nämlich den herstellungsrelevanten Schuldbegriff mit Ausnahme der Vorstrafenbelastung („Vorleben des Täters") weitestgehend tatschuldbezogen reduziert 2 6 . U n d diese — noch auf verbliebene Ausnahmen und die Vorstrafenbelastung zu erstreckende — Reduktion durch die Rechtsprechung ist i m Ergebnis auch zu begrüßen; die tatschuldorientierte Reduktion bricht nämlich keineswegs „wesentliche Teile seines I n h a l t s " 2 7 aus dem Schuldbegriff heraus 2 8 . Untersucht man die in § 46 I I 2 StGB genannten Faktoren mit Rücksicht auf die dazu vorliegende — i m allgemeinen nur (begrenzt) darstellungsrelevante 29 — Rechtsprechung genauer, so zeigt sich, daß die sogenannten Täterschuldfaktoren den Schuldbegriff nicht individualisieren oder differenzieren, sondern aufweichen und rein präventiven Interessen öffnen. Die Faktoren sind (mit Ausnahme des bei den Freiheitsdefiziten zu berücksichtigenden Gesichtspunkts der „ w i r t schaftlichen Verhältnisse") sämtlich unmittelbar-präventiv funktionalisiert oder funktionalisierbar bzw. an dem autonomistischen Selbstkonzept der Menschen widersprechenden, gesamtgesellschaftlich nicht hinreichend konsentierten Gerechtigkeitsvorstellungen orientiert. A u c h die Faktoren, die sich als Subkriterien der unrechtsfixierten Einzeltatschuld verstehen lassen 3 0 , werden nämlich von der Rechtsprechung dadurch rein präventiven Interessen oder partikulären bzw. strafrechtsfremden Moralen dienstbar gemacht, daß sie deren Bezug zum tatbestandlichen Unrecht und der tatbezogenen Schuld lockert oder sogar aufgibt 3 1 ; auf die

24 Zu Tat- vs. Täterschuld s. knapp m. vielen Ν. Μ / G / Z i p f , A T / 2 § 63 Rn. 7 ff. 25 Bruns, Grundfragen, S. 752; im selben Sinn Lackner, Entwicklungen, S. 32. 26 S. oben S. 100 ff. 27 Bruns, Grundfragen, S. 752. 28 Das gewichtigere anders akzentuierte Argument, diese Entleerung des Schuldbegriffs führe zu präventiven Strafschärfungen (Schöneborn, Regulative Funktion, S. 281; vgl. auch Bruns, Grundfragen, S. 752), ist nicht einschlägig. Denn im Gegensatz zu den kritisierten Ansätzen (Stratenwerth, Tatschuld; Zipf, Strafmaßrevision) geht es dem positiv-generalpräventiven Konzept nicht darum, unmittelbar oder unkontrollierbar präventiv determinierte Schuldfaktoren in den Bereich unmittelbar-präventiver Strafzumessung zu verlagern, sondern sie zu beseitigen. 29 S. oben S. 79, 92 f. 30 § 46 I I 2 StGB: „ . . . die Beweggründe und die Ziele des Täters, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat 31 S. die Rspr.-Übersicht bei Sch / Sch / Stree, § 46 Rn. 12 ff.; E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 97 ff. Eingehende Analyse und Kritik bei Frisch, Strafzumessungsdogmatik, 9 Hart-Hönig

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

sozialethischen Gesinnungswerte w i r d nicht mehr durch das die Prävalenz der Gerechtigkeit sichernde Nadelöhr des Rechtsguts gezielt 3 2 , ihnen w i r d umfassend und direkt Geltung verschafft 3 3 . Dasselbe geschieht m i t dem Faktor „persönliche Verhältnisse", soweit er zu einer durch keine rechtsgutsbezogene Garantenpflicht gedeckten Begründung einer straferhöhenden Pflicht herangezogen w i r d 3 4 . U n d mangels gesicherter Erfahrungssätze läuft auch die Verwendung des „Verhaltens nach der Tat" als Indiz für die Tatschuld 3 5 auf eine Strafschärfung wegen allgemein rechtsfeindlicher Einstellung des Täters hinaus 3 6 . Der Faktor „Vorleben des Täters" ist i m Hinblick auf Vorstrafen bereits bei der Delegitimierung des herrschenden Modells eingehend analysiert worden 3 7 . Es ist dargelegt worden, daß aus erkenntnistheoretischen Gründen wie aufgrund kriminologischer Erkenntnis frühere Verurteilungen allenfalls schuldmindernd zu berücksichtigen sind. Die dennoch erfolgende Zuschreibung erhöhter Schuld wegen vorangegangener Verurteilungen 3 8 erweist sich auch i m Rahmen der Theorie positiver Generalprävention als rein präventiv motiviert. Gerade aus der Sicht des autonomistischen Gerechtigkeitskonzepts der Gesellschaft bewirken von früheren Verurteilungen ausgehende Hemmungsimpulse keine Erweiterung des Freiheitsspielraums, sondern i m Gegenteil eine Einschränkung der Freiheit des Täters, sich für das Unrecht zu entscheiden. Entscheidet sich ein vorbestrafter Täter erneut für das Unrecht, so stellt sich das in der nicht-empirischen, Freiheit antezipatorisch unterstellenden Perspektive daher lediglich als eine freie Entscheidung trotz gegenläufig determinierender Kausalfaktoren dar. Die Entscheidung eines vorbestraften Täters ist nicht freier getroffen worden als die eines nicht vorbestraften Täters. Das antezipierte Maß voller Freiheit ist nicht zu steigern 3 9 . Zwischen einer nur antezipierten und einer — z. B. durch die Überwindung gegenläufiger Hemmungsimpulse indizierten — realen V o l l f o r m der Freiheit könnte nur empirisch unterschieden werden; in der empirischen Perspektive aber lassen sich nur Freiheitseinschränkungen feststellen, es müßte also auch davon

S. 751 ff. Die Replik von Bruns, NStrZR?, S. 18 ff., bes. 20; 41 ff., bes. 56, bestätigt nur deutlich die hiesige Beurteilung. Zu „Gesinnung" u. „bei der Tat aufgewendeter Wille" s. oben S. 40 Fn. 198. 32 S. oben S. 120 f. 33 Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 766. 34 S. Sch / Sch / Siree, §46 Rn. 35 m. Rspr.-N.; Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 763 ff. 3 5 Bruns, RdStrZ, S. 231. 36 Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 776 ff.; dazu die Bedenken deutlich bestätigende Replik von Bruns, NStrZR?, S. 60 f. Zu Tendenzen, hiervon abzurücken, (BGH NStZ 1983, 377 (BGHSt 32, 140 (144 ff.)) m. Anm.) Volk; E. Horn SK-StGB §46 Rn. 133. Unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung ablehnend Vogler, Vorund Nachtaten. 37 S. oben S. 40 ff. 3 « S. oben S. 78 ff., 85, 88 39 Vgl. Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 769.

§ 7. Die Grundlage der Strafzumessung

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ausgegangen werden, daß die Überwindung der Hemmungsimpulse ebenfalls kausal determiniert i s t 4 0 . M i t der strafschärfenden Berücksichtigung der Vorstrafenbelastung werden also keine gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern nur rein präventive Interessen realisiert; diese Strafschärfung bedroht sogar tendenziell das autonomistische Selbstkonzept und die Stabilität der darauf beruhenden Ordnung, da die Strafe m i t zunehmender Schuldüberschreitung immer weniger als Appell an die Selbstverantwortung, sondern als Abschreckung, Sicherungsmaßnahme oder Befriedigung von — notwendig auf ein heteronomes Selbstkonzept verweisenden 4 1 — Strafbedürfnissen wahrgenommen wird. Die in § 46 I I 2 StGB genannten Faktoren erweisen sich also entweder als Subkriterien der Einzeltatschuld oder als hochgradig unmittelbar-präventiv funktionalisiert oder funktionalisierbar; d. h. sie liefern entweder keine zusätzlichen Kriterien oder solche, die entgegen der herrschenden Täterschulddoktrin eine einzelschuldgerechte Strafzumessung nicht ermöglichen, sondern konterkarieren würden 4 2 . U m sicherzustellen, daß solche Umstände — wie insbesondere die Berücksichtigung der Vorstrafenbelastung zeigt — jedenfalls nicht zu Strafen führen, die das Maß überschreiten, welches dem rechtsgutsbezogenen Unrecht und der nicht steigerungsfähigen V o l l f o r m der Schuld des Täters entspricht, muß daher durch Quantifizierung dieser Einzeltatschuld — also volle Schuld zunächst unterstellend — das Höchstmaß der Strafe festgelegt werden. Dieses Höchstmaß ist jedoch einzelfallsensibler als es vielleicht scheinen mag, da Unrecht und Schuld für den quantifizierenden Strafausspruch freilich differenzierter zu qualifizieren sind als dies für den Schuldspruch zu geschehen hat (Unrecht und Schuld als Steigerungsbegriffe 43 ).

Exkurs: Wiedergutmachung Soweit das „Verhalten nach der Tat" nicht als Schuldindikator, sondern unter dem Titel Wiedergutmachung als Grund eines (teilweisen) Strafverzichts betrachtet wird, mag es sich um einen auch positiv-generalpräventiv beachtenswerten Strafzumessungsfaktor handeln 4 4 ; er ist aber nicht an dieser systematischen Stelle zu erörtern. Kurz begründet sei hier aber angesichts der Breite und Intensität der geführten Diskussion 4 5 , warum die Wiedergutmachung in der vorliegenden Arbeit auch andernorts nicht behandelt wird. 40 Eingehend begründet oben S. 41. 41 Rechtstreue nur bei Belohnung des Triebverzichts durch die Bestrafung Nichtverzichtender; s. m. N. Haffke, Rückfall und Strafzumessung, S. 212. 42 Vgl. noch Stratenwerth, Tatschuld, S. 28 ff., sowie Μ / G / Z i p f A T / 2 § 63 Rn. 8 m. w. N. 43 Hillenkamp, Vorsatztat, S. 237 f., 239 ff.; E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 41 ff. 44 Vgl. Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 87 ff.; Roxin, Wiedergutmachung, S. 48 ff.; Schöch, Wiedergutmachung, S. 467; Frisch, Strafzumessungsdogmatik, S. 781. 9*

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

Die bislang vorliegenden empirischen Befunde 4 6 dämpfen bei differenzierter Betrachtung 4 7 die Entpönalisierungs- oder Reformeuphorie. Die Wiedergutmachung dürfte — unter nicht nur positiv-generalpräventiven Gesichtspunkten — nur bei bestimmten Deliktstypen in leichteren Fällen als Strafverzichtsgrund in Betracht k o m m e n 4 8 . Faßt man die Voraussetzungen schärfer ins Auge (Freiwilligkeit, evtl. Leistungsbeginn vor offizieller Entdeckung der Straftat 4 9 ), so schrumpft der Anwendungsbereich erheblich. N i m m t man die materiell- und prozeßrechtlichen Erfordernisse der Formalisierung h i n z u 5 0 , so bleibt w o h l nicht mehr viel übrig. Der Idee der Wiedergutmachung fehlt also die paradigmatische Kraft, die ihr von manchen zugeschrieben w i r d 5 1 , und die eine allgemeinere Erörterung geboten hätte. Die Wiedergutmachung kommt — wenn überhaupt 5 2 — nur in einem voraussetzungsreichen, sehr speziellen Zuschnitt als Strafverzichtsgrund in Frage. Selbst die hinreichende Legitimierung dieses Grundes würde daher den Rahmen eines Modells sprengen.

II. Höchstmaßmindernde Faktoren 1. Freiheitsdefizite Das nach der Einzeltatschuld bestimmte Höchstmaß der Strafe ist nur dann nicht auch das endgültige, wenn positiv-generalpräventiv relevante Strafminderungsgründe zu berücksichtigen sind. M i t Rücksicht auf die Unterstellung voller Schuld bei der Bestimmung des Höchstmaßes müssen zunächst Freiheitsdefizite des Täters in Betracht gezogen werden. Dadurch w i r d das autonomistische Selbstkonzept nicht geschwächt, sondern vor Schwächung oder gar Zerstörung bewahrt. 4

5 S. noch m. vielen N. H. J. Hirsch, Wiedergutmachung; Eser u. a. (Hrsg.), Wiedergutmachung; Lüderssen, Öffentlicher Strafanspruch, bes. S. 37 ff.; Frühauf\ Wiedergutmachung. 46 S. Sessar / Beurskens / Boers, Wiedergutmachung, S. 91 ff.; Schöch, Rechtsstellung des Verletzten, S. 388 Sp. 1 f. 47 Kaiser, Kriminologie (LB) § 38 Rn. 5. 48 Roxin, Wiedergutmachung, S. 49, 53; Schöch, Wiedergutmachung, S. 475. 49

V g l . eingehend Frehsee, Schadens Wiedergutmachung, S. 170 ff., 177 ff.; knapp E.

Horn SK-StGB § 46 Rn. 143. 50 S. W. Hassemer, Einführung, S. 307 (der begründet, daß auch die Realisierung der Wiedergutmachung nichts an der Neutralisierung des Opfers (vgl. ebenda, S. 70 ff.) ändern darf); zum Problem des Geständniszwangs (in anderem Zusammenhang, aber strukturell gleich) Schöch, Hauptverhandlung, bes. S. 108 f. m. N., u. W. Hassemer in Schreiber I Wassermann (Hrsg.), Gesamtreform, S. 116 f. S. nur Sessar ! Beurskens ! Boers, Wiedergutmachung; vgl. W. Hassemer, Einführung, S. 306; H. J. Hirsch, Wiedergutmachung, S. 534 f., 536. 52 S. zur Vielfalt der Modelle H.-J. Albrecht, Wiedergutmachung, S. 46 ff.; H. J. Hirsch, Wiedergutmachung, S. 534 f., je m. N. Zu straf(rechts)theoretischen und strafrechtsdogmatischen Friktionen s. nur Müller-Dietz, Wiedergutmachung, bes. S. 359 ff.; H. J. Hirsch, Wiedergutmachung, S. 537 ff.

§ 7. Die Grundlage der Strafzumessung

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Das autonomistische Selbstkonzept zieht seine Kraft aus dem Vorgriff auf Freiheit nur insoweit, wie er als Bedingung der Möglichkeit des Menschseins und der intersubjektiven Anerkennung als Person und zwecks Beförderung realer Freiheit vorgenommen w i r d 5 3 . Dieser V o r g r i f f kräftigt das Selbstkonzept aber nur, wenn das Erleben hinzukommt, auch jetzt schon über realen Freiheitsspielraum zu verfügen 5 4 . Volle Schuld trotz gravierender Freiheitsdefizite zuzuschreiben, weckt Zweifel, ob dieses Verantwortlich-Machen sich statt der Anerkennung als Person nicht vielmehr präventiven Interessen verdankt; und sobald die Zuschreibung von Schuld ohne jegliches reale Fundament als Fremdtäuschung wahrgenommen wird, wachsen Zweifel, ob ihr nicht eine Selbsttäuschung über schon existierende reale Freiheitsspielräume entspricht. U m eine Zersetzung des autonomistischen Selbstkonzepts zu verhindern, müssen also zumindest gravierende Freiheitsdefizite schuldmindernd berücksichtigt werden. Je stabiler eine freiheitliche Gesellschaft ist, desto weniger gefährdet die Wahrnehmung realer Freiheitsdefizite das autonomistische Selbstkonzept 5 5 . Es gewinnt in stabilen Gesellschaften sogar dadurch an Stärke, daß es die Spannung zwischen realer Freiheit und antezipierter Freiheit zunehmend realisiert 5 6 . Diese Spannung übersetzt sich in differenzierte gesellschaftliche Strukturen des gerechten ZurVerantwortung-Ziehens 5 7 . I m Strafrecht muß dieser Spannung Rechnung getragen werden, indem der V o r g r i f f auf Freiheit durch autonomiefördernde Maßnahmen (z. B. Resozialisierungsangebote, aber auch Bewährungshilfe) valutiert, die Erforderlichkeit dieser Maßnahmen aber auch durch Berücksichtigung von Freiheitsdefiziten bei der Schuldmaßzuschreibung gerechtfertigt wird. Fehlt es an einer solchen Entsprechung, so beschädigt das längerfristig die Grundlagen eines prävalent gerechten und deshalb zweckmäßigen Strafrechts. Freilich würden diese Grundlagen auch angegriffen, wenn das Maß oder die A r t der berücksichtigten Defizite ihrerseits zu einer Destabilisierung des autonomistischen Selbstkonzepts beitragen würden. W o diese Gefahr droht, ist die Grenze der Berücksichtigungsfähigkeit erreicht. Es sind daher jedenfalls nicht alle Freiheitsdefizite zu berücksichtigen, und auch nicht so viele, daß eine Schuldminderung zum Normalfall würde; nur tatrelevante Freiheitsdefizite, die die Entscheidung gegen das Unrecht i n ungewöhnlichem Maß erschwert haben, sind mithin in Betracht zu ziehen. Umgekehrt müssen jedoch alle Freiheitsdefizite schuldmindernd beachtet werden, auf die

53 Vgl. Schild, Strafrichter, S. 24 f.; Lüderssen, Freiheitsbegriff, bes. S. 72,91 ; Stratenwerth, Willensfreiheit, bes. S. 240 f., u. oben S. 20 Fn. 57. 54 Vgl. Streng, Schuldbegriff, S. 298 m. vielen N. Fn. 79; Schild, Strafrichter, S. 25

m. N.

55 Schild, Strafrichter, S. 86 ff. m N. 56 Schild, Strafrichter, S. 24 f. 57 Vgl. Lüderssen, Freiheitsbegriff, S. 87 f.; dens., Generalpräventive Funktion, bes. S. 74 S ff.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

sich autonomiefördernde Maßnahmen beziehen. Deutlich zu unterscheiden sind gravierende und andere relevante Freiheitsdefizite. Schuldminderungen wegen gravierender Defizite müssen nämlich zu einer starken, Schuldminderungen wegen anderer Defizite dürfen nur zu einer zwar substantiellen, aber gleichwohl schwachen Strafmaßsenkung führen. Während es bei den nicht-gravierenden Defiziten vor allem darauf ankommt, die strafrechtsimmanente Inkonsistenz einer Autonomieförderung trotz voller Schuld zu vermeiden, muß bei der Bestimmung der gravierenden Freiheitsdefizite der Anschluß an die stabile normative gesellschaftliche Verständigung hergestellt werden. § 21 i. V . m. § 20 StGB tut das insofern, als er über die Attribute „tiefgreifend" und „ s c h w e r " 5 8 die Freiheitsdefizite herausfiltert, deren Berücksichtigung als starke Schuldminderungsgründe das autonomistische Selbstkonzept destabilisieren würde. Dieses Erfordernis rechtfertigt i n einer stabilen Gesellschaft — die über ein in gewissem Maß wissenschaftlich aufgeklärtes Bewußtsein verfügt und in der z. B. auch die Popularisierung der Psychoanalyse die Alltagsvorstellungen beeinflußt und die Sensibilität für das Autonomieproblem erhöht h a t 5 9 — j e d o c h nicht, daß große Teile der Rechtsprechung den Anwendungsbereich des § 21 StGB noch weiter einschränken, indem sie nur die von der agnostisch-somatologischen Psychiatrie als feststellbar behaupteten Freiheitsbeschränkungen als Dekulpationsgründe anerkennen 60 . Einleuchtend ist hingegen, daß die Rechtsprechung, soweit sie nur den unverschuldeten Affekt berücksichtigt, ein stabiles gesellschaftliches Muster des Verantwortlich-Machens repräsentiert 61 , das die Selbstverantwortlichkeit des Menschen ernstnimmt und bestätigt, indem es das kausale Vorverschulden nicht ignoriert. Daß die gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen gebieten, auch psychosoziale oder gar sozioökonomisch verursachte Freiheitsdefizite als starke Schuldminderungsgründe anzuerkennen, läßt sich kaum begründen. M i t Rücksicht auf die Stabilität der Gesellschaft und die restriktive Tendenz der Rechtsprechung würde davon aber wohl auch keine Gefährdung des autonomistischen Selbstkonzepts ausgehen. Da die Berücksichtigung dieser Freiheitsdefizite den Eingriff in die Freiheit der Täter reduziert, sind sie daher — jedenfalls aufgrund des In-dubio-pro-libertate-Grundsatzes — aufzunehmen.

2. Keine Kompensation struktureller Benachteiligung Sozioökonomische Mangellagen, die ein gravierendes Freiheitsdefizit verursacht haben, können also aus positiv-generalpräventiver Sicht als starke Schuldminderungsgründe berücksichtigt werden; haben sie ein nicht-gravierendes Defi-

se 59 60 61

S. oben S. 25 ff. u. S. 104 f. Schild, Strafrichter, S. 55. S. oben S. 26 f. Neumann, Zurechnung, S. 268; Jakobs, A T 18 / 18. — Rspr.-N. oben S. 28 Fn. 101.

§ 7. Die Grundlage der Strafzumessung

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zit bewirkt, müssen sie zumindest beachtet werden, wenn sich autonomiefördernde Maßnahmen darauf beziehen 6 2 . A u f andere Weise oder in anderem Umfang sind sozioökonomische Mangellagen auch dann nicht in Betracht zu ziehen, wenn sie die wesentliche Ursache des überproportionalen Kriminalitätsumfangs einer sozialen Schicht sein sollten. Mangellagen, die eine Schicht besonders stark belasten, die aber kein strafrechtlich relevantes Freiheitsdefizit bewirken, können nur als schuldneutrale Faktoren begriffen werden, die das Risiko der Angehörigen der betroffenen Schicht, Straftäter zu werden, überproportional erhöhen. Eine schichtenspezifisch differente Bestimmung des strafrechtlich relevanten Umfangs der Freiheitseinschränkung würde nämlich das autonomistische Selbstkonzept auch der Menschen der „begünstigten" Schichten insbesondere hinsichtlich d e r — G l e i c h h e i t unterstellenden — intersubjektiven Anerkennung als Person erheblich gefährden. Eine allgemeine Absenkung der Relevanzschwelle auf ein diese Mangellagen erfassendes Niveau verbietet sich, da die Schuldminderung ihren Ausnahmecharakter verlöre. Aber auch eine schuldneutrale Berücksichtigung des Faktors Mangellage ist abzulehnen. Z u m einen, weil es nicht fernliegend ist, daß Strafmaßsenkungen aufgrund sozioökonomischer Mangellagen trotz fehlenden intrasystemisch-begrifflichen Schuldbezugs als Minderungen wegen Freiheitsdefiziten wahrgenommen werden. Dann wären die negativen Auswirkungen auf das autonomistische Selbstkonzept denen der schuldbezogenen Berücksichtigung vergleichbar. Z u m anderen und vor allem aber ist nicht zu erkennen, wie das überproportional hohe Risiko der Angehörigen einer bestimmten Schicht 6 3 so individualisiert werden könnte, daß sich die Strafmaßsenkung als Kompensationsmittel verstehen und sinnvoll bestimmen ließe. Ohne Schuldbezug ist der Faktor Mangellage inkompatibel und infolgedessen auch inkommensurabel. Dasselbe gilt für den Faktor Schichtenspezifisch verzerrte Selektivität, der das Risiko der Angehörigen bestimmter Schichten, kriminalisiert zu werden, überproportional erhöht. I m Rahmen des positiv-generalpräventiven Strafzumessungsmodells — wie in jedem schuldfundierten M o d e l l — gibt es keinen sinnvollen Anknüpfungspunkt; es läßt sich nicht sinnvoll bestimmen, was woran gemessen werden s o l l 6 4 . Strukturelle Benachteiligungen können mithin jedenfalls auf der Ebene der Strafzumessung nicht kompensiert werden 6 5 .

62 Vgl. z. B. § 56 c I I Nr. 1 StGB. 63 Das Sonderopfer aller Straftäter (s. oben S. 125 f.) hingegen kann berücksichtigt werden durch Minimierung der Freiheitsminderung durch Strafe (s. unten S. 137 f.); d. h. das Strafrecht kann nur generell oder individuell fixierbare Benachteiligungen verarbeiten. 64 Vgl. Jäger, Veränderung, S. 19. 65 Zu den Problemen auch hinsichtlich anderer Ebenen Jäger, Veränderung, S. 19 f.; Kuhlen, Selektive Strafverfolgung, m. vielen N.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention 3. Strafempfindlichkeit

Ohne eigenen Schuldbezug individualisierbar ist hingegen die Strafmaßsenkung wegen besonders hoher Strafempfindlichkeit des Täters. Das Schuldprinzip verlangt bei gleicher Schuld nicht ein objektiv gleiches Strafmaß, sondern ein subjektiv gleiches Strafleiden 6 6 . Die Vernachlässigung besonders niedriger Strafempfindlichkeit muß i m Hinblick darauf, daß ansonsten ein Einfallstor für die strafschärfende Berücksichtigung von Vorstrafen geschaffen w ü r d e 6 7 , hingenommen werden. A u c h deshalb ist sicherzustellen, daß der Strafrichter nicht weiterh i n 6 8 die schuldausgleichende Strafempfindlichkeit mit der präventionsbezogenen Strafempfänglichkeit vermengt. Es muß ausgeschlossen werden, daß sich der Richter materiell am Maßstab der Strafempfänglichkeit orientiert und unmittelbar-präventive Strafzumessung zu betreiben versucht bzw. eine gebotene Strafmaßsenkung wegen besonders hoher Strafempfindlichkeit unterläßt. Während ein allgemeines Kriterium ohne weiteres angegeben werden kann, lassen sich Kriterien besonders hoher Strafempfindlichkeit, die den Richter präzise anleiten, ohne ihm die Möglichkeit, dem Einzelfall gerecht zu werden, zu verbauen, nicht formulieren. Das verschlägt aber nichts. Die Gefahr, daß trotz der definitorisch sauberen Abgrenzung von der Strafempfänglichkeit ambivalente Tatsachen (wie Vorstrafenbelastung) eine verdeckt unmittelbar-präventive Strafzumessung ermöglichen, wiegt nicht schwer, da die Strafempfindlichkeit nur strafmaßsenkend berücksichtigt werden darf. Daß die Richter, geht man von der bisherigen Rechtsprechung aus 6 9 , dazu neigen, nur Fälle außergewöhnlich gesteigerter Strafempfindlichkeit in Betracht zu ziehen, ist ebenfalls unproblematisch. Zumindest i m Rahmen des — auch für die rechtlich gestaltbaren Randbedingungen maßgebenden — positiv-generalpräventiven Strafzumessungsmodells ist es unbedenklich, geringere Abweichungen von der Normalempfindlichkeit außer acht zu lassen. Denn die Theorie positiver Generalprävention geht davon aus, daß auf dem autonomistischen Selbstkonzept der Menschen gründende Gesellschaften mit zunehmender Stabilität insgesamt strafempfindlicher und sensibler für autonomiereduzierende Faktoren werden 7 0 . Daher kann i n einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik das Strafenniveau tatsächlich erheblich gesenkt werden. Die Beachtung nur geringfügig erhöhter individueller Strafempfindlichkeit w i r d dadurch tendenziell bedeutungslos 71 . 66 S. nur m. Rspr.-N. M/G/Zipf A T / 2 §63 Rn. 118; E. Horn SK-StGB §46 Rn. 121. 67 Μ / G / Zipf A T / 2 § 63 Rn. 118 : „ . . . so trifft der Freiheitsentzug den abgebrühten Knastbruder ganz anders als den sensiblen Einzeltäter"; vgl. Rn. 121. 68 S. ζ. B. BGH StrVert 1987, 345 Sp. 2; BGH StrVert 1988, 296 Sp. 2; vgl. D / Tröndle, § 46 Rn. 5; G. Schäfer, Individualisierung, S. 396 ff. 69 Ζ. B. BGH StrVert 1984, 151 Sp. 1 f.; BGH StrVert 1988, 296 Sp. 2; w. Rspr.-N. bei Sch / Sch / Stree, § 46 Rn. 54. 70 Vgl. Walter, Rücknahme, S. 184; Schild, Strafrichter, S. 86 f., 89 f.; M / G / Z i p f A T / 2 §63 Rn. 120.

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B. Die Prävention: Kein selbständig-unvermittelter Strafzumessungsgrund Die unmittelbare Verfolgung präventiver Strafziele ist weder auf der Normsetzungs- noch auf der Normanwendungsebene zulässig. Eine optimale normgeltungssichernde Wirkung der Strafzumessung w i r d dadurch erreicht, daß das Strafzumessungsrecht in tendenzieller Übereinstimmung mit der sachlich und zeitlich stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung gestaltet wird. Gesellschaftlichen Forderungen nach Strafschärfungen aus aktuellen Anlässen und dergleichen darf jenseits der indiziellen Bedeutung für — stabilen — sozialen Wandel auch unter dem Gesichtspunkt der Verarbeitung gesellschaftlicher Irrationalität nicht Rechnung getragen werden. Nur soweit diese Forderungen sich verstetigen und die Formalisiertheit des Strafrechts bedrohen, sind sie auf der Normsetzungsebene zu berücksichtigen, wenn und soweit dies zur Maximierung des Formalisierungsgrads erforderlich ist; gerade die Widerständigkeit des formalisierten Strafrechts gegen solches Ansinnen sichert à la longue die Normstabilität insgesamt. Der einzige legitime spezialpräventive Strafzumessungsaspekt — die Vermeidung von Desozialisierung 7 2 — w i r d nicht außer acht gelassen. Er w i r d freilich nicht durch eine Ausnahme von dem Verbot richterlicher Prognoseentscheidungen, sondern nur bei der Ausgestaltung nicht-prognosefordernder Vorschriften valutiert. Daß der Verzicht auf unmittelbare Folgenorientierung zu einem per saldo oder i m Einzelfall größeren Maß an Desozialisierung führt, läßt sich weder empirisch valide substantiieren noch als strafrechtstheoretisch schlüssigen Einwand formulieren 7 3 ; positiv bewerten läßt sich eine solche Ausnahme allenfalls, wenn man annimmt, daß nur spezialpräventive richterliche Prognoseentscheidungen ein inhumanes Vergeltungsstrafrecht 74 verhindern könnten. Ein solches D i lemma existiert aber nicht. Das positiv-generalpräventive Konzept trägt dem folgenorientierten Kriterium der Vermeidung von Desozialisierung und der Idee humanen Strafrechts nämlich auf empirisch-methodologisch akzeptable und strafrechtstheoretisch schlüssige Weise Rechnung: Aus dem autonomistischen Selbstkonzept ergibt sich, daß keine Sanktion als normgeltungssichernde gerechte Antwort auf eine Straftat gelten kann, die das unvermeidliche M i n i m u m an Autonomiebeeinträchtigung übersteigt 7 5 . Die allgemeinen empirischen Erkennt71 Dies gälte auch für das derzeit bestehende Strafenniveau, wenn sichergestellt würde, daß das geltende StVollzG nach Maßgabe der oben bei der Erörterung der normativen Probleme der Spezialprävention begründeten Leitlinien (S. 59 ff.) angewendet bzw. modifiziert und die in § 201 StVollzG niedergelegte Übergangsbestimmung (vgl. P.-A. Albrecht, Spezialprävention, S. 836 S f. m. N.) gegenstandslos würde. 72 S. oben S. 69. 73 S. oben S. 98. 74 Vgl. Ellscheid, Strafmaßschuld, S. 99 ff. 75 Vgl. Κ / Κ / Schöch, Strafvollzug, S. 89 f.; E. Horn SK-StGB § 46 Rn. 39.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

nisse zur desozialisierenden W i r k u n g strafrechtlicher E i n g r i f f e 7 6 müssen deshalb zugunsten der Autonomie aller Täter bei der Bestimmung der abstrakten Strafdrohungen und der Strafvollstreckung (sowie des Strafvollzugs 7 7 ) berücksichtigt werden.

§ 8. Zur Ausgestaltung der Strafzumessungsgrundsätze I n den Ausführungen zur Grundlage der Strafzumessung sind die Strafzumessungsgrundsätze und deren Bewertungsrichtungen bereits i m Umriß zu erkennen. Sinngemäß — von einem ausformulierten Gesetzesvorschlag ist i m Rahmen eines kriminalpolitischen Modells abzusehen — ergibt sich das folgende Strafzumessungsprogramm: — Das Höchststrafmaß bestimmt sich vorläufig nach der vollen Einzeltatschuld. — Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen eines gravierenden psychischen, psychosozialen oder sozioökonomischen Freiheitsdefizits erheblich vermindert, so ist die Strafe beträchtlich zu mildern. Die Gesetzesformulierung muß die Möglichkeit, nur die von der agnostischsomatologischen Psychiatrie als feststellbar behaupteten Freiheitsbeschränkungen anzuerkennen, ausschließen. Die Strafmilderung muß obligatorisch sein, da nur unvermittelt-präventive Gründe gegen eine Milderung geltend gemacht werden können. Es muß gewährleistet werden, daß bei gravierenden Defiziten eine starke Strafmaßsenkung möglich ist. Was als stark gilt, hängt freilich von dem allgemeinen Strafenniveau ab: je niedriger dieses Niveau ist, u m so größer ist die Bedeutung einer bestimmten zusätzlichen Milderung. — Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen eines nicht-gravierenden psychischen, psychosozialen oder sozioökonomischen Freiheitsdefizits vermindert, so ist die Strafe zu mildern. Die Gesetzesformulierung muß einerseits sicherstellen, daß zumindest alle Freiheitsdefizite, auf die sich autonomiefördernde Maßnahmen beziehen, schuldmindernd berücksichtigt werden; andererseits, daß die Schuldminderung nicht zum Normalfall wird. Bei den nicht-gravierenden Defiziten muß nur eine schwache Strafmaßsenkung ermöglicht werden.

76 S. oben S. 55 f. 77 Vorausgesetzt wird ein Strafvollzug, der legitimatorisch konsequent die reale Freiheit durch das Angebot freiwilliger Resozialisierungsprogramme fördert und der desozialisierende Wirkungen und freiheitsbeschränkende Eingriffe minimiert. Dazu, daß ein solcher Strafvollzug schon auf der Grundlage des geltenden StVollzG zu erreichen ist, s. oben S. 137 Fn. 71.

§ 8. Zur Ausgestaltung der Strafzumessungsgrundsätze

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— Ist die Strafempfindlichkeit des Täters besonders hoch, so ist die Strafe entsprechend zu mildern. Die Gesetzesformulierung muß eine Verwechslung mit der Strafempfänglichkeit ausschließen. Es muß gewährleistet werden, daß auch eine angemessene Milderung der bereits wegen eines Freiheitsdefizits gemilderten Strafe möglich ist. M i t der klaren Kodifikation dieser Grundsätze erfüllt der Strafgesetzgeber seine Definitionspflicht hinreichend. Darüber hinausgehende Präzisierungen oder Konkretisierungen sind nicht vorzunehmen. Subkriterien der Einzeltatschuld werden in ausreichendem Maß von den strafrechtlichen Verhaltensnormen geliefert 7 8 ; andere Kriterien — wie sie etwa § 46 I I 2 StGB enthält — , die nicht so konkret sind, daß sie den Spielraum der Rechtsprechung unzulässig verkleinern 7 9 , sind entweder nur überflüssige Wiederholungen der Subkriterien der Einzeltatschuld oder sie sind untauglich bzw. hochgradig unmittelbar-präventiv funktionalisiert oder funktionalisierbar und daher unzulässig. M i t der Festlegung, daß nur gravierende Freiheitsdefizite, die zu einer erheblichen Verminderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit führen, eine starke, die Verminderung durch nicht-gravierende Defizite nur eine schwache Strafmilderung begründen, genügt der Gesetzgeber ebenfalls seiner Definitionspflicht. Die auf die sich wandelnde gesellschaftliche Stabilität zu beziehende genauere Bestimmung des Gravitätskriteriums muß der Rechtsprechung überlassen bleiben. Eine Aufzählung einschlägiger Befunde ist nicht nur nicht erforderlich, sondern eher irreführend; maßgebend ist nicht die genauere A r t des psychischen, psychosozialen oder sozioökonomischen Defizits, sondern dessen Schwere 8 0 . Eine Nennung einzelner Befunde müßte aus diesem Grund, m i t B l i c k auf Entwicklungen der einschlägigen Wissenschaften wie auch hinsichtlich der herrschenden M e i nung, welche die Defekte in § 20 StGB abschließend aufgezählt sieht 8 1 , zumindest deutlich als lediglich beispielgebend gekennzeichnet werden. Da es bei der Milderung wegen Strafempfindlichkeit ebenfalls nicht auf die Art, sondern auf die besondere Höhe ankommt, und zudem eine unübersehbare Vielfalt möglicher Befunde in Betracht kommen k a n n 8 2 , sind konkretere Kriterien auch hier allenfalls beispielgebend aufzuführen.

78 Vgl. Frisch, Strafzumessungsdogmatik, passim; die Kritik von Bruns, NStrZR?, S. 13 ff., ist nicht triftig; dort, wo der BGH zur Gewähr herangezogen wird, bleibt sie eingedenk der faktischen Strafzumessungsprogramme (s. oben S. 78 ff.) kraftlos. 79 S. zu dem zugrundeliegenden Verständnis des Verhältnisses von Strafgesetzgebung und Rechtsprechung eingehend W. Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 143 ff., bes. 204 ff., und oben S. 121 f. so Vgl. Jakobs, A T 18/7. si RudolphiSK-StGB § 20 Rn. 5; Sch / Sch / Lenckner, § 20 Rn. 5; je m. w. (Rspr.-)N. 82 Wie die jüngste Bedeutung der Erkrankung an Aids belegt: BGH StrVert 1987, 345 Sp. 2; BGH StrVert 1988, 296 Sp. 2.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

§ 9. Form und M a ß der abstrakten Strafdrohung: Die Strafrahmen A. Strafrahmen als adäquates Mittel gesetzlicher Strafmaßbestimmung Nach der hier vorgenommenen und der Ausgestaltung der Strafzumessungsgrundsätze zugrundeliegenden Bestimmung des Verhältnisses von Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik 83 hat die Rechtsprechung die wesentliche Aufgabe, gerechte Einzelfallentscheidungen zu treffen und den sozialen Wandel i m Strafrechtssystem zu verarbeiten; der Strafgesetzgeber hat sicherzustellen, daß diese Aufgabe erfüllt werden kann. Schon diese Bestimmung impliziert die Entscheidung für Strafrahmen, die weit genug sind, um der Rechtsprechung die Erfüllung ihrer Aufgabe zu ermöglichen, und gegen fixe punktförmige Strafdrohungen bzw. rigide sentencing grids, die nur kaum nennenswerte Spielräume lassen 8 4 8 5 . A u c h wenn man vor der eingehenden Prüfung mit Rücksicht auf die Analyse zu den unrechtsinkongruenten gesetzlichen Strafdrohungen aus rein präventiven Gründen und die Befunde zur unrechtszentrierten Rechtsprechung vorläufig davon ausgeht, daß die Strafrahmen eines positiv-generalpräventiv legitimierten Strafrechts gegenüber denen der lex lata deutlich enger ausfallen müssen, werden sie für sich genommen immer noch recht weit sein 8 6 . Das führt jedoch nicht notwendig zu unzulänglicher Kontrollierbarkeit und ungleichmäßiger Strafzumessung 8 7 . Das faktisch wirksame Herstellungs- und Darstellungsprogramm der Rechtsprechung belegt eindrücklich, daß weite Strafrahmen eine relativ gleichförmige und kontrollierbare Strafzumessung nicht verhindern, wenn das übrige Strafzumessungsprogramm klar und eindeutig strukturiert und richterlich handhabbar i s t 8 8 und wenn ein interlokaler Austausch über die lokalen Spruchpraxen stattfindet 8 9 . V o n dem positiv-generalpräventiven M o d e l l darf daher trotz hinrei-

83 S. oben S. 121 f. u. S. 139 Fn. 79. 84 Vgl. v. Hirsch u. a., Sentencing Commission, S. 177 ff. (Zusammenfassung der Richtlinien von Minnesota, Washington und Pennsylvania). 85 Zu anderen Gründen, insb. zur Außerachtlassung der faktischen Handlungssituation der Strafzumessung und zum gegenstandsinadäquaten Rationalitätsverständnis (z. B. der Ansätze von Haag, Strafzumessung, u. v. Linstow, Berechenbares Strafmaß) s. W. Hassemer, Formalisierung, S. 69 ff.; Reinhard von Hippel, Strafzumessung. 86 Auch weitere Ausdifferenzierungen der Verhaltensnormen — wie z. B. §§ 242244, 247, 248a, 248 c StGB — führen nur zu begrenzten Umfangsreduktionen; vgl. Streng, Strafzumessung, S. 293 S ff. 87 So aber ζ. Β. Μ / G / Zipf,, A T / 2 § 62 Rn. 12 f.; Baumann / U. Weber, A T § 40 I I 1; Schünemann, Nulla poena, S. 37 f.; Streng, Strafzumessung, S. 293 m. vielen w. N. Fn. 58. — Vgl. zu dem durch engere Strafrahmen gekennzeichneten österreichischen Strafzumessungsrecht und der mit der bundesrepublikanischen ungefähr übereinstimmenden Strafzumessungspraxis oben S. 80 Fn. 437. 88 S. oben S. 80 ff., 91 f., 92.

§ 9. Form und Maß der abstrakten Strafdrohung: Die Strafrahmen

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chend weiter Strafrahmen eine hochgradig kontrollierbare und gleichmäßige Strafzumessung erwartet werden: denn die Strafzumessungsgrundsätze bilden ein konsistentes leicht operationalisierbares System; dem Richter werden keinerlei nicht erfüllbare Aufgaben zugemutet; Einfalltore für unvermittelt-präventive Interessen, welche die Gleichmäßigkeit beeinträchtigen 9 0 , sind weitestgehend geschlossen (z. B. dadurch, daß Strafempfindlichkeit nur strafmildernd berücksichtigt werden darf); der Bedarf an (und die Möglichkeiten zu) Scheinbegründungen oder die Nötigung zu einer komplexen Rhetorik ohne Realitätsgehalt entfallen damit tendenziell, Herstellung und Darstellung kommen tendenziell zur Deckung bzw. lassen sich durch flankierende Maßnahmen (wie z. B. Begründungspflichten) tendenziell zur Deckung bringen; die Validität dieser Urteilsausführungen erlaubt sowohl eine umfassende Rechtskontrolle als auch eine umfassende translokale Vereinheitlichung der Spruchpraxis. N u n ist nicht zu leugnen, daß die relativ gleichmäßige und gut kontrollierbare Strafzumessungspraxis hauptsächlich darauf beruht, daß die Rechtsprechung nicht nur das herrschende Modell, sondern auch eindeutige gesetzliche Bestimmungen schlicht umgangen h a t 9 1 . Es ist auch nicht zu leugnen, daß die Überzeugung, das positiv-generalpräventive M o d e l l gewährleiste eine hochgradig kontrollierbare und gleichmäßige Strafzumessung, sich zu einem guten T e i l dem U m stand verdankt, daß dieses M o d e l l in vielerlei Hinsicht m i t dem faktisch wirksamen Programm der Rechtsprechung übereinstimmt. Das zieht den Einwand an, der für Gleichmäßigkeit und Kontrollierbarkeit trotz hinreichend weiter Strafrahmen zu zahlende Preis sei zu hoch, denn in der Tendenz werde die Bindung des Richters an das Gesetz durch die Bindung des Gesetzes an den Richter ersetzt 9 2 . Dieser Einwand führt zum Ausgangspunkt der Entscheidung für hinreichend weite Strafrahmen zurück. Denn abgesehen davon, daß diese subsumtionsideologische Polarisierung methodologisch unhaltbar ist, verfehlt die Thematisierung der Umgehungsdogmatik unter dem Gesichtspunkt richterlichen Ungehorsams prinzipiell die Aufgabenbestimmung von Rechtsprechung und Strafgesetzgebung: Vorschriften werden zum größten T e i l nur „umgangen", wenn sie illegitim in den Kompetenzbereich der Rechtsprechung eingreifen oder unerfüllbare Anforderungen (z. B. Prognosestellung) stellen 9 3 . Sieht man ein, daß nicht erfüllbare

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S. oben S. 81 Fn. 448. Die Institutionalisierbarkeit und erfolgreiche Durchführung eines solchen Austauschs (s. dazu z. B. W. Hassemer, Automatisierte und rationale Strafzumessung, bes. S. 117 ff.; Streng, Strafzumessung, S. 304 m. w. N.) hängt folglich nicht von einem durch minimale Spielräume gekennzeichneten bestimmten Strafzumessungsmodell ab. 9 0 S. oben S. 85. 91 S. oben S. 84. Zur Umgehung der sentencing grids und guidelines in den USA s. Weigend, Richtlinien, S. 598 ff. m. N. 9 2 S. Bruns, RdStrZ, S. 10 f. 93 Vgl. Giehring, Straftatfolgen, S. 200: „beim Justizpersonal grundsätzlich internalisierte Bereitschaft zur Programmtreue".

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

bzw. nicht richterlich operationalisierbare Anforderungen eine gleichmäßige Rechtsanwendung unterminieren und daß die Kompetenzbeschneidungen die Rechtsprechung daran hindern, dem Einzelfall gerecht zu werden und den sozialen Wandel zu verarbeiten, dann lautet die zentrale Frage nicht, wie ein vermeintlich ungehorsamer Richter durch weitere präzise Festlegungen an das Gesetz gefesselt werden kann, sondern wie das Gesetz an die Grenze legitimer kriminalpolitischer Definitionsmacht zurückzuführen ist. Hierfür liefert die Rechtsprechung die wesentlichen Informationen; soweit sich ihre Umgehungsdogmatik i m Einklang mit der zeitlich und sachlich stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung befindet, liefert sie sogar das Muster für die lex ferenda 9 4 . Die scheinbar allzu lockere Gesetzesbindung bzw. die scheinbare Kapitulation vor der eigensinnigen Rechtsprechung resultieren mithin zwingend aus der Aufgabenbestimmung von Rechtsprechung und Gesetzgebung. Nur eine sich auf ihre legitime Aufgabe beschränkende Strafgesetzgebung erlaubt der Rechtsprechung, vollständig auf verdecktes Handeln verzichten zu können, und ermöglicht somit eine offene und wahrhaftige und dadurch transmissible und stabilisierbare Dogm a t i k 9 5 . M i t der Sicherstellung von Rechtsanwendungsrationalität durch Schaffung aufgabenadäquater Spielräume w i r d zugleich ein wichtiger Beitrag zur Gesetzgebungsrationalität geleistet. Denn die Rechtsprechung informiert nicht nur über illegitime Übergriffe der Strafgesetzgebung, sondern ist daneben auch unersetzlicher Lieferant von Daten über den Stand der normativen gesellschaftlichen Verständigung, die nur bei der richterlichen Rechtsproduktion — durch Verarbeitung abweichenden Verhaltens und darauf bezogener sozialer Definitionen und Bewertungen unter der Bedingung der lex lata — entstehen. U n d diese Daten werden um so umfänglicher und deutlicher mitgeteilt, j e mehr die normativen Voraussetzungen eine offene richterliche Rechtsproduktion begünstigen. Je weniger der Strafgesetzgeber diese Informationsquelle durch illegitime Übergriffe trübt, desto leichter kann er erkennen, ob die Rechtsprechung ihre Aufgaben in dem ihr gesteckten kriminalpolitischen Rahmen noch adäquat zu bewältigen vermag oder ob hierfür beispielsweise die Strafzumessungsvorschriften und die Strafrahmen geändert werden müssen.

B. Prinzipien, Kriterien und Daten zur Bestimmung des Strafrahmenumfangs Den Strafzumessungsgrundsätzen des positiv-generalpräventiven Modells entsprechend muß der Strafgesetzgeber deliktsspezifische Strafrahmen für die Einzeltatschuld sowie darauf bezogen — hinsichtlich der Ober- wie der Untergrenze niedrigere — Strafrahmen für Strafmilderungen wegen gravierender und nicht94 Vgl. Giehring, Straftatfolgen, S. 203 m. N. 95 Vgl. W. Hassemer AK-StGB § 1 Rn. 20, 133.

§ 9. Form und Maß der abstrakten Strafdrohung: Die Strafrahmen

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gravierender Freiheitsdefizite sowie besonders hoher Strafempfindlichkeit ausweisen. Es würde freilich den Rahmen eines kriminalpolitischen Modells sprengen, die einzelnen deliktsspezifischen Strafdrohungen und die genauere, w o h l durch eine § 49 StGB vergleichbare Vorschrift vorzunehmende Abstimmung der Milderungsstrafrahmen zu erörtern. I m folgenden wird deshalb nur vorgetragen, von welchen Prinzipien und Kriterien sich die Bestimmung des durch die Obergrenze des Strafrahmens der vollen Einzeltatschuld und die Untergrenze des Strafempfindlichkeitsrahmens gebildeten Gesamtstrafrahmens i m allgemeinen leiten lassen muß. Über dessen Weite und Grenzen w i r d selbstverständlich nicht numerisch gehandelt; auf dem Hintergrund des geltenden Strafrechts w i r d nur markiert, in welcher Richtung und wie intensiv eine dem positiv-generalpräventiven Modell folgende Reform der Strafrahmen zu erfolgen hat. Der Umfang des Strafrahmens muß die „Amplitude zutreffender richterlicher Strafzumessungsargumentation" haben 9 6 , er muß schuld- und strafempfindlichkeitsangemessene Quantifizierungen ermöglichen. Was zutreffende Gründe der Strafzumessungsargumentation sind, ist m i t den Strafzumessungsgrundsätzen bezüglich Gehalt und Bewertungsrichtung hinreichend bestimmt vorgegeben. Der Spielraum für die Verarbeitung des sozialen Wandels und gerechte Einzelfallentscheidungen muß groß genug sein, um eine offene richterliche Rechtsproduktion zu erlauben und leicht erkennen zu können, wann die Rechtsprechung den Strafrahmen für inadäquat hält; er darf aber nicht so groß werden, daß der Strafrahmen aufhört, den Wert der N o r m i m Horizont der Gegenwart zu verdeutlichen. Die Strafrahmen werden quantifiziert, indem jeweils die deliktsspezifischen qualitativen Umfänge von Einzeltatschuld, Schuldminderung und Minderung wegen besonders hoher Strafempfindlichkeit einem quantitativen Umfang von Freiheits(rechts)minderung durch Strafe zugeordnet werden. Dasjenige Strafandrohungsmaximum ist angemessen, das den Normgeltungsanspruch hinsichtlich der Realisation der antezipierten maximalen Einzeltatschuld ohne Schuldminderungsgründe und erhöhte Strafempfindlichkeit des Täters hinreichend zu bekräftigen vermag. Dasjenige Strafandrohungsminimum ist angemessen, das den Normgeltungsanspruch hinsichtlich der Realisation der antezipierten minimalen Einzeltatschuld bei maximaler Schuldminderung und Strafempfindlichkeit hinreichend zu bekräftigen vermag. Daten über den maßgebenden Stand insbesondere der zeitlich und sachlich stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung liefern Kriminologie, Rechtsvergleichung und Rechtsprechung. Die zur Verfügung stehenden Daten lassen recht offenkundig den Schluß zu, daß die Strafdrohungen hinsichtlich 96 W. Hassemer, Strafrahmen, S. 288; dessen Darlegungen gelten im hiesigen Zusammenhang unabhängig davon, welche Rolle er der sogenannten Strafbegründungsschuld für die Strafzumessung zumißt; vgl. die Kritik von Puppe, Idealkonkurrenz, S. 56 Fn. 1.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

ihrer M a x i m a wie M i n i m a erheblich gesenkt werden können, ohne daß eine Beeinträchtigung der normgeltungssichernden Wirksamkeit des Strafrechts befürchtet werden müßte. Die Rechtsprechung bewegt sich schon seit langer Zeit regelmäßig i m unteren bis untersten Strafrahmenbereich. Diesen Bereich verläßt sie selbst in den Fällen unmittelbar-präventiv motivierter Strafschärfung i m allgemeinen n i c h t 9 7 . Wenngleich in jüngerer Zeit kein Druck auf die Strafrahmenuntergrenze zu beobachten ist, legt das Strafenniveau der Rechtsprechung nahe, die Grenze weiter zu senken, um eine weitere allgemeine Milderung zu erlauben. U m klarzustellen, daß eine generelle Reduzierung des Strafenniveaus intendiert ist, muß auch die Strafrahmenobergrenze gesenkt werden. Da es um eine Neubestimmung des einzeltatschuldbezogenen Maßes zulässiger Freiheits(rechts)minderung des Täters geht, darf bei der Absenkung der Strafrahmenobergrenzen von Tatbeständen, deren Strafdrohungen aus rein präventiven Gründen unrechtsinadäquat erhöht s i n d 9 8 , nicht von dem de lege lata angedrohten, sondern nur von dem um diese Erhöhung geminderten M a x i m u m ausgegangen werden. Die Frage ist, ob man sich an einem Regelfall höchster Einzeltatschuld oder an Fällen extrem hoher Einzeltatschuld (z. B. Massentötungen in K Z ) orientiert. Klammert man diese Extremfälle aus, droht sich das Strafrecht selbst zu desavouieren, denn als Teilsystem sozialer Kontrolle, welches für die Verarbeitung schwerster Abweichungskonflikte mit den schärfsten M i t t e l zuständig ist, erweist es sich dann gerade angesichts der allerschwersten Konflikte unfähig, zweckmäßig und gerecht zu bestrafen. W i l l man diese Fälle erfassen, so hat das relativ hohe Strafandrohungsmaxima zur Folge. Die dem Regel- oder Extremfall höchster Tatschuld entsprechenden M a x i ma dürften jedoch nicht allzusehr differieren. Denn der Strafrahmen könnte seine Aufgabe, den Wert der N o r m i m Horizont der Gegenwart zu verdeutlichen, nicht mehr erfüllen, wenn man den Extremfall aufgrund historischer oder gar denkmöglicher Monsterbeispiele definierte. Es kann also nur darum gehen, für Extremfälle einen substantiellen Steigerungsspielraum zur Verfügung zu stellen, der aber nicht so groß sein darf und muß, daß auf eine Absenkung der Strafrahmenobergrenzen verzichtet werden müßte. Da das Strafrecht längerfristig durch unmittelbar-präventive Strafschärfungen mehr Schaden nimmt als durch die Unfähigkeit, selten auftretende Fälle extrem hoher Tatschuld angemessen zu sanktionieren, ist die endgültige Festlegung davon abhängig zu machen, ob die Rechtsprechung die einzeltatschuldbezogenen Strafzumessungsgrundsätze zur Verfolgung unmittelbar-präventiver Ziele umgeht und hierbei auch in den für die Extremfälle vorgesehenen Bereich vorstößt. Wenn sich das herausstellen sollte, sind die Obergrenzen auf eine nur dem Regelfall höchster Tatschuld entsprechende Höhe zu ermäßigen.

97 S. oben S. 84. 98 S. oben S. 32 ff.

§ 9. Form und Maß der abstrakten Strafdrohung: Die Strafrahmen

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Daß der Rechtsprechung nicht nur die Möglichkeit zu einer erheblichen Milderung des allgemeinen Strafenniveaus zu geben ist, sondern daß sie unter dem rechtsstaatlichen Gesichtspunkt der Beschränkung auf notwendige E i n g r i f f e " hierzu veranlaßt werden muß, w i r d durch strafrechtssoziologische Erkenntnisse und kriminologische Forschungen, die aufgrund ihres methodischen Designs Rückschlüsse auf die sachlich und zeitlich stabile normative gesellschaftliche Verständigung zulassen 10 °, untermauert. M i t dem Anwachsen der individuellen Handlungsmöglichkeiten ist die Bedeutung der Freiheit und damit auch die gesellschaftliche Strafempfindlichkeit 1 0 1 gegenüber freiheitsmindernden Sanktionen mittlerweile so groß geworden, daß nicht nur die Grenzen der Strafrahmen, sondern angesichts der Sensibilität für feinere Abstufungen auch die Rahmenweiten erheblich zu reduzieren s i n d 1 0 2 . Die gesellschaftliche Stabilität ist so hoch, daß es zur Behauptung der Normgeltung in weitem Umfang sogar ausreicht, den Normbruch durch eine nicht verharmlosende Strafe zu markieren 1 0 3 . Bestätigt w i r d diese Beurteilung durch die Rechtsvergleichung. Insbesondere das Beispiel der Niederlande belegt, daß der Normgeltungsanspruch in einer stabilen freiheitlichen Gesellschaft, die eine der Bundesrepublik vergleichbare Kriminalitätsbelastung aufweist 1 0 4 , m i t generell deutlich milderen Strafen gleichermaßen bekräftigt werden kann. O b w o h l der Vergleich von Rechts- und Gesellschaftssystemen in vielerlei Hinsichten problematisch i s t 1 0 5 , ist diese klare allgemeine Einschätzung gut zu begründen. Denn die strafjustiziellen, sozialen und (kriminal)politischen Faktoren, die zur Erklärung des milden Strafklimas angeführt werden 1 0 6 , sind keine Kennzeichen einer sich von dem Stand der stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung in der Bundesrepublik unterscheidenden Verständigung. Es handelt sich dabei i m wesentlichen nur um Randbedingungen, die bewirkt haben, daß ein Strafrecht, welches — auch i n der Bundesrepublik — nach dem Stand normativer gesellschaftlicher Verständigung möglich und positiv-generalpräventiv geboten ist, auch kriminalpolitisch und justiziell verwirklicht worden ist.

99 Jescheck, A T § 4 I I 2 m. N. 100 S. oben S. 109 ff. u. 106 m. Fn. 52. ιοί Vgl. Μ / G / Z i p f , A T / 2 §63 Rn. 120. 102 Walter, Rücknahme, S. 184 f., und m. w. N. ders., Freiheitsstrafe aus rechtsvergleichender Sicht, S. 328 Sp. 1; Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 19. 103 Schöch, Generalprävention, S. 1104, bzgl. „Massen- und Jedermannsdelikte". Allgemein vgl. Schild, Strafrichter, S. 86 ff., u. Kaiser, Kriminologie (LB) § 115 Rn. 50, je m. w. N. 104 Schaffmeister, Niederlande, S. 338. i° 5 Überblick bei Müller-Dietz, Strafvollzugsvergleichung. 106 Fiselier, Niederlande, S. 105 f. (Toleranz gegenüber Minderheiten; keine politische Partei in der Lage, alleine eine Regierung zu bilden, daher Zwang zum Kompromiß; kleine professionelle Justizelite, große richterliche Strafzumessungsfreiheit). 10 Hart-Hönig

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

Nicht zu folgen ist dem niederländischen Beispiel in der Abschaffung der deliktsspezifischen Mindeststrafendrohungen 1 0 7 . Nach Maßgabe der positiv-generalpräventiven Strafrechtsbegründung ist der Normwert auch durch die Strafrahmenuntergrenze zu verdeutlichen 1 0 8 . Die zu Recht beklagte unerwünschte Nebenwirkung der Desozialisierung ist i m positiv-generalpräventiven M o d e l l infolge der erheblichen Absenkung der Mindeststrafendrohungen und der Ausgestaltung des Strafvollzugs jedoch m i n i m a l 1 0 9 . I m Hinblick auf die niederländische Strafzumessungspraxis bleibt noch die Frage, ob ein derart niedriges Strafenniveau die Verhängung (und Vollstreckung) kurzer Freiheitsstrafen notwendig macht und eine § 47 StGB vergleichbare Regel u n g 1 1 0 verbietet. Sofern die kurze Freiheitsstrafe unter weitestgehender Zurückdrängung längerer Verbüßungszeiten wie in den Niederlanden, aber auch in Skandinavien und der Schweiz, zur Regelfreiheitsstrafe werden sollte, w i r d man davon w o h l ausgehen müssen 1 1 1 . Angesichts des Desozialisierungssaldos w i r d man dann allerdings gegen die kurze Freiheitsstrafe als Regelstrafe auch nichts einwenden w o l l e n 1 1 2 . Die Erkenntnisse zur besonders starken desozialisierenden W i r k u n g der kurzen Freiheitsstrafe 113 werden dadurch aber nicht gegenstandslos. Diese Erkenntnisse gelten aber nur, wenn der Kurzstrafenvollzug wie in der Bundesrepublik als bloßer Verwahrvollzug betrieben w i r d 1 1 4 , nicht aber, wenn er wie in Skandinavien und den Niederlanden 1 1 5 mit weitgehenden Lockerungen durchgeführt wird. Eine solche Vollzugsgestaltung taugt zwar nicht zur Zufügung eines short sharp s h o c k 1 1 6 ; aber diese sich zunehmender Beliebtheit erfreuende Legitimation kurzer Freiheitsstrafen 117 ist abgesehen von empirischen Bedenken ohnehin normativ unzulässig 1 1 8 . Die Theorie positiver Generalprävention hingegen verlangt generell eine nicht-desozialisierende, d. h. die Autonomie nicht reduzierende, sondern eher befördernde Ausgestaltung des Strafvollzugs. Unter dieser Bedingung ist die kurze Freiheitsstrafe als Regelstrafe unbedenklich; ebenso die in diesem Zusammenhang zu beurteilende umfangreiche Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen 119 und nach Widerruf der Aussetzung kurzer Strafen oder Strafreste. ιόν Art. 10 II, 18 I nl. StGB in der Fassung vom 26.6.1986 (Stb., 388). los Vgl. w. Hassemer, Einführung, S. 292. 109 S. oben S. 137 f. no Freilich jedenfalls ohne „Verteidigung der Rechtsordnung", in Vgl. Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 19 f., 15; Eisenberg, Kriminologie § 36 Rn. 6, je m. N. ι· 2 S. Dolde / Rössner, Freiheitsstrafe ohne soziale Desintegration, S. 1727, u. m. w. N. Zipf, Strafrechtsreform, S. 444 Sp. 1; Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 24. 113 S. Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 15 m. N. 114 Dolde / Jehle, Kurzstrafenvollzug. 115 Schaffmeister, Kurze Freiheitsstrafe, S. 1006 ff. 116 Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 22. 117 S. m. N. Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 19 f. us S. oben S. 85 f. u. Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 23.

§10. Zur Strafzumessung im weiteren Sinn

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Die Grenzen des Strafrahmen können mithin erheblich gesenkt, ihre Weite kann erheblich verringert werden. Behutsam und stufenweise und schließlich auch — in dubio pro liberiate — i m Wege experimenteller Gesetzgebung, ist das für die hinreichende Bekräftigung des Norgeltungsanspruchs erforderliche Niveau anzusteuern. Es muß dabei beobachtet werden, ob die Depönalisierung nicht die Hemmungen vor umfangreicherer Kriminalisierung nimmt, ob es Verschiebungen zu den Maßregeln gibt, ob die Untersuchungshaft weiterhin oder sogar vermehrt als Strafersatz mißbraucht w i r d und so f o r t 1 2 0 . Daß eine solche an der Bewahrung der Sanktionsmenge orientierte Entwicklung zwangsläufig — und das heißt auch, durch keine gesetzgeberische Reaktion zu vermeiden — i s t 1 2 1 , wird freilich wiederum durch das Beispiel der Niederlande widerlegt 1 2 2 .

§ 10. Zur Strafzumessung im weiteren Sinn A. Zur Strafaussetzung zur Bewährung Das positiv-generalpräventive M o d e l l fordert nicht nur die größtmögliche A b senkung des Strafenniveaus, sondern auch, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe auf das Maß zu begrenzen, das zur Bekräftigung des Normgeltungsanspruchs erforderlich ist. Die Grenze des nach dem Stand der stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung möglichen Anwendungsbereichs der Strafaussetzung w i r d durch die Höhe der aussetzungsfähigen Strafen, die Aussetzungsbedingungen und die widerrufsrelevanten Gründe definiert. Was die Höhe der aussetzungsfähigen Strafen anbelangt, darf man wie hinsichtlich des Strafenniveaus aufgrund der gesellschaftlichen Stabilität 1 2 3 , der hohen Wertigkeit der Freiheit 1 2 4 und rechts vergleichender D a t e n 1 2 5 davon ausgehen, daß eine Erweiterung auf drei Jahre möglich i s t 1 2 6 . Die Rechts vergleichung belehrt ebenfalls darüber, daß auch dann, wenn infolge der Senkung des Strafenniveaus

Die Ersatzfreiheitsstrafe muß als Druckmittel erhalten bleiben (Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 23) und deren Vollstreckung kann daher und insb. wegen der Verfassungswidrigkeit der gemeinnützigen Arbeit (s. oben S. 70 Fn. 387) jedenfalls nur unbeträchtlich vermindert werden. 120 Vgl. oben S. 88 Fn. 500; Backes, Kriminalpolitik ohne Legitimität, S. 320 ff.; H. J. Hirsch, Spannungsverhältnis, S. 38; Lüderssen, Bagatellverstöße; Naucke, Entkriminalisierung. 121 S. die Erwägungen bei Naucke, Entkriminalisierung, bes. S. 207; Frommel, Präventionsmodelle, S. 36 ff., 39. 122 Vgl. Frommel, Präventionsmodelle, S. 40 Fn. 42 m. N. 123 S. oben S. 133 m. Fn. 55 f. 124 S. oben S. 145 m. Fn. 102. 125 Dünkel I Spieß, Strafaussetzung, S. 507; Schaffmeister, Niederlande, S. 334; Jescheck, Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, S. 2096 ff. 126 Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zum 23. StrÄndG BT-Drs. 10/1116. 10*

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

bis auf einen geringen Bruchteil alle verhängten Strafen aussetzungsfähig sind, keine Destabilisierung der Normgeltung zu befürchten i s t 1 2 7 . A u c h die Aussetzung von Strafen, die zwei Jahre übersteigen, ist also nicht an das Vorliegen „besonderer Umstände" zu knüpfen, wie es § 56 I I StGB für die Strafen von ein bis zwei Jahren vorsieht und von der Rechtsprechung ignoriert w i r d 1 2 8 . Die Erweiterung auf drei Jahre scheitert auch nicht an der gebotenen Beseitigung der unerfüllbaren Voraussetzung einer Rückfallprognose und des illegitimen Korrektivs Verteidigung der Rechtsordnung. Die Entfernung des mit dem autonomistischen Selbstkonzept der Menschen unverträglichen unmittelbar-generalpräventiven Korrekt i v s 1 2 9 schwächt die normgeltungssichernde Wirksamkeit des Strafrechts nicht, sondern stärkt sie eher. U n d die in vielen Ländern fehlende Prognoseabhängigkeit der Aussetzung 1 3 0 de lege lata widerspricht sogar fundamental der prinzipiell von der verantwortungsbewußten Entscheidung des einzelnen für das Recht ausgehenden stabilen normativen gesellschaftlichen Verständigung 1 3 1 . M i t h i n ist die Vollstreckung jeder drei Jahre nicht übersteigenden Freiheitsstrafe auszusetzen. Das gilt jedoch derart stringent nur unter der Voraussetzung des derzeitigen faktischen Strafenniveaus. Sollte sich nämlich das allgemeine Strafenniveau soweit senken lassen wie in den Niederlanden, dann kann oder muß vielleicht sogar auf eine Erweiterung verzichtet werden 1 3 2 . Das läßt sich aber erst bei der konkreten Umsetzung des hier entwickelten Modells beurteilen. Die Aussetzung ist unter einen befristeten Widerrufsvorbehalt zu stellen, der dem Täter nachhaltig genug vermittelt werden muß, u m zu verhindern, daß er sich befreit und i m Fall des Widerrufs m i t möglicherweise sogar kriminogener Wirkung getäuscht f ü h l t 1 3 3 . Erforderlich ist ein Widerrufsvorbehalt schon allein deshalb, weil keine Gesellschaft so stabil ist, daß es zur Sicherung der Normgeltung ausreichte, Normbrüche nur kenntlich zu machen und zu bewerten. Selbst bei geringsten Strafhöhen dürfte das nur bei Ersttätern genügen, so daß allen kriminologischen Erkenntnissen zur Vorzugswürdigkeit der Strafaussetzung auch bei Wiederholungstätern 1 3 4 zum Trotz die Strafaussetzung an die Voraussetzung der Vorstrafenbelastung geknüpft werden müßte. Sofern man also — wie dies bereits in einigen Ländern praktiziert w i r d 1 3 5 — ungeachtet der Vorstrafenbela-

127 Dünkel l Spieß, Strafaussetzung, S. 507; Schaffmeister, Niederlande, S. 334. 128 S. obenS. 85 f. (der SPD-Entwurf—oben S. 147Fn. 126 — hält an der UmständeKlausel für Strafen von zwei bis drei Jahren fest). 129 S. oben S. 111, 120 f., 137. 130 Dünkel, Strafaussetzung, S. 409 ff. Vgl. Eisenberg, Kriminologie § 36 Rn. 71, zur immensen Aussetzungshäufigkeit de lege lata. 131 S. auch E. A. Wolff , Generalprävention, S. 823. 132 Vgl. Schaffmeister, Niederlande, S. 334: 94% aussetzungsfähige Strafen trotz einer Beschränkung der Strafaussetzung auf Strafen bis zu einem Jahr. 133 W. Hassemer, Einführung, S. 302. 134 Vgl. Spieß, Bewährungserfolg, S. 526 ff. 135 Dünkel, Strafaussetzung, S. 410 f.

§ 10. Zur Strafzumessung im weiteren Sinn

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stung die Vollstreckung jeder drei Jahre nicht übersteigenden Freiheitsstrafe aussetzen w i l l , bedarf es eines Widerrufs Vorbehalts. Wenngleich der Widerrufsvorbehalt und der Widerruf eine individuell bzw. generell abschreckende W i r k u n g haben mögen, unterliegen sie keinen normativen Bedenken. Z u m einen, weil es sich um nichtintendierte unvermeidliche Reflexwirkungen handelt 1 3 6 . Z u m anderen, weil der Widerruf nicht zu einer tatschuldüberschreitenden Sanktionierung führt, sondern nur zum Verzicht auf die Aussetzung der Vollstreckung der tatschuldgemäßen Strafe, zum schuldmaßindifferenten Wechsel der Art, den Geltungsanspruch der N o r m zu demonstrieren. A u f diese Weise w i r d zwar eine Konzession an die relativ undistanzierte, kontextverhaftete, die gesellschaftliche Verständigung aber dennoch beharrlich beeinflussende punitive Haltung gegenüber allgemeiner hartnäckiger Rechtsfeindlichkeit, wie sie sich in dem Verlangen nach Strafschärfung bei Rückfall ausdrückt 1 3 7 , gemacht. Aber diese Konzession ist eine notwendige Bedingung für die von der verantwortungsbewußten Entscheidung des einzelnen für das Recht ausgehende von der Vorstrafenbelastung unabhängige generelle Strafaussetzung. U n d sie ist nicht zu beanstanden, weil sie nur formalisiert und tatschuldkonform, d. h. auf eine die Prävalenz der Gerechtigkeit nicht beeinträchtigende Weise realisiert wird. Vorzusehen ist zumindest ein Widerruf wegen Begehung einer neuen Straftat. Jedoch nicht wegen jeder Straftat und auch nicht i n jedem Fall. Die nach dem geltenden Recht bestehende Möglichkeit, die Frist des Widerrufsvorbehalts zu verlängern (§ 56 f I I Nr. 2 StGB) weist hier ebenso den Weg wie die an der Schwere und Angriffsrichtung orientierte Rechtsprechung zur Bestimmung w i derrufsbegründender Straftaten 1 3 8 . Diese Rechtsprechung knüpft zwar an die aus der positiven Täterprognose resultierende Erwartung, daß bestimmte Straftaten ausbleiben, an (§ 56 f I Nr. 1 S t G B ) 1 3 9 ; sie dürfte aber i m Ergebnis dem Stand gesellschaftlicher Verständigung entsprechen und behält daher auch trotz der notwendigen Eliminierung des Prognoseelements ihre Bedeutung. M i t zunehmender gesellschaftlicher Stabilität können die Voraussetzungen verengt werden. W i e der Widerrufsvorbehalt zu befristen ist, kann hier nur grundsätzlich angegeben werden; gesellschaftliche Stabilitätszuwächse ermöglichen kurze, Weisungen begründen eventuell längere Fristen, dürfen aber nicht zu einer tatschuldinadäquaten oder desozialisierenden Belastung führen 1 4 0 . Ob auch ein Widerruf wegen Verstoßes gegen Auflagen, Weisungen oder die Unterstellung unter Bewährungshilfe vorzusehen ist und welche dieser Maßnah-

me 137 138 Rspr. 139 140

Vgl. W. HassemerAK-StGB Vor § 1 Rn. 426. S. oben S. 42 Fn. 212. Rspr.-N. bei Sch / Sch / Stree, § 56 f Rn. 4; zur gestiegenen Risikobereitschaft der Kaiser, Kriminologie (LB) § 116 Rn. 33. N. bei E. Horn SK-StGB § 56 f Rn. 12. Vgl. § 42 I 2 AE-StGB; A£-AT, S. 84 f.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

men legitim sind, ist hier ebenfalls nicht i m einzelnen zu behandeln. A l s Grundsatz hat zu gelten, daß diese Maßnahmen nur dann zulässig sind, wenn sie nach positiv-generalpräventiven Kriterien auch als Strafe oder i m Strafvollzug zulässig wären. Das heißt beispielsweise, daß die Auflage, „gemeinnützige Leistungen zu erbringen" (§ 56 b I I Nr. 3 StGB), unzulässig i s t 1 4 1 , und daß die Auferlegung einer Geldbuße wegen des Tatschuldgrundsatzes jedenfalls nur zulässig ist, wenn sie i m Widerrufsfall zwingend angerechnet w i r d 1 4 2 ; Weisungen und die Unterstellung unter Bewährungshilfe sind unbedenklich, soweit sie nicht die Menschenwürde verletzen und auch bei der Abwehr äußerlicher resozialisierungsfeindlicher Einflüsse (vgl. § 56 c I I Nr. 1, 2, 4 StGB) das i m Strafvollzug gerechtfertigte Maß an Freiheitsbeschränkung nicht übersteigen 1 4 3 . Hinsichtlich des Widerrufs ist z. B. zu erwägen, ob es bei groben und hartnäckigen Verstößen gegen eine Geldbußenauflage zur Erhaltung der normgeltungssichemden Wirksamkeit des Strafrechts nicht ausreicht, eine strikt dem Tatschuldgehalt der Geldbuße 1 4 4 entsprechende Ersatzfreiheitsstrafe auszusprechen; da der Widerruf wegen eines Verstoßes gegen Weisungen nicht an die illegitime Voraussetzung einer Rückfallprognose (vgl. § 56 f I Nr. 2 StGB) geknüpft werden darf, ist zu prüfen, ob die Befolgung der Weisungen nicht m i t milderen Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann. Gerade die letzten Überlegungen zeigen, daß die Einschätzung der Möglichkeiten, welche der Stand gesellschaftlicher Verständigung eröffnet, in bezug auf die Strafaussetzung, insbesondere wegen der Verarbeitung der nicht-stabilen Verständigung, in vielerlei Hinsicht auf unsicherer Grundlage steht. Das heißt freilich nicht, daß der Gesetzgeber hier anders als bei der Senkung des allgemeinen Strafenniveaus zuwarten müßte, sondern betont beispielhaft die Erforderlichkeit kontrollierter experimenteller Gesetzgebung. I n deren Rahmen ist auch auszutesten, ob sich der Anwendungsbereich für die Strafaussetzung eventuell erweitern läßt, wenn man tatbestandsspezifische Differenzierungen, wie z. B. Aussetzungseinschränkungen bei bestimmten D e l i k t e n 1 4 5 , vornimmt.

B. Zur Strafrestaussetzung (zur Bewährung) Das positiv-generalpräventive M o d e l l verlangt auch, die zu verbüßende Strafzeit auf das zur Bekräftigung des Norgeltungsanspruchs erforderliche Maß zu begrenzen. I m Gegensatz zur Strafaussetzung zeigt hier insbesondere die weitgehende Übereinstimmung der gesetzlichen Regelungen und die besonders großzü-

141 142 143 144 145

S. oben S. 70 Fn. 387. So auch E. Horn SK-StGB § 56 f Rn. 39, § 56 b Rn. 2. S. oben S. 65 m. Fn. 361. Vgl. Schmidhäuser, A T (LB) 21 / 10: „verkappte Ersatzstrafe". S. rechtsvergleichend Dünkel, Strafaussetzung, S. 410 (Frankreich).

§10. Zur Strafzumessung im weiteren Sinn

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gige Bestimmung der Mindestverbüßungszeit bei der Zweidrittel-Aussetzung (§ 5 7 1 Nr. 1 StGB) i m internationalen V e r g l e i c h 1 4 6 , daß eine weitere Reduzierung der Verbüßungszeiten w o h l nicht möglich i s t 1 4 7 . Die absoluten und relativen Verbüßungszeiten treffen wohl ziemlich genau das Maß, das verbüßt sein muß, bevor der Strafrest ohne Gefährdung der normgeltungsichernden Wirksamkeit des Strafrechts ausgesetzt werden k a n n 1 4 8 . Dieses Maß definiert den Zeitraum, der benötigt wird, bis sich der Grad der distanzierten Verarbeitung des Abweichungskonflikts so weit erhöht hat, daß die Weitervollstreckung zur Behauptung der Normgeltung nicht mehr erforderlich i s t 1 4 9 . Eine Senkung des allgemeinen Strafenniveaus könnte sogar zu einer Erhöhung der Mindestverbüßungszeiten nötigen 1 5 0 . Eine solche Erhöhung könnte auch wegen der rein strafmaßabhängigen Regelung der Strafaussetzung erforderlich werden. Danach w i r d die Vollstreckung der allermeisten Freiheitsstrafen ausgesetzt, die Strafverbüßung erfolgt daher regelmäßig aufgrund eines Widerrufs. Da die widerrufsbegründete Strafverbüßung aber zu einem wesentlichen Teil der Verarbeitung der punitiven Haltung gegenüber allgemeiner hartnäckiger Rechtsfeindlichkeit dient, könnte das den Zeitbedarf für das Aufwachsen zu einer die Strafrestaussetzung erlaubenden hinreichend distanzierten Abweichungsverarbeitung erhöhen. Geht man davon aus, daß dieser Zeitbedarf auch von der Vorstrafenbelastung des Täters abhängt, muß erwogen werden, ob es ausreicht, die Vorstrafenbelastung bei der Halbstrafenaussetzung zu berücksichtigen, oder ob höhere Mindestverbüßungszeiten oder andere Regelungen für Rückfalltäter, auch an anderer Stelle, erforderlich sind. Welche Regelungen in concreto vorzugswürdig sind, läßt sich erst bei der Verwirklichung dieses Modells entscheiden. Vorzugswürdig ist unter Einbeziehung aller Elemente der Strafzumessung die Regelung, welche die per saldo stärkste positiv-generalpräventiv vertretbare Minimierung unmittelbarer bzw. durch Desozialisierung bewirkter mittelbarer Freiheitseinschränkung gestattet. Die Beseitigung der Prognoseabhängigkeit (vgl. § 57 I Nr. 2 StGB) und der Verzicht auf Vorschriften zur richterlichen Gesamt Würdigung (vgl. § 57 I I Nr. 2 StGB), die zu unmittelbar-generalpräventiv motivierten bzw. zwar tatschuldbezogenen, aber entformalisierenden Korrekturen führen 1 5 1 , schwächen aus den zur 146 Dünkel, Strafaussetzung, S. 416. 147 Belgien kennt die Eindrittelstrafen-Aussetzung für Ersttäter: Dünkel, Strafaussetzung, S. 416. 148 Wie das Beispiel der skandinavischen Länder zeigt (Kaiser, Strafvollzug, S. 126, 135, 136, 139 f.), gilt dies schon unter Einbeziehung des offenen Vollzugs als tatsächlichem Regelvollzug. 149 Vgl. Haffke, Lebenslange Freiheitsstrafe, S. 56; Streng, Schuldbegriff, S. 327 m. N.(was bereits für den nicht abgeurteilten Täter gilt, gilt um so mehr für den verbüßenden). 150 In den Niederlanden für den Regelfall der vorzeitigen Entlassung neun Monate: Dünkel, Strafaussetzung, S. 416. 151 S. oben S. 88 ff.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

Strafaussetzung genannten G r ü n d e n 1 5 2 die normgeltungsbestätigende Kraft des Instituts der Strafrestaussetzung nicht, sondern stärken sie eher. Für den Fall eines relativ hohen allgemeinen Strafenniveaus ist jedoch eine Beseitigung des Widerrufsvorbehalts als weitere Maßnahme zur Reduzierung der freiheitsbeschränkenden Strafwirkung i n Betracht zu ziehen. Eingedenk des Zeitbedarfs für das Aufwachsen einer die Strafrestaussetzung erlaubenden hinreichend distanzierten AbweichungsVerarbeitung liegt es nahe, daß auf den Widerrufsvorbehalt eventuell bei der Zweidrittel-, nicht jedoch bei der Halbzeitaussetzung verzichtet werden k a n n 1 5 3 . Als kontrolliertes Experiment ist eine solche Streichung indes nur zu erproben, wenn sich eine starke Absenkung des Strafenniveaus nicht durchsetzen lassen sollte. Die Stabilisierung des strikt tatschuldbezogenen Strafenniveaus muß auch abgewartet werden, um verhindern zu können, daß der Strafrichter die unbedingte Entlassung bei der Strafmaßbestimmung einrechnet 1 5 4 . Einer Regelung für die Aussetzung des Strafrests bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57 a StGB) bedarf es nicht. Entfernt man den nur unmittelbar-präventiv begründbaren unrechtsinkongruenten Strafdrohungsanteil des praktisch relevanten § 211 S t G B 1 5 5 , so läßt sich — orientiert am derzeitigen Niveau der abstrakten Strafdrohungen, bestätigt durch den internationalen Vergleich — allenfalls ein M a x i m u m von ungefähr 20 bis 25 Jahren rechtfertigen 1 5 6 . Daß auch diese Strafe nicht absolut angedroht werden darf, resultiert aus dem einzeltatschuldfundierten Ansatz des positiv-generalpräventiven Modells und der Bestimmung des Verhältnisses von Rechtsprechung und Strafgesetzgebung. U n d da ferner bereits gezeigt worden ist, daß die besonderen Kriterien des § 57 a StGB rein präventiv motiviert s i n d 1 5 7 , ergibt sich aus alledem schließlich, daß sich auch die Aussetzung der Vollstreckung des Rests einer wegen Mordes zu verbüßenden Freiheitsstrafe nach den normalen Regeln für die Aussetzung bei zeitiger Freiheitsstrafe bestimmt.

152 S. oben S. 148 m. Fn. 129. 153 Vgl. W. Hassemer, Einführung, S. 303. Die Begründung, daß es sich ja ohnehin um einen Gnadenerweis handele, ist jedoch nicht nachvollziehbar; vgl. oben S. 89 f. m. Fn. 515 f. und Eisenberg / Ohder, Aussetzung, S. 12 f. 154 Jedenfalls mehr als evtl. jetzt schon hinsichtlich der bedingten Entlassung (W. Hassemer, Einführung, S. 303); diese schon exisistierenden Zuschläge lassen sich zwar kaum ermitteln, sie fallen aber aufgrund der strafenniveausenkenden Streichung der unmittelbar-präventiven Strafzumessung und im Zuge der allg. Senkung des Strafenniveaus tendenziell fort. 155 S. oben S. 36 ff. 156 Vgl. Schmidhäuser, Urteil, S. 268 Sp. 2, u. oben S. 37 Fn. 174. 157 S. oben S. 90 f.

§11. Zum Strafprozeß

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§ 11. Zum Strafprozeß A. Höchststrafmaß-Interlokut Die materiellrechtliche Eliminierung der Prävention als selbständig-unvermitteltem Strafzumessungsgrund durch die einzeltatschuldbezogene Ausgestaltung der Strafzumessungsgrundsätze muß prozeßrechtlich ergänzt werden. U m sicherzustellen, daß sich die zur Beurteilung von Freiheitsdefiziten oder einer besonderen Strafempfindlichkeit zu erhebenden Daten nur strafmildernd auswirken und nicht die Bestimmung des Maßes der Einzeltatschuld unmittelbar-präventiv determinieren, bedarf es einer Interlokut-Regelung 1 5 8 . Aus der Delegitimation der unmittelbar-präventiven Strafzumessung folgt freilich, daß keine Zweiteilung der Hauptverhandlung in einen schuld- und einen präventionsorientierten Prozeßabschnitt 1 5 9 in Betracht kommt. Klammert man den Präventionsaspekt aus, dann läßt sich die dem positiv-generalpräventiven Strafzumessungsmodell entsprechende Lösung zwischen dem Tatschuld- 1 6 0 und dem Tat-Interlokut 1 6 1 ansiedeln. Denn die Höhe der voller Einzeltatschuld entsprechenden Strafe soll zwar schon i m ersten Abschnitt festgelegt werden, aber nur vorläufig unter dem Vorbehalt des Freispruchs (bzgl. § 20 StGB) und der Strafminderung (bzgl. § 21 StGB und der Strafempfindlichkeit) — zudem unter dem Vorbehalt der Maßregel. Der Prozeßstoff ist daher nach Maßgabe des Tat-Interlokuts auf die Verhandlungsabschnitte zu verteilen 1 6 2 . Der Zwischenbericht, der zu ergehen hat, sofern nicht freizusprechen oder einzustellen ist, hat aber nicht nur festzustellen, welche Straftaten der Angeklagte begangen h a t 1 6 3 , sondern unter den genannten Vorbehalten auch festzusetzen, welches Strafmaß höchstens in Betracht kommt.

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Überblick über die diskutierten Varianten bei Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42 G. 159 S. ζ. Β. Krauß, Materielle Wahrheit, S. 87; Bruns, RdStrZ, S. 291 f. 160 Vgl. E. Horn, Tatschuld-Interlokut. Der Kritik an dieser Variante, wie sie etwa Wolter, Schuldinterlokut, S. 96 f., vorträgt (durch Verweis auf § 46 12 StGB, die Einseitigkeit der nur noch präventionsbezogenen Bestimmung der Strafart, die Ungerechtigkeit wegen fehlender Unterschreitungsmöglichkeit sub specie Spezialprävention, die schmale Schuldbasis für das Strafhöhenurteil), ist hier schon durch die Delegitimation der unmittelbar-präventiven Strafzumessung sowie durch den Nachweis, daß die täterschuldorientierte Sorge um die Breite der Basis für das Schuldstrafmaß verfehlt ist (oben S. 129 ff.), begegnet worden. 161 Vgl. Achenbach, Zweiteilung, S. 404; w. N. bei Wolter, Schuldinterlokut, S. 97 Fn. 145. Wolters Kritik an dieser Variante, S. 98 f. (Ausschluß der Öffentlichkeit auch hinsichtlich von Fragen, an deren strafrechtlicher Verarbeitung die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse hat), ist hier nicht einschlägig, da es keinen präventionsorientierten zweiten Verhandlungsteil gibt, der Ausschluß der Öffentlichkeit folglich nach den interlokutunabhängigen hergebrachten Vorschriften erfolgt (s. oben S. 75 Fn. 420). 162 Hinsichtlich der Einzelheiten, ζ. B. Ausnahmeregeln bei doppelrelevanten Umständen, kann auf den AE-StPO-HV, S. 58 ff., verwiesen werden. 163 Vgl. § 239 I I I A£-StPO-HV, S. 53.

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3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention

B. Begründungspflicht Das positiv-generalpräventive Strafzumessungsmodell stimmt weitgehend mit dem faktisch wirksamen und größtenteils wahrhaftig begründeten Entscheidungsprogramm der Rechtsprechung überein. Die Strafzumessungsgrundsätze und die Strafvollstreckungsbestimmungen sind konsistent und leicht operationalisierbar. Unerfüllbare Aufgabenstellungen an den Richter fehlen, Einfalltore für unvermittelt-präventive Interessen sind weitestgehend beseitigt. Der Rechtsprechung werden aufgabenadäquate Spielräume zur Verarbeitung des sozialen Wandels und für einzelfallgerechte Entscheidungen zur Verfügung gestellt. Das M o d e l l ist daher in allen Teilen einfach zu implementieren, läßt die Nötigung und Möglichkeit zu Scheinbegründungen tendenziell entfallen und erlaubt eine offene und wahrhaftige D o g m a t i k 1 6 4 . Es darf deshalb erwartet werden, daß das positivgeneralpräventive Strafzumessungsmodell zu bewirken vermag, daß die Rechtsprechung nicht nur noch mehr als jetzt schon größtenteils Herstellung und Darstellung der Entscheidung zur Deckung bringt, sondern auch den Strafzumessungsfall vollständig tatsächlich und rechtlich herstellt; daß sie also sowohl den prozeßrechtlichen (§ 267 I I I StPO) als auch den materiellrechtlichen Begründungspflichten genügt. Es reicht daher aus, die Begründungspflichten nur in bezug auf die InterlokutRegelung insofern zu erweitern, daß beide Teile der Hauptverhandlung mit einer begründeten abschnittsspezifischen Entscheidung beendet werden müssen 1 6 5 . Sollte sich herausstellen, daß die Rechtsprechung modellwidrig handelt, ist freilich auch zu überlegen, ob dem durch zusätzliche prozeß- oder materiellrechtliche Begründungspflichten begegnet werden k a n n 1 6 6 .

§ 12. Fazit: Das positiv-generalpräventive Strafzumessungsmodell in Programm- und Leitsätzen A. Die Strafmaßbestimmung — Das Höchststrafmaß bestimmt sich vorläufig nach der vollen Einzeltatschuld. — Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen eines gravierenden psychischen, psychosozialen oder sozioökonomischen Freiheitsdefizits erheblich vermindert, so ist die Strafe beträchtlich zu mildern. 164 s. schon oben S. 140 ff. 165 Vgl. § 239 V A£-StPO-HV, S. 53, 61. 166 Vgl. Bruns, RdStrZ, S. 267, u. oben S. 93 Fn. 534.

§ 12. Fazit: Das Modell in Programm- und Leitsätzen

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Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen eines nicht-gravierenden psychischen, psychosozialen oder sozioökonomischen Freiheitsdefizits vermindert, so ist die Strafe zu mildern.

B. Die gesetzliche Strafdrohung Strafrahmen sind die adäquaten M i t t e l gesetzlicher Strafmaßbestimmung. Die Grenzen der Strafrahmen können erheblich gesenkt, ihre Weite kann erheblich verringert werden. Die kurze Freiheitsstrafe als Regelstrafe ist unbedenklich.

C. Die Strafzumessung im weiteren Sinn I . Die Strafaussetzung zur Bewährung Unter der Voraussetzung des derzeitigen allgemeinen Strafenniveaus ist die Vollstreckung jeder drei Jahre nicht übersteigenden Freiheitsstrafe auszusetzen. Ein bedingter prognoseunabhängiger befristeter Widerrufsvorbehalt wegen Begehung einer neuen Straftat ist vorzusehen. Ein Widerrufsvorbehalt wegen eines Verstoßes gegen Auflagen, Weisungen oder die Unterstellung unter Bewährungshilfe ist nur vorzusehen, wenn sich diese Maßnahmen nicht mit eingriffsschwächeren M i t t e l n durchsetzen lassen oder wenn der Einsatz dieser M i t t e l zum Erhalt der normgeltungssichernden Wirksamkeit des Strafrechts nicht ausreicht.

I I . Die Strafrestaussetzung (zur Bewährung) Die Vollstreckung des Rests jeder Freiheitsstrafe ist auszusetzen, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate verbüßt sind. Verbüßt der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe und übersteigt diese nicht zwei Jahre, ist die Vollstreckung des Rests schon nach Verbüßung der Hälfte, mindestens jedoch von sechs Monaten auszusetzen. Bei einer Senkung des allgemeinen Strafenniveaus kann eine Erhöhung der Mindestverbüßungszeiten erforderlich werden. Infolge der prognose- und vorstrafenunabhängigen Aussetzung der Vollstrekkung aller drei Jahre nicht übersteigenden Freiheitsstrafen können hier oder

3. Kap.: Das Strafzumessungsmodell der positiven Generalprävention an anderer Stelle (weitere) besondere Regelungen für Rückfalltäter erforderlich werden. Vorzugswürdig ist unter Einbeziehung aller Elemente der Strafzumessung die Regelung, welche die per saldo stärkste positiv- generalpräventiv vertretbare Minimierung unmittelbarer bzw. durch Desozialisierung bewirkter mittelbarer Freiheitseinschränkung gestattet. Die Halbstrafenaussetzung ist unter einen der Strafaussetzungsregelung entsprechenden Widerrufsvorbehalt zu stellen. Unter der Voraussetzung eines relativ hohen allgemeinen Strafenniveaus ist bei der Zweidrittel-Aussetzung ein Verzicht auf den Widerrufs vorbehält in Betracht zu ziehen.

D. Der Strafprozeß Die Hauptverhandlung ist in zwei Teilen durchzuführen (HöchststrafmaßInterlokut). Die Höhe der voller Einzeltatschuld entsprechenden Strafe ist i m ersten Abschnitt vorläufig unter dem Vorbehalt des Freispruchs, der Strafminderung und der Maßregel zu bestimmen. Beide Teile der Hauptverhandlung sind mit einer begründeten abschnittsspezifischen Entscheidung zu beenden.

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