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German Pages 249 [254] Year 2021
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Archives de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale Archivo de Filosofía Jurídica y Social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 165
MENSCHENWÜRDE OHNE METAPHYSIK Beiträge des Workshops auf dem 29. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) in Luzern, Schweiz, Juli 2019 Herausgegeben von Ulfrid Neumann, Paul Tiedemann und Shing-I Liu
Franz Steiner Verlag
Umschlagbild: Justitia, Landgericht Ulm Quelle: shutterstock.com / Georg_89 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12828-5 (Print) ISBN 978-3-515-12829-2 (E-Book)
Vorwort
Der vorliegende Band enthält nahezu vollständig die Texte der Referate, die im Rahmen des Special Workshops „Menschenwürde ohne Metaphysik“ auf dem 29. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) (7. bis 12. Juli 2019 in Luzern/Schweiz) gehalten wurden. Das Thema des Workshops war bewusst offen, das heißt: ebenso ohne Frage- wie ohne Ausrufezeichen formuliert worden. Die Frage, ob ein Verzicht auf eine metaphysische Begründung des normativen Prinzips der Menschenwürde notwendig, (zumindest) möglich oder aber unmöglich (oder jedenfalls: untunlich) ist, sollte vollständig und ohne tendenziöse Vorgaben der Sichtweise der Referenten und der Diskussion überantwortet werden. Bei der Formulierung des Themas waren sich die Veranstalter durchaus bewusst, dass die Antwort auf diese Frage von dem jeweiligen Verständnis des – in der Philosophie keineswegs einheitlich verwendeten – Metaphysik-Begriffs beeinflusst werden würde. Die Erwartung, dass die Stellungnahmen zu dem Thema sehr unterschiedlich ausfallen würden, hat sich in den Vorträgen wie auch in den anschließenden Diskussionen bestätigt. Manche Aspekte der Diskussion konnten in der Druckfassung einiger Vorträge noch berücksichtigt werden; auch insofern gehen die in diesem Band versammelten Texte über die – zwangsläufig komprimierten – mündlichen Präsentationen teilweise erheblich hinaus. Trotz aller Kontroversen bestand und besteht in einem Punkt allerdings Konsens: Eine metaphysische Begründung der Menschenwürde im Sinne ihrer Interpretation als einer von einer transzendenten Macht verliehenen Eigenschaft kommt heute nicht mehr in Betracht. Soweit man glaubt, auf metaphysische Elemente bei der Begründung des normativen Prinzips der Menschenwürde nicht verzichten zu können, geht es eher um als denknotwendig angenommene Präsuppositionen als um ontologische Prämissen. Wir danken allen Referenten (auch jenen, die aus unterschiedlichen Gründen zu diesem Band nicht beitragen konnten) und Diskussionsteilnehmer/Innen für Ihre Beiträge. Frankfurt am Main und Taipeh April 2020
Ulfrid Neumann Paul Tiedemann Shing-I Liu
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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MARCUS DÜWELL
Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis
.........................
9
WEI FENG
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
Oder: Starke Normativität ohne Metaphysik?
23
PHILIPP GISBERTZ-ASTOLFI
Die Sackgassen des Humiliationismus in Metaphysik oder Positivismus
. . . . . . . . . . 63
HIROSHI HATTORI
Was lehrt das Scheitern der Verwurzelung des Begriffs der „Menschenwürde“ in Japan? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
ALTAN HEPER
Menschenwürde ohne Metaphysik ist möglich
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
YU-AN HSU
Menschenwürde, Person und Strafrecht
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
YOUNG-WHAN KIM
Rekonstruktion der Diskussion um die Menschenwürde
Menschenwürde als ein normativer Anspruch
109
STEPHAN KIRSTE
Menschenwürde als subjektives Recht
Selbstverhältnis in Rechtsverhältnissen
123
8
Inhaltsverzeichnis
SHING-I LIU
Menschenwürde
Ein interkultureller Rechtswert am Beispiel von strafrechtlicher Schuld
147
ULFRID NEUMANN
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
Eine Alternative zur metaphysischen Würdebegründung
159
MOTOTSUGU NISHINO
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürde
Orientiert an der Leiblichkeit und Sterblichkeit des Menschenseins
177
MARIJAN PAV Č NIK
Brüchigkeit der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
DIETMAR VON DER PFORDTEN
Zu einem adäquaten Verständnis der inhärenten, unveräußerlichen Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
JOSÉ-ANTONIO SANTOS
Das Gedächtnis als epistemisches Element zum Verständnis der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
PAUL TIEDEMANN
Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit Register
. . . . . . . . . . . . . 231
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Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis1 MARCUS DÜWELL (Utrecht)
Abstract: The paper outlines a view that grounds human dignity not in specific values or a specific
image of the human being but in the consistent self-understanding of the human being. The paper, firstly, sketches the basic elements of such a view. Secondly, it elaborates on the anthropological presuppositions that makes such a view plausible. Thirdly, it outlines how such a concept of human dignity could play a significant role in a transformation of the human rights regime under conditions of the 21st Century. Keywords: Human Dignity, Practical Self-Understanding, Philosophical Anthropology, Respect, Transcendental Philosophy, Culture
1.
Einleitung
Die Menschenwürde wird in Deutschland häufig als ‚fundamentale Wertentscheidung des Grundgesetzes‘ aufgefasst. Der normative Gehalt dieser Wertentscheidung wird zum einen darin gesehen, eine vollständige ‚Objektivierung‘ oder ‚Instrumentalisierung‘ zu verbieten und zum anderen eine grundlegende normative Orientierung der gesamten staatlichen Ordnung zu gewährleisten, wobei besonders die Menschen- und Bürgerrechte als aus der Menschenwürde abgeleitet gedacht werden. Dabei kommt der Menschenwürde zugleich der unbedingte Anspruch zu, Abwägungen entzogen zu bleiben. Diese Konstruktion der Menschenwürde ist in mancher Hinsicht umstritten.2
Dieser Beitrag baut auf frühere Beiträge des Autors auf, einige Überschneidungen sind unvermeidlich. Siehe u. a. Marcus Düwell, Human Dignity: Concept, Discussions, Philosophical Perspectives. In: Marcus Düwell / Jens Braarvig / Roger Brownsword / Dietmar Mieth (Eds.): Cambridge Handbook on Human Dignity, Cambridge: Cambridge University Press 2014, 23–29. 2 Vgl. etwa Markus Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, Tübingen: Mohr-Siebeck 2015. 1
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MARCUS DÜWELL
Dabei wird etwa gefragt, wie man den Zusammenhang dieser Rechte mit der Menschenwürde denken muss. Ist der normative Gehalt der Menschenwürde ko-extensiv mit dem der Menschen- und Bürgerrechte und wäre – wenn dies zutrifft – das Menschenwürde-Konzept nicht verzichtbar? Oder schützt die Menschenwürde lediglich einen normativen Kernbereich des Humanen? Aber wenn das der Fall wäre, wie kann dieser Kernbereich als Grundlage der Gesamtheit der Rechte dienen?3 Ferner wird gefragt, woher die Menschenwürde ihre besondere Autorität bezieht? Ist die Menschenwürde lediglich Ausdruck eines historisch kontingenten Menschenbildes? Und wenn dem so wäre, warum sollte ein solches Menschenbild universale Anerkennung verdienen? Ist nicht die Begründung eines solchen universellen Anspruchs mit philosophischen Begründungslasten verbunden, die entweder auf (versteckten) religiösen Annahmen oder einer spezifischen ‚Metaphysik‘ beruhen, von deren Plausibilität eine weltanschaulich offene Gesellschaft und ein pluralistischer Staat nicht ausgehen können. Im politischen Diskurs wird dieser Eindruck etwa durch Stimmen unterstützt, die (in kritischer oder affirmativer Absicht) suggerieren, dass die Menschenwürde auf einem christlichen Menschenbild beruhe und als säkulare Fassung der Gottesebenbildlichkeit aufzufassen sei. All diese Fragen sollen hier nicht im Einzelnen diskutiert werden, sondern ich werde versuchen einen Ansatz der Menschenwürde zu skizzieren, der die Universalität der Menschenwürde plausibel machen kann und dabei nicht auf Annahmen zurückgreifen muss, die mit den Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft unvereinbar sind sondern diese vielmehr begründen. Zugleich sollte nachvollziehbar sein, dass dieses Konzept der Menschenwürde nicht leer ist sondern materiale Normen (besonders Rechte) dadurch begründet werden können und dieses Konzept zugleich offen ist für die Einsicht, dass diese materialen Normen in wechselnden historischen und kulturellen Kontexten teilweise unterschiedlich ausfallen müssen. Wichtig ist für meinen Ansatz, die Menschenwürde nicht als eine ‚Wertentscheidung‘ aufzufassen, die auf einem spezifischen (christlichen oder freiheitlichen) Menschenbild beruht. Eine solche Wertentscheidung wäre entweder historisch-kulturell kontingent – und damit gerade nicht in der Lage einen unbedingten Anspruch auf Respekt zu begründen – oder sie bezöge sich auf einen ‚absoluten‘ oder ‚objektiven‘ Wert, dessen Erkenntnis uns mit epistemologischen Fragen konfrontiert, die vermutlich nur durch eine starke Form der Intuitionismus beantwortet werden könnten. Die Frage nach der Legitimation des unbedingten Anspruchs der Menschenwürde kann nun nicht einfach mit einem Verweis auf die praktische Funktion der Menschenrechte beantwortet werden4. Ebenso wenig kann man die Menschenwürde einfach als Siehe hierzu: Marcus Düwell, Human Dignity and Human Rights. In: Paulus Kaufmann / Hannes Kuch / Christian Neuhäuser / Elaine Webster (eds.), Humiliation, Degradation, Dehumanization – Human Dignity Violated, Dordrecht: Springer 2010, 215–230. 4 Charles Beitz, The Idea of Human Rights. Oxford: Oxford University Press 2009. 3
Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis
Setzung des Rechts verstehen. In all diesen Konzeptionen wird die Menschenwürde als Ergebnis eines historischen Lehrprozesses gedacht, von dem man behauptet, dass eine Ordnung auf Basis der Menschenwürde in einem qualifizierten Sinne besser ist als eine normative Ordnung, die nicht darauf basiert ist (etwa dass eine Gesellschaft freier Menschen besser ist als eine Sklavenhaltergesellschaft). Wir benötigen m. E. keine umfassende Theorie moralischen Fortschritts der Geschichte, um dieses Urteil begründen zu können. Aber man wird erwarten können, dass begründet wird, in welchem Sinne eine solche normative Ordnung als ‚besser‘ anzusehen ist als eine nicht auf Menschenwürde begründete Gesellschaft. Ich werde ein Verständnis der Menschenwürde skizzieren, das den Anspruch auf Respekt vor der Menschenwürde im konsistenten Selbstverständnis des Menschen selbst begründet. Ich gehe davon aus, dass dies im Wesentlichen ein Kantischer Gedanke ist, werde aber in diesem Kontext nicht auf Kant selbst eingehen können. Ich werde stattdessen (2) zunächst die moralphilosophische Idee skizzieren, (3) dann einige Überlegungen zu den anthropologischen Grundlagen anschließen und (4) kurz einige Konsequenzen aus diesen Überlegungen andeuten. Nur am Rande sei angedeutet, dass ich hier als praktischer Philosoph und nicht als Jurist argumentiere. Ich erhebe auch nicht den Anspruch, dass mein Konzept der deutschen Grundgesetztradition entspricht.5 Aber ich gehe davon aus, dass sich jede Rechtstradition an dem orientieren muss, was überhaupt konsistent vertretbar ist und sich damit zwangsläufig in einem Raum bewegt, dessen Grenzen durch philosophisches Argumentieren erschlossen werden. Und im Rahmen dieses Argumentierens scheint mir der Gedanke philosophisch plausibel, dass die Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte aufzufassen sei. Was dies mit einer ‚fundamentalen Wertentscheidung‘ zu tun haben soll, erschließt sich mir dagegen nicht. 2.
Selbst-Verstehen und Moral
Zunächst mag es überraschend erscheinen, die Menschenwürde nicht in bestimmten Werten verankern zu wollen oder als einen (absoluten oder objektiven) Wert zu verstehen, sondern im menschlichen Selbstverständnis grundgelegt zu sehen. Schaut man sich einige klassische Texte zur Menschenwürde an, so ist dieser Gedanke jedoch weniger überraschend. Im klassischen Text in De Oficiis von Cicero6 wird zwar kein Bezug zu Rechten hergestellt, aber die Menschenwürde wird als Grundlage der Selbstverpflichtung des Menschen zu einem tugendhaften Leben aufgefasst, eine Verpflich-
Nur am Rande sei daran erinnert, dass dies auch nicht die einzige zur Menschenwürde relevante Rechtstradition ist. Siehe etwa Christopher McCrudden, Human Dignity and Juridical Interpretation of Human Rights. In: The European Journal of International Law 19 (4) (2008) 655–724. 6 Marcus Tullius Cicero, De officiis I 105 f. Deutsch: M. T. Cicero: Vom pflichtgemäßen Handeln. Ausgewählte Werke Band 1, Düsseldorf: Patmos 2008, 58. 5
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MARCUS DÜWELL
tung, die aus der menschlichen Vernunftnatur selbst herrührt. Bei Cicero wird weder eine spezifische Metaphysik noch eine Offenbarung bemüht. Vielmehr wird lediglich der folgende begriffliche Zusammenhang hergestellt: Der Mensch ist gekennzeichnet durch Vernunftfähigkeit. Vernunft wird als praktische Vernunft aufgefasst, also als Vermögen, das eigene Handeln vernünftig zu orientieren. Der Mensch hat die Pflicht, sich gemäß diesem Vermögen zu verhalten und das eigene Handeln nach vernünftigen Gesichtspunkten zu gestalten. Dieser Gedanke ist nur unter zwei Voraussetzungen plausibel: 1) die Vernunftnatur des Menschen verdient Respekt und 2) der Mensch handelt nicht stets entsprechend dieser Vernunftnatur. Ohne diese zwei Voraussetzungen wäre es nicht zu begreifen, dass Cicero von einer Pflicht sprich. Moralische Pflichten erwachsen also aus dem Respekt des Menschen vor seinem Vermögen als Wesen mit praktischer Vernunft. Und dies Vermögen ist keines, das ein Individuum kraft besonderer Verdienste und Eigenschaften besitzt, sondern es verbindet die Menschen, dass sie über praktische Vernunft verfügen.7 Mit der Menschenwürde wird also ein Status bezeichnet, den der Mensch hat und der ihn verpflichtet. Doch dieser Status ist nicht ein besonderer sozialer Status, bei dem sich Menschen vor ihrem Mitmenschen im Sinne eines Rangs auszeichnen,8 sondern er beruht auf einem Vermögen, dass wir als Menschen teilen. Das Vermögen, das eigene Handeln vernünftig zu gestalten, ist nicht von sozialen Unterscheidungen hergeleitet, sondern macht eine geteilte soziale Welt allererst möglich. Zwar wird auch das Vernunftvermögen nicht in Isolation sondern in sozialen Zusammenhängen erworben, aber zugleich stellt es die Basis dar, um überhaupt bedeutsame soziale Zusammenhänge bilden zu können. Ohne Cicero ungebührlich modernisieren zu wollen und im Bewusstsein des historischen Abstand zwischen seinem und dem modernen, menschenrechtlichen Konzept der Menschenwürde, kann man jedoch feststellen, dass begrifflich nur zwei Schritte erforderlich sind, um diesen Abstand zu überbrücken: Wir müssen zum Einen annehmen, dass dieser von Cicero vorausgesetzte Respekt vor der Vernunftnatur des Menschen ein Grund ist, auch alle anderen Vernunftwesen mit Respekt zu behandeln (man könnte von korrespondierenden moralischen Rechten reden), und wir müssen zum Anderen annehmen, dass dieser Respekt vor der Wir lassen hier die Frage nach den Konsequenzen für Menschen mit mentalen Einschränkungen außer Betracht, nicht weil sie unwesentlich wäre, sondern weil sie eine eigene Betrachtung verdient. Vgl. hierzu meine Überlegungen in Marcus Düwell, Bioethik Methoden, Theorien und Bereiche. Stuttgart: Metzler 2008, 100–110. 8 Neuhäuser/Stoecker und Waldron behaupten dagegen, dass die Menschenwürde auf einen gehobenen sozialen Status zurückgeht, eine dignitas, die zunächst nur soziale Anerkennung vor den ‚Würde‘-trägern bezeichnet und die zu einem Status für jeden Menschen erweitert wurde. Diese Herleitung der Würde bringt die Schwierigkeit mit sich, dass sie stets sozial kontingent bleibt und eine Idee von ‚Unhintergehbarkeit‘ und Unbedingtheit nicht denken kann. Siehe Jeremy Waldron, Dignity, Rang, and Rights, Oxford: Oxford University Press 2012. Christian Neuhäuser / Ralf Stoecker, Human dignity as universal nobility, In: Marcus Düwell / Jens Braarvig / Roger Brownsword / Dietmar Mieth (eds.): Cambridge Handbook on Human Dignity, Cambridge: Cambridge University Press 2014, 298–309. 7
Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis
Menschenwürde uns verpflichtet, die staatliche und globale Ordnung nach Grundsätzen zur gestalten, die diesem Respekt gemäß sind (dass also diese moralischen Rechte in eine Rechtsordnung überführt werden müssen). Nun geht es hier nicht um eine ideengeschichtliche Rekonstruktion der Entwicklung des Menschenwürde-Gedankens und auch nicht um eine linguistische Studie zur Verwendung der Worte ‚Menschenwürde‘/‚dignitas‘/‚dignity‘ sondern vielmehr darum, wie wir das Konzept überhaupt verstehen können. Nehmen wir den skizzierten begrifflichen Zusammenhang ernst, so muss es bei der Menschenwürde um ein Vermögen des Menschen gehen, das zu haben nicht von spezifischen Wertüberzeugungen oder einer spezifischen Kultur abhängt, sondern das die Möglichkeit darstellt, überhaupt wertschätzen und eine Kultur formen zu können. Die Menschenwürde hängt also mit der praktischen Dimension des Menschseins selbst zusammen.9 Als praktische Wesen nehmen wir die Welt wertend wahr, wir begehren, lieben, wertschätzen in sozialer und ästhetischer Hinsicht. Das Verstehen der Welt ist stets mit einem Selbstverstehen des Handelnden verbunden. Solches Selbstverstehen besteht nicht allein in theoretischen Einsichten über sich selbst als Individuum oder über den Menschen im Allgemeinen – Einsichten wie sie ein objektivierender Forscher gewinnen kann. Das Selbstverstehen des Menschen als eines praktischen Wesens in der Perspektive der ersten Person ist stets mit einem wertenden Stellungnehmen verbunden. Dieses Stellungnehmen besteht normalerweise nicht in der expliziten Einsicht „Es ist gut, dass ich da bin, dass ich lebe …“ etc., die allein in seltenen Situationen thematisch werden, sondern es geht vielmehr um das implizite Selbstverständnis des Menschen, dass sein Handeln im Allgemeinen bestimmt. Ohne ein solches Stellungnehmen wäre es gar nicht plausibel, dass der Mensch überhaupt Handlungsziele anstrebt. Bereits das Haben eines Handlungsziels stellt ein wertendes Stellungnehmen dar, wie immer frei oder bewusst dieses Stellungnehmen auch sein mag. Das reicht von einfachen Alltagshandlungen (ich will jetzt Spazierengehen) bis zu Fragen der Berufswahl. Stellungnehmen geschieht stets in spezifischen Handlungskontexten und Handlungshorizonten, die biographisch und kulturell geprägt sind. Aber dass unser Handeln sich als Stellungnehmen verstehen lässt, ist ein durchgängiges Kennzeichen menschlichen Handelns. Mit diesem Stellungnehmen ist der Anspruch auf Konsistenz als praktisches Wesen verbunden, unter dem ich stehe. Ich kann mich als Handelnder nicht bewusst missverstehen wollen. Der Anspruch auf Konsistenz in meinem praktischen Selbstverständnis erwächst nicht aus einem spezifischen Handlungsideal oder einem spezifischen Wert, den ich haben kann oder auch nicht und er rührt auch nicht von einer besonderen Wahl her, sondern er ist bereits mit meiner Handlungsfähigkeit selbst verbunden. Praktische Konsistenz im Selbstverständnis des Handelnden ist Quelle der NormaDer hier skizzierte Vorschlag ist in vieler Hinsicht angelehnt an den Beitrag von Alan Gewirth, ohne auf die Bezüge hier im Einzelnen einzugehen. Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality. Chicago: Chicago University Press 1978. 9
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MARCUS DÜWELL
tivität insofern der Mensch diese auch verfehlen kann (wäre unser Selbstverständnis ‚automatisch‘ konsistent, gäbe es keinen normativen Anspruch). Nun ist mit diesem Anspruch auf praktische Konsistenz zugleich der Anspruch auf Respekt vor mir selbst als praktischem Wesen verbunden. Die Menschenwürde bezeichnet den normativen Anspruch auf Respekt vor dem Menschen als einem Wesen, das zu solcher praktischen Konsistenz in der Lage ist. Ich verstehe, dass ich selbst unter diesem Anspruch stehe. Aber dieser normative Anspruch beruht nicht auf Eigenschaften, die allein auf mich als spezifisches Individuum zutreffen. Vielmehr kann ich einsehen, dass auch andere Handlungsfähige Wesen sind, die dazu in der Lage sind, ihre Handlungen auf Ziele zu orientieren und insofern ebenso unter dem Anspruch praktischer Konsistenz stehen. Praktische Konsistenz ist dabei nicht allein als ein kontingenter Gesichtspunkt zu verstehen, der nun einmal bei der Gattung Mensch zufällig zu finden ist, so wie ihr Bedürfnis Luft zu atmen. Vielmehr ist es erst dieser Anspruch, aus dem die normative Dimension unseres Lebens überhaupt entsteht. Erst wenn wir einander als Wesen betrachten, die Ziele verfolgen und verwirklichen wollen, Wünsche, Hoffnungen, Furcht und Angst haben, sehen wir uns als Wesen, denen es in ihrem Leben um etwas geht. Dabei ist es zunächst nicht relevant, was diese Ziele, Wünsche und Hoffnungen sind. Aber wir sehen uns als praktische Wesen, denen in der Welt etwas bedeutsam ist. Das bedeutet, dass es nicht nur um den Respekt vor Menschen geht, die erfolgreich entsprechend dieser normativen Ansprüche handeln oder insofern sie tatsächlich entsprechend dieser Ansprüche handeln, sondern der Respekt bezieht sich darauf, dass wir Wesen sind, die die Fähigkeit haben, ihr Handeln unter normativem Anspruch zu sehen. Der Anspruch auf praktische Konsistenz ist mit unserem Handeln untrennbar verbunden. Das gilt für die instrumentelle Dimension menschlichen Handelns hinsichtlich der Wahl von Mitteln zur Realisierung von Handlungszielen; hätten wir hier keinen Anspruch auf praktische Konsistenz, wäre basale Handlungsorientierung unmöglich. Aber auch die Wahl von konkreten Handlungszielen steht unter dem normativen Anspruch von übergeordneten Zielen, von denen wir annehmen, dass sie in irgendeinem qualifizierten Sinne für uns gut sind. Normative Ansprüche sind also als Formen des praktischen Stellungnehmens des Menschen zu verstehen, die mit seiner Existenz als praktischem Wesen notwendiger Weise verbunden sind. Moralische Ansprüche sind spezifische Formen normativer Ansprüche, denen normative Priorität und allgemeine Anerkennung gebührt. Die These ist also, dass sich der Sinn von Normativität nur aus der Perspektive von praktischen Wesen überhaupt rekonstruieren lässt. Wir stehen als handlungsfähige Wesen unter dem Anspruch praktischer Konsistenz. Menschenwürde bezeichnet dann den unbedingten Respekt der Menschen vor einander als Wesen, die unter diesem Anspruch praktischer Konsistenz stehen. Wichtig ist es dabei zu sehen, dass der hier angedeutete Begründungsgang nicht annimmt, dass vom faktischen Bestehen der Handlungsfähigkeit ein normativer Anspruch auf Respekt vor der Menschenwür-
Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis
de hergeleitet wird, wodurch sich der Verdacht eines Sein-Sollens-Fehlschlusses aufdrängen würde. Ein solcher Fehlschluss wird vermieden, da der Respekt vor der Menschenwürde im Selbst-Verstehen des Menschen angesiedelt wird. Die Betonung, Normativität lasse sich nur aus der Perspektive praktischer, handlungsfähiger Wesen verstehen, könnte zum Verdacht Anlass geben, dieser Vorschlag beruhe in problematischer Weise auf einer individualistischen Perspektive.10 Das wäre etwa der Fall, wenn man annähme, die Plausibilität dieser Begründung der Menschenwürde beruhe auf einem ‚atomistischen‘ Menschenbild, das Menschen essentiell als voneinander unabhängig versteht. Dies wäre vielleicht auch der Fall, wenn man annähme, dass der gebotene gegenseitige Respekt einzig auf einem (fiktiven) Vertragsabschluss von primär unverbundenen Individuen beruhe. Gegen eine solche individualistische Perspektive könnte geltend gemacht werden, dass Individuen als soziale und sprachliche Wesen immer schon sozialisiert sind. Es könnte eingewandt werden, dass normative Ansprüche ihren Sinn im Kontext kultureller Prozesse der Selbst- und Fremdinterpretation erhalten. Dem will ich in keiner Weise widersprechen. Aber die geteilte soziale Welt ist nicht nur eine faktische Voraussetzung meines Daseins. Wären die Anderen lediglich der faktische Entstehungskontext meines Daseins, wäre der normative Anspruch auf Respekt vor einander nicht einsichtig zu machen. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass konsistentes Selbstverstehen mich dazu führt, dass ich mich als Wesen begreife, dem Respekt zukommt insofern ich unter einem normativen Anspruch stehe und dass in dieser Hinsicht andere, die ebensolche Wesen sind, ebensolchen Respekt verdienen. Dabei ist es eben keine kontraktualistische Überlegung, vielmehr bedeutet konsistentes Verstehen von mir selbst als praktischem Wesen, dass ich eine generische Dimension erfasse, die Menschen miteinander teilen und die den Anspruch auf Respekt begründet.11 Der Respekt vor dem Menschen als praktischem Wesen wird also weder individualistisch noch sozial oder kollektivistisch aufgefasst. Respekt vor der Menschenwürde ist stets Respekt vor dem individuellen Menschen. Aber es ist nicht primär ein Respekt, der beansprucht das Verhältnis zwischen einzelnen Individuen zu regeln. Vielmehr ist der Respekt vor einander die Bedingung für eine normativ bedeutsame Welt. Nur wenn wir uns als würdig des Respekts als Menschen begreifen, wird einsichtig, warum wir
Der hier skizzierte Vorschlag wurde etwa in polemischer Absicht ‚monologisch‘ genannt. Dies scheint mir irreführend. Siehe dazu: Marcus Düwell, Transcendental Arguments and Practical Self-Understanding – Gewirthian Perspectives. In: Brune, Jens-Petre, Stern, Robert, Werner, Micha H. (eds.): Transcendental Arguments in Moral Theory. Berlin: De Gruyter (2017), 161–177. Sem de Maagt, It only takes two to tango: against grounding morality in interaction. Philosophical Studies 176 (2019), 2767–2783. 11 Es ist vielleicht nicht überflüssig anzudeuten, dass das hier vorgeschlagene Konzept sich in einigen Hinsichten von dem von Christine Korsgaard unterscheidet, mit dem es bisweilen verglichen wurde. Ich kann darauf hier nicht im Einzelnen eingehen. Siehe zu dieser Diskussion: Deryck Beyleveld, Korsgaard v. Gewirth on Universalization: Why Gewirthians are Kantians and Kantians Ought to be Gewirthians. In: Journal of Moral Philosophy 12 (2015), 573–597. 10
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MARCUS DÜWELL
politische Institutionen schaffen sollen, die diesem Respekt gemäß sind. Und nur wenn diese Würdigkeit in der Möglichkeit des Verstehens begründet liegt, wird auch ersichtlich, warum wir unbedingt verpflichtet sind, eine solche soziale Welt zu schaffen. Wenn wir einsehen können, dass wir unter dem Anspruch auf Respekt vor der Menschenwürde stehen, so wäre die nächste Frage, welche Forderungen denn damit verbunden sind, Menschen entsprechend dieses Respektes vor der Menschenwürde zu behandeln. Wenn die Menschenwürde sehr grundlegend im praktischen Selbstverständnis des Menschen begründet wird, dann können die normativen Konsequenzen nicht dadurch bestimmt sein, dass es verpflichtend ist, spezifische materiale Ziele (z. B. Frieden, Glück, Wohlstand) selbst zum Gegenstand von Schutz und Förderung zu machen. Vielmehr muss es darum gehen, den Menschen als praktisches Wesen zu respektieren. Zugleich fordert dieser Respekt Aktivität, d. h. es ist nicht nur gefordert, in die Freiheit anderer nicht zu intervenieren, sondern sich vielmehr aktiv dazu zu verhalten. Wenn Menschen als praktische Wesen abhängig sind von bestimmten Gütern und Rahmenbedingungen ihres Handelns um ihre Freiheit ausleben zu können, so ist der wichtigste begriffliche Zusammenhang der, dass Respekt vor der Würde des Menschen gebietet, das Handeln am Schutz und der Förderung dieser Bedingungen menschlichen Handelns auszurichten insofern diese notwendige Mittel der Handlungsfähigkeit sind. Dies impliziert dann sowohl Respekt vor negativen Rechten (Nicht-Intervention) also auch positive Rechte (Rechte auf Unterstützung) sowie auch eine Verpflichtung zur Schaffung und Aufrechterhaltung von Institutionen, die notwendig sind, solchen Rechtsschutz zu gewährleisten. Das muss alles natürlich näher bestimmt werden und man wird davon ausgehen müssen, dass die normativen Konsequenzen in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten unterschiedliche sein werden. Ich werde im vierten Teil darauf noch näher eingehen. 3.
Anthropologie und Menschenwürde
In diesem Abschnitt will ich kurz auf einige Voraussetzungen meiner Überlegungen eingehen, die im Kontext dieses ARSP-Beihefts zur metaphysischen bzw. ‚Metaphysik‘-freien Begründung der Menschenwürde bedeutsam sind. Ich referiere dabei recht global auf einige anthropologische Überlegungen Helmuth Plessners.12 Ich bin mir bewusst, dass sich bei Plessner mein moralphilosophisches Konzept so nicht findet, aber seine Überlegungen können methodisch hilfreich sein. Ich habe dargelegt, dass zur Begründung des bisher Gesagten keine spezifische Werttheorie benötigt wird und ebenso keine spezifischen Intuitionen erforderlich sind,
Plessner, Helmuth. Die Stufen des Organischen und der Mensch Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin: De Gruyter 1928. 12
Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis
um diese Werte dann erkennen zu können. Zugleich habe ich gesagt, dass sich diese Überlegungen nicht aus einem spezifischen Menschenbild ergeben. Vielmehr behaupte ich, dass sie sich aus dem konsistenten menschlichen Selbstverständnis selbst ergeben. In gewissem Sinne handelt es sich also um eine anthropologische Grundlegung. Anthropologie verstehe ich dabei nicht als ein empirisches sondern ein philosophisches Projekt und ich unterscheide Anthropologie strikt von einem Menschenbild. Während Menschenbilder von verschiedenen kulturell unterschiedlichen Faktoren abhängen, versucht die philosophische Anthropologie Aspekte zu versehen, die für den Menschen wesentlich sind und auch für seine Fähigkeit, Menschenbilder allererst zu entwickeln. Dabei muss auch die philosophische Anthropologie sich die Frage stellen lassen, ob nicht bestimmte ihrer Einsichten kulturell abhängig sind. Nur ist diese Frage selbst dann ebenfalls keine empirische. Philosophische Anthropologie verstehe ich also als einen Versuch kritischer Selbstreflexion, also als ein transzendentalphilosophisches Projekt. Wenngleich Anthropologie kein empirisches Projekt ist, so ist ihre Aufgabe zugleich (zumindest in der Tradition Plessners) der Versuch, die Besonderheit des Menschen konsequent aus einer Rekonstruktion des Menschen als biologischem Wesen zu entwickeln und damit als kompatibel mit einem naturwissenschaftlichen Verständnis des Menschen. Anthropologisch muss es plausibel gemacht werden können, dass der Mensch sich als Wesen verstehen muss, das in der Lage und zugleich genötigt ist, sich zu sich selbst zu verhalten. Genau das ist es, was Plessner mit dem Konzept ‚exzentrische Positionalität‘ bezeichnet, also die Doppelstruktur des Menschen als leiblich-körperliches Wesen. Als solches Wesen hat er einen Körper, der wissenschaftlich beschreibbar also objektivierbar ist. Zugleich aber ist das Selbstverhältnis des Menschen ein leibliches, d. h. als lebendiges Wesen existiert der Mensch leiblich, wobei sein Leib sich einer Objektivierung entzieht. Als leibliches Wesen ist der Mensch prinzipiell endlich, verletzlich, bedürftig und kann in seinem Selbstverständnis durch externe Eingriffe betroffen werden. Als körperliches Wesen ist er Gegenstand von technischen und kulturellen Einflüssen und Eingriffen. Diese Konstruktion des Menschen als leiblich-körperliches Wesen ist nun nicht prinzipiell auf den Menschen im Sinne der biologischen Mitglieder der Spezies homo sapiens festgelegt. Es könnte sein, dass es auch andere Wesen gibt oder geben wird, die sich durch ‚exzentrische Positionalität‘ auszeichnen und es wäre auch denkbar, dass die Erscheinungsformen des Menschen, die wir bislang kennen, nicht die einzig denkbaren sind. Der Mensch ist insofern auch als Gattungswesen zukunftsoffen. Dennoch gibt es einige Elemente, die für die ‚exzentrische Positionalität‘ konstitutiv sind. Dazu gehört etwa notwendiger Weise, dass sich drei Dimensionen ihres Daseins unterscheiden lassen: Innen-, Außen und (sozialer) Mitwelt. Dazu gehört bei Plessner auch, dass der Mensch als leiblich-körperliches Wesen ‚von Natur aus‘ Institutionen schaffen muss, die ihm praktische Orientierung ermöglichen (‚natürliche Künstlichkeit‘) oder das er aus einem Zukunftshorizont lebt, der als Bedeutungshorizont fungiert (‚utopischer Standpunkt‘).
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Diese anthropologische Struktur kann man aus der Logik der menschlichen Biologie und seiner Position innerhalb der belebten und unbelebten Natur rekonstruieren und man kann die Bedingungen rekonstruieren, unter denen diese exzentrische Positionalität überhaupt entstehen konnte. Das bedeutet, dass die Möglichkeit dieser Lebensform innerhalb eines naturalistischen Weltbildes plausibel erklärt werden kann. Dass die Bedingungen der Möglichkeit eines leiblich-körperlichen, selbstreflexiven Wesens biologisch rekonstruiert werden kann, bedeutet noch nicht, dass auch die damit ermöglichten Verstehensleistungen selbst reduktionistisch erklärt werden können. Diese exzentrische Struktur ist sowohl die Bedingung dafür, dass der Mensch etwas und sich selbst überhaupt verstehen kann, als auch die Bedingung dafür, dass der Mensch handeln kann und sich die Frage vorlegen kann, was er tun soll und wie er mit sich selbst und mit anderen umgehen kann und soll. Exzentrische Positionalität ist also einerseits die Bestimmung des Menschen in der philosophischen Anthropologie als auch Bedingung dafür, dass der Mensch verstehend eine solche Bestimmung überhaupt vornehmen kann. Exzentrische Positionalität ist dabei eine formale Fassung, von der wir den Menschen, so wie wir ihn kennen, als eine Erscheinungsform verstehen können, ohne prinzipiell auszuschließen, dass es davon noch andere geben könnte. Diese anthropologische Grundlegung hat zwei Funktionen: Zum einen zeigt sie einen Weg, wie innerhalb eines naturalistischen Weltbilds die Bedingungen für ein selbst-reflexives Verständnis des Menschen rekonstruiert werden können, was für den hier angedeuteten Argumentationsgang einer Begründung der Menschenwürde aus dem praktischen Selbstverständnis zentral ist. Zum anderen wird damit aber auch ein begrifflicher Rahmen geschaffen, der es sowohl möglich macht, die Bedingungen exzentrischer Positionalität als Bedingung für die Möglichkeit wandelnder kultureller Kontexte zu verstehen. Zugleich wird dadurch auch bestimmbar, inwieweit bestimmte kulturelle Kontexte, die Möglichkeit exzentrischer Positionalität selbst beeinflussen oder ggf. gefährden. 4.
Einige normative Konsequenzen
Wenn wir die Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte verstehen, so haben wir aus dem bisher Gesagten insofern eine Basis, als dies Konzept von Menschenwürde dabei ansetzt, dass Menschen sich selbst verstehen (müssen). Es ist also insofern transkulturell, als verschiedene Kulturen Ausprägungen menschlichen Selbstverständnisses darstellen. Zugleich wird auch eine Basis geschaffen für die Idee wechselseitigen Respekts insofern der Respekt vor dem anderen als Wesen, das wie ich unter dem Anspruch praktischer Konsistenz steht, in diesem praktischen Selbstverständnis verankert wird. Die These ist nicht, dass wir empirisch diesen Respekt in allen Kulturen realisiert finden. Das ganze Projekt ist kein empirisches, sondern ein philosophisch-normatives. Gleichwohl bietet das Projekt einen Rahmen, der weitere
Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis
empirische Rekonstruktionen möglich macht. Ohne dies hier im Einzelnen diskutieren zu können sei zumindest angedeutet, dass die hier skizzierten philosophischen Elemente einen weiteren normativen Rahmen zur Verfügung stellen als allein eine Begründung des spezifisch modernen Menschenrechtskonzepts. Im modernen Konzept sind einige Elemente vorhanden, die unter anderen Bedingungen überhaupt nicht realisierbar sind. Normative Elemente zum Schutz der Privatsphäre, Schutz des Individuums jenseits von Clan- oder Familienstrukturen oder zahlreiche Freiheitsrechte sind an soziale, ökonomische und kulturelle Voraussetzungen gebunden, ohne die ein Schutz dieser Rechte gar nicht denkbar ist. Gleichwohl wäre es nicht plausibel, an dem universalen Anspruch der Menschenwürde festzuhalten, wenn die moderne Ethik der Menschenwürde konzeptionell völlig aus dem Rahmen dessen fallen würde, was die Menschheit an normativen Phänomenen hervorgebracht hat. Es gibt auch außerhalb der Moderne die Vorstellung, dass Rechtsordnungen geschaffen werden müssen, die Menschen Stabilität und Schutz gewährleisten und ihnen die Möglichkeit schaffen, Lebensmöglichkeiten zu realisieren. Und auch in vormodernen Kontexten finden sich normative Elemente wie etwa das Rechtsprinzip, dass die Strafe proportional zum angerichteten Schaden sein müsse. Das alles sind normative Elemente, die eine Idee von Respekt vor dem Menschen andeuten und die eine Notwendigkeit zur rechtlichen Sicherung der Bedingungen menschlichen Handlungsfähigkeit realisieren. Doch der zentrale normative Punkt der Menschenwürde besteht in der Vorstellung, dass die Menschenwürde subjektive Rechte schützt. Das bedeutet, dass der Mensch nicht geschützt wird, insofern er Träger von Privilegien, Besitzer von Eigentum oder Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft ist, sondern dass er einfach als Mensch Anspruch auf grundlegenden Respekt verdient. Von dieser Idee subjektiver Rechte wird angenommen, dass sie sich erst in Spätmittelalter und früher Neuzeit theoretisch denken ließ.13 Wir können im Sinne Plessners diese moderne Auffassung als eine Form der Realisierung ‚exzentrischer Positionalität‘ verstehen. Aber zugleich erhebt sich die Frage, warum wir diese Realisierungsform anderen Formen vorziehen sollten. Wir müssen also in gewissem Sinne annehmen, dass eine Ethik der Menschenwürde im Sinne des Respekts vor subjektiven Rechten einen moralischen Fortschritt darstellt. Und entsprechend wären die Gestaltung der nationalen Ordnungen seit dem 18. Jahrhundert auf der Basis des Respekts vor subjektiven Rechten und eine entsprechende Gestaltung der internationalen Ordnung im 20. Jahrhundert ein weiterer Fortschritt. Doch eine solche teleologische Betrachtung ist nicht zwingend. Zwar wird man sagen müssen, dass im Lichte der skizzierten Rekonstruktion der Menschenwürde eine Idee ‚subjektiver Rechte‘ deutlich konsistenter ist. Doch das bedeutet nicht, dass eine ent-
Siehe z. B. Brian Tierney, The Idea of Natural Rights: Studies on Natural Rights, Natural Law, and Church Law 1150–1625. Atlanta: Emory University Press 1997. Annabel Brett, Liberty, Right and Nature Individual Rights in Later Scholastic Thought. Cambridge: Cambridge University Press 1997. 13
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MARCUS DÜWELL
sprechende lineare Denkform begründet wäre, was schlaglichtartig an zwei Problemfeldern verdeutlich werden soll: Zum ersten scheint die derzeitige Form des Schutzes von Freiheitsrechten die ökologischen Rahmenbedingungen menschlichen Lebens fundamental zu gefährden.14 Für das hier vorgeschlagene Konzept der Menschenwürde wäre dies ein beträchtliches Problem. Wenn die Menschenwürde a) das Fundament für die gesamte Rechtsordnung darstellt, und b) wenn der Respekt vor der Menschenwürde gebietet, die Bedingungen menschlichen Handlungsfähigkeit zu schützen und c) wenn die ökologischen Gefährdungen präzise diese Bedingungen gefährden, so sind die derzeitigen (und die zu erwartenden) ökologischen Krisen eine Herausforderung für die Menschenwürde. Die Herausforderung ist insofern nicht trivial, als die Belastung des Planeten vornehmlich gesehen werden können als Ergebnis der Realisierung von Freiheiten, die als Bürgerrechte geschützt werden, und von technischen Fortschritten, die die Lebensbedingungen des Menschen massiv erleichtern und verbessern. Zum zweiten kann man fragen, an welchem Punkt neue Technologien Strukturen schaffen, die menschliche Freiheit massiv bedrohen.15 So wäre es denkbar, dass wir durch Künstliche Intelligenz Funktionszusammenhänge schaffen, die der Mensch faktisch nicht oder zumindest nur extrem schwer verändern kann. Auch wäre es denkbar, dass diese Funktionsweisen eine Komplexität annehmen, die faktisch die Steuerungsfähigkeit von Menschen übersteigen würde. Der Mensch wäre nicht mehr in der Lage, sich als jemand zu verstehen, der in der Lage ist, intentional auf die Gestaltung seines Lebenszusammenhangs Einfluss zu nehmen. Eine derartige Eigendynamik der entsprechenden technischen Systeme würde menschliche Freiheit praktisch irrelevant machen. In dem Maße, in dem dies der Fall ist, würde ein moralisches Selbstverständnis, wonach wir uns als verpflichtet ansehen, die Bedingungen unserer Handlungsfähigkeit zu schützen, gegenstandslos. Auch würde dies politische Kämpfe erübrigen und rechtliche Regelungsmöglichkeiten extrem beschränken. Es würde nicht dazu führen, dass man Menschenrechte in Frage stellen würde, sie würden schlicht ihre Signifikanz verlieren. Beide Beispiele sind darum informativ, weil sie zeigen, dass es hier um Herausforderungen der Menschenwürde geht, die anders sind als die Menschenrechtskämpfe der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte. Traditionell spielten Menschenrechte eine Rolle im Kampf gegen übermächtige politische oder ökonomische Machthaber, im Kampf um soziale Errungenschaften oder politische Teilhabe. Es ging um Rechte, die Marcus Düwell, Human dignity and intergenerational human rights. In: Gerhard Bos / Marcus Düwell (Eds.), Human Rights and Sustainability Moral Responsibilities for the Future. London/New York: Routledge 2016, 69–81. 15 Vgl. hierzu: Roger Brownsword, Law, Technology and Society: Reimagining the Regulatory Environment. London/New York: Routledge 2019. Marcus Düwell, Human Dignity and the Ethics and Regulation of Technology. In: Roger Brownsword / Eloise Scotford / Young, Karen (eds.), The Oxford Handbook of the Law and Regulation of Technology. Oxford: Oxford University Press 2017, 177–196. 14
Menschenwürde und menschliches Selbstverständnis
im Kampf zwischen Individuen oder sozialen Gruppen ausgetragen wurden oder im Kampf gegen den Staat. Und auch der paradigmatische Kontext der Menschenwürdeverletzung, der Holocaust, bestand in einer Korruption staatlicher Macht. Doch die Herausforderung von neuen Technologien und Umweltkrise sind anderer Art. Es geht nicht um den übermächtigen Staat, sondern eher darum, dass der Staat in seiner Regelungskompetenz bedroht ist. Hinzu kommt, dass eine effektive Regelung der ökologischen und technologischen Herausforderungen notwendig international anzusetzen hat, wodurch die demokratische Mitbestimmung im traditionellen Sinne fundamental erschwert wird. Den hier angedeuteten Herausforderungen kann man nun nicht einfach dadurch begegnen, dass man neue Menschen- und Bürgerrechte einführt, denn es geht ja gerade um die Frage, inwiefern eine nationale oder transnationale Rechtsordnung überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, die entsprechenden Herausforderungen zu regulieren. Das bedeutet, dass es um die Frage geht, wie man staatliches und rechtliches Handeln so gestalten kann, dass unter veränderten Rahmenbedingungen die Rechtsgüter effektiv geschützt werden können, die bislang mit den Menschen- und Bürgerrechten auf der Basis eines Verständnisses von ‚subjektiven Rechten‘ geschützt werden sollten. Es geht also um eine Transformation der Rechtsordnung(en). Und hier scheint mir die Menschenwürde das zentrale normative Konzept zu sein. Wenn wir es ernst nehmen, dass die Menschenwürde die Basis der Menschenrechte darstellt, so ist eine Reflexion darauf, was die Menschenwürde bedeutet hat, bedeuten kann und bedeuten sollte, ein Weg, um zu verstehen, wie politische Institutionen weiterentwickelt werden sollten. Es geht also um eine Neuinterpretation der Ausgestaltung der Menschenwürde, die nicht allein die daraus abgeleiteten Rechte, sondern auch die Formgebung der politischen Ordnung als Ganze in den Blick nimmt. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei explizit angedeutet, dass es mir nicht darum geht, die normative Autorität der Menschenrechte zu relativieren, sondern sie unter geänderten Bedingungen neu zu gestalten. Mir scheint, dass damit auch eine Reihe von kritischen Diskussionen um die Menschenrechte in einem anderen Licht erscheinen würde. Jedenfalls scheint mir, dass eine Transformation des Menschenrechtssystems zunächst versucht werden müsste, bevor der Schwanengesang auf das ‚end of human rights‘ angestimmt wird.16 Dr. Marcus Düwell
Everard Meijsterlaan 44, NL-3533 CN Utrecht
Costas Douzinas, The End of Human Rights. Oxford: Hart 2000. Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights. Ithaca/New York: Cornell University Press 2013. 16
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Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle Oder: Starke Normativität ohne Metaphysik?1 WEI FENG (Beijing/Kiel)
Abstract: The concept of human dignity has been criticized as either too thick or too thin. How-
ever, according to the non-positivistic standpoint, the legal normativity of human dignity can be justified and thus strengthened by means of its moral correctness. From the individual perspective, Mencius’ understanding of human dignity as an intrinsic value and Kant’s formula of ‘man as an end in itself ’ can be adequately understood based on the differentiation of, as well as the connection between, principium diiudicationis and principium executionis, between will and choice, and between homo phaenomenon and homo noumenon (that is, ‘humanity in the personality’). From the social perspective, since the dual dimensions of the individual and the social person are both fictive constructions, even Radbruch, once as a supporter of social law, has not replaced the concept of ‘legal person’ and, in the post-War period, acknowledges individualistic human dignity as the criterion for applying the famous ‘disavowal formula’. On the one hand, human dignity shows at least a weak normative character, which requires, firstly, balancing between the exercise of state powers and the constitutional review under the guidance of the dual dimensions of man and, secondly, optimization of the principle of human dignity in individual cases. On the other hand, through the necessary connection between the concept of dignity and that of personality, human dignity can exhibit a strong normative character, which unavoidably requires a metaphysical justification.
Der vorliegende Aufsatz wurde im Rahmen von Post-Doc-Forschungsprogrammen seit 2015 an der Renmin Universität China verfasst. Dafür bedanke ich mich bei Prof. Dayuan Han von der Renmin Universität China für seine durchgehende Unterstützung. Auch gilt mein Dank Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Robert Alexy von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, dessen Seminar „Kants Rechtsphilosophie“ und dessen Begründungsansatz der Menschenwürde und ihrer Abwägbarkeit mich immer inspirieren. Prof. Dr. Dres. h. c. Ulfrid Neumann von der Goethe-Universität Frankfurt am Main möchte ich insbesondere für die Gespräche danken, in denen ich Gelegenheit zur genaueren Formulierung der Argumente von der Menschenwürde nach Kant und Radbruch gehabt habe, sowie die Argumente von der Würde-Klausel der VR China besser zu organisieren. Für den Inhalt des vorliegenden Beitrages ist allein der Autor verantwortlich. 1
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WEI FENG
Keywords: human dignity, homo phaenomenon and homo noumenon, personality, dual dimensions of
man, disavowal formula, weak and strong normativity, rational metaphysics
I.
Die absolute Menschenwürde: Zu dicht oder zu dünn?
Dem Begriff der Menschenwürde ist von Philosophen aus verschiedenen Zeitaltern und aufgrund verschiedener Fragestellungen Aufmerksamkeit geschenkt worden. Sie charakterisieren damit den besonderen Status der Menschen in der Natur, fragen nach der transkulturellen Konzeptionen der Würde, untersuchen die Würde in der naturwissenschaftlichen Forschung, betrachten die Würde des Individuums als einen absoluten Wert oder heben etwa den Kampf um die Würde in der Arbeiterbewegung hervor. Im Jahr 1945 hat die Charta der Vereinten Nationen in der Präambel „unseren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte (jiben renquan), an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit (renge zunyan yu jiazhi)“2 erneut bekräftigt; im Jahr 1948 hat Art 1. der Allgemeinen Menschenrechtserklärung anerkannt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde (zunyan) und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“3 Seither wird das Wort „Würde“ nach und nach in Verfassung und Gesetzen zahlreicher Länder der Nachkriegswelt positiviert, obwohl sein Sinngehalt bis heute nicht klar und konsensfähig bestimmt wird. Angesichts der Hochschätzung und zugleich des schwankenden Anwendungskontextes des Würdebegriffs schlagen manche vor, zwischen einer „relativen Würde“ und einer „absoluten Würde“ zu unterscheiden.4 „We the peoples of the United Nations determined … to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person …“, I UNTS xvi, 26.10.1945; siehe auch https://www.un.org/en/ sections/un-charter/preamble/index.html und https://www.un.org/zh/sections/un-charter/preamble/ index.html. (Hervorhebung von W. F.). 3 „All human beings are born free and equal in dignity and rights. They are endowed with reason and conscience and should act towards one another in a spirit of brotherhood“, G. A. Res. 217 A (III), 10.12.1948; siehe auch https://www.un.org/en/universal-declaration-human-rights/index.html und https://www. un.org/zh/universal-declaration-human-rights/index.html. (Hervorhebung von W. F.). 4 Zahlreiche Literatur zeigt ein großes Interesse an die Auseinandersetzung von Absolutheit und Relativität, Unabwägbarkeit und Abwägbarkeit, Notwendigkeit und Kontingenz der Menschenwürde. Zum Problem der Absolutheit der Menschenwürde siehe Ulfrid Neumann, Die Tyrannei der Würde, ARSP 84 (1998), 153–166; ders., Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet, in: Biomedizin und Menschenwürde, hg. von M. Kettner, Frankfurt/Main 2004, 42–62; vgl. auch ders., Recht als Struktur und Argumentation, Baden-Baden 2008, 35–55; ders., Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse. Versuch einer Eingrenzung, ARSP 103 (2017), 287–303; Veit Thomas, Würde als absoluter und relationaler Begriff, ARSP 87 (2001), 299–310; Otfried Höffe, Prinzip Menschenwürde, in: ders., Medizin ohne Ethik?, Frankfurt/Main 2002, 49–69; Ralf Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, JZ 2004, 752–762; ders., Menschenwürde und Kernbereichsschutz. Von den Gefahren einer Verräumlichung des Grundrechtsdenkens, JZ 2009, 269–277; Manfred Baldus, Menschenwürdegarantie und Absolutheitsthese Zwischenbericht zu einer zukunftsweisenden Debatte, AöR 136 (2011) 529–552; Paul Tiedemann, Human Dignity as an Absolute Value, ARSP 2
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
Jene ist die plurale, relative und erworbene Würde, diese ist die singuläre, superlative und nicht erworbene Würde.5 Jedenfalls ist es weder die Ehre bzw. das sogenannte „Gesicht (mianzi)“ in der zwischenmenschlichen Kommunikation noch das „hellende Bild“ der Götter, sondern genau die absolute Würde, die uns Schwierigkeiten bereitet. Mit anderen Worten: Wie könnten wir die absolute Würde aus einer rein säkularisierten Perspektive und in transkulturellen Dimensionen begründen und interpretieren? Aus diesem Grunde verdienen zumindest zwei Philosophen immer wieder Aufmerksamkeit, und zwar Menzius6 aus dem antiken China und Immanuel Kant7 aus dem modernen Europa. In der gegenwärtigen juristischen Literatur gibt es zwei Arten von Bedenken gegen die absolute Menschenwürde: Einerseits vermuten einige Leute, dass dieser Begriff „zu dicht“ sei und dass die Menschenwürde, wenn auch moralisch richtig, doch etwas Unantastbares und deshalb Nutzloses wäre. Daher versuchen sie, die Normativität der Menschenwürde aufzuweichen oder aufzugeben. Andererseits erheben manche den Verdacht, der Begriff sei „zu dünn“ und die Menschenwürde habe weder einen konkreten Inhalt in der Verfassung noch sei sie irgendeiner eindeutigen Interpretation fähig in der Praxis. Daher fordern sie, die Normativität der Menschenwürde durch andere normative Gründe zu ergänzen. Beispielsweise möchten viele die Menschenwürde häufig aus der Perspektive einer einzigen Religion oder einer einzigen Kultur rechtfertigen. Wirkt dies außerhalb einer bestimmten Religion oder Kultur nicht überzeugend, tendieren sie dazu, auf den Begriff der Menschenwürde vollständig zu verzichten. Diese enttäuschende Lage zwischen „zu dünn“ und „zu dicht“ bringt ein Dilemma zum Ausdruck und verlangt nach einer Begründung des Begriffs der Menschenwürde und ihrer Normativität.
Beiheft 137 (2013), 25–40; Miguel Nogueira De Brito, Is there Any Absolute Concept of Dignity?, ARSP Beiheft 157 (2019), 129–172. Zum Problem der Kontingenz der Menschenwürde siehe Das Dogma der Unantastbarkeit, hg. von R. Gröschner / O. W. Lembcke, Tübingen 2009; Menschenwürde Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, hg. von M. Brandhorst / E. Weber-Guskar, Berlin 2017. Zum Problem der Abwägbarkeit der Menschenwürde siehe Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, BadenBaden 1985, 94–97; ders., Menschenwürde und Verhältnismäßigkeit, AöR 140 (2015), 497–513; siehe auch unten Abschnitt IV. 3. b). 5 Vgl. Höffe (Fn. 4), 56 f. 6 Vgl. Mong Dsi, II. A. 6 u. VI. A. 6, in: Die Lehren des Konfuzius Die vier konfuzianischen Bücher, Chinesisch und Deutsch Übersetzt und erläutert v R Wilhelm, Frankfurt/Main 2008, 1003 f. 7 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS 1785), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd IV, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903/1911/1973 (AA IV), 434–463 ff.
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WEI FENG
1.
Juristische und moralische Normativität
Um die oben genannten Zweifel zu klären, soll zuerst zwischen juristischer und moralischer Normativität unterschieden werden. Nach dem Begriffsrahmen Robert Alexys8 hängt die moralische Normativität einer Anforderung nur davon ab, ob sie inhaltlich richtig ist. Könnte aber dieselbe Anforderung juristisch normativ sein? Aus dem Standpunkt der Rechtspositivisten ist sie dann und nur dann juristisch normativ, wenn sie ordnungsgemäß gesetzt wird und/oder sozial wirksam ist; mit anderen Worten: Das Recht und die Moral sind ihnen zufolge begrifflich notwendig getrennt. Aus dem Standpunkt der Nichtpositivisten erklingt jedoch eine weitere juristisch-normative Anforderung, nämlich der Anspruch, dass sie noch inhaltlich richtig sein muss; mit anderen Worten: Das Recht und die Moral seien begrifflich notwendig verbunden. Die rechtspositivistische Fragestellung nach der juristischen Normativität der Menschenwürde lautet dann, ob die Menschenwürde ordnungsgemäß gesetzt wird und/ oder sozial wirksam ist. Genauer: Ob die Menschenwürde auf Verfassungsrang zuzuordnen ist und damit als ein normativer Grund für die Verfassungsinterpretation und die verfassungsmäßige Kontrolle gelten kann. a)
Institutionalisierung der Menschenwürde
Hier soll auf die Entwicklung der Institutionalisierung der Menschenwürde hingewiesen werden. Die modernen Konstitutionen wie die „Virginia Bill of Rights“ 1776 und die französische „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ 1789 erwähnen zunächst nur die Menschenrechte, nicht aber die Menschenwürde.9 Erst seit der UNCharta von 1945 und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 hat sich die Menschenwürde neben den Menschenrechten etabliert. Und es ist nicht zu leugnen, dass die Menschenwürde den hervorragendsten Verfassungsrang in den Rechtssystemen einiger gegenwärtiger Länder genießt. Im deutschen Grundgesetz beispielsweise ist die Menschenwürde „unantastbar“ gemäß dem Art. 1 Abs. 1 und wird durch den Art. 79 Abs. 3 als unveränderbare „Ewigkeitsklausel“ eingestuft. Im Vergleich dazu kommt die Würde-Klausel in der gegenwärtigen chinesischen Verfassung nur im Art. 38 Satz 1 vor, welcher besagt, dass „die Würde der menschlichen Persönlichkeit Vgl. Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg und München 1992, 15–17. Als eine Ausnahme wird § 139 der Paulskirchenverfassung von März 1849 genannt, die leider nie in Kraft getreten ist: „Ein freies Volk selbst bei dem Verbrecher die Menschenwürde zu achten.“ Vgl. Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 2. Aufl. Neuwied 1998, 348; vgl. auch Erhard Denninger, Der Menschenwürdesatz im Grundgesetz und seine Entwicklung in der Verfassungsrechtsprechung, in: Festschrift für Alexander von Brünneck, hg. von F.-J. Pine / H. A. Wolff, Baden-Baden 2011, 397; Jürgen Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: ders., Zur Verfassung Europas Ein Essay, Berlin 2011, 15. 8 9
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
der Bürger (gongmin de renge zunyan) der Volksrepublik China unverletzlich“ ist.10 Nur sollte beachtet werden, dass erstens das Verhältnis zwischen der Menschenwürde und den Menschenrechten und zweitens die eigene Grundlage der Menschenwürde in den Rechtsvorschriften in verschiedenen Ländern weder eindeutig noch konsensfähig bestimmt werden. b)
Rechtspositivistische und nichtpositivistische Standpunkte
Möglicherweise u. a. aus den oben genannten Gründen würden einige dazu tendieren, die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ einschränkend zu interpretieren, und zwar indem gemeint wird, die Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger sei „zu dünn“ und reiche nicht aus, als einer der absoluten Grundwerte der Verfassung – wie z. B. „Menschenwürde“ im deutschen Grundgesetz – zu dienen. Des Weiteren wird ausführlich unten zu besprechen sein, aber es sei schon hier betont, dass sich hinter einem solchen „Wortstreit“ eigentlich eine positivistische Konzeption der juristischen Normativität verbirgt, und zwar aufgrund der Voraussetzung, dass die „Dünnheit“ der „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ oder sogar die „Dünnheit“ der „Menschenwürde“ schlechthin eine unzureichende juristische Normativität besäße. Nimmt man aber den nichtpositivistischen Standpunkt ein, wird die moralische Richtigkeit in die juristische Normativität inkorporiert, womit letztlich erkennbar wird, dass jene diese begründen und verstärken kann. In dieser Weise ist es möglich, das Dilemma von der „Dichtheit“ der Moralität und der „Dünnheit“ der Legalität der Menschenwürde zu überwinden. Im gegenwärtigen Deutschland zum Beispiel, obwohl die Menschenwürde im deutschen Grundgesetz nicht nur auf Verfassungsrang, sondern auch an der Spitze der verfassungsmäßigen Ordnung positiviert ist, verzichtet die Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit auf moralische Begründungen nicht. Die von Günter Dürig vorgeschlagene sogenannte „Objektformel“11 wurde in der ständigen Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts (im Folgenden als BVerfG bezeichnet) kontinuierlich übernommen, und zwar in dem Sinne, dass es der menschlichen Würde widerspricht,
Obwohl manche in China behaupten, z. B. Hui Wang, dass „die Verfassung der VR China den Schutz der Menschenwürde nie ausdrücklich angeboten hat“, und dass „obwohl die Gelehrte kontinuierlich den Rechtsschutz der Menschenwürde beanspruchen und vorschlagen, die Diskussion bleibt aber oberflächlich und weniger als überzeugend“. Vgl. Hui Wang, The Institutionalization of Human Dignity in China, in: Rechtsphilosophie und Grundrechtstheorie Robert Alexys System, hg. von M. Borowski / S. L. Paulson / J-R. Sieckmann, Tübingen 2017, 749, 761, 762 und 764. (Übersetzung von W. F.) 11 Vgl. Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 127. 10
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den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen;12 und dass der Satz, „der Mensch muss immer Zweck an sich selbst bleiben“, „uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete“ gilt.13 Natürlich hat das BVerfG die vorstehende Formel nicht einfach wiederholt, sondern unter bestimmten Umständen eine Reihe von Kriterien entwickelt, wie zum Beispiel: Es soll keine „willkürliche Missachtung der Würde des Menschen“ stattfinden;14 es soll „keine Kommerzialisierung“ oder „Verdinglichung“ sein und „nicht den Menschen als Person oder seine unveräußerlichen Rechte zum Handelsgut“ gemacht werden15 – und zwar auch wenn einige Forscher wie Matthias Herdegen betonen, dass die Menschenwürde im deutschen Grundgesetz nur als Begriff des positiven Rechts zu verwenden, und damit aus der ethischen Interpretation herausgenommen und mittelst der Rechtsvergleichung untersucht werden sollte.16 Diese Ansicht wurde nämlich von einer großen Anzahl anderer Gelehrten abgelehnt.17 Die oben erwähnte Theorie und ihre Praxis in Deutschland zeigen zumindest, dass die Analyse der moralischen Richtigkeit der Menschenwürde in vollem Umfang zur juristischen Auslegung und Konkretisierung der Menschenwürde beitragen kann. 2.
Einzelmensch und sozialer Mensch Die doppelte Dimension des Menschenbildes
Ein weiterer, mit der Menschenwürde verbundener Begriff ist das Menschenbild, das häufig in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion auftaucht. Im Jahr 1927 gab der deutsche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung eine frühe heuristische Erklärung des Bildes des Menschen im Recht.18 Dabei wies er
BVerfGE 27, 1 (6) – Mikrozensus; 30, 1 (25) – Abhörurteil; 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe; 115, 118 (159) – Luftsicherheitsgesetz. 13 BVerfGE 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 14 BVerfGE 30, 1 (26) – Abhörurteil. 15 BVerfGE 96, 375 (400) – Kind als Schaden; 115, 118 (154, 158) – Luftsicherheitsgesetz. 16 Vgl. Matthias Herdegen, Deutung der Menschenwürde im Staatsrecht, in: Menschenwürde Begründung, Konturen, Geschichte, hg. von G. Brudermüller / K. Seelmann, Würzburg 2008, 59 u. 61; ders., Kommentar zu Art. 1 GG, in: Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 55, hg. von T. Maunz, G. Dürig u. a., München 2009, 14–15 ff. 17 Vgl. Karl-E. Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Menschenwürde Philosophische, theologische und juristische Analysen, hg. von Hans Jörg Sandkühler, Frankfurt/Main 2007, 89; und Héctor Wittwe, Ein Vorschlag zur Deutung von Art. 1 des Grundgesetzes aus rechtsphilosophischer Sicht, in: Menschenwürde und moderne Medizintechnik, hg. von J. C. Joerden / E. Hilgendorf / N. Petrillo / F. Thiele, Baden-Baden 2011, 165. 18 Vgl. Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: Der Mensch im Recht (1 Aufl 1957), hg. von F. v. Hippel, 2. Aufl. Göttingen 1961, 9–22. In: Gustav Radbruchs Gesamtausgabe, Band 2. hg. von A. Kaufmann. Heidelberg 1993 (GRGA Bd. 2), 467–476. Es soll bemerkt werden, dass der deutsche Philosoph Max Scheler genau im selben Jahr seine Philosophie vor seinem Tod als die folgende Fragestellung zusammenfasste, welche Stellung des Menschen im Kosmos 12
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
nicht nur auf das individualistische Menschenbild im liberalistischen Rechtszeitalter hin, sondern hob auch das soziale Menschenbild im sozialen Rechtszeitalter seit der Weimarer Republik hervor.19 Darüber hinaus wird diese Differenzierung auch von der gegenwärtigen deutschen Literatur akzeptiert. Beispielsweise unterscheidet Otfried Höffe zwischen „eine(r) Innen- und eine Außenperspektive“ der Menschenwürde: Jene ist das Selbstbild der individuellen Dimension und diese ist das Fremdbild der sozialen Dimension.20 Winfried Brugger weist auch darauf hin, dass die Menschen nicht nur als unersetzliche Individuen aktiv, sondern auch mit anderen interaktiv seien; dass sie Sozialisation und Enkulturation erlebten, welche Auswirkungen für die Konzeptionen der Menschenwürde haben.21 Das BVerfG hat in seinem Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe im Jahr 1977 mit dem Argument der Menschenwürde auch erwähnt, dass dem „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde liegt, das darauf angelegt ist, in Freiheit selbst zu bestimmen und sich zu entfalten.“22 Darüber hinaus widmet das Gericht der sozialen Dimension des Menschenbildes Aufmerksamkeit, indem es sagt, dass die Freiheit des Einzelmenschen „nicht als diejenige eines isolierten selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums“ verstanden wird und damit nicht „prinzipiell unbegrenzt“ sein kann.23 Dadurch stellt das Gericht aufgrund des Art. 1 I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG) die Staatspflicht fest, „jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht.“24 Es ist folglich zu bemerken, dass die Hervorhebung des Menschenbildes – und damit auch der Menschenwürde – nicht unbedingt nur auf den Einzelmenschen zurückführen darf, sondern auch seine Entfaltung als sozialen Menschen berücksichtigt werden soll. Man könnte jedenfalls einwenden, dass der primär am Einzelmenschen orientierte Würdebegriff die zahlreichen Ansprüche auf weitere Sozialrechte nicht einschließt und damit „zu dünn“ sei, während der primär am sozialen Menschen orientierte Würdebegriff die grundrechtlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte übermäßig herausfiltern und in dieser Hinsicht „zu dicht“ sein könnte. Darüber hinaus würde selbst die doppelte Betonung der einzelnen und sozialen Menschen dazu führen, dass die Menschenwürde überhaupt als ein unangemessener und schließlich „zu dichter“ Begriff fungiert.
ist. Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, (1. Aufl., St. Goar 1927), hg. von M. Scheler, 2. Aufl. München 1947, 7 f. 19 Vgl. Radbruch: Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 9–22. 20 Vgl. Höffe (Fn. 4), 67. 21 Vgl. Winfried Brugger, Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung, in: Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, hg. von W. Härle / B. Vogel, Freiburg/ Basel/Wien 2008, 56–62 ff. 22 BVerfGE 45, 187 (227) – Lebenslange Freiheitsstrafe; vgl. auch BVerfGE 115, 118 (158 f.) – Luftsicherheitsgesetz. 23 BVerfGE 45, 187 (227) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 24 BVerfGE 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe.
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3.
Schwache und starke Normativität
Die Bedenken über die Menschenwürde als „zu dünn“ oder „zu dicht“ könnten noch in anderen Kontexten auftreten. Obwohl die moralische Validität der Menschenwürde ihre juristische Normativität begründen und verstärken kann, könnten diejenigen, die die Menschenwürde „zu dünn“ finden, immer noch kritisch hinterfragen, welche Rolle das Konzept der Menschenwürde in der juristischen Argumentation eigentlich spielt. Genauer: Könnte die Menschenwürde durch logische Subsumtion immer noch die einzig richtige Antwort sogar für die umstrittensten Fälle versprechen? Diejenigen, die die Menschenwürde wiederum für „zu dicht“ halten, weisen gerade auf die Gefahr einer einzig richtigen Antwort hin! Daher kann man die Fragestellung umformulieren: Welche Normativität hat die Menschenwürde in der juristischen Argumentation, eine starke oder eine schwache Normativität? Wie könnte letztlich eine starke Normativität der Menschenwürde begründet werden? In den folgenden Abschnitten II und III soll dies am Leitfaden der doppelten Dimension des Menschenbildes eingehend untersucht werden. Auf dieser Basis soll im Abschnitt IV über die „schwache“ und die starke Normativität der Menschenwürde angesichts der Praxis der verfassungsmäßigen Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung der Normativität der Würde-Klausel in der Verfassung der VR China argumentiert werden. Dadurch wird das analytische Argument des notwendigen Zusammenhangs von Menschenwürde und Persönlichkeit eingeführt, um in der Konklusion eine Antwort darauf zu liefern, ob die starke Normativität der Menschenwürde ohne Metaphysik möglich ist. II.
Würde des Einzelmenschen
1.
Menzius: Die vom Himmel her begabte Würde
Im Vergleich zu vielen jahrhundertealten Philosophen aus Ost und West war Menzius (4. Jh. v. Chr.) aus dem antiken China derjenige, der einem absoluten Konzept der Würde des Einzelmenschen am nächsten gekommen ist. Dies kommt zunächst zum Ausdruck in seiner ständigen Hervorhebung des immanenten Guten der menschlichen Natur. Die Gesinnungen des Mitleids, der Scham, der Achtung und der Richtigkeit „sind allen Menschen eigen“, und sie sind die jeweiligen „Keime (duan)“ der Humanität (ren), Gerechtigkeit (yi), Sittlichkeit (li) und Weisheit (zhi), welche „nicht von außen her uns eingetrichtert, sondern unser ursprünglicher Besitz sind.“25 Darüber hinaus fasst er diese Humanität usw. unter dem Konzept der „vom Himmel her
25
Mong Dsi (Fn. 6), II. A. 6 und VI. A. 6, 758 f. u. 987 f. (Übersetzung von W. F.).
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
begabten Würde“ (tian jue, im Gegensatz zur „vom Mensch erworbenen Würde“, ren jue)26 und dem der „guten Erhabenheit in jedem Mensch (liang gui)“27 zusammen. In diesem Zusammenhang wies der deutsche Philosoph Höffe auch zu Recht darauf hin, dass „nach dem zweitwichtigsten Klassiker des Konfuzianismus, Mong Dsi [Menzius], aber ‚jeder einzelne Mensch‘ eine ihm angeborene ‚Würde in sich selbst‘ [besitzt]“.28 Darüber hinaus fordert Menzius, dass im Konfliktfall das Interesse an Gerechtigkeit immer dem Interesse am Überleben vorgeht.29 Noch bemerkenswerter ist, dass Menzius sogar eine Rangordnung erstellt, nach welcher das Volk am wichtigsten erscheint, der Staat (im Namen der „Götter des Landes und Kornes“) an zweiter Linie kommt, und der Fürst am unwichtigsten ist.30 Also behauptet er, dass die Bedingung der Legitimität des Gewinns der Weltherrschaft in dem Gewinn der Herzen des Volks besteht.31 Obwohl der Gedanke im Buch Menzius noch einer verfeinerten Analyse und Interpretation sowohl im Dialog mit der westlichen praktischen Philosophie32 als auch unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Situation der Welt bedarf, ist es nicht zu leugnen, dass die Würde des Einzelmenschen in der Tat ein universalisierbares Bild ist, das die religiösen und kulturellen Hintergründe sowohl von Ost als auch von West überwinden kann.33 2.
Kant: Menschenwürde als Autonomie und innerer Wert
Wendet man sich dem Westen zu, so stellt man fest, dass die absolute Würde des Einzelmenschen erst bei dem modernen deutschen Philosophen Immanuel Kant den Mittelpunkt der gesamten praktischen Philosophie besetzt. In der westlichen IdeenMong Dsi (Fn. 6), VI. A. 16, 1003 f. (Übersetzung von W. F.). Mong Dsi (Fn. 6), VI. A. 17, 1003 f. (Übersetzung von W. F.). Höffe (Fn. 4), 60; auch ders., Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 65. Mong Dsi (Fn. 6), VI. A. 10, 994 f. Mong Dsi (Fn. 6), VII. B. 14, 1087 f. Mong Dsi (Fn. 6), IV. A. 9, 863 f. Vgl. Ming-Huei Lee, Konfuzianismus und Kant (auf traditionelles Chinesisch), erweiterte Auflage, Neu Taipeh 2018 (1. Aufl., 1990), 47–197 ff.; ders., Kants Ethik und Rekonstruktion von Menzius’ moralischen Denken (auf traditionelles Chinesisch), Taipeh 1994, 93–103. Vgl. auch Jan Philipp Schaefer, Human Dignity: A Remedy for the Clash of Cultures? Human Dignity and the Mind of Mencius, ARSP Beiheft 137 (2013), 186 ff. Auch Qianfan Zhang stimmt die Menschenwürde in der klassischen chinesischen Philosophie zu, er hebt aber zugleich die Schwäche des von Menzius entwickelten Arguments von humanitärer Herrschaft hervor, und zwar dass es keine institutionelle Kontrolle der Vereinbarkeit des an der Nutzenmaximierung orientierten Herrschers mit Humanität bestand oder besteht. Vgl. Qianfan Zhang, Human Dignity in Classical Chinese Philosophy Confucianism, Mohism, and Daoism, New York 2016, 66–72. 33 Wenn der Gedanke Menzius nicht berücksichtigt würde, würde man die scharfe Kluft zwischen Ost und West anerkennen und sogar dafür besorgen, „wie der Idealtypus [der Menschenwürde], der in der westlichen Kultur geboren wurde, in China tief wurzeln und blühen könnte.“ Vgl. Wang (Fn. 10), 761. (Übersetzung von W. F.) 26 27 28 29 30 31 32
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geschichte der Menschenwürde stellt Kants Philosophie ein innovatives, unumgängliches Kapitel dar. Die vorkantischen Philosophen setzten die Menschenwürde nie in Verbindung mit den subjektiven Rechten oder mit den abstrakteren Menschenrechten. Ganz im Gegenteil sollte die Menschenwürde immer auf dem Vernunftvermögen der Menschen beruhen, damit der Mensch sich selbst gegenüber verpflichten kann. Seit Kant erhält die Menschenwürde eine rein moralische Begründung und stellt damit eine Grundlage für die Menschenrechte dar. Kants Buch, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (im Folgenden als Grundlegung bezeichnet) wird oft als Ein-Wort-Philosophie vereinfacht, und zwar als die Philosophie vom sogenannten „kategorischen Imperativ“ oder vom „Menschen als Selbstzweck“. Hier ist auch von dieser eindrucksvollen Formel auszugehen, um Kants Argument der Menschenwürde zu präzisieren. Kants Methode in der Grundlegung ist grundsätzlich analytisch, d. h. ausgehend von der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“ werden die drei Kernbegriffe „guter Wille“, „Pflicht“ und „Gesetz“ schrittweise analysiert. Kants Ansicht nach ist ein guter Wille das einzige, „was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden“, da nur er einen „inneren unbedingten Wert“ besitzt.34 Da die Menschen jedoch immer andere natürliche Neigungen haben, ist guter Wille „freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind.“35 Darum ist der Begriff der Pflicht einzuführen. Der gute Wille erfordert das Handeln „aus Pflicht“, welches sich vom lediglich „pflichtmäßigen“ Handeln unterscheidet. Der letztere enthält „unmittelbar keine Neigung“ zur Pflicht, sondern nur Neigung aus anderen, insbesondere utilitaristischen Quellen.36 Für den guten Willen ist das Handeln aus Pflicht ein formelles Prinzip a priori, aber die Motivation des Handelns („Triebfeder“) ist das materielle Prinzip a posteriori. In Bezug auf die Form ist es notwendig, den nächsten Schlüsselbegriff einzuführen, und zwar den des Gesetzes. Kants Auffassung nach ist Pflicht „die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“.37 Die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst findet aber „nur im vernünftigen Wesen“38 statt. Die oben genannte „Notwendigkeit einer Handlung“ impliziert eine Art von Nötigung.39 Hierbei ist sorgfältig zu differenzieren, dass nur vollkommene vernünftige Wesen, z. B. Gott oder Engel, von ihrer Natur her oder ihrem Wesen nach schon immer einen vollkommen guten Willen besitzen; der Wille des unvollkommenen vernünftigen Wesens, z. B. der menschliche Wille, bedarf einer Nötigung.40 Die Formel der Nötigung heißt Imperativ, der wiederum durch ein Sollen ausgedrückt wird. Nur 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 393. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 394. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 397. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 400. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 401. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 413. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 413.
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
ein unvollkommener Wille bedarf Nötigung, und zwar: Man soll dem Imperativ entsprechend handeln.41 Der oben erwähnte Imperativ könnte analytisch sein, um eine Verbindung zwischen den empirischen Mitteln und dem Zweck herzustellen. In diesem Fall wäre er ein hypothetischer Imperativ, der eine schickliche, glückselige Maxime ausdrückt. Er kann aber auch von empirischen Bedingungen unabhängig sein und somit als ein kategorischer Imperativ fungieren.42 Kants Meinung nach drückt nur der letztere ein moralisches Gesetz aus. Auf dieser Grundlage stellt Kant die erste Formel des kategorischen Imperativs vor, und zwar die Verallgemeinerbarkeitsformel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“43
Es stellt sich die Frage, ob die Moral einen absoluten Zweck hat, der über die verschiedenen relativen Zwecke hinausgeht. Es ist die Schlüsselfrage zu beantworten, in welchem Zusammenhang der Begriff des kategorischen Imperativs und der des Zwecks zu dem Personbegriff stehen. Kants Auffassung nach existiert der Mensch und „überhaupt jedes vernünftige Wesen“ als Zweck an sich selbst.44 In Unterstützung dieser Behauptung formuliert Kant die zweite Formel des kategorischen Imperativs, und zwar die Formel des Zwecks an sich selbst: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“45
Die Fragestellung wird dann darin umformuliert, wie die Begriffe des Menschen („du“, „eines jeden anderen“), der Person und der Menschheit in dieser Formel verstanden werden. Die moralische Gesetzgebung soll sowohl eine objektive Form des allgemeinen Gesetzes haben als auch einen subjektiven gewollten Zweck verfolgen (gemäß der Verallgemeinerbarkeitsformel), welcher eigentlich ein Zweck an sich selbst ist, und zwar die Menschheit jedes vernünftigen Wesens (gemäß der Formel des Zwecks an sich selbst). Daher kann es nur durch den Willen des vernünftigen Wesens selbst ein moralisches Gesetz geben, und zwar Selbstgesetzgebung46 oder Autonomie des Willens.47 Deshalb schlägt Kant die dritte Formel des kategorischen Imperativs vor:
41 42 43 44 45 46 47
Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 413. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 413–420 f. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 421. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 428. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 429. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 431. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 433.
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„[Handle] nur so, dass der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“48
Aufgrund des kategorischen Imperativs mit seinen Teilformeln fasst Kant dann die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens“49 zusammen. Nur das, was kein Äquivalent ersetzt, keinen Preis hat oder nicht bloß relativen Wert hat, hat dann einen inneren, unbedingten, unvergleichbaren Wert, und zwar eine Würde.50 Also ist Autonomie der „Grund der Würde“ der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.51 3.
Rekonstruktion von Kants Argumenten Wie könnte die Menschenwürde und ihre Normativität begründet werden?
Durch die oben dargestellte Analyse des Begriffs „Menschenwürde“ wird jedoch die Frage noch nicht beantwortet, wie der kategorische Imperativ möglich ist. Nach Kant wäre es auch leicht, sich auf „eine Art von Zirkel“ zwischen den Begriffen des freien Willens, der Selbstgesetzgebung und der Autonomie einzulassen.52 Dafür versucht Kant, die Menschenwürde zuerst in seiner Grundlegung und dann in Kritik der praktischen Vernunft durch zwei nicht miteinander vereinbare Argumente zu begründen. Im dritten und letzten Abschnitt der Grundlegung stellt Kant das Argument von zwei Standpunkten jedes vernünftigen Wesens vor, und zwar, dass es sich selbst zugleich als ein Angehöriger der intelligiblen Welt und der Sinnenwelt betrachtet.53 Dem Zirkel kann dadurch entkommen werden, dass wir uns sowohl „als frei denken“, als auch „als verpflichtet“ denken.54 Mit anderen Worten, jeder Mensch ist nur ein unvollkommen vernünftiges Wesen. Vielleicht nicht zufällig entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die von Kurt Baier eingeführte Theorie des „moral point of view“, durch welche mancher motiviert wird, auf Kants Argument zurückzublicken.55 Dieses Argument wird auch von Ralf Dreier als „Standpunktmetapher“ rekonstruiert.56
Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 434. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 434 (Hervorhebung im Original). Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 434–436. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 436. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 450. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 452. Vgl. Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 453. Vgl. Kurt Baier, The Moral Point of View A Rational Basis of Ethics, Ithaca and New York 1958. Lewis White Beck z. B. betrachtet Kants Argument als „Dualismus“, vgl. Lewis White Beck, A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, Chicago und London 1960, 24–26. 56 Vgl. Ralf Dreier, Der moralische Standpunkt bei Kant und Hegel, in: Staatsphilosophie und Rechtspolitik Festschrift für Martin Kriele zum 65 Geburtstag, hg. von B. Ziemske / T. Langheid / H. Wilms / G. Haverkate, München 1997, 811–827. 48 49 50 51 52 53 54 55
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
In der Kritik der praktischen Vernunft formuliert Kant ein neues Argument vom Faktum der Vernunft, welches das Bewusstsein des kategorischen Imperativs nennt, „weil man es nicht aus vorhergehenden Datis herausvernünfteln kann“.57 In einem anderen Paragrafen formuliert Kant es jedoch so um, dass der kategorische Imperativ selbst „gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft […] gegeben“58 ist. Kants Begriff des Faktums begegnet bis heute noch ernsthaften Zweifeln.59 Um Kants Begründung der Menschenwürde zu rekonstruieren, sollen drei seiner Differenzierungen mithilfe seiner späten Werke, Vorlesungen sowie Nachlass expliziert werden. Es geht um die Differenzierungen zwischen principium diiudicationis und principium executionis, Wille und Willkür, sowie homo noumenon und homo phaenomenon. Diese Differenzierungen können das Argument von zwei Standpunkten verstärken. a)
Principium diiudicationis und principium executionis
Erst 1963 entdeckte Dieter Henrich in Kants lateinischen Handschriften aus dem Jahr 1765 die Differenzierung zwischen principium diiudicationis und principium executionis und hob sie als „die erste kopernikanische Revolution“ in Kants Philosophie hervor.60 Im Jahre 1986 fand Günther Patzig eine direktere Passage aus Kants deutschsprachigem handschriftlichem Nachlass und Vorlesungsnotizen: „Es ist hierhin der schon erwehnte Unterschied zu rechnen, von dem obiectiven principio der diiudication und dem subiectiven der Execution der Handlung. […] Wenn ich durch den Verstand urteile, dass die Handlung sittlich gut sei, so fehlt noch sehr viel, dass ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe. Bewegt mich aber dieses Urteil, dass ich die Handlung tue, so ist es das moralische Gefühl. Das kann und wird auch niemand einsehen, dass der Verstand eine bewegende Kraft haben sollte, urteilen kann der Verstand zwar frei-
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (KpV 1788), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1908/1913/1928/1974 (AA V), 31. 58 Kant (Fn. 57), KpV, AA V, 47. 59 Vgl. Beck (Fn. 55), A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, 166–170; vgl. auch Onora O’Neill, Autonomy and the Fact of Reason in the Kritik der praktischen Vernunft (§§ 7–8, 30–41), in: Kritik der praktischen Vernunft, hg. von O. Höffe, Berlin 2002, 81–97. 60 Vgl. Immanuel Kant, Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. XX, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin u. a. 1942/1971 (AA XX), 148: „Perfectio haec absoluta qvatenus utrum aliqvid inde actuatur nec eo est indeterminatum dicitur moralis “ Dies wird von Dieter Henrich ins Deutsche wie folgend übersetzt: „Absolut ist jene Vollkommenheit, welche in Beziehung darauf, ob sie etwas bewirkt oder nicht, unbestimmt ist; sie wird moralisch genannt.“ vgl. Dieter Henrich, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, in: Sein und Ethos, hg. von P. Engelhardt, Mainz 1963, 350–386; Nachdruck als „Ethik der Autonomie“, in: ders., Selbstverhältnisse Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, 6–56. 57
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lich, allein diesem Urteile Kraft zu geben, dass es eine Triebfeder [werde], den Willen zur Ausübung einer Handlung zu bewegen, … dieses einzusehen ist der Stein der Weisen.“61 „Wir haben zuerst hier auf 2 Stücke zu sehen, 1) auf das principium der dijudication der Verbindlichkeit, und 2) auf das principium der Exekution oder Leistung (bei Mrongovius: ‚Bestimmung‘) der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das principium der Dijudication und Triebfeder der Ausübung der Verbindlichkeit, indem man nun dieses verwechselte, so war alles in der Moral falsch. […] Das oberste principium aller moralischen Beurteilung liegt im Verstande, und das oberste principium des moralischen Antriebes, diese Handlung zu tun, liegt im Herzen. […] Das principium der Beurteilung ist die Norm, und das principium des Antriebes ist die Triebfeder.“62
Nach diesem wichtigen Anhaltspunkt können wir besser verstehen, dass die obige Verallgemeinerbarkeitsformel zwei Elemente enthält, und zwar das objektive Wissen des allgemeinen Gesetzes auf der einen Seite, und das subjektive Motiv auf der anderen Seite, d. h. aus Achtung fürs und unter Nötigung durch das Gesetz. In der Tat stimmen Motivation und Normen nicht von Anfang an überein. Das, was geschehen soll, geschieht doch öfters nicht. So ist auch die menschliche Natur. Seit Langem gibt es nicht wenige Philosophen, die Kants sogenannten Formalismus kritisieren: Georg Wilhelm Friedrich Hegel z. B. betrachtete die kantischen moralischen Gesetze als inhaltslos oder „formell überhaupt“;63 auch Arthur Schopenhauer kritisierte die inhaltsleeren Formen und die glänzende Trockenheit der kantischen Philosophie.64 Das principium executionis zeigt allerdings, dass die Verallgemeinerbarkeitsformel nicht schlechthin formal, sondern das subjektive Motiv des Menschen enthält, der dadurch das allgemeine Gesetz „zugleich wollen kann[st]“.65
Immanuel Kant, Moral Mrogovius (1782/1783), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. XXVII, 2. Hälfte, 2. Teil. hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1979 (AA XXVII 2.2), 1428 f. (Hervorhebung von W. F.) 62 Immanuel Kant, Moralphilosophie Collins (1784/1785), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. XXVII, 1. Hälfte, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1974 (AA XXVII 1), 274 f.; ders., Handschriftlicher Nachlass, Bd. VI, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. XIX, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin u. a. 1934/1971 (AA XIX), 6628, 6864, 6915, 6972, 6988 und 7097. Vgl. auch Günther Patzig, „Principium diiudicationis“ und „Principium executionis“: Über transzendentalpragmatische Begründungssätze für Verhaltensnormen, in: Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, hg. von Gerold Prauss, Frankfurt/Main 1986, 205 f. (Hervorhebung von W. F.). 63 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, in: ders., Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 15, hg. von K. L. Michelet, Berlin 1836, 591–593 ff. 64 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, in: ders., Zürcher Ausgabe, Bd. 1, hg. von A. Hübscher, Zürich 1977, 507. 65 Kant (Fn. 7), GMS, AA IV, 413. Auch Robert Alexy sieht durch den kantischen kategorischen Imperativ „die Möglichkeit, das ‚principium diiudicationis‘ auf die Erkenntnis [der Grundkompetenz] und das ‚principium executionis‘ auf die Gründe für ihre Ausübung zu beziehen.“ Vgl. Robert Alexy, Kants Begriff 61
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
b)
Wille und „Willkür“
Ein weiterer Anhaltspunkt ist die Differenzierung zwischen Wille und „Willkür“. Dies wird in der Tat erst in Kants späterem Werk Metaphysik der Sitten sowie in der jeweiligen Vorarbeit zum ersten Mal deutlich bestimmt. Kants Auffassung nach ist die „Willkür“ dasjenige Begehrungsvermögen, das „mit dem Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist.“66 Im Gegensatz ist der Wille dasjenige Begehrungsvermögen, „dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird.“67 Die „Willkür“ selbst gliedert sich in die von Neigung bestimmte tierische Willkür und die von reiner Vernunft bestimmte freie Willkür. Die menschliche Willkür wird, so Kant, „durch Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt.“68 Dagegen ist der Wille „schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig“,69 weil der Wille nach Kants Auffassung einen unmittelbaren Bezug auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlung nimmt. Daher ist es zu bemerken, dass diese Differenzierung zwischen Wille und „Willkür“ mit der zwischen principium diiudicationis und principium executionis zusammenhängt. Wie bezieht sich aber dies auf die Menschenwürde? Das führt zur dritten und letzten Differenzierung. c)
Homo noumenon und homo phaenomenon
In der Grundlegung spricht Kant von dem Menschen, der Person, der Persönlichkeit und der Menschheit. Die beiden Termini „Person“ und „Persönlichkeit“ können dort nicht voneinander unterschieden werden. Nun versucht er in der Kritik der praktischen Vernunft diese Termini zu unterscheiden, sodass „die Person also als zur Sinnenwelt gehörig ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört“; darüber hinaus ist „[d]er Mensch zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muss ihm heilig sein.“70
des praktischen Gesetzes, in: Der biblische Gesetzesbegriff Auf den Spuren seiner Säkularisierung, hg. von O. Behrends, Göttingen 2006, 206–207 ff. Darüber hinaus behauptet Alexy, dass Kant nicht nur die justifikatorische und die motivationale Dimensionen der Normativität trennt, er versucht auch mit größter Kraft, die beiden Dimensionen wieder in Verbindung zu bringen, insbesondere in seiner Theorie der „Achtung fürs Gesetz“. Vgl. Robert Alexy, Normativity, Metaphysics and Decision, in: New Essays on the Normativity of Law, hg. von S. Bertea und G. Pavlakos, Oxford 2011, 220 f. 66 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (RL 1797), in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. VI, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin u. a. 1907/1914/1969 (AA VI), 213. 67 Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 213. 68 Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 213 (Hervorhebung im Original). 69 Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 226 (Hervorhebung im Original). 70 Kant (Fn. 57), KpV, AA V, 87.
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Erst in der Metaphysik der Sitten wird die Person dann als dasjenige Subjekt definiert, „dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“, während die (moralische) Persönlichkeit „nicht anders als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“71 ist. Er kommt dann auf die folgende Unterscheidung zwischen „homo noumenon“ und „homo phaenomenon“, dass „der Mensch nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz übersinnlich ist, also auch bloß nach seiner Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit (homo noumenon), vorgestellt werden kann und soll, zum Unterschiede von eben demselben, aber als mit jenen Bestimmungen behafteten Subjekt, dem Menschen (homo phaenomenon).“72 Nach Kant bedeutet homo noumenon „der Mensch als moralisches Wesen“, aber homo phaenomenon „der Mensch als physisches Wesen“.73 Diese Unterscheidung bedeutet jedoch keinen ontologischen Dualismus. Dagegen ist nach Kant die Möglichkeit des kategorischen Imperativs und damit der Menschenwürde durch die Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon oder dadurch, dass der Mensch ein begrenztes, doch vernünftiges Wesen ist, zu verstehen. Kurt Seelmann z. B. versucht gerade, „angesichts der bewussten und gewollten Unterscheidung“ von homo noumenon und homo phaenomenon den Würdebegriff auf die empirische Welt zu beziehen.74 Die Frage, ob diese Unterscheidung und Kants Argument vom Faktum der Vernunft einander unterstützen könnten, wird hier offen gelassen.75 Auf der einen Seite, weil die Vernunft des Menschen begrenzt ist, kommen ihm die Abhängigkeit, die Verbindlichkeit und die Nötigung vom (moralischen) Gesetz zu. Auf der anderen Seite, weil der Mensch immer noch ein vernünftiges Wesen ist, besitzt er erstens die Unabhängigkeit von der sinnlichen Neigung (Freiheit im negativen Sinne), zweitens die reine vernünftige Erkenntnis von dem (moralischen) Gesetz und der Pflicht (principium diiudicationis) und drittens das Vermögen, das Gesetz als die einzige Motivation (Triebfeder) des Subjekts zu machen (principium executionis), indem es der Bestimmungsgrund des selbstgesetzgebenden Willen ist (Freiheit im positiven Sinne). Schließlich ermöglicht die Metapher der zwei Standpunkte des Menschen in Verbindung mit den Unterscheidungen von principium diiudicationis und principium executionis, von Wille und Willkür, sowie von homo noumenon und homo phaenomenon ein adäquates Verständnis des kantischen kategorischen Imperativs und der Menschenwürde.
Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 223. Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 239 (Hervorhebung im Original). Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (TL 1797), in: AA VI, 430. Vgl. Kurt Seelmann, Menschenwürde und die zweite und dritte Formel des Kategorischen Imperativs. Kantischer Befund und aktuelle Funktion, in: Menschenwürde Begründung, Konturen, Geschichte, hg. von G. Brudermüller / K. Seelmann, Würzburg 2008, 75–77 ff. 75 Dieser Interpretationsansatz wird aber von Hruschka verfolgt. Vgl. Joachim Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, ARSP 88 (2002), 465–469 ff. 71 72 73 74
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
Zusammenfassend liegt der Schluss darin, dass Persönlichkeit (oder Menschheit in der Person des Menschen, homo noumenon) und Mensch (homo phaenomenon) zwar voneinander unterscheidbar, aber nicht trennbar sind, andernfalls wäre Kants Ethik, so behauptet Jürgen Habermas, als ein Dualismus zu betrachten.76 Auf der einen Seite bezieht sich die Persönlichkeit nicht auf den bloß empirischen Menschen und lässt sich damit nicht mit dem Letzteren gleichsetzen oder auf ihn reduzieren. Auf der anderen Seite ist diese Persönlichkeit doch mit dem empirischen Menschen verbunden und wird davon nicht getrennt. Die Menschenwürde ist nicht mit dem homo noumenon gleichzusetzen, sondern aus den beiden Perspektiven von homo noumenon und homo phaenomenon zusammen zu denken.77 4.
Menschenwürde, Menschenrechte und der Staat
Auf Basis der Würde des Einzelmenschen u. a. entwickelt Kant seine Rechtsphilosophie und Staatslehre im Sinne einer Vertragstheorie. Kants Auffassung nach können das angeborene Recht der Einzelnen, die freie Vereinigung der Bürger sowie die Strafgerechtigkeit durch die Würde des Einzelmenschen begründet werden. In der Rechtslehre, dem ersten Teil der Metaphysik der Sitten, behauptet Kant, dass das Recht und die Ethik im engeren Sinne „nur nicht die Art der Verpflichtung gemein“ haben, und dass die juristische Pflicht auch „indirekt-ethisch“ ist.78 In diesem Zusammenhang weist Ralf Dreier darauf hin, dass der kantische kategorische Imperativ zwei Gebräuche hat, und zwar einen ethischen und einen juristischen.79
Vgl. Jürgen Habermas, Moral und Sittlichkeit. Hegels Kantkritik im Lichte der Diskursethik, Merkur 39 (1985), 1041–1052. 77 Ich bedanke mich bei Prof. Ulfrid Neumann für seinen freundlichen Hinweis, dass Katrin Gierhake auch eine ähnliche Lektüre von Kants Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon vertreten hat: „Zwar kennt auch Kant die Kategorien des Sinnenwesens – ‚der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale)‘ – und des Vernunftwesens – ‚der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft (homo noumenon)‘ – und differenziert sie auch. Bei ihm sind diese beiden Elemente aber gerade gedacht als Einheit, die sich in jedem Menschen findet und deren beide Bestandteile ursprünglich mit dem Menschen als ‚dem einzigen vernünftigem Geschöpf auf Erden‘ verbunden sind. Dabei sorgt die Vernunftbegabung eines jeden einzelnen Menschen dafür, dass ihm die Achtung aller anderen vernünftigen Weltwesen zusteht, und zwar allein wegen dieser Vernunftbegabung, seines absoluten inneren Wertes, seiner Würde.“ Vgl. Katrin Gierhake, „Feindbehandlung im Recht?“ – Eine Kritik des so genannten „Feindstrafrechts“ und zugleich eine Auseinandersetzung mit der Straftheorie Günther Jakobs, ARSP 94 (2008), 350 f. (Hervorhebung von W. F.) 78 Vgl. Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 220 f. 79 Vgl. Ralf Dreier, Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants (1979), in: ders., Recht – Moral – Ideologie, Frankfurt/Main 1981, 294 f.; siehe auch Robert Alexy, Ralf Dreiers Interpretation der Kantischen Rechtsdefinition, in: Integratives Verstehen Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, hg. von R. Alexy, Tübingen 2005, 103–105 ff. 76
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Das „Recht der Menschheit“ gehört unbedingt zum spezifisch juristischen Gebrauch. Nach Kant umfasst das Recht in „das Recht der Menschheit“ zum einen das Recht der eigenen Person und zum anderen das Recht der anderen Menschen. Jenes entspricht der Pflicht gegen sich selbst, dieses der Pflicht gegen anderen.80 Eine weitere Einteilung des Rechts ist diejenige zwischen dem erworbenen und dem angeborenen Recht. Das letztere ist nur ein einziges, ursprüngliches, „jedem Menschen kraft seiner Menschheit“ zustehendes Recht, und zwar Freiheit.81 Es ist zu beachten, dass die „Menschheit“ hier nicht mich selbst als Einzelmenschen, sondern auch „die ganze Gattung (mich also mit)“ einschließt.82 Tab. 1 Recht und Zweck der Menschheit auf Basis von Kants Rechts- und Tugendlehre.83 Pflicht gegen sich selbst
Pflicht gegen andere
juristische Pflicht (indirekt-ethisch)
Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person
Das Recht der Menschen
ethische Pflicht im engeren Sinne (direkt-ethisch)
Der Zweck der Menschheit in unserer Person
Der Zweck der Menschen
III.
Die Würde des sozialen Menschen
Es besteht heute weitgehende Einigkeit nicht nur hinsichtlich der Würde des Einzelmenschen, sondern auch über die Würde des sozialen Menschen.84 Aber das Menschenbild war nicht immer so, insbesondere im 19. Jahrhundert in der westlichen Welt, als die liberalistische Auffassung der Menschenwürde breiter akzeptiert wurde. Gustav Radbruch, wie oben erwähnt wird, weist zum ersten Mal auf diese methodologische Ansicht hin. Mithilfe des Menschenbildes erklärt er die epochalen Veränderungen der Rechtsinstitute, insbesondere die seit der Weimarer Republik. Meines Erachtens entwickeln sich Radbruchs Gedanken ausgehend von der Hochschätzung des sogenannten Vgl. Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 240. Vgl. Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 237. Vgl. Kant (Fn. 73), TL, AA VI, 451. Vgl. Kant (Fn. 66), RL, AA VI, 218–221, 239–241; ders. (Fn. 73), TL, AA VI, 398, 410–412. Vgl. Hans Michael Heinig, Menschenwürde und Sozialstaat. Genesen – Grammatiken – Grenzen, in: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, hg. von P. Bahr / H. M. Heinig, Tübingen 2006, 251–295; Joachim von Soosten, Neubau der Sittlichkeit. Menschenwürde und Sozialstaat, in: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, hg. von P. Bahr / H. M. Heinig, Tübingen 2006, 297–318; Eberhard Eichenhofer, Sozialrechtlicher Gehalt der Menschenwürde, in: Das Dogma der Unantastbarkeit, hg. von R. Gröschner / O. W. Lembcke, Tübingen 2009, 215–234; Peter Axer, Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und die Sicherung sozialer Grundrechtsvoraussetzungen, in: Verfassungsvoraussetzungen Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, hg. von M. Anderheiden u. a. Tübingen 2013, 335–353. 80 81 82 83 84
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
sozialen Rechtszeitalters85 über die rückkehrende Anerkennung des individualistischliberalistischen Rechtsgedankens86 bis hin zur seiner berühmten „Verleugnungsformel“ mit Kriterien der Gerechtigkeit, Gleichheit und der Menschenrechte.87 Die Aktualität seiner Fragestellungen und die Möglichkeiten der Rekonstruktion seiner entsprechenden Beantwortungen spiegeln sich auch in seinen mehrdimensionalen Menschenbildern wider. Deswegen soll im Folgenden nicht die Würde des sozialen Menschen im Allgemeinen erörtert werden, sondern es soll spezifisch um den von Radbruch entwickelten Personbegriff im sozialen Rechtszeitalter und den Rechtsbegriff überhaupt in Zusammenhang mit der Menschenwürde gehen. 1.
Menschenbilder (im Recht) als fiktive Konstruktionen
Meines Erachtens weist Radbruch in seinen beiden Aufsätzen „Der Mensch im Recht (1927)“ und „Vom individualistischen zum sozialen Recht (1930)“ auf drei Gesichtspunkte des Menschenbildes hin. Der erste Gesichtspunkt lautet, dass das Menschenbild die verschiedenen Rechtszeitalter kennzeichnet, und zwar vom patriarchalischgemeinschaftlichen über das liberal-individualistische bis zum organisierten sozialen Rechtszeitalter.88 Dies gilt zum Ersten für den Menschen als das motivierte Subjekt des Rechts.89 Im mittelalterlich-deutschen Recht befindet sich immer der „an der Pflicht und an die Gemeinschaft gebundene Mensch[en].“90 Der Einzelmensch wurde aber seit Renaissance, Reformation und Rezeption „aus der Gemeinschaft entbunden“ und insbesondere seit der Aufklärung als ein „individualistischer und intellektualistischer Menschentypus“ charakterisiert.91 Erst im sozialen Rechtszeitalter ist der Mensch fort-
Vgl. Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 467–476; auch ders., Vom individualistischen zum sozialen Recht (1930), in: GRGA Bd. 2, 485–495. 86 Vgl. Gustav Radbruch, Der Relativismus in der Rechtsphilosophie (1934), in: Gustav Radbruchs Gesamtausgabe, Band 3, hg. von W. Hassemer, Heidelberg 1990 (GRGA Bd. 3), 17–22; ders., Der Zweck des Rechts (1937/38), in: GRGA Bd. 3, 39–50. 87 Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophische Besinnung (12.9.1945), oder ders., Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), in: GRGA Bd. 3, 78–79; ders., Erneuerung des Rechts (1946), in: GRGA Bd. 3, 80–82; ders., Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: GRGA Bd. 3, 83–93. 88 Vgl. Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 467–476. 89 Im Aufsatz „Der Mensch im Recht (1927)“ berücksichtigt Radbruch zuerst den Menschen als „Objekt der Rechtsordnung“, um die Frage zu beantworten, „wie das Recht sich dem Menschen vorstellt auf den es zu wirken beabsichtigt, auf welche Art Mensch das Recht angelegt ist“, und „welche Antriebe [die Rechtsordnung] im Menschen als gegeben und wirksam annimmt“. Vgl. Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 467 f. Dies wird in seiner Rechtsphilosophie von 1932 als die folgende Fragestellung formuliert, wie „das Individuum als Angriffspunkt für die motivierende Kraft der Rechtsnorm“ betrachtet wird. Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. Leipzig 1932, in: GRGA Bd. 2, § 8, 291, Fn. 2. 90 Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 468. 91 Vgl. Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 469, 471. 85
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an „nicht mehr das isolierte Individuum, sondern der Mensch in der Gesellschaft, der Kollektivmensch.“92 Die Wanderung der Rechtszeitalter gilt zum Zweiten für den Menschen als den Urheber des Rechts, und zwar vom unbewussten Volksgeist über den Staatswillen bis zum bewussten Volkswillen.93 Tab. 2 Bilder des Menschen im Recht.94 Rechtszeitalter
Menschenbilder Mensch als das motivierte Subjekt des Rechts
Mensch als der Urheber des Rechts
patriarchalischgemeinschaftliches Recht
Menschen in der Gemeinschaft
unbewusster Volksgeist
liberal-individualistisches Recht
Einzelmensch
bewusster Staatswille
organisiertes soziales Recht
Mensch in der Gesellschaft, Kollektivmensch
bewusster Volkswille
Als einen zweiten Gesichtspunkt macht Radbruch explizit, dass das Menschenbild „zugleich eine unverlierbare methodologische Einsicht und eine vergängliche, historisch bedingte Auffassung“ impliziert, sodass das Menschenbild des jeweiligen Rechtszeitalters häufig als ein empirischer Durchschnittstypus betrachtet wird, wenn auch in der Tat immer nur als eine „fiktive Konstruktion“.95 Als ein Beispiel betrachtet Radbruch die Entwicklung von der überindividualistischen Großfamilie bis zur individualistischen Kleinfamilie „nicht als eine Entsozialisierung bisher sozialer Gebilde, sondern als Ersatz von sozialen Gebilden durch andere soziale Gebilde.“96 Der dritte und letzte Gesichtspunkt ist das Menschenbild, das sich im Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere während des sozialen Rechtszeitalters, anschaulich widerspiegelt. Dort wird das „individualitätslose und isoliert gedachte Individuum“ durch den „konkreten und vergesellschafteten Menschen“ ersetzt.97
Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 472. Vgl. Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 474–475. Die Tabelle wird aufgrund Radbruchs Erörterungen aber vom Autor selbst dargestellt. Vgl. Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 475 f. 95 Radbruch, Der Mensch im Recht (1927), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 18), 469. 96 Radbruch, Vom individualistischen zum sozialen Recht (1930), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 85), 491. 97 Vgl. Radbruch, Vom individualistischen zum sozialen Recht (1930), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 85), 486. 92 93 94
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
2.
Menschen im sozialen Recht Auch ein neuer Personbegriff?
Jedenfalls angesichts des sozialen Rechtszeitalters tauchen mehrere Probleme auf. Impliziert das Bild des sozialen Menschen einen neuen Begriff der Person oder Persönlichkeit, sodass die Würde des Einzelmenschen eingeschränkt oder sogar aufgegeben wird? Braucht die verfassungsmäßige Kontrolle der sozialen Grundrechte ein ganz neues Prüfungsschema? Alles in allem, wie kann das Spannungsverhältnis zwischen dem „zu dünnen“ Einzelmenschen und dem „zu dichten“ sozialen Menschen ausgewogen werden? In seiner Rechtsphilosophie, die in dritter und endgültiger Auflage im Jahr 1932 erschien, unterscheidet Radbruch gemäß der verschiedenen Werte des Rechts die jeweiligen Arten von Persönlichkeit, die auch als jeweiliges „Zwecksubjekt der Rechtsnorm“98 verstanden werden, und zwar menschliche Einzelpersönlichkeiten, menschliche Gesamtpersönlichkeiten und menschliche Werke.99 Sie entsprechen den drei Zweckmäßigkeiten des Rechts, und zwar dem Individualismus, dem Überindividualismus und dem Transpersonalismus.100 In dieser Hinsicht taucht die Frage wieder auf, ob der Mensch im sozialen Recht unter einen neuen Personbegriff gesetzt wird. Tab. 3 Persönlichkeit als Zwecksubjekt der Rechtsnormen.101 Persönlichkeit als Zwecksubjekt der Rechtsnorm
Zweckmäßigkeit des Rechts
menschliche Einzelpersönlichkeiten, Freiheit, „Gesellschaft“
Individualismus
menschliche Gesamtpersönlichkeiten, Nation, „Gesamtheit“
Überindividualismus
menschliche Werke, Kultur, „Gemeinschaft“
Transpersonalismus
Es ist besonders hervorzuheben, dass Radbruch in seiner Rechtsphilosophie von 1932 einige Anpassungen seiner Haltung gegenüber dem sozialen Recht vornahm,102 und zwar zumindest in den folgenden drei Stellen:
Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 8, 291, Fn. 2 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 7, 279. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 7, 281. Die Tabelle wird aufgrund Radbruchs Erörterungen aber vom Autor selbst dargestellt. Vgl. Radbruch, Die Problematik der Rechtsidee (1924), in: GRGA Bd. 2, 463; ders., Der Zweck des Rechts (1937/38), in: GRGA Bd. 3 (Fn. 86), 39–50 f.; ders., Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 7 und § 8, 279– 285 f., 291, Fn. 2. 102 Marc André Wiegand weist auch darauf hin: Auf der einen Seite hatte die Ökonomie zu Beginn des 20. Jahrhundert den Einfluss auf Radbruchs soziales Rechtsgedanken; auf der anderen Seite abgeben Radbruchs Texte „kein einheitliches Bild“ für das Verhältnis zwischen seinen Aufsatz „Vom individualistischen 98 99 100 101
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a)
Das soziale Recht nicht mehr als das Gegenteil des individualistischen Rechts
Im § 8 der Rechtsphilosophie von 1932 unterscheidet Radbruch zwischen dem „demoliberalen“ Individualismus und dem sozialen Individualismus: Ersterer bezieht sich nach Radbruch auf das isolierte, individualitätslose Individuum, letzteres auf das „konkrete[n] und vergesellschafte[n] Individuum“.103 Beide unterscheiden sich jedoch vom überindividualistischen Konservativismus.104 Darüber hinaus in § 16 der Rechtsphilosophie von 1932 weist Radbruch darauf hin, dass die Auffassung vom Vorrang des öffentlichen vor dem Privatrecht aus verschiedenen Motiven stammen könnte: Zum einen aus dem „überindividualistisch-konservative[n]“ Standpunkt, zum anderen aus dem „individualistisch-soziale[n]“ Standpunkt, der besagt, dass der Staat als Schützer die wirtschaftlich schwächeren Einzelnen bevorzugt.105 Dadurch integriert das soziale Recht die individualistische Wertauffassung. In diesem Sinne kann man sagen, dass Radbruch keinen scharfen Gegensatz zwischen sozialem Recht und Individualismus sieht, sondern eine klare Abgrenzung zum Überindividualismus.
zum sozialen Recht“ von 1930 und den § 7 sowie § 8 im 3. Auflage seiner Rechtsphilosophie von 1932, und zwar zwischen den sozialen Rechtsgedanken und die Lehre von den Rechtszwecken sowie die rechtsphilosophische Parteienlehre. Die zeitliche Abfolge der Publikationen liegt den Schluss nahe, „dass Radbruch Zweifel an der Konzeption des sozialen Rechts gekommen sind und insofern die dritte Auflage der Rechtsphilosophie ein Versuch der Rückholung sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Konzepte aus der politisch engagierten Phase der zwanziger Jahre in ein neukantianisch geprägtes Begriffssystem darstellt, getragen von der Erkenntnis, dass es sich bei der angeblichen Wendung des Rechts zum Sozialen letztlich doch nur um ein historisch kontingentes Bündel gesetzgeberischer und administrativer Maßnahmen handelt, die an der systematischen Gesamtkonzeption nichts zu ändern vermögen.“ Vgl. Marc André Wiegand, Ökonomie, Ideologie, Rechtsphilosophie: Zum Verhältnis von Wirtschaft und Recht bei Gustav Radbruch, in: Die Natur des Rechts bei Gustav Radbruch, hg. von Martin Borowski / Stanley L. Paulson, Tübingen 2015, 62 f., 71–73. Diese radikale Deutungsmöglichkeit zwischen „ephemere Erscheinung“ und „Systembruch“, ist hier aber nicht behalten. Das soziale Recht ist zugleich eine historische Wandlung und eine fiktive Konstruktion des Rechts. Dieselbe gilt auch für das gemeinschaftliche und das individualistische Recht. 103 Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 8, 296. Es soll bemerkt werden, dass Radbruch in seinen Grundzüge[n] der Rechtsphilosophie von 1914 schon behauptet: „[I]n der Tat ist der am Individualwohl orientierte marxistische Sozialismus rechtsphilosophisch als ‚potenzierter Individualismus‘ charakterisiert“. Vgl. Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1 Aufl. Leipzig 1914, in: GRGA Bd. 2, 104. Ich bedanke mich bei Prof. Ulfrid Neumann für seinen Vorschlag, dass diese „unorthodoxe“ Einsicht Radbruchs berücksichtigt werden sollte. 104 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 8, 298. 105 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 16, 360.
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
b)
Individualisierende Konstruktion als Kernarbeit der Rechtswissenschaft
Aus methodologischer Perspektive fasst Radbruch im § 15 der Rechtsphilosophie von 1932 die drei Stufen der Arbeit der dogmatischen und systematischen Rechtswissenschaft zusammen, und zwar Interpretation, Konstruktion und System.106 Zuerst ist bei der juristischer Auslegung nicht der Wille des Gesetzgebers zu erforschen, sondern der objektive Sinn positiver Rechtsordnung zu verstehen.107 In der folgenden doppelten Verarbeitung von Konstruktion und System des Rechts spielt die Rechtswissenschaft die Rolle als „Begriffsarbeit zweiten Grades“ für die vorwissenschaftlichen oder noch außerrechtswissenschaftlichen Begriffe.108 Auf dieser Grundlage betrachtet Radbruch die Rechtswissenschaft dann als verstehende, individualisierende, wertbeziehende Wissenschaft.109 In diesem Zusammenhang scheint es, dass wir, obwohl wir die Idee des sozialen Rechts akzeptieren und damit das soziale Menschenbild als eine der fiktiven Konstruktionen berücksichtigen, dennoch die individualisierende Konstruktionsarbeit nicht umgehen können. c)
Personbegriff noch als fiktiver Gleichheitsbegriff
Letztlich behauptet Radbruch im § 17 der Rechtsphilosophie von 1932, dass der Personbegriff sowohl aufgrund des Individualismus als auch nach der sozialrechtlichen Denkweise ein Gleichheitsbegriff ist.110 Denn auch er erkennt die Personen als Selbstzwecke an, was eine Rangordnung untereinander ausschließt.111 Sie sind die kommensurablen Generalnenner.112 Danach haben nicht nur die „juristischen Personen“, sondern auch die physischen Personen eine „fiktive, d. h. künstliche Natur“.113 Nur ist es zu beachten, dass das Substrat hinter der juristischen Person noch komplizierter ist. Schließlich kann das soziale Recht den gleichen Personbegriff gar nicht ändern.
106 107 108 109 110 111 112 113
Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 15, 344. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 15, 343–352 ff. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 15, 353 f. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 15, 354–357 ff. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 17, 363 f. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 17, 363 f. Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 17, 364. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 17, 364 f.
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3.
Verleugnungsformel und Menschenwürde
Insbesondere bekräftigte Radbruch, der während des NS-Regimes entlassen wurde, in seinem Aufsatz „Der Relativismus in der Rechtsphilosophie“ aus dem Jahr 1934 „Kants Kritizismus“, aufgrund dessen er absolute Werte wie Liberalismus, Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie, allgemeine Toleranz ausdrücklich betont, das heißt, „nur nicht Toleranz gegenüber der Intoleranz“.114 Darüber hinaus hebt Radbruch auch im Aufsatz „Der Zweck des Rechts“ im Jahr 1937/1938 hervor, dass das Gemeinwohl, sei es sozial, organisch oder institutionell, nur einer der „höchsten Ziele des Rechts“, und dass die beiden anderen, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, einen individualistisch-liberalen Charakter haben.115 Denn die Rechtssicherheit insbesondere bedeutet „Sicherheit des Rechts um des Einzelnen willen, Sicherheit vor Willkür und in diesem Sinne Freiheit des Einzelnen“.116 Erst im Nachkriegsaufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ aus dem Jahr 1946 gab Radbruch eine klare Antwort auf das extreme Unrecht, und zwar durch die sogenannte „Radbruchsche Formel“, insbesondere die zweite Teilformel der Verleugnung, die dessen Rechtsnatur überhaupt verneint.117 Aber was sind die Kriterien der Gleichheit und damit der jetzigen substantialisierten Gerechtigkeit, die verleugnet werden? Dies ist sowas wie ein Mythos. Meines Erachtens gibt es in seinem Nachkriegswerk Vorschule der Rechtsphilosophie von 1948 (im Folgenden als Vorschule bezeichnet) doch zumindest drei Hinweise: (1) Im § 8 der Vorschule behauptet Radbruch explizit, dass die völlige Leugnung der individualistischen Menschenrechte absolut unrichtiges Recht ist.118 (2) Im § 32 der Vorschule beobachtet er, dass die „Humanität“ zu einem Rechtsbegriff geworden ist, worunter er vor allem Kants „Gedanken der Humanität im Sinne der Menschenwürde“119 versteht. (3) Im § 35 der Vorschule verteidigt er das völkerrechtliche Unrecht des „Verbrechens gegen die MenschlichRadbruch, Der Relativismus in der Rechtsphilosophie (1934), in: GRGA Bd. 3 (Fn. 86), 17–22 f. Vgl. Radbruch, Der Zweck des Rechts (1937/38), in: GRGA Bd. 3 (Fn. 86), 39 f. Radbruch, Der Zweck des Rechts (1937/38), in: GRGA Bd. 3 (Fn. 86), 46 f. Vgl. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: GRGA Bd. 3 (Fn. 87), 89. Dabei behauptet Matthias Herdegen ohne weiteren Hinweis, dass „[i]m Sinne eines von Kant inspirierten vorkonstitutionellen Menschenwürdeverständnis schon Radbruch“ mit seiner Formel erwähnt wird. Vgl. Herdegen: Kommentar zu Art. 1 GG (Fn. 16), 10, Fn. 1. 118 Vgl. Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), in: GRGA Bd. 3, § 8, 146–147 f. 119 Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), in: GRGA Bd. 3 (Fn. 118), 211–213 f.; siehe auch ders., Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit (1947), in: Gustav Radbruchs Gesamtausgabe, Band 8, hg. von A. Kaufmann, Heidelberg 1998 (GRGA Bd. 8), 251: „Endlich sieht Kant in der Humanität vornehmlich die Achtung der Menschenwürde, die es gebietet, den Menschen als Selbstzweck zu behandeln, und verbietet, ihn zu einem bloßen Mittel für fremde Zwecke herabzuwürdigen.“ Über Radbruchs Gedanke der Menschenwürde siehe auch Arthur Kaufmann, Demokratie – Rechtsstaat – Menschenwürde. Zur Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs (1990), in: ders., Über Gerechtigkeit Dreißig Kapitel praxisorientierter Rechtsphilosophie, Köln/Berlin/Bonn/München 1993, 465–479; Miodrag A. Jovanović, Legal Validity and Human Dignity. On Radbruch’s Formula, ARSP Beiheft 137 (2013), 159–163 ff. 114 115 116 117
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
keit“, dessen Rückwirkung nicht zu beanstanden sei.120 Also ist es anzumerken, dass Menschenwürde eines der Kriterien oder gar das Kriterium für extremes Unrecht ist. IV.
Menschenwürde und verfassungsmäßige Kontrolle Schwache und starke juristische Normativität
Ausgehend von den beiden Dimensionen des Einzel- und sozialen Menschen und auf Basis ihrer jeweiligen Begründung wende ich mich nun der Normativität der Menschenwürde und der Praxis der verfassungsmäßigen Kontrolle zu. Damit schlage ich insbesondere einen Auslegungsansatz für den Art. 38 Satz 1 der chinesischen Verfassung vor, welcher besagt, dass „[d]ie Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger der VR China unverletzlich“ ist. Aber bevor ich mich auf diese Klausel konzentriere, sollten die Menschenbilder der chinesischen Verfassung zusammengefasst und mit der des deutschen Grundgesetzes verglichen. Damit sollen zwei verschiedene Begründungsstrategien der starken Normativität der Menschenwürde darstellt werden. 1.
Übersicht der Menschenbilder in der Verfassung China im Vergleich zu Deutschland
Meines Erachtens wird das Menschenbild in der chinesischen Verfassung durch das Bild der Bürger und das des Volkes anschaulich gemacht. Es soll jedoch nicht übersehen werden, dass es noch das Bild der Menschheit als Ganzen und das allerwichtigste Bild des Menschen schlechthin – oder der Persönlichkeit – gibt. Genauer betrachtet, kommt es zunächst auf das Bild der (Staats)Bürger als Grundrechtsträger (Art. 33 Abs. 1) an, und zwar als motivierte Subjekte der Verfassung und der
Kaufmann weist auf das Wort „Menschenwürde“ in den beiden Stellen von §§ 8 und 32 der Vorschule hin, aber er behauptet noch weiter: „RADBRUCH hat das Wort ‚Menschenwürde‘ nicht so inflationär gebraucht […]. Aber die Würde des Menschen war ihm überall, wo er wirkte, als Wissenschaftler und Politiker, das erste und wichtigste Thema. Er sah überall den Menschen, aber nicht als ein Konstrukt, wie man es in der Aufklärung und in der klassischen Nationalökonomie findet, sondern den Menschen in seiner kreatürlichen Realität.“ Vgl. Kaufmann (Fn. 119), 476, Fn. 35, 477 f. (Hervorhebung von W. F.) Doch meines Erachtens benutzt Radbruch im Gegenteil das Wort „Menschenwürde“ in seinen Nachkriegswerken hauptsächlich im Sinne von Kant, wenn er es „nicht so inflationär gebraucht“ hätte. 120 Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), in: GRGA Bd. 3 (Fn. 118), 234–235 f.; siehe auch ders., Kriminalistische Zeitbetrachtung (1947), in: GRGA Bd. 8, 250: „[D]as Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird vor allem als sein Verbrechen gegen die Menschenwürde ausgestaltet werden müssen, im Sinne der Auffassung Kants […].“ Sandkühler ziert die Radbruschsche Formel sowie Radbruchs Anmerkung am Nürnberger Prozess, sondern nicht die ausdrücklichen Paragrafen über Menschenwürde, vgl. Hans Jörg Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen, Freiburg/München 2014, 156–158 ff.
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Gesetze. Dementsprechend sollten wir nicht nur beachten, dass die Bürger das deutlich bestimmte Gleichheitsrecht (Art. 33 Abs. 2 und Art. 48) und die Freiheitsrechte (Art. 13, 35 bis 37, 39 bis 41, 47) genießen, sondern auch nicht außer Acht lassen, dass sie auch die relativ weit verfassten Arbeitsrechte, Urlaubsrechte, Sozialfürsorgerechte, Bildungsrechte, Ehe- und Familieninteressen sowie ökologischen Interessen (Art. 42 bis 46, 49; Präambel, Abs. 7 Satz 3) und darüber hinaus eine Reihe von Verfahrensrechten (Art. 130 und 139) beanspruchen dürfen. Dazu gehört, wie manche behaupten, auch „die Würde der menschlichen Persönlichkeit der chinesischen Bürger“ (Art. 38 Satz 1). Dies ist zumindest im ersten Augenblick vom deutschen Grundgesetz zu unterscheiden, das zwischen den Jedermannsrechten und ausnahmsweise den Deutschenrechten differenziert. Darüber hinaus steht die Würde-Klausel der chinesischen Verfassung auch relativ weit hinten im Vergleich zur Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes. Es gibt zweitens das Bild des Volkes als Inhabers der Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1), das auf das verfassungs- und gesetzgebende Subjekt verweist. Dieses Bild wird in engem Zusammenhang mit drei anderen Bildern verwendet, und zwar dem Bild der Staatsbürger, der Volksvertreter und der politischen Parteien und Organisationen, und ist auch dadurch zu verstehen. Die politischen Parteien und Organisationen spiegeln insbesondere den sozialen Menschen in China auf der Ebene des gesetzgebenden Subjekts wider. Zum Dritten gibt es das Bild der Menschheit als Ganzen, das sich neben den chinesischen Bürgern auch auf Ausländer erstreckt (Art. 18 und 32) und deshalb China mit den Völkern der Welt verbindet. Darüber hinaus wurde das „Aufbauen der Gemeinschaft mit geteilter Zukunft für die Menschheit (renlei mingyun gongtongti)“ in der Verfassung durch die Verfassungsänderung im Jahr 2018 (Präambel, Abs. 12 Satz 3) verankert. Viertens und letztlich: Das Bild des Menschen schlechthin wurde während der Verfassungsänderung im Jahr 2004 durch Art. 33 Abs. 3 hinzugefügt, der besagt: „Die Menschenrechte sind vom Staat zu achten und zu schützen.“ (Hervorhebung von W. E.) Im Vergleich zu den Art. 1 Abs. 1 und 2 des deutschen Grundgesetzes soll auch diese Menschenrechtsklausel der chinesischen Verfassung eine unbedingt grundlegende Stellung besitzen. Zusammen mit den oben erwähnten vielfältigen und abwechslungsreichen Bildern lassen sich die folgenden Fragen stellen: Gibt es ein kohärentes Menschenbild dahinter? Anschaulich gesehen scheint die Position der Würde-Klausel in der gegenwärtigen chinesischen Verfassung nicht hervorragend genug zu sein. Ganz zu schweigen, dass das Wort „Würde“ noch in verschiedenen Kontexten wie z. B. „Würde der Verfassung“ (Präambel, Abs. 13 Satz 2) und „Würde des Rechtssystems“ (Art. 5 Abs. 2) vorkommt. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen der relativ weiter hinten stehenden „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ und den noch spät hinzugefügten „Menschenrechten“ auch nicht klar genug. Also lautet die Frage: Könnte die Würde-Klausel neben der Menschenrechtsklausel tatsächlich eine starke normative Rolle spielen?
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
2.
Zwei Begründungsstrategien der starken Menschenwürde
Angesichts der verschiedenen Stellen der Würde-Klauseln in der chinesischen Verfassung im Vergleich zum deutschen Grundgesetz sollen hier zwei Begründungsstrategien einer möglichst starken Normativität der Menschenwürde unternommen werden. Zum einen setzt man sich dort, wo die Würde-Klausel positiviert ist und auch eine starke juristische Normativität besitzt, wie z. B. in Deutschland, so ausführlich wie möglich vor allem mit der moralischen Normativität auseinander, um wiederum die juristische Normativität zu verstärken oder zu verneinen. Zum anderen soll dort, wo die Würde-Klausel positiviert ist und eine noch „schwache“ juristische Normativität zu haben scheint, wie z. B. in China, zuerst die relativ schwache juristische Normativität so explizit wie möglich anerkannt werden, damit sie dann durch die moralische Normativität verstärkt werden kann. Praktisch gibt es in der VR China keine Kompetenz und zugleich Verpflichtung der einfachen Gerichte zur verfassungskonformen Auslegung. Der Richter ist nicht dazu ermächtigt, in einem konkreten Fall die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu beurteilen. Die Auslegung der Verfassung als solcher und die Aufsicht der Durchführung der Verfassung sind aber eine Kompetenz des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses (NVK, Art. 67 Nr. 1). Die Frage, wie die Verfassung durchgeführt oder möglicherweise auch juristisch angewendet werden soll, bleibt in den theoretischen Auseinandersetzungen noch offen.121 In den letzten fünf Jahren entstanden zwei neue Tendenzen bezüglich der „Arbeit der verfassungsmäßigen Kontrolle (hexianxing shencha gongzuo)“. Zum einen geht es um die sogenannte Prozedur der Einreichung und Überprüfung der Gesetzes- und Verfassungsmäßigkeit der niedrigeren Vorschriften. Erst nach der Änderung des Gesetzes über Gesetzgebung im Jahr 2015 wurde diese Prozedur eingeführt. Dadurch ist der Ständige Ausschuss des NVK zuständig, die Überprüfungsprozedur nach Auftrag der bestimmten Staatsorgane (§ 99 I), nach Vorschlag eines Bürgers (§ 99 II) oder sogar aktiv (§ 99 III) vorzunehmen. Seit 2017 fing die von der Ständige Ausschuss des NVK zugehörigen Rechtsarbeitskommission an, einen Jahresbericht über die Einreichung und Überprüfung zu erlassen.122 Manche sehen es so, dass der Jahresbericht von 2017 und der von 2018 zu einer „flächendeckenden“ Prozedur der Einreichung und Überprüfung der niedrigeren Vorschriften beitragen können.123Außerdem ist der seit der Verfassungsänderung von 2018 neu hinzugefügte Verfassungs- und Gesetzesausschuss des NVK zu erwähnen, der auch die Arbeit der verfassungsmäßigen Kontrolle zu übertragen versprochen hat.
Vgl. Wei Feng, Methodenfrage der Rechtswissenschaft in China: Rückblick und Ausblick, in: Juristische Methodenlehre in China und Ostasien, hg. von Yuanshi Bu, Tübingen 2016, 51, 74. 122 Lei Zheng / Jiyi Zhao, An Outline of the „Full Coverage“ Filing and Review System – Review of the Second Annual Report on Filing and Review, China Law 137 (2019), 119 f. 123 Vgl. Lei Zheng / Jiyi Zhao (Fn. 122), 119–128 (Übersetzung von W. F.). 121
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Vor diesem Hintergrund ist es auch zu hoffen, dass die beiden obersten zuständigen Organe der verfassungsmäßigen Kontrolle auch die grundrechtsbewehrende Funktion entfalten und dafür die Würde-Klausel berücksichtigen. Meiner Ansicht nach ist es dann erforderlich, von zwei weiteren Aspekten auszugehen: Sowohl die schwache als auch die starke Normativität der Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ in der chinesischen Verfassung müssen erörtert werden. 3.
Die „schwache“ Normativität der Würde-Klausel
a)
Menschenwürde und Menschenbilder in der Argumentation Die objektivistischen Auslegungskriterien
Wie bereits oben erwähnt, befolgt die Rechtswissenschaft eine individualisierende und wertbeziehende Konstruktionsmethode. Dementsprechend sollen die verschiedenen, konkreten Menschenbilder immer als fiktive Konstruktionen verstanden werden; es soll uns gegenwärtig sein, dass jede Art von fiktivem Menschenbild seine Grundlage in der Verfassung und den Gesetzen haben muss, sei es, dass es um Bürger oder Bürgervereine geht, die das abwehrende Freiheits- und Gleichheitsrecht in Anspruch nehmen, oder um diejenigen, die vom Staat den positiven Schutz, die Fürsorge und die institutionelle Garantie beanspruchen. Das Menschenbild ist von Anfang an keine Tatsachenbeschreibung, sondern eine Fiktion des Rechts. Deshalb wird dem Gesetzgeber weder gefordert, den Menschen durch die experimentelle Forschung der Psychologie oder der statistischen Analysen der Soziologie darzustellen, noch hat das Organ der verfassungsmäßigen Kontrolle zu versuchen, die jeweiligen Gesetzesnormen unter das Menschenbild zu subsumieren. Aber es wird verlangt, dass sie die Pflicht für Argumentation tragen und Wertungen aufgrund des Menschenbildes vornehmen. Da das Menschenbild hier nur dem Argumentationsvorgang dient, also der Aufstellung der zu beachtenden Argumente, ermöglicht es nicht unmittelbar die Ableitung des Entscheidungsergebnisses. Mit anderen Worten: Das Menschenbild zeigt nicht immer auf eine einzig richtige Antwort und deshalb hat es nur eine „schwache Normativität“ oder, passender, eine „argumentative, prozedurale Normativität“. Dies ist der erste Gesichtspunkt des Menschenbildes für die Anwendung der Würde-Klausel. Diese argumentative Normativität spiegelt sich auch in der Methodenlehre wider. Der objektivistischen Auslegungslehre nach soll die rechtswissenschaftliche Interpretationsarbeit den objektiven Sinn des Rechts berücksichtigen.124 Dies gilt insbesondere für die Gesetzgebung und die verfassungsmäßige Kontrolle unter der Weisung
124
Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 15, 344.
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
des Menschenbildes. Im Rahmen der objektivistischen Auslegungslehre kann das Organ der verfassungsmäßigen Kontrolle zwar den Wortlaut und die Absicht der historischen Verfassungs- und Gesetzgeber nicht vollständig vernachlässigen, aber es darf sich kreativ am Vorgang der Verfassungs- und Gesetzesinterpretation beteiligen. Der sogenannte „Wille“ der Verfassungs- und Gesetzgeber müssen nicht mit dem Volkswillen im politischen Sinne als unbestreitbar gleichgesetzt werden. So zeigt Radbruch auch, dass aufgrund der Gesetzgebung selbst eine Reihe von Abstimmungsverfahren existiert. Es ist demnach schwierig, dass sich eine einheitliche Meinung von Befürwortern und Gegnern herausbildet. Der Versuch, den Willen des Gesetzgebers strikt zu beobachten, verbirgt nur den Vorgang der Interpretation.125 Die Funktion der Würde-Klausel besteht eben darin, das Menschenbild hinter der jeweiligen verfassungsrechtlichen Bestimmung zu interpretieren. Außerdem ergeben sich aus der Menschenwürde die folgenden Forderungen. Erstens: Sie erhebt die Forderung auf Begründbarkeit seitens der Ausübung der Staatsgewalt sowie der verfassungsmäßigen Kontrolle, und zwar so, dass das Menschenbild in der Verfassung – oder die Vorstellung des Verfassungsgebers – von den Menschen respektiert werden soll. Darüber hinaus sind hier die differenzierten Perspektiven des jeweiligen Subjekts zu beachten, und zwar die Selbstzurechnung aus der Perspektive der Bürger selbst (als Handelnden), die Regulierung aus der Perspektive der Legislative und der Exekutive (als Entscheidenden), und nicht zuletzt die Überprüfung aus der Perspektive der Judikative und des Organs der verfassungsmäßigen Kontrolle, z. B. des Verfassungs- und Gesetzesausschusses des NVK (als Urteilenden). b)
Menschenwürde und Grundrechte in Abwägung Prinzipien/Regeln-Modell
Darüber hinaus erhebt die Würde-Klausel auch eine Forderung auf Abwägung, sodass der Gesetzgeber und das Organ der verfassungsmäßigen Kontrolle alle möglichen Dimensionen des Menschen beachten, und damit einen schonenden Ausgleich zwischen den von der Verfassung und Gesetzen ausgestalteten vielseitigen Menschenbildern suchen. Angesichts des möglichen „Konflikts“ oder Spannungsverhältnisses zwischen den Grundrechten und den Staatszielbestimmungen und zwischen den verschiedenen Grundrechten untereinander haben der Gesetzgeber und das Organ der verfassungsmäßigen Kontrolle zwei Kriterien zu beachten: dasjenige des sogenannten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und dasjenige der Menschenwürde.126 Als Ergänzung zu den oben genannten Forderungen sollen der Gesetzgeber und das Organ der verfassungs-
125 126
Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), in: GRGA Bd. 2 (Fn. 89), § 15, 345–352 ff. Vgl. BVerfGE 35, 202 (225) – Lebach-Urteil.
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mäßigen Kontrolle nicht willkürlich die möglichen Bedürfnisse, Stellungnahmen, Weltanschauungen und Interessen im Voraus ausschließen. Sie sollen nicht im Voraus das Menschenbild in der Verfassung einschränken oder verkleinern.127 Nach Robert Alexys Prinzipientheorie des Rechts sind die Grundrechte als Prinzipien, d. h. als zu optimierende Gebote128 zu verstehen. Sie haben sowohl die Funktion der subjektiven Abwehrrechte als auch die der objektiven Wertordnungen. Deshalb ist die Anwendung der Grundrechte keine einfache logische Subsumtion, sondern eine Abwägung zwischen den gegenläufigen Prinzipien. Die Würde-Klausel und das betroffene Menschenbild können als Leitlinien für die prinzipielle Abwägung der Grundrechte-Klauseln funktionieren. Die Menschenwürde, wie man üblicherweise sagt, gehört zu den extrem starken, „absoluten“, „unwägbaren“ oder „abwägungsfesten“ Rechten.129 Dies ist aber nur eine Seite der Sache. Nach Alexy ist jedenfalls von „zwei Menschenwürde-Normen“ auszugehen, einer Menschenwürde-Regel und einem Menschenwürde-Prinzip.130 Das Menschenwürde-Prinzip könnte in einigen Rechtsordnungen extrem stark sein, niemals aber absolut.131 Der Eindruck der Absolutheit der Menschenwürde, z. B. gemäß Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes, ergibt sich aus der Absolutheit der Menschenwürde-Regel, deren Grund aber darin besteht, „dass es für das Prinzip der Menschenwürde eine umfangreiche Gruppe von Vorrangbedingungen gibt, bei denen ein sehr hohes Maß an Sicherheit darüber besteht, dass unter ihnen das Prinzip der Menschenwürde gegenläufigen Prinzipien vorgeht.“132 Also ist es so zu konstruieren: Wenn das zuständige Gericht im Einzelfall behauptet, die Menschenwürde (auf der Regelebene) sei verletzt, dann impliziert dies, dass die Menschenwürde (auf der Prinzipienebene) wie auch immer vorgehe; wenn das Gericht aber im Gegenteil feststellt, die Menschenwürde (auf der Regelebene) sei noch nicht verletzt, dann bedeutet dies nur, dass die Menschenwürde (auf der Prinzipienebene) im extremen Fall durch Abwägung gegen die gegenläufigen Prinzipien, z. B. dem der öffentlichen Sicherheit, überwunden würVgl. Brugger (Fn. 21), 65–66. Vgl. Robert Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, in: Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, hg. von B. Schilcher / P. Koller / B.-C. Funk, Wien 2000, 38 f. 129 Vgl. Hans Michael Heinig, Unabwägbarkeit der Menschenwürde und Würdekollisionen, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 51, hg. von B. Kämper / K. Pfeffer, Münster 2019, 129–159; Mathias Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, Tübingen 2019, 617–628. 130 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 4), 97; ders., Menschenwürde und Verhältnismäßigkeit (Fn. 4), 508 f. Siehe auch Tatjana Geddert-Steinacher, Das Konzept der Menschenwürde als Regel und Prinzip bei Robert Alexy, Berlin 1990, 128–129; Nils Teifke, Das Prinzip Menschenwürde Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen, Tübingen 2011, 108–127; ders., Human Dignity as an „Absolute Principle“?, ARSP Beiheft 119 (2010), 93–103; ders., Balancing Human Dignity: Human Dignity as a Principle and as a Constitutional Right, in: Human Dignity in Context, hg. von D. Grimm, A. Kemmerer und C. Möllers, Baden-Baden 2018; Martin Borowski, Absolute Rechte und Verhältnismäßigkeit, in: Menschenwürde im 21 Jahrhundert, hg. von S. Kirste / D. G. De Souza / I. W. Sarlet, Baden-Baden 2018, 90–93. 131 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 4), 97. 132 Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 4), 95. 127 128
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
de.133 Die Möglichkeit der Abwägung besteht gerade bei dieser Festlegung der Verletzung der Menschenwürde-Regel, die immer einen semantischen Spielraum erlaubt.134 In diesem Sinne ist eine solche absolute Norm wie z. B. die Menschenwürde, so bereits Alexy, „eine technische Angelegenheit“.135 Daher ist zu beachten, dass die Menschenwürde auf der Prinzipienebene nur als ein zu optimierendes Gebot berücksichtigt wird und damit abwägbar bleibt. Man könnte sagen, dass die Menschenwürde auch in diesem Sinne eine schwache, oder besser: eine prinzipielle Normativität besitzt. c)
Die grundrechtsbewehrende Wirkung der verfassungsmäßigen Kontrolle Die abwehr- und die leistungsrechtlichen Funktionen
Da dasselbe Rechtszeitalter den Charakter des Einzel- wie des sozialen Menschen, also die beiden „Paradigmen“ des individualistischen und des sozialen Rechts zugleich annehmen kann, führt dieses zweidimensionale Menschenbild auch zu der Behauptung, dass die sozialen Grundrechte im Wesentlichen dasselbe Prüfungsschema im Vergleich zu den Freiheitsrechten aufweisen, nämlich das dreistufige Schema von „Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung“.136 Einer der Gründe hierfür ist, dass es zwar Unterschiede zwischen Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten, aber auch einen entscheidenden Gemeinplatz zwischen ihnen gibt, nämlich die Menschenwürde. Es wird üblicherweise angenommen, dass die Menschenwürde die Freiheits- und Gleichheitsrechte begründet, sodass die Staatsgewalt, insbesondere die Legislative, die Pflicht von Achtung und Schutz tragen soll. Das gegenwärtige Verständnis der Menschenwürde kann jedoch das Existenzminimum und das Interesse an Resozialisierung usw. einschließen. Tatsächlich basiert die Würde des Einzelmenschen auf der abstrakten Personifizierung des Menschen, was wiederum zu dem Problem der Individualitätslosigkeit führen könnte, um das sich Radbruch Sorgen gemacht hat. Deshalb ist nicht nur die abwehrrechtliche Funktion der Freiheitsrechte gegenüber der Staatsgewalt zu
So formuliert Alexy in Allgemein: „Wenn auf der Prinzipienebene die Menschenwürde vorgeht, dann ist auf der Regelebene die Menschenwürde verletzt.“ Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 4), 96. 134 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte (Fn. 4), 96. Zur Abwägbarkeit der Menschenwürde siehe auch Karl-E. Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung, Der Staat 45 (2006), 189–214; Mattias Kumm und Alee D. Walen, Human Dignity and Proportionality: Deontic Pluralism in Balancing, in: Proportionality and the Rule of Law, hg. von G. Huscoft / B. W. Miller / G. Webber, New York 2014, 67–89. 135 Robert Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), 76–77 f.; auch in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1995, 198–199 f. 136 Vgl. Thorsten Kingreen und Ralf Poscher, Staatsrecht II: Grundrechte, 32. Aufl. Heidelberg 2016, 58–89 ff.; vgl. auch Robert Alexy, Zur Struktur der Grundrechte auf Schutz, in: Die Prinzipientheorie der Grundrechte, hg. von J.-R. Sieckmann, Baden-Baden 2007, 105–121 ff.; und ders., Jörn Ipsens Konstruktion der Grundrechte, Der Staat 52 (2013), 87–98 ff. 133
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beachten, sondern auch die Möglichkeit einer „Verdinglichung“ der Person durch die Vernachlässigung der sozialen Grundrechte. Ein Grund für das Bedenken über eine „zu dichte“ Würde des sozialen Menschen liegt darin, dass dieses Bild zu vielen Schutzpflichten von der Seite der Staatsgewalt führen sollte, um die Ansprüche der Bürger auf soziale Grundrechte zu erweitern.137 Aber Alexy wies schon darauf hin, dass sowohl die Größe der gesetzgeberischen Spielräume als auch die Intensität der Kontrolle seit jeher zur Kernfrage der Verfassungsgerichtsbarkeit gehören. Im Vergleich zu den traditionellen Freiheitsrechten sind die sozialen Grundrechte mit weiteren Zielsetzung-, Mittelauswahl- und Abwägungsspielräume verbunden.138 Es wird nicht bestritten, dass die verfassungsmäßige Kontrolle aus staatlicher Schutzpflicht auch den Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beachten sollte.139 Die Menschenwürde hat hier eine schwache, dennoch argumentative und prozedurale Normativität. Im ersten Jahresbericht der Einreichungs- und Überprüfungsprozedur der VR China von 2017 ist es zu lesen: Die lokale Verordnung für Bevölkerung und Familienplanung der Provinz Guangdong enthielt Klauseln für die Entlassung von Mitarbeitern, die mehr Kinder als das durch den staatlichen Plan Zugelassene gebären. Nach Vorschlag von vier Arbeitsrechtlern nahm dann der Ständige Ausschuss des NVK die Einreichungsund Überprüfungsprozedur vor. Bis zur Veröffentlichung des ersten Jahresberichts hatte der lokale Volkskongress der Guangdong Provinz nach dieser Aufforderung die betroffene Klausel schon aufgehoben.140 Nach dem zweiten Jahresbericht von 2018 haben alle sieben Provinzen, die ähnliche Klauseln in ihren lokalen Verordnungen hatten, Abänderungen vorgenommen.141 Trotzdem wurden ein Polizist und seine Frau, eine Mitarbeiterin an einer öffentlichen Institution, nach Veränderung der betroffenen lokalen Verordnung in der Guangdong Provinz entlassen. Eine mögliche Lösung wäre Folgendes: Im Falle der Mitarbeiterin der öffentlichen Institution besteht eine Normenkollision zwischen der veränderten lokalen Verordnung und der einstweiligen ministerialen Satzung für die Sanktionierung der Mitarbeiter der öffentlichen Institution. Dies könnte durch die Einreichungs- und Überprüfungsprozedur nach Auftrag oder Vorschlag noch einmal gelöst werden. Im Falle des Polizisten besteht andererseits eine Normenkollision zwischen der veränderten lokalen Verordnung und dem formellen Gesetz für Bevölkerung und Familienplanung, dem Gesetz für öffentlichen Dienst und dem Polizeigesetz, und sogar noch eine Normenkollision zwischen diesen Gesetzen und dem Arbeitsvertragsgesetz sowie der Verfassung. Dies darf aber nicht durch die Einreichungs- und Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, Der Staat 29 (1990), 1–31 ff. 138 Vgl. Robert Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 1–33. 139 Vgl. Robert Alexy, Zur Struktur der Grundrechte auf Schutz (Fn. 136), 105–121 ff. 140 Vgl. Lei Zheng / Jiyi Zhao (Fn. 122), 126. 141 Vgl. Lei Zheng / Jiyi Zhao (Fn. 122), 126. 137
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
Überprüfungsprozedur gelöst werden, sondern nur durch die Verfassungsinterpretation oder Aufsicht der Verfassungsdurchsetzung des Ständigen Ausschusses des NVK. Das Ergebnis ist noch offen. Hier ist aber anzumerken, dass alle Einschränkungen des Fruchtbarkeitsrechts und des Arbeitsrechts der Bürger aufgrund oder durch formelles Gesetz oder untergesetzlicher Vorschriften unter der verfassungsmäßigen Kontrolle überprüft werden sollen. Dadurch müssen sowohl die abwehrrechtliche Funktion des Fruchtbarkeitsrechts als auch die leistungsrechtliche Funktion des Arbeitsrechts die Würde-Klausel berücksichtigen. 4.
Die starke Normativität der Würde-Klausel
Hätte die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ in der Verfassung nur eine argumentative, „schwache“ Normativität, würde sie letztlich auf der Ebene rechtstheoretischer oder -philosophischer Debatte verbleiben und in dem Vorgang der verfassungsmäßigen Kontrolle nur eine sehr begrenzte Rolle spielen und damit schwerlich einen entscheidenden Einfluss haben. Was die Anwendung der Würde-Klausel angeht, wäre es vielleicht wichtig zu fragen, wie diese Verfassungsnormen mit einem starken moralischen Sinngehalt auch stark juristisch normativ sein können. Dagegen ist hier auf drei Argumente für die starke, sei es juristische oder moralische Normativität der Würde-Klausel einzugehen. a)
Das historische Argument Entstehungsgeschichte der Würde-Klausel
Die Entstehungsgeschichte der Würde-Klausel in der gegenwärtigen chinesischen Verfassung wird nicht nur vom konfuzianischen humanitären Gedanken geprägt, sondern auch durch die Vergangenheitsbewältigung der Kulturrevolution motiviert.142 Die Geschichte der Institutionalisierung der Menschenwürde in China ist gar nicht kurz. Bereits in der Präambel des ersten Entwurfs der Verfassung der Republik China im Jahr 1913 (der sogenannte Himmelstempel-Verfassungsentwurf) war die „Würde der Humanität (rendao zhi zunyan)“ zu bewahren. Danach tauchte fast dieselbe Klausel – „humanitäre Würde (rendao zunyan)“ – in der Präambel der 1923 verkündeten Verfassung der Republik China (die sogenannte Cao Kun-Verfassung) wieder auf. Darüber hinaus hat der chinesische Philosoph Peng-Chun Chang, der von Konfuzius und Menzius tief beeinflusst wurde und einst als stellvertretender Vorsitzender der MenschenIch bedanke mich bei Prof. Dayuan Han für seinen Hinweis auf den historischen Hintergrund der gegenwärtigen chinesischen Verfassung von 1982, der für das Verständnis des Verfassungsgebers von der Würde-Klausel bedeutsam sein soll. 142
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rechtskommission arbeitete, auch zur Menschenwürde-Klausel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 beigetragen.143 Erst nach dem Ende der Kulturrevolution wurden die verschiedenen Grundrechte in der gegenwärtigen Verfassung der Volksrepublik China von 1982 durch das ganze Kapitel II und andere Bestimmungen festgelegt. Der Art. 38 Satz 1 statuiert: „Die Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger (gongmin de renge zunyan) der VR China ist unverletzlich.“ Übrigens ist die chinesische Formulierung „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ dieselbe wie die offizielle chinesische Version der UN-Charta, allerdings mit dem Zusatz „der Bürger der VR China“. b)
Das systematische Argument Die Würde-Klausel in Verbindung mit der Menschenrechtsklausel
Erst seit der Verfassungsänderung aus dem Jahr 2004 sind die „Menschenrechte (renquan)“ durch Art. 33 Abs. 3 „vom Staat zu achten und zu schützen.“ Das systematische Argument besagt, dass sich das im Art. 33 Abs. 3 zum Ausdruck gebrachte Bild des Menschen schlechthin systematisch auf die oben genannten Bilder der Bürger, des Volkes und der Menschheit als Ganzen auswirkt, wobei insbesondere die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ deutlicher hervorgehoben wird. Aus der Würde-Klausel in Verbindung mit der Menschenrechtsklausel folgt dann die Würde des Menschen schlechthin, nämlich die Menschenwürde.144 Angesichts der gegenwärtigen Mängel in der Praxis der verfassungsmäßigen Kontrolle in China empfindet mancher diese Auslegungsversuche als eine Illusion.145 Dagegen weist das systematische Argument auf die wohl akzeptierte systematische Interpretation der chinesischen Verfassung hin. Zum Beispiel wird der allgemeine Gleichheitssatz im Art. 33 Abs. 2 üblicherweise als das wichtigste Grundrecht bewertet, obwohl die Gleichberechtigung von Frauen und Männern nur durch Art. 48
143
115 ff.
Vgl. Hans Ingvar Roth, P C Chang and the Universal Declaration of Human Rights, Philadelphia 2018,
Hui Wang zeigt auch die „ziemlich nahe“ Relation von Menschenrechte und Menschenwürde in der chinesischen Verfassung, und zwar dass auf der einen Seite „die Menschenrechte den Würdebegriff als ihre Grundlage benutzen“, und auf der anderen Seite „die Menschenrechte, die als konstitutionelle Prinzipien positiviert werden, auf die Menschenwürde hinweisen, die dann an der rechtlichen Geltung gewinnt und deshalb von einer Idee in eine operative Rechtsnorm transformiert.“ Vgl. Wang (Fn. 10), 762 (Übersetzung von W. F.). 145 Hier lohnt es sich zu fragen: Würde die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ als eine Einschränkung der Menschenwürde in einem allgemeinen Sinne beitragen, sodass dies schon als zivilrechtlicher Schutz für die Würde der Persönlichkeit (Art. 109 des Allgemeinen Teils des Bürgerlichen Gesetzes) oder als strafrechtliches Verbot gegen falsche Anschuldigung und Diffamierung, Beleidigung und Verleumdung (Art. 243 und 246 des Strafgesetzbuchs) fungieren könnte und eine erweiterte Auslegung damit nicht erforderlich wäre? 144
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
anerkannt wird. Wie soll man die letztere als in der Wertordnung der chinesischen Verfassung eingestuft ansehen? Es ist dann erforderlich für eine systematische Interpretation der beiden Klauseln. Ein weiteres Beispiel: Das Privateigentum wird in der chinesischen Verfassung nicht im Kapitel II über die „Grundrechte und Grundpflichten der Bürger“, sondern im Kapitel I über die „Allgemeinen Grundsätze (zonggang)“ geregelt. Diese Privateigentum-Klausel (Art. 13 Abs. 1 und 2) liegt zwischen der Klausel zum öffentlichen Eigentum (Art. 12) und der Klausel zur Enteignung und Beschlagnahme (Art. 13 Abs. 3). Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass das Privateigentum zu den Grundrechten gehört. Aus einer anderen Perspektive könnte die Ausübung des Privateigentums eingeschränkt werden und muss gegen eine Reihe von Staatszielen und Politiken abgewogen werden. Hier kann das Menschenbild einen Leitfaden für die kreative Interpretation der Organe der verfassungsmäßigen Kontrolle und der Anwender des Gesetzes bieten, um zu berücksichtigen, dass das Privateigentum nicht nur den Kern der Freiheit der Bürger ausmacht, sondern auch mit einer sozialen Verantwortung belastet ist. Diese soziale Belastung darf jedoch den oben genannten Kern der Freiheit nicht zerstören. Weiterhin steht auch die neu hinzugefügte Klausel über die „ökologische Zivilisation“ (Präambel, Abs. 7 Satz 4 und Art. 89 Ziffer 6) nicht im Grundrechtskatalog und provoziert deshalb heftige Diskussionen darüber, ob es ein „Recht auf ökologische Umwelt“ gibt. Aber wenn man Art. 9 Abs. 2 betrachtet, wonach der Staat „die rationelle Nutzung der Naturressourcen“ gewährleistet und „seltene Tiere und Pflanzen“ schützt, dann besteht schon eine eindeutige Schutzpflicht des Staats für die Umwelt und (seltene) Tiere. Ohne die ziemlich unbestimmten Begriffe der Umwelt oder des Tierrechts ist das ausreichend, um den Wert der Umwelt und der Tiere für die nachhaltige Existenz und Entwicklung anzuerkennen.146 Mit anderen Worten: Das Menschenbild der Verfassung ermöglicht die angemessene Interpretation der Staatszielbestimmungen. Die genannten Beispiele zur systematischen Auslegung spiegeln sich auch in der Normativität der Menschenwürde schlechthin, d. h. der Würde-Klausel in Verbindung mit der Menschenrechtsklausel, wider.
Man kann auch dies mit dem Art. 20a des deutschen Grundgesetzes vergleichen, welcher sagt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere […].“ 146
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c)
Das analytische Argument Der begrifflich notwendige Zusammenhang von Würde und Persönlichkeit
Das analytische Argument macht letztlich explizit, dass es einen begrifflich notwendigen Zusammenhang von Würde und Persönlichkeit gibt, sodass die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ keine beschränkte, sondern eine starke Normativität besitzt. Bei Kant wird der Begriff der Würde durch „die Menschheit in der Person der Menschen“ oder als „Persönlichkeit“ definiert. Die sogenannte Selbstzweckformel („Menschen als Selbstzweck“) verlangt von den Menschen, ihre eigene Persönlichkeit und die der anderen zu beachten. Sie verlangt weiter, dass der Mensch nicht nur als homo phaenomenon, sondern auch als homo noumenon angesehen wird. Daher sind die Persönlichkeit und die Würde begrifflich notwendig miteinander verbunden. Auch wenn Kant sich nur auf den Begriff der „(Menschen-)Würde“ bezieht, impliziert die Menschenwürde notwendig den Begriff der Persönlichkeit.147 Tatsächlich wies Radbruch unter anderem darauf hin, dass ein Begriff der Würde des Einzelmenschen möglicherweise zur Individualitätslosigkeit des Individuums führen könnte, weswegen er einen weiteren Begriff der Würde des sozialen Menschen aufstellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Begriff der Persönlichkeit in Kants Philosophie zu ersetzen wäre. Zweitens lässt sich der inhaltliche Zusammenhang zwischen dem Begriff der Würde und dem der Persönlichkeit auch aus der gegenwärtigen deutschen Verfassungstheorie und Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit ableiten. Das sogenannte allgemeine Persönlichkeitsrecht wird von dem deutschen Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) abgeleitet.148 Die Menschenwürde funktioniert nicht nur als Grundlage und Herleitung für die verschiedenen Grundrechte, sondern kann auch selbst als Grundrecht sui generis einschließlich des oben genannten allgemeinen Persönlichkeitsrechts konkretisiert werden. Wegen der Grundierung in der Menschenwürde kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht auf Schutz der Privatsphäre, auf Identität, Selbstdarstellung und informationelle Selbstbestimmung usw. umfassen. Auch in China ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht im Gesetz positiviert. Trotzdem ist der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß einer Bestimmung des chinesischen Obersten Volksgerichts (OVG) von 2007 bereits ein Klagegrund
Robert Alexy entwickelt auch eine Theorie der „Verbindung des Begriffs der Person mit dem Begriff der Menschenwürde“. Demgemäß bietet ein doppeltriadischer Personenbegriff, „der, die Autonomie einschießend, in KANTS Schriften ebenfalls zentrale Rolle spielt“, eine breitere deskriptive oder empirische Basis, um dann über die normative Seite der Menschenwürde bis zur „operativen Menschenwürdenormen“ zu erreichen. Vgl. Alexy, Menschenwürde und Verhältnismäßigkeit (Fn. 4), 504–507. 148 Vgl. BGHZ 13, 334; BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto; BVerfGE 34, 269 (281 f.) – Soraya. 147
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
im Zivilprozess. Darüber hinaus bietet die Würde-Klausel den Bewertungsleitfaden für eine Reihe von Fällen in der chinesischen Rechtsprechung, wie etwa in der Wiederaufnahme eines Verwaltungsverfahrens des OVG von 2016 („Michael Jordan gegen China Staatsverwaltung für Industrie und Handel“149). Die „Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“ liefert dabei den Bewertungsleitfaden für die Auslegung der in Art. 31 des Markengesetzes festgelegten „älteren Rechte“, welche schließlich „als der wirtschaftliche Nutzen des Persönlichkeitsrechts (einschließlich des Namensrechts gemäß Art. 99 der Allgemeinen Grundsätzen des Bürgerlichen Gesetzes und Art. 2 des Deliktshaftungsgesetzes)“ konkretisiert wird. Man darf Art. 38 Satz. 1 der chinesischen Verfassung („Würde der menschlichen Persönlichkeit der Bürger“) – auch in Verbindung mit dem Art. 33 Abs. 1 („Menschenrechte“) – nicht mit Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes („Menschenwürde“) einfach gleichzusetzen. Aber ich bin der Meinung, dass die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ nicht den Sinngehalt der Menschenwürde einschränkt, sondern die Absicht der Verfassungsgeber der VR China im Jahr 1982 widerspiegelt, die Würde von Anfang an in Verbindung mit der Persönlichkeit zu verstehen. Darüber hinaus hat diese Verwendung der in Verbindung miteinander stehenden Würde und Persönlichkeit noch weitere Folgen: Erstens, obwohl die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ erst an der Stelle von Art. 38 Satz 1 (zu spät!) erscheint, steht sie noch neben dem Art. 37 vom Freiheitsrecht der Person, sodass zwischen dem Freiheitsrecht der Person, dem Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde ein miteinander verbundenes, progressives und systematisches Verhältnis hergestellt werden kann. Zweitens kann man sogar zu behaupten, dass es in der zukünftigen Entwicklung der Arbeit der verfassungsmäßigen Kontrolle der VR China nicht unzumutbar erscheint, das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf der Ebene der chinesischen Verfassung aus Art. 38 Satz 1 herzuleiten. Alles in allem handelt es sich hier nicht um das Problem der Wortübersetzung, sondern um Interpretationsansätze. Die Klausel „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ sollte – in Verbindung mit der 2004 in die Verfassung hinzugefügten Menschenrechte-Klausel – eher als ein grundlegendes Wertprinzip in der chinesischen Verfassung betrachtet werden, das im Rahmen der Gesetzesauslegung nach dem Wortlaut ebenso anwendbar ist wie im Rahmen der historischen oder systematischen Auslegung.
Vgl. Urteil des Obersten Volksgerichtshofs vom 7. und 8.12.2016, Wiederaufnahme von Verwaltungsverfahren, Nr. 15, 26 und 27. 149
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V.
Konklusion: Menschenwürde ohne Metaphysik?
Metaphysik ist etwas, was mit dem Sein oder der Existenz zu tun hat. Gegen den metaphysischen Enthusiasmus hinsichtlich der Menschenwürde sind folgende Argumente zu formulieren: Erstens ist die Menschenwürde etwas, das mit Sollen, Werten oder Bewertungsmaßstäben zu tun hat. Deshalb kann es nicht Gegenstand der Metaphysik sein. Erst recht lässt sich, zweitens, die fundamentalistische Auffassung, wonach die Menschenwürde ein höchster Wert sei und damit stark normativ gelte, nicht metaphysisch begründen.“? Stattdessen sollte ein Begriff der „konstruktiven“ oder „rationalen“ Metaphysik bevorzugt werden, welcher besagt, dass etwas existiert, wenn es rational begründbar ist.150 Diese rationale Begründbarkeit gilt auch für die Gedanken, und zwar für das Sollen oder die Werte, z. B. die Menschenwürde. Darüber hinaus ist es nach Alexy möglich, durch die „explikativen“ und die „existenziellen“ Begründungsansätze die Autonomie, die Anerkennung der Person und die Würde zu begründen.151 Ohne Metaphysik ist diese Begründung der Menschenwürde aber nicht möglich. Zweitens: Auf Basis der rationalen Begründbarkeit oder Existenz der Menschenwürde könnte immer noch nach ihrer Normativität gefragt werden. Mit anderen Worten: Wie kann die Normativität aus der Existenz entspringen? Wie ergibt sich ein Sollen aus einem Sein? Denn ein naturalistischer Fehlschluss ist auf jeden Fall zu vermeiden.152 Diese Frage nach der Relation zwischen der Normativität der Menschenwürde und der Metaphysik kann wie folgt umformuliert werden: Warum soll der Mensch als vernünftiges Wesen oder Persönlichkeit respektiert und nicht gedemütigt werden?153 Es sei an Kants Argument erinnert, welches besagt, der Mensch ist zwar vernünftig, aber doch unvollkommen; aus diesem Grund bedarf der Mensch der Nötigung und des Imperativs,154 sonst gäbe es bei uns Menschen keine Unterscheidung von Sein und Sollen. Wenn diese Nötigung für den Menschen von innen her entsteht und sich gegen ihn selbst richtet, dann steht der Mensch im Selbstverhältnis155 und als Selbstzweck da. Darüber hinaus hat Radbruch mit seinem sozialen Rechtsgedanken doch den Per-
Vgl. Robert Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), 15, 17, 23 f. Siehe auch Kumm/Walen (Fn. 4), 70, 75 151 Vgl. Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik? (Fn. 150), 19–21; siehe auch ders., The Existence of Human Rights, ARSP Beiheft 136 (2013), 15–18. 152 Vgl. Neumann, Die Tyrannei der Würde (Fn. 4), 153–166. Gegen die naturalistische Begründung – insbesondere den sozial-biologischen und den intuitiven Begründungsansatz – der Menschenrechte siehe auch Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik? (Fn. 150), 17, 23; und ders., The Existence of Human Rights (Fn. 151), 13 f. 153 Vgl. Alexy, The Existence of Human Rights (Fn. 151), 13. 154 Vgl. Kant, GMS, AA IV (Fn. 7), 413. 155 Vgl. Henrich, Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, in: ders., Selbstverhältnisse (Fn. 60), 109– 130. 150
Menschenwürde, Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Kontrolle
sonbegriff der Gleichheit nicht aufgegeben; in seiner „Verleugnungsformel“ hat er die Menschenwürde sogar als Kriterium für die Natur des Rechts angeführt. Letztens, wie im letzten Abschnitt (IV) ausgeführt wird, hängt die starke Normativität der Menschenwürde, sei es juristisch oder moralisch, von zumindest drei Argumenten ab, und zwar dem historischen, dem systematischen und dem analytischen. Dadurch wird insbesondere der notwendige Zusammenhang des Begriffs der Menschenwürde mit dem der Persönlichkeit deutlich. Der Begriff der Persönlichkeit selbst ist aber wiederum ohne die rationale Metaphysik nicht begründbar. Daher erfordert zumindest die Menschenwürde mit starker Normativität eine metaphysische Begründung. PD Dr. Wei Feng
China Universität für Politik- und Rechtswissenschaft, Xitucheng Str. 25, 100088 Beijing, VR China / Lehrender Post-Doc-Forscher an der Renmin Universität China, Zhongguancun Srt. 59, 100872 Beijing, VR China / Doktorand an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Kiellinie 5, 24105 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Die Sackgassen des Humiliationismus in Metaphysik oder Positivismus PHILIPP GISBERTZ-ASTOLFI (Göttingen)
Abstract: A common approach to human dignity is to define it by paradigmatic cases of its viola-
tions. These violations are often called humiliations; hence, theories of this sort can be called humiliationism. Humiliationists claim that their theory can avoid metaphysical justifications of human dignity. In this article, I show that humiliationism fails in this regard. Humiliationists must implicitly take recourse to those metaphysical preconditions that they tried to evade. If they do not, their theories must unconvincingly reduce human dignity to a contingent positive norm or social practice. But these findings must not lead to dignity scepticism. Instead we should distinguish justifiable from unjustifiable metaphysical arguments. The method of defining human dignity by its paradigmatic cases helps to identify and understand human dignity, but it cannot replace its philosophical (and sometimes cautiously metaphysical) justification. Keywords: human dignity, humiliationism, humiliation, metaphysics, positivism, Margalit
Klassischerweise werden die Menschenwürde und das Gebot ihrer Achtung und ihres Schutzes über spezifische menschliche Eigenschaften wie die moralische Autonomie, die Selbstbestimmung über die eigenen Belange, die Handlungsfähigkeit oder die Vernunft begründet.1 Diese Idee scheint prima facie auch plausibel: Wenn alle Menschen einen besonderen moralischen Status oder Wert teilen, so liegt es nahe, dass dies aufgrund einer spezifisch menschlichen Eigenschaft so ist. Doch Begründungen dieser
Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa Theologica, in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, 1933 ff., Bd. 7, I, 93, 4; Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 436; Alan Gewirth, Human Dignity as the Basis of Rights, in: Meyer; Parent, The Constitution of Rights, 1992, 10 ff.; neuerdings Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, 2016, 54 ff.; Marcus Düwell, Human Dignity and the Ethics and Regulation of Technology, in: Roger Brownsword, Eloise Scotford, and Karen Yeung (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law, Regulation and Technology; Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 3. Aufl. 2012, insb. 267 ff. 1
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Art bringen argumentative und methodische Schwierigkeiten mit sich, aufgrund derer diese vielfach kritisiert werden. Einer der Einwände, der etwa von Ulfrid Neumann2 vorgebracht wird, lautet wie folgt: Es gibt keine tatsächliche Eigenschaft, die alle Menschen teilen. Jedenfalls einige menschliche Individuen sind gerade nicht moralisch autonom, vernunftbegabt oder fähig zur Selbstbestimmung über die eigenen Belange, ja nicht einmal Akteurinnen3. Das gilt etwa für Kleinstkinder, geistig schwerstbehinderte oder schwer demenzkranke Personen und umso mehr für ungeborenes menschliches Leben. Eigenschaftsbegründungen der Menschenwürde seien daher entweder nicht plausibel, weil sie gerade einige der verletzlichsten Menschen entgegen unseren moralischen Intuitionen und Überzeugungen aus dem Schutzbereich der Menschenwürde exkludierten, oder sie seien methodisch problematisch, da sie eine empirisch nicht fundierte Übertragung auf alle Mitglieder der Spezies Mensch vornähmen. Eine solche substanzontologische Argumentation, die auf das Wesen des Menschen rekurriere, sei unzulässig metaphysisch und lasse sich nicht rechtfertigen. Eigenschaftsbegründungen der Menschenwürde seien also entweder unplausibel exklusiv oder unhaltbar metaphysisch.4 Der häufig angebotene Ausweg aus diesem Begründungsproblem wird in einer Umkehr der argumentativen Struktur gesehen: Anstatt eine abstrakte Eigenschaft zu bestimmen, deren Schutz mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde korreliere, sei es vorzugswürdig und der menschlichen moralischen Erfahrung näher, Fälle der Verletzung der Menschenwürde ausfindig zu machen, um die Norm des Schutzes und der Achtung der Menschenwürde auf der Basis dieser paradigmatischen Verletzungen begreifbar zu machen.5 Hierfür werde zwar notwendigerweise auf einen in unserer Praxis vorhandenen vorausgesetzten Begriff der Menschenwürde Bezug genommen, dessen Inhalte würden jedoch erst aus dem Interesse hergeleitet, nicht auf spezifische Weisen behandelt zu werden. Im Sinne der analytischen Sprachphilosophie, genauer Ulfrid Neumann, Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse, ARSP 2017, 290 f. 3 Es ist nicht einfach, sprachliche Ausdrucksformen zu verwenden, die weder die Idee der Geschlechtsneutralität ignorieren noch den Lesefluss stören. Im Folgenden wird versucht, dieser Schwierigkeit Rechnung zu tragen, indem nicht bloß ein „generisches“ Maskulinum verwendet wird, sondern Personenbezeichnungen im Plural etwa ebenso häufig weiblich wie männlich formuliert werden. In beiden Fällen wird regelmäßig eine generische Lesart gefordert sein, die das jeweils andere Geschlecht sowie Personen, die diesen Geschlechtern nicht zugehören, einbezieht. 4 Neumann schlussfolgert allerdings nicht, dass Eigenschaftsbegründungen keine Relevanz hätten. Sie könnten sehr wohl im Rahmen einer normativen Begründung verwendet werden, allerdings nicht als Ausgangspunkt oder als Wesensbehauptung der Würde des Menschen, vgl. Ulfrid Neumann, Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse, ARSP 2017, 290. 5 So etwa Ralf Stoecker, Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde – und wie sie sich vielleicht lösen lassen, Information Philosophie 2011, 8 ff.; Tatjana Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, ZRPh 6 (2008), 41 ff.; Ulfrid Neumann aaO; ders., Die Tyrannei der Würde, ARSP 84 (1998), 157 ff.; Peter Schaber, Menschenwürde als Recht, nicht gedemütigt zu werden, in: Ralf Stoecker, Menschenwürde, 2003, 119 ff. 2
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der Ordinary Language Philosophy, lässt sich diese Methodik auch folgendermaßen erklären: Eine abstrakte Analyse eines Begriffes wie Menschenwürde muss schon deshalb fehlschlagen, weil Begriffe ihre Bedeutung erst innerhalb eines Sprachspiels und als Bestandteil von Urteilen erhalten.6 Das Sprachspiel der Menschenwürde ist nun aber nicht eine philosophisch abstrakte Ethik, sondern die alltägliche Erfahrung von Würdeverletzungen. Diese Würdeverletzungen lassen sich nach Auffassung vieler Philosophinnen unter dem Begriff der Demütigung zusammenfassen. Menschenwürdeverletzungen seien also Demütigungen. Christoph Horn bezeichnet die Theoriegruppe, welche die Menschenwürde auf diese Weise definiert, als Humiliationismus.7 Man könnte sie auch Demütigungstheorien nennen. Der Humiliationismus weist, wie Horn kritisiert, allerdings seinerseits auch Probleme auf. Eines dieser Probleme liegt schon in der Erklärung eines vagen Begriffes, nämlich der Menschenwürde, durch einen nicht weniger vagen Begriff, nämlich den Begriff der Demütigung.8 Der Humiliationismus muss also ausgehend von den Verletzungshandlungen den Begriff der Demütigung präziser fassen, um den Anspruch zu erheben, einen wertvollen Beitrag zur Debatte über die Menschenwürde zu leisten. In diesem Aufsatz möchte ich aufzeigen, dass der Humiliationismus genau diese Präzisierung nicht leisten kann, ohne sich entweder dem Vorwurf einer Reduktion der Menschenwürde auf eine kontingente positivrechtliche Norm oder Zuschreibungspraxis oder dem Vorwurf eines impliziten Rückgriffs auf genau diejenigen metaphysischen Voraussetzungen auszusetzen, die am Ausgangspunkt seiner eigenen Begründung und Rechtfertigung stehen. Mein Argument gliedert sich dabei in drei Teile: Zunächst werde ich anhand einer ausgewählten und repräsentativen humiliationistischen Theorie implizite Bezugnahmen des Humiliationismus auf spezifisch menschliche Eigenschaften aufzeigen. Anschließend werde ich mögliche Wege diskutieren, mittels derer der Humiliationismus diesem Vorwurf begegnen kann. Diese Wege führen jedoch entweder in andere und meiner Meinung nach schwerwiegendere Probleme als der Vorwurf einer vermeintlich unhaltbaren metaphysischen Grundlage, namentlich zur Reduktion der Begründung der Menschenwürde auf eine kontingente Zuschreibung, oder sie akzeptieren auf die eine oder andere Art ebenjene moralphilosophische Auszeichnung der menschlichen Spezies, die sie zu überwinden suchen. Schließlich werde ich versuchen, diese moralphilosophische Auszeichnung zu rechtfertigen und den Vorwurf der Metaphysik zu relativieren, indem ich zwischen problematischer metaphysischer Substanzontologie und zulässigen, ja sogar gebotenen metaphysischen Argumentationen unterscheide. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 2003, §§ 7, 43, 65 ff. Christoph Horn, Lässt sich Menschenwürde in Begriffen von Selbstachtung und Demütigung verstehen?, in: Falk Bornmüller; Thomas Hoffmann; Arndt Pollmann, Menschenrechte und Demokratie, 2013, 103 ff. 8 So auch Paul Tiedemann, Demütigung – Beschämung – Menschenwürde, ZRPh 2013, 117 ff., 127 6 7
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Margalits Theorie der anständigen Gesellschaft als Beispielfall
Um die impliziten Bezugnahmen bzw. das implizite Voraussetzen von würdebegründenden Eigenschaften aufzuzeigen, werde ich mich beispielhaft auf eine humiliationistische Theorie beziehen. Diese Beschränkung scheint im Rahmen eines Aufsatzes geboten. Sie lässt sich auch rechtfertigen, weil die analysierte Theorie nicht willkürlich bestimmt wird, sondern die wohl wirkungsmächtigste und verbreitetste humiliationistische Theorie gewählt wird, nämlich diejenige Margalits. Eigentlich stellt Margalit in seinem Buch The Decent Society keine Theorie der Menschenwürde, sondern der gesellschaftlichen Anständigkeit bzw. Achtbarkeit (decency) auf. Die Leitfrage ist, wie eine Gesellschaft bzw. ihre Institutionen beschaffen sein müssen, wie sie die Mitglieder dieser Gesellschaft behandeln müssen, um als anständig bzw. achtbar gelten zu können. Eine solche achtbare Gesellschaft sei nicht vollständig gerecht (und könne daher auch ohne das Ideal der gerechten Gesellschaft verwirklicht werden), erfülle aber doch zentrale normative Forderungen, die notwendig seien, um sie wenigstens als „anständig“ („decent“) bezeichnen zu können.9 Anständig sei eine Gesellschaft, „wenn ihre Institutionen den Menschen, die ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten“ („… if its institutions do not act in ways that give the people under their authority sound reasons to consider themselves humiliated“).10 Margalits Kernthese deckt sich also mit der des Humiliationismus, ja Margalit ist wohl dessen erster Vertreter. Wie oben erwähnt, bedarf der vage Begriff der Demütigung allerdings näherer Erklärung. Margalit unterscheidet hierfür die (Selbst-) Achtung (self-respect bzw respect) und das Selbstwertgefühl bzw. die Wertschätzung (self-esteem bzw esteem). Dieses bezeichne die Wertschätzung des Charakters und der Leistungen eines Menschen und beruhe auf kontingenten, graduierbaren und ungleich verteilten Eigenschaften. Der Stolz auf die eigene moralische Integrität oder auf berufliche Erfolge gehört also etwa zum Selbstwertgefühl. Werde das Selbstwertgefühl bzw. die mit ihm verbundene soziale Ehre verletzt, so spreche man von einer Kränkung (insult). Demgegenüber sei die (Selbst-)Achtung nicht an den Charakter oder die Leistungen eines Menschen, sondern an seine Zugehörigkeit zur Gattung Mensch gebunden. Sie bezeichne die Achtung, die jedem Menschen qua Mensch- bzw. PersonSein gebühre. Insofern sei ihr Gebot nicht kontingent. Es ist nun genau die Verletzung dieser Selbstachtung, die Margalit als Demütigung (humiliation) begreift. Diese stelle eine Verletzung des Gefühls eines intrinsischen Werts („sense of intrinsic value“) dar.11
Avishai Margalit, The Decent Society, 2, 148 f., 271 ff. Margalit, aaO, 10 f.; Übersetzung nach ders., Politik der Würde, 2012, 22 Margalit, The Decent Society, 44 ff., 119 ff., Zitat: 119; Übersetzungen der Terminologie und des Zitates nach ders., Politik der Würde, 2012, 55 ff., 125 ff. 9 10 11
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Der Begriff der Menschenwürde erscheint in diesem Zusammenhang nur an einer eher unwichtigen Stelle im Argument. Menschenwürde, so Margalit, beschreibe aus dem Blickwinkel der Betroffenen jene nicht-kontingente und nicht-soziale Form der Ehre, die aus dem Blickwinkel der Handelnden Achtung abnötige. Würde sei der „äußere Aspekt der Selbstachtung“ („external aspect of self-respect“) im Sinne der „Summe aller Verhaltensweisen, die bezeugen, daß ein Mensch sich selbst tatsächlich achtet“ („the behavioral tendencies that attest to the fact that one’s attitude toward oneself is an attitude of self-respect“)12. Für die Debatte zur Menschenwürde hat diese Definition kaum eine Rolle gespielt. Vielmehr beziehen sich humiliationistische Theorien der Menschenwürde in aller Regel unmittelbar auf die Selbstachtung und deren Verletzung, also die Demütigung. Das scheint sinnvoll, da einerseits der argumentative Gehalt von Margalits Theorie in der Selbstachtung und im Verbot der Demütigung liegt und andererseits die Erörterung der Menschenwürde aus ihren Verletzungen so überzeugender erfolgen kann. In Bezug auf die Demütigung stellt sich nun die Frage, was den zitierten intrinsischen Wert begründen könnte. Margalit bietet hierfür drei unterschiedliche Argumentationsstrategien an, nämlich eine eigenschaftsbasierte über die radikale menschliche Freiheit13, eine skeptische, die statt auf eine Eigenschaft auf die menschliche Praxis rekurriert14, und schließlich eine negative, die Margalit offenbar präferiert und die weder auf eine Eigenschaft noch auf die Praxis verweisen soll15. Vielmehr gehe sie von der schlichten Annahme aus, dass Grausamkeit moralisch verwerflich und Demütigung psychische Grausamkeit sei. Der Mensch besitze die Fähigkeit zu symbolischem Denken und könne daher von anderen Menschen seelisch grausam behandelt werden.16 Eine solche Behandlung stelle sich für die Betroffenen als „Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft“ („rejection from humanity“)17 dar. Fassen wir also Margalits Position und negative Begründung zusammen: Institutionen sind anständig, wenn sie keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten. Demütigungen sind wiederum Verletzungen der (Selbst-)Achtung als derjenigen Achtung, die jedem Menschen qua Person-Sein gebührt. Hierbei wird unser Gefühl eines intrinsischen Wertes verletzt, was aufgrund unserer Fähigkeit zu symbolischem Denken als psychische Grausamkeit empfunden werden kann.
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Beide Zitate in Margalit, The Decent Society, 1998, 51; Übersetzung nach ders., Politik der Würde, 61 Margalit, The Decent Society, 1998, 57 ff. Margalit, aaO, 1998, 76 ff. Margalit, aaO, 1998, 89 ff. Margalit, aaO, 84 ff. Margalit, aaO, 135; Übersetzung nach Übersetzung nach ders. Politik der Würde, 140
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Ich möchte insbesondere drei Elemente dieser Theorie hervorheben, die keineswegs ohne eine recht weitreichende, unter dem Verdacht einer impliziten Substanzontologie stehende Idee des Menschen auskommen: Das ist erstens die Bezugnahme auf die Fähigkeit zu symbolischem Denken, zweitens der Verweis auf einen Achtungsanspruch qua Mensch- bzw. Person-Seins und drittens die Voraussetzung vernünftiger Gründe des Sich-gedemütigt-Fühlens. Das Interesse, nicht gedemütigt zu werden, setzt in der Tat voraus, dass man einer Handlung symbolischen Charakter zusprechen kann.18 Erst hierdurch kann die Einzelne aus einer Einzelhandlung ein allgemeines Urteil über den Wert oder Unwert ihrer Person ableiten. Wie Margalit richtigerweise feststellt, können eben nur Menschen psychisch grausam behandelt werden, weil sie eine geteilte symbolische Praxis haben, die ihnen den Transfer vom Einzelfall auf ein allgemeines Urteil ermöglicht. Eine Demütigung eines Tieres, mit dem man keine symbolische Ebene teilt, scheint daher ebenso ausgeschlossen wie eine Demütigung durch ein solches Tier.19 Es ist allerdings verwunderlich, dass Margalit diese Fähigkeit im Rahmen einer angeblich negativen Begründung anführt, die auf Eigenschaftsbegründungen gerade verzichten will. Für diese Eigenschaft gilt schließlich das gleiche wie für die moralische Autonomie, die Selbstbestimmung über die eigenen Belange oder die Vernunft: Nicht jeder Mensch ist zu symbolischer Kommunikation und Interpretation fähig. Nicht alle Menschen können also in diesem Sinne gedemütigt werden. Vielmehr unterstellt Margalit hier eine der klassischen positiven Eigenschaftsbestimmungen des Menschen, nämlich die Beschreibung des Menschen als „animal symbolicum“ bei Ernst Cassirer.20 Zweitens leitet Margalit aus dieser Eigenschaft eine Bestimmung des menschlichen Sinns oder Gefühls eines intrinsischen Wertes qua Mensch-Sein her. Dass nicht alle Menschen dieses Gefühl bzw. diesen Sinn besitzen, scheint in Anbetracht des zur symbolischen Kommunikation Gesagten offenkundig. Aber auch der Verweis auf einen Wert, den die Einzelne schon allein aufgrund ihres Mensch-Seins besitzt oder jedenfalls annimmt, ist außerordentlich voraussetzungsreich. Hier findet sich erneut der Gedanke einer alle Menschen verbindenden und alle anderen Wesen ausschließenden Wertbestimmung. Diese könnte natürlich ohne substanzontologische Annahmen, allein durch das empirisch nachweisliche Gefühl dieses Wertes dargelegt werden. Da jedoch offenkundig nicht alle Menschen dieses Gefühl haben, es sich also empirisch gerade nicht bei allen Würdeträgerinnen findet, verfängt auch hier der Metaphysikeinwand, den viele Humiliationisten anderen Theoretikerinnen vorwerfen.
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Vgl. Philipp Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, 2018, Fn. 330. Vgl. Philipp Gisbertz, Würde des Menschen – Würde des Tiers?, HFR 2011, S. 148 ff., 169. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 2007, 51.
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Schließlich ist vor dem Hintergrund der Kritik an eigenschaftsbasierten Theorien auch der Verweis darauf nicht verständlich, dass für Demütigungen nicht das bloße Gefühl des Gedemütigt-Seins ausreiche, sondern dass eine Institution vernünftige Gründe (sound reasons) geben müsse, sich gedemütigt zu fühlen. Margalit ergänzt diese Voraussetzung, um dem Vorwurf einer allzu starken Kontingenz zu entgehen. Christoph Horn kritisiert beispielsweise am Humiliationismus genau diese Tendenz, persönliche Empfindlichkeiten (und Überempfindlichkeiten) als Maßstab für Menschenwürdeverletzungen anzunehmen.21 Margalit trifft dieser Einwand jedoch nicht. Ebenso wie andere wenig reduktionistische Demütigungstheoretiker wie etwa NidaRümelin22 setzt er explizit vernünftige Gründe voraus.23 Gedemütigt wird also nur, wer gute Gründe dafür hat, sich gedemütigt zu fühlen. Man könnte in einem ersten Impuls geneigt sein anzunehmen, dass sich so die Schwierigkeit lösen ließe, dass nicht alle Menschen die Fähigkeit besitzen, sich gedemütigt zu fühlen, weil sie nur Gründe für dieses Gefühl brauchen. Allerdings verschärft die Voraussetzung der vernünftigen Gründe das Problem bei genauerem Hinsehen vielmehr.24 Erstens kann jemand, der die Fähigkeit, sich gedemütigt zu fühlen, nicht besitzt, auch keine vernünftigen Gründe haben, sich als gedemütigt anzusehen.25 Schließlich scheitern diese Gründe ja stets an der Voraussetzung, dass sie ihn faktisch nicht demütigen können. Zweitens und zentraler ist die Fähigkeit zur Abwägung bzw. zum Besitzen vernünftiger Gründe keineswegs weniger anspruchsvoll als andere Eigenschaften, mit denen die Menschenwürde begründet wird. Nicht alle Menschen sind in der Lage, Gründe, geschweige denn deren Vernünftigkeit, zu erkennen, zu besitzen, abzuwägen etc. Kleine Kinder oder geistig schwerstbehinderte Menschen etwa sind hierzu nicht in höherem Maße in der Lage als zu moralischer Autonomie oder der Selbstbestimmung über die eigenen Belange. Wenn man Margalit verteidigen will – und es dürfte zur guten wissenschaftlichen Praxis gehören, seine Diskussionspartner so wohlwollend und überzeugend wie möglich zu interpretieren –, so könnte man versuchen, diese Aussage im Rahmen einer objektivistischen Theorie der Gründe26 nicht so zu verstehen, dass Menschen diese Gründe tatsächlich erkennen müssen, sondern lediglich, dass die Fakten bzw. die Situation rationale Gründe bieten, sich als gedemütigt ansehen zu können. Diese Gründe müssen dann nicht tatsächlich im Subjekt, sondern als objektive Vernunftgründe vor-
Horn, aaO, 113 f. Julian Nida-Rümelin, Warum Menschenwürde auf Freiheit beruht, in: ders., Über menschliche Freiheit, 2005 23 Margalit, aaO, 9 24 Nida-Rümelin, aaO, 150 f. vertritt genau deshalb einen partiellen Menschenwürdebegriff, der eben nicht alle Menschen einschließt. 25 In diesem Sinne auch Paul Tiedemann, Demütigung – Beschämung – Menschenwürde, ZRPh 2013, 117 ff., 121 f. 26 Vgl. etwa Derek Parfit, On What Matters, Kap. 2, insb. 45 21 22
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liegen. Allerdings ist auch hierfür eine notwendige Bedingung, dass sich diese Gründe an Wesen richten, die grundsätzlich in der Lage dazu sind, Gründe abzuwägen bzw. auf Basis von Gründen zu handeln. Nicht alle Menschen können das. Wenn man aber selbst diese Fähigkeit nicht voraussetzt, so wäre Margalits Aussage, dass man nichtmenschliche Tiere nicht demütigen kann, ebenso falsch wie ihr Pendant für Kleinstkinder oder geistig schwerstbehinderte Menschen. Wir können also festhalten, dass Margalits Theorie in mehrfacher Hinsicht nicht in geringerem Maße universelle menschliche Eigenschaften voraussetzt als viele Eigenschaftsbegründungen der Menschenwürde. Das Gleiche lässt sich auch von anderen humiliationistischen Positionen sagen. Es wäre ja in der Tat auch verwunderlich, wenn man eine Gruppe an Verletzungen eines präsupponierten Anspruchs identifizieren könnte, die nach keiner weiteren Begründung dieses Anspruchs verlangte. Implizit verweist die Methode des Begreifens der Menschenwürde über ihre Verletzungen eben doch auf eine oder mehrere Eigenschaften des Menschen, welche die verletzten Interessen konstituieren. Die Methode verliert dadurch nun keinesfalls ihren Wert. Dieser Wert ist aber epistemischer und nicht normativer oder gar ontologischer Art. Die Menschenwürdeverletzungen konstituieren weder die Menschenwürde noch das Gebot ihrer Achtung, sondern helfen uns über paradigmatische Fälle zu erkennen, welche Interessen und Eigenschaften eine plausible Definition der Menschenwürde tragen können – und welche nicht. Das ist ein zentraler Bestandteil der Erkenntnis interpretativer Begriffe und d. h. vor allem von Wertbegriffen im weiteren Sinne.27 Die Sackgasse des Positivismus
Doch kommen wir noch einmal zu unserem Vorsatz zurück, die Position unserer Diskussionspartner so überzeugend wie möglich zu interpretieren. Was kann die Humiliationistin auf die vorgebrachte Kritik antworten? Gibt es nicht doch noch einen Ausweg aus der selbstgestellten Metaphysikfalle? Eine Argumentationslinie zugunsten des Humiliationismus liegt jedenfalls noch nahe und wird vertreten. Sie findet sich auch schon bei Margalit, und zwar in seiner skeptischen Begründung des Demütigungsverbots: Die gegenseitige Achtung sei allein aus der menschlichen Praxis abzuleiten und fordere, Menschen als Menschen zu behandeln, d. h., dass man andere Menschen nicht behandeln solle, als ob sie Tiere, Untermenschen, Maschinen, Objekte oder andere nicht vollends menschliche Entitäten wären.28 Allgemeiner gefasst können wir sagen, dass die vorgebrachte Kritik den
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Ronald Dworkin, Justice for Hedgehogs, 2011, Kap. 8 Avishai Margalit, aaO, 76 ff., 89 ff., 144
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Humiliationisten nicht notwendigerweise auf eine metaphysische Eigenschaftsbegründung zurückwirft, sondern sich auch mithilfe eines Arguments einer Zuschreibungspraxis zurückweisen lässt.29 Die Universalisierung des Schutzes des Interesses der meisten Menschen, respektvoll behandelt zu werden, erfolgt dann nicht durch die Behauptung einer ontologischen Substanz des Menschen bzw. der menschlichen Spezies, sondern durch die Zuschreibung dieses Anspruchs an alle Menschen, also auch an diejenigen, die Missachtungen gar nicht als solche wahrnehmen können. Margalit selbst äußert jedoch Zweifel im Hinblick auf die Überzeugungskraft einer solchen Argumentation. Die skeptische Position könne schwerlich die Verwerflichkeit einer Ab- und Ausgrenzungspraxis begründen, in der eine solche universelle Zuschreibung nicht erfolgt.30 Sie sei letztlich auf die bloße Kontingenz der Zuschreibung zurückgeworfen. Dann würde die humiliationistische Position in der Tat auf eine positivistische Reduktion auf die Anerkennungspraxis hinauslaufen, die sich nicht mehr von reinen Kommunikations- und Anerkennungstheorien31 unterscheiden ließe. Das scheint nicht der Anspruch vieler humiliationistischen Theoretikerinnen zu sein. Vielmehr scheinen diese sehr wohl eine nicht vollständig kontingente, sondern moralisch gut begründete Interpretation der Menschenwürde anbieten zu wollen.32 Sie müssten dann wenigstens argumentieren, dass die universelle Zuschreibungspraxis auf moralisch überzeugenden Gründen basiert, dass sie also der Alternative, nämlich eines Ausschlusses einiger Menschen von der Zuschreibung, vorzuziehen sei. Neumann, der eine solche Position vertritt, schreibt hierzu, dass die Zuschreibung auf guten normativen Gründen beruhe, insofern Menschen ein universalisierbares Interesse an achtungsvoller Behandlung hätten.33 Es ist allerdings nicht ersichtlich, wie ein Argument aussehen könnte, das eine solche Zuschreibungspraxis für humiliationistische Positionen erklärt, für eigenschaftsbasierte jedoch nicht. Schließlich ist dieses Interesse nur für diejenigen Menschen universalisierbar, die eine missachtende Behandlung überhaupt als eine solche erkennen können bzw. die ein Interesse daran haben, nicht missachtend behandelt zu werden. Für alle anderen Menschen handelt es sich um eine bloße Setzung einer faktischen Zuschreibung. Diese kann aber für alle Eigenschaftsbegründungen der Menschenwürde genauso gut oder schlecht vorgenommen werden. Der Humiliationismus kollabiert also, wenn er kein reiner Positivismus sein will, in eine implizite Eigenschaftsbegründung. Er kann ebenso gut wie alle anderen EigenSo auch Neumann, aaO, 302 Margalit, aaO, 80 ff. Vgl. Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 80 ff.; Philipp Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, 103 ff. 32 Zur Diskussion über die Kontingenz der Menschenwürde, in der durchaus auch solche reduktiven Anerkennungsideen vertreten werden, vgl. die Beiträge in: Eva Weber-Guskar / Mario Brandhorst (Hrsg.), Menschenwürde Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, 2017. 33 Neumann, aaO, 299 29 30 31
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schaftsbegründungen Argumente für eine Zuschreibungspraxis oder Übertragung der Menschenwürde auf jene Menschen anführen, welche die würdebegründenden Eigenschaften bzw. die Fähigkeit des Sich-gedemütigt-Fühlens nicht aufweisen. Zulässige metaphysische Argumentionsarten
Diese Argumente sind allerdings keinesfalls immer so problematisch, wie einige humiliationistische Theoretiker behaupten. Das gilt aus zweierlei Gründen: Einerseits sind gar nicht alle Argumente metaphysisch in einem anspruchsvollen Sinne. Zweitens sind metaphysische Argumente nicht per se unwissenschaftlich und problematisch. Es gibt zahlreiche metaphysische Argumentationen, die nicht qua Metaphysik abzulehnen sind. Für das erste Argument bedürfte es im Prinzip einer genaueren Bestimmung des Begriffs der Metaphysik. Einen solchen werde ich im Folgenden allerdings nicht entwickeln. Für den Zweck dieses Aufsatzes genügt es vielmehr aufgrund des zweiten Arguments zur Relativierung des Metaphysikvorwurfs einige Fälle zulässiger Universalisierungen aufzuzeigen, ganz gleich ob metaphysischer oder nicht-metaphysischer Natur. Eine überzeugende Universalisierungsstrategie findet sich zum Beispiel bei Nussbaum34, obgleich diese die Menschenwürde nicht über eine Eigenschaft begründet. Ihr Argument sieht folgendermaßen aus: Man stelle sich den Einwand vor, einige Menschen seien aufgrund von Behinderungen in Bezug auf ihre kognitiven Eigenschaften nicht von einigen nicht-menschlichen Tieren zu unterscheiden. Selbst wenn wir das einmal annehmen, so gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen einem hochentwickelten nicht-menschlichen Tier, sagen wir einem Bonobo, und einem geistig schwerstbehinderten Menschen oder einem Baby: Der Bonobo kann ein gutes Leben unter seines gleichen führen. Einem Menschen, der in Bezug auf seine kognitiven Fähigkeiten mit Bonobos vergleichbar ist, steht diese Möglichkeit nicht offen. Er kann kein gutes Leben unter Bonobos führen, sondern er lebt als Mensch mit und unter Menschen. Für ihn stellt sich daher eine gänzlich andere normative Frage, nämlich wie er in dieser Gemeinschaft behandelt wird, als gleich oder als defizitär. Dementsprechend ist es nur schlüssig, unsere Normen der gegenseitigen Achtung eher auf Menschen als auf nicht-menschliche Tiere zu übertragen – was die moralische Begründung von Tierrechten natürlich nicht ausschließt. Diese Übertragung kann für Eigenschaftsbegründungen ebenso gut erfolgen wie für andere Begründungen der Menschenwürde. Eine andere Universalisierungsstrategie setzt an der auch im Humiliationismus vorausgesetzten menschlichen Fähigkeit zur symbolischen Interpretation und Kommunikation an. Es stellt symbolisch etwas grundlegend anderes dar, ob ich einen Menschen,
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Nussbaum, Frontiers of Justice, 2007, 192
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der mir und allen Trägerinnen der Menschenwürde qua Eigenschaft gleicht, oder ein nicht-menschliches Tier vor mir habe. Zwar mag es moralisch auch falsch sein, ein Tier ohne symbolische Achtung zu behandeln, aber für andere Menschen gilt dies umso mehr. Unsere moralische Praxis kann, obgleich in allen ihren Urteilen wohlbegründet und kohärent, unter symbolischen Gesichtspunkten inkohärent werden: Wer in seinem Handeln symbolisch eine Abstufung zwischen Menschen zum Ausdruck bringt, bringt sich in einen symbolischen Widerspruch zum Grundsatz der Achtung – obwohl dieser Grundsatz sich seiner Begründung nach möglicherweise nicht auf alle Menschen in gleichem Maße bezieht.35 Dieses Argument gilt umso mehr für das Recht. Allein die Vorstellung einer rechtlichen Evaluation des Vorliegens von Menschenwürde führt das eindrücklich vor Augen. Ein Brief, der einem ankündigt, dass man als Grenzfall innerhalb der menschlichen Gemeinschaft einer Prüfung unterzogen werde, ob man Menschenwürde besitze, ist schon in sich ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Durch die Symbolkraft der allgemeinen Normen des Rechts, die in besonderem Maße geteilte und reflektierte Wertüberzeugungen der Rechtsgemeinschaft ausdrücken, wird das noch klarer. Eine rechtliche Abstufung der Menschenwürde würde einen symbolisch-performativen Widerspruch darstellen. Es ist zudem keinesfalls ausgeschlossen, dass man von einer Sammlung paradigmatischer Fälle und einer daraus abgeleiteten recht simplen, wohl begründeten Derivation einer Norm aus einem auf einer Eigenschaft beruhenden Interesse zu einem komplexeren Verständnis der moralischen Zusammenhänge und Grenzfälle kommen sollte. Ein solches komplexeres Verständnis kann komplexere Argumentationen und Zusammenhänge jenseits bloßer Derivationsverhältnisse zum Vorschein bringen. Das ändert aber nichts an der Begründetheit und am Wert dieser Derivationen für die einfachen Fälle. Auf die weiteren bekannten, meiner Meinung nach im Rahmen simpler Derivationen häufig nicht erfolgreichen Universalisierungsversuche, etwa Potenzialitätsargumente, werde ich hier mangels Relevanz für das zu entwickelnde Argument nicht eingehen.36 Fazit
Fassen wir stattdessen noch einmal zusammen: Wir haben gesehen, dass humiliationistische Positionen in ein Dilemma geraten: Entweder sie beschränken sich auf einen kontingenten Positivismus oder sie müssen implizit eine Eigenschaftsbegründung voraussetzen. Sie stehen dann vor den gleichen Problemen und Einwänden wie Eigenschaftstheorien der Menschenwürde. Diese Probleme werden allerdings im Vorwurf Philipp Gisbertz, Overcoming Doctrinal School Thought, Ratio Juris 2018, 205 Siehe hierzu: Dietrich/Czerner, Menschenwürde und vorgeburtliches Leben, in: Joerden; Hilgendorf; Thiele, Menschenwürde und Medizin, 2013, 492 ff. 35 36
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der Metaphysik übertrieben, wenn unterstellt wird, dass jedes Argument zur Universalisierung der eigenschaftsbegründeten Menschenwürde unzulässige metaphysische Schlüsse beinhalte. Das ist keinesfalls so. Tiedemann unterscheidet in diesem Zusammenhang beispielsweise problematische Metaphysik, die er – meiner Meinung nach etwas missverständlich – Wozu-Metaphysik nennt, von zulässiger Metaphysik, die er genauso missverständlich als Was-Metaphysik bezeichnet.37 Das scheint mir ebenfalls der bessere Weg zu sein. Metaphysik ist nicht per se argumentativ unzulässig. Sie ist im Gegenteil häufig geboten, wenn wir die menschliche Lebenswelt und -erfahrung begreifen wollen. Sie muss allerdings mit Bedacht auf ihre Zulässigkeit befragt werden. Substanzontologische Spekulationen über das Wesen des Menschen sind insofern deutlich problematischer als die hier aufgezeigten (und sicherlich einige weitere) Universalisierungsstrategien. Im Ergebnis steht also, dass der Humiliationismus sich weder sinnvoll als Gegenposition zum Positivismus noch zu Eigenschaftsbegründungen verstehen lässt. Entweder er wird auf einen Anerkennungspositivismus reduziert oder er setzt implizit moralisch relevante Eigenschaften des Menschen voraus. Er ist dann lediglich aufgrund seiner epistemischen Methode zum Verständnis des interpretativen Begriffs der Menschenwürde von Interesse. Hier spielt er allerdings eine wichtige Rolle. Die Methode der Annäherung an einen Rechtsbegriff über seine Verletzungen hat unbestreitbare Vorteile. So vertritt etwa auch Ronald Dworkin38, dass interpretative, d. h. v. a. normative, Begriffe, über paradigmatische Anwendungsfälle geteilt würden. Allerdings unterscheidet Dworkin zwischen dem Erkennen eines Begriffes über paradigmatische Fälle und seiner Begründung. Diese habe auch bei interpretativen Begriffen weiterhin über philosophische Argumente stattzufinden. Ansonsten werde ihre normative Geltung auf soziale Anerkennungsverhältnisse reduziert. Auch Alan Gewirth kritisiert, dass die Achtung zwar ratio cognoscendi, also Erkenntnisgrund der Menschenwürde sein könne, keinesfalls jedoch ratio essendi, also ihr Seins-/Existenzgrund.39 Die impliziten Eigenschaftsannahmen des Humiliationismus führen auch nicht zur Haltlosigkeit dieser Theorie. Vielmehr sollte man die übertriebene Metaphysikskepsis ablehnen, die moralphilosophische Erörterungen entweder auf Zuschreibungspraxen oder auf eine bloße Sammlung von Fällen ohne plausible universelle Begründung reduziert. Philipp Gisbertz-Astolfi
Georg-August-Universität, Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie, Platz der Göttinger Sieben 6, 37073 Göttingen
Vgl. den Beitrag zu „Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit“ von Paul Tiedemann in diesem Band. 38 Ronald Dworkin, Justice for Hedgehogs, 2011, 160 f. 39 Gewirth, aaO, 17; vgl. auch Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, 123 37
Was lehrt das Scheitern der Verwurzelung des Begriffs der „Menschenwürde“ in Japan?* HIROSHI HATTORI (NAGOYA)
Abstract: In Japan, many concepts have been imported from Europe. The concept of “human dig-
nity” is no exception. However, the translation of dignity, “songen”, has already existed before the introduction of European concepts of “(human) dignity” and songen was assigned only to limited persons of high social status like emperor or samurai. This comprehension of songen as “dignity” seems to be still profound today. And it is doubtful whether the concept of “human dignity” as such is understood properly, especially as to its holder, namely human being in general. In this article, I try to explain how that happened, referring the history of this concept “songen” since modern Japan. Through some recent shocking incidents in which dignity were violated and threatened, for example mobbing in school and mass stabbing in facility of handicapped in Sagamihara, the word “dignity” attracted attention. Nevertheless, unlike in Europe, this notion of dignity is understood not as autonomy or self-determination, but rather as “grace” of peoples. We could say that the concept of “dignity” in Japan doesn’t function well in spite of increase of its importance in Japanese society. One of the backgrounds for this situation is the deep-rooted notion about holder of “dignity”: only emperor, national polity (Staatswesen) and nature are still considered as its holder. From this characteristic understanding of “dignity” in Japan, it is suggested that “reverence” or authority of holder of dignity and the effect of its awe-inspiring nature to the others would be important elements to grasp the meaning of dignity. Keywords: human dignity, Bushido, national polity, view of nature, reverence
Aus Platz- und Zeitgründen kann nur ein Teil der einschlägigen Literatur behandelt und angegeben werden. Ich danke Herrn Frank Schäfer für seine weitgehenden sprachlichen Hinweise und Korrekturvorschläge zum Text. Dieser Aufsatz wurde durch den JSPS KAKENHI Grand Nr. JPK01253 und die Nanzan University Pache Research Subsidy I-A-2 for 2019 academic year unterstützt. Das Thema des vorliegendes Aufsatzes wird auf Japanisch eingehend behandelt in, Hiroshi Hattori, On the Concept of „Dignity“ during and right after World War II in Japan: A Memorandum, Academia (Journal of the Nanzan Academic Society), Social Sciences (18), 2020, 61–83. *
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Einleitung
Japan, das zu den hochentwickelten Ländern gehört, hat viele europäischen Begriffe importiert. Menschenwürde ist einer davon. Jedoch hatte das japanische Wort für Würde, Songen (尊厳), vor der Übersetzung der europäischen Begriffe schon bei uns als solches existiert. Und die originale Bedeutung dieses Wortes Songen und die historische Begrenzung dieses Begriffs auf Kaiser und Staat verhindert noch heute unser rechtes Verständnis der Begriffe „Menschenwürde“ oder „human dignity“ wie sie heute im Westen verstanden werden. Obwohl in (wenigen) Gesetzen der Begriff der „Würde“ ausdrücklich festgelegt wird, zeigen die sozialen Probleme und die schockierenden Ereignisse, auf die ich später noch näher eingehen werde, dass die Menschenwürde eben gefährdet, verletzt oder verneint wird, quasi „Leerlauf oder Ohnmacht der Würde im Gesetz“. Das ist eine peinliche Situation, als ob Japaner wirklich nicht verstünden, was die Menschenwürde ist. Hinzu kommen die verschiedenen Erörterungen, Definitionen und Diskussionen nicht nur zur Würde, sondern auch zu Songen auf Japanisch. In meinem vorliegenden Aufsatz lehne ich mich an der Klassifikation der Würdebegriffe von Dietmar von der Pfordten1 an, ihm zufolge ist es wichtig, die vier (Teil-)Begriffe der Würde zu unterscheiden, nämlich, die „große“ Würde als Selbstbestimmung oder Autonomie (Kant), die „mittlere“ Würde als gleiche Behandlung (dignatio bei Pufendorf), die „kleine“ Würde als Eigenschaft einer bestimmten herausgehobenen sozialen Stellung (lat.: dignitas) und „menschenwürdiges Dasein“ (Lassalle und Weimarer Verfassung). Für mich sind die kleine Würde und die ökonomische Würdebedingung wichtig. Denn die japanische Übersetzung entspricht hauptsächlich der kleinen Würde. Meine These lautet so: wie im antiken Rom der Träger der „dignitas“ nur auf hohe soziale Stellungen begrenzt worden war, wird die japanische Würde (Songen) auch nur bestimmten Personen mit hohem Status zugewiesen, und zwar, zum einen den Samurai, zum anderen dem Kaiser (Tenno) oder auch dem Kaisersystem als Staats- und Gesellschaftsstruktur an sich. Diese Situation bleibt noch heute fast unverändert, denn die Menschenwürde ist in Japan noch nicht verwurzelt. Statt der wesentlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Würde an sich, z. B. Würde als Interesse oder Selbstbestimmung, möchte ich lieber einen sozusagen existenziellen und fundamentalen Aspekt der Würde betonen, obwohl Japan sogar auf dieser Ebene gescheitert ist.
1
Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, 2016, 9–10.
Was lehrt das Scheitern der Verwurzelung des Begriffs der „Menschenwürde“ in Japan?
I.
Begriffsgeschichte der „Würde“ in Japan (bis zum Ende des zweiten Weltkriegs)
Ich möchte zuerst darlegen, wie Japaner die Wörter bezüglich der Würde verstanden haben. Zuerst ist wichtig, dass Japaner selber die japanische Kultur mit abendländischen Begriffen vorgestellt haben. Inazo Nitobe (1862–1933), Pädagoge und Politiker, hat aus seinem christlichen Gesichtspunkt (als Quäker) das Buch „Bushido“ auf Englisch geschrieben.2 Bushido entspricht dem Rittertum in Europa, und ist quasi Ethos der Samurai. Nitobe betont die Wichtigkeit des Bushido für Moral und Erziehung in Japan. Dort beschreibt Nitobe vor allem Tugenden des Samurais wie Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit (veracity und sincerity, Shin [信] und Gi [義]) mit dem Wort „dignity“3. Für uns ist es wichtig, in welchem Sinne der Würde Nitobe das Wort „dignity“ verwendet. Sein Verständnis von „dignity“ ist das der kleinen Würde der Samurai, und zwar das Verhalten der Personen hohen Standes. Hierin kann man ersehen, wie Japaner „dignity“ (als Fremdwort) verstanden haben. Der Einfluss dieses Buchs ist so stark (oder tiefgreifend), dass auch heute Nitobes Bushido ein beliebtes Standardwerk ist. Das tangiert den „dignity“ Boom in Japan, wobei diese „dignity“ der Anmut oder Grazie statt Würde entspricht. Darauf komme ich später zurück. Inazo Nitobe, Bushido The Soul of Japan An Exposition of Japanese Thought, 1899, in: The Works of Inazo Nitobe Vol. I, 1972. Deutsche Übersetzung von Kim Landgraf (aus dem Amerikanischen): Nitobe, Bushido Der Ehrenkodex der Samurai, 2006. Heutzutage ist übrigens das Verständnis Nitobes fürs Bushido wissenschaftlich kritisch gesehen, da Nitobe selber kein Samurai mehr war, obwohl historisch gesehen seit dem Mittelalter viele Lehren bezüglich des Samurailebens schon vorhanden gewesen waren. Vor allem ist wichtig das Unterschied zwischen dem Samurai als Kämpfer im Mittelalter und als Vorbild für Bürgern in der friedlichen Edo-Zeit (damals gab es im Prinzip kein Krieg mehr innerhalb Japans). Vgl. Toru Sagara, Bushido, 1968; ders., Nihonjin no kokoro (The Psychology of the Japanese [Expanded Revised Edition]), 2009. 3 Wenn man versucht, die Stellung der „dignity“ in der Lehre des Bushido Nitobes festzustellen, kann man wie folgt formulieren (Nitobe (von Landgraf übersetzt), Fn. 2): Innerhalb der Tugenden für Samurai, die Nitobe systematisch aufstellt ist die „dignity“ zuerst als Tugend der „politeness (Höflichkeit)“ wichtig. Dazu schildert Nitobe anhand des Beispiels des Sturms der barbarischen Gallier während der Plünderung des Senats im antiken Rom, wie den alten Herren des Senats an den Bärten gerissen wurde und es ihnen dabei an Würde und Kraft des guten Benehmens gemangelt habe, sodass sie selbst daran schuld gewesen seien (55). Die Bedeutsamkeit der „dignity“ für die Tugenden der Samurai ist klar bei der „veracity and sincerity (Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit)“, die den Grund für die „politeness“ ist: das (chinesische) Schriftzeichen für das Schlüsselwort dieser Tugend „誠 (makoto, Wahrhaftigkeit)“ besteht aus zwei Elementen: 言 = word und 成 = perfect. Nitobe nannte als sein Äquivalent das „Ritterwort“ auf Deutsch. Das Wort von Bushi „hatte solches Gewicht, dass Zusagen meist ohne ein schriftliches Zeugnis gegeben und auch erfüllt wurden. Etwas anderes hätte ein Bushi für unter seiner Würde erachtet“ (60–61). Ferner hängt diese Tugend der „veracity and sincerity“ mit „honour (Ehre)“ zusammen. Zu dieser „honour“ schreibt Nitobe ausdrücklich: „Ehrgefühl und damit ein ausgeprägtes Bewusstsein für die persönliche Würde und den Wert der eigenen Person haben natürlich auch die Samurai charakterisiert, die von Geburt an dazu erzogen wurden, die Pflichten und Privilegien ihres Standes zu achten„ (67). Der Ausdruck von „dignity“ kommt auch bei der Beschreibung des sehr strikten Verhaltens von Samurais vor: „Ein Vater konnte seinen Sohn nicht umarmen, ohne die eigene Würde zu verletzen“ (88). Auch beim „harakiri (Selbstmord durch Bauchaufschlitzen)“ wird das Verhalten des verurteilten Samurais „Langsam und mit großer Würde“ geschildert (98). 2
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Nun zum Bushido im Spätmittelalter, der Blütezeit der Samurai. Eine der Denkweisen, die tatsächlich die Samurai direkt beeinflusst haben, war das Denken der Mito-Schule. Die Mito Schule beruht u. a. auf Shinto und Konfuzianismus und spielte eine sehr wichtige Rolle bei dem Systemwechsel gegen Ende der Edo-Zeit (Kaiserorientiert). Und da diese Schule die Wichtigkeit des Kaisers für die Herrschaft betont, dauert auch im modernisierten Japan der Effekt dieser Lehre noch an. Auch im Kontext der Würde hat diese Lehre ein Fundament angeboten: es geht dabei um die Würde des Staatswesen (Kokutai, 国体) in Japan4. Diese Lehre sieht Japan als Staat des Kaisers, und ferner, auf der ideologischen Ebene, vom Konfuzianismus geprägt, dieser Staat wurde als Einheit von Kaiser und seinen Untertanen erfasst, und zwar wird der Kaiser als Vater der Untertanen angesehen, und der Staat wird als Hauswesen verstanden, usw. Der Punkt für uns ist, dass der Träger der Würde fast ausschließlich auf das Staatswesen begrenzt ist. Dieses Verständnis bestimmt unser elementares Bewusstsein dafür, was die Würde ist, nicht nur in Hinblick auf ihre Bedeutung, sondern auch auf den Träger der Würde. Wie war die Rezeption des europäischen Würdebegriffs seit der Modernisierung Japans (Meiji-Restauration)? Beachtenswert ist, dass der deutsche Begriff der Menschenwürde an sich in Japan eingeführt worden ist. Soweit ich feststellen kann, können wir in einem Buch von Seichi Yoshida (1872–1945), Ethiker und Professor, in seinem Buch „Die nationale Moral neu kultivieren (1914)“5 eine Passage zur Menschenwürde ermitteln, wenn auch auf Japanisch. Interessant ist aber, dass Yoshida dabei nicht Kant, sondern Hegel angeführt hat.6 Ferner hat Yoshida an der Idee der Eugenik, die damals weltweit verbreitet war, wegen der Verletzung der Menschenwürde Kritik ge-
Exemplarisch dafür ist der Text von Nariaki Tokugawa (徳川斉昭, 1800–1860, Fürst [Daimyo] von Mito-Lehen), Koudou-kan-Ki, sein Buch zur von ihm gebauten Schule in Mito-Lehen. Vgl. Nariaki Tokugawa, Koudou-Kan-Ki (Grundlinie der Koudoukan Schule), in: Usaburo Imai u. a. (Hrsg.), Mito-gaku, 1973, 230: „Der Rang des Kaisers [Tennos] ist damit [mit seinem großen Weg zum Himmel und zur Erde] unendlich, das Kokutai [die Gestalt des Staats / oder das Staatswesen] hat damit die Würde, das Volk beruhigt sich damit und die Barbaren gehorchen ihm damit“. Zur Mito Schule vgl. Klaus Antoni, Shintô und die Konzeption des japanischen Nationalwesens (Kokutai) Der religiöse Traditionalismus in Neuzeit und Moderne Japans, 1998, etwa 157 ff. Allerdings gibt es zwei Problemen bei dem Buch Antonis: Der Begriff „Kokutai“ ist original japanisch, deshalb sieht sich der Japaner hier mit einem Übersetzungsproblem konfrontiert. M. E. entspricht „Kokutai“ inhaltlich der Verfassung als Staatswesen (nicht als Gesetzestext oder Gesetzbuch an sich). Antonis Übersetzung als „Nationalwesen“ ist ferner in Hinblick darauf problematisch, ob es einen Begriff der „Nation“ damals (also: Edo-Zeit) schon gab oder nicht (m. E.: sehr negativ). 5 Seichi Yoshida, Die nationale Moral neu kultivieren,1914. Seichi YOSHIDA (吉田静致, 1872–1945) war Ethiker, auch Professor an der kaiserlichen Tokio-Universität (heute: Tokio Universität), an der Tokio Shihan Hochschule (heute: Tsukuba Universität) und schließlich an der Nihon Universität. Er spielte eine leitende Rolle für die Ethik im modernen Japan vor dem Kriegsende. 6 Obwohl Yoshida keine Quelle genannt hat, scheint das übernommen zu sein aus Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 (von Klaus Grotsch (Hrsg.), auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammelten Werken Band 14, 2017, 62), § 36: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“. 4
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übt.7 Aber meines Erachtens hat Yoshida hier diesen Begriff der Menschenwürde, deren Träger Menschen im Allgemeinen sind, nicht vertieft. Stattdessen denkt Yoshida auch als (ausschließlicher) Träger der Würde hauptsächlich Staatswesen oder Kaiser.8 Vermutlich schließt er sich damit an die Mito-Schule an. Dieses Verständnis sowohl für den Begriff der Würde als auch für seinen Träger dauerte während der Kriegszeit fort und verstärkte sich. In öffentlichen Texten wie „Die wahre Bedeutung des Staatswesens (Kokutai no Hongi)“, der vom damaligen Kultusministerium 1937 publiziert wurde, finden wir Ausdrücke wie „Würde des Staatswesens“ und „Würde des Rangs des Kaisers“. In den Gesetzen aus der Kriegszeit ist bedeutend, dass im „Gesetz zur Erhaltung der Ruhe und Ordnung (Peace Preservation Law, Chian-Iji-Hou)“, das 1925 erlassen worden war und damals nur sieben Paragrafen enthalten hatte, bei einer umfassenden Änderung im Jahr 1941 im neuen Artikel 7 der Frevel an der Würde „des Shinto-Schreins und des Kaiserhauses“ ausdrücklich zur Straftat erklärt wurde.9 Mit diesem Artikel wurden christliche Vereine wie der Todai-sha (Ortsverein der Wachtturm-Gesellschaft) und eine protestantische Sekte (die Jesus Christus Neue Testament Gesellschaft [oder Kirche]), aufgrund ihrer mit dem Kaiser(-system) unvereinbaren Dogmen verboten und ihre Mitglieder festgenommen. Anders als beim Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland, haben die Festgenommenen trotz vieler Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Widerstand, in Hinblick auf ihren christlichen Glauben das Word „Würde“ nicht erwähnt. II.
Die „Würde“ in der japanischen Rechtsordnung aus der frühen Nachkriegszeit
Nach dem Kriegsende wurde die japanische Verfassung geändert. In der neuen Verfassung gibt es den Begriff der Menschenwürde an sich nicht, stattdessen sind zwei ähnliche Begriffe bemerkenswert: zum einen der Begriff der „Achtung des Individuums“ in Art. 1310, was mindestens rechtsdogmatisch mit der Menschenwürde gleich-
Vgl. Yoshida, (Fn. 5), 155 ff. (gegen die Meinung von Francis Galton in England). Vgl. Yoshida, (Fn. 5), 217 ff. Dazu vgl. Richard H. Mitchell, Thought Control in Prewar Japan, 1976, 167. Bis dieser Änderung wurde dieses Gesetz von der Obrigkeit (Polizei) sehr locker ausgelegt und angewandt, wobei man das mit der sog. „unbegrenzten Auslegung“ (Bernd Rüthers) während der nationalsozialistischen Zeit vergleichen kann. 10 Der Artikel 13 der japanische Verfassung lautet (Übersetzung aus Junichi Murakami, Einführung in die Grundlagen des japanischen Rechts, 1974, 95): „Alle Bürger müssen als Individuen respektiert werden. Ihr Recht auf das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück muss in der Gesetzgebung und den anderen Regierungstätigkeiten maximal berücksichtigt werden, insoweit es das öffentliche Wohl nicht beeinträchtigt“. 7 8 9
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gesetzt wird. Zum anderen der Begriff der „Würde des Einzelnen“ in Art. 24 Abs. 2.11 Indessen korreliert dieser Artikel nur für die Beziehung der Männer und Frauen, in Bezug auf die Ehe und auf Angelegenheiten innerhalb der Familie. Dieser Begriff der Würde des Einzelnen bietet nämlich keine allgemeine Gewährleistung der Menschenwürde.12. Es gab einen Moment in der frühen Nachkriegszeit, in dem die Japaner ihr Selbstverständnis für den Träger der Würde erneut überdenken konnten. Im sogenannten Plakat-Fall (1946–49) hat eine Demonstration gegen den Kaiser (oder das Kaisersystem) angesichts des Hungers stattgefunden. Dabei hatte einer der Demonstranten, der Marxist war, ein Plakat13 hochgehalten, woraufhin er wegen Majestätsbeleidigung verhaftet wurde. Was den Begriff der Würde angeht, ist es wichtig, zu wissen, wie die Würde in diesem Fall gedacht wurde. Obwohl die neue Verfassung schon erlassen worden war, haben sowohl der Angeklagte als auch die Verteidiger den Kaiser als ausschließlichen Träger der Würde angesehen. Hier können wir sehen, dass diesen Personen das Bewusstsein gefehlt hat, selbst Träger der Würde zu sein.14 Die Hintergründe dafür sind einerseits ein tiefer Einfluss des Kokugaku für das Verständnis der „Würde“ auf Japanisch (insb. zum Träger der Würde), und andererseits die begrenzte Bedeutung der „Würde“ in Japan, also nur als die „kleine“ Würde. Schon am Anfang der Nachkriegszeit sind wir Japaner ins Stolpern geraten. Ferner ist es unklar geblieben, was der Begriff der Würde auf Japanisch, Songen, eigentlich im japanischen Recht oder Rechtsystem bedeutet. Nun wollen wir unsere Augen auf die gegenwärtige Lage in Japan richten.
Der Artikel 24 der japanischen Verfassung lautet (Übersetzung aus Murakami, (Fn. 10), 96, (Absatz von mir eingefügt): Artikel 24: (1) Die Ehe darf nur auf der Vereinbarung beider Geschlechter beruhen und muss auf Grund der Gleichberechtigung von Mann und Frau durch die gegenseitige Mitwirkung erhalten werden. (2) Hinsichtlich der Auswahl des Ehegatten, der Vermögensrechte, des Erbrechts, der Bestimmung der Wohnung, der Ehescheidung und der anderen Probleme von Ehe und Familie müssen die Gesetze unter dem Blickwinkel der Würde des einzelnen und der wesentlichen Gleichheit der Geschlechter gegeben werden. 12 Murakami, (Fn. 10), 95, erklärt, „die japanische Verfassung gründet sich auf das demokratische Prinzip. Darum schätzt sie erstens die Würde des individuellen Menschen hoch ein“. Jedoch ist es in Japan umstritten, ob der Art. 13 „Menschenwürde“ auch wörtlich gewährleistet oder nicht. 13 Der Inhalt dieses Plakats war der folgende (Übersetzung von mir aus dem Urteil): Das Staatwesen [des Kaisersystem] ist behütet worden. / Ich, der Kaiser schlage mir / den Bauch voll, / du aber Volk / verhungere [!] / Name und Stempel [des Kaisers] / Kommunistische Partei Japan Tanaka Seiki [Name der Firma] Saibo [Organisation] 14 OGHS 2, 529 (am 26.05.1948). Der Anklagte wurde aufgrund der Amnestie beim Erlass der neuen Verfassung außer Verfolgung gesetzt. Näher zum Plakat-Fall, vgl. Hattori, Zum Begriff der „Würde“ während und nach dem zweiten Weltkriegs in Deutschland – ein Memorandum (auf japanisch geschrieben), in: Ichiro Sako u. a. (Hrsg.), Auf der Suche nach dem neuen Horizont der civilistischen Rechtswissenschaft (Gedenkschrift für Toshio Shinohara), 2019, 158–159. 11
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III.
Die Heutige Diskussionen zur „Würde“ in Japan
1.
Viele Publikationen zur „Anmut“ oder „Dignity“ – „Hinkaku“ als „buzzword“ 2006
Jedes Jahr werden in Japan die Buzzwords gewählt und der Preis für das „Buzzword of the Year“ verliehen. Interessant war, dass im Jahr 2005 und 2006 viele Bücher über Würde oder Anmut publiziert werden, wie z. B. „Die Würde des Frühstücks“ und „Die Würde des Sports“. Wichtig sind zwei Bestseller, „Die Würde des Staates“ und „Die Würde der Frauen“. Allerdings geht es hier um die Übersetzung: diese Bücher behandeln ganz unterschiedliche Dinge, wobei der Begriff „Hinkaku“ auf Deutsch zwar der Würde, aber vielleicht doch eher der Anmut oder Grazie entspricht. Trotzdem möchte ich diese Publikationen als „dignity“-books pauschalisieren, denn diese zwei Bestseller wurden ins Englische übersetzt und ihre englischen Titeln sind „The Dignity of the Nation“ und „The Dignity of a Woman“. Alle diese Publikationen zur „dignity“ behandeln jedoch die ernsten Probleme bezüglich der Menschenwürde wie in Deutschland nicht. Und wenn ich einfach zusammenfassen darf, geht es in dieser Publikationen nur um die kleine Würde. Vor allem repräsentieren die oben genannten zwei Bestseller die japanisch-konservative Richtung.15 Nur mit der bisherigen Erklärung können wir Verständnis dafür haben, wie unreif und peinlich uns das mangelnde Selbstverständnis bezüglich der „Würde“ ist. Leider scheint unsere Lage in Japan heutzutage immer schlechter zu werden. Deshalb möchte ich hier kurz etwas zur gegenwärtigen Lage in Japan sagen. 2.
Wenig „Würde“ in Gesetzen
In japanischen Gesetzen ist „Würde“ nur wenig geregelt. Dabei werden als ihre Träger Einzelne, schwerkranke Patienten (z. B. Krebs), Jungen und Mädchen (Schüler, unten 3. a.), Behinderte, usw. angesehen. Allerdings ist es m. E. unklar, was überhaupt Mehrere dieser „Anmut (Hinkaku)“ Bücher haben einen konservativen Charakter, vor allem zwei Bestseller, Masahiko Fujiwara, Kokka no Hinkaku, 2005 (englische Übersetzung von Giles Murray, The Dignity of the Nation, 2007); Mariko Bando, Josei no Hinkaku, 2006 (englische Übersetzung von James M. Vardaman, The Dignity of a Woman, 2008). Schwierig ist, wie der Begriff „Hinkaku“ in diesen Bücher auf Deutsch übersetzt wird: z. B. behandelt „Hinkaku von Kindern“, wie sich ein Kind artig (oder vornehm) erziehen lasse, wobei wir statt „Würde“ z. B. „Anmut“ oder „Vornehmheit“ übersetzen sollten. Trotzdem wähle ich als Übersetzung „Würde“ aus, weil die zwei oben genannten Bestseller ins Englisch übersetzt wurden, die beide unter dem Titel „The Dignity of …“ übertragen wurden und die Verfasser (Fujiwara und Bando) nicht dagegen sind. Allerdings zwei Bemerkungen: zum einen sind in der englischen Übersetzung Murrays (aaO., 102) die kritischen Passagen im Original von Fujiwara (aaO., 74) zu der Menschenwürde nicht übersetzt; zum anderen, wenn man im Register der englischen Übersetzung von Vardamann nachsieht, die eigentlich für die Schüler zum Englischlernen ist, kann man beim Stichwort „dignity“ (232) das entsprechende japanische Wort „Songen (尊厳)“ nicht finden. 15
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die „Würde“ in den jeweiligen Regelungen bedeutet. Die wesentliche Frage ist, ob die Würde dieser Träger wirklich geschützt und beachtet wird. Meine Antwort ist deutlich „Nein“. Drei Beispiele habe ich als Beweis dafür. 3.
(Un-)Wirksamkeit dieser gesetzlichen Regelung angesichts der „Verletzung der Würde“
a)
Mobbing in der Schule und Selbstmord der angegriffenen Schüler
Das erste Beispiel ist das Mobbing in der Schule und Selbstmord. In der Tat wird fast jede Woche über einen Selbstmord berichtet. Angesichts eines besonders schockierenden Falles wurde das „Gesetz zur Förderung der Verhinderungspolitik des Mobbings“ erlassen (Gesetz Nr. 71 vom 28.06.2013). Artikel 1 behandelt die Würde der Schüler. Trotzdem hört das Problem nicht auf, oder die Lage wird schlimmer. Nicht nur das Gesetz, sondern auch die Bildungsadministration ist nicht effektiv. b)
Einsames Sterben der Alten – oder Problem bezüglich der Alten (wie Demenz) und Überalterung der Gesellschaft
Das zweite Beispiel ist das Problem des einsamen Sterbens der Alten, im Zuge der Überalterung der Gesellschaft. Inzwischen werden die zwischenmenschlichen Beziehungen überall in der Gesellschaft dünner als vorher, z. B. in der Freundschaft, am Arbeitsplatz und sogar innerhalb der Familie. Eines der bedenklichsten Probleme ist die Pflege der Alten. Dafür braucht man u. a. nicht nur finanzielle, sondern auch menschliche Unterstützung als Pflegekraft. Schlimmstenfalls werden Alte, die einsam leben müssen, tot aufgefunden, z. B. mehrere Monate nach dem Tod. Es gibt auch Fälle des Hungertods (in Japan!). Bezüglich ernster Probleme wie der Demenz wird unter Artikel 3 des „Gesetzes zur Förderung der Benutzung des Systems der Volljährigen-Vormundschaft“ (Gesetz Nr. 29 vom 15.04.2016) die Würde des „Mündels“ erwähnt, aber auch hier hat die Würde in dieser Regelung fast keine konkrete Bedeutung. Auch scharfe Debatten sowohl zur Sterbehilfe als auch zur Euthanasie gibt es in Japan. Ein neuerer Auslöser dazu ist ein Buch von einer sehr populären Drehbuchautorin, Sugako Hashida, „Bitte gewähren Sie mir Sterbehilfe“.16 Das Buch ist auf viel
Sugako Hashida (橋田壽賀子, 1925–) ist Drehbuchautorin. Ihre Werke waren vor allem in den 80er Jahren national sehr populär, z. B. das Drama „Oshin (おしん)“ ist eines der beliebten und erfolgreichsten Dramen in Japan, sodass es danach auch in den asiatischen Staaten gesendet wurde und auch dort große Resonanz fand. Hashida selber ist einmal Mitglied des Vereins „DIGNITAS“ in den Schweiz gewesen (heute nicht mehr [inzwischen ausgetreten]). Laut einem Interview mit ihr willsie inzwischen auf „Euthanasie 16
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Kritik gestoßen, vor allem wegen ihrer ungenügenden Kenntnis der Begriffe und der Geschichte der Sterbehilfe und Euthanasie selbst und auch die Euthanasie während der NS-Zeit, allerdings gibt es auch Sympathie für Hashidas Meinung. c)
Messerangriff in Sagamihara
Ein Prüfstein, ob Japaner die Menschenwürde tatsächlich ernst genommen haben, war der Messerangriff in Sagamihara am 26.07.2016. 19 Menschen wurden in einem Behindertenheim umgebracht und mehrere Personen wurden verletzt, inklusive Behinderte. Merkwürdig ist, dass der Täter früher am Tatort gearbeitet hatte. Es wurde berichtet, dass er Eugeniker und Nazi-Anhänger sei.17 Gerade ca. drei Monate (01.04.2016) zuvor wurde das „Gesetz zur Förderung der Beseitigung der Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ in Kraft gesetzt (Gesetz Nr. 65 vom 26.06.2013), dessen Art. 1 die „Würde des behinderten Menschen als Individuum“ festlegt. Indessen erwähnten die Medien nur selten dieses Gesetz.18 Ehrlich gesagt, scheint mir so, dass im japanischen Recht der Begriff der Würde fast nicht funktioniert. Sozusagen: Leerlauf, Dekoration oder Ohnmacht der Würde. Ich möchte den Grund dafür historisch und rechtstheoretisch kurz untersuchen. IV.
Feedback zur „allgemeinen“ Lehre der Menschenwürde
1.
Begrenzung (oder Bedingung) des Träger der Würde in Japan – Kaiser, Staatswesen und Natur
Unübersehbar ist, dass als Träger der Würde in Japan, nicht Menschen im Allgemeinen, sondern nur Samurai oder Kaiser betrachtet wurden. Auch einen Ausdruck wie „Würde des Staatswesens“ konnte man noch beim Wechsel des Kaisers und dem japanischen Zeitalterwechsel von Heisei zu Reiwa 2019 hören. Man sagt, es handle sich dabei noch um einen Versuch, das Staatswesens (oder Kaisersystems) zu bewahren: eine Frage, mit der man sich schon beim Systemwechsel und der Änderung der japanischen Verfassung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auseinandergesetzt hatte. Da (Sterbehilfe)“ verzichten. Sie hat aber die Gründe kurz erklärt, warum sie daran gedacht hatte: ein Problem des Alterns, als sie schon über 90 Jahre alt gewesen war, Verlust des Sinns des Lebens (vor allem der Arbeit), der Verlust der persönlichen Beziehungen (ihr Mann war schon gestorben, sie hat kein Kind, viele ihrer Freunde waren versorben). 17 Eine wichtige Information zu diesem Massenmord: Der Täter selbst (!) hatte ca. fünf Jahren vor der Tat in dem Behindertenheim gearbeitet, er kannte sich also in dem Heim schon aus. 18 Vgl. Nobuto Hosaka, Sagamihara-Fall und Hasskriminalität (Sagamihara-jiken to Hate Crime), 2016, 46 ff. Hosaka ist Politiker und jetzt „director“ des Setagaya-Bezirks in Tokio.
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es in der damaligen Diskussion zumindest nicht verneint wurde, dass der Kaiser noch der Träger der Würde trotz der Formulierung der „Würde des Einzelnen“ in der neuen Verfassung ist, bleibt dieses Verständnis bei Japanern bis heute unverändert.19 Zudem geht es um die Naturanschauung der Japaner. In Texten, welche die japanische Kultur erklären, findet man oft, dass behauptet wird, Japaner hätten größere Ehrfurcht vor der Natur als andere Nationen. Exemplarisch dafür ist der Berg Fuji, der manchmal als heiliger Berg bezeichnet wird, da er tatsächlich noch ein tätiger Vulkan ist. Soweit diese Ehrfurcht auf Englisch als „dignity“ im offiziellen Text20 übersetzt wird, könnte man ja auch von der Natur als Trägerin der Würde in Japan reden.21 Bei Naturkatastrophen wie Erdbeben gerät diese „Ehrfurcht vor der Natur“ in den Brennpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit.22 2.
Ein Versuch, die Bedingung für das Verständnis des Trägers der Würde in Japan während des zweiten Weltkriegs anhand des rechtstheoretischen normativen Mechanismus‘ zu erklären
Aber, wesentlicher für die Rechtsphilosophie wäre die Frage, wie diese Würde in Japan rechtstheoretisch funktioniert hat. Aus Platzmangel will ich mich auf das Wichtige beschränken.
Vgl. Gespräch zwischen Masaru Sato und Morihide Katayama, Durch die Konzession wollte der Kaiser das Staatswesen bewahren, SAPIO Sonderausgabe beim Reiwa-Zeitalterwechsel, 2019, v. a. 7 (Aussage von Sato). 20 In den Richtlinien für die Planung eines auf „Mt. Fuji basierenden Staats“, die von der Shizuoka Präfektur veröffentlicht wird, wird die Ehrfurcht sowohl vor dem Mt. Fuji als auch vor der Natur genannt (http:// www.pref.shizuoka.jp/bunka/bk-120/fujisan_fujinokunidukuri.html zuletzt abgerufen am 31.10.2019). Auch auf der englischen Informationshomepage zum Mt. Fuji kann das Wort „dignity“ festgestellt werden (http:// www.pref.shizuoka.jp/kankyou/ka-070/fujisanpage/mt_fuji/charter.html zuletzt abgerufen am 31.10.2019). Ferner denkt Yamaori die Ehrfurcht vor dem Mt. Fuji (https://web-japan.org/niponica/niponica13/ja/fea ture/feature02.html zuletzt abgerufen am 31.10.2019). 21 Der Ausdruck „Würde der Natur“ ist nicht in japanischem Alleinbesitz. Vgl. etwa Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften (Gretel Adorno und Rolf Tiedemann [Hrsg.] Bd. 7, 1970, 115). Was die Welt- und Naturanschauung betrifft, möchte ich dennoch der Lehre von Masaji Chibas folgen: ihm zufolge ist das europäische Denken seit der antiken griechischen Philosophie anthropozentrisch gewesen. Vgl. Masaji Chiba, Einführung in die Rechtsdenken in der Welt (Sekai no Hou-shiso Nyumon), 2007, 55 u. a.; ferner zur „Ehrfurcht vor dem Leben“ in Japan, vgl. Jun Matsuda, Menschenwürde und die traditionelle japanische Lebensanschauung, Studie zur deutschen angewandten Ethik, Bd. 3, 2012, 100–107 (auf Deutsch) und 108–113 (auf Japanisch) 22 Eine exemplarische Meinung zur Ehrfurcht vor der Natur ist z. B. die Meinung von Tetsuo Yamaori (Religiös [Buddhist], Honorarprofessor des „International Research Center of Japanese Studies“). Vgl. http://opnec.org/comment.html (auf Japanisch, zuletzt abgerufen am 31.10.2019). Ein Fundament für dieser Naturanschauung hat ein Geograph, Torahiko Terada, verfasst, und zwar schon im Jahr 1935: Torahiko Terada, Die Naturanschauung der Japaner (Nihon jin no Shizen Kan), 1935 (original in Toyo Shincho), in: ders. (Yamaori (Hrsg.)), Naturkatastrophe und Japaner (Tensai to Nihonjin), 2011, 103–146. 19
Was lehrt das Scheitern der Verwurzelung des Begriffs der „Menschenwürde“ in Japan?
Der Rechtsphilosoph, Yoshio Hirohama, gibt die rechtstheoretische Erklärung zum Rechtssystem in der Kriegszeit, wobei der Kaiser als Träger der Würde angenommen ist. Laut Hirohama lassen sich die Normen in drei Gruppen klassifizieren, nämlich Organisationsnormen, Handlungsnormen und Entscheidungsnormen. Diese konstruieren das Rechtssystem sowie den Stufenbau. Wesentlich sind die Organisationsnormen (Institutionen), die als lebendes Recht aus dem Staatswesen entstehen, wobei man sich an das „Konkrete Ordnungsdenken“ von Carl Schmitt erinnern kann. Als Stufenbau geben diese Organisationsnormen den anderen Normen ihre lebendige Geltung, allerdings lässt sich die Quelle der Geltung des Rechts letztlich aus der Autorität des Kaisers schließen. Aus dieser Autorität wird seine heilige Aura (Miitsu) ausgestrahlt, der sich die Bürger unterwerfen. Und die Gültigkeit fließt durchaus in dem Rechtssystem, nämlich, von der Organisationsnormen aus, über die Gehorsamkeit (und auch Anerkennung23) der Bürger, sowohl gegenüber dem Rechtssystem und Staatswesen als auch den Kaiser, und dieser Gehorsam verstärkt auch das Herrschaftssystem selber. Nach der Lehre Hirohamas wird das Staatswesen in diesem selbstreproduzierenden Mechanismus gestaltet, wobei die Gültigkeit des Rechts das Rechtssystem wie ein Kreislauf durchfließt. Und die Autorität des Kaisers fungiert als Quelle des Rechts, wobei ihre „ehrfurchtgebietende“ Wirkung auf andere (u. a. die Untertanen) wichtig ist. 3.
Von der historischen Entwicklung der „Würde (dignitas)“ gesehen – Säkularisierung der „Würde“
Wenn man die historische Entwicklung des Begriffs der Würde (in Europa) mit der des Begriffs Songen (in Japan) vergleicht, gibt es in der Frage, ob es Momente der Säkularisierung gab oder nicht, große Unterschiede. Zuerst die europäische Entwicklung: obwohl zur Begriffsgeschichte an sich oder im Einzelnen Meinungsunterschiede vorhanden sind, können wir die Momente der Säkularisierung des Begriffs der Würde mindestens drei mal feststellen: das erste Mal betrifft das Würde-Verständnis in der
Damit meine ich im Kontext der Geltung des Gesetzes die Anerkennungstheorie wie bei Bierling: vor dem Kriegsende hatte das ideologische Prinzip „Höre das Wort des Kaisers aufrichtig (Shoushou hikkinn, 承詔必謹)“ gegolten und sich damit die Geltung des damaligen Rechts (nicht nur des Gesetzes) mit der Anerkennungstheorie erklären lässt. Nach dem Kriegsende war es stark umstritten, kurz gesagt, wie sich die Stellung des Kaisers erhalten ließ, vor allem angesichts des Systemwechsels. M. E. könnte man die Erhaltung des Kaisersystems mit Hilfe der Anerkennungstheorie überzeugend erklären: auch bei diesem Systemwechsel hat die japanische Nation – oder besser: ihre Mehrheit – das Vorhandensein des Kaisers als solche anerkannt. Näher dazu vgl. Hattori, On the Jurisprudence of Yoshio Hirohama: focusing on his triple structure theory and its development (4), Matsuyama Daigaku Ronshu 28 (1), 2016, 326–328. Zur Anerkennungstheorie und ihrem heutigen Sinn vgl. Hideo Aoi, Outline of Legal Theory (Hourigaku Gaisetsu), 2007, Kap. 5. 23
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Renaissance, wo ein großes Interesse am Menschen (statt Gott) zunahm. Das zweite Mal war bei Kant, der hauptsächlich mit der „Autonomie“ oder Selbstbestimmung verstanden hat, was die Würde ist. Und das dritte Mal war die Formulierung von dem „menschenwürdigen Dasein“ bei den Vertretern der sozialistischen Bewegung, vor allem Ferdinand Lassalle. Neben oder mit dieser Säkularisierung des Würde-Begriffs wurde sein Inhalt reicher. Anders als Europa (oder Deutschland), wurde und wird der Begriffe der Würde in Japan nur als die „kleine“ Würde verstanden. Und die verbreitete Denkweise, dass als ihr Träger statt Menschen oder Individuen hauptsächlich oder sogar ausschließlich der Kaiser und die Natur angenommen werden, hindert uns daran, das Individuum als Träger der „Menschenwürde“ anzusehen. Mit anderen Worten, das allgemeine Verständnis für die Menschenwürde konkurriert in Japan noch mit der traditionellen charakteristischen Begrenztheit der Träger der Würde (nur Kaiser und Natur). Ich muss so dem Urteil kommen, dass der Begriff der Würde in Japan noch nicht säkularisiert worden ist. Schlussbemerkung 1.
Autorität und ehrfurchtgebietende Wirkung des Trägers der (kleinen) Würde
Wir könnten wahrscheinlich voraussetzen, dass der Begriff der kleinen Würde historisch und interkulturell gesehen „allgemein“ vorhanden ist, wobei der Träger dieser kleinen Würde auf bestimmte Personen mit hohem sozialem Status beschränkt ist. Das ist der Fall bei Kaiser oder Samurai in Japan. Insofern könnten wir von der Würde „ohne Metaphysik“ reden. Dabei können wir angesichts der historischen und gegenwärtigen Begriffsgeschichte in Japan zur kleinen Würde annehmen, dass der Träger dieser kleinen Würde irgendeine Autorität und ehrfurchtgebietende Kraft haben sollte. Dieses Moment der „Autorität“ des Trägers der „kleinen“ Würde und ihrer „ehrfurchtgebietenden“ Auswirkung könnte man universell auf Träger der kleinen Würde erweitern. Schwierig ist, wie man hiervon zur großen Würde gelangen kann, als deren Träger jedermann anerkannt werden muss. Mit anderen Worten: jeder Träger (Menschen) sollte seine Autorität und ehrfurchtgebietende Wirkung haben und die Reziprozität dieser Würde gegeneinander erlangen. Wenn man über die Rolle der „Ehrfurcht“ oder „Furcht“ innerhalb der Würde nachdenkt, sollte das Denken der „Ehrfurcht vor dem Leben“ von Albert Schweitzer24 in diesem Kontext der Menschenwürde ernst genommen werden.
Albert Schweitzer, Die Ehrfurcht vor dem Leben, 1966 (201310), 51 f.: „Ist als Ziel der Kultur anerkannt, daß jeder Mensch in einem möglichst menschenwürdigen Dasein zu wahrem Menschentum gelangen soll, 24
Was lehrt das Scheitern der Verwurzelung des Begriffs der „Menschenwürde“ in Japan?
2.
Anhaltspunkt fürs Verständnis dieser „Menschenwürde“ in nichteuropäischen Kulturräumen
Mir scheint es sehr schwierig, dort von Anfang an die „große“ Würde einzuführen, wo die „kleine“ Würde in dem (Rechts-)system fest verankert ist, wie z. B. in Japan.25 Weil in nichteuropäischen Kulturräumen andere religiöse, mythische und sogar teilweise metaphysische Denkweisen tiefer eingebettet sind als die europäische und säkularisierte Denkweise, kommt es mir als Anhaltspunkt sicherer vor, zuerst „Menschen an sich“ zu sehen, statt die Kerndiskussion um den Begriff der Würde (wie Autonomie, Selbstbestimmung) zu erörtern. Einer dieser Anhaltspunkte wäre das „menschenwürdige Dasein“, wie Ferdinand Lassalle es behauptet hat und wie es in der Weimarer Verfassung verankert wurde. Dabei stellt sich in Frage, was die Kombination mit dem Begriff „Dasein“ eigentlich bedeutet.26
so kann die kritiklose Überschätzung des Äußerlichen der Kultur, …, unter uns nicht weiterbestehen. … Wir wissen, daß wir alle mit den Verhältnissen um unser Menschentum zu ringen haben und Sorge tragen müssen, den fast aussichtslosen Kampf, den viele um ihr Menschentum führen, wieder zu einem aussichtsvollen zu gestalten. Als geistige Hilfe in diesem Kampfe bringen wir ihnen die Gesinnung entgegen, daß nie ein Mensch als Menschending den Verhältnissen geopfert werden soll. … Die Ehrfurcht vor dem Leben aber empört sich gegen ihn und schafft eine Gesinnung, in der jedem Menschen der Menschenwert und die Menschenwürde, die ihm die Lebensumstände versagen wollen, in den Gedanken der anderen entgegenbracht wird.“ 25 Was die Lage in Japan auf der geistigen (oder „philosophischen“) Ebene betrifft, sollte man m. E. mindestens drei hohe Hürden irgendwie nehmen: die erste Hürde ist das Verständnis für Nitobes Bushido, wo „dignity“ als die kleine Würde verstanden ist. Da das oberflächliche Verständnis für Bushido wie im Fujiwaras Werk „The Dignity of the Nation“ verbreitet ist, müsste man sich zuerst davon befreien, um genau zu verstehen, was die (große) „(Menschen-)Würde“ überhaupt ist. Die zweite Hürde ist die starre, aber tiefgreifende Vorstellung zum Träger der Würde in Japan (z. B. Kaiser als einzige Träger). Diese Vorstellung ist tief sogar im Staatssystem verwurzelt. Ferner, die dritte Hürde bezieht sich auf die japanische Welt- und Naturanschauung: nach Sagara (Fn. 2), 2009, etwa 219 ff.) existiert in Japan die sozusagen „von selbst“-Natur-Metaphysik seit dem Altertum: ich werde ich von selbst, oder von Natur aus. Dieser Prozess, wie ich als ich werde, ist quasi der „natürlich“ werdende. Hierin liegt auch die Kontinuität – oder sogar Einheit – zwischen den Menschen und der Natur. 26 In diesem Kontext sollte auch die Würde in der Philosophie Martin Heideggers in Betracht gezogen werden: Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929 (200717), 53 f., zum Opfer: „Sein Vollzug entstammt der Inständigkeit, aus der jeder geschichtliche Mensch handelnd – auch das wesentliche Denken ist ein Handeln – das erlangte Dasein für die Wahrung der Würde des Seins bewahrt. Diese Inständigkeit ist der Gleichmut, der sich die verborgene Bereitschaft für das abschiedliche Wesen jedes Opfers nicht anfechten läßt„ (Hervorhebung von Hattori). Zur Aufmerksamkeit auf Heidegger wurde ich inspiriert von Hiroshi Ban, Kant und Jaspers, 1999, 40 (auf Japanisch geschrieben). Es könnte noch klar gemacht werden, welche Rolle der Begriff der Würde in der Heideggers Philosophie gespielt hat, vor allem mit dem „Dasein“, der „Sorge“ oder (hier in diesem Kontext) „Inständigkeit“, ferner „Angst“.
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3.
(Aber) andere Bedeutungen für die Menschenwürde und das „menschenwürdige Dasein“ vor 1945?
Bei der rückblickenden Betrachtung sollte man noch die Begriffsgeschichte der Würde in der Zeit zwischen der Weimarer Verfassung und dem Bonner Grundgesetz sorgfältig überprüfen, da mir scheint, dass die diesbezügliche Forschung noch nicht abgeschlossen ist. Außer den Ausdrücken in der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus (der Weißen Rose27, dem Kreisauer Kreis28) ist die folgende Aussage von Karl Jaspers zu Max Weber (als Mensch) im Jahr 193229 für die heutige Formulierung der Unantastbarkeit der Menschenwürde interessant: „Max Weber hielt fest an den Ideen des 18. Jahrhunderts, die man später liberal nannte: alles, was aus der möglichen Freiheit des Individuums folgt, die Unantastbarkeit seiner persönlichen Daseinssphäre, die Menschenrechte und die Menschenwürde“.30 Diese Formulierung inklusive des damaligen Verständnisses für die Menschenwürde (und ihre Beziehung auf die Menschenrechte und persönlichen Daseinssphäre) würde uns bei der Studie der Vorstufe der Menschenwürde im heutigen Sinne einen guten Hinweis für den Inhalt der Menschenwürde geben. Hiroshi Hattori
Associate Professor, Dr., Juristische Fakultät, Nanzan University, Yamazato-cho 18, Showa-ku, Nagoya, Aichi, 466–8673 Japan, [email protected]
Im dem zweiten Flugblatt der „Weißen Rose“ (http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ weisse-rose/61015/flugblatt-ii zuletzt abgerufen am 31.10.2019) wird das Wort der „Würde des Menschen“ erwähnt: „Nicht über die Judenfrage wollen wir in diesem Blatte schreiben, keine Verteidigungsrede verfassen – nein, nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz anführen, die Tatsache, daß seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann.“ Mir scheint doch interessant, dass trotz der Berühmtheit dieser Gruppe dieser Ausdruck von der Weißen Rose in der Begriffsgeschichte der Menschenwürde nur selten (?) erwähnt wird. 28 Walther Hofer (Hrsg.), Der Nationalsozialismus Dokumente 1933–1945, 1957, 334 (auch Ger Van Roon, Neuordnung im Widerstand Der Kreisauer Kreis innerhalb deutschen Widerstandsbewegung, 1967, 561), im dritten Grundsatz: „3. Brechung des totalitären Gewissenszwangs und Anerkennung der unverletzlichen Würde der menschlichen Person als Grundlage der zu erstrebenden Rechts- und Friedensordnung …“. Vgl. auch von der Pfordten (Fn. 1), 46. 29 Im Jahr 1933 hat Otto Koellreutter in seinem Buch, Grundriß der Allgemeinen Staatslehre, 1933, 44, zur Menschenwürde folgendes erwähnt. Koellreutter schreibt hier unter der Überschrift „Nationalbewußtsein und Internationalismus“ wie folgt: „Diese Achtung vor der politischen Ehre fremder Völker kann deshalb auch allein der Ausgangspunkt eines echten internationalen Gefühls sein, das sich nicht nur in wurzellosem Humanitätsgerede erschöpft. Jede echte Anerkennung der Menschenwürde findet ihre Grundlagen nur in der Achtung des eigenen Volkes und der Verbundenheit mit ihm. Und nur daraus erschließt dann auch die echte Erkenntnis für die Wesenheit fremder Völker und ihrer Kulturwerte.“ 30 Karl Jaspers, Max Weber Deutsche Wesen im politischen Denken im Forschen und Philosophieren, 1932, 66. 27
Menschenwürde ohne Metaphysik ist möglich ALTAN HEPER (Istanbul/Stuttgart)
Abstract: The purpose of this article is to ascertain whether Human dignity can thrive devoid of
a metaphysical free concepts. In philosophy and jurisprudence, it is customarily assumed that the terms “human dignity”, “equality” and “free will” are metaphysical concepts. Most concepts of human dignity go back either to the religious reasonings or to the secular, ultimately metaphysical Kantian grounds. In this article, an attempt is first made to represent metaphysical free reasoning’s and to develop a concept based on anthropological, human needs and minimal morality. According to the view held here, the concept of human dignity can be constructed on a minimal moral basis and this minimal morality is congruent with the human dignity mentioned in Art. 1 of the German constitution. This minimal moral understanding is consistent with an ethical strategy of avoiding evil. The strategy asserts that, every rationally thinking person wants to avoid the basic evils. The basic evils are everywhere: The suffering caused by the pain of physical and health impairments, by death and destruction, by deprivation of the basic conditions necessary for a living decent life, by deprivation of fundamental freedoms, which are part of an adequate standard of living and by the withdrawal of fundamental freedoms. The acts of violation mentioned above as basic evils also represent typical violations of human dignity. This demonstrates that the strategy of avoiding fundamental evil has much in common with the protection of human dignity and even coincides with it. Thus, according to the opinions held here, metaphysical approaches cannot lead to an ‘extension’ of the protection of human dignity, but on the contrary, rather to a ‘restriction’ of protection. Keywords: Human dignity, metaphysic, metapysical free concept of human dignity, minimal morality, human needs, avoiding evil
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I.
Einleitung
In diesem Vortrag1 wird anhand der Fragen, die die Veranstalter des Workshops zur Vorbereitung gestellt haben, zu untersuchen versucht, ob eine Menschenwürdekonzeption ohne eine metaphysische Begründung denkbar ist. Ein allgemeiner Gebrauch oder ein feststehendes Verständnis des Begriffs „Metaphysik“ ist nicht festzustellen. Dies gilt sowohl für die Philosophie als auch für die Rechtswissenschaft.2 Die Bedeutung und die Verwendung des Begriffes unterlagen in der Philosophiegeschichte einem enormen Wandel. Im 20. Jahrhundert haben sich metaphysikkritische Strömungen vermehrt. Im Handbuch der Metaphysik beschrieb Markus Schrenk Metaphysik folgendermaßen: „Wir wollen die uns umgebende Welt und uns in ihr verstehen. Dabei reicht das Bild, das die Naturwissenschaft alleine zeichnet, nicht aus, z. B. weil es unsere subjektiven Perspektiven auf die Welt, unser Lebensgefühl und unsere Weltanschauung ausspart. Die Metaphysik möchte aber das Gesamtbild sehen und seine Teile in ein kohärentes Ganzes bringen.“3 Im Allgemeinen wird in der Philosophie und in der Rechtswissenschaft angenommen, dass die Begriffe wie „Menschenwürde“, „Gleichheit“ und „freier Wille“ metaphysische Begriffe sind. II.
Fragen und Antworten
Frage 1 Können derartige Ansätze dem Prinzip der Menschenwürde eine tiefergehende, über die positivrechtliche Fundierung hinausreichende Begründung geben? Oder steht ein religiös bzw im Rahmen eines metaphysischen philosophischen Ansatzes verankertes Menschenwürde-Prinzip auf tönernen Füßen? Nach der hier vertretenen Ansicht können derartige Ansätze dem Prinzip der Menschenwürde eine tiefgründige, über die positivrechtliche Fundierung hinausreichende Begründung geben, und zwar auf der anthropologischen, auf den Menschenbedürfnissen beruhenden Grundlage. In diesem Aufsatz wird zuerst der Versuch unternommen, metaphysikferne Begründungen darzustellen und ein Konzept zu entwickeln. Die meisten Konzepte der Menschenwürde gehen entweder auf die religiösen Begründungen oder die säkularen, letztlich metaphysischen kantischen Begründungen zurück. Das christliche Verständnis von Menschenwürde beginnt mit einer Bibelstelle
Dem Artikel liegt der Vortrag zugrunde, der am 17.07.2019 im Rahmen der IVR Weltkongress beim speziellen Workshop Menschenwürde ohne Metaphysik in Luzern gehalten und für die Veröffentlichung überarbeitet wurde. Der Vortragsstill wurde weitgehend beibehalten. 2 Josef Franz Lindner, Rechtswissenschaft als Metaphysik, 2017, 24 3 Markus Schrenk, Einleitung in: Handbuch der Metaphysik, hg. von Markus Schrenk, 2017, 9 1
Menschenwürde ohne Metaphysik ist möglich
aus dem 1. Kapitel des Buches Genesis, wonach Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (Genesis 1, 26–27).4 Säkulare philosophische Interpretationen der Menschenwürde wie bei den deutschen Idealisten gehen ebenfalls auf die metaphysischen Begründungen zurück. Nach Kant ist der Mensch ein Zweck an sich und darf demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden. Das bedeutet, die Menschenwürde wird dann verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke beansprucht.5 Horst Dreier vertritt metaphysikkritische und religionskritische Ansichten, was die Begründung der Menschenwürde anbelangt. Seiner Begründung liegt eine positivistische Auffassung zugrunde.6 Horst Dreier bezeichnet die Menschenwürdekonzeptionen in Bezug auf die christliche Religion und naturrechtlich-idealistische Theorie als Wert- oder Mitgifttheorien.7 Nach den Wert- oder Mitgifttheorien wird unter Würde eine bestimmte Eigenschaft, eine den Menschen auszeichnende Qualität verstanden. Es gibt zwei Varianten von Wert-Mitgifttheorien, eine christliche und eine naturrechtliche idealistische. Die christliche gründet sich unter Berücksichtigung der Imago-Dei auf die Vorstellung der besonderen Auszeichnung des Menschen im Rahmen der göttlichen Schöpfungsordnung. Die naturrechtlich-idealistische Theorie, deren wichtigster Vertreter ohne Zweifel I. Kant ist, fordert die besondere Qualität der Vernunft des Menschen, dessen Fähigkeit in freier Selbstbestimmung und sittlicher Autonomie besteht. In beiden Theorien ist die Tendenz enthalten, Menschenwürde ohne Rücksicht auf ihre Aktualisierung oder Aktualisierungsmöglichkeiten, auch ohne Rücksicht auf tatsächliche Mängel, Verluste oder Verformungen anzuerkennen. Nach Dreier dürfte ein solcher Begriff von Menschenwürde ohne Hilfe der Theologie oder der Metaphysik nicht verstanden werden.8 Die Menschenwürdediskussion spielt bekanntlich bei den bioethischen und medizinethischen Fragen oft eine entscheidende Rolle. Im Zusammenhang mit dem vorgeburtlichen Leben und mit der Menschenwürde wird nicht selten das Kontinuitätsargument gebracht. Nach dem Kontinuitätsargument verdient der Frühembryo den Lebensschutz und mit ihm den Rechtsfertigungsgrund des Lebensschutzes und die menschliche Würde.9 Diese unter anderen von Otfried Höffe vertretene Position löst
Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2012, 123 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke in 10 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 6 1983 (1786) 6 Horst Dreier in Grundgesetz Kommentar, hg. von H. Dreier, 3. Aufl., 2013 Art. 1, Rn. 44 ff. 7 Horst Dreier (Fn. 6), Rd. 57. 8 Horst Dreier, aaO. 9 Otfried Höffe, Prinzip Menschenwürde, in: Medizin ohne Ethik? hg. von O. Höffe 2002, 82
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Metaphysikvorwürfe aus.10 Nach Gerhard Luf werden mit diesem Metaphysikvorwurf zweierlei Ziele verfolgt: „Zum einen wird dieses Würdekonzept im Hinblick auf seine wissenschaftliche Qualifikation in Frage gestellt, weil es, so der Tenor, auf irrationalen Prämissen beruhe. Sie entziehe sich damit einem rational diskursiven Nachvollzug und werde häufig dazu benützt, unter Berufung auf “ absolute Werte“ den argumentativen Diskurs abzuschneiden und zu blockieren. Zum anderen wird in gesellschaftspolitischer Hinsicht betont, eine solche Position überschreite, zur Grundlage einer allgemeinverbindlichen juristischen Regelung gemacht, den Konsensrahmen einer pluralistischen Gesellschaft, weil sie dem Prinzip der religiös weltanschaulichen Neutralität des modernen Verfassungsstaates widerspreche.“11
Neumann führt aus, dass theologische Ansätze in einer nicht auf theologische Prämissen verpflichteten rechts -und moralphilosophischen Diskussion nicht konsensfähig sein können: „Erklärt man eine theologisch orientierte „metaphysische Ontologie“ zur einzigmöglichen theoretischen Begründung des Gedankens der Menschenwürde, so gerät in einer pluralistisch geprägten Diskussionskultur das, was als Aufwertung eines theologisch-metaphysischen Ansatzes gedacht sein mag, im Ergebnis zu einer Schwächung des Fundaments des Menschenwürdeprinzips. Grundsätzlich nichts anderes gilt für metaphysische Ansätze, die nicht ausdrücklich einer theologischen Perspektive verpflichtet sind, sofern sie ein Bekenntnis zu einer bestimmten normativen Anthropologie voraussetzen.“12
In demokratischen, modernen Gesellschaften können religiöse Überzeugungen nicht bindend sein. Weitgehend wird angenommen, dass der Menschenwürdebegriff einen stoisch-christlichen Ursprung hat. Dieser Umstand macht es nicht leicht, dass der Begriff der Menschenwürde von Nichtchristen akzeptiert wird. Dieses Thema führt oft zu heftigen Diskussionen. Franz Josef Wetz, einer der kritischen Vertreter der herkömmlichen Menschenwürdekonzeptionen, argumentiert, dass für viele Menschen in einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft die traditionale Metaphysik und der christliche Glaube nicht mehr nachvollziehbar ist. Wetz führt aus, dass eine religiöse-metaphysische Begründung und Verankerung des Menschenwürdekonzeptes mit der verfassungsmäßig garantierten Neutralität des liberalen Gemeinwesens in Widerspruch stehen. Nach Wetz ist diese historische Neutralität in Art. 3 GG (Gleichheitsbestimmung), Art. 4 GG (Glaubens-, Gewissens-und Religionsfreiheit), Art. 33 GG (Zugang
Gerhard Luf, Menschenwürde in der Biomedizin, in: Der Begriff der Menschenwürde hg. von Michael Fischer, 2005, 247–267 (253) 11 Luf (Fn. 10), 254 12 Ulfrid Neumann, Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, 35–55, (51); ders., Die Tyrannei der Würde, ARSP, 84 (1998), 153–166 (164) 10
Menschenwürde ohne Metaphysik ist möglich
zum öffentlichen Dienst) und Art. 140 GG (die Fortgeltung der Bestimmungen der Weimarer Verfassung über die Neutralität) verfassungsrechtlich tief verankert.13 Wetz kritisiert mit dem gleichen Argument die vernunftmetaphysische Auslegung des Menschenwürdebegriffs, wie eine christliche Auslegung des Menschenwürdebegriffs. Wetz zufolge ist das vernunftphilosophische Würdeverständnis in gleichem Maße geschichtlich und weltanschaulich eingefärbt und daher als oberste Leitidee eines Regelwerks mit kulturinvariantem Gültigkeitsanspruch ebenfalls unbrauchbar.14 Daher muss der Begriff der Menschenwürde in einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft weltanschaulich-religiös neutral sein. Außerdem ist es nicht realistisch, einen weltanschaulichen oder religiösen Menschenwürdebegriff in einer pluralistischen Gesellschaft durchzusetzen. In einem pluralistischen Staat sind mehrere Weltanschauungen, Religionen, Kulturen und Werte nebeneinander vorhanden und stehen miteinander in Konkurrenz.15 Wenn wir an Deutschland denken, stellen wir fest, dass neben Katholiken und Protestanten, die die größten christlichen Kirchen bilden, auch Atheisten und Agnostiker, die zu keiner Kirchengemeinde zählen, existieren. Man schätzt, dass zur Zeit 4,4–4,7 Millionen Muslime in Deutschland leben.16 In Deutschland beträgt die Zahl der Menschen mit Migrationsgrund ca. 19,7 Millionen. Die Zahl der Ausländer (Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit) beträgt 10.7 Millionen. Es ist ein verfassungsrechtlicher Auftrag, dass der Staat dabei allen religiösen oder nichtreligiösen Gruppen gleich nah oder gleich fern sein sollte.17 Menschenwürde als Leitwert
Trotz der oben genannten Tatsachen und pluralistischer Gesellschaft müssen wir die Frage stellen, ob wir einen Menschenwürdebegriff in einer pluralistischen Gesellschaft benötigen. In Deutschland wie in der modernen Welt ist der Pluralismus der Weltanschauungen eine Tatsache, die unumstritten gilt. In einer pluralistischen Gesellschaft ist ein gemeinsames Handeln, das auf den gemeinsamen Wertvorstellungen basiert, oft schwierig.18 Wir suchen oft Konsens in schwierigen bioethischen, medizinethiFranz Josef Wetz, Menschenwürde-Eine Illusion? In: Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, hg. von Wilfried Härle, Bernhard Vogel, 2008, 27–48, (35 f.) 14 Wetz (Fn. 9), 36, 37 Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde, 2005, 138 ff. 15 Altan Heper, Gedanken zum Begriff der Menschenwürde in: Feridun Yenisey Armagan (Festschrift für Yenisey), hg. von. A. Nuhoglu / S. Altunc / C. Y Pirim, 2014, 2294 16 Angaben basieren auf der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp71zahl-muslime-deutschland.pdf?__blob=publicationFile%7CSudie. Abgerufen am 04.09.2019 17 Reinhold Zippelius / Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl., 2018, 390. Gerhard Czermak / Eric Hilgendorf, Religions-und Weltanschauungsrecht, 2. Aufl., 2018, 80 ff. 18 Altan Heper, Ist Menschenwürde ein gesellschaftlich notwendiger Begriff? in: Jahrbuch für Recht und Ethik, B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Band 20 (2012), 271–284 (273) 13
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schen Fragen wie in der Stammzellenforschung oder im Klonen zu therapeutischen Zwecken. Die Frage ist, ob Menschenwürde als gemeinsamer Leitwert uns für die Konsensfragen in einer pluralistischen Gesellschaft dienen kann. Es gibt Gründe, die gegen die Menschenwürde als gemeinsamen Wert sprechen. Es gibt aber auch Gründe, die dafür sprechen. Die Gründe, die gegen die Menschenwürde sprechen, sind folgende: Der wichtigste Grund ist die Unbestimmtheit des Begriffes. Deshalb wird die Verwendung des Begriffes „ kleine Münze“ genannt. Die Vagheit des Begriffes führt zu einer inflationären und missbräuchlichen Verwendung19. Ein anderer Aspekt ist, dass unterschiedliche Disziplinen um die Interpretationshoheit des Begriffs konkurrieren.20 Die Philosophie, die Theologie und die Rechtswissenschaft interpretieren den Begriff sehr unterschiedlich. Die Gründe, die für die Menschenwürde als gemeinsamen Wert sprechen, sind folgende: Der Begriff der Menschenwürde findet allgemeine Zustimmung in juristischer, philosophischer und theologischer Hinsicht. In allen drei abrahamitischen Religionen findet sich eine allgemeinere Akzeptanz. Auch auf internationaler Ebene genießt der Begriff großes Ansehen.21 Menschenwürde als Minimalmoral
Die Frage ist, ob in einer multikulturellen, pluralistischen Gesellschaft Menschenwürde als eine Minimalmoral in Frage kommen kann. Zuerst ist zu prüfen, ob eine Minimalmoral oder eine Kernmoral notwendig und möglich ist. Die Begriffe wie „Minimalmoral“ und „Maximalmoral“ gehören ohne Zweifel zu den Grundbegrifflichkeiten der Ethik. Unter der Minimalmoral versteht man dabei ethische Basiskonzeptionen wie das Tötungsverbot, das Verbot der Schadenszufügung oder das Diskriminierungsverbot. Es ist eine Art Urmoral, die über allem anderen steht und ohne die alles andere nichts bedeutet. Unter der Maximalmoral versteht man Gebote, die zum einen nicht verpflichtend sind, und die vor allem lediglich das soziale Miteinander angenehm gestalten sollen. Es ist offensichtlich, dass wir minimale Moralregeln neben den Rechtsregeln benötigen, um miteinander friedlich zusammenleben zu können.22 Jetzt ist die Frage, ob ein Menschenwürdebegriff sich auf einer Minimalmoralbasis konstruieren
Eric Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Band 7, 1999, 137–157, (137 ff.) 20 Heper (Fn. 18), 275 21 Tiedemann (Fn. 4), 10 ff. 22 In modernen pluralistischen Gesellschaften gibt es selbstverständlich Regeln, die dem Schutz und dem friedlichen Leben der unterschiedlichen Überzeugungen und Lebensformen dienen und die daher für alle Bürger verbindlich sein müssen. In diesem Zusammenhang erklärt Stefan Huster, dass diese Rahmenordnung den Kern des staatlichen Rechts bilde und in dieser Rahmenordnung eine politische Minimalmoral zum Ausdruck komme (Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, 11). 19
Menschenwürde ohne Metaphysik ist möglich
lässt und diese Minimalmoral mit der in Art. 1 normierten Menschenwürde deckungsgleich ist. Der Philosoph Theodor Leiber schlägt eine Minimalmoralkonstruktion auf den anthropozentrischen Grundregeln vor.23 Hier wird der Versuch unternommen, durch anthropozentrische Regeln eine universalisierbare Minimalmoral zu konstruieren und mit der Hilfe der Minimalmoral einen Menschenwürdebegriff zu entwickeln. Die Minimalmoral soll weder ethnozentrische, noch kulturzentrische noch religionzentrische oder metaphysikzentrische Eigenschaften enthalten. Die Minimalmoral weist die Basis der elementaren Menschenrechte und der Grundrechte auf. Dieses Minimalmoralverständnis stimmt mit einer ethischen Strategie der Übelvermeidung überein. Die Strategie besteht darin, dass jede rational denkende Person die Grundübel vermeiden will. Die Grundübel sind überall: Das Erleiden von Tod, Schmerzen und anderen körperlichen und gesundheitsschädlichen Eingriffen, der Entzug der Grundbedingungen, die zu einer angemessenen Lebensführung gehören, und der Entzug der Grundfreiheiten. Kein Mensch würde bewusst auf diese Möglichkeiten verzichten.24 Die oben als Grundübel genannten Verletzungshandlungen stellen gleichzeitig typische Menschenwürdeverletzungen dar. Dies zeigt, dass die Strategie der Vermeidung der Grundübel mit dem Schutz der Menschenwürde große Gemeinsamkeiten, sogar Deckungsgleichheit aufweist. Frage 2 Inwiefern können metaphysische Ansätze zu einer Erweiterung, inwieweit können sie zu einer Einschränkung (Stichwort: Sterbehilfe) des Schutzes führen, der elementaren menschlichen Interessen durch das Prinzip der Menschenwürde zu Teil wird? Nach der hier vertretenen Meinung können metaphysische Ansätze zu keiner Erweiterung führen, sondern im Gegenteil zu einer Einschränkung. Im Zusammenhang mit der Sterbehilfe argumentieren die Gegner der Sterbehilfe, dass sich der gesellschaftliche Rang der Sterbehilfe aus dem Umgang der Menschen einer Gesellschaft mit ihren Sterbenden herleitet, gerade weil diese wegen ihrer „Schwäche-Situationen“ am Lebensende besonders schutzbedürftig sind. Nach dieser Position würden die Sterbehilfe und der durch diese Hilfe verursachte Tod gegen die Menschenwürde verstoßen, weil die Grundlage der Menschenwürde, nämlich das menschliche Leben, vernichtet werde.25 Frage 3 Lässt sich ein interaktiver Ansatz der Menschenwürde vertreten, der darauf verzichtet, Würde als apriorische Eigenschaft des Menschen zu interpretieren, und sie allein im Bereich zwischenmenschlicher Kommunikation lokalisiert?
Theodor Leiber, Natur-Ethik, Verantwortung und Universalmoral, 2002, 72 ff. Leiber, (Fn. 23) 77 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde in: Menschenrechte und MenschenwürdeHistorische Voraussetzungen-Säkulare Christliches Verständnis, hg. von Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1987, 295–313 23 24 25
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Ein derartiger Ansatz lässt sich nach der hier befürworteten Auffassung vertreten. Alle soziologischen Theorien der Menschenwürde und die Kommunikationstheorien der Menschenwürde haben ein Menschenwürdekonzept, das als metaphysikfrei zu bezeichnen ist. Gesa Lindemann fasst die soziologischen Theorien folgendermaßen zusammen: „Alle soziologischen Theorien menschlicher Würde gehen davon aus, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen der Entstehung funktionaler Differenzierung bzw. der Entstehung von Arbeitsteilung und Menschenwürde gibt, die allen Menschen gleicher Weise zukommt. Hier liegt der Kern soziologischer Menschenwürdetheorien. Die Unterschiede liegen darin, wie der Zusammenhang gedacht wird und welche Position dem Staat bzw. dem politischen System für den Schutz menschlicher Würde zukommt. Durkheim war an diesem Punkt noch eher optimistisch und beschreibt konkrete Aufgaben des Staates für die Zusicherung der Individualisierung. Zugleich müsse aber der machtvolle Zugriff des Staates auf die Bürger begrenzt werden. Dieser letztere Aspekt steht bei Luhmann im Mittelpunkt, die Grundrechte und zentral auch die Grundrechte auf Würde und Freiheit seien rechtlich kodifizierte Institutionen, die eine Überpolitisierung der gesellschaftlichen Kommunikation verhindern würden. Würde versteht Luhmann genauer als Leistung der Persönlichkeit, die durch den Staat nicht beeinträchtigt werden dürfe. Im Anschluss an Plessner rückt der über die Individualisierung hinausgehende Aspekt der diesseitigen Verkörpertheit sozialer Personen in den Mittelpunkt. Der individuelle diesseitig biologisch lebendige Mensch wird als die institutionelle Bedingung funktioneller Differenzierung begriffen“26
Gesa Lindemann selbst begründet ihren Menschenwürdeansatz auf Kommunikationsbasis, den Lindemann als „Diesseitigkeitstheorie“ bezeichnet.27 Lindemann fasst ihren Menschenwürdeansatz folgendermaßen zusammen: „Soziologische Theorien menschlicher Würde (Durkheim, Luhmann) begreifen diese als eine normative Institution, die an eine historische gesellschaftliche Ordnung gebunden ist. Solche Analysen von Menschenwürde stellen den Zusammenhang zwischen funktioneller Differenzierung, Individualisierung und der Institutionalisierung der Würde des Individuums heraus. Der Träger von Würde wird als selbstverständlich vorausgesetzt: der lebendige Mensch. Die Theorie der Würde des diesseitig lebendigen Menschen geht einen Schritt weiter, denn sie begreift die Frage, wer als Subjekt von Individualisierung und damit als Träger von Würde gelten kann, als ein Resultat historischer Prozesse.“28
Gesa Lindemann, Menschenwürde-ihre gesellschaftlichen Bedingungen in: Menschenwürde und Medizin, hg. von Jan C. Joerden / Eric Hilgendorf / Felix Thiele, 2013, 419–446, (441) 27 Eingehend Lindemann (Fn. 26) 28 Gesa Lindemann, Diesseitigkeitstheorie, in: Wörterbuch der Würde, hg. von Rolf Gröschner / Antje Kapust / Oliver W. Lembcke, 2013, 65 f. 26
Menschenwürde ohne Metaphysik ist möglich
Gewöhnlich werden Menschenwürdetheorien in drei Gruppen eingeordnet, nämlich in die Wert- oder Mitgifttheorie, in die Leistungstheorie und in die Kommunikations- oder Anerkennungstheorie.29 Kommunikations- oder Anerkennungstheorien scheinen metaphysikfern zu sein. Nach Hofmanns Darstellung ist aus der Sicht der Kommunikationstheorie der staatsstrukturelle Aspekt der Menschenwürde und ihre Staatsgründungsfunktion entscheidend.30 Hofmann unterscheidet die Kommunikationstheorie von der Wert- oder Mitgifttheorie und der Leistungstheorie dadurch, dass sich Würde in sozialer Anerkennung durch positive Achtungsansprüche konstituiert. Nach Hofmann sei Würde jedenfalls im Rechtssinne kein Substanz-, Qualitäts- oder Leistungs-, sondern ein Relations- oder Kommunikationsbegriff. Folglich muss Hofmann zufolge die Menschenwürde als eine Kategorie der Mitmenschlichkeit des Individuums begriffen werden und kann nicht unabhängig von einer konkreten Anerkennungs- und Rechtsgemeinschaft gedacht werden.31 Frage 4 Kann die praktische Funktion des Menschenwürde-Prinzips überzeugend auf den Schutz lebensweltlicher menschlicher Bedürfnisse und Interessen reduziert werden oder muss sie sich auf den Schutz bestimmter „Werte“ oder eines bestimmten „Menschenbildes“ erstrecken? Der Verfasser tendiert in diesem Artikel zu einer Menschenwürdekonzeption auf der Basis des Schutzes lebensweltlichen menschlicher Bedürfnisse und Interessen. Eric Hilgendorf begründet sein Menschenwürdekonzept durch die basalen lebensweltlichen Bedürfnisse des Menschen. Nach Hilgendorf lassen sich diese lebensweltlichen Bedürfnisse durch subjektive Rechte auf ein materielles Existenzminimum, auf autonome Selbstentfaltung, auf Schmerzfreiheit, auf Wahrung der Privatsphäre, auf geistig-seelische Integrität, auf grundsätzliche Rechtsgleichheit und minimale Achtung vermindern. Alle diese Grundfreiheiten bilden ein Ensemble von subjektiven Rechten.32 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Dieter Birnbacher. Birnbacher rekonstruiert in seinem Aufsatz „Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar?“ den Menschenwürdebegriff mit drei Bedeutungen: nämlich Menschenwürde als Ensemble unabwägbarer, moralischer Rechte (Menschenwürde im starken Sinne), Menschenwürde im normativen schwächeren Sinne und Menschenwürde als Gattungswürde33. Der Anwendungsbereich und die normative Kraft dieser Begriffe von Menschenwürde sind unter-
Dreier (Fn. 6) Rn. 56 ff. ; Hofmann (Fn. 7), 361 ff. Hofmann (Fn. 7), 368,369; Dreier (Fn. 6) Rn. 59 Hofmann (Fn. 7), 364 Hilgendorf (Fn. 19), 158 Dieter Birnbacher, Menschenwürde- abwägbar oder unabwägbar? In: Biomedizin und Menschenwürde, hg. von Matthias Ketner,2004,249–271, (253); Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin die menschliche Würde? in: Um Leben und Tod, hg. von. Anton Leist, 1990, 226 f. 29 30 31 32 33
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schiedlich.34 Nach Birnbachers Ansatz gehören zur Menschenwürde im starken Sinne mindestens fünf Rechte: 1. Das Recht, von Würdeverletzungen im Sinne der Verächtlichmachung und Demütigung verschont zu bleiben. 2. Das Recht auf ein Minimum an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. 3. Das Recht auf Hilfe in unverschuldeten Notlagen. 4. Das Recht auf ein Minimum an Lebensqualität im Sinne von Leidensfreiheit und 5. Das Recht, nicht ohne Einwilligung und in schwerwiegender Weise zu fremden Zwecken instrumentalisiert zu werden.35 Birnbacher zufolge kann „die starke normative Kraft des starken Begriffs durch die basale Natur der Bedürfnisse begründet werden.“36 Auch Birnbachers Ansatz ist als metaphysikfern zu bewerten. Es ist auch festzustellen, dass eine deutliche Skepsis bezüglich der Menschenwürdebegründungen in der anglo-amerikanischen Diskussion im rechtsphilosophischen Bereich herrscht.37 Neuerdings gibt es neue neurobiologische Ansätze. Der Neurobiologe Gerald Hüther argumentiert, dass Würde nicht allein ein ethisch-philosophisch begründetes Menschenrecht sei. Würde sei ein neurobiologisch verankerter innerer Kompass, der uns Menschen in die Lage versetze, uns trotz vielfältiger Anforderungen und Zwänge in einer hochkomplexen Welt nicht zu verlieren. Deshalb sei es so wichtig, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken.38 III.
Ergebnis
Es ist offensichtlich, dass die Aufklärung der Menschenwürde uns noch lange beschäftigen wird, wobei zweifellos sowohl metaphysikferne und als auch metaphysiknahe Ansätze fruchtbare Diskussionen stiften. PD Dr. jur. Dr. Altan Heper
Özyegin Universitesi Hukuk Fakültesi, Çekmeköy-İstanbul/Türkei; [email protected]
34 35 36 37 38
Birnbacher, (Fn. 33), Menschenwürde, 253 Birnbacher, Fn. 34), 254 Birnbacher (Fn. 34), 262 Philipp Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, 2018, 262, 280, 295, 347, 348 Gerald Hüther, Würde, 2019
Menschenwürde, Person und Strafrecht YU-AN HSU (Taipei)
Abstract: The concept of human dignity is the legal foundation of every democratic country. The
validity of human dignity as a fundamental right applies not only to state acts, but also to private relationships. According to the general opinion, this idea has its origin in the legal philosophy of Immanuel Kant and the object formula derived from him. This formula claim we should treat human as person and therefore not as object. When we think of the separation between human and person in history and legal philosophy, we first encounter the following problem, namely: that we have to ask ourselves what the concept of human means here. If we understand the concept of human in the ontological sense, one can doubt that punishment does not violate human dignity. Then the punishment could even be illegal within the framework of a constitutional order, because every punishment necessarily affects human dignity as a restriction of freedom. If we consider human being as reasonable person, the justification for punishment lies in the person’s free will. In other words, a person has previously agreed to the legal ramifications of law. However, this statement leads to a dilemma. Why could one give up his own dignity when we said that human dignity has been inviolable from the start? These problems will be dealt with in the article. Keywords: human dignity, person, criminal law, punishment
I.
Fragestellung
Der Begriff der Menschenwürde ist das Fundament des Rechts in einem demokratischen Land. In Deutschland ist die Menschenwürde nicht nur der oberste Wert im Grundgesetz, sie bildet auch eines der tragenden Konstitutionsprinzipien, die alle anderen Bestimmungen des Grundgesetzes sowie die Auslegung der Grundrechte determinieren1. Nach herrschender Meinung ist die Menschenwürde selbst auch ein
BVerfGE 6, 32, 36, 41; 109, 133, 149; 109, 279, 311; 131, 268; Hillgruber, in: V. Epping / C. Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 41. Ed. 2019, GG Art. 1, Rn. 1–2. 1
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subjektives Grundrecht2, wohingegen sie für andere Stimmen als Grund der Grundrechte ausschließlich ein objektiver Verfassungsgrundsatz ist3. Die Absolutheit der Menschenwürde wird jedoch von beiden Seiten anerkannt, das heißt, die Menschenwürde stellt eine Grenze dar, die nicht durch Abwägung relativiert werden darf. Die Gültigkeit der Menschenwürde als Grundlage der verfassungsrechtlichen Wertordnung gilt nicht nur für die Handlungen des Staates, sondern auch für solche im Rahmen privater Beziehungen. Die Wesentlichkeit der Menschenwürde wird einstimmig bejaht, die Unbestimmtheit ihrer Definition jedoch ebenfalls4. Man begegnet sogar der Behauptung, die Menschenwürde sollte überhaupt nicht definiert werden, weil eine derartige Definition zu einer Begrenzung bzw. Beschränkung der Menschenwürde führe.5 Bis jetzt gilt nur eine sog. negative Definition der Menschenwürde, die Objektformel, nämlich: den Menschen nicht als Objekt zu behandeln6. Das hilft allerdings nicht viel weiter für die begriffliche Klärung. Deswegen sind Auslegung und Anwendung immer noch hoch umstritten. Die Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichtes werden hierbei zumeist entweder als widersprüchlich oder als willkürlich kritisiert. Dieser Stand, d. h. ohne eine verlässliche inhaltliche Aussage, kann natürlich nicht zufriedenstellen. Nach allgemeiner Meinung geht die Idee der Menschenwürde auf Immanuel Kant und die von ihm abgeleitete Objektformel zurück. Der erste Schritt einer Lösung ist daher, zu erforschen, wie Kant Objekt und Subjekt trennt, und was die Würde bei ihm bedeutet. Durch diese Betrachtung lassen sich möglichweise einige Spuren der Ursache finden, die die heutigen Auseinandersetzungen erzeugt.
BVerfGE 61, 126, 137; 109, 133, 151; Starck, in: ders (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, IV/1, 2006, 61; Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, 15. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 3; Höfling, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz: Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 1, Rn. 5; Robbers, in: D. C. Umbach / T. Clemens, Heidelberger Kommentar zum Grundgesetz, Bd 1, 2002, Art. 1, Rn. 33; Hufen, JuS 2010, 1, 2; Linke, JuS 2016, 888. 3 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., 2013, Art. 1, Abs. 1 Rn. 121 ff.; Isensee, AöR 131 (2006), 173, 209 ff. 4 In Philosophie: Klippel/Paulus, Enzyklopädie der Neuzeit Online, Stichwort Menschenwürde. 5 Der Begriff der Menschenwürde sei undefinierbar, siehe: Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff: eine philosophische Klärung, 3. Aufl. 2012, S. 88; Schmidt-Jortzig, Humanität und Menschenwürde aus rechtlicher Sicht, in: V. Schumpelick / B. Vogel (Hrsg.), Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb – Probleme, Trends und Perspektiven, 2008, 53, 56; Nettesheim, AöR 130 (2005), 77. 6 Vgl. nur Hillgruber, in: V. Epping / C. Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 41. Ed. 2019, GG Art. 1, Rn. 13. Weitere Ausführungen dazu bei Neumann, ARSP 103 (2017), 287, 292 ff. 2
Menschenwürde, Person und Strafrecht
II.
Suche nach der Definition der Menschenwürde in der kantischen Philosophie
1.
Die Objektformel
Über die Objektformel ist uns schon bekannt, dass man erste Hinweise auf sie in dem Werk „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785 finden kann. Kant formuliert als sog. kategorischen Imperativ, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, durch die man zugleich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde7. Danach formuliert Kant das Gebot vollständig: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“8 Die obengenannten Passagen kann man wie folgt analysieren: A. Hier finden wir nicht nur eine Trennung zwischen Person und Sache, sondern auch eine zwischen Menschheit und Persönlichkeit. Das erörtern wir später. B. Wörtlich gesehen sagt Kant nur, dass wir einen Menschen nicht bloß als Mittel behandeln dürfen. Es ist aber nicht verboten, dass wir einen Mensch gleichzeitig als Mittel und als Zweck ansehen. Nach dieser Auffassung dürften wir freilich den anderen Mensch als Mittel nutzen, wie etwa Knoepffler als Beispiel genannt hat, ihn nach dem Weg fragen, also als Ersatz für eine Straßenkarte hernehmen9. Was dann für Kant ungerecht ist, ist einen Mensch nur als Werkzeug auszunutzen. C. Bemerkenswerterweise sind die Ausdrücke „Menschenwürde“ oder „Würde des Menschen“ in der Tat in diesem Buch gar nicht vorhanden10. Man fragt sich daher, was Kant eigentlich mit Würde gemeint hat? 2.
Die Würde
Der Begriff der Würde findet sich an anderer Stelle des Buches. Kant erwähnt eine Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, „das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt.11“ Offensichtlich ist dies derselbe Gedanke, wie er sich beim kategorischen Imperativ findet. Dazu führt Kant weiter aus, dass Sachen mit einem Preis Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, 421. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, 429. Knoepffler, Humanitätsideal und Menschenwürde, in: V. Schumpelick / B. Vogel (Hrsg.), Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb – Probleme, Trends und Perspektiven, 2008, 37, 44. 10 Stoecker, Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde, ZiF-Mitteilungen 1/2010, 19, 23. 11 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, 434. 7 8 9
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berechnet werden können. Die Würde hat demgegenüber einen inneren Wert, für den man jedoch keinen Preis berechnen kann. Als vernünftiges Wesen hat dann Würde, wer gemäß der Moralität selbst gesetzgebend sein kann. Deswegen hat nach Kant die Würde eine Grundlage in der Autonomie, die nur vernünftige Menschen besitzen können. Kant führt den Würdebegriff danach in der „Metaphysik der Sitten“ weiter aus: „Allein der Mensch, als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“12 Die mit der Autonomie verbundene Würde besitzt der Mensch als Person, nicht aber der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon). Nach Kant hat der Mensch als Naturwesen mit den übrigen Tieren einen gemeinen Wert. Das heißt, der Mensch in diesem Sinne ist als Sache anzusehen und hat insoweit als Tauschmittel einen Wert wie Geld. Der Mensch hat also einen Preis und deswegen keine Würde.13 Das erste Problem des Würdebegriffs bei Kant ist, dass es Menschen gibt, die nicht in der Lage sind, autonom zu sein, wie etwa Kinder oder geistig Behinderte. Wenn wir an einen Embryo denken, wird das Problem noch größer. Obwohl, wie Hruschka gezeigt hat, wir Embryonen als Mitmenschen betrachten können14, ist das Problem nicht trivial. Denn ein Embryo hat überhaupt keinen freien Willen. Die zweite Frage ist, ob ein Mensch auf seine Würde freiwillig verzichten kann. Wir können die Frage dahingehend erweitern, dass wir fragen, ob man für alle seine Entscheidungen und Handlungen sowie ihre Folgen die Verantwortung tragen muss, weil dies zur Würde gehört? 3.
Über die Beziehung zwischen Strafe und Menschenwürde
Das Anliegen dieses Beitrages ist weiter, zu fragen, ob die Menschenwürde durch Strafe verletzt werden kann. Kant hat diese Frage nicht beantwortet, stattdessen hat er seine Objektformel noch einmal, aber in neuer Weise mit Bezug auf Strafe formuliert. In „Die Metaphysik der Sitten“ schreibt er: Richterliche Strafe. kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürger-
12 13 14
Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 434 f. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 434. Vgl. Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, ARSP 88 (2002), 463, 478.
Menschenwürde, Person und Strafrecht
liche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat.“15 Die o. g. Passage beinhaltet die sog. Absolutheit der Strafe, was besagt, dass die Strafe selbst keine weiteren Funktionen erfüllen soll, mithin keine Strafzwecke verfolgt. Dazu behauptet Kant nur, dass die Strafe nicht irgendein Mittel sein darf. Die Strafe scheint also bei Kant gewissermaßen selbständig zu folgen, wenn eine Tat begangen wird. Danach sagt Kant einerseits, eine angeborene Persönlichkeit will dieser Instrumentalisierung widersprechen. Andererseits weiß er sehr genau, dass ein Mensch wegen der Strafe seine bürgerliche Persönlichkeit verliert. Für Kant basiert die Rechtfertigung der Strafe ausschließlich auf der Gerechtigkeit. Er betont daher, „wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Werth mehr, daß Menschen auf Erden leben.16“ Es ist sehr bemerkenswert, dass Kant in „Die Metaphysik der Sitten“ eine andere Bedeutung der Würde kennt, als man heute in der Literatur gemeinhin behauptet. Hier bezieht sich die Würde nicht auf die Behandlung eines Menschen im natürlichen Sinne, sondern auf die Position einer Person in der Gesellschaft. So schreibt Kant, dass der oberste Befehlshaber im Staat das Recht hat, die Würde als Ehre zu verleihen. Personen in Behörden oder Angehörige des Adels können Würde in diesem Sinne erhalten.17 Zumindest ist die Position als Staatsbürger ebenfalls als eine Würde im o. g. Sinne anzusehen. Ein Verbrecher jedoch kann eben diese Würde verlieren. Nach Kants Meinung ist ein Verbrecher zwar am Leben, „aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines Anderen (entweder des Staats, oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht … Wer nun das letztere ist …, ist ein Leibeigener (servus in sensu stricto) und gehört zum Eigenthum (dominium) eines Anderen, der daher nicht bloß sein Herr (herus), sondern auch sein Eigenthümer (dominus) ist, der ihn als eine Sache veräußern und nach Belieben (nur nicht zu schandbaren Zwecken) brauchen und über seine Kräfte, wenn gleich nicht über sein Leben und Gliedmaßen verfügen (disponiren) kann.“18 Hier sehen wir die rechtliche Behandlung des Verbrechers in dem Buch von Kant. Der Verbrecher ist ein Werkzeug und Sklave geworden. Sein letzter Anspruch auf Respektierung besteht darin, nicht gedemütigt zu werden, und sein Leben sowie seine Familienangehörigen zu behalten. Die Würde des Verbrechers wird bis zum Minimum
15 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 331. Dazu kritisch: Mohr, „Ein ‚Wert, der keinen Preis hat‘ – Philosophiegeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde Philosophische, theologische und juristische Analysen, 2007, 13, 26 f. 16 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 332. 17 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 328–329. 18 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 330.
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reduziert. Noch strenger könnte man formulieren, der Status des Verbrechers ist von dem eines Tieres kaum zu unterscheiden.19 Insgesamt wird klar, dass Kant eine zweite Bedeutung von Würde kennt, die wir heute bei der Diskussion der Objektformel wenig beachten. Eine gesellschaftliche Bedeutung der Würde besteht jedoch in den Werken von Kant. Die Würde in diesem Sinne besteht dann darin, verletzt werden zu dürfen. Die Folgerung dieser zweiten Bedeutung bei Kant ist widersprüchlich, weil die Strafe hier den Verbrecher zur Sache macht. Ändert sich die Situation schon, wenn wir gegen einen Verbrecher nur Freiheitsstrafe verhängen? Das ist zu verneinen. Denn ein Mensch, der ins Gefängnis eingeschlossen wird, verliert auch grundsätzlich seine Würde bzw. wird in dieser eingeschränkt. Somit stellt sich die Frage, wie man Strafe und Menschenwürde in Einklang bringen kann. In der Rechtswissenschaft kann man die Behauptung finden, dass der Verbrecher mit der Strafe einverstanden ist, bevor er sein Verbrechen begeht, da er um die Rechtsfolge vor seiner Tat wusste. Ob diese Aussage zutreffend ist, bedarf einer weiteren Analyse. III.
Auf der Suche nach einer positiven Definition der Menschenwürde
1.
Die Menschenwürde und die Autonomie
Nach herrschender Meinung basiert die Idee der Menschenwürde auf der Autonomie des Menschen und deren Schutz. Nach dem deutschen Bundesverfassungsgericht liege der Menschenwürde „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten“20. Diese Interpretation der Menschenwürde entspricht klar Kants Lehre über Würde in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“21. Eine solche Auslegung begegnet jedoch nicht selten Schwierigkeiten.22 Schon ganz grundlegend kann man fragen, ob die Autonomie eine wirkliche Voraussetzung der Menschenwürde ist. Wenn ja, dann haben nicht alle Menschen Menschenwürde. Wenn nein, dann fragt sich, wie sollen wir dann die Objektformel verstehen können. Es fragt sich, ob die Selbstbestimmung auch dann geschützt wird, wenn jemand nicht in der Lage ist, selbstbestimmt zu leben; bzw., ob die Selbstbestimmung geschützt wird, wenn jemand freiwillig auf seine Selbstbestimmung verzichtet. Natürlich ist es
Zur Wiedervergeltungstheorie und Menschenwürde: Merle, Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde, 2007, 130. 20 BVerfGE 45, 187, 227 ff. 21 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, 269 f. 22 Ausführlich: Bayertz, Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, ARSP 81 (1995) 465 ff.; Wildfeuer, Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke? In: M. Nicht / A. Wildfeuer (Hrsg.), Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput, 2002, 19, 22. 19
Menschenwürde, Person und Strafrecht
außerdem fraglich, ob das Selbstbestimmungsrecht anderer, z. B. von Mitbürgern, dem des Betreffenden entgegenstehen kann. 2.
Anwendung in der Praxis
Nach Ansicht des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist sogar die lebenslange Freiheitstrafe im Prinzip noch verfassungsmäßig. „Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse kann nicht festgestellt werden, dass der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe gemäß den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Gnadenpraxis zwangsläufig zu irreparablen Schäden psychischer oder physischer Art führt, welche die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzen.“23 Das BVerfG glaubt offensichtlich, dass sogar eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht gegen die Menschenwürde verstößt24. Diese Meinung erscheint fragwürdig. Wahrscheinlich kann man im Anschluss an Kants Ausführungen argumentieren, dass der Täter die Strafe wegen seiner Tat verdient. Bei dieser Erklärung wird die Würde nicht verletzt, wenn ein Mensch in freiwilliger Entscheidung die Verantwortung tragen muss. Bei der Entscheidung über das Luftsicherheitsgesetz ist die Meinung des BVerfG in der Tat nicht anders. Nach dieser Entscheidung kann eine Vorschrift, die den Abschuss eines entführten Flugzeugs erlaubt, verfassungsmäßig sein, wenn sich im Flugzeug lediglich Terroristen befinden25. Die Terroristen hätten dies verdient, eben weil sie Unrecht begehen. Der Grundgedanke ist identisch zu dem, wonach die Verbrecher als freiwillige Täter die Würde in der Rechtsordnung verlieren. Aber wenn die obengenannte Annahme und die Begründung des BVerfG richtig wären, könnte man bei einer Rettungsfolter wohl nicht sagen, dass Folter die Menschenwürde beeinträchtigt, denn der Täter hat eben zuvor die Tat, nämlich die Entführung des Kindes mit Absicht unternommen. Die Folter zielt nur darauf, das Kind als Opfer aus der hochgefährlichen Konstellation, die vom Täter hergestellt wird, zu retten. Hier erkennt man dann auch das Dilemma in den Entscheidungen des BVerfG.26 Auf der anderen Seite kann eine Handlung aus eigener Entscheidung gleichwohl die Menschenwürde verletzen. Bekannt geworden ist eine Entscheidung des deutschen Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG). Eine Peep-Show wurde wegen Beein-
BVerfGE 45, 187. Das BVerfG stellt weiter fest: „Die Menschenwürde wird auch durch eine langdauernde Unterbringung nicht verletzt, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist“ (BVerfGE 109, 133, 151). 25 BVerfGE 115, 118, 160 f. 26 Zu dieser „Würde gegen Würde“ Konstellation, Isensee, AöR 131(2006), 173, 190 ff.; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 181 ff. 23 24
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trächtigung der Menschenwürde für sittenwidrig erklärt27, obwohl die auftretenden Personen freiwillig daran teilgenommen hatten. 1995 hat der französische Verwaltungsgerichtshof den Wettbewerb des Werfens von Zwergen verboten, weil eine solche Aktivität die Menschenwürde verletze. Diese Meinung wird zumeist als richtig angesehen. Denn nach h. M. verstößt auch die „Freiwilligkeit“ des Sklaven noch gegen das Verbot der Verletzung der Menschenwürde. Hierzu lässt sich nun durchaus anmerken, dass die praktische Anwendung der Idee der Menschenwürde Schwierigkeiten macht und zu Widersprüchen führt. IV.
Die Umformulierung des Begriffs der Menschenwürde
1.
Die Notwendigkeit einer Umformulierung
Der Begriff der Menschenwürde verursacht einige Probleme auf verschiedenen Ebenen. Zunächst enthält der Begriff der Würde mindestens die Bedeutung, wonach die Würde eine soziale Position bedeutet, die man respektieren muss. Würde in diesem Sinn hat dann eine weitere Folge: wenn ein Mensch seine Würde aufgrund einer Begründung in der Gesellschaft erhält, kann er sie auch wieder verlieren, nämlich wenn die Grundlage der Begründung nicht mehr vorliegt. In der Philosophie ist der Würdebegriff auf Cicero zurückzuführen. In seiner Erklärung ist die Würde hauptsächlich ein Element eines hierarchisch strukturierten Sozialsystems. Das ist ein soziales bzw. politisches Verständnis der Würde als Rang, Stellung bzw. Ansehen des Menschen in der Gesellschaft.28 Die Würde bedeutet dann Verpflichtungen für das eigene Handeln, nicht so sehr Maßgabe, Parameter oder Kriterium für die Behandlung durch andere. Das heißt, bei Cicero hat der Würdebegriff noch kaum eine Schutzfunktion. Eine Unantastbarkeit der Würde wird dann natürlich nicht erwähnt.29 Entlang dieses Gedankengangs von Cicero kann man eine andere Richtung des Würdebegriffs finden, der in der Tat Kant in „Die Metaphysik der Sitten“ ebenfalls folgt. Ein Versuch oder eine Behauptung, die Menschenwürde in ihren beiden Bedeutungen klar zu trennen, kann nicht gelingen, denn man muss Kants Gedanken durch seine gesamte Arbeit zu verstehen versuchen, nicht nur durch einzelne Passagen über die Objektformel.30 BVerwGE 64, 274. von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 14, 2006, 501, 514; Baranzke, Menschenwürde zwischen Pflicht und Recht – zum ethischen Gehalt eines umstrittenen Begriffs, Zeitschrift für Menschenrechte 2010, 10, 15 ff. 29 Stoecker, Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde, ZiF-Mitteilungen 1/2010, 19, 21. 30 Vgl. aber Hufen, JuS 2010, 1. 27 28
Menschenwürde, Person und Strafrecht
Deswegen kann man die Widersprüchlichkeit bei der praktischen Anwendung des Begriffs der Menschenwürde nachvollziehen. Einerseits ist die Menschenwürde als Respekt gegenüber jedem menschlichen Wesens zu verstehen. Jeder als Mensch hat eine Würde, die absolut geschützt wird. Auf der anderen Seite bedeutet die Würde sozialen Status, mit anderen Worten eine künstliche Schöpfung, die durch die gesellschaftlichen Strukturen bestimmt wird. Die Würde im gesellschaftlichen Sinne ist deswegen nicht absolut. Diese beiden konzeptionellen Inhalte des Würdebegriffs werden jedoch bei Auslegung und Anwendung miteinander vermischt. Daher befindet sich der Würdebegriff beständig in einem inneren Widerspruch. Für die Rechtswissenschaft muss ein solcher Begriff unausweichlich zu Missverständnissen führen.31 2.
Menschenwürde als Humanität
Nicht zuletzt wegen der Widersprüchlichkeit des Begriffs der Menschenwürde soll somit vorgeschlagen werden, den Ausdruck der Menschenwürde umzuformulieren. Zum Inhalt der Menschenwürde im Strafrecht spricht das BVerfG auch vom „Wertund Achtungsanspruch des Verurteilten“32. Nicht nur im Strafrecht, sondern in der gesamten Rechtsordnung kann man die Menschenwürde als Wert- und Achtungsanspruch verstehen. Die Idee der Menschenwürde bedeutet dann im Grunde genommen, dass wir Menschen als Lebewesen mit wahrnehmenden und denkenden Fähigkeiten uns selbst ebenso wie andere als Menschen respektieren. Dies besagt nichts anders als die Idee der Humanität. Der Begriff der Menschlichkeit bzw. der Humanität haben eine lange Tradition. Zumindest seit der Aufklärung und der deutschen Klassik ( Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller) ist der Respekt zwischen Menschen eine der wichtigsten Ideen, und nach dem Zweiten Weltkrieg lebte der Gedanke der Humanität neu auf.33 Der Begriff der Humanität beinhaltet die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen unabhängig von Herkunft und Geschlecht. Im weiteren Sinn umfasst Humanität auch den Respekt vor allen Lebewesen, inklusive geistig Behinderter, Säuglinge, Embryonen. Denn wir Menschen wissen, dass diese Lebewesen das Vermögen haben, zu empfinden und Schmerz zu leiden, obwohl sie die Außenwelt jeweils in verschiedener Weise wahrnehmen. Der Mensch kann sich als solcher Schmerz vorstellen und fühlen. Gegen die Humanität sich zu stellen hieße nichts anderes als sich selbst zu verneinen. Dabei ist somit weder Status, Freiwilligkeit noch soziale Position
Neumann spricht von „irritierender Vieldeutigkeit der Menschenwürde“, ARSP 103 (2017), 287 ff. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 09. Juli 1997–2 BvR 1371/96 –, Rn. 10. Vgl. Nünning, Die Entdeckung der Humanität als kulturgeschichtliches Phänomen, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), 214 ff.; Irmscher, Nationalität und Humanität im Denken Herders, Orbis Litterarum 49 (1994), 189, 205. 31 32 33
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zu verlangen, sondern ausschließlich auf Mitgefühl abzustellen, wobei jeder Mensch im wahrsten Sinne des Wortes „gleich“ ist. Für die Umformulierung spricht noch weiteres: Was wir mit der Menschenwürdeidee eigentlich erreichen wollen, ist, die Humanität zu verteidigen. Sie ist unverzichtbar und deswegen unantastbar in jeder Rechtsordnung, obwohl man bezweifeln könnte, ob die Humanität als Grundrecht gilt. Das Recht auf eine menschliche Behandlung schützt uns nicht nur vor der unmenschlichen Behandlung seitens des Staates und anderer, sondern auch vor einer jeder Veränderung, die es mit sich bringen würde, dass wir nicht mehr unsere Menschheit festhalten können. V.
Schluss
Die Menschenwürde gilt als die Grundlage der Verfassungsrechtsordnung. Ihre Definition ist aber bis jetzt noch, trotz aller Bemühungen, unbestimmt und widersprüchlich geblieben. Bei der Anwendung ist ja das Ergebnis nicht selten offen, mitunter willkürlich und jedenfalls unvorhersehbar. Zu einer konsequenteren und nachvollziehbareren Auslegung wird hier vorgeschlagen, die Menschenwürde als Humanität zu verstehen. Nach dieser Umformulierung ist der Gedanke der Menschenwürde wie folgt zu fassen: Respekt vor Lebewesen, die wahrnehmen und fühlen können, insbesondere Mitmenschen. YU-AN HSU
Professor, College of Law, National Taipei University, No. 151, Dasyue Rd., Sansia Dist., New Taipei City 23741, Taiwan (R. O. C.), [email protected]
Rekonstruktion der Diskussion um die Menschenwürde Menschenwürde als ein normativer Anspruch YOUNG-WHAN KIM (Seoul)
Abstract: This article attempts a human-oriented model of human dignity. The so-called positive jus-
tification is characterized by deriving a normative claim to its protection from a certain property that everyone holds. The main critique of this cognitive approach is that it exclude people who do not have this ability. In addition this model represents a naturalistic fallacy. But the so-called negative justification approach refers to the different human needs and interests. Based on this, it is asked what people do not want to endure under any circumstances. From these protected interests, the incompatible actions are identified as the normative content of human dignity. The violation of human dignity is usually conceived as the experience of humiliation, which exceeds a certain level. Finally the opposite consequences of the concept of human dignity are illustrated on the example of active euthanasia. Keywords: Kognitive Interpretationen, Ontologisierung von Eigenschaften, Objekformel, Negativer Begründungsansatz, Demütigung, Aktive Sterbehilfe
I.
Problemstellung
Der Begriff der Menschenwürde zeichnet sich dadurch aus, dass er überall als eine Integrationsformel fungiert. Er bringt nämlich unterschiedliche ethische-politische Vorstellungen unter ein gemeinsames Dach. Freilich wird diese einheitsstiftende Leistung durch seine semantische Unbestimmtheit bzw. Beliebigkeit der inhaltlichen Ausfüllungen im jeweiligen Anwendungskontext erkauft. Auffällig ist dabei das Missverhältnis zwischen dem diesem Begriff eigenen Pathos und seinem deskriptiven Gehalt.1 So meint Hoerster, dass der Begriff nicht mehr als
Vgl. dazu D. Birnbacher, Schutz vor Demütigung als Grundrecht?, in: Menschenwürde und Demütigung, hg. von Hilgendorf, 2013, 63. 1
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ein normativ besetztes Schlagwort ohne jeden deskriptiven Gehalt sei, das zu unterschiedlichen politischen Zwecken benutzt wird.2 Daneben zeigt sich, dass er seine kategoriale Mehrdimensionalität aufweist, die von Folter, Embryonenforschung bis zur Humanklonierung reicht.3 Nicht zuletzt erscheint paradox aber auch, wenn sich die gegensätzlichen Stellungnahmen zur Verstärkung ihrer Begründung auf denselben Begriff der Menschenwürde berufen, wie es z. B. bei der Abtreibung wie auch bei der Sterbehilfe der Fall ist. Vom Pro-argument zur Abtreibung wird er als die Selbstbestimmung der Mutter verstanden, während vom Gegen-argument das Recht des werdenden Lebens im Vordergrund steht. Und bei der Sterbehilfe wird dem Höchstwert Leben die Selbstbestimmung der Patienten zum schmerzlosen Sterben gegenübergestellt.4 So verwundert es nicht, wenn Hilgendorf vom grundlegenden Dilemma des Menschenwürdetopos behauptet: „Gibt man dem Begriff einen … präzisen Inhalt, so droht er … seine einheitsstiftende Wirkung zu verlieren.“5 Aber diese Vieldeutigkeit und Mehrdimensionalität reichen noch nicht aus, diesen normativen Leitbegriff als Leerformel abzutun. Denn er stellt immer noch einen der letzten allgemein akzeptierten Werte unserer Gesellschaft dar, zumal er als eine argumentative Allzweckwaffe in der ethischen, juristischen und politischen Diskussion wirkt. Daneben ist der Begriff der Menschenwürde in den verschiedenen Rechtsordnungen gesetzlich verankert. So lautet z. B. Art. I. 1 GG in Deutschland, „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.6 Das spricht dafür, den Begriff nicht aufzugeben, sondern vielmehr zu präzisieren, solange nicht nachgewiesen wird, dass der Menschenwürdebegriff dazu nicht tauglich wäre.7 Es kommt also auf eine begriffliche Konstruktion nach seinem neuen Verständnis an. Hier wird nun versucht, ein menschen-gerechtes Denkmodell der Menschenwürde vorzustellen, das sich an Bedürfnissen und Interessen orientiert und daraus resultierende wechselseitige Rechtsansprüche der Menschen gegeneinander in den Vordergrund stellt. Die in diesem Workshop gestellte Frage, ob sich die
N. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes Ein rechtsphilosophischer Essay, 2002, 24. D. Birnbacher, Menschenwürde-Skepsis, in: Menschenwürde und Medizin, Ein interdiszipinläres Handbuch, hg. von Joerden/Hilgendorf/Thiele, 2013, 162 ff. Hier zeigt sich auch, dass das Thema der Menschenwürde auf dem Gebiet der Humanmedizin selbst so breit ist, dass es auf Neuromodulation, Roboter und Nanotechnologie Bezug nimmt. 4 Näher dazu U. Neumann, Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlichen Bedürfnisse. Versuch einer Eingrenzung, ARSP 103 (2017), 288. 5 E. Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde, in: Jahrbuch für Recht und Ethik Bd. 7 (1999), 138. 6 Siehe Präambel der UNO-Menschenrechtsdeklaration. Auch Art 10 II der koreanischen Verfassung erklärt: „jeder Bürger hat die Menschenwürde und ein Recht auf das Wohlergehen“. 7 Dazu P. Schaber, Menschenwürde und Selbstachtung. Ein Vorschlag zum Verständnis der Menschenwürde, in: Studia Philosophica 63 (2004), 93 f. Birnbacher behauptet, dass es einen formalen wie materialen Bedeutungskern – trotz der Unbestimmtheiten am Rande im Begriff der Menschenwürde – gibt, der sich durch alle verschiedenen Bedeutungszuweisungen durchhält (D. Birnbacher [Fn. 1], 64). 2 3
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Menschenwürde ohne Metphysik begründen lässt, ist vorab mit Ja zu beantworten. Aber die Frage ist nun, was unter dem Begriff der Menschenwürde zu verstehen ist, bzw. in welcher Weise dies vor sich gehen soll. II.
Die kognitiven Interpretationen
1.
Methodik dieses Ansatzes
Wenn Menschen in jeder normalen Gesellschaft Respekt verdienen, dann ist zu fragen, warum dem so ist. Der Ansatz, den Margalit „positive Rechtfertigung“ nennt, soll auf dem Gedanken beruhen, dass besondere Eigenschaften den respektvollen Umgang mit Menschen erfordern. So wird nun versucht, „allen Menschen gemeinsame Eigenschaften zu finden, aufgrund deren sie grundsätzlich Achtung verdienen“.8 In der Tat leistet die Formulierung des Art. 1. Abs. 1 GG in Deutschland auch dieser Zugriffsweise Vorschub. Denn diese Vorschrift setzt etwas als Gegenstand der Unantastbarkeit voraus, das als Würde des Menschen bezeichnet wird. Wenn Menschenwürde danach in einer bestimmten Eigenschaft gesucht wird, die jeder innehat, stellt sich dann die Frage, worin sie besteht. Blickt man auf die bisherigen Begriffsverständnisse, wäre diese kognitive Methode fast überall – von Stoa, mittelalterlicher Theologie, deutschem Idealismus bis zu heutigen Ansätzen – zu beobachten.9 Allerdings zeigt sich dabei, dass die meisten metaphysischen Auffassungen sie im angeborenen, inhärenten Wesen des Menschen sehen, wohingegen die empirischen Orientierung in der Fähigkeit des Menschen10, sich an einsehbaren moralischen Normen zu orientieren. Das Charakteristikum dieses Ansatzes liegt also darin, aus einer bestimmten menschlichen Eigenschaft normative Konsequenz für die Menschenwürde, nämlich das Gebot, sie zu schützen, abzuleiten.
Dazu A. Margalit, Die Politik der Würde Über Achtung und Verachtung, 2. Aufl., 2018, 67. So sieht Cicero, auf den der Begriff der Menschenwürde (dignitas hominis) eigentlich zurückgeht, diese gerade in der menschlichen Vernünftigkeit. Damit werden alle Menschen als Vertreter der Gattung des Vernunftwesens mit dem gleichartigen Anspruch (Egalität) konfrontiert, ihrer Stellung im Kosmos gerecht zu werden. Cicero, Vom pflichtgemäßen Handeln, Ausgewählte Werke, Bd. 1, 2008, 58. 10 Allerdings ist das Spektrum dieser Fähigkeit des Menschen, die üblicherweise als Personalität beschrieben wird, sehr breit. Sie reicht von den elementaren kognitiven Fähigkeiten wie Denkfähigkeit und Zukunftsbewusstsein über die Selbstbestimmungsfähigkeit und das Selbstbewusstsein bis zur Moralität und kritischen Selbstbewertung (D. Birnbacher [Fn. 3], 170). 8 9
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2.
Verschiedene Varianten
Beim Blick auf die bisherigen rechtsdogmatischen Bemühungen zeigt sich, dass es grundsätzlich zwei verschiedene Ansätze gegeben hat: die „Mitgifttheorie“ und die „Leistungstheorie“.11 Unter der „Mitgifttheorie“ werden solche Versuche verstanden, die Würde des Menschen als eine besondere Fähigkeit oder Eigenschaft des Individuums zu identifizieren, die diesem von seinem Schöpfer oder von der Natur mitgegeben ist. Anders als die Mitgifttheorie stellt die Leistungstheorie die aktive Identitätsbildung in den Vordergrund. In diesem Sinne sagt Luhmann: „Der Mensch hat seine Würde als Grund seines eigenen selbstbestimmten Verhaltens“.12 Der Vertreter der Mitgifttheorie soll indes der Tradition der christlichen Naturrechtslehre sowie der Philosophie Kants mit dessen Ethik des Personseins folgen.13 Nach der christlich-religiösen Interpretation liegt nun die Menschenwürde in der privilegierten Stellung, die dem Menschen im Schöpfungsakt zuerkannt wurde. Die Würde des Menschen beruht also auf der Gottesebenbildlichkeit, die der Herrlichkeit Gottes folgt. Darum verdienen alle Menschen in gleichem Maße Achtung14. Besonders zu erwähnen ist hier die Ansicht von Kant über die Menschenwürde. Für Kant sei allein der Mensch als ein autonomes Wesen (Person) zu betrachten. Er stellt nämlich ein Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft dar, das über allen Preis erhaben ist, denn als ein solcher (homo noumenon) sei er … als Zweck an sich selbst zu schätzen. Das heißt: er besitzt eine Würde (also einen absoluten inneren Werth).15 In dieser Weise begreift Kant die Menschenwürde als einen Wert, der autonomem Wesen (Person) wegen ihrer Fähigkeit zu vernünftigen und moralischen Handeln zukommt.16 Wenn die Menschenwürde als unantastbare Autonomie verstanden wird, ergibt sich daraus, dass dieser Anspruch verletzt wird, wenn jemand von einer anderen Person als bloßes Mittel behandelt wird. So behauptet Kant, „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“17 Diesen kantischen Gedanken hat
Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 21. Aufl., 2005, 82. N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, 53 ff. H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 358. Vor allem A. Margalit (Fn. 8), 67 f. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke (Akademie Textausgabe), Bd. IV, 1968, 434. 16 Nach Seelmann besteht der Grund der Menschenwürde nach der kantischen Philosophie sowohl in der Zweckhaftigkeit des Menschen als auch in deren Selbstgesetzgebung. Seelmann, Menschenwürde und die zweite und dritte Formel des kategorischen Imperativs, in: Menschenwürde, hg. von Brudermüller/Seelmann, 2008, 68 ff. Aber das Begründungsverhältnis zwischen diesen beiden wird dabei ambivalent formuliert. Zu diesem Umstand kommentiert Ruzicka, dass es zumindest verwirrend sei. R. Ruzicka, Menschliche Würde – Eine Auseinandersetzung mit Kant, Studia Philosophica 63 (2004), 121 ff. 17 I. Kant (Fn. 15), 429. 11 12 13 14 15
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Günter Dürig in der Kommentierung von Art 1 GG übernommen18, wodurch die sog. „Objektformel“ zustande kam; „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.19 Das Bundesverfassungsgericht in Deutschland hat sich nicht nur vielfach auf diese Formel berufen.20 Hervorzuheben ist auch, dass mit ihr das „Instrumentalisierungsverbot“, jemanden bloß als Mittel zu benutzen, mit dem Begriff der Menschenwürde gleichgesetzt wird, und dass dieses Instrumentalisierungsverbot in der bioethischen Diskussion eine große Rolle gespielt hat.21 Letztlich sei hier gesagt, dass kein fundamentaler Unterschied zwischen der Mitgift- und Leistungstheorie besteht, weil beide letztlich auf demselben Prinzip der Personhaftigkeit des Menschen, bzw. auf dem Prinzip der Autonomie des Einzelnen beruhen.22 3.
Probleme der sog. positiven Rechtfertigung
1)
Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der Eigenschaften
Bekanntlich besteht das grundlegende Problem dieses kognitiven Diskussionsansatzes vor allem in seinen rechts- und moraltheoretischen Konsequenzen. Denn wenn die Menschenwürde als unverlierbare Eigenschaft des Menschen verstanden wird, dann droht die Gefahr, Personen, die diese Fähigkeit nicht besitzen, aus diesem Schutz herauszunehmen. Hierzu gehören z. B. Kleinkinder oder geistig schwerbehinderte Personen, die umgekehrt gerade wegen dieses defizitären Umstandes den besonderen umfassenden Schutz erforderlich machen.23 Dieser Umstand diskreditiert vor allem den empirischen Ansatz, wenn er als mögliche Basis für eine Begründung der Menschenwürde dienen will, denn es kommt hier nur auf die Fähigkeit des einzelnen MenAuch wenn der Grund der Würde vom Menschen in der kantischen Philosophie eigentlich auf der Selbstgesetzgebung beruht, hat Dürig stattdessen auf seine Selbstzweckhaftigkeit Bezug genommen. Dadurch wird das Problem des Konzepts der Selbstgesetzgebung, nämlich diese Fähigkeit für alle Menschen zu begründen, einigermaßen gelöst, weil das nun nicht erforderlich ist. Aber das könnte „ein produktives Missverständnis“ oder aber „eine weise Beschränkung“ sein (K. Seelmann [Fn. 16], 73, 77). 19 Dürig, Der Grundsatz von der Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 81 (1956), 127; ders., in: Grundgesetz-Kommentar, hg von Maunz/Dürig, 1958, Art 1 Rn 28. 20 BVerfGE 9, 89(95): „… fordert die Würde der Person, dass über ihr Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt wird; der einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können.“ BVerfGE 50, 166(175): „Dem Menschen kommt in der Gemeinschaft ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu; deshalb widerspricht es der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen …“. 21 E. Hilgendorf (Fn. 5), 141. 22 H. Hofmann (Fn. 13). 358. 23 Vor allem U. Neumann (Fn. 4), 290. 18
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schen zu vernunftgemäßen Handeln an, die in dieser Fallgrupp des Menschen gerade fehlt. Sollte doch der allseitige Schutz versucht werden, dann stellt sich die Frage, wie die hier konstruierte Eigenschaft beschaffen sein soll. In Rahmen eines metaphysischen Modells der Menschenwürde lassen sich aber die individuell nicht vernunftbegabten Menschen in den Bereich einer auf die vernünftige Fähigkeit des Menschen gegründete Würde einbeziehen. Denn es wäre wohl denkmöglich, was z. B. Spaemann behauptet hat; „Alle empirischen Qualitäten sind nur die nach außen tretendende Erscheinungsform einer sich nicht als sie selbst zeigenden Substanz.“24 Durch die Annahme dieser ontologischen Vernünftigkeit kann jedem ungeachtet empirischen Mangels an dieser Fähigkeit die Würde zukommen. Diese Generalisierung kann auch durch das theologische Modell geschehen, das die Geschöpflichkeit des Menschen als Gottesebenbildlichkeit begriffen hat. Wie bei allen metaphysischen Aussagen besteht das erkenntnistheoretische Problem darin, dass durch diese Ontologisierung der menschlichen Eigenschaft die Grenze zwischen Empirie und Metaphysik verwischt wird. Daneben zeigt sich auch, dass heute Wesensaussagen der Metaphysik weitgehend in Verdacht geraten.25 Der entscheidende Nachteil dieses Ansatzes besteht nicht nur darin, dass er in einer nicht auf solche metaphysische oder theologische Prämissen verpflichteten rechts- und moralischen Diskussion nicht konsensfähig ist. In einer pluralistischen Gesellschaft führt er im Ergebnis zu einer Schwächung des Fundaments des Menschenwürdeprinzips.26 Vielmehr besagt das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des säkularen Staates, dass bei der Bestimmung des Gehalts der Menschenwürde in der Verfassung eine bestimmte philosophische Meinung ebenso wenig wie eine bestimmte Religion zugrunde gelegt werden sollte. 2)
Frage nach dem Ableitungszusammenhang zwischen kognitiven Elementen und normativer Forderung nach dem Schutz der Menschenwürde.
Bezüglich des kognitiven Ansatzes fragt sich auch, wie sich aus dem bloßen Faktum einer bestimmten Qualität des Menschen ein normativer Anspruch auf ihren Schutz folgern lässt. Hier steht von vorherein fest, dass der Versuch, aus der empirischen Eigenschaft einen normativen Anspruch auf ihren Schutz abzuleiten, einen naturalistischen Fehlschluss von Sein zu Sollen bedeutet. Aber die Gefahr dieses naturalistischen Fehlschlusses kann dadurch gebannt werden, dass ein normativ aufgeladener Seinsbe-
R. Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Menschenrecht und Menschenwürde, hg. von Böckenförde/Spaemann, 1987, 93. 25 So analysiert L. Wittgenstein die Gefahr der „Verhexung durch Sprache“. Dazu Neumann (Fn. 4), 289. 26 U. Neumann, Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet, in: Biomedizin und Menschenwürde, hg. von Kettner, 2004, 58 f. 24
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griff, der auf theologische oder metaphysische Prämissen zurückgreift, zugrunde gelegt wird. Denn hier gilt nicht der strikte Dualismus von Sein und Sollen. Kurz gesagt: Durch idealistische Überhöhung des menschlichen Vermögens wird der Schluss von der Vernunft auf die Würde ermöglicht. Wenn die Menschenwürde aber als metaphysische Qualität begriffen wird, dann ist ihre Beeinträchtigung durch Handlungen gegenüber dem empirischen Subjekt fast ausgeschlossen. Wird die Menschenwürde z. B. in seiner apriorischen Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung gesehen, kann sie gar nicht verletzt und deshalb nicht Gegenstand rechtlichen Schutzes werden. Denn Empirie und Normativität sind zwei verschiedene Welten. Die Folge ist, dass die praktische Leistungsfähigkeit des kognitiven Ansatzes in metaphysischer Form ins Leere läuft. Hier sagt Neumann zutreffend: „Der Ontologisierung der Menschenwürde korrespondiert eine Entnormativierung. Und damit ein Verlust an schützender Kraft.“27 3)
Frage nach der Praktikabilität des normativen Kriteriums der Menschenwürde
Nun fragt sich auch, ob und wie tauglich das normative Kriterium der Menschenwürde ist, um den Anwendungsbereich der Menschenwürde auszumachen. In diesem Zusammenhang ist die Kritik an der Objektformel von Dürig interessant. Hier wird auf ihre Unzulänglichkeit hingewiesen, eindeutige Verletzungen der Menschenwürde festzulegen, weil der Objektbegriff zunächst außerordentlich unbestimmt bleibt. Daneben ist die Objektformel auch in der Interpretation als Instrumentalisierungsverbot nicht stichhaltig, weil es schon nicht einfach fällt, zu bestimmen, wann jemand als Mittel benutzt wird. Es bedarf keiner Hervorhebung, dass der hier zugrunde liegende Topos der Instrumentalisierung einerseits viel zu eng ist, um alle eindeutigen Fälle von Menschenwürdeverletzungen zu begreifen28. Andererseits geht es zu weit, dass z. B. der Fall der Blutentnahme, der zwar gegen den eigenen Willen geschieht, aber unter Umstände ethisch legitim sein könnte, von der Menschenwürdeverletzung erfasst wird.29 Kurz: Der Topos der Instrumentalisierung ist nicht nur unklar, sondern auch nahezu beliebig einsetzbar. Als Kriterium oder gar als Definition einer Verletzung der Menschenwürde ist er deshalb unbrauchbar.30
U. Neumann (Fn. 26), 59. Dafür führt Hilgendorf ein Beispiel an, in dem ein eindeutiges menschenunwürdiges Verhalten bzw. seine Wirkung nicht bloß ein Mittel darstellen, sondern eigentlicher Endzweck des Verhaltens sind (E. Hilgendorf [Fn. 5], 143 ff.). 29 N. Hoerster (Fn. 2), 14; P. Schaber (Fn. 7), 99. 30 E. Hilgendorf (Fn. 5), 145; D. Birnbacher (Fn. 3), 165; T. Hörnle, Warum sich das Würdekonzept Margalits zur Präzisierung von „Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut“ eignet, in: Menschenwürde und Demütigung, hg. von Hilgendorf, 2013, 102 f. 27 28
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III.
Die sog. negative Rechtfertigung der Menschenwürde
1.
Der methodische Denkansatz
Nach den bisherigen Darstellungen soll also auf einen Rückgriff auf die Metaphysik oder Religion verzichtet werden. Denn der entscheidende Fehler des kognitiven Ansatzes liegt darin, Menschenwürde in einer Eigenschaft des Menschen gesucht zu haben. Darum soll die Alternative anders konzipiert werden. Wenn sich Würde durch die soziale Anerkennung im menschlichen Zusammenleben konstituiert, soll sie nicht substanziell, sondern relational aufgefasst, nicht in der Person, sondern in der Interaktion zwischen Personen lokalisiert werden.31 Hier soll auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nach dem Verständnis der ostasiatischen Philosophie eigentlich keinen Begriff des Individuums gäbe, auf den die Menschenwürde in Europa meistens zurückgeht. Stattdessen liegt die Menschenwürde hier eher im sittlichen Stellenwert des Menschen in der gesellschaftlichen Ordnung. Im Vordergrund steht daher der Begriff der Persönlichkeit, nicht im Sinne der Autonomie, sondern im Sinn der Fähigkeit des Menschen, sich gemäß seiner sozialen Rolle zu verhalten.32 In dieser Hinsicht erscheint der sog. negative Begründungsansatz von Margalit viel plausibler, weil er genauso verfährt. Das heißt: er zielt darauf ab, von Bedürfnissen und Interessen in der Anerkennungsgesellschaft her die demütigenden Zustände nachzuweisen, wenn es um die Menschenwürde geht. Ausgehend davon, eine anständige Gesellschaft zu konzipieren, bemüht sich die sog. negative Begründung „nicht um eine Rechtfertigung von Respekt, sondern lediglich um den Nachweis, dass man Menschen nicht demütigen darf.“33 Unter Demütigungen werden „alle Verhaltensformen und Verhältnisse verstanden, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen“.34 Daher wird hier unmittelbar gefragt, was Menschen auf keinen Fall erdulden und was nicht zu tun wir uns aus diesem Grund wechselseitig zusichern. Davon ist nicht weit entfernt, von diesen geschützten Interessen her die damit unvereinbaren Handlungen als den normativen Inhalt der Men-
Zu diesem neuen Ansatz H. Hofmann (Fn. 13), 364; U. Neumann (Fn. 21), 66 f.: ders. (Fn. 4), 299. Hofmann behauptet hier, dass dies kein neuer Gedanke ist, weil Samuel Pufendorf als großer Theoretiker menschlicher Sozialität ganz ähnlich gedacht habe. 32 Erwähnt sei noch, dass hier nicht das Individuum, sondern die Intersubjektivität, nicht das Recht, sondern die Pflicht, nicht die Freiheit, sondern die Rolle im Vordergrund steht. 33 A. Margalit (Fn. 8), 91; T. Hörnle (Fn. 30), 91 ff. 34 A. Margalit (Fn. 8), 21. Ihm zufolge ist eine Gesellschaft dann anständig, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen. 31
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schenwürde auszumachen.35 Danach bedeutet, Menschenwürde zu achten: Menschen nicht zu demütigen. Weil diese Begründungen auf anthropologische Grundannahmen und Erfahrungen mit der Bedürftigkeit und Verletzlichkeit des Menschen verweisen, sind sie lebensnäher und plausibler als die der abstrahierend-idealistischen Denkmodelle.36 Daneben bestehen Vorzüge des negativen Ansatzes gegenüber dem positiven vor allem darin, „dass demütigendes Verhalten leichter zu identifizieren ist als respektvolles Verhalten, wie auch Krankheit leichter zu diagnostizieren ist als Gesundheit“37. Erinnert sei hier an die Ansicht von Arthur Kaufmann über den sog. negativen Utilitarismus, dass die Vermeidung des Unglücks viel einfacher als die Verfolgung des größten Glücks auszumachen ist.38 Kurz: Statt deduktiv von einer theoretischen Konzeption her mögliche Schutzbereiche zu bestimmen soll hier induktiv von den alltäglichen Erfahrungen von Menschenwürdeverletzungen zum Verständnis der Menschenwürde gelangt werden.39 2.
Menschenwürde als ein normativer Anspruch
Dieser Ansatz sucht nicht nach einer als Würde bezeichneten Eigenschaft des Menschen, sondern fragt von Verletzungshandlungen her. Dabei werden zunächst verschiedene Konstellationen der Demütigung festgestellt. Dann wird ihnen durch die Anerkennung aller ein normatives Prädikat, das „Vermeidung dieser Handlung“ beinhaltet, zugeteilt. Hier wird die Menschenwürde als ein Anspruch auf eine respektvolle Behandlung begriffen, was das Ergebnis wechselseitiger Zuschreibung darstellt. Diese Zur ablehnenden Ansicht E. Hilgendorf, Menschenwürdeschutz als Schutz vor Demütigung?, in: Menschenwürde und Demütigung, hg. von Hilgendorf (Fn. 1), 91 ff. Mir scheint, dass die kritische Stellungnahme von Hilgendorf den Begriff der Menschenwürde relativ eng fasst, was m. E. zu seiner Ensembletheorie nicht ganz passt. Richtig ist allerdings der Hinweis auf die Unbestimmtheit des Begriffs der Demütigung bei Margalit. Dazu auch Ch. Horn, Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen: Versuch einer Klärung, Information Philosophie 3 (2011), 30 ff. Zwar ist die begriffliche Differenzierung zwischen dem verlierbaren und dem unverlierbaren Begriff der Menschenwürde und deren Charakterisierung vollkommen richtig. Dahinter steckt m. E. aber seine voreingenommene Absicht, nämlich am apriorischen Begriff der Menschenwürde festzuhalten, weshalb seine Kritik wenig überzeugt. 36 T. Hörnle (Fn. 30), 100. Auch wenn Horn gegen diese Position ist, bestreitet er auch nicht, dass diese Interpretation den Vorzug hat, fassbarer und alltagsnäher zu sein als eine solche, die Menschenwürde abstrakter fasst (Ch. Horn [Fn. 35], 39). 37 A. Margalit (Fn. 8), 16. Dafür nennt er noch zwei weitere Gründe, einen moralischen und einen logischen. Der moralische Grund ergibt sich daraus, dass zwischen der Abschaffung von Üblem und der Förderung von Gutem ein gewichtiges Missverhältnis besteht, während der logische auf der Unterscheidung von Zielen beruht, die direkt oder nicht unmittelbar erreicht werden können. 38 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, 93, 176 ff., 344. Er schließt sein Buch der Rechtsphilosophie mit dem kategorischen Imperativ der Toleranz ab. „Handle so, dass die Folgen deiner Handlung verträglich sind mit der größtmöglichen Vermeidung oder Verminderung menschlichen Elends.“ 39 U. Neumann (Fn. 4), 292. 35
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Zuschreibung ist nun normativ zu begründen, weil sie auf der Universalisierbarkeit des individuellen Interesses an respektvoller Behandlung beruht. Die Frage, ob es wirklich ein Interesse am Vermeiden von Demütigungen gibt, lässt sich leicht bejahen. Wichtig ist aber, dass sich ein solches Argument auf intersubjektiv geteilte Interessen stützen muss. Das heißt: Mit der Behauptung, dass jemand eine bestimmte Präferenz für etwas hat, können Rechte im juristischen Sinne noch nicht zugebilligt werden. Vielmehr muss begründet werden, warum für die meisten Menschen das Haben bestimmter Ressourcen oder das Ausbleiben etwaiger Handlungen Voraussetzung für ein gelungenes Leben ist. Also es muss bewiesen werden, dass das bestimmte individuelle Interesse an diesen Basisvoraussetzungen zur Verwirklichung des jeweiligen Lebensmodells gehört. Für die Freiheit von Demütigung lässt sich ein solches universelles Interesse begründen.40 Hier zeigt sich, dass als normatives Fundament die wechselseitige Anerkennung dient, die in der normativen gesellschaftlichen Verständigung hergestellt wird. Der logische Ort dieses Anspruchs ist also die auf Gegenseitigkeit gegründete Anerkennungsgesellschaft.41 Versteht man in dieser Weise Menschenwürde als einen normativen Anspruch, dann liegt es nahe, sie als ein subjektives Recht(Grundrecht) zu identifizieren. Allerdings bleibt noch die Frage, ob es als Regel oder als Prinzip zu interpretieren ist.42 3.
Die normative Dimension
1) Wie gesagt, zielt dieses Modell auf die verschiedenen Formen der Verletzungshandlung ab. Dabei lässt sich aber einwenden, Verletzungshandlungen ließen sich erst dann im Schutzbereich der Menschenwürde lokalisieren, wenn man vorher wisse, was die menschliche Würde ist. Schwer zu leugnen ist der Umstand, dass bei der Diagnose der Menschenwürdeverletzung gewisse Vorstellungen von deren Schutzbereich ins Spiel kommen. Insofern ist die Bestimmung des Schutzbereichs anhand der Konstellationen auf ein Vorverständnis der Menschenwürde angewiesen. Hier spielt aber die
Dazu fügt Hörnle zwei Prämissen hinzu, nämlich „erstens, die Annahme, dass Selbstachtung für ein gelingendes Leben wichtig ist … zweitens, dass Selbstachtung auf Außenachtung angewiesen ist“ (Hörnle [Fn. 30], 101 f.). 41 U. Neumann (Fn. 4), 299. 42 U. Neumann (Fn. 4), 300. Hörnle sagt hierzu, dass ein Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde einen eigenen Anwendungsbereich hat, der von Schutzbereich anderer Rechte nicht umfasst ist. Illustriert wird dies am Bespiel des Abu-Ghuraib Gefängnisses in Irak. Wenn hier ein Gefangener zur Belustigung seiner Bewacher sexuellen Übergriffen ausgesetzt wird, soll diese demütigende Bedeutung nicht-konsentierter sexueller Handlungen nicht als Grundrechtsverletzung adäquat erfasst werden können, wenn lediglich auf die allgemeine Handlungsfreiheit oder die körperliche Unversehrtheit verwiesen würde (T. Hörnle [Fn. 30], 104). 40
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Verletzbarkeit des Menschen unter dem Gesichtspunkt der sozialen Missachtung eine wesentliche Rolle43, wobei das alltagsmoralische Verständnis des Begriffs der Person bzw. der Selbstachtung entscheidend ist.44 2) Was die Verletzungshandlung der Menschwürde angeht, kommt zunächst die Erfahrung von Demütigungen in Betracht, die ein gewisses Maß überschreiten. Natürlich fragt sich, wie sich dieses Kriterium im Konkreten feststellen lässt. So kritisiert Horn an diesem Ansatz, dass bei der Beurteilung von Erniedrigung und Demütigung das Relativitätsproblem virulent sei, weil sie stark von individuen-, sozialgruppen-, kultur- und epochen-relativen Vorstellungen abhänge.45 Diese Kritik scheint insofern berechtigt zu sein, als die Bestimmung des Regelungsgehalts der Menschenwürde eine Bewertung benötigt, damit bestimmte Konstellationen dem Schutz der Menschenwürde-Garantie unterstellt werden. In der Tat ist auch der Bewertungsmaßstab schwer festzumachen, weil sowohl das Maß der Verletzungshandlungen als auch menschliche Empfindlichkeiten unterschiedlich ausfallen. Die Lösung besteht aber darin, diese Bewertung nach Standards zu vollziehen, die für alle Mitglieder der Gesellschaft einsehbar sind.46 Diesem Problem kann mit folgendem Vorschlag abgeholfen werden: Er besteht darin, von der Außenperspektiv ausgehend standardisierte Situationen und Verhaltensweisen zu beschreiben, die objektiv mit schweren Erschütterungen der Selbstachtung verbunden sind und dabei subjektiv von einem bestimmten Normalmaß der Empfindlich- und Empfänglichkeit auszugehen.47 Wie dieser Maßstab konkret aussehen soll, darüber soll noch diskutiert werden.48 3) Die Dimension dieses normativen Anspruchs umfasst zweierlei; negativ im Schutz vor Demütigung, positiv in der Gewährleistung der Selbstbestimmung des menschlichen Daseins49. Demütigung bedeutet zunächst Ausdruck der Missachtung des Opfers durch den Täter, der zugleich die Selbstachtung des Betroffenen verletzt. Aber die Menschenwürde kann auch dadurch tangiert werden, dass dem einzelnen die Möglichkeit genommen wird, in Übereinstimmung mit seiner persönlichen Identität zu leben. Da das Leben in Einklang mit seiner Identität zu einer menschenwürdigen Existenz gehört, bildet die Gewährleistung von Autonomie einen wichtigen Aspekt der Menschenwürde. Denn sie bietet die Möglichkeit, die eigenverantwortlich getroffene Entscheidung, die eigene Person betreffend, ohne Behinderung umzusetzen.50
U. Neumann (Fn. 4), 296. Ausführlich zum Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und der Selbstachtung, P. Schaber (Fn. 7), 101 ff.; R. Stoecker, Selbstachtung und Menschenwürde, Studia Philosophica 63 (2004), 107 ff. 45 Ch. Horn (Fn. 36), 3. Zur Kritik D. Birnbacher (Fn. 1), 73 ff. 46 Ebenso U. Neumann (Fn. 4), 297. 47 Das wäre etwa der Vorschlag von Margalit (Fn. 8), 23. 48 Birnbacher hat als Lösung vorgeschlagen, die faktische subjektive Betroffenheit zum Maßstab zu nehmen und das Demütigungsverbot als offene Norm aufzufassen. Dazu D. Birnbacher (Fn. 1), 74 f. 49 Vgl dazu U. Neumann (Fn. 4), 293 ff. 50 A. Margalit (Fn. 8), 96 ff. 43 44
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Die Missachtung dieses Anspruchs kann nicht nur durch das Verhalten Dritter, sondern auch folgende Umstände erfolgen, die als demütigend erlebt, aber sich nicht allein überwinden lassen.51Dazu gehört zunächst die Nichtgewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.52 Daneben ist auch die Situation des schwerstleidenden kranken Menschen zu nennen, der sich nur durch die Selbsttötung überwinden lässt.53 Immerhin ist das Recht auf menschenwürdiges Sterben in Deutschland und Korea noch nicht legalisiert. Darauf wird später noch näher eingegangen. 4.
Träger
Wenn die Menschenwürde in dieser Weise als subjektives Recht aufgefasst wird, stellt sich dann die Frage nach dem Träger dieses Rechts. Sollte eine Demütigung nur möglich sein, wenn die Beteiligten in einem Netz sozialer Interaktion stehen, daraus ergibt sich, dass ungeborenem wie gestorbenem Leben keine Menschenwürde zuerkannt wird. Denn es fehlt hier an einem sog. „Gegenüber“, das zwar nicht zwingend die Demütigung erleben muss, aber als eigenständiger Mensch wahrgenommen werden können muss.54 Der Schutz der Menschenwürdegarantie beginnt also mit dem Beginn der sozialen Interaktion, nämlich der Geburt. Das heißt keinesfalls, dass ungeborenem und gestorbenem Leben kein Schutz gewährt werden soll. Dieses Problem lässt sich aber durch ein anderes Grundrecht, nämlich das Recht auf Leben, bewältigen.55 Wenn die Menschenwürde hiernach das Ergebnis eines wechselseitigen Anerkennungsaktes darstellt, soll noch das Anerkanntsein von Menschen, die ihrerseits eines Anerkennungsaktes nicht fähig sind, begründet werden, Dieses Problem lässt sich aber durch die generalisierte Zuschreibung dieses Anspruchs ohne weiteres lösen, weil es nach diesem Ansatz nicht um das ontologische Urteil über die Vernunft, sondern um ein normatives Postulat geht. Hier zeigt sich, dass die wechselseitige Zuerkennung der Kompetenz zum Innehaben von Rechten wie Kelsens Grundnorm als ein GrundRechtsverhältnis vorausgesetzt werden sollte. Kurz: Träger der Menschenwürde soll jeder nach der Geburt sein.
D. Birnbacher (Fn. 1), 77 f. Er behauptet hier, dass das Menschenwürdeprinzip nicht nur als Abwehrrecht, sondern auch als Anspruchsrecht fungiert. 52 BVerfGE 119, 331 (Hartz IV Entscheidung), in der ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimum anerkannt wird. Dabei sei angemerkt, dass anders als in Deutschland Art 34 in der koreanischen Verfassung dieses soziale Grundrecht gewährt. 53 Dazu unten IV. 54 Ebenso E. Hilgendorf (Fn. 5), 152; R. Stoecker (Fn. 44), 115; T. Hörnle (Fn. 30). 105. 55 E. Hilgendorf (Fn. 5), 153; R. Stoecker (Fn. 44), 118; T. Hörnle (Fn. 30) 105. 51
Rekonstruktion der Diskussion um die Menschenwürde
IV.
Schluss: Ein Beispiel der aktiven Sterbehilfe
Die anfangs gestellte Frage, die auch das Thema von unserem speziellem Workshop ist, nämlich ob sich die Menschenwürde ohne Metphysik begründen lässt, scheint mir mit den bisherigen Darstellungen einigermaßen beantwortet zu sein. Ein Verständnis der Menschenwürde, das sich ausschließlich an alltäglichen Bedürfnissen und Interessen des Menschen orientiert, braucht also keine Anleihe bei der Metaphysik. Der normative Anspruch auf die menschenwürdige Behandlung ergibt sich eher aus der wechselseitigen Anerkennung der universellen Interesse, die in der Gesellschaft hergestellt wird. Am Schluss möchte ich ganz gegenteilige Konsequenzen des Konzepts der Menschenwürde am Beispiel der aktiven Sterbehilfe verdeutlichen. Nehmen wir an, der von starken Schmerzen gequälte Patient, der nicht mehr zu einem Suizid in der Lage ist, bittet den Arzt um eine tödliche Injektion für das sanfte Sterben. Der rechtsdogmatische Ort für solche Sterbehilfe ist in Deutschland § 216 StGB(Tötung auf Verlangen)56, der aktive Sterbehilfe grundsätzlich mit Strafe bedroht. Damit gerät das aus § 216 StGB resultierende strafrechtliche Verbot mit dem Recht des Patienten auf ein menschenwürdiges Sterben in eine Kollision. Die ganz überwiegende Auffassung im strafrechtlichen und verfassungsrechtlichen Schrifttum in Deutschland und Korea lehnt jede Einschränkung der Strafdrohung mittels des Begriffs der Menschenwürde ab. Dabei wird argumentiert: Die Tötung des Lebens als Voraussetzung der Selbstbestimmung zerstört auch die Existenz des Menschen als sittliche Subjekt und damit seine eigene Würde.57 Hervorzuheben ist, dass hier das Recht auf Leben in eine Pflicht zur Fortführung eines qualvollen Lebens umgewandelt und die Verletzung dieser Pflicht mit Strafe bedroht wird.58 Abgesehen von dem Argumentationsfehler, der in der Biologisierung der Menschenwürde besteht59, soll hier die gegenteilige Konsequenz aufgezeigt werden, die Auch § 252 des koreanischen Strafgesetzes bestraft die Tötung auf Verlangen. Neumann (Fn. 3), 301. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland schützt das Prinzip der Menschenwürde nicht nur die Würde als solche, sondern zugleich das Leben als vitale Basis der Menschenwürde (BVerfGE 39, 1, 42 sowie BVerfGE 88, 203). 58 Neumann zufolge verdankt sich diese Verkehrung des Arguments, die auch auf der christlichen Vorstellung vom Leben als Geschenk Gottes beruht, auch der Philosophie von Kant, die an der moralischen Verdammung der Selbsttötung sowie der Sterbehilfe festhalten will. Dazu U. Neumann (Fn. 3), 301. Die in der Kantischen Tradition stehende Autoren argumentieren sogar, Tod und qualvolles Sterbens seien mit der menschlichen Existenz ebenso ursprünglich verbunden wie die menschliche Würde selbst (Kahlo, Sterbehilfe und Menschenwürde, in: Festschrift für W Frisch zum 70 Geburtstag, 2013, 722). 59 Hier wird die menschliche Würde als Eigenschaft verstanden, die zwar den einzelnen Individuen zukommt, die aber verobjektiviert und damit letztlich gegen die Interessen und Bedürfnisse der Individuen gerichtet werde (U. Neumann [Fn. 3)], 61). Aber Würdegarantie und Lebensschutz sind zweierlei; der Eingriff in das Rechtsgut Leben impliziert keineswegs eine Verletzung der Würde des Menschen (U. Neumann, Strafrechtlicher Schutz der Menschenwürde zu Beginn und am Ende des Lebens, in: Strafrecht und Menschenwürde, hg. von Prittwitz/Manoledakis, 1990, 60).
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mir viel plausibler erscheint. Wenn nämlich das Grundrecht auf Menschenwürde wie alle subjektiven Rechte den Bedürfnissen und Interessen der Berechtigten dienen soll, folgt daraus unmittelbar, ein menschenwürdiges Ende des Lebens in den Schutzbereich der Menschenwürde einzubeziehen. Wenn umgekehrt aus der Menschenwürde eine Pflicht zur Erhaltung des qualvollen Lebens abgeleitet wird, wäre dies nicht eine gewisse Perversion der Menschenwürde als Recht auf die Selbstbestimmung? Prof. Dr. Young-Whan Kim
Gangnam-gu, Abgujeong-ro 309, Hyundai Apt. 920403, Seoul, Rep. of Korea (Postleitzahl: 06006)
Menschenwürde als subjektives Recht Selbstverhältnis in Rechtsverhältnissen STEPHAN KIRSTE (Salzburg)
Abstract: Human dignity as a legal principle is the right of human beings to the recognition of their
legal subjectivity. For the transformation of the extralegal principle of human dignity into law, either a formal reduction with the extensive inclusion of strong philosophical or religious meanings or a material reduction together with a strong form as a subjective right can be chosen. The latter is attempted here. Dignity then means a certain legal status and “human being” as the criterion for this status. The status signifies the position of men as subjects of rights that enable them to be themselves and to develop themselves. Human dignity guarantees them this right and at the same time fulfils it. Keywords: Human dignity as a legal concept, Individual right, Transformation, Dignity, Legal person, Legal subject, Legal relationship vs. mere force
I.
Einleitung: Zwei Strategien der Transformation der Würde des Menschen ins Recht
Menschenwürde kann in den verschiedensten Formen auftreten: So wird sie als religiöses1 und weltanschauliches Prinzip2 genannt. Als philosophisches Prinzip hat sie eine lange Tradition, auch wenn die Interpretationen erheblich auseinandergehen.3
Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996, 233 ff.; Mieth, Menschenwürde im Christentum – aus katholischer Sicht, in: Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von E. Hilgendorf / J. Joerden, Baden-Baden 2013, 349 ff.; Isensee, Menschenwürde: Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), 199 f.; Körtner, Menschenwürde im Christentum – aus evangelischer Sicht, in: Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von E. Hilgendorf / J. Joerden, Baden-Baden 2013, 321 ff.; Hilpert, Die Idee der Menschenwürde aus der Sicht christlicher Theologie, in: Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, hg. von Hans Jörg Sandkühler, Frankfurt 2007, 41 ff.; Schaede, Würde – Eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive, in: Menschenwürde in der säku1
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Schließlich tritt sie seit bemerkenswert kurzer Zeit erst als ein juristisches Prinzip auf. Viele der Schwierigkeiten und der Kritik, die insbesondere am Rechtsprinzip der Würde geübt werden, resultieren aus den Problemen, die aus den Transformationen des Würdeprinzips aus diesen anderen Formen ins Recht entstehen. Diese Transformation ist aber nicht nur erforderlich, um die Menschenwürde effektiv zu schützen,4 sondern auch um das implizite Fundament des Rechts als einer Freiheitsordnung zu explizieren. In der juristischen Transformation der Menschenwürde als subjektives Recht – so die These der nachfolgenden Untersuchung – verständigt sich also eine Rechtsgemeinschaft verbindlich über ihr normatives Fundament in der uneingeschränkten Anerkennung der individuellen menschlichen Rechtsperson. Hierzu werde ich einleitend zwei Strategien bei der Transformation der Würde des Menschen ins Recht vorstellen (I.), dann kurz auf die Rechtsform eingehen (II.), zwei Formen von Würden unterscheiden (III.), das Menschsein als Kriterium der Bestimmung der Würde darlegen (IV.) und schließlich (V.) auf die im subjektiven Recht der Würde anerkannte und geschützte Relation zwischen Selbstverhältnis des Einzelnen und Rechtsverhältnis näher untersuchen. Die Probleme der Transformation der Würde des Menschen ins Recht werden dadurch gesteigert, dass das Prinzip in Philosophie und Theologie jeweils eine fundamentale Funktion haben soll.5 Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, dass die drei Bereiche unterschiedliche Menschenwürdeverständnisse ausbilden. So verstehen Christen bei allen Gemeinsamkeiten unter der Menschenwürde durchaus Anderes als
laren Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, hg. von P. Bahr / H. M. Heinig, Tübingen 2006, 7 ff., 28 ff., 60 ff.; Moxter, Unterwegs zum Recht. Eine Vorerinnerung an die Horizonte des Würdebegriffs, in: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, hg. von P. Bahr / H. M. Heinig, Tübingen 2006, 73 ff.; Haltern, Unsere protestantische Menschenwürde, in: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, hg. von P. Bahr / H. M. Heinig, Tübingen 2006, 93 ff.; Khoury, Ethik und Menschenwürde im Islam, in: Menschenwürde im interkulturellen Dialog, hg. von A. Siegetsleitner / N. Knoepffler, Freiburg Br. 2005, 113 ff.; Heper, Menschenwürde, Islam und bioethische Fragen, in: Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von E. Hilgendorf / J. Joerden, BadenBaden 2013, 269 ff. 2 Etwa Kim, The idea of human dignity in Korea. An ethico-religious approach and application, Lewinston, Queenston 2007, 128 ff. 3 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, 3. Aufl. Berlin 2012, 109 ff.; Tiedemann, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt 2006, 51 ff. 4 So Sandkühler, Menschenwürde und die Transformation moralischer Rechte in positives Recht, in: Menschenwürde Philosophische, theologische und juristische Analysen, hg. von ders., Frankfurt 2007, 58 zutreffend: „Nur die Konzeptionalisierung der Menschenwürde als Prinzip, Begriff und Norm des Rechts ermöglicht ein angemessenes Verständnis dessen, was durch die Garantie der Würde geschützt werden soll: die Freiheit und Gleichheit aller, die Menschen sind“. 5 Vgl. dazu etwa die ideengeschichtlichen Kapitel des Wörterbuch[s] der Würde, hg. von R. Gröschner / A. Kampust / O. W. Lembcke, München 2013, 13 ff.
Menschenwürde als subjektives Recht
Konfuzianer,6 Moslems7 oder Juden.8 Der Begriff der Würde des Menschen von der antiken Auffassung in der Stoa9 über die Renaissance,10 bei Immanuel Kant,11 Karl Marx12 und im Existenzialismus13 weichen erheblich voneinander ab. Es ist kein Wunder, dass sich diese Vielfalt dann auch in höchst unterschiedliche juristische Verständnisse und Bedeutungen in die nationalen Verfassungen und die supra- und internationalen Menschenrechtserklärungen und -pakte übertragen hat.14 So erfreulich für die Theorie diese außerordentliche Vielfalt der Verständnisse von Menschenwürde ist, weil sie die unterschiedlichsten Perspektiven auf das eröffnet, was es heißt, Mensch zu sein und als solcher geachtet zu werden, stellt sie doch eine große Schwierigkeit für die Rechtspraxis dar, weil sie über Konsequenzen aus dem Prinzip entscheiden muss. Das aber bedeutet auch, dass die Geltungsansprüche einzelner Verständnisse zurückgewiesen werden müssen. An anderer Stelle wurde schon gezeigt, dass zur Transformation dieser Vielfalt der Menschenwürdeverständnisse ins Recht prinzipiell zwei Strategien möglich sind:15 Entweder hält man an starken inhaltlichen Annahmen über die Menschenwürde aus Philosophie oder Theologie fest und schwächt die Form ab oder man betont die Rechtsform und reduziert den Inhalt des Begriffs der Menschenwürde durch Abstraktion auf eine Kernbedeutung. Die erste Strategie würde dann etwa an einem stark christlichen Verständnis der Menschenwürde festhalten, sie aber nicht als ein normativ verbindliches Rechtsprinzip oder gar als
Kim (Fn. 2), 85 ff.; Schaefer, Human Dignity: A Remedy for the Clash of Cultures? – Human Dignity in the Mind of Mencius, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger, Stuttgart (ARSP-Beiheft 137) 2013, 181 ff. 7 Khoury (Fn. 1), 113 ff.; Heper (Fn. 1), 269 ff. 8 Shultziner, A Jewish Conception of Human Dignity: Philosophy and Its Ethical Implications for Israeli Supreme Court Decisions, in: The Journal of Religious Ethics 34 (2006), 663 ff. mit den Auswirkungen der jüdischen Theorie der Würde auf den Israelischen Supreme Court, 675 ff. 9 Horstmann, Menschenwürde, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel 1980, Sp. 1124 f.; Tiedemann, (Fn. 3), 2012, 109 f.; Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, Tübingen 2015, 104 ff. 10 Eingehend der Sammelband: Des Menschen Würde: entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, hg. von R. Gröschner / S. Kirste / O. Lembcke, Tübingen 2008. 11 Von der Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant Fünf Untersuchungen, Paderborn 2009; Rothhaar (Fn. 9), 145 ff. 12 Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, Frankfurt/Main 1968, 108 f.; Bloch, Naturrecht und menschliche Würde (1975), 2. Aufl. Frankfurt/Main 1977, 213 f., 232 f., 250 f.; zu einem erneuten Rückgriff auf Marx in der Würdediskussion Nussbaum, Menschenwürde und politische Ansprüche, ZfMR 1 (2010), 86 ff. 13 Kirste, Die Würde des Menschen als Grundlage des Rechtsstaats, in: Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat Beiträge zum Kolloquium für Werner Maihofer zum 90 Geburtstag, hg. von S. Kirste / G. Sprenger, Berlin 2010, 103 ff. 14 Dazu auch Kirste, Menschenwürde im internationalen Vergleich der Rechtsordnungen, in: Das Dogma der Unantastbarkeit Eine Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Würde, hg. von R. Gröschner / O. W. Lemke, Tübingen 2010, 175 ff.; Tiedemann, (Fn. 3), 2012, 10 ff. 15 Kirste, Die Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung der Rechtsperson, in: Menschenrechte Begründung – Universalität – Genese, hg. von K. Seelmann, Berlin 2017, 50 ff. 6
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ein positives Menschenrecht verstehen. Vielmehr soll sie dann eine Idee,16 „Leitidee“, ein Bekenntnis, ein eher in Präambeln zu verortender Auslegungsgrundsatz oder sonst ein „vorrechtliches“ Prinzip sein.17 Das mag auch – wie in der Präambel der irischen Verfassung von 1937 – vom positiven Recht so vorgesehen sein.18 Die zweite Strategie würde eine Kernbedeutung oder einen überlappenden Konsens im Prinzip der Menschenwürde zwischen verschiedenen Philosophien und Religionen oder im Verständnis der Verfassungsgeber ermitteln, diesen Bedeutungsgehalt dann aber stark als ein subjektives Recht, genauer als ein Menschenrecht, ausformen.19 Beide Strategien haben sicher ihre Nachteile: Wie Ulfrid Neumann gerade wieder gezeigt hat, bringen starke inhaltliche Annahmen der Würde ideologische Differenzen ins Recht hinein.20 Zwar ist die Relevanz dieser Heterogenität gering, wenn die Form der Würde nur eine geringe Verbindlichkeit besitzt. Sie will aber auch nicht zu einem Pluralismus von Religions- und Weltanschauungen passen, die sich in gegenwärtigen Staaten finden und die von den meisten westlichen Verfassungen auch geschützt werden.21 Doch auch die zweite Strategie hat ihre Nachteile: Man kann sich zwar auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner im Verständnis der Menschenwürde einigen; aber die starke rechtliche Form eines Grund- oder Menschenrechts kann doch leicht entweder bedeutungslos oder umgekehrt eine Allzweckwaffe werden, wenn der Inhalt dieses subjektiven Rechts so abstrakt gefasst ist: Aus einem subjektiven Recht mit so minimalem substantiellem Inhalt können dann entweder widersprechende Entscheidungen begründet werden oder/und angesichts der Allgemeinheit dieses Begriffsverständnisses auch Banalitäten auf seiner Grundlage entschieden werden. Trotz dieser Schwierigkeiten soll hier an der zweiten Strategie auch für die Bildung eines rechtsphilosophischen Begriffs der Menschenwürde festgehalten werden. Der Grund dafür ist die Erwartung, dass auch bei der Abstraktion von den vielfältigen starken Bedeutungsgehalten der Menschenwürde ein Kerngehalt festgehalten werden Isensee (Fn. 1), 210 f. Grundidee von Enders, Die Würde des Menschen als Leitidee des Grundgesetzes und Rechtsnorm. Ein zweifaches Scheitern, in: Menschenwürde im 21. Jahrhundert. Untersuchungen zu den philosophischen, völker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen in Brasilien, Deutschland und Österreich, hg. von S. Kirste / D. G. de Souza / I. W. Sarlet, Baden-Baden 2018, 95 ff.; auch Coutinho, Human Dignity as a Background Idea, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger. Stuttgart (ARSPBeiheft 137) 2013, 105 ff. 18 In der Präambel der Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937 heißt es: „In the name of the Most Holy Trinity, And seeking to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and Charity, so that the dignity and freedom of the individual may be assured, Do hereby adopt, enact, and give to ourselves this Constitution“. 19 Zur Form der Würde etwa Kirste, A Legal Concept of Dignity as a Foundation of Law, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger, Stuttgart (ARSP-Beiheft 137) 2013, 70 f. 20 Neumann, Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse. Versuch einer Eingrenzung, ARSP 103 (2017), 297 ff. 21 Dreier, Menschenwürde aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Marburger Jahrbuch für Theologie XVII (2005), 205. 16 17
Menschenwürde als subjektives Recht
kann, der eine spezifische Funktion im Recht besitzt, die andere ähnliche Prinzipien nicht besitzen. In vielen Religionen wird durch das Prinzip der Würde des Menschen seine herausgehobene Stellung hervorgehoben. In philosophischen Systemen wird eine besondere Fähigkeit des Menschen identifiziert, derentwegen er eine besondere Stellung besitzt, die zu schützen ist. So kann die Würde des Menschen als Rechtsprinzip ebenfalls den besonderen, schützenswerten Status des Menschen bezeichnen. Weder Freiheit noch Gleichheit noch gar objektive Elemente des Gemeinwohls beziehen sich auf diesen besonderen Status und doch setzt ihn eine gerechte Rechtsordnung voraus. Dieser besondere Status ist dasjenige, was mit „Würde“ angesprochen wird. Dass diese Würde Menschen zukommen soll, bezeichnet die Qualitäten, die Angehörige dieses Status haben und in denen sie zu schützen sind. Die rechtliche Form, in der dieser Status im Recht gesichert wird, ist aber nicht nur derjenige eines objektiven Prinzips, wonach es etwa ein Gut darstellt, die Würde des Menschen anzuerkennen. Vielmehr fordert es die Würde des Menschen als eines Rechtsprinzips selbst, dass jeder Mensch einen Anspruch auf diesen Status besitzt. Sie ist also selbst ein subjektives Recht. Die Würde des Menschen als ein subjektives Recht meint den Anspruch eines jeden Menschen auf Anerkennung dieses Status. Diese These gilt es nun im Folgenden zu belegen. II.
Die Rechtsform
Doch zuvor noch ein Wort zur Rechtsform. Die Menschenwürde soll bei ihrer Transformation in Recht untersucht werden und nicht als philosophisches oder religiöses Prinzip. Tut sich schon die Religionswissenschaft schwer, den Begriff der Religion zu definieren, so kann das hier so wenig gelingen, wie denjenigen der Philosophie zu bestimmen. So muss eine allgemeine Charakeristik genügen, um die Rechtsform davon abzugrenzen. Hatte die 3. Auflage des Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart noch den Versuch unternommen, Religion „als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen“ zu verstehen, möchte die Neuauflage am liebsten Abstand von einer Bestimmung nehmen, sieht aber doch den Bezug zu einem vorgegebenen Heiligen.22 Für die Zwecke des vorliegenden Beitrags muss dieser Bezug reichen. In diesem Sinn kann auch die Menschenwürde als Gottebenbildlichkeit religiös verstanden werden. Nicht viel mehr kann hier über Philosophie gesagt werden.23 Sie soll hier als Reflexionsdisziplin des Denkens verstanden werden: Sie denkt über das Denken nach. Die Rechtsphilosophie würde also über das juristische Denken nachdenken. In dieser Perspektive bildet sie Verständnisse und Begriffe, Werte und Normen der Menschenwürde aus. E. Feil / P. Antes / C. Schwöbel / E. Herms / C. Albrecht / V. Küster / R. Schmidt-Rost, Religion in Geschichte und Gegenwart (hg. von H. D. Betz), Bd. 7, Tübingen 2004. 23 Vgl. aber Kirste, Rechtsphilosophie Eine Einführung, 2. Aufl. Baden-Baden 2020, 19 ff. 22
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Die Form des Rechts führt nun eine solche Reflexion als normative Reflexion in die Gesellschaft ein.24 Für das moderne Recht ist nicht entscheidend, dass es eine bestimmte gesellschaftliche Funktion wie etwa die Sicherung normativer Erwartungen, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit usw. erfüllt. Diese Aufgaben können auch in nichtrechtlicher Weise erfüllt werden, wenn vielleicht auch nicht so effektiv oder in mit nicht wünschenswerten Nebeneffekten. Es ist auch nicht kennzeichnend für das Recht, dass es aus gesellschaftlichen Interessen hervorgeht oder sie zum Ausgleich bringt oder ordnet. Denn das könnte auch mit bloßer Macht geschehen. Wenn wir Macht und Recht unterscheiden, können wir auch nicht sagen, dass das Recht aus Macht hervorgehende Normen bezeichnet, denn nicht jeder Machtspruch ist Recht. Schließlich kann das Recht sicherlich anders als die Moral zwangsmäßig durchgesetzt werden; aber nicht jeder Zwang ist Recht. Manche Theoretiker haben deshalb zwischen Sein und Sollen scharf unterschieden und das Recht anders als Macht und Zwang als Sollen und als Norm verstanden. Aber das Recht ist nicht, wie Hans Kelsen meinte, reine Norm plus Wirksamkeitschance.25 Bei allen diesen inhaltlichen oder formalen Bestimmungen fehlt das Spezifische des Rechts, auch wenn sie nicht falsch sind. Es fällt vielmehr auf, dass das moderne Recht seine eigene Entstehung, seine Durchsetzung und auch seine Funktionen selbst ordnet. Verfahren regeln, wie Recht entsteht, wie Recht in der Praxis interpretiert wird und wie es durchgesetzt wird. Recht regelt also seine eigene Entstehung und Durchsetzung. Naturgesetze brauchen das nicht. Rechtsnormen müssen aber mit der Freiheit der Menschen rechnen. Sie zwingen nicht, sondern sie normieren, d. h. sie stellen Verbote, Gebote oder Erlaubnisse – kurz: Sollenssätze – auf, die Menschen befolgen können, aber nicht müssen. In den Rechtssetzungsverfahren werden nicht einfach Normen für das Handeln geschaffen. Vielmehr normiert das Recht auch dieses Rechtssetzungsverfahren und auch seine Rechtsdurchsetzung. Recht sind also diejenigen Normen, deren Setzung und Durchsetzung normiert sind. Das ist bei den Normen der Religion oder der Moral nicht der Fall: Gott hat sich beim Erlass der Zehn Gebote an kein Verfahrensrecht halten müssen. Und auch Moralnormen werden nicht in normierten Verfahren erlassen. So lässt sich sagen, dass das Spezifische des Rechts ist, dass es normierte Normen bezeichnet. Normativität wird auf sich selbst anwendet. In diesem Sinn ist Recht reflexiv. Was in der Philosophie mit dem Denken geschieht, dass es auf sich selbst angewendet wird, das geschieht im Recht mit den Normen, die auf ihr Entstehungs-, Interpretationsund Durchsetzungsverfahren angewendet werden. Durch diese normative Reflexion wird nicht notwendig ein neuer Inhalt geschaffen; aber Interessen und Bedürfnisse, Werte, Macht und Zwang werden in normativ strukturierten Verfahren selbst geordnet, geklärt und in eine legitime Form gebracht. Zum Folgenden Kirste (Fn. 23), 79 ff.; Kirste, Recht als Transformation, in: Rechtsphilosophie im 21 Jahrhundert, hg. von W. Brugger / U. Neumann / S. Kirste, Frankfurt/Main 2008, 134 ff. 25 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, 10 f. 24
Menschenwürde als subjektives Recht
In diese Form soll nun auch die Würde des Menschen gebracht werden, wenn sie als Rechtsprinzip verstanden werden soll. Das lässt ihre Elemente – die Würde und deren Spezifikation als menschliche Würde – nicht unbeeinflusst. III.
Die Würden
1.
Politischer und anthropologischer Begriff der Würde
Der diskriminierende politische Begriff der Würde musste erst untergehen, um der Rezeption des nicht-diskriminierenden anthropologischen Begriff der Würde des Menschen im Recht Raum geben zu können.26 Politischen Ursprungs in der römischen Antike, wurde unter Würde häufig die Anerkennung eines bestimmten sozialen Status verstanden.27 In diesem Sinn waren etwa Amtswürden zugewiesene und anerkannte soziale Stellungen. Solche Würden waren dann das Ergebnis von Leistungen und ihrer sozialen Wertschätzung oder amtlichen Zuerkennung. Entsprechend mussten sie auch laufend erneuert werden.28 Ihre diskriminierende Wirkung beschreibt schon Cicero. Obwohl er auch die der Vernunftnatur des Menschen folgende Würde kennt, fordert er hinsichtlich der politischen Würde, dass die rechtliche Gleichheit der Ungleichheit der Würden Rechnung tragen müsse und nicht umgekehrt.29 Die Würde folgt also der sozialen Anerkennung nach: Würde aus Anerkennung.30 Diese Würden waren hierarchisch geordnet entsprechend den Leistungen oder dem Stand. Wer eine soziale Würde besitzt, ist eine Person. Wer nicht die Würde der Person besitzt, steht außerhalb der Gesellschaft.31
Zu Theorien der Menschenwürde als anthropologische Eigenschaft, Neumann (Fn. 20), 290 f. Pöschl, Würde I, Geschichtliche Grundbegriffe (hg. von O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck), Bd. 7, Stuttgart 2004, 637 ff.; Schaede (Fn. 1), 17 f. 28 Pöschl (Fn. 27), 639. 29 „Ipsa aequabilitas est iniqua, cum habeat nullos gradus dignitatis“, „ist doch gerade die Gleichheit ungerecht, weil sie keine Abstufungen der Rangordnung kennt“, Marcus Tullius Cicero, De re publica I, 27, 43, in: Der Staat, hg. von Karl Büchner, München 1993, 108 f. – In deutlicher Abgrenzung zu seinem anthropologischen Begriff der Würde, Marcus Tullius Cicero, De officiis I, in: Vom pflichtgemässen Handeln, hg. von Rainer Nickel, Düsseldorf 2008, 106: „Ex quo intellegitur corporis voluptatem non satis esse dignam hominis praestantia eamque contemni et reici oportere, sin sit quispiam, qui aliquid tribuat voluptati, diligenter ei tenendum esse eius fruendae modum“ – „Daraus ist ersichtlich, dass körperliche Lust der Vorrangstellung des Menschen nicht voll gerecht wird und dass sie verachtet und abgelehnt werden muss“. 30 In diesem Sinn auch Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 364 ff.: „Folglich kann Menschenwürde nicht losgelöst von einer konkreten Anerkennungsgemeinschaft gedacht werden.“ 31 Arendt schreibt dazu mit Bezug auf das antike Rom: „Ohne seine persona hat das Individuum weder Rechte noch Pflichten, es steht außerhalb des Gesetzes als der ‚natürliche Mensch‘, nämlich als homo im ursprünglichen lateinischen Wortsinn, als jemand, der nichts ist als ein Mensch und daher zumeist ein Sklave“, Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 13. Aufl. München 2009, 136. 26 27
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An das Amt oder den Status wurden gewisse Privilegien, Rechte und Pflichten geknüpft, die mit dem Rang der Würde zunahmen.32 Diese waren jedoch für niedere Stände undurchlässig, wie etwa Grimmelshausen im 17. Jh. beklagt.33 Insgesamt war damit der Status mit seiner Würde der Anknüpfungspunkt für die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Bürger sowie zwischen Bürgern untereinander. Mit der Würde war also eine gestufte Inklusion in das Recht verbunden. Insofern jemand aufgrund seines Status gewisse Rechte und Pflichten genoss, wurde er dann eine Person genannt. In diesem Sinn konnte man Amtsperson oder Privatperson etc. sein. Immerhin hatte die Amtswürde noch den Vorzug, verliehen worden zu sein, also jedenfalls prinzipiell rational vergeben werden zu können, während der ererbte oder erworbene soziale Status mit entsprechenden Zufälligkeiten behaftet war. Lakonisch formuliert auch Hobbes, dass der Wert einer Person ihr sozialer Preis sei, was man auch gemeinhin als „Würde“ bezeichne.34 Außerdem wurde die dauerhafte Amtswürde von ihrer vorübergehenden Trägerschaft durch natürliche Personen unterschieden. Daneben entwickelte sich beginnend mit der Stoa und dann in der christlichen Philosophie ein philosophisch-theologisch begründeter anthropologischer Begriff der Würde, der in der Gottebenbildlichkeit seinen Ausgangspunkt nahm. Die Qualitäten des Menschen, die diese Ebenbildlichkeit zeigen sollten, waren Vernunft, Freiheit, Kreativität und andere. Gebunden an diese Qualitäten war die Würde dauerhaft.35 Jedoch ist bezeichnet, dass die sozialpolitischen Sprengsätze, die sich daraus ergaben, in der ständischen Gesellschaft ungezündet blieben. Obwohl wortgleich, standen politisches und anthropologisches Würdeverständnisse unverbunden nebeneinander.36 Eher die Ausnahme als die Regel waren wohl die politischen Konsequenzen des Würdebegriffs in den norditalienischen Stadtrepubliken der Renaissance.37 Mit der Französischen Revolution wurde dann der diskriminierende sozialpolitische Begriff weitgehend aufgegeben. Auch in Deutschland – wenn auch weniger radikal – verlor er an Bedeutung. Wohl erst die Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts setzten ein Bedürfnis auf einen diskriminierungsfreien Würdebegriff frei und führten zur recht-
Pöschl (Fn. 27), 637. Kondylis, Würde II, Geschichtliche Grundbegriffe (hg. von O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck), Bd. 7, Stuttgart 2004, 656. 34 Thomas Hobbes, Leviathan 10, hg. von R. Tuck, Cambridge 1994, 63 f.: „The publique worth of a man, which is the Value set on him by the Commonwealth, is that which men commonly call DIGNITY.“ – der Fehler liegt darin, dass Hobbes die Würde nur als einen äußeren, relativen und nicht als einen absoluten Wert versteht, der nicht mit anderen verglichen werden kann, Tiedemann, Human Dignity as an Absolute Value, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger, Stuttgart (ARSP-Beiheft 137) 2013, 32 f. 35 Etwa bei Bonaventura und Thomas, Kondylis (Fn. 33), 650. 36 Kondylis (Fn. 33), 651. 37 Kirste, Menschenwürde und Freiheitsrechte des Status Activus. Renaissancehumanismus und gegenwärtige Verfassungsdiskussion, in: Des Menschen Würde: entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance? hg. von R. Gröschner / S. Kirste / O. Lembcke, Tübingen (Politika 1) 2008, 187 ff. 32 33
Menschenwürde als subjektives Recht
lichen Reformulierung des politisch-sozialen Würdebegriffs. Hierzu musste aber der politisch-sozialen Würde ein weiteres, in der philosophischen Tradition erarbeitetes Kriterium eingefügt werden. 2.
Leistungen und Probleme des politischen Würdebegriffs
Die Bewertung des politisch-sozialen Würdebegriffs fällt ambivalent aus: Einerseits bringt er einen bestimmten sozialen Status und die damit verbundenen Rechte zum Ausdruck und kann so entsprechende Erwartungen bündeln und Sicherheiten gewähren. Deutlich wird auch, dass dieser Status aus Anerkennungs- oder Zuweisungsprozessen hervorgeht, also nicht als naturgegeben vorausgesetzt werden kann. Andererseits misslingt zunächst eine Verbindung mit dem anthropologischen Würdebegriff und dessen freiheitlichen und egalitären Konnotationen. Die mit der Hierarchisierung verbundene starke Diskriminierung niederer Würden und die fehlende Garantie, dass alle Menschen an solchen sozialen Anerkennungsbeziehungen teilnehmen können, erscheint problematisch. Erstens ist nicht sichergestellt, dass die Würde anerkannt oder zugewiesen wird. Dies ist vielmehr eine Handlung, die in der Freiheit des Anerkennenden bzw. zuweisenden Dienstherrn steht. Zweitens ist das Anerkennungskriterium sehr konkret an bestimmte Leistungen und Verdienste oder ggf. sogar an ererbte Kriterien gebunden. Drittens schließlich sind die Folgen in Gestalt von Privilegien oder Rechten je nach Rang der Würde unterschiedlich. Zusammengenommen konnten diese drei Probleme zu erheblichen Diskriminierungen und Exklusionen führen: Ist die Anerkennung des sozialen Status freiwillig, kann sie auch versagt werden. Hängt sie an ererbten Kriterien, Leistung oder Verdienst, können Menschen, die sie nicht erfüllen, von der Würde ausgeschlossen werden und genießen daher auch nicht die damit verbundenen Rechte. Aber auch diejenigen, die sie besitzen, haben je nach ihrem sozialen Rang oder auch Stand unterschiedliche Rechte und Privilegien. Sollen diese Folgen vermieden werden, bedarf es eines diskriminierungsfreien Kriteriums der Würde, dessen Anerkennung nicht freigestellt ist. Es ist die große Leistung der Rechtsentwicklung des 20. Jahrhunderts, sowohl den politischen als auch den egalitär-freiheitlichen anthropologischen Begriff der Würde so abstrakt gefasst zu haben, dass sie zum Rechtsbegriff der Menschenwürde zusammengefügt werden konnten. Die soziale Anerkennung der Würde war damit der Freiheit und Gleichheit jedes Menschen als Rechtsperson geschuldet.38
Zum Begriff der Rechtsperson Kirste, Rechtsperson, in: Wörterbuch der Würde, hg. von R. Gröschner / A. Kampust / O. W. Lembke, München 2013, 339–341. 38
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IV.
Der Mensch als Kriterium der Würde
Unterschiedlicher sozialer Status aufgrund ererbter oder erworbener Eigenschaften als Kriterium der Anerkennung der Würde, der Grundlage für die Zuordnung bestimmter Rechte und Pflichten war, brachte also sehr ungleiche Personen, Rechtsverhältnisse und auch Exklusionen aus dem Recht hervor. Es bedurfte eines egalitären und verpflichtenden Kriteriums der Würde, wollte man Exklusionen aus dem Recht vermeiden. 1.
Die moralische Verpflichtung zur Anerkennung von Personalität und Würde
Dazu leistete die Aufklärung einen wesentlichen Beitrag, indem sie von der theologischen Fundierung des Begriffs der Menschenwürde abstrahierte. Damit konnte der anthropologische Begriff der Würde für die Rezeption im Recht vorbereitet werden. Indem zugleich der Begriff der Person abstrakter gefasst wurde, war eine Umkehrung des Verhältnisses von Würde, Person und Rechten möglich, die jedenfalls darauf angelegt war, Diskriminierungen innerhalb der Würdigen zu vermeiden.39 Pufendorf spricht von der vernunft- und freiheitsbasierten „Würde der moralischen Person“40 und eröffnet dem Begriff damit den Weg in die Welt des Politisch-Rechtlichen. Mit großer Schärfe unterschied er zwischen Entitäten als Teilen einer physischen (entia physica) und als Teilen einer moralischen Welt (entia moralia).41 In der Moral waren Menschen Personen. Der wirkliche Mensch oder die reale menschliche Vereinigung hatte in einer vernünftigen moralischen Welt den Stand als persona moralis bzw. persona moralis composita. Kant brachte diese Zugehörigkeit zu einer Welt des moralischen und rechtlichen Normativen auf den Begriff der Zurechnung: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Umgekehrt sei „Sache … ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist.“42 Kirste, Verlust und Wiederaneignung der Mitte – zur juristischen Konstruktion der Rechtsperson, in: Evangelische Theologie 60 (2000), 30 ff.; Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, in: Verfassung – Philosophie – Kirche Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70 Geburtstag, hg. von J. Bohnert / Chr. Gramm / U. Kindhäuser / J. Lege / A. Rinken / G. Robbers, Berlin 2001, 348 f. 40 Samuel von Pufendorf, De iure naturae I, Gesammelte Werke (hg von Wilhelm Schmidt-Biggemann), Bd. 2, Berlin 1998, §§ 22 f., 25. 41 Auer, Die Substanz der Freiheit. Pufendorfs Begriff der moralischen Person, in: Person und Rechtsperson Zur Ideengeschichte der Personalität, hg. von S. Kirste / R. Gröschner / O. W. Lembcke, Tübingen 2015, 84 ff. 42 Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil, metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Immanuel Kant Werkausgabe, Bd. VIII, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/Main 1982, AB 22 f., 329 f.; in der Grundlegung heißt es auch, Person sei jedes vernünftige Wesen als Zweck in sich selbst (2. Abschnitt). Hierzu Herbst, Person und Bürger bei Kant, in: Person und Rechtsperson Zur Ideengeschichte der Personalität, hg. von S. Kirste / R. Gröschner / O. W. Lembcke, Tübingen 2015, 156 f.; Thomale, Rechtsfähigkeit und juristische Person als Abstraktionsleistungen – Savignys Werk und Kants Beitrag, in: Person und Rechtsperson Zur 39
Menschenwürde als subjektives Recht
Die Würde einer Person war damit unabhängig vom sozialen Stand, unabhängig auch von den Leistungen und Verdiensten. Diese Abstraktion bedeutete jedoch auch, dass über die Frage, wer eine Person sein sollte, frei entschieden werden konnte. Die Person war zwar als abstrakter Status zurechnungsfähiger Einheiten etabliert und Dingen oder Objekten gegenübergestellt. Die Kriterien für die Anerkennung dieses Status waren aber Moral und Recht anvertraut. Ob jemand Person sein sollte, hing nun von den zugeteilten Rechten und Pflichten ab. Die Person ist also zunächst Rechtssubjekt. Rechte und Pflichten beziehen sich nun nicht mehr auf den sozialen Stand, sondern umgekehrt hing die Zugehörigkeit zur Moral und zum Recht an den moralischen oder juristischen Rechten und Pflichten. Damit steht es in der Freiheit des Rechtssetzers, jemandem, einer Vereinigung oder auch einer Sache, Rechte und Pflichten zuzuerkennen und damit Rechtspersonen anzuerkennen. Die Frage der Zugehörigkeit von etwas zu einem vernünftigen System normativer Beziehungen wird so abgelöst von der empirischen Frage von Herkunft und Leistung. Möglich wird so der grundsätzlich gleiche Status als Rechtsperson. Die standesmäßige Ungleichheit muss sich nicht in rechtliche Ungleichheit übertragen. Die Problematik, die dieser konstruktive Gewinn mit sich bringt, wird im Grunde schon in der unterschiedlichen Formulierung der einschlägigen Bestimmungen des ABGB von 1811 und des ALR von 1795 deutlich. Während es im § 16 S. 1 ABGB auch heute noch heißt: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten“, formulierte § 1 der Einleitung des ALR „Der Mensch wird, insofern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt“. Während das ABGB – nicht unbedingt zur Begeisterung seines Autors von Zeiller, der die Bestimmung gerne getilgt hätte – also auf vernunftrechtlich begründete, vorpositive Rechte verweist, die den Personenstatus garantieren, ist das Preußische ALR insofern positivistischer. Ohne dass dem politisch-sozialen Begriff der Würde ein weiteres Kriterium ihres Trägers hinzugefügt wird, bleibt es bei dem Prinzip „ohne Rechte keine Würde“ und verbindet sich dies nicht mit dem Grundsatz, „ohne Würde keine Rechte“.43 Das Verhältnis zwischen Anerkennung und Würde der Person dreht sich damit aber um. War die Würde zunächst Ausdruck der tatsächlichen Anerkennung von ererbten Eigenschaften, Leistungen oder Verdiensten („Würde aus Anerkennung“), sind nun die angeborenen Rechte der naturrechtlich-moralische Grund der Verpflichtung zur Anerkennung der Personalität des Menschen als Voraussetzung seiner rechtlichen Würde: Verpflichtung zur Anerkennung der Würde.
Ideengeschichte der Personalität, hg. von S. Kirste / R. Gröschner / O. W. Lembcke, Tübingen 2015, 175 f. mit Bezug auf juristische Personen. 43 Enders (Fn. 17), 96.
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2.
Die Krise natürlicher Rechte und die positivistische Konzeption der Rechtsperson
Fällt jedoch diese naturrechtliche Voraussetzung weg, gerät auch die Würde des Menschen in Gefahr. Zwar setzte etwa von Savigny noch völlig selbstverständlich voraus, dass alle Menschen als Personen anzuerkennen seien.44 Im Positivismus des 19. Jahrhundert ging diese moralische Voraussetzung aber zunehmend verloren.45 Auch dies bedeutete zunächst einen Freiheits- und Rationalitätsgewinn. Das zeigt sich an der Zuerkennung des Subjektstatus im Recht an Menschen als natürliche und wirtschaftlichen Unternehmen und später auch den Staat selbst als juristische Personen. Wurde zunächst noch selbstverständlich vorausgesetzt, dass Mensch zu sein, das vernünftige moralische Kriterium für die Zuerkennung von angeborenen Rechten als Grundlage seiner Anerkennung als Rechtsperson war; ermöglichte die abstrakte Fassung des Begriffs der Rechtsperson, dass bestimmte wirtschaftliche Unternehmungen diesen Status ebenfalls zuerkannt bekommen konnten; so drehte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts dieses Verständnis um. Hans Kelsen meinte schließlich, dass im Grunde auch der Mensch, eine juristische Person sei, da ihm die Rechtsordnung wie auch Unternehmen unabhängig von moralischen Erwägungen Rechte und Pflichten zuerkennen könne.46 Die Anerkennung von Menschen als Personen und der Umfang der ihnen zugewiesenen Rechte und Pflichten wurde damit Teil der Autonomie des Rechts. Friedrich Puchta fasst diese Erkenntnis zusammen: „Person ist der Mensch nur durch das Recht“.47 Zugleich mit dieser Freiheit besteht jedoch die Gefahr, dass Personengruppen von der Würde als Rechtsperson ausgeschlossen werden. Mit der Freiheit der Entscheidung über den Status als Subjekt von Rechten und Pflichten ist also die Gefahr der Exklusion von Menschen aus Rechtsbeziehungen erkauft. So lange noch eine moralische Verpflichtung der Anerkennung aller Menschen als Rechtssubjekte faktisch geteilt wurde, mochte das Problem nicht auftreten. Immerhin war inner-
Kirste (Fn. 39), 335 f.; Thomale (Fn. 42), 178 f. Altwicker, Rechtsperson im Rechtspositivismus, in: Person und Rechtsperson Zur Ideengeschichte der Personalität, hg. von S. Kirste / R. Gröschner / O. W. Lembcke, Tübingen 2015, 232 ff. 46 Kelsen (Fn. 25), 176 f.: „Wenn im Falle der juristischen Person Rechte und Rechtspflichten von etwas ‚getragen‘ werden können, was nicht Mensch ist, kann auch im Falle der sogenannten physischen Person das, was die Rechte und Rechtspflichten ‚trägt‘ und was die physische Person mit der juristischen gemeinsam haben muß, da doch beide als ‚Träger‘ von Rechten und Rechtspflichten Person sind, nicht der Mensch sein, der der in Frage kommende Träger ist, sondern etwas, was der Mensch ebenso hat wie die als juristische Personen angesprochenen Gemeinschaften“; Altwicker (Fn. 45), 236 ff.; Kirste (Fn. 39), 339 f. 47 Puchta, Corporationen, Rechtslexicon für Juristen aller teutschen Staaten (hg. von J. Weiske), Bd. 3, Leipzig 1851, 66. Wobei er naturalistisch – und noch im Sinne von Savigny – hinzusetzt: „aber das Subject der Persönlichkeit, ist nichts Juristisches, sondern etwas Natürliches, und darum heißt der Mensch natürliche (physische) Person“. Erst die späteren rechtspositivistischen Theorien konnten zeigen, daß auch das Subjekt der Rechtsperson eine Konstruktion des Rechts ist“. 44 45
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halb der sozialen Frage am Ende des 19. Jahrhunderts schon deutlich geworden, dass faktische Abhängigkeiten der Arbeiter die wirkliche Inklusion als Subjekte ins Recht zur bloßen Form aushöhlte und tatsächlich zu Rechtsverhältnissen führte, die ihren Subjektstatus verletzte. Schon Hegel hatte die Gefahr gesehen, dass in der arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung der Arbeiter zum Teil der Maschine und mithin verdinglicht wird.48 Marx und Lassalle hatten dann gezeigt, wie auch für formal als Subjekte anerkannte Personen, die sozialen Verhältnisse so drückend werden konnten, dass diese Stellung mit der Würde einer Person unvereinbar war,49 weil sie selbst zum Handelsgut wird.50 Die unvollkommene Verrechtlichung der Person ergab dann die Forderung nach würdigen Arbeitsbedingungen, wie sie etwa in die Weimarer Reichsverfassung aufgenommen wurde.51 Dramatischer musste aber der Beseitigung der individualistischen moralischen Grundlagen der Aufklärung durch den Nationalsozialismus werden. Hier zeigte sich das zweite Problem des Fehlens eines rechtlich verbindlichen Kriteriums für die Anerkennung des rechtlichen Status eines Subjekts von Rechten. Das kündigte sich dann schon im Parteiprogramm der NSDAP an, wo es hieß, dass Rechtsgenosse nur der Volksgenosse sein solle.52 Der abstrakte – und als zu bürgerlich abgehoben empfundene – Begriff des Rechtssubjekts als Grundlage der Personenwürde, wurde ersetzt durch den gemeinschaftsbezogen konkreteren Begriff des „Rechtsgenossen“, wie es Karl Larenz eingehend rechtfertigte.53 Das moralisch vorausgesetzte Kriterium für die Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen (1821), 13. Aufl. Frankfurt am Main 2013, § 198, 588. 49 Ferdinand Lassalle, Die Verfassungsreden, Gesammelte Reden und Schriften (hg. von Eduard Bernstein), Bd. 2, Berlin 1919, f. 50 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1980, 464 f.: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘… Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt“. 51 Art. 151 WRV: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern“. 52 Nr. 4: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ Nr. 6 sah dann eine Diskriminierung von Nicht-Staatsbürgern bei der demokratischen Selbstbestimmung vor und Nr. 9 beschränkte die Gleichheit auf Staatsbürger, Das 25-Punkte-Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920. 53 Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht – Zur Wandlung der Rechtsgrundbegriffe, in: Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, hg. von G. Dahm, Berlin 1935, 241: „Nicht als Individuum, als Mensch schlechthin oder als Träger einer abstrakt-allgemeinen Vernunft habe ich Rechte und Pflichten und die Möglichkeit, Rechtsverhältnisse zu gestalten, sondern als Glied einer sich im Recht ihre Lebensform gebenden Gemeinschaft, der Volksgemeinschaft. Nur als in Gemeinschaft lebendes Wesen, als Volksgenosse ist der Einzelne eine konkrete Persönlichkeit. Nur als Glied der Volksgemeinschaft hat er seine Ehre, 48
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Zuerkennung dieses Status – der Mensch als Vernunftwesen – wurde durch das einschränkende Kriterium des „blutsmäßig“ zu bestimmenden „Volksgenossen“ ersetzt. Für andere war ein minderer Status vorgesehen. In vielen Beziehungen waren sie von den Rechtsbeziehungen ausgeschlossen und standen damit in bloßen Gewaltbeziehungen zu anderen und zum Staat. Diese – und andere Unrechtserfahrungen sind tatsächlich der Veranlassungsgrund dafür gewesen, nun das Prinzip der Menschenwürde in das positive Recht zu transformieren.54 3.
Die rechtliche Verpflichtung, jeden Menschen als Rechtsperson anzuerkennen
Hannah Arendt hat bekanntlich das hierin liegende Exklusionsproblem beschrieben und ein „Recht auf Rechte“ gefordert.55 Dahinter steht die Beobachtung, dass die Anerkennung des abstrakten Status gleicher Freiheit als Würde Diskriminierungen und Exklusionen bestimmter Gruppen von Menschen nicht verhindern kann, wenn diesen kein positives Recht auf Inklusion zusteht. Tatsächlich hat sich das moralische Kriterium der Menschheit als zu schwach erwiesen, um jedem Menschen einen angemessenen Status im Recht zu sichern. Es muss vielmehr positivrechtlich verbindlich gemacht werden und die Freiheit der Zuerkennung von Rechten binden. Bedenkt man den Streit um die Präambel der Charta der Vereinten Nationen,56 wird klar, dass die diskriminierungsfreie Inklusion aller Menschen in gleichwertige Rechtsverhältnisse nicht selbstverständlich ist. Der südafrikanische Ministerpräsident Jan Christiaan Smuts hatte für die Präambel die Formulierung „ultimate value of human personality“ vorgeschlagen, wohl wissend und wollend, dass „personality“ qualifiziertere Kriterien an Wert und Würde stellt, als „person“. Anderen Gründungsstaaten der Vereinten Nationen war dieser diskriminierende Versuch doch zu durchsichtig, so dass dann schließlich die Formulierung „dignity and worth of the human person“ gewählt wurde. So wird klar, dass die grundlegenden Rechte wirklich allen Menschen zukom-
genießt er Achtung als Rechtsgenosse […]. Es ist, wenn man so will, eine besondere Qualität nicht des Menschen schlechthin, sondern des Volksgenossen. Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Dieser Satz könnte an Stelle des die Rechtsfähigkeit ‚jedes Menschen‘ aussprechenden § 1 BGB an die Spitze unserer Rechtsordnung gestellt“. 54 Etwa Rothhaar (Fn. 9), 57 ff.; Bieri, Eine Art zu leben Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013, 75 ff.; Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei. Zu den Folgen eines gewaltsamen Umbruchs in der Geschichte der Menschenrechte, ZfMR 1 (2010), 27. Neumann (Fn. 20), 292, der Verletzungshandlungen als Ausgangspunkt nimmt; Margalit, Politik der Würde Über Achtung und Verachtung, 2. Auflage Berlin 2018, 21 ff. Beide stellen auf Demütigungen ab, wie schon Maihofer (Fn. 12), 17 ff.; dazu auch Kirste (Fn. 13), 103 ff. 55 Arendt (Fn. 31), 614, 617. 56 Tiedemann, (Fn. 3), 2006, 13 ff.; Tiedemann, Würde der Person oder Würde der Persönlichkeit, in: Kritische Justiz 40 (2007), 83 ff.; Tiedemann, (Fn. 3), 2012, 10 ff.
Menschenwürde als subjektives Recht
men sollen, deren Würde so anerkannt wird. Um diese Inklusion aller Menschen in die Menschenrechte deutlich zu machen spricht auch die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von „inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family“. Die bloße Zugehörigkeit zur Gattung Mensch – ohne eine weitere einschränkende Qualifikation – sollte das Kriterium sein, aufgrund dessen die Würde anzuerkennen ist. Die durch das Attribut „Mensch“ qualifizierte Würde bringt nicht nur eine besondere Hochschätzung zum Ausdruck, sondern auch eine Gleichstellung aller, die dieses Attribut besitzen, also aller Menschen.57 Diskriminierend ist die Menschenwürde nur in ihrem Speziesismus: Es gibt eine Würde des Menschen und andere, etwa diejenige der Kreatur, wie in der Schweizerischen Bundesverfassung.58 Weder sind bestimmte Leistungen, Verdienste, noch kognitive Fähigkeiten erforderlich, um zu den geschützten Personen zu gehören. Zugehörigkeit zur Gattung ist hinreichendes Kriterium des Schutzes; aber der Schutz bezieht sich nicht auf die Gattung.59 Vielmehr gehört zum Menschsein, dass jeder einzelne gewissermaßen eine Gattung für sich, ein Individuum ist. Das ist er auch dann, wenn er die Möglichkeiten seines Menschseins nicht aus eigener Kraft entfalten kann, weil er noch nicht, nicht mehr oder nie über die dazu erforderlichen kognitiven Fähigkeiten verfügt (hat). Insofern unterscheidet sich der Schutz der Menschenwürde vom Schutz der Freiheit. Damit sichert die Würde jedem Menschen die Anerkennung als Subjekt von Rechten und Pflichten und so die Notwendigkeit, dass andere Menschen und der Staat zu ihm nicht in Gewalt- sondern als Rechtspersonen in Rechtsverhältnisse treten. Auch andere Rechtspersonen können miteinander in Rechtsverhältnissen stehen. Das liegt in ihrer Eigenschaft als Rechtssubjekt. Deshalb kann der Staat als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit anderen privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen juristischen Personen in Rechtsverhältnissen stehen und soll dies als Rechtsstaat auch. Aber nur Menschen haben einen Anspruch darauf, dass sie zu allen anderen Rechtspersonen in Rechtsverhältnissen stehen.60
Georg Lohmann, Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde, Zfmr 4 (2010), 46–63, 50. Art. 120 II Schweizerische Bundesverfassung v. 18.4.1999: „Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten“. 59 Kritisch zur Konzeption der Menschenwürde als Gattungswürde Dreier (Fn. 21), 207 f. 60 Dreier, Achtung und Schutz, in: Wörterbuch der Würde, hg. von R. Gröschner / A. Kapust / O. W. Lembcke, München 2013, 329 f. 57 58
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V.
Selbstverhältnis in Rechtsverhältnissen
1.
Selbstverhältnis
In der 27. Ode der 2. Pythie schreibt der griechische Dichter und Philosoph Pindar (522–518 v. Chr.) den Satz „Werde, der du bist (γένοι’ οἷος ἐσσὶ μαθών)“. Was in konservativer Interpretation bedeuten könnte: „Finde Dich damit ab, als was Du geboren bist“, meint tatsächlich die Aufforderung ein Selbstverhältnis zu gewinnen. Es bedeutet, nicht nur man selbst zu sein, sondern von sich selbst zu wissen, seine Identität61 und Integrität62 zu bilden und in diesem Sinn aus seinem Selbstbewusstsein heraus zu leben. In diesem prozesshaften Bei-sich-selbst-Sein liegt die Grundlage der menschlichen Freiheit, wie Hegel ausgeführt hat.63 Nur wer in seinen Rollen („personae“) mit sich selbst übereinstimmt, ruht in sich, meinte die Stoa. Nietzsche lässt dann Pico della Mirandolas Bildhauer und Architekten seiner selbst64 zum Schöpfer seiner selbst werden: „Wie man wird, was man ist“ übertitelt er seinen „Ecce Homo“.65 Dieses Selbstsein trägt nach Jaspers die Rollen, in denen der Mensch doch mit sich selbst identisch bleibt.66 Das ist auch die Grundlage sozialer Freiheit. Aristoteles hatte schon angenommen, dass, wer bei sich selbst sei, auch die anderen sie selbst sein lasse und so in Tiedemann (Fn. 34), 33 versteht die persönliche Identität als Wertmaßstab der Würde des Menschen. Brugger, Dignity and Rights and Legal Philosophy within the Anthropological Cross of Decisionmaking, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger, Stuttgart (ARSP-Beiheft 137) 2013, 51: „Respecting human dignity requires that in core areas its integrity is secured, both in regards to its physical vulnerability and neediness and the integrity of its psyche or identity, which shape humans throughout their entire life story“. 63 Hegel setzt dies auch in ein Verhältnis zur Würde: „Würde hat der Mensch nicht dadurch, was er als unmittelbarer Wille ist, sondern nur indem er von einem Anundfürsichseienden, einem Substantiellen weiß und diesem seinen natürlichen Willen unterwirft und gemäß macht. Erst durch das Aufheben der natürlichen Unbändigkeit und durch das Wissen, daß ein Allgemeines, Anundfürsichseiendes das Wahre sei, erhält er eine Würde, und dann ist erst das Leben selbst auch etwas wert“, Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion 1, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1995, 440. 64 Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, hg. von A. Buck, Hamburg 1990, 5 f.: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen … Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst“ – er ist, was er aus seinem Nichtbestimmtsein macht. 65 Friedrich Nietzsche, Vorwort, in: Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist Ecce homo Dionysos-Dithyramben Nietzsche contra Wagner, hg. von G. Colli / M. Montinari, München 2004, 293. Gegen Rationalitätsanforderungen an die Selbstwerdung schreibt Nietzsche: „Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im entferntesten ahnt, was man ist … Darin kommt eine große Klugheit, sogar die oberste Klugheit zum Ausdruck: wo nosce te ipsum das Rezept zum Untergang wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Mißverstehn!“ 66 Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1991, 83. 61 62
Menschenwürde als subjektives Recht
ein freies Verhältnis zu ihnen trete.67 Auch die Antriebe und Wünsche können noch einmal einer Evaluation unterworfen und als zum Selbstverständnis gehörig bestätigt oder als Ablenkungen davon verworfen werden.68 So gewinnt auch das Recht sein Fundament in sich, wenn es sich auf die Würde des Menschen gründet: Die Selbstidentität im Recht soll allen Menschen zugänglich sein. Sie ist nicht Voraussetzung dafür, dass der Einzelne eine Würde hat; vielmehr schützt ihn das Recht darin, sie zu entwickeln. Auch, wo der Mensch sich und seine Würde aufzugeben scheint, bleibt er doch er selbst. Deshalb ist eben auch ein „unwürdiges Verhalten“, das Gerichte in den Fällen des sog. „Zwergenweitwurfs“69 oder von „Peepshows“,70 Laserdrome Spielen71 und Ähnlichem angenommen hatten, noch Ausdruck der Würde als Selbstsein. 2.
Das subjektive Recht auf Anerkennung als Rechtsperson
Auf dem erfolgreichen Weg der Transformation der Würde des Menschen in die Menschenrechtsdokumente und Verfassungen der Nachkriegszeit fällt ein formaler und ein inhaltlicher Aspekt auf. Der formale Aspekt betrifft ihre Stellung: Wurde das Prinzip der Würde des Menschen zunächst nur in den Präambeln der Charta der Vereinten Nationen oder etwa derjenigen der Verfassung der Republik Irland von 1937 erwähnt, so fällt doch auf, dass sie seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 auch Eingang in den Regelungsteil der Menschenrechtserklärungen und der Verfassungen gefunden hat.72 Das deutet auf ihre normative Bedeutung hin. Sie ist eben nicht nur eine allgemeine Grundlage der entsprechenden Völkerrechtsdokumente und Verfassungen, die ein Ziel angeben würde, das bei der Auslegung der entsprechenden Rechtsnormen zu berücksichtigen und irgendwie auch anzustreben sei. Vielmehr ist sie nun in den verbindlichen Teil dieser Rechtstexte aufgenommen worden. Zweitens springt bei den unterschiedlichen Formulierungen doch ein Satz des deutschen Grundgesetzes und der Europäischen Grundrechtecharta in die Augen: H. G. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, hg. von O. Gigon, Berlin und Boston 2007, IX, 9, 1166a 14 u. 1170a 30-b7. 68 In diesem Sinn verstehen etwa Dietmar von der Pfordten (Some Remarks on the Concept of Human Dignity, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger, Stuttgart (ARSP-Beiheft 137) 2013, 20 ff.) und auch Paul Tiedemann (The Relationship between Human Dignity and Human Rights, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger, Stuttgart (ARSP-Beiheft 137) 2013, 199 ff.) die Würde. 69 Manuel Wackenheim v. France, Communication No 854/1999, U. N. Doc. CCPR/C/75/D/854/1999 (2002). 70 BVerwG NJW 1982, 664. 71 EuGH Rs. C-36/02, Omega, Slg. 2004, I-9609 – „Laserdrome“ (Vorlagebeschluss des BVerwG: BVerwGE 115, 189). 72 Tiedemann, (Fn. 3), 2006, 13 ff. 67
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„Die Würde des Menschen ist unantastbar“.73 Solche apodiktischen Sätze finden sich in Rechtstexten sehr selten. Versteht man diese Formulierung als Aussagesatz, ist sie offenbar falsch; denn die Würde des Menschen ist häufig angetastet worden und wird auch weiterhin angetastet. Gerade wenn man als empirisches Antasten das Verfügen über einen anderen, seine Instrumentalisierung und Verdinglichung versteht, wurde und wird die Würde angetastet.74 Zudem sind Normen Sollenssätze, die eine Verpflichtung in Gestalt eines Gebots, Verbots oder einer Erlaubnis enthalten und keine Aussagen.75 Versteht man die Formulierung hingegen als eine Norm, dann ist die Frage, warum sie nicht auch wie S. 2 der Europäischen Grundrechtecharta und Absatz 1, S. 2 des Grundgesetzes als ein Gebot oder Verbot formuliert worden ist. Doch ist die Formulierung genau dann richtig, wenn der Satz als Norm und zwar als subjektives Recht verstanden wird.76 In der Tat ist der „Indikativ … in der Rechtssprache der schärfste Imperativ“.77 In den vorigen Abschnitten hatten wir das Prinzip der Würde des Menschen als Anerkennung eines jeden Angehörigen der Gattung Mensch als Subjekt von Rechten und Pflichten bestimmt. Auf diese Weise können Gewaltverhältnisse zwischen Personen – und auch der Staat ist eine juristische Person – in Rechtsverhältnisse transformiert werden.78 Alle Menschen können damit in Verhältnissen der Freiheit stehen. Denn Rechtsverhältnisse sind Freiheitsverhältnisse, wie bei der Darlegung der Rechtsform gezeigt wurde (s. o. II.). So, wie das menschliche Handeln frei ist, wenn es aus Reflexion heraus geschieht, so ist das Recht eine reflexive Normenordnung, bei der die Normsetzung und Normdurchsetzung normiert ist, damit sie nicht aus faktischer Macht erfolgt und einfach mit Zwang exekutiert wird. Einer solchen Freiheitsordnung anzugehören, entspricht der Würde des Menschen, weil er hier in seinem Selbstverhältnis anerkannt wird. Die subjektiven Rechte, die er hier genießt, erlauben ihm seine Freiheit mit Anspruch auf wechselseitige Anerkennung zu realisieren. Er hat Rechtspflichten, die er entweder aus Freiheit eingegangen ist oder die ihm in einem normierten Verfahren auferlegt werden, an dem er entweder autonom partizipieren kann oder in dem er doch so repräsentiert sein sollte, dass er sie als selbst auferlegt verstehen kann. Soweit anerkannt ist, dass man Menschen nicht einfach faktisch zu etwas zwingen soll, sondern sie nur solche Pflichten haben sollten, die Ausdruck ihrer rechtlichen Freiheit sind, sind sie in ihrer Würde geschützt. Wie
Eingehend hierzu Rothhaar (Fn. 9), 43 ff.; Neumann (Fn. 20), 289 f. So etwa Maihofer (Fn. 12), 17 ff.; Poscher versteht die apodiktische Formulierung als Indiz für ein Tabu, Poscher, Die Würde des Menschen ist unantastbar, JuristenZeitung 59 (2004), 758. 75 Auch Dreier (Fn. 21), 179 f. 76 Neumann (Fn. 20), 299 f. 77 Gröschner/Lembcke, Dignitas absoluta. Ein kritischer Kommentar zum Absolutheitsanspruch der Würde, in: Das Dogma der Unantastbarkeit Eine Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Würde, hg. von dies., Tübingen 2009, 4 unter Berufung auf Hofmann (Fn. 30), 353 ff. 78 Kirste, Die Hermeneutik der Personifikation im Recht, ARSP 101 (2015), 477 ff. 73 74
Menschenwürde als subjektives Recht
gezeigt wurde, kann diese Würde aber angetastet werden, indem einige Menschen aus diesem Kreis ausgeschlossen werden. Wird nun das Rechtsprinzip der Würde des Menschen nur als objektive Verpflichtung des Staates verstanden, den Menschen als Subjekt von Rechten und Pflichten zu achten, könnte die öffentliche Gewalt diese Verpflichtung auch ignorieren. Dann tastete sie seine Würde an. Versteht man das Rechtsprinzip der Würde aber als ein subjektives Recht, ist dies nicht mehr möglich. Die Würde des Menschen besteht in seiner Anerkennung als Rechtsperson, d. h. als Träger von Rechten und Pflichten. Wird ihm ein subjektives Recht auf Anerkennung als Rechtsperson von der verfassunggebenden Gewalt gewährt, wird er zugleich als Subjekt dieses Rechts anerkannt.79 Das Recht auf Anerkennung als Rechtsperson wird mit seiner verfassungsrechtlichen Statuierung zugleich aufgestellt und erfüllt.80 Die Formulierung „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ beschreibt dann zutreffend den Umstand, dass die Würde nicht mehr angetastet werden kann, wenn man diesen Satz als Norm und zwar als subjektives Recht auf Anerkennung eines jeden Menschen als Rechtsubjekt versteht. Gerade wenn und weil sie in diesem Sinn ein Grundrecht ist, ist sie der absolute Grund des Rechts81 und ein absoluter Rechtswert.82 Dieses Recht ist auch nicht mit anderen Rechten oder Gemeinwohlbelangen abwägbar. Erstens kann der Mensch nicht mehr oder weniger Rechtssubjekt sein: Um mit anderen Rechten abgewogen zu werden, muss schon die Rechtssubjektivität des Trägers der Menschenwürde anerkannt werden. Ein Rechtsstaat kann kein Ziel außerhalb des Rechts vertreten, ohne sich selbst aufzugeben. Will er Gemeinwohlziele im Verhältnis zu seinen Bürgern – und nicht bloß zu Untertanen – ordnen, muss er sie als Rechtssubjekte anerkennen. Jedenfalls insoweit soll alle verfasste Gewalt ihre Würde achten und schützen. Wenn man in Analogie von Sieyés’ Unterscheidung zwischen verfassunggebender und verfasster Gewalt zwischen dem konstituierenden und dem konstituierten Prinzip der Würde unterscheiden möchte (Lembcke, Human Dignity – a Constituent and Constitutional Principle: Some Perspectives of a German Discourse, in: Human Dignity as a Foundation of Law, hg. von S. Kirste / W. Brugger, Stuttgart (ARSP-Beiheft 137) 2013, 220 f., der aber das konstituierende als ein moralisches Prinzip versteht), dann ist aufgrund der hier vorgelegten Unterscheidung schon das konstituierende Prinzip ein Rechtsprinzip, genauer: Ein subjektives Recht. Zu diesem Recht muss sich schon die verfassunggebende Gewalt verpflichten, weil sie sonst nicht aus rechtlich bindungsfähigen Rechtssubjekten bestehen würde und also auch keinen Gesellschaftsvertrag gründen könnte. 80 Im konstituierenden Akt der Verfassungsgebung, versprechen sich die Menschen, sich wechselseitig als Rechtspersonen anzuerkennen und dokumentieren dies als andauernde Verpflichtung in der Unantastbarkeit. 81 Die gegenteilige Auffassung vertritt etwa Isensee (Fn. 1), 208: Die Menschenwürde verkörpert „innerhalb der Rechtsordnung ein Moment des Absoluten verkörpert. Das wäre ausgeschlossen, wenn und soweit die Menschenwürde ein Individualgrundrecht bildete. Denn als solches riebe es sich unausweichlich an den Rechten der anderen wie an den legitimen Belangen der Allgemeinheit und würde so relativiert … Doch die Menschenwürde ist kein Grundrecht neben den anderen. Sie reiht sich nicht ein in die Freiheitsund Gleichheitsrechte der Verfassung. Sie geht ihnen voran … Sie bildet den Grund aller Grundrechte, ihren letzten, im Horizont des säkularen Rechts nicht weiter begründbaren Grund“. 82 Als Rechtswert ist die Würde nicht von einem anderen Wert abhängig, sondern Bezugspunkt für alle anderen rechtlichen Werte, Tiedemann (Fn. 34), 32 f. 79
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Angetastet werden könnte die Würde des Menschen, wenn sie bei einer revolutionären Aufhebung und Neufassung der Verfassung nicht mehr aufgenommen würde. Was verloren ginge, wäre die Rechtsform der Würde. Ihr Schutz würde aus dem Recht verdrängt, das Recht selbst um das Bewusstsein ihrer Zentralität entdifferenziert. Als ein moralischer Anspruch bliebe sie freilich erhalten – mit aller Schwäche moralischer Ansprüche. In diesem Sinne kann man sagen, historisch gesehen, weil durch Revolution abschaffbar, ist das Recht relativ.83 Wenn aber eine Ordnung etabliert werden soll, die Gewaltverhältnisse in Rechtsverhältnisse transformiert, dann muss der Einzelne als Rechtssubjekt anerkannt werden und das kann nur geschehen, wenn diese Pflicht zur Anerkennung als subjektives Recht gewährt wird. Aus der Würde aus sozialer Anerkennung, über die naturrechtlich-moralische Verpflichtung zur Anerkennung der Würde ist mithin das Recht auf Anerkennung des Menschen als Rechtsperson geworden. Die Anerkennung wurde von einem faktischen Verhalten über ein objektiv normativ gebotenes Verhalten zu einem rechtlich dem Menschen geschuldeten Verhalten. Auf dieses hat er einen rechtlichen Anspruch. Die Anerkennung ist also nicht etwas, was dem Menschen freundlich gewährt wird, sie ist auch nicht etwa nur objektiv moralisch geschuldet; vielmehr hat jeder Mensch mit ihrer Transformation ins Recht einen Anspruch auf diese Anerkennung als Rechtsperson und trägt als Subjekt dieses Anspruchs eben auch schon den Charakter einer Rechtsperson. Selbst wer der Begründung soweit gefolgt ist, mag jedoch nun einwenden, dass die Würde des Menschen verstanden als Recht auf Anerkennung als Rechtsperson jedenfalls überflüssig ist, denn wie gerade ausgeführt, sei dieses Recht mit seiner Statuierung bereits erfüllt. Doch ist die Würde des Menschen erstens auch nur hinsichtlich der grundsätzlichen Subjektstellung aller Menschen im Recht unantastbar und zweitens ist gerade diese grundlegende Anerkenntnis von Bedeutung für das gesamte Recht. Innerhalb der Verfassungsordnung etwa des GG und im Recht der Europäischen Union ist die Subjektstellung des Menschen unverrückbar rechtlich garantiert. Es mag daneben noch andere Rechtssubjekte geben. Einzig der Mensch hat einen Anspruch darauf, dass sie ihm nicht wieder entzogen wird, so lange diese Rechtsordnungen bestehen. Aber das gilt noch nicht für weitere Rechtsverhältnisse. Der Mensch hat einen Anspruch darauf, dass der Staat ihn auch in seinem sonstigen Verhalten als Person achtet und ihn nicht wie ein Objekt behandelt, aus dem er etwa durch Folter Aussagen erzwingen kann.84 Vielmehr hat er, wenn er von Menschen etwas will, die normierten Verfahren und ihre normierten Grenzen zu beachten – auch wenn es um
Zur Diskussion um die Absolutheit oder Relativität der Würde Gröschner/Lembcke (Fn. 77), 4 ff.; Borowski, Absolute Rechte und Verhältnismäßigkeit, in: Menschenwürde im 21 Jahrhundert Untersuchungen zu den philosophischen, völker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen in Brasilien, Deutschland und Österreich, hg. von S. Kirste / D. G. de Souza / I. W. Sarlet, Baden-Baden 2018, 47 ff. 84 Vgl. Dreier (Fn. 60), 329 f. 83
Menschenwürde als subjektives Recht
wichtige Aussagen geht. Der Mensch hat also auch etwa in Bezug auf Aussagepflichten einen Anspruch darauf, nur in normierten rechtlichen Verfahren aussagen zu müssen – einmal abgesehen davon, dass ihm weitere Grundrechte Aussageverweigerungsrechte gewähren mögen. Seine Subjektstellung in Rechtsverhältnissen kann aber auch dadurch verletzt werden, dass er von Privaten nicht als Vertragspartner, sondern als bloßes Werkzeug oder Instrument der eigenen Willkür gebraucht wird. Sklaverei, Menschenhandel, Zwangsprostitution sind solche Gewaltverhältnisse vor denen der Einzelne um seiner Würde willen geschützt werden muss. Das macht aber deutlich, dass der Mensch keinen Rechten oder Pflichten unterworfen sein soll, an deren Begründung, Interpretation und Durchsetzung er nicht als Subjekt beteiligt sein kann. Auch in Bezug auf diese Rechtsbegründung muss der Mensch als ein Subjekt geachtet werden, soll seine Würde als Person nicht verletzt werden. Die Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung als Rechtsperson verlangt also, dass der Mensch in der gesamten reflexiven Normstruktur des Rechts als Subjekt partizipieren kann. Die anderen Menschenrechte setzen dies voraus. Es kann aber nicht mehr einfach moralisch vorausgesetzt werden, sondern wird als Recht geschützt. Die weiteren Rechte sichern die Entfaltung dieser Rechtsperson auf der Basis ihrer Rechtssubjektivität in den verschiedensten Bereichen. 3.
Die objektive Bedeutung des Rechts auf Anerkennung als Rechtsperson
Mit der Aufnahme des positiven Rechts eines jeden Menschen auf Anerkennung als Rechtsperson ist die Würde des Menschen insofern nicht mehr antastbar: in der Verleihung dieses subjektiven Rechts liegt zugleich die Anerkennung, dass der Begünstigte Subjekt dieses Rechts ist. Recht als ein reflexives Normensystem ist nur zwischen Rechtssubjekten möglich.85 Die Statuierung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen erkennt und anerkennt dies und hält fest, dass Beziehungen zwischen Menschen nur auf der Basis der Freiheitsordnung des Rechts und nicht mehr als Gewaltverhältnisse oder bloße Untertanenverhältnisse geregelt werden sollen. Insofern statuieren die entsprechenden Rechtsordnungen ein Axiom oder Konstitutionsprinzip jeden Rechts.86 Das wechselseitige verfassunggebende Gründungsversprechen der
Wie auch Moral nicht möglich ist ohne die Anerkennung des Menschen als selbstbestimmtes Subjekt, Tiedemann (Fn. 68), 201: „The core of all the moral obligations is the obligation to respect the personhood of every human being, in other words, to respect human dignity. If we don’t want to give up existing as human beings we are absolutely obliged to obey the moral obligations toward each other because otherwise we are threatened by a unavoidable shame … Therefore, the human obligations that we can derive from human dignity are absolute obligations“. 86 Insofern ist die Würde des Menschen ein subjektives Recht aus Anerkennung (Hofmann (Fn. 30), 364), aber zugleich auch auf Anerkennung eines jeden Menschen als Rechtsperson. Sie konstituiert also einen Zugehörigkeitsanspruch des Menschen zur rechtlichen Anerkennungsgemeinschaft der Menschen. 85
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Würde des Menschen87 wirkt performativ: In ihrer wechselseitigen Erklärung müssen sich die Menschen zugleich als Rechtspersonen anerkennen. Ohne diese Performanz hätten schon die Gesellschaftsvertragstheorien nicht funktioniert. Das Kriterium des Menschen ergänzt sie aber, indem es die Anerkennung der Personalität eines jeden Menschen, der mit dieser öffentlichen Gewalt konfrontiert ist, fordert. Die Würde wird damit als Grundlage des Rechts anerkannt. Dass diese Anerkennung aber in jedem Recht, das sich Rechtspersonen privatautonom wechselseitig und Bürger als Volk demokratisch allseitig anerkennen, bestätigt wird, bringt das Prinzip der Würde zum Bewusstsein und macht dieses Bewusstsein zur Grundlage einer Rechtsordnung.88 Sicher gab – das haben die historischen Überlegungen gerade wieder gezeigt – und gibt es Rechtsordnungen, die das Prinzip der Würde des Menschen nicht ausdrücklich enthalten. Sie verzichten dann auf die bewusste Anerkennung dieses Zusammenhangs zwischen Menschenwürde und Rechtsbegründung. Das Rechtsprinzip der Würde des Menschen hat für eine Rechtsordnung die gleiche Funktion wie der Satz des Pindar „Werde, der Du bist“ für das Selbst: Es ist das Bewusstsein und seine Betätigung, dass das Recht sich an freiheitsfähige Menschen richtet und alle Menschen in ihrer Freiheitsfähigkeit achten und schützen soll. Sein Recht der Würde schützt den Menschen darin, als Rechtsperson bei sich selbst sein zu können. In den weiteren subjektiven Rechten gewährt es der Rechtsperson Entfaltungsmöglichkeiten, in denen sie doch immer bei sich selbst als Rechtssubjekt ist. In der Anerkennung des Rechts eines jeden Menschen auf Anerkennung als Rechtsperson gibt sich zugleich die Rechtsordnung ein selbstreflexives Fundament. Sie bringt zum Ausdruck, dass das Ziel ihrer normativen Ordnung das freiheitliche Verhältnis zwischen bei sich selbst seienden Personen ist. Auch dort, wo in den Vollzügen dieser Rechtsperson ihre Rechte beschränkt und verkürzt werden, bleibt der Mensch doch als deren Subjekt geachtet und geschützt. So schützt das Recht seine eigene Voraussetzung und gründet sich auf bei sich selbst sein könnende Personen, die ihre Verhältnisse in normativ geordneter Freiheit gestalten.
Hofmann (Fn. 30), 369: „Würde ist in diesem Staatsgründungsakt etwas, was die Menschen einander zusprechen, sich als Rechtsgenossen versprechen. Im wechselseitigen Versprechen wird ein gemeinsamer Sinn festgestellt, der allen Beteiligten Maßstab sein soll“. 88 Hegel, der bekanntlich die Sphäre des Rechts als „objektiven Geist“ bezeichnet, bringt diese objektive Seite des Selbstseins am Anfang seiner Rechtstheorie im § 484 der Enzyklopädie zum Ausdruck: „Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt sei, so daß er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen, der Begriff hiermit zur Idee vollendet sei. Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheitsbestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d. i. ihr Gelten im Bewußtsein ist“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit mündlichen Zusätzen, Werke (hg von E. Moldenhauer / K. M. Michel), Bd. 10, Frankfurt/Main 1986, § 484, 303. 87
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Schon Pufendorf hatte darauf hingewiesen, dass derjenige, der seine eigene Würde anerkennt, auch die Würde der anderen anerkennen wird und so mit ihnen in Verhältnisse treten wird, die ihrer Würde entsprechen.89 Das sind aber die Rechtsverhältnisse. Kant greift diese Relation auf, wenn er als Rechtsgebot fordert „mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.“ Und das heißt: „Sei ein rechtlicher Mensch!“. Um mit anderen in Rechtsverhältnisse treten zu können, habe ich die Pflicht, mich ihnen als Rechtssubjekt zu präsentieren, was sie ihrerseits annehmen können, indem sie gleiches tun.90 Diese Rechtspflicht begründet sich aus der Notwendigkeit einer Rechtsordnung. Nur so sind vernünftige rechtliche Verhältnisse zwischen Menschen möglich. Es wundert nicht, dass manche der Jungkantianer die Menschenwürde – und nicht die Freiheit – als das Urrecht ansahen.91 In der Statuierung der Würde des Menschen reflektiert das Recht seine eigenen legitimatorischen Grundlagen und macht sie für sich verbindlich.92 Gerade darin geht es über die aufklärerischen Rechteerklärungen hinaus, deren Bekenntnisse zu Wahrheiten sich als normativ zu schwach erwiesen haben. Die Erkenntnis, dass Gewaltverhältnisse zwischen Menschen und dem Staat nur durch Rechtsverhältnisse überwunden werden können und dass Rechtsverhältnisse Rechtssubjekte voraussetzen, wird in der Transformation des Prinzips der Würde des Menschen ins Recht normativ verbindlich anerkannt. Die Anerkennung ist keine creatio ex nihilo,93 sondern erwächst aus der Erkenntnis, die sie ins Recht transformiert. Sie ist in der Tat ein „Gründungsversprechen“94 – aber als ein Versprechen, das wie das Recht als „Vorausverfügung über die Zukunft“,95 schon gegenwärtig verbindlich ist. Unverrückbare Grundlage ist die Würde aber nur, wenn sie auch als ein subjektives Recht auf Anerkennung ausgeformt ist. Das Rechtsprinzip der Würde des Menschen sichert nicht nur den Einzelnen als Rechtsperson in seinem reflexiven Selbstverhältnis, sondern es gründet die Rechtsordnung auf diese Anerkennung. An die Stelle des Unterwerfungsvertrages unter den allmächtigen Leviathan als Machtperson, tritt der auf die Würde eines jeden Menschen als Rechtsperson gegründete Rechtsstaat als juristische Person. Das nationalsozialistisch-kollektivistische Prinzip, „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“ wird umgekehrt,
Pufendorf (Fn. 40) 2, 2, 1; zu Pufendorfs Menschenwürdebegriff Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17 und 18 Jahrhunderts, Berlin 1958, 47 ff.; Auer (Fn. 41), 89 f. 90 Kirste (Fn. 23), 159 f.; Herbst (Fn. 42), 158 f. 91 Kirste, Das Urrecht der Menschenwürde in der vernunftrechtlichen Debatte der Wende zum 19. Jahrhundert, in: Europa nach Napoleon, hg. von C. Enders / M. Kahlo / A. Mosbacher, Münster 2018, 97 ff. 92 Es muss also nicht auf Außerrechtliches zurückgreifen, sondern nimmt diese Voraussetzungen in das positive Recht selbst auf, anders hinsichtlich der Menschenwürde etwa Haltern (Fn. 1), 93. 93 Kritisch dazu Coutinho (Fn. 17), 113 ff., allerdings auf dezidiert christlichem Hintergrund. 94 Hofmann (Fn. 30), 374. 95 Husserl, Recht und Zeit. Fünf rechtsphilosophische Essays, Frankfurt/Main 1955, 27. 89
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insofern der Rechtsstaat ohne seinen Bezug auf die Anerkennung der Rechtsperson nichts ist.96 Diese Anerkennung ist zugleich eine Grundforderung der Gerechtigkeit.97 Univ.-Prof. Dr. Stephan Kirste
Rechts- und Sozialphilosophie, Fachbereich für Sozial und Wirtschaftswissenschaften, Juristischen Fakultät, Universität Salzburg, Churfürststrasse 1, A-5020 Salzburg, [email protected]
Auch Joerden, Das Rechtsprinzip der Würde, in: Menschenwürde und Medizin Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von E. Hilgendorf / J. Joerden, Baden-Baden 2013, 222 f. 97 Radbruch, Nachwortentwurf, 196 in Radbruch, Gustav / Dreier, Ralf; Paulson Stanley (Hrsg.), Rechtsphilosophie. C. F. Müller: Heidelberg, 2003, S. 191 ff., S. 196 rückblickend auf den Nationalsozialismus: „schlimm genug, daß auch ein wirklicher Gemeinnutz, welches Grades auch immer, jedem individuellen Interesse noch so hohen Grades und auch jedem individuellen Wert, der Menschenwürde schlechthin, übergeordnet werden konnte. ‚Du bist nichts, Dein Volk ist alles‘. Damit war der Gedanke des totalen Staates geprägt, der in seiner unbedingten Ueberordnung über den Einzelnen die gerechte Abwägung zwischen Gemeininteresse und Individualinteresse verleugnet und damit die Idee der Gerechtigkeit selber“. 96
Menschenwürde Ein interkultureller Rechtswert am Beispiel von strafrechtlicher Schuld SHING-I LIU (Taipeh)
Abstract: Human dignity is important concept in the modern age, and features in ethical, legal, and
political discourse as a foundational commitment to human value or human status. But the content, meaning of human dignity have till today not been clarified, The source of that value, or the nature of that status, are culturally different and contested. In this article we can look at the consequences of functional analysis for the relevance of the concept of human dignity in relation to the concept and principle of “Schuld”. “Schuldprinzip” base on human dignity of the individual, self-responsibility and rule of law. Keywords: Menschenwürde, Schuld, Schuldprinzip, Tatstrafrecht, Schuldstrafrecht
Freiheit und Sicherheit sind die Entfaltungs- und Erhaltungsbedingungen eines menschenwürdigen Daseins. Die Würdenorm gilt aufgrund nationaler Verfassungen und transnationaler Rechtsinstitute wie der EU-Grundrechte-Charta und des internationalen Menschenrechte-Rechts absolut und universell. Das ist der heute weltweit anerkannte Anspruch, vor dem staatliche Gewalt sich zu legitimieren hat. Die Achtung vor der Menschenwürde ist Grundlage für alles Verhalten der Staatsorgane gegenüber dem einzelnen. Die Garantie der unantastbaren Menschenwürde hat sich zu einer universalen ethischen und rechtlichen Norm herausgebildet. Viele Juristen, Philosophen oder Politiker berufen sich auf die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit. Sie wird jedoch in Abhängigkeit vom jeweiligen weltanschaulichen und religiösen Hintergrund unterschiedlich begründet.1 Aber darf man nicht in
Vgl. Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2007, 111; Höfling, Wolfram: Menschenwürde und gute Sitten. NJW 1983, 1583 f. Ähnliche Konstellation hinsichtlich Meinungsverschiedenheiten über Recht und Unrecht, vgl. Hilgendorf, Eric: Recht durch Unrecht? Interkulturelle Perspektiven, JuS 2008, 763 ff. 1
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„zögernden Relativismus“ geraten.2 Neumann hat das Argument des Menschenwürdeprinzips nicht als „Mehr oder weniger“, sondern als Ja/Nein-Schema verstanden.3 Schuld läßt sich aus der Würde des Menschen ableiten. Das Schuldprinzip wird als oberster Leitgedanke der Strafrechtspflege angesehen. Haben wir uns nun einen ersten Überblick über die rechtsstaatliche Funktion des Schuldprinzips verschafft, so ist damit freilich noch nicht geklärt was Schuld „ist“ oder „sein soll“ – also der Schuldbegriff. Der vorliegende Beitrag skizziert den Schuldbegriff, das Schuldprinzip und deren relevanten Prinzipien und Begriffe. I.
Tatstrafrecht
Das Strafrecht ist Tatstrafrecht. Die Strafe knüpft an die rechtswidrige Tat an.4 Das Schuldprinzip sorgt ferner dafür, dass die Strafe als ein öffentlicher Tadel strikt auf Handlungen beschränkt bleibt, die ein sozialethisches Unwerturteil verdienen. Die Strafrechtsdogmatik und das Strafgesetzbuch unterscheiden scharf zwischen Unrecht und Schuld. Der Gesetzgeber differenziert unmissverständlich zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld. Während die mit Strafe bedrohte Handlung im Unrechtsbereich auf ihre Übereinstimmung mit den Sollensnormen der Rechtsordnung, d. h. auf ihre Rechtswidrigkeit hin überprüft wird, geht es im Schuldbereich um die Frage, ob dem Täter die rechtswidrige Tat persönlich vorzuwerfen ist. Die Schuld ist neben der Rechtswidrigkeit die zweite materielle Grundvoraussetzung der Strafbarkeit. Vom Unrecht bzw. von der Rechtswidrigkeit als generellem Unwerturteil über die Tat unterscheidet sich die Schuld als individuelles Unwerturteil über die Handlung des Täters. Mit der Bejahung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit einer Handlung ist das Unrecht festgestellt, d. h. der Verstoß eines Verhaltens gegen die hinter den Tatbeständen stehenden Sollensnormen (Verbote, Gebote) der Rechtsordnung. Auf der
So meint Arthur Kaufmann: „Radbruchs Relativismus war, sieht man nur recht zu, eher ein kämpferischer als ein zögernder Relativismus.“ Vgl. Gustav Radbruch, Gesamtausgabe Band 1: Rechtsphilosophie I. hg. von Arthur Kaufmann, 1987, 79. 3 „Eine Ausnahme von diesem Prinzip des kontextvariablen spezifischen Gewichts von juristischen Argumenten (Argumenttypen) gilt für Argumente, die binär strukturiert sind, also nicht nach dem Prinzip des ‚Mehr oder weniger‘ sondern nach dem Ja/Nein-Schema funktionieren und durch Argumente anderen Typs nicht überspielt werden können. Ein Beispiel ist das Argument der Menschenwürde.“ Ein Eingriff, der die Menschenwürde verletze, sei „unabhängig davon, welche Argumente für diesen Eingriff sprechen könnten, verboten.“ S. Ulfrid Neumann, Wahrheit im Recht Zu Problematik und Legitimität einer fragwürdigen Denkform, 2004, 35. 4 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung. 2. Aufl., 1976, 187 ff.; Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, Grundlagen Der Aufbau der Verbrechenslehre. 4. Aufl. 2006, 178 ff.; Hans Dombois, Mensch und Strafe, 1957, 61 ff.; Hans-Heinrich Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil. 4. Aufl., 1988, 47 ff.; Eberhard Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht. 1958, 109 ff. 2
Menschenwürde
Ebene des Unrechts (Tatbestand und Rechtswidrigkeit) wird die Frage gestellt, ob der Täter die Tatbestandsverwirklichung bei unterstellter Rechtstreue hätte vermeiden sollen und (intellektuell und physisch) hätte vermeiden können. Anders wird auf der Ebene der Schuld gefragt, ob es einen Grund gibt, dass vom Täter nicht erwartet werden konnte, das Motiv zur Normbefolgung zu bilden und in die Tat umzusetzen. Bei der Schuld geht es nun um die Frage, ob dem Täter das Unrecht auch persönlich vorzuwerfen ist. Die Strafe ist die staatliche Reaktion auf ein rechtlich missbilligtes Verhalten mit der Maßgabe, dass mit ihrer Verhängung ein sittliches Unwerturteil verbunden ist. Der Begriff der strafrechtlichen Schuld meint Vorwerfbarkeit der Tat. Schuld ist der Inbegriff der Voraussetzungen, die aus der rechtswidrigen Tat einen persönlichen Vorwurf gegen den Täter begründen, also die Tat als rechtlich missbilligten Ausdruck der Persönlichkeit des Täters erscheinen lassen. Die häufig gebrauchte Bezeichnung der Schuld als „Vorwerfbarkeit“ bedeutet sachlich dasselbe wie „Vorwurf “.5 Die als Unrecht missbilligte Tat (z. B. die nicht gerechtfertigte Tötung eines Menschen) wird auf der Wertungsstufe der Schuld dem Täter persönlich vorgeworfen. Das Schuldprinzip im Strafrecht besagt zunächst, dass eine Strafe nur verhängt werden darf, wenn dem Täter die begangene rechtswidrige Tat zum Vorwurf gemach werden kann.6 Nicht jede rechtswidrige Tat eines Menschen unterliegt der Strafe. Dazu ist notwendig, wie schon die allgemeine Begriffsbestimmung der Straftat ergeben hat, dass dieses Verhalten persönlich zurechenbar ist. Erst aus dieser Zurechenbarkeit ergibt sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Dies besagt, dass eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung nur bestraft werden darf, wenn dem Täter auch ein Schuldvorwurf gemacht werden kann, wenn davon auszugehen ist, dass das strafbare Verhalten vom Täter hätte vermieden werden können. Hier geht es nicht mehr um das generelle „Sollen“, sondern um das individuelle „Können“. Deshalb ist die Schuldlehre das umstrittenste Gebiet des Strafrechts. Weil die Bestrafung infolge des darin liegenden sittlichen Unwerturteils mit einer Rüge verknüpft ist, setzt sie eine Schuld des Täters voraus. Schuld bedeutet demnach Vorwerfbarkeit der Tat im Hinblick auf die ihr zugrunde liegende rechtlich tadelnswerte Gesinnung. Der Gegenstand des Schuldvorwurfs ist die in der rechtswidrigen Tat zum Ausdruck kommende fehlerhafte Einstellung des Täters zu den Verhaltensanforderungen der Rechtsordnung. Was dem Täter vorgeworfen wird, ist aber nicht nur seine Gesinnung als solche, sondern auch immer die von ihr geprägte Straftat. So wie der Unrechtsgehalt der Tat von ihrem Handlungs- und Erfolgsunwert abhängt, wird ihr Schuldgehalt durch den auf die konkrete Tatbestandsverwirklichung bezogenen
S. Kaufmann (Fn. 4), 115 ff. Vgl. Horst Schlehofer, Vorbemerkung zu den §§ 32 ff. Rn. 256, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage, hg. von Joecks/Miebach, 2017 6 Vgl. Hans Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, 2 ff., 217 f.; Winfried Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts. 2. Aufl., 1990, 212 ff.; ErnstJoachim Lampe, Strafphilosophie Studien zur Strafgerechtigkeit, 1999, 21 ff. 5
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Gesinnungsunwert bestimmt. Nach dem Satz „keine Strafe ohne Schuld“ (nulla poena sine culpa) wird das Strafrecht als Schuldstrafrecht bezeichnet. So kann man sagen, Inhalt der Schuld ist der Vorwurf, die Verwirklichung des Deliktstatbestands nicht um der Normbefolgung willen vermieden zu haben, obwohl dies unter den gegeben Umständen vom Täter erwartet werden konnte. Arthur Kaufmann hat das Schuldprinzip als absoluten sittlichen Grundsatz betrachtet und meint, dass die Strafe der Schuld zu entsprechen habe, dass aber auch grundsätzlich Schuld Strafe fordert, „ein Grundsatz der sittlichen Welt, eine lex naturalis, und hat daher absolute Geltungskraft“.7 Die Strafe wird durch die Schuld begründet und durch das Maß der Schuld begrenzt. II.
Formelle und materielle Schuld
Ähnlich wie bei der Rechtswidrigkeit lässt sich auch bei der Schuld eine formelle und eine materielle Betrachtungsweise unterscheiden, d. h. man kann dabei die Zurechnung für sich betrachtet als die „formelle“, den inhaltlich bestimmten Vorwurf als die „materielle“ Schuld bezeichnen.8 Im Sinne des formellen Schuldbegriffs umfasst die Schuld alle Merkmale, von denen das geltende Strafrecht die subjektive Zurechnung der rechtswidrigen Tat abhängig macht. Beim materiellen Schuldbegriff geht um die Erfassung des Wesens und des Inhalts der Strafrechtsschuld, um die Festlegung der Voraussetzungen, von denen die Rechtsordnung den Schuldvorwurf an den Täter abhängig machen kann und muss, und die diesen rechtfertigen. Der materielle Schuldbegriff ist gewissermaßen das rechtspolitische Leitbild für die Strafrechtsgestaltung. Er muss aus den verfassungsrechtlichen Grundprinzipien, insbesondere aus dem dort zugrunde gelegten Menschenbild und der Menschenwürde entwickelt werden. III.
Schuldprinzip
Neben dem Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege) bildet das Schuldprinzip (nulla poena sine culpa) eines der Grundprinzipien des Strafrechts. Nicht alles, was zweckmäßig erscheint, ist auch gerecht. Der Zweck heiligt nicht jedes Mittel. Als Maßstäbe der Gerechtigkeit in der Kriminalpolitik sind vor allem das Schuldprinzip, der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und der Grundsatz der HumaKaufmann (Fn. 4), 208. Karl Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht Neudr. d. Ausgabe 1930. 1964, 38 ff.; Vgl. Jescheck (Fn. 4), 280; Achenbach (Fn. 6), 174 f.; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1. 7. Aufl., 1987, 402 f. 7 8
Menschenwürde
nität zu verstehen. Das Schuldprinzip besagt, dass Strafe Schuld voraussetzt: Keine Strafe ohne Schuld (nulla poena sine culpa). Das Schuldprinzip bedeutet, dass Kriminalstrafe nur auf die Feststellung gegründet werden darf, dass dem Täter seine Tat persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann.9 Die Verfassung geht von einem „optimistischen“ Menschenbild aus; nach ihm ist der Mensch auf „freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt“. Deshalb wird die Menschenwürde verletzt, wenn der einzelne nicht mehr als eigenverantwortliches Wesen respektiert, sondern zum bloßen Objekt herabgewürdigt wird. Das aber würde geschehen, wenn der Staat einen Menschen, der für ein konkretes Verhalten nicht verantwortlich ist, dennoch strafen wollte. In Übereinstimmung mit dem Menschenbild beruht das Strafrecht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip: Strafe setzt Schuld voraus. Die Achtung vor der Menschenwürde ist Grundlage für alles Verhalten der Staatsorgane gegenüber dem einzelnen. Das Schuldprinzip beruht auf der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen und dem Rechtsstaatsprinzip.10 Leitet man es aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Menschenwürde ab, so entfaltet es eine Schutzfunktion zugunsten des Bestraften. Das Schuldprinzip bildet die materielle Komponente eines der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Verhältnismäßigkeit und dem Vorbehalt des Gesetzes verpflichteten rechtsstaatlichen Strafrechts. Das Schuldprinzip wird als verfassungsrechtlicher Grundsatz verstanden.11 Nach Arthur Kaufmann ist das Schuldprinzip „als die eigentliche und tiefste Rechtfertigung des Strafrechts absoluter Natur“; nach BVerfGE 20, 323 (331) hat der Grundsatz nulla poena sine culpa „den Rang eines Verfassungsrechtssatzes“.12 Das Schuldprinzip wird in Deutschland als oberster Leitgedanke der Strafrechtspflege angesehen. So wie Jescheck meinte, dass „das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit zur Anerkennung des Schuldprinzips als Verfassungsrechtssatz führte.“ „Eine Konsequenz des materiellen Rechtsstaatsprinzips ist ferner die Sachgebundenheit der gesamten Kriminalpolitik.“13
Vgl. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1965, 96 ff.; Otto Triffterer, Österreiches Strafrecht Allgemeiner Teil, 1985, 247. 10 Der Verfassungsrang des Schuldprinzips beruht auf der Menschenwürde (Art. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 28 I 1 GG). Vgl. Friedhelm Hufen, Die Menschenwürde, Art. 1 I GG. JuS 2010, 1 ff.; Harro Otto, Über den Zusammenhang von Schuldprinzip und Menschenwürde, GA 1981, 486 ff.; Thomas Rönnau, Vorbemerkungen zu §§ 32 ff. Rn. 308, in: Leipziger Kommentar, Strafgesetzbuch, 12. Auflage, hg. von Jähnke/ Laufhütte/Odersky, 2006. Hans-Ullrich Paeffgen, Vorbemerkungen zu §§ 32 ff. Rn. 308, in: Strafgesetzbuch Kommentar, 5. Auflage, hg. von Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, 2017. Die konsequente Gegenposition vertritt Neufelder, Schuldbegriff und Verfassung, GA 1974, 303 ff. Über das Schuldprinzip als Verfassungsgrundsatz vgl. Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessungsrecht Gesamtdarstellung. 2. Aufl. 1974, 305 f. 11 S. Adam/Schmidt/Schumacher, Nulla poena sine culpa – Was besagt das verfassungsrechtliche Schuldprinzip? NStZ 2017, 7; Bruns (Fn. 10), 305 f.; Walter Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 2001, 58 ff. 12 Vgl. Kaufmann (Fn. 4), 115; Jescheck (Fn. 4), 366. 13 Vgl. Jescheck (Fn. 4), 22. 9
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Sowohl aus dem Rechtsstaatsprinzip als auch aus der Menschenwürde folgt, dass eine Strafe ohne Schuld verfassungswidrig wäre. Der deutsche Bundesgerichtshof hat in einem programmatischen Ausspruch das Schuldprinzip zur Grundlage seiner Rechtsprechung gemacht: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit.“ (BGHSt 2, 194 [200]; 18, 87 [94]). Gerechtigkeit und Menschenwürde erfordern, jemanden für eine Tat nur dann zu bestrafen, wenn die Tat ihm persönlich individuell vorgeworfen werden kann. Das Wesen der Schuld wird dabei nicht in einem durch schuldhafte schlechte Lebensführung erworbenen Charakterfehler gesehen. Anknüpfungspunkt für das Schuldurteil ist die Unrechtshandlung. Dem Täter kann die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung als Ausdruck fehlerhafter Einstellung zu rechtlichen Normen vorgeworfen werden. Strafrechtsschuld ist Einzeltatschuld, die konkrete Tatschuld, nicht die sog Lebensführungsschuld, und nicht Charakterschuld oder Persönlichkeitsschuld. Gem. § 46 II StGB (Deutschland) und § 51 StGB (Taiwan) kann aber das Vorleben des Täters bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. IV.
Schwere der Strafe
Der einheitliche Gedanke des strafrechtlichen Schuldbegriffs liegt in der Vorwerfbarkeit. Dabei ist bemerkenswert, dass der strafrechtliche Schuldbegriff ein „Steigerungsbegriff “ ist. Daher hat sich die strafrechtliche Schuldlehre nicht nur mit den Voraussetzungen der Schuld überhaupt, sondern auch mit dem Grade der Schuld im Einzelfall, also mit dem Schuldmaß zu befassen. Straftheoretisch bildet die Schuld damit nicht nur die Grundlage, sondern auch die Grenze, an der sich die Strafe zu orientieren hat. Die Schwere der Strafe ist von Grade des Unrechts und der Verwerflichkeit der Straftat abhängt, hat Mo Zi (um 480–390 v. Chr.)14 einmal in dem „Buch von Mozi“ geäußert. Er hat beispielweise eine Reihung der Straftaten gebildet : Diebstahl von Obst, Diebstahl von Hunden, Diebstahl von Pferden und Raubmord. Der strafrechtliche Schuldbegriff ist ein Steigerungsbegriff. Je höher die Verwerflichkeit ist, desto
Mo Zi (um 480–390 v. Chr.) stammte aus dem Staat Lu und war als Magistrat im Staat Song tätig. Er trat in vielerlei Beziehung in einen heftigen Gegensatz zum Konfuzianismus. Der Hauptgegenstand seiner Lehre ist „allgemeine Menschenliebe“ an Stelle der Verwandtenliebe. Die anderen Bestandteile sind folgende: Hochschätzung der Weisen, Geltendmachung der Gleichheit, Verurteilung des Angriffskrieges, Befolgung des Willens des Himmels, Mäßigung im Aufwand, Einfachheit bei Begräbnissen, Verurteilung von Musik und Schicksalsgläubigkeit. Seine Lehre enthält sowohl utilitaristische als auch altruistische Elemente. Sein Werk „Das Werk von Mo Zi“ besteht aus insgesamt 71 Kapiteln, wovon einige sich auf die Logik beziehen. Literatur s. Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück. 1974, 53–60.; Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, 2001, 64–75; Alfred Forke, Geschichte der alten chinesischen Philosophie, 1927, 368–417.; Hubert Schleichert, Klassische chinesische Philosophie. 2. Aufl., 1990, 93–110.; Helwig Schmidt-Glintzer, Mo Ti Solidarität und allgemeine Menschenliebe Schriften 1, 1975; Helwig Schmidt-Glintzer, Mo Ti Gegen den Krieg Schriften 2, 1975. 14
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schwerer ist die Strafe.15 Er fährt über Tötung und ihre Strafe fort: „Wenn jemand einen anderen tötet, dann nennen sie es verwerflich (ungerecht) und setzen darauf eine Todesstrafe. Führt man diese Argumentationsweise fort, so ist einer, der zehn Menschen tötet, zehnmal verwerflicher und hat auch die zehnfache Strafe zu erwarten. Und tötet einer hundert Menschen, so ist er hundertmal verwerflicher und hat hundertfach sein Leben verwirkt.“16 Das entspricht der heute herrschenden Meinung im Strafrecht, dass das Recht auf Leben konstitutiv für eine Person im Recht ist. Es kann auch als ein höchstpersönliches Recht und sein Gegenstand als höchstpersönliches Rechtsgut bezeichnet werden. Aus dem Schuldprinzip ergibt sich, dass die Schuld des Täters eine Voraussetzung der Strafbarkeit ist, von deren Gewicht und Umfang die Bemessung der Strafe abhängt, und dass die Strafe auch das Maß der Schuld nicht überschreiten darf, also: Strafzumessung im Rahmen der Schuldobergrenze. Die Strafe darf auch niemals schwerer sein, als es der Täter nach seiner Schuld verdient hat. Die Berechtigung und Angemessenheit von Strafen ist ein Zentralproblem jeder Staats- und Strafrechtsphilosophie. Man kann das auch von dem Standpunk des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit her sehen. Materieller Natur ist auch der als Verfassungsrechtssatz anerkannte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Aus dem Gebot schuldangemessenen Strafens folgt, dass die angedrohte Sanktion in gerechtem Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen muss. Jede im Einzelfall verhängte Strafe muss schuldangemessen sein. Die Strafe darf das Maß der Schuld nicht übersteigen (Übermaßverbot).17 Die Bestrafung eines Un-
Kap. 17 (Fei Gong „Gegen den Krieg“), Absatz 1, in: Das Werk von Mo Zi, kommentiert von SUN YiRang (1848–1908 n. Chr.), Taipeh 1975 (Nachdruck der Ausgabe 1893), 81. „Da gibt es einen Mann, der in eines anderen Obstgarten eindringt und daraus Pfirsiche und Birnen stiehlt. Jedermann, der davon hört, wird ihn verurteilen. Und wenn die Oberen, die die Regierung in Händen halten, seiner habhaft werden, werden sie ihn bestrafen. Warum ist das so? Weil er einen anderen schädigt, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. – Wenn einer die Hunde, Schweine, Hühner oder Ferkel eines anderen wegnimmt, dann ist die Verwerflichkeit einer solchen Handlung noch größer als aus dem Obstgarten eines anderen Pfirsiche und Birnen zu stehlen. Warum ist das so? Weil der Verlust des anderen größer ist, ist seine Verwerflichkeit noch größer und sein Verbrechen noch schwerwiegender. – Wenn jemand in die Stallungen eines anderen eindringt und dessen Pferde und Ochsen an sich bringt, dann ist die Verwerflichkeit noch größer als die eines solchen, der Hunde, Schweine, Hühner und Ferkel stiehlt. Warum ist das so? Weil er dem anderen noch größeren Schaden zufügt; und da er dem anderen noch größeren Schaden zufügt, ist seine Verwerflichkeit auch noch größer und das Verbrechen schwerwiegender. – Wenn einer gar einen unschuldigen Menschen tötet, ihm die Kleider und den Pelz auszieht und Speer und Schwert an sich bringt, dann ist seine Verwerflichkeit noch viel größer als bei dem, der in die Stallungen eines anderen eindringt und dessen Ochsen und Pferde stiehlt. Inwiefern? Die Schädigung anderer Menschen ist dabei noch größer. Denn je höher der Grad der Schädigung, desto größer ist die Verwerflichkeit und desto schwerwiegender das Verbrechen.“ s. Helwig Schmidt-Glintzer, Mo Ti Gegen den Krieg Schriften 2., 1975, 26 f. 16 Mo Zi (Fn. 15), Kap. 17 (Fei Gong „Gegen den Krieg“), Absatz 2; s. Schmidt-Glintzer (Fn. 15), 27. 17 § 46 I 1 StGB (Deutschland) fasst die wesentlichen Aspekte des Schuldprinzips in der kurzen Formel zusammen: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ 15
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schuldigen oder eine zur Schuld des Handelnden offensichtlich unverhältnismäßige Strafe ist aufgrund deontologischer Grenzen nicht denkbar. Neben der Menschenwürde ist es vor allem der Gleichheitssatz, welcher Schuld als Bedingung für Strafe fordert. Denn wenn Strafe ausgleichende Vergeltung sein soll, dann muss es eine quantifizierbare Größe geben, an der sich dieser Ausgleich orientiert. Diese Größe besteht aber wiederum in der Schuld des Täters. Das Schuldprinzip dient auch dem Schutz des Täters vor einem Übermaß repressiver staatlicher Sanktionen. Die zu verhängende Strafe wird durch das Maß dieser Schuld nach oben hin begrenzt. Außerhalb der Tatausführung liegende Umstände dürfen deshalb nur dann straferschwerend berücksichtigt werden, wenn sie wegen ihrer engen Beziehung zur Tat Schlüsse auf ihren Unrechtsgehalt zulassen oder Einblicke in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewähren. Auch der Strafzweck der Präventionstheorie darf nicht dazu führen, die schuldgerechte Strafe zu überschreiten. Der deutsche Bundesgerichtshof hat in einem programmatischen Ausspruch das Schuldprinzip zur Grundlage seiner Rechtsprechung gemacht: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“ (BGHSt 2, 194 [200]; 18, 87 [94]). Auch die aus dem Schuldprinzip für die Strafobergrenze folgende Konsequenz wird ausdrücklich gezogen: „Der Präventionszweck darf nicht dazu führen, die gerechte Strafe zu überschreiten“. (BGHSt 20, 264 [267]; BGH NJW 1987, 3015). Der Schuldgehalt einer Straftat wird stets durch ihren Unrechtsgehalt mitbestimmt, da jede Steigerung oder Minderung des Unrechts mittelbar die Schwere des Schuldvorwurfs beeinflusst. Die Schuld des Täters muss alle Elemente des verwirklichten Unrechts umfassen. Unrecht und Schuld sind aufeinander bezogen, sie müssen einander entsprechen. So wie Unrecht und Schuld einander entsprechen, besteht eine Wechselbeziehung zwischen der Verhaltensform und der Schuldform des strafbaren Geschehens. Die vorsätzliche oder fahrlässige Verwirklichung des Unrechtstatbestandes bildet als Verhaltensform das Korrelat für die von Vorwerfbarkeitserwägungen geprägte Schuldform (= Schuldstufe); der vorsätzlichen oder fahrlässigen Begehungsweise entspricht die Schuldform der Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsschuld. V.
Einzeltatschuld und Schuldurteil
Von Ausgangspunkt „Tatstrafrecht“ her ergibt sich, dass Schuld Einzeltatschuld und dass das Schuldurteil ein Urteil über die Beziehung des Täters zu einer bestimmten einzelnen Tat sein muss. Schuldfähig sind daher grundsätzlich nur Einzelpersonen, nicht Personengesamtheiten oder Personenverbindungen. Generell ist schuldfähig nur der einzelne Mensch. Es gibt keine strafrechtliche Kollektivschuld. Im Buch von
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Men Zi18 findet man auch den Gedanken: „Verbrechen wurden nicht an den Angehörigen geahndet.“19 Der Schuldbegriff besagt. dass das Schuldurteil nur verantwortliche Rechtssubjekte betreffen kann. Schuld muss Verantwortlichkeit eines bestimmten Rechtssubjekts bedeuten. Für die Strafe stehen das den Anforderungen der Rechtsordnung widersprechende Verhalten des Täters und seine individuelle Schuld im Vordergrund. Die individuelle Schuld wird im Rahmen einer Strafzumessung gewichtet und danach die Strafe bestimmt. Der individuelle Schuldvorwurf bezieht sich demnach auf eine konkrete Tat, und nicht auf die allgemeine Lebensführung des Täters. Die individuelle Schuld werde nichts anderes sein als die Konkretion der Schuldfähigkeit in Hinblick auf eine einzelne Tat, also auch von denselben Momenten bestimmt. Der Täter hätte das Unrecht seiner Tat erkennen und seinen Willen dieser Einsicht gemäß bestimmen können. VI.
Schuldstrafrecht
Das Strafrecht ist nicht reines Erfolgsstrafrecht, sondern Schuldstrafrecht, d. h. eine Strafreaktion kann nur erfolgen, wenn dem Täter die Tat auch vorzuwerfen ist. Das Konzept der Schuld spielt insbesondere im Strafrecht eine zentrale Rolle: Strafe setzt Schuld voraus, so dass, wer ohne Schuld handelt, nicht bestraft werden kann. Eine reine Erfolgshaftung ist durch das Schuldprinzip ausgeschlossen. Denn das Schuldprinzip wird zutreffend aus dem Schutz der Menschenwürde und aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet, und es verbietet dem Gesetzgeber die Schaffung eines reinen Erfolgs- oder Gefährlichkeitsstrafrechts. Diese verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen stehen der Bestrafung eines Menschen allein wegen der Begehung von Unrecht oder wegen der persönlichen Gefährlichkeit entgegen. Neben Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ist die Schuld zugleich ein strafbegründendes und strafbegrenzendes Verbrechensmerkmal. In der heutigen Sicht des Strafrechts dient der Schuldgedanke nicht nur als Rechtfertigung der staatMeng Zi (oder Mencius, 372–289 v. Chr.) wurde im Staats Zhou geboren. Er war Schüler und Anhänger des Konfuzius. Er ist von der Gutartigkeit der menschlichen Natur ausgegangen und betrachtete Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Weisheit als die vier Haupttugenden. Er war ein Vorläufer der Widerstandslehre. 19 Kap. 2 (Liang Hui Wang Xia „König von Liang“), Absatz 5, in: Das Werk von Meng Zi, kommentiert von ZHU Xi (1130–1200 n. Chr.), 1971 (Nachdruck der Ausgabe im 18. Jhd.), 12: „König Wen herrschte einstens über das Land Ki. Da brauchten die Bauern nur ein Neuntel des Landes für ihn zu pflügen. Die Familien der Staatsdiener behielten ein dauerndes Einkommen. An den Grenzpässen und auf den Märkten wurde eine regelmäßige Aufsicht geübt, doch keine Abgaben erhoben. Fischfang und Jagd waren unbehindert. Verbrechen wurden nicht an den Angehörigen geahndet.“ s. Wilhelm, Richard: Mong Dsi, Jene 1916, S. 16. Eine ähnliche Meinung: „Strafe beschränt sich nur auf die Einzelperson“ s. Strafrecht VII, Nr. 14., in: Tai Pin Yue Lan, hg. von LEE Fan, 984 n. Chr. 18
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lichen Strafgewalt, sondern auch als Beschränkung derselben zugunsten des Täters. Das Schuldprinzip dient dem notwendigen Schutz des Täters gegen jedes Übermaß repressiver Einwirkung des Staates. Für die erfolgsqualifizierten Delikte, bei denen das Gesetz an eine besondere Folge der Tat eine schwerere Strafe knüpft, bestimmt § 18 StGB (Deutschland), ähnlich auch § 17 StGB (Taiwan), ausdrücklich, dass die schwerere Strafe den Täter oder Teilnehmer nur trifft, wenn ihm hinsichtlich dieser Folge wenigstens Fahrlässigkeit zur Last fällt.20 VII.
Präventions- und Vergeltungsprinzip
Die Prävention hat stets zukunftsgerichtet das Verhalten des Täters in seiner Umwelt bzw. die Wirkung auf die Allgemeinheit im Blick. Demgegenüber ist das Schuldurteil die retrospektive Bewertung des konkreten TäterverhaItens als eines in der Vergangenheit liegenden und grundsätzlich abgeschlossenen Geschehens. Die Vertreter des Vergeltungsprinzips erblicken im Vergeltungsstrafrecht einen Ausdruck liberalen Denkens und der Achtung vor der Menschenwürde. Hier liegt eine Verwechslung von Schuldund Vergeltungsprinzip vor, denn Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde sind schon dann gewahrt, wenn eine das Maß der Schuld überschreitende Strafe unzulässig ist. Auch kann eine allein an der individualpräventiven Behandlungsbedürftigkeit des konkreten Täters orientierte Strafe in Widerspruch zu den Anforderungen des Schuldprinzips geraten, nicht über den Grad des verschuldeten Tatunrechts hinaus zu strafen. Dagegen geht der gegen das Konzept der Individualprävention erhobene Vorwurf, eine „staatliche Zwangsbehandlung“ eines Straftäters missachte dessen Menschenwürde, weitgehend ins Leere. VIII.
Willens- und Entscheidungsfreiheit
Das Schuldprinzip hat die Willens- und Entscheidungsfreiheit des Menschen zur Voraussetzung. Nur wenn grundsätzlich diese Fähigkeit besteht, kann der Täter für seine Tat verantwortlich gemacht werden, Das Strafrecht postuliert die menschliche Ent§ 18 StGB (Deutschland) formuliert eine dogmenhistorische Errungenschaft im Kampf gegen die reine Erfolgshaftung. Allerdings umschreibt er – nach der Anerkennung des Schuldprinzips als Verfassungssatz – eine bare Selbstverständlichkeit, nämlich das Erfordernis der individuellen Vorwerfbarkeit von unrechtsteigernden Umständen. s. § 18 StGB (Deutschland): „Schwerere Strafe bei besonderen Tatfolgen“: „Knüpft das Gesetz an eine besondere Folge der Tat eine schwerere Strafe, so trifft sie den Täter oder den Teilnehmer nur, wenn ihm hinsichtlich dieser Folge wenigstens Fahrlässigkeit zur Last fällt“ Ähnlich § 17 StGB (Taiwan): „Erhöht ein Gesetz die Strafe wegen der Verursachung eines bestimmten Erfolges, so findet diese Bestimmung keine Anwendung, wenn der Täter den Eintritt des Erfolges nicht vorhersehen konnte.“ 20
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scheidungsfreiheit. Der Mensch sei als geistig sittliches Wesen von Natur darauf angelegt, in Selbstbewusstsein und Freiheit sich selbst zu bestimmen, sich und seine Umwelt zu gestalten. Die Willensfreiheit wird aus der Würde des Menschen begründet. Eine der Voraussetzungen des Schuldprinzips ist die Willensfreiheit des Menschen, d. h. Grundlage des Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähigkeit des Menschen, sich frei und richtig zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden. Es unterstellt, dass jeder Mensch seine Handlungen kontrollieren kann. Wenn er sich frei zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann, ist es sinnvollerweise möglich, ihm einen persönlichen Vorwurf zu machen und Strafe zu verhängen. Kriminelle Strafe darf nur auf die Feststellung gegründet werden, das dem Täter aus der zum Tatentschluss führenden Willensbildung ein Vorwurf gemacht werden kann. Nur wenn diese Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen Schuldvorwurf gegen den Täter zu erheben. Weitere Voraussetzung ist ein gewisses Gewicht des Unrechts. Nicht jede Rechtsgutsverletzung erlaubt oder erfordert gar eine Antwort des Strafrechts. IX.
Verbot der rückwirkenden Strafbegründung und Strafschärfung
Aus Sicht des Täters gewährleistet das Rückwirkungsverbot Rechtssicherheit i. S. des Schutzes ihm nachteiliger Regelungen. Aus der Garantiefunktion des Strafgesetzes folgt, dass die rückwirkende Strafbegründung und Strafschärfung unzulässig ist (ebenso Art. 7 Menschenrechtskonvention). Eine rückwirkende Besserstellung durch ein späteres Gesetz ist dagegen zulässig. Hier geht es besonders um das Gebot der Rechtssicherheit, die für den Bürger vor allem Vertrauensschutz bedeutet. Demzufolge dürfen belastende Gesetze, namentlich auf dem Gebiet der Besteuerung, ihre Wirksamkeit grundsätzlich nicht auf schon abgeschlossene Tatbestände erstrecken. Seinen Grund hat das Rückwirkungsverbot des Strafgesetzes zum einen in Prinzipien der Verfassung, zum anderen in kriminalpolitischen Erwägungen. Das Schuldprinzip wurzelt im Grundrecht der Menschenwürde und im Rechtsstaatsprinzip, und setzt ein zum Tatzeitpunkt bereits existierendes und damit dem Normadressaten wenigstens potentiell bekanntes Strafgesetz voraus. X.
Schlusswort
Die unantastbare und unteilbare Würde der menschlichen Person zu schützen und zu achten: Das ist der heute weltweit anerkannte Anspruch, vor dem staatliche Gewalt sich zu legitimieren hat. Rechtssicherheit ist eine der Hauptgaben des Staates. Ein der sozialen Realität des Menschen gemäßes Rechtsdenken gibt sich keineswegs mit der Rechtssicherheit in Form der Positivität des Rechts zufrieden, es verlangt darüber hin-
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aus auch die Verwirklichung anderer Werte, z. B. der naturrechtlichen Grundsätze der Humanität und Menschenwürde, deren Ausfluss die gegenseitige Liebe und Achtung ist.21 Die Konzeption des Begriffes der Menschenwürde als kategorische Norm und unveräußerliches Gut ist ein zentraler Bestandteil des Rechts, auch wenn die Definition von Menschenwürde vielfältig, sogar umstritten ist. Meng Zi (oder Mencius, 372–289 v. Chr.) war der Meinung: „Wie wenig ist es doch, das den Menschen von den Tieren unterscheidet. Die Masse geht darüber hinweg; der Edle hält es fest.“22 In Zusammenhang zu diesem Thema könnte man sagen, dass es um die Menschenwürde gehe. Wollte man auf die an der Menschenwürde orientierte Schuld als Voraussetzung der Strafe verzichten, dann würde kein prinzipieller Unterschied bestehen zwischen der Dressur eines Tieres und der Bestrafung eines Menschen. Die Garantie der unantastbaren Menschenwürde wird jedoch in Abhängigkeit vom jeweiligen weltanschaulichen und religiösen Hintergrund unterschiedlich begründet. Diese Uneinheitlichkeit der Begründungen könnte sich negativ auf deren Geltung auswirken. Wie kann der Begriff der Menschenwürde auf der Ebene der interkulturellen Rechtswelt begründet werden – und wie lassen sich Menschenrechte global absichern? Es ist ein langer Weg der Rechtsvergleichung. Im Hinblick auf interkulturelle Verständigung und Meinungsaustausch wird das Prinzip der Reziprozität eine große Rolle spielen. Es wird die gegenseitige Verständigung ermöglichen, wenn man sich an die Stelle der Gesprächspartner setzten kann. Obgleich die Menschenwürde als oberster Wert der Rechtsordnung insgesamt und somit als absoluter Orientierungspunkt gelten kann, ist sie einer Reziprozität mit dem Begriff der Menschenrechte unterlegen, die juristische Wirkungszusammenhänge mit sich bringt. Prof. Dr. Shing-I LIU
Graduate School of Criminology, National Taipei University, 151, University Rd., San Shia District, New Taipei City, 23741 Taiwan
Vgl. LIU Shing-I, Die Begründung des Rechts und des Staates nach der klassischen chinesischen Philosophie – im Vergleich mit den Grundgedanken der klassischen abendländischen Naturrechtslehre. Dissertation, 1983, 117. Vgl. Hilgendorf (Fn. 2), 766; Dietz, Sara, Die Menschenwürde im Diskurs zwischen BVerfG und EuGH. Fundament für einen effektiven Individualschutz in einem konfliktfreien Unionsgerichtsverbund. NVwZ 2016, 1383 f.; Alfred Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, 1971, 103; Karl Larenz, Richtiges Recht Grundzüge einer Rechtsethik, 1979, 45 ff. 22 Meng Zi (Fn. 19), Kap. 8 Li Lo Xia, Abs. 19. 21
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde Eine Alternative zur metaphysischen Würdebegründung ULFRID NEUMANN (Frankfurt am Main)
Abstract: I propose to replace a metaphysical interpretation of human dignity by a concept based on
human needs and interests. This concept is corresponding to the position called “humiliationism”. We can’t justify a metaphysical approach by arguments of “deep justification” of human dignity. But we can accept the possibility of appreciation of human dignity as “institutional quality” constituted in social communication. Keywords: Human Dignity, Human Needs, Humiliationism, Metaphysics
I.
Einleitung
Metaphysik tritt in der Fachphilosophie seit längerer Zeit zugunsten konkurrierender Denkansätze in den Hintergrund. Das gilt nicht nur für den Bereich der theoretischen Philosophie, in dem die Analytische Philosophie die traditionelle Metaphysik insbesondere seit dem „linguistic turn“ zurückgedrängt hat. Es gilt in gleicher Weise auch im Bereich der praktischen Philosophie. Schon vor mehreren Jahrzehnten wurden programmatisch Leitlinien einer „Ethik ohne Metaphysik“ konturiert.1 Seitdem hat Jürgen Habermas in zahlreichen Arbeiten,2 die in seinem monumentalen Werk über die Entwicklung der Philosophie kulminieren,3 das Ende der Metaphysik diagnostiziert
1 2 3
Patzig, Ethik ohne Metaphysik, 1971 (2. Aufl. 1983). Exemplarisch die Beiträge in: Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 1992. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019.
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und ihre Ablösung durch eine Theorie der gesellschaftlichen Kommunikation vorangetrieben. In der Rechtsphilosophie, soweit sie als Grundlagendisziplin der Rechtswissenschaft (und nicht als Teilgebiet der Fachphilosophie) betrieben wird, spiegelt sich diese Entwicklung nur mit Einschränkungen. Zwar hat die Diskurstheorie auch hier erheblichen Einfluss gewonnen;4 von einer Ablösung der Metaphysik durch einen Ansatz, der die Konstitution von Rechten und Normen auf eine (reale oder virtuelle) Verständigung zwischen den Menschen zurückführt, kann aber nicht die Rede sein. Die Ontologie-affine Denk- und Argumentationsweise der Rechtsdogmatik5 beeinflusst auch die Rechtsphilosophie als Teilbereich der Rechtswissenschaft. Dies gilt a fortiori dort, wo die rechtsphilosophische Diskussion an positiv-rechtliche Normen rückgebunden ist, also im Überschneidungsbereich von Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik. Exemplarisch ist hier die Diskussion zum Prinzip der Menschenwürde, das in der deutschen Verfassung als positiv-rechtliche Norm festgeschrieben und damit auch Gegenstand rechtsdogmatischer Bearbeitung ist (Art. 1 Abs. 1 GG). Ich werde im Folgenden erörtern, ob das in der Rechtsphilosophie traditionell dominierende metaphysische Verständnis der Menschenwürde durch eine normative Interpretation ersetzt werden kann (und sollte), der zufolge Menschenwürde nicht als Eigenschaft zu verstehen ist, sondern als das Recht, von gravierenden Verletzungen bestimmter elementarer Interessen verschont zu bleiben. Als „metaphysisch“ werden hier und im Folgenden (behauptete) menschliche Eigenschaften bezeichnet, die a) nicht empirisch erfahrbar und b) nicht explizit im Sinne normativer (normativ relevanter) Zuschreibungen verstanden werden. Der Begriff umfasst folglich auch Eigenschaften, die dem Menschen aufgrund religiöser Vorstellungen zuerkannt werden. Im Anschluss an eine typisierende Gegenüberstellung eines metaphysischen und eines normativen Ansatzes der Interpretation der Menschenwürde (II) werde ich zunächst die Vorzüge wie die Defizite eines metaphysischen Verständnisses der Menschenwürde skizzieren (III). Nach der Darstellung des alternativen Modells eines interessenbasierten normativen Verständnisses der Menschenwürde (IV) wird die Frage erörtert, ob und ggf. wie der intuitiven Vorstellung von einer „Eigenschaft Menschenwürde“ Rechnung getragen werden kann (V).
Exemplarisch: Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978 (3. Aufl. 1996); K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988. 5 Dazu Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, 1979. Vgl. auch Lindner, Rechtswissenschaft als Metaphysik, 2017. 4
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
II.
Alternative: Metaphysische oder interessenbasierte normative Interpretation der Menschenwürde
Die Janusköpfigkeit, die dem Begriff der Menschenwürde eignet, spiegelt sich in der sprachlichen Ausgestaltung, die das Menschenwürde-Prinzip in der deutschen Verfassung erfahren hat. Wird mit der Formulierung „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) behauptet, dass der Mensch über eine Eigenschaft namens „Würde“ verfüge, die nicht angetastet werden kann? Oder geht es um das Verbot, den Menschen in einer „menschenunwürdigen“ Weise zu behandeln? Der normative Kontext legt es nahe, die Bestimmung jedenfalls auch im letzteren Sinne zu interpretieren. Offen ist aber, ob Art. 1 GG nicht darüber hinaus dem Menschen eine bestimmte Eigenschaft zuerkennt, die als Menschenwürde bezeichnet wird. Handelt es sich um einen (rein) normativen oder (auch) um einen deskriptiven Begriff? Von der Antwort auf diese Frage hängt auch die mögliche normative Reichweite des Menschenwürde-Prinzips maßgeblich ab. Wer die Menschenwürde als Eigenschaft versteht und sie in einem – religiös oder im Sinne einer philosophischen Anthropologie verstandenen – „Wesen des Menschen“ fundiert sieht, ist genötigt, den normativen Gehalt des Menschenwürde-Prinzips anhand der Charakteristika dieses „Wesens“ zu bestimmen. Er kann die lebensweltlichen Interessen der Menschen nur im Rahmen dieser Vorgaben berücksichtigen. Exemplarisch: wer die Würde des Menschen auf dessen Stellung in einer Schöpfungsordnung gründet („Gottebenbildlichkeit“), wird in menschlichem Leiden, das der religiös-theologisch interpretierten conditio humana entspricht, keine Beeinträchtigung der menschlichen Würde erkennen. Das bedeutet: das Verständnis der Würde als metaphysische Eigenschaft des Menschen ist normativ folgenreich („kreativ“). Dies gilt jedenfalls im Rahmen der Interpretation rechtlicher Regelungen und für den Bereich der praktischen Philosophie (Moralphilosophie); es gilt nicht notwendig für Theorien zur Menschenwürde auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie.6 Komplementär heißt das: normative Aussagen über rechtliche oder moralische Postulate, die sich aus dem Prinzip der Menschenwürde ergeben, erfahren eine starke kognitive Fundierung – gleichgültig, ob sie auf die Vernunftbegabung des Menschen, seine Fähigkeit zu moralischem Handeln oder auf seine Gottebenbildlichkeit gestützt werden. Demgegenüber beansprucht ein rein normativer Ansatz, für den ich plädieren werde, bei der Festlegung des Regelungsgehalts des Menschenwürde-Prinzips ohne die Annahme metaphysischer Eigenschaften des Menschen auszukommen. Das bedeutet nicht, dass auf eine kognitive Basis vollständig verzichtet würde. Aber der kognitive Auf das fundamentale Problem, ob und inwieweit normative Ableitungen aus metaphysischen Annahmen die Struktur eines „naturalistischen Fehlschlusses“ aufweisen, gehe ich im Folgenden nicht ein. Die metaphysischen Ansätze, um die es im Kontext der Menschenwürde-Diskussion geht, legen insoweit einen schon normativ aufgeladenen Seins-Begriff („Eigenschaft Menschenwürde“) zugrunde. 6
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Gehalt beschränkt sich auf Feststellungen, die weitgehend konsensfähig sein dürften. Denn es geht hier um Interessen und Bedürfnisse der Menschen, die in lebensweltlichen Erfahrungen präsent sind und jedenfalls nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen werden.7 Ausgangspunkt ist die Frage, welche legitimen Bedürfnisse und Interessen in der Dimension der Menschenwürde verletzt werden können und deshalb durch das normative Prinzip der Menschenwürde zu schützen sind. Schlagwortartig: es geht um Menschenwürde nicht als Eigenschaft, sondern als Anspruch des Menschen. Ob dieser Ansatz vollständig auf Annahmen verzichten kann, die über die Feststellung empirischer Tatsachen (menschliche Interessen und Bedürfnisse in der Dimension würdevollen Lebens) und offene Wertungen (Schutzwürdigkeit dieser Interessen und Bedürfnisse) hinausgehen, wird abschließend zu diskutieren sein. III.
Menschenwürde als metaphysische Eigenschaft
1.
Relevanz
Im verfassungsrechtlichen Diskurs der Bundesrepublik ist ein metaphysisches Verständnis der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nach wie vor präsent; über Jahrzehnte hinweg war es dominant.8 Eine zentrale Rolle spielt hier das Argument, die Menschenwürde bedürfe einer Verankerung im vorrechtlichen Bereich; ohne Bezug zur Transzendenz bleibe sie, so das Argument, ohne ein tragfähiges Fundament.9 Diese Transzendenz wird teilweise ausdrücklich als Bereich des Religiösen bzw. des Metaphysischen bestimmt. Das Transzendente, auf das zur Begründung der Menschenwürde zurückgegriffen werden müsse, sei, so der Verfassungsrechtler und langjährige Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde, „letztlich nur metaphysisch oder religiös-theologisch auszumachen“.10 Teilweise wird auf religiöse Bezüge verzichtet und die Menschenwürde in einem dem Recht vorgegebenen Wesen des Menschen verankert, dessen Konstituenten indes offen bleiben. So heißt es bei dem Arbeitsrechtler und seinerzeitigen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts Hans Carl Entsprechender Ansatz zur Fundierung der Menschenrechte bei Samantha Besson, The Egalitarian Dimension of Human Rights, in: Ulfrid Neumann / Klaus Günther / Lorenz Schulz (Hrsg.), Law, Science, Technology, ARSP-Beiheft 136, 2013, 19. 8 Dazu Nettesheim, Die Garantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 130 (2005), 71; ders., „Leben in Würde“: Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht hinter den Grundrechten, Juristenzeitung (JZ) 2019, 1 (dort auch zur Relativierung dieses Ansatzes in der neueren verfassungsrechtlichen Diskussion). 9 Isensee, Menschenwürde: Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 131 (2006), 173. Krit. dazu B. Fateh-Moghadam / T. Gutmann / M. Neumann / T. Weitin, Säkulare Tabus Die Begründung von Unverfügbarkeit, 2015, 109 u. ö. 10 Böckenförde, Zur Eröffnung, in: Böckenförde/Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, 1987, 11, 15. 7
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
Nipperdey, die Menschenwürde sei „der Eigenwert und die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin“.11 Eine metaphysische Interpretation der Menschenwürde ist im Bereich der Rechtswissenschaft von besonderer praktischer Relevanz, aber nicht auf diesen Bereich beschränkt. Für eine entsprechende Position im Bereich der Allgemeinphilosophie sei beispielhaft auf Hans Joas verwiesen, der in der Sakralität der Person den Generalnenner der Entwicklung der Menschenrechte sieht.12 2.
Leistungen des metaphysischen Modells
Bevor die Schwächen des metaphysischen Modells der Menschenwürde thematisiert werden, sei kurz an seine Leistungen erinnert, die vor allem in einem Vergleich mit Würdekonzepten deutlich werden, die sich an dem sozialen Status oder der gesellschaftlichen Funktion des Trägers der Würde orientieren. a)
Universalisierungs- und Integrationsfunktion
Würde kann, alternativ zu metaphysischen Modellen, statusbezogen, als Eigenschaft von Personen verstanden werden, die eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft, insbesondere herausgehobene Ämter innehaben. Für dieses Würde-Verständnis finden sich in traditionellen Gesellschaften zahlreiche Beispiele.13 Diese Interpretation von Würde wirkt diskriminierend; sie unterscheidet die Würde-Träger (sprachlich repräsentiert in dem Begriff des „Würdenträgers“) von denjenigen, denen keine (oder eine geringere) Würde zugesprochen wird. Sie spiegelt zugleich eine Vorstellung sozialer Hierarchien, die gesellschaftliche Autorität nicht allein auf spezifische Funktionen zurückführt, sondern sie in der Hierarchie selbst begründet sieht. Demgegenüber ist der Würdebegriff metaphysischer Würdekonzeptionen nicht an gesellschaftlichem Status und politischen Ämtern orientiert, sondern allein auf die Zugehörigkeit zur Gattung „Mensch“ bezogen. Das gilt sowohl für die christlich-religiöse Auffassung als auch für das Konzept der Menschenwürde, das die Würde in der Vernünftigkeit des Menschen und seiner Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung begründet sieht. In beiden Ausprägungen übernimmt das Modell der Menschenwürde, da an
Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: F. L. Neumann / C. Nipperdey / U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. II, 1954, 1. 12 Hans Joas, Die Sakralität der Person Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011. Joas im Wesentlichen folgend Duttge, Die „Sakralität“ des Menschen, ARSP-Beiheft 142 (2015), 145. Krit. Fateh-Moghadam u. a. (Fn. 9), 25 ff. 13 Vgl. dazu die Beiträge von Hiroshi Hattori und Yu-An Hsu in diesem Band. 11
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dem Menschen als Gattungswesen orientiert, eine integrierende Funktion. In diesem Punkt erweist sich eine metaphysische Begründung der Menschenwürde auch einem Modell überlegen, das an empirische Eigenschaften des Menschen anschließt. Ein solches, empirisch fundiertes Modell ist zwar erkenntnistheoretisch unproblematisch; es steht aber vor der Schwierigkeit, die Menschenwürde auch Personen zuzusprechen, die nicht über die entsprechenden Eigenschaften verfügen.14 b)
Begründungsfunktion
Eine metaphysische Interpretation der Menschenwürde leistet zudem jedenfalls prima facie eine tiefgehende Begründung des entsprechenden normativen Prinzips. Contra factum non valet argumentum. Die Alternative zur Anerkennung von etwas Seiendem als Seiendes ist der Irrtum. Die Interpretation der Menschenwürde als metaphysische Eigenschaft bedient zudem die Semantik des Prinzips der Menschenwürde. Wenn oben darauf hingewiesen wurde, dass die deutsche Verfassung mit der Formulierung „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) offen lässt, ob diese Unantastbar-Erklärung deskriptiv (im Sinne von: diese Würde könne nicht angetastet werden) oder aber normativ (im Sinne von: sie dürfe nicht angetastet werden) zu verstehen ist, so ist jetzt zu ergänzen: In beiden Interpretationen ist nach der Formulierung des Grundgesetzes Gegenstand der Unantastbarkeit etwas, das als Würde des Menschen bezeichnet wird. Denn gleichgültig, ob etwas nicht angetastet werden kann (Proposition) oder nicht angetastet werden darf (Norm): weder die Norm noch die Aussage ist, so die naheliegende Schlussfolgerung, sinnvoll, wenn es dieses „Etwas“ tatsächlich nicht gibt. Auch jenseits der positivrechtlichen Regelungen legen Aussagen über die „Menschenwürde“ die Existenz eines entsprechend bezeichneten Objekts nahe. 3.
Defizite
a)
Erkenntnistheoretische Probleme
Mit der vordergründigen argumentativen Stärke der metaphysischen Deutung der Menschenwürde korrespondiert allerdings ihre erkenntnistheoretische Schwäche. Denn so zwingend die Argumentation in ihrer Struktur sein mag (contra factum non valet argumentum): Die Argumentation insgesamt ist nicht stärker als ihre Prämissen.
Näher dazu Neumann, Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse. Versuch einer Eingrenzung, ARSP 103 (2017), 287, 290 f.
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Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
Das bedeutet: die Existenz des behaupteten factum muss in überzeugender, konsensfähiger Weise dargelegt werden. Das ist jedenfalls hinsichtlich religiös-theologischer Ansätze, die in der deutschen verfassungsrechtlichen und rechtsphilosophischen Diskussion von erheblichem Einfluss waren, nicht möglich. Glaubensfragen sind allenfalls im Rahmen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft konsensfähig zu entscheiden, möglicherweise auch nur innerhalb dieser Gemeinschaft sinnvoll zu stellen. Christlich-theologische und andere religiöse Modelle der Menschenwürde kommen daher in einem säkularen Staat allenfalls als ideengeschichtliche Rekonstruktionen, nicht aber im Sinne normativer Begründungen des Prinzips der Menschenwürde in Betracht. Der Staat muss beanspruchen, dass seine fundamentalen Normen nicht nur für Angehörige einer bestimmten Religion nachvollziehbar begründet sind.15 Habermas hat das gültig formuliert: Das Prinzip der „weltanschaulich neutralen Ausübung politischer Herrschaft“ verlange, dass „alle mit staatlicher Gewalt durchsetzbaren Entscheidungen in einer Sprache formuliert sein müssen und gerechtfertigt werden können, die allen Bürgern gleichermaßen zugänglich ist.“16 Das Argument lässt sich über den staatstheoretischen Bereich hinaus erweitern: religiöse Sprechweisen sind aus der öffentlichen Diskussion möglichst fernzuhalten, da sie einen erheblichen, möglicherweise den größeren Teil der potentiellen Diskussionsteilnehmer von der Möglichkeit einer Verständigung ausschließen.17 Die scheinbare Stabilisierung des Menschenwürde-Prinzips durch seine religiöse Fundierung gerät in einem säkularen Staat im Ergebnis zu einer Destabilisierung, weil sich das Fundament als nicht tragfähig erweist.18 Philosophische Ansätze zu einer metaphysischen Begründung der Menschenwürde19 liefern stabilere Fundamente, weil sie nicht Glaubensgehorsam einfordern, sondern auf Überzeugungskraft setzen. Gleichwohl bleiben auch sie hinter den Anforderungen zurück, die an eine konsensfähige Begründung des Menschenwürde-Prinzips (und von Rechtsprinzipien generell) zu stellen sind. Denn solange alternative philosophiEbenso Hörnle, Menschenwürde und Lebensschutz, ARSP 89 (2003), 318 ff. Habermas, Religion in der Öffentlichkeit, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion Philosophische Aufsätze, 2005, 119, 140 (zust. zitiert bei Fateh-Moghadam u. a. [Fn. 9], 119). Zur Frage der Integrierbarkeit gegensätzlicher religiöser, politischer und philosophischer Positionen in einem „übergreifenden Konsens“ vgl. Rawls, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 1994, 293 ff. 17 In diesem Sinne Rorty, Religion as Conversation-Stopper, in: Common Knowledge 3 (1994), S. 1 ff. 18 Nicht für eine religiöse Fundierung, wohl aber für eine religiöse Interpretierbarkeit der Menschenwürde: von der Pfordten, Menschenwürde, 2016, 64. 19 Zu Kant etwa Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, in: L. Honnefelder / D. Sturma (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15 (2010), 5 ff.; ders./Quante, Menschenwürde, Selbstbestimmung und Pluralismus: Zwischen sittlicher Vorgabe und deontologischer Konstruktion, ARSP 103 (2017), 322 ff.; von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, in: ders., Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, 2009, 9 ff. Zu Fichte: Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, 2015; Tiedemann, Johann Gottlieb Fichte und die Identitätstheorie der Menschenwürde, ARSP 103 (2017), 337 ff. 15 16
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sche Modelle beanspruchen, die allein überzeugende Begründung der Menschenwürde und ihrer rechtlich-normativen Konsequenzen zu leisten, kann von einer stabilen Fundierung des verfassungsrechtlich statuierten Menschenwürde-Prinzips keine Rede sein. Auch insoweit besteht die Gefahr, dass es „Partikularethiken“ sind, die die Interpretation des Art. 1 Abs. 1 GG mitbestimmen.20 b)
Verzichtbarkeit des normativen Schutzes der Menschenwürde
Versteht man die Würde als eine vorgegebene Eigenschaft des Menschen, dann ist die Notwendigkeit eines Schutzes durch rechtliche und moralische Normen kaum zu begründen.21 Denn die als metaphysische Qualität interpretierte Menschenwürde kann durch Handlungen, die gegenüber dem empirischen Subjekt vorgenommen werden, nicht beeinträchtigt werden. Ist die Menschenwürde, als metaphysische Qualität, „unantastbar“ in der faktischen Bedeutung des Wortes, dann läuft die Forderung nach einem Schutz dieser Würde notwendigerweise leer. Liegt die Würde des Menschen beispielsweise in seiner Gottebenbildlichkeit, dann kann sie durch eine noch so gravierende Missachtung des Einzelnen nicht tangiert werden. Es erscheint überzeugend, wenn die Toleranz christlicher Autoren gegenüber der Sklaverei jedenfalls auch in diesem Zusammenhang gesehen wird.22 Der Ontologisierung der Menschenwürde korrespondiert hier eine Entnormativierung und damit ein Verlust an schützender Kraft. Bis zur letzten Konsequenz getrieben ist diese Auffassung dort, wo aus der theologischen Deutung der Menschenwürde als sittlicher Natur gefolgert wird, dass die menschliche Würde nur durch den Träger dieser Würde selbst, nicht aber durch Dritte verletzt werden könne.23 c)
Metaphysik als verdeckte Normativität
Soweit andererseits aus einer metaphysischen Konzeption der Menschenwürde normative Folgerungen gezogen werden, geht es um eine verdeckte, überspitzt formuliert: erschlichene Ableitung von Normativität. Denn offene Wertungen werden dann
Dazu Nettesheim, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 130 (2005), 71, 84. – Krit. zur Ableitung (straf-) rechtlicher Folgerungen aus der Philosophie des deutschen Idealismus Fateh-Moghadam, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Strafrechts, 2019, 74. 21 Dazu und zum Folgenden schon Neumann, Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet (2004), in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, 35, 52 f. 22 Dazu – differenzierend – Hilpert, Die Menschenrechte Geschichte, Theologie, Aktualität, 1991, 96 f. sowie Höffe, Vernunft und Recht, 1996, 100. 23 So Schüller, Die Personenwürde des Menschen als Beweisgrund in der normativen Ethik, in: Theologie und Philosophie 53 (1978), 538 ff. Differenzierend und teilweise kritisch dazu Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985), in: ders., Das Natürliche und das Vernünftige, 1987, 77, 95 ff. 20
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
durch kryptonormative Seinsbehauptungen ersetzt. So etwa in der Argumentation, die Selbsttötung negiere das Leben als Voraussetzung der Selbstbestimmung; folglich zerstöre sie auch „die Existenz des Menschen als sittliches Subjekt und damit seine eigene Würde“24. Erst recht trifft der Vorwurf verdeckter Normativität religiös-theologische Ableitungen. So etwa, wenn aus der Vorstellung, das Leben sei ein „Geschenk Gottes“, auf ein Verbot der Selbsttötung geschlossen wird.25 Dass es hier um Einschränkungen der menschlichen Autonomie geht, ist kein Zufall. Wo die Menschenwürde als vorgegebene Eigenschaft verstanden wird, droht sie sich gegen den konkreten Menschen und seine Bedürfnisse zu wenden.26 Auf den Einsatz der „Menschenwürde“ als Argument, um einem todkranken Menschen das Recht auf einen menschenwürdigen Tod abzusprechen, wird zurückzukommen sein. IV.
Normative (folgenorientierte) Rekonstruktion des Menschenwürde-Prinzips
Diese Defizite eines metaphysischen Verständnisses von „Menschenwürde“ legen es nahe, zur Konturierung des Menschenwürde-Prinzips nicht nach einer als „Würde“ bezeichneten Eigenschaft des Menschen zu suchen, sondern zu fragen, welche Handlungsweisen als Verletzungen der Menschenwürde zu verstehen sind.27 Es geht bei diesem Ansatz primär um den Ge- und Verbotsbereich des Prinzips der Menschenwürde, der anhand typischer Verletzungshandlungen rekonstruiert wird. Der Weg führt also nicht (deduktiv) von einer theoretischen Konzeption der Menschenwürde zu den möglichen Konsequenzen für den Schutzbereich, sondern (induktiv) von den Böckenförde, Anerkennung von Menschenwürde und Lebensrecht am Anfang und Ende des Lebens, Vortrag gehalten am 18.11.2007 auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung (zitiert nach Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde Die Debatten seit 1949, Berlin 2016, 229, 396 [dort Angabe der Online-Fundstelle]). 25 Zu diesem Zusammenhang Baldus (Fn. 24), 229. 26 Ähnlich Nettesheim, „Leben in Würde“: Art. 1 Abs. 1 als Grundrecht hinter den Grundrechten, Juristenzeitung (JZ) 2019, 1, 2. Näher zu Argumentationen, in denen die Menschenwürde gegen den Menschen und seine Interessen und Bedürfnisse gewendet wird: Neumann, Menschenwürde (Fn. 21); Presno Linera, Human Dignity versus Personal Autonomy, Rechtstheorie 48 (2017), 175 ff. 27 Ebenso Hörnle (Fn. 15), 324; Schaber, Instrumentalisierung und Würde, 2. Aufl. 2013, 49 ff.; ders., Die Bedeutung von Instrumentalisierung und Demütigung als Würdeverletzung, in: ARSP-Beiheft Nr. 142 (2015), 159 ff.; Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 118 (1993), 353 ff. – Diese Rekonstruktion der Menschenwürde ließe sich anschließen an ein explizit antimetaphysisches, pragmatisches Konzept, das Erfahrungen von Leid und die Verpflichtung zur Respektierung und solidarischen Unterstützung des anderen in den Mittelpunkt stellt (Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in: S. Shute / S. Hurley (Hrsg.), Die Idee der Menschenrechte, 1996, 144 ff.). Auf die Verletzbarkeit des Menschen abstellend auch Sangiovanni, Humanity without Dignity, 2017. Sein weitergehender Vorschlag, auf den Begriff der Menschenwürde zugunsten des Begriffs der Humanität zu verzichten, ist überzeugend allerdings nur hinsichtlich eines metaphysisch interpretierten Begriffs der Menschenwürde. Zur verbreiteten Skepsis gegenüber dem Begriff der Menschenwürde in der angloamerikanischen Diskussion vgl. Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, 2018. 24
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Erfahrungen von Verletzungen der Menschenwürde zu einem Verständnis dessen, was „Menschenwürde“ bedeuten kann.28 Den Ausgangspunkt markieren lebensweltliche Erfahrungen von Verletzungen der Person, die – in einem alltagsmoralischen Verständnis des Begriffs – als Verletzungen der Würde erfahren und bezeichnet werden. Dabei geht es einerseits um Demütigungen und die Missachtung der personalen Identität (1), andererseits um gravierende Beeinträchtigungen der Möglichkeit autonomer Lebensgestaltung (2). Der normative Grund für die Zuerkennung eines Schutzes vor solchen Erfahrungen liegt dann nicht in der Existenz einer metaphysischen Eigenschaft „Menschenwürde“, sondern (entsprechend dem Modell einer interessenbasierten Ethik) in der Zuerkennung eines legitimen Interesses, vor Würdeverletzungen bewahrt zu bleiben (3). 1.
Dimension: Würdeverletzungen
a)
Demütigungen
Zu den Erfahrungen, die als Beeinträchtigung der eigenen Würde erlebt werden, gehören in erster Linie schwere Demütigungen. Die Begriffe „Respektierung der Würde des anderen“ und „Demütigung des anderen“ sind kontravalente Begriffe. „Wenn wir einem Menschen … Würde zusprechen, sprechen wir ihm das moralische Recht zu, nicht erniedrigt zu werden“.29 Für eine Interpretation des Rechtsprinzips der Menschenwürde kann nichts anderes gelten. In diesem Sinne ist die Position des „Humiliationismus“, die in der Demütigung den Kern der Verletzung menschlicher Würde sieht, unanfechtbar.30 In der philosophischen wie in der juristischen Diskussion tritt die demütigende Behandlung als Kriterium der Verletzung der Menschenwürde heute neben, teilweise auch an die Stelle der auf Kant zurückgehenden, insbesondere auch vom Bundes-
Dazu Stoecker, Worin liegen Menschenwürde-Verletzungen? Eine Fallgruppenanalyse, ARSP Beiheft Nr. 142 (2015), 91 ff. 29 Balzer/Rippe/Schaber, Menschenwürde vs Würde der Kreatur, 1998, 31. 30 Grundlegend Margalit, Politik der Würde Über Achtung und Verachtung, 1997/2012 (engl. The Decent Society, 1996). Ferner etwa Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, Zeitschrift für Rechtsphilosophie (ZRph) 2008, 41 ff.; dies., Warum sich das Würdekonzept Margalits zur Präzisierung von „Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut“ eignet, in Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung Die Menschenwürdekonzeption Avishai Margalits, 2013, 91 ff.; Stoecker (Fn. 28), 91 ff. Krit. dagegen Christoph Horn, Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung, in: Information Philosophie, 2011, 30 ff. (dazu Birnbacher, Schutz vor Demütigung als Grundrecht?, in: Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung. Die Menschenwürdekonzeption Avishai Margalits, 2013, 63 ff.); Hilgendorf, Menschenwürdeschutz als Schutz vor Demütigung? Eine Kritik, aaO, 127, 131 f.; Nettesheim, Juristenzeitung (JZ) 2019, 1, 8; Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 2015, 241 ff. 28
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
verfassungsgericht rezipierten Objektformel.31 Wie sich das Instrumentalisierungsverbot,32 das in der Objektformel zum Ausdruck kommt, normlogisch zu dem Verbot der Demütigung verhält, bliebe zu klären. Richtig dürfte sein, dass nicht jede demütigende, den Schutzbereich des Menschenwürde-Prinzips tangierende Behandlung mit einer Instrumentalisierung des Betroffenen im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation verbunden sein muss.33 So stellt die Folterung eines Menschen auch dann eine Verletzung seiner Würde dar, wenn sie nicht zur Erreichung eines Geständnisses, sondern aus Sadismus und damit zweckfrei erfolgt.34 Insofern ist der Begriff der Demütigung weiter als der der Instrumentalisierung (Objektformel). b)
Missachtung der personalen Identität
Demütigungen können als Ausdruck der Missachtung des Opfers durch den Täter zugleich die Selbstachtung des Betroffenen verletzen – er erlebt sich dann als jemand, mit dem in dieser Weise verfahren werden darf oder doch verfahren werden kann.35 Die Selbstachtung kann aber auch beeinträchtigt werden durch den Zwang, in einem permanenten, dispositionell bedingten Konflikt mit sich selbst zu leben. Das an lebensweltliche Erfahrungen anknüpfende Prinzip der Menschenwürde ist deshalb auch dort tangiert, wo dem Einzelnen die Möglichkeit genommen wird, in Übereinstimmung mit seiner von ihm selbst definierten personalen Identität zu leben. Das gilt für die sexuelle Identität36; es gilt aber auch für die kulturelle Identität, die insbesondere durch die Identifikation mit einer bestimmten Weltanschauung, einem bestimmten politischen Standpunkt oder bestimmten kulturellen Traditionen geprägt wird.37
Zur Objektformel zusammenfassend Neumann, Art. „Objektformel“, in: R. Gröschner / A. Kapust / O. W. Lembcke (Hrsg.), Wörterbuch der Würde, 2013, 334 ff. 32 Krit. dazu Hilgendorf, Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde, in: Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70 Geburtstag, 2011, 1653 ff. 33 Schaber, Bedeutung (Fn. 27), 159, 160, 167. 34 Denkbar wäre hier natürlich, die Befriedigung des eigenen Sadismus als Zweck zu verstehen, zu dessen Erreichung das Opfer instrumentalisiert wird. 35 Zur Würdeverletzung durch den Angriff auf die Selbstachtung einer Person: Margalit, Politik der Würde, 1997/2012, passim. 36 Dazu ausf. Steger, Menschenwürde und sexuelle Identität, in: Joerden/Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin Ein interdisziplinäres Handbuch, 2013, 905 ff. 37 Zur politischen Bedeutung der Suche nach Würde und Anerkennung der eigenen Identität Fukuyama, Identität Wie der Verlust der Würde die Demokratie gefährdet, 2019. 31
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2.
Dimension: Autonomie
Zu einer menschenwürdigen Existenz gehört somit die Möglichkeit, in Einklang mit seiner (selbst definierten) personalen Identität zu leben, und damit auch mit den Wertvorstellungen, die für diese Identität (mit)konstitutiv sind. Ein zentraler Aspekt des Schutzes der Menschenwürde ist deshalb die Gewährleistung von Autonomie als der Möglichkeit, eigenverantwortlich getroffene Entscheidungen, die die eigene Person betreffen, ohne Behinderung umzusetzen.38 Die Möglichkeit der autonomen Gestaltung des eigenen Lebens kann deshalb neben dem Schutz vor schweren Demütigungen als die zweite Säule des Rechts auf Menschenwürde betrachtet werden.39 Die Frage, wo bei der Eröffnung dieser Möglichkeit die Grenze zwischen der Verantwortung des Rechts (Prinzip der Menschenwürde) einerseits, der Eigenverantwortlichkeit der Person andererseits verläuft, wirft allerdings erhebliche Probleme auf. Sicher ist, dass das Rechtsprinzip der Menschenwürde nicht alle Voraussetzungen gewährleisten kann, die gegeben sein müssen, damit der Einzelne sein Leben als selbstbestimmt erfahren kann. Eine Verletzung der Menschenwürde liegt aber dort nahe, wo er gezwungen wird, in einer unwürdigen Lebenssituation zu verharren – sei es durch Vorenthaltung angemessener Unterstützung, sei es durch rechtliche Verbote, sich selbst aus dieser unwürdigen Situation zu befreien.40 Das betrifft vor allem zwei Konstellationen. Zum einen geht es um die Verfügbarkeit materieller Ressourcen, die ein – nach den Standards der Gesellschaft – menschenwürdiges Leben ermöglichen (a). Zum andern ist die Situation von schwerstkranken und schwerstleidenden Menschen betroffen, die ihr Leben beenden wollen, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, ihrem als unerträglich erlebten Zustand zu entkommen (b).
Dazu Kirste, Recht – Selbst – Bestimmung, in: Demko/Seelmann/Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, ARSP-Beiheft 142 (2015), 65 ff.; Lohmann, Was umfasst die „neue“ Menschenwürde der internationalen Menschenrechtsdokumente?, aaO, 15, 30 f.; von der Pfordten, Menschenwürde, 2016, 79 ff. Der Sache nach auch Schaber, Bedeutung (Fn. 27), 159 ff. (Würde als „normative Autorität, die Menschen über sich selbst besitzen“ [S. 160]); Mahlmann, Die Garantie der Menschenwürde in der Schweizerischen Bundesverfassung, in: Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 9/2013, 1307, 1314. Zu den prozeduralen Voraussetzungen der Gewährleistung autonomer Entscheidungen mit Blick auf unterschiedliche Lebenskontexte Saliger, Menschenwürde und Verfahren, in: Joerden/Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin (Fn. 36), 265 ff. – Zur Autonomie als Voraussetzung eines gelingenden Lebens Beate Rössler, Autonomie Ein Versuch über das gelungene Leben, 2017. 39 „Der Mensch erlangt Würde, wenn es ihm gelingt, in authentischer Selbstbestimmung ein gelingendes Leben zu führen“ (Nettesheim, Juristenzeitung ( JZ) 2019, 1, 4). 40 Dazu Birnbacher, Schutz vor Demütigung als Grundrecht?, in: Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung (Fn. 30), 63, 78 f. 38
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
a)
Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum
Ob aus dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) ein Anspruch auf ein Existenzminimum folgt, das ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, ist umstritten.41 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2010 ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ anerkannt, das sich aus dem Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) ergebe.42 Es hat dieses Urteil in einer späteren Entscheidung bestätigt.43 Das Grundrecht der Menschenwürde sei, so die Argumentation, „dem Grunde nach unverfügbar“ und müsse „durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden“ (Rn. 118). Dabei gehe es nicht nur um die Sicherung der physischen Existenz; auch die soziokulturelle Existenz, also die Möglichkeit, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen, müsse von Seiten des Staates gewährleistet werden (Rn. 119). Von einem Ansatz aus, der den Regelungsbereich des Menschenwürde-Prinzips von den Interessen und Bedürfnissen der Menschen her rekonstruiert, ist diese Rechtsprechung folgerichtig und uneingeschränkt zu begrüßen. b)
Recht auf einen menschenwürdigen Tod
Während es bei dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum um ein Leistungsrecht geht, also die Schutzdimension der verfassungsrechtlichen Menschenwürde-Garantie angesprochen ist, betrifft die Frage eines Rechts auf menschenwürdiges Sterben die abwehrrechtliche Dimension, also das Problem, ob und ggf. inwieweit der Staat den Bürger durch Verbote, die an diesen selbst oder an Dritte gerichtet sind, zu einem menschenunwürdigen Sterben oder einem leidensbedingt menschenunwürdigen Leben verurteilen darf. Die Frage stellt sich insbesondere dann, wenn der Betroffene Hilfe zu einem menschenwürdigen Tod erbittet, um nicht einem menschenunwürdigen Sterben oder einem menschenunwürdigen (durch schweres Leiden geprägten) Leben ausgeliefert zu sein.
Bejahend Joerden, Menschenwürde als prägendes Element der Rechtskultur, in: F. Saliger (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafrecht Festschrift für Ulfrid Neumann zum 70 Geburtstag, 2017, 159, 165 f. Nettesheim, Juristenzeitung ( JZ) 2019, 1, 9; and. Möllers, Das Grundgesetz Geschichte und Inhalt, 2009, 117 mit der Begründung: „Bei allem Respekt vor individueller Not ist eine Kürzung von Sozialleistungen wohl doch nicht mit staatlicher Folter gleichzusetzen und konstituiert daher keinen Verstoß gegen die Menschenwürde“. 42 BVerfGE 125, 175. Im Kontext der Menschenwürde-Diskussion dazu näher Baldus (Fn. 24), 230 ff. Zur sozialen Dimension der Menschenwürde (Notwendigkeit nachhaltig gesicherter Lebensverhältnisse) näher Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte Über die Verletzbarkeit und den Schutz von Menschen, 2014, 280 ff. 43 BVerfG Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2019, 3703. 41
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Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einer bahnbrechenden Entscheidung vom Februar 2020 das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Bestandteil des in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt.44 Es hat mit diesem Urteil einen 2015 in das deutsche Strafgesetzbuch eingefügten Straftatbestand für verfassungswidrig erklärt, der das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben, soweit es nur mit Hilfe Dritter zu verwirklichen ist, durch Strafdrohungen in gravierender Weise eingeschränkt hatte. Nach dem jetzt für nichtig erklärten Tatbestand des § 217 StGB war die Unterstützung einer Selbsttötung selbst dann strafbar, wenn sie einem schwerstleidenden, unheilbar Kranken gewährt wurde, der flehentlich um die Erlösung aus seinem als unerträglich erlebten Zustand gebeten hatte.45 Mit seiner Entscheidung bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Kritik zahlreicher Autoren im wissenschaftlichen Schrifttum, die die Verfassungsmäßigkeit des § 217 StGB in Hinblick auf die grundgesetzliche Garantie der Menschenwürde in Zweifel gezogen hatten.46 Auch in anderen Bereichen der Rechtsprechung setzt sich die Auffassung, dass das verfassungsrechtliche Menschenwürde-Prinzip auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben gewährleistet, zunehmend durch. So hat das deutsche Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) kürzlich in einer aufsehenerregenden Entscheidung47 aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) für bestimmte Notlagen das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen auf Zugang zu einem Medikament bejaht, das eine risikolose und schmerzfreie Selbsttötung ermöglicht. Im Jahr 2019 hat der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) seine bisherige Rechtsprechung korrigiert, nach der Ärzte unter Strafandrohung verpflichtet waren, den freiverantwortlich und aus nachvollziehbaren Motiven unternommenen Suizidversuch eines Patienten zu unterbinden.48
BVerfG Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2020, 528 (m. Anm. Brunhöber). § 217 Abs. 1 StGB lautete: „Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ – Das Merkmal der „Geschäftsmäßigkeit“ setzte dabei keine Absicht der Gewinnerzielung voraus; es sollte nach den Gesetzesmaterialien bereits dann verwirklicht sein, wenn ein – selbst erstmaliges – Angebot in der Absicht erfolgte, die Tätigkeit in gleichartiger Weise zu wiederholen (näher Saliger in: Nomos-Kommentar zum StGB, 5. Aufl. 2017, § 217 Rn. 20). 46 Saliger in: Nomos-Kommentar zum StGB, 5. Aufl. 2017, § 217 Rn. 6 m. w. Nachw. 47 BVerwG Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2017, 2215. Dazu Kuhli, Verwaltungsrechtlicher Anspruch auf strafbare Suizidhilfe? Anmerkungen zur strafrechtlichen Konsequenz des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 2.3.2017–3 C 19.15, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 2017, 243; Neumann, Selbstbestimmung am Lebensende – ein möglicher Konflikt zwischen Justiz und Gesetzgebung, in: Festschrift für Rudolf Rengier zum 70 Geburtstag, 2018, 571; ders., Rechtstheoretische und -methodologische Aspekte der Diskussion zum Natriumpentobarbital-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, in: J. Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, 2019, 175. 48 BGH Strafverteidiger (StV) 2020, 106 und BGH StV 2020, 111. Dazu Engländer, Juristenzeitung (JZ) 2019, 1049; Hillenkamp, Juristenzeitung (JZ) 2019, 1053; Neumann, Strafverteidiger (StV) 2020, 126. 44 45
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
Ebenso wie bei der Frage des Rechts auf ein Existenzminimum gilt auch hier, dass auf der Grundlage eines Ansatzes, der die Menschenwürde als Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben (und Sterben) definiert, das verfassungsrechtliche Prinzip der Menschenwürde es verbietet, den Betroffenen zum Verharren in einer menschenunwürdigen Situation zu verurteilen. In der Tradition eines kantianischen Verständnisses der Menschenwürde erscheint es allerdings fernliegend, in einer schicksalhaft gegebenen Situation eine moralisch oder verfassungsrechtlich relevante Beeinträchtigung der Menschenwürde zu sehen. Denn hier fehlt es an einer Instrumentalisierung des Betroffenen, die mit Hilfe der Objektformel erfasst werden könnte. So wird im Verständnishorizont dieser Tradition denn auch argumentiert, der Tod und mit ihm auch die Möglichkeit qualvollen Sterbens seien „mit der menschlichen Existenz … ebenso ursprünglich verbunden wie die menschliche Würde selbst“; folglich könne das „schicksalhafte, sei es auch qualvolle Sterben, schwerlich als Verletzung der Menschenwürde begriffen werden“49. Das ist folgerichtig im Rahmen eines Ansatzes, der die Würde ontologisch als Eigenschaft des Menschen und das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Gebot versteht, diese Eigenschaft zu respektieren. Im Rahmen eines Modells, das das normative Prinzip der Menschenwürde auf die wechselseitige Anerkennung des Interesses an einem würdigen Leben gründet, überzeugt es nicht.50 3.
Menschenwürde als Ergebnis einer interessenbasierten Zuschreibung
Dieses Modell orientiert sich nicht an einer (vorgeblichen) metaphysischen Eigenschaft des Menschen, sondern an einem elementaren menschlichen Interesse: dem Interesse an einem Leben, das frei ist von schweren Demütigungen und menschenunwürdigen Lebensumständen. Das Recht, das dieses Interesse normativ absichert, wird konstituiert im Bereich gesellschaftlicher Verständigung, die ihre positiv-rechtliche Ausprägung in der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des MenschenwürdePrinzips findet. „Würde“ ist keine Eigenschaft, sondern das Ergebnis wechselseitiger Zuschreibung.51 Dass diese Zuschreibung normativ gut begründet ist, ergibt sich aus der Universalisierbarkeit des individuellen Interesses an respektvoller Behandlung.52 Anleihen bei religiösen oder metaphysischen Systemen mögen den Eindruck einer Kahlo, Sterbehilfe und Menschenwürde, in: Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70 Geburtstag, 2013, 711, 722. 50 Dies (mit Bezug auf das Konzept Hasso Hofmanns) konzedierend Kahlo aaO, 722 m. Fn. 46. 51 In diesem Sinne Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, 2001, 62; Hasso Hofmann (Fn. 27), 369; Hörnle (Fn. 15), 323; Neumann, Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet (2004), in: ders., Recht als Struktur und Argumentation Beiträge zur Theorie des Rechts und zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, 2008, 35, 53. 52 Ausf. Rekonstruktion unterschiedlicher Modelle einer diskurstheoretischen Begründung der Men49
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tiefgehenden Begründung der Menschenwürde erwecken; tatsächlich verdecken sie lediglich, dass es hier um (wohlbegründete) Akte zwischenmenschlicher Anerkennung geht. Richtig ist allerdings, dass die Diagnose „Verletzung der Menschenwürde“ bereits Vorannahmen über deren Schutzbereich voraussetzt. Im Rahmen eines lebensweltlichen Ansatzes ist dies aber unproblematisch. Es genügt, hier auf Erfahrungen zu verweisen, die als Beeinträchtigung der eigenen Würde erlebt werden. Neben schweren Demütigungen gehört dazu auch der Zwang, in menschenunwürdigen Lebensumständen zu verharren.53 In welchem Umfang der Staat durch das Rechtsprinzip der Menschenwürde verpflichtet wird, seine Bürgerinnen und Bürger vor Beeinträchtigungen ihrer Würde zu bewahren, ist eine Frage der Ausgestaltung der Rechtsordnung und damit politischer Entscheidungen. In einem Staat, der sich selbst als Sozialstaat versteht (Art. 20 Abs. 1 GG) und der die Aufgabe nicht nur der Achtung, sondern auch des Schutzes der Menschenwürde übernimmt (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), ist es folgerichtig, dass dem Einzelnen ein Rechtsanspruch auch auf Unterstützung in demütigenden Situationen zuerkannt wird, die nicht durch Handlungen anderer verursacht sind. Keinesfalls darf der Staat den Einzelnen daran hindern, sich selbst – etwa durch Inanspruchnahme freiwillig gewährter Hilfe zum Suizid – aus demütigenden Situationen zu befreien, soweit dadurch nicht Rechte Dritter verletzt werden. Dieses Ergebnis ist unabhängig von der Antwort auf die umstrittene Frage, ob man bereits in der demütigenden Situation selbst54 oder aber erst in der Verweigerung von Hilfe zur Befreiung aus dieser demütigenden Situation eine Verletzung der Menschenwürde erblickt. Richtig dürfte sein, hier zwischen der Beeinträchtigung der Menschenwürde einerseits, ihrer Verletzung andererseits zu differenzieren. Beeinträchtigt werden kann die Menschenwürde nicht nur durch Handlungen anderer, sondern auch durch Umstände, die der Betroffene als gravierende Beeinträchtigung seiner Autonomie erlebt – etwa in einer Situation extremer Armut oder schwersten, auch palliativmedizinisch nicht zu beherrschenden Leidens. Im Kontext dieser Feststellung bezeichnet „Menschenwürde“ keinen rechtlichen Anspruch, sondern eine (konkret: fehlende) Qualität des Lebens: dem Betroffenen ist die Möglichkeit genommen, ein Leben in Würde zu führen. Wenn wir von einer „Verletzung“ der Menschenwürde sprechen, beziehen wir uns aber nicht auf tatsächliche Lebensumstände, sondern auf eine normative Position. So, wie wir zwischen der faktischen Bewegungsfreiheit einerseits, dem entsprechenden Recht andererseits differenzieren, so müssen wir auch zwischen dem tatsächlich menschenwürde bei Saliger (Fn. 38), 267 ff. Vgl. auch Werner, Menschenwürde und Diskursethik, in: Joerden/ Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin (Fn. 36), 119 ff. 53 Dazu oben unter IV. 2. 54 So Hilgendorf (Fn. 32), 1653, 1659.
Interessen und Bedürfnisse als Basis des Prinzips der Menschenwürde
schenwürdigen Leben und dem Recht auf ein menschenwürdiges Leben unterscheiden. Wird jemand durch ein Erdbeben verschüttet, so ist seine Freiheit (als tatsächliches Potential) beeinträchtigt, nicht aber verletzt. Verletzt ist die Freiheit (dann: als Recht) möglicherweise dann, wenn ein anderer, der zur Hilfe verpflichtet wäre, sich weigert, den Verschütteten aus seiner Situation zu befreien. So wie die Freiheit kann auch die Menschenwürde nur durch eine Interaktion von zwei oder mehreren Individuen verletzt werden.55 Diese Interaktion kann aber auch in einem Unterlassen bestehen. Deshalb kann die Weigerung des Staates, in Fällen extremer Armut oder schwersten Leidens Hilfe zu leisten, gegen das Rechtsprinzip der Menschenwürde verstoßen. V.
Ausblick: Menschenwürde als „konventionelle“ Eigenschaft?
Nach den bisherigen Überlegungen liegt es nahe, auf die Vorstellung von einer allgemeinen menschlichen Eigenschaft, die als Würde bezeichnet werden könnte, zu verzichten. Für den Begriff der Menschenwürde blieben dann zwei Anwendungsbereiche. Er würde einerseits eine spezifische Dimension elementarer menschlicher Interessen56 bezeichnen (Interesse, nicht demütigender Behandlung ausgesetzt zu sein; Interesse an autonomer Lebensgestaltung), andererseits das Recht, hinsichtlich dieser Interessen geschützt zu werden. Damit wären die oben57 markierten Probleme eines metaphysischen Würdebegriffs vermieden. Erkenntnistheoretisch wäre dieses Modell unbedenklich, weil es sich auf eine erfahrbare soziale Dimension (Interessen) des Würdebegriffs einerseits, offengelegte Wertungen und normative Konsequenzen andererseits beschränken würde. Die Schutzbedürftigkeit dieser Interessen58 wäre für dieses Modell geradezu konstitutiv. Schließlich würden an die Stelle verdeckter Normativität59 offene Wertungen und normative Festlegungen treten. Wenn die Reduktion der Menschenwürde auf Interessen einerseits, Wertungen und Normierungen andererseits möglicherweise kontraintuitiv erscheint,60 so wäre dies
So zutreffend Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, Zeitschrift für Rechtsphilosophie (ZRph), 2008, 41, 57. 56 Paralleler Ansatz insoweit bei von der Pfordten, Menschenwürde, 2016: „Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Menschen“ als im Kontext der Menschenwürde normativ bedeutsame Eigenschaften (58). 57 Oben unter III. 3. 58 Oben unter III. 3. b). 59 Oben unter III. 3. c). 60 Im rechtsphilosophischen Schrifttum wird in Übereinstimmung mit der früher im Verfassungsrecht dominierenden Auffassung (dazu oben unter III.1.) auch heute noch verschiedentlich die Unverzichtbarkeit eines metaphysischen Menschenwürde-Verständnisses behauptet. So etwa von Kelker, Grundfragen eines Zusammenhangs zwischen Menschenwürde und Strafrecht, in: Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70 Geburtstag, 2011, 1673, 1684 f. Ebenso Tiedemann (in diesem Heft), der allerdings für ein Prinzip der „metaphysischen Sparsamkeit“ plädiert. 55
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noch kein Gegenargument. Gewichtiger erschiene der Einwand, dass Normen ihre Stabilität, ihre faktische Anerkennung vielfach gerade ihrer „kognitiven Basis“ verdanken – der Vorstellung also, dass es sich nicht um gesetzte und damit grundsätzlich dispositive Normierungen, sondern um Elemente einer vorgegebenen Ordnung handele.61 Konkret: Können wir auf die Vorstellung einer dem Menschen „eigenen“ Würde verzichten, ohne die soziale Geltung des Verbots der Verletzung der Menschenwürde zu schwächen? Aber auch, wenn wir diese Frage mit „nein“ beantworten müssen: der Rückweg zu einem metaphysischen Modell der Menschenwürde ist versperrt. Eine Lösung könnte darin liegen, das Modell der wechselseitigen Zuerkennung eines Anspruchs auf ein Leben in Würde kognitiv zu verstärken, indem es um die Zuerkennung einer Eigenschaft „Menschenwürde“ erweitert wird. Menschenwürde wäre dann als eine durch soziale Konventionen konstituierte Eigenschaft zu interpretieren – strukturell nicht anders verfasst als die durch soziale Regeln geschaffenen „institutionellen“ Tatsachen.62 Ich würde für ein solches Verständnis den Begriff der „konventionellen“ Tatsache vorschlagen. Als konventionelle Eigenschaft des Menschen wäre die Menschenwürde ein Faktum – aber ein sozial konstituiertes Faktum, nicht anders als die Rechtsfähigkeit oder die (grundsätzliche) Verantwortlichkeit für eigenes Handeln. Dass sich an diesem Punkt zahlreiche Fragen anschließen, liegt auf der Hand. Nicht zuletzt wäre zu diskutieren, ob eine offen als „konventionelle“ Eigenschaft ausgewiesene Menschenwürde hinsichtlich ihrer normstabilisierenden Wirkung die gleiche Leistungsfähigkeit zeigen würde wie ihr metaphysisches Pendant. Andererseits wäre die Argumentation: „Wir müssen einen metaphysischen Würdebegriff zugrunde legen, weil wir ansonsten die soziale Geltung des Prinzips der Menschenwürde gefährden“, mit Sicherheit selbstdestruktiv. Metaphysik lässt sich nicht über Zweckmäßigkeitserwägungen etablieren. Wenn wir es für unverzichtbar halten, Menschenwürde (auch) als Eigenschaft zu denken, dann scheint mir das Modell einer „konventionellen“ Eigenschaft eine diskutable Alternative zu bieten.63 Prof. em. Dr. Dres. h. c. Ulfrid Neumann
Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Theodor-W.-Adorno Platz 4, 60329 Frankfurt am Main.
Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens Zur Evolution der Kognition, 2006. Grundlegend: Searle, Sprechakte Ein sprachphilosophischer Essay, 1977 (engl. 1969); ders., Die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit Zur Ontologie sozialer Tatsachen, 1997 (engl. 1995). 63 Im Ansatz vergleichbar, aber terminologisch weiterhin dem Begriff der Metaphysik verhaftet, das Modell einer „konstruktiven“ Metaphysik bei Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), 15 ff. (dazu Feng in diesem Band). 61 62
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürde Orientiert an der Leiblichkeit und Sterblichkeit des Menschenseins MOTOTSUGU NISHINO (Nagoya/Japan)
Abstract: The four components of human dignity are disposition, self-identity, relation and viola-
tion. Each factor is not self-safficient, rather connected. There is interdependent and contradictory between them. We intend to seek a total structure of human dignitity. We ought to return a source, that its complex meanings originate. That is a actual Individual. He is fundamental conditioned by physical nature and mortality. We need to think two original states of human being through the emotion instead of reason. We aware of something irreplaceable in the mortal human being. In this emotion exists a root of human dignity. Keywords: four components of human dignity, an actual individual, physical nature, mortality, irreplaceable existence
Einleitung
Die Menschenwürde ist bisher in vielfältigen Dimensionen intensiv diskutiert und unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten erörtert worden. Der Würdebegriff steht einerseits für etwas durch Leistung Erworbenes, andererseits für etwas von Geburt an Gegebenes; einerseits etwas Exzeptionelles, andererseits etwas uns allen Gemeinsames1. Wir befinden sich noch in der tiefen Spaltungslage der Diskussionen um die Menschenwürde. Wie sollen wir uns damit auseinandersetzen? Zunächst lassen sich drei Diskussionsebenen unterscheiden: (a) das Erlebnis der geschichtlichen Grenzsituation, (b) die geistesgeschichtlichen Traditionen, (c) die Grundstruktur des menschlichen Seins.
Bernd Ladwig, Sich wichtig nehmen: Reflexionen zum Zusammenhang zwischen Würde und Menschenrechten, in: Menschenwürde und Demütigung, hg. von Eric Hilgendorf, 2013, 139. 1
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(a)Nach dem zweiten Weltkrieg sah sich das deutsche Volk mit der Überwindung des NS-Regimes konfrontiert, das den humanitären Mindeststandard in großem Umfang vernichtet hatte. Er hat sich dabei nicht auf die klassischen Menschenrechte, sondern auf das Prinzip der Menschenwürde berufen. Wir sollen diesen Sinn überlegen2. (b)Der Begriff der Menschenwürde ist nicht voraussetzungslos, sondern hat sich in den langen Traditionen der abenländischen Ideengeschichte herausgebildet. Der Sinngehalt der Menschenwürde bleibt ohne diesen Konzeptionen leer. Vor allem sind die Gedanken des Christentums und Kants Moralphilosophie wichtig. In der Gegenwart prägen neue andere Denkstile den Gehalt der Menschenwürde unterschiedlich. (c)Wenn man sich mit dem Thema „Menschenwürde“ beschäftigt, kann man nicht das Grundproblem, „Was sei der Mensch?“ umgehen. Der Begriff der Menschenwürde umfaßt das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrung3. In (a) geht es nur um die massiven Verletzungen der Menschenwürde von der Staatsgewalt in den extremsten Situationen. Aber der Gehalt der Menschenwürde ist nicht auf die fürchterlichen Formen der Menschenverachtung des totalitären Regimes beschränkt. Hier halte ich die Offenheit der Würde menschlichen Seins für wichtiger. I.
Versuche der Begriffsbestimmung der Menschenwürde
1.
Traditionelle Konzeptionen der Menschenwürde
Das Christentum sieht die Würde des Menschen darin, daß der Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist4. Mit der Gottesebenbildlichkeit weiß der Mensch, daß seine Auszeichnung in der Vernunftbegabung und dem freien Willen besteht. Dank seiner höheren Fähigkeiten kann der Mensch an der Schöpfung vom Gott teilnehmen und besitzt den herausragenden Rang in der Weltordnung. Die christliche Würde ist Gnadenerweis Gottes (Vorchristliche-säkulare Würde ist selbstverursacht). Würde als Gabe bezeichnet etwas Verliehenes und drückt folglich nicht die eigene, sondern die fremde Würde des Menschen aus. Sie bildet einen Charakter indelebilis5. Kant begründet die Würde auf die sittliche Autonomie in seiner praktischen Philosophie. Kant sucht die Prinzipien der Sittlichkeit völlig a priori, frei von allem Em-
Der Protest gegen die unsägliche Entwürdigung der Menschen durch die totalitären Gewalt des 20. Jahrhunderts dokumentiert die fundamentale Aussage von der gleichen Würde aller Menschen und gibt ihr die hohe Bedeutung und den Ausnahmecharakter. Die Menschenwürde war damals zuerst als Schutzwall gegen schwerste Formen von Mißhandlung, Verfolgung und Diskriminierung gedacht. Diese Reaktion prägte die frühe Formel des Bundesverfassungsgerichts. Vgl., Horst Dreier, Kommentierung von Art. 1 GG, in; Grundgesetz-Kommentar, hg. von H. Dreier, 2004, Rn. 39. 3 Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 22. 4 Johannes Messner, Was ist Menschenwürde? in: Internatinale Katholische Zeitschrift 6 (1977), 233. 5 Bernhard Giese, Das Würde-Konzept, 1973, 33 f. 2
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürd
pirischen, in reinen Vernunft6. Die Metaphysik der Sitten ist ganz isoliert von der Anthropologie (Methodendualismus der Trennung von Moralphilosophie und Anthropologie). Würde liegt in der Reinheit des sittlichen Begriffes. Das Vernuftwesen kann selber das allgemeingültige Moralgesetz unabhängig von der subjektiven Triebfeder geben. Kants Grundthese heißt die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens7. Der Mensch gibt sich selbst das allgemeine Gesetz und gehorcht ihm zugleich. Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernüftigen Natur8. Die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, ist dasjenige, was allein Würde hat9. Allein auf der Selbstgesetzgebung des autonomen Willens beruht die Sittlichkeit und Würde des Menschen. In Kants Konzeption von Würde handelt es sich um einen transzendentalen Begriff, der von allen empirischen Momenten absieht10. Eine Verletzung der Würde erscheint hier gar nicht möglich. 2.
Dynamische und offene Konzeption der Menschenwürde
Luhmann legt den Schwerpunkt nicht auf die Frage, was der Mensch ist, sondern auf die Frage, was der Mensch wird. Der Mensch ist nicht schon Person als Substanz, sondern wird erst Persönlichkeit, indem er sich darstellt11. Die Selbstidentifikation vollzieht sich nicht mehr innerhalb des Selbst, sondern im sozialen Kontakt mit den anderen. Würde und Freiheit bezeichnen Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit12. Freiheit und Würde sind Vorbedingungen dafür, daß der Mensch sich in diesem Sinne als Individuum sozialisieren (bzw. als Interaktionspartner individualisiren) kann. Die Begriffe von Freiheit und Würde sind werthaft formulierte Bezeichnungen für die Außen- bzw. Innen-problematik menschlicher Selbstdarstellungen. Der Mensch kann Würde aus
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1965. Kant (Fn. 6), 54. Kant (Fn. 6), 60. Kant (Fn. 6), 62. E. Fechner, Menschenwürde und generative Forschung und Technik, JZ 41 (1986), 654. Persönlichkeiten sind differenzierte Systemstrukturen. Ohne selbst eine struktuell differenzierte Einheit zu sein, könnte die menschliche Persönlichkeit sich nicht in einer differenzierten Umwelt als relativ autonomes System konstruieren. Unter den Begriffen „Persönlichkeit“ und „Selbstdarstellung“ wird eine hochkomplexe und differenzierte Struktur der Erlebnisverarbeitung verstanden, die weder in vollem Umfange bewusst, noch in vollem Umfange sozial dargestllt werden kann. Vgl., Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1986, 62, Anm. 24. 12 Luhmann, (Fn. 11), 61. Als Organismus ist der Mensch schon Individuum, aber nur individuelles Objekt. Er gewinnt selbstbewußte Individualität nur dadurch, daß er sich als Interaktionspartner selbst darstellt. Die Notwendigkeit und Bedingungen der Interaktion individualisieren und sozialisieren den Menschen zugleich. 6 7 8 9 10 11
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einem selbstbestimmten Verhalten durch die gelungene Identitätsbildung gewinnen. Selbstdarstellungen sind nicht von außen bedroht; sie sind in sich selbst schwierig und stets dem Scheitern nah. Sie ist stets eine selective Leistung. Mit jeder Kommunikation riskiert der Mensch seine Würde. Würde ist ein Wunschbegriff, der die gelungene Selbstdarstellung bezeichnet. Würde ist weder eine Naturausstattung noch ein Wert. Würde muß konstituiert werden. Sie ist das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, Darstellungsleistungen und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation. Würde ist eines der empfindlichsten menschlichen Güter, weil sie so stark generalisiert ist, daß alle Einzelheiten den ganzen Menschen betreffen. Wegen ihrer Exponiertheit ist sie einer der wichtigsten Schutzgegenstände der Verfassung13. Das liberale Verfassungsrecht hatte die äußeren Bedingungen der Selbstdarstellung, die Freiheitsproblematik, ernstgnommen, die internen Probleme der Würde dagegen ganz dem Individuum überlassen. Das Problem der Würde ist die Schwierigkeit einer konsistenten und überzeugenden Selbstdarstellung und die Eigenverantwortung des Menschen für die Lösung dieser Aufgabe. 3.
Relationale Konzeption der Menschenwürde
Würde wird überwiegend entweder als eine Qualität und eine Eigenschaft, d. h. als eine Seinsgegebenheit des Menschen, oder als eine Leistung des einzelnen gedacht. Würde konstituiert sich in sozialer Anerkennung durch positive Bewertung von sozialen Achtungsansprüchen. Würde ist mehr ein Relations- oder Kommunikationsbegriff als eine Kategorie der Mitmenschlichkeit des Individuums14. Würde ist in dem Staatsgründungsakt etwas, was die Menschen einander zusprechen, sich als Rechtsgenossen versprechen. Im wechselseitigen Versprechen wird ein gemeinsamer Sinn festgestellt, der allen Beteiligten Maßstab sein soll15. Die versprochene gegenseitige Anerkennung verbietet es, unter uns die Erniedrigung von Menschen zuzulassen. Das gegenseitige Versprechen, uns als in gleicher Weise würdige Mitglieder des Gemeinwesens anzuerkennen, schließt es folglich aus,
Luhmann, (Fn. 11), 67 ff. Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 1993, 7–12. Hofmann (Fn. 14),14 ff. Würde meint mehr als bloß wechselseitige Achtung des Lebens, der Unverletzlichkeit und der Freiheit im negativen Sinne gegenseitiger Ungestörtheit. Würde bedeutet gegenseitige Anerkennung des anderen in seiner Eigenart und individuellen Besonderheit. Das, was unsere Personhaftigkeit ausmacht, ist nicht nur das, was uns Menschen gemeinsam ist, sondern auch das, was uns in besonderer Weise als Individualitäten zu eigen ist. Der Staatsgründungsakt gegenseitiger Anerkennung menschlicher Achtungsansprüche vereint die beiden Legitimationsstränge des Grundgesetzes, den individuell-freiheitlichen und den egalitär-demokratischen. 13 14 15
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürd
irgendjemandem die Befugnis zuzugestehen, einem anderen Individuum diesen Status prinzipiell abzusprechen. Wir kehren noch einmal zum Gedanken der Solidalität in einer konkreten Anerkennungsgemeinschaft zurück16. 4.
Annähernde Umrisse der Menschenwürde vom Verletzungsvorgang her
Die positiven Bestimmungen der Menschenwürde versuchen die fundamentalen Momente für das Bestehen der Menschenwürde zu bestätigen und ihren Sinngehalt zu zeigen. Bei den Versuchen positiver Bestimmungen der Menschenwürde ist es sehr schwierig, eine einheitliche Konzeption wegen ihres fundamentalen Gegensatzes zu erlangen. Im Gegensatz dazu kann man sich einer anderen Interpretationsmethode bedienen, die den Inhalt der Menschenwürde gewissermaßen vom Verletzungsvorgang her, in fallweiser Konkretisierung zu erschließen versucht. Ihr Inhalt läßt sich für die Rechtspraxis am besten negativ vom Verletzungsvorgang her bestimmen. Dürig hat die Objektformel verfasst; Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird. Es geht um die Degradierung des Menschen zum Ding17. Die Verletzungsvorgänge, die den Menschen den anderen oder dem Staat ausliefern, lassen sich nur beispielhaft umschreiben. Folter, Sklaverei, Massenaustreibung, Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung und Ächtung sind eklatante Mißachtungen der Menschenwürde, bei denen der Mensch offnkundig auf die Ebene der Sache erniedrigt wird. Die Ent-Persönlichung bringen die Behandlungen, die in die ureigenste Intimsphäre des Individuums eingreifen können. Der Nachteil besteht darin, im konkreten Fall auf Evidenz und Konsens angewiesen zu sein. In Wirklichkeit gibt es nur wenige einschlägige Fälle. Die sog. Objektformel erscheint vage und leer. Jeder Mensch wird unvermeidlich als Mittel und nicht als Zweck von anderen Menschen in vielen Situationen des Soziallebens behandelt. Die Objektformel wird nicht nur als formale Zweck-Mittel-Relation verstanden, sondern als materialer, an der Autonomie des Menschen orientierter Grundsatz. Denn der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben.
16 17
Hofmann (Fn. 14), 20 f. Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 127 ff.
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II.
Die strukturellen Momente des Menschenwürde-Beriffs und ihre Konstellation
1.
Ihre Typisierung
Wenn man sich den Sinngehalt der Menschenwürde vorstellt, über Menschenwürde spricht und nachdenkt, scheint man sich gewöhnlich der fundamentalen Denkmuster zu bedienen, die oben beschrieben werden. Wir können vier Momente für die Strukturierung des Menschenwürdebegriffs wie folgt unterscheiden18: Eigenschafts-Moment (E.) Leistungs-Moment (L.) Relations-Moment (R.) Verletzungs-Moment (V.) 2.
Phasen ihrer Abhängigkeit und Inkompatibilität
Diese vier strukturelle Momente der Menschenwürde behalten je eigene Charakter. Sie sind aber nicht isoliert, vielmehr beziehen sie sich aufeinander. In (E) geht es um die allgemeine und unverlierbare Qualität des Menschen als solchen. Dieser Begriff der Menschenwürde orientiert sich an der abstrakten Substanz oder dem Subjekt unter dem statischen Aspekt. Dagegen suchen die andere strukturelle Momente (L.)(R.)(V.) zuerst etwas Faktisches und bilden sich prinzipiell auf den sozialen Interaktionen unter dem dynamischen Aspekt. Unter ihnen spielt das Subjekt-Moment in (L.) eine große Rolle. Die Selbstdarstellung ist der Vorgang, der den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden läßt. Die Würde ist hier abhängig vom Erfüllungsgrad der Selbstdarstellung und ist daher verändert. Die Würde ist eines der empfindlichsten menschlichen Güter. Wir können zwischen (E.) und (L.) die Polarität des Würdebegriffs: die unverlierbare Würde vs. die zerbrechliche Würde feststellen19. Man kann eine Gefahr annehmen, daß der rechtliche Schutz der Menschenwürde ausgehöhlt ist, wenn jemandem Darstellungsleistungen mißlingen. Die Leistungstheorie der geglückten Identitätsbildung zeigt ihre größte Schwäche auf dem Felde menschlicher Abnormitäten20. Man darf aber einen Zusammenhang dazwischen nicht übersehen: Es bedarf B. Ladwig unterscheidet vier Vewendungen des Würdebegriffs besonders um den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten klarzumachen: „perfektionistisch“, „statusbegründend“, „statusanzeigend“ und „veletzungsanzeigend“. Vgl. Ladwig (Fn. 1), 139. 19 Zwischen den beiden Argumenten bestehen die Kontraste wie folgt: der abstrakte oder ideelle Mensch vs. den konkreten oder realen Menschen; das statische Wesen vs. den dynamischen Prozess; de transzendentale Begriff vs. den empirischen Begriff. 20 Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 40 (1985), 207. 18
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürd
eines realen Trägers um die Vernunft tatsächlich fuktionieren zu lassen; Es bedarf einiger Fähigkeiten wie Vernuft oder Wille um die Selbstdarstellung zu ermöglichen21. (R.) sieht die Menschenwürde in der Kommunikation in der Wechselbeziehung. (R.) steht im Gegensatz zu (E.) und (L.), weil diese sich beide auf das Subjekt hin orientieren. (R.) muß aber eine Person mit Vernunft und freien Willen oder ein selbstdarstellungsfähige Wesen voraussetzen, um die Anerkennung zu ermöglichen. Andererseits brauchen (E.) und (L.) eine wirkliche Grundlage, um das bestimmte Vermögen wirken zu lassen. In diesem Sinn können sich die drei Momente miteinander kombinieren. 3.
Die schwierige Umstände hinsichtlich des Verletzungsmomentes
Es geht bei (L.) und (R.) um die positive Bestimmung der Menschenwürde, aber bei (V.) um die negative Bestimmung der Menschenwürde. Zwischen diesen Positionen gibt es Gemeinsamkeiten in den Intentionen auf die gegenseitigen Beziehungen des Menschen und in der dynamischen Betrachtungsweise. Die Selbstdarstellung oder die gegenseitige Anerkennung kann tatsächlich von außen gestört werden bzw. selbst misslingen. Aus diesen allen folgt aber nicht notwendig die Verletzung der Menschenwürde. Man muß fragen, was die Verletzung der Menschenwürde charakterisiert. Im konkreten Fall war man oft auf Evidenz und Konsens angewiesen. Dies reicht für einen zentralen Bereich einschlägiger Fälle (Folter, Erniedrigung, Ächtung etc.) aus. Angesichts neuerer und subtilerer Probleme ist die Strategie nicht ausreichend. Nun scheint (V.) nicht einfach mit (E.) zu tun haben. Würde im Sinn von (E.) kann gar nicht von außen verletzt werden, weil (E.) ein transzendentaler Begriff ist. (E.)und (V.) sind inkompatibel. Nach der Ordnung der Sache soll man vorranglich eine verletzbare Würde oder ein Würde besitzendes Wesen annehmen können, damit man die Würde wirklich verletzen kann (um die Verletzung der Menschenwürde sprechen zu können)22. Was tatsächlich verletzt werden kann, ist nicht die Vernunft an sich, sondern nur ein Subjekt mit der Vernunft. Für die Verletzungsmöglichkeit der Würde ist es unentbehrlich, daß es im Voraus eine bestimmte Person, die verletzt werden kann, gibt [die ontologische Voraussetzung für die Verletzung der Würde]. Nach Hasso Hofmann besteht kein fundamentaler Gegensatz zwischen der Mitgifttheorie und der Leistungstheorie. Denn beide beruhen auf dem Prinzip der Personhaftigkeit des Menschen, der Subjektivität des Individuums und dem Prinzip der Autonomie des einzelnen. Vgl. Hofmann (Fn. 14), 7. 22 Die Vorstellung von der Achtung vor dem Menschen ist eine unerläßliche Voraussetzung der Demütigung. Ohne dieses Konzept wäre ein absichtlicher Akt der Entwürdigung gar nicht möglich. – Demütigung ist somit ein Begriff, der auf seinen Gegenbegriff angewiesen ist, und dieser lautet Achtung. Nur wenn wir über einen Begriff menschlicher Würde verfügen, können wir auch erfassen, was Entwürdigung heißt. Vgl., Avishai Margalit, Politik der Würde, 2012, 152. 21
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Was bedeutet die Sache der Verletzung der Menschenwürde? Der Sinn der Verletzung der Menschenwürde ist gleichbedeutend mit der bloßen Negation des positiven Begriffes der Menschenwürde? Wie kann man den positiven Gehalt der Menschenwürde von ihrer Verletzung herleiten? Um die Verletzung der Menschenwürde feststellen zu können, wird man über ein Vorverständnis vom Sinn der Menschenwürde verfügen müssen [die hermeneutische Voraussetzung für die Verletzung der Menschenwürde]. Was unterscheidet überhaupt die Verletzung der Menschenwürde von der gewöhnlichen Rechtsverletzung? Die Degradierung des Menschen zum Ding oder nicht? Man muß einerseits die Handlungs-Modalität und das Motiv dafür seitens des Verletzers und andererseits die leiblichen und seelischen Schäden beim Verletzten berücksichtigen23. Eigentlich kann Würde nicht konstant und unverletzbar, sondern schwächlich und zerbrechlich sein. Wegen menschlicher Vulnerabilität. Umgekehrt haben wir die Menschenwürde für umso bedeutsamer anzunehmen und dann sie normativ zu schützen. III.
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürde unter den Aspekten der Leiblichkeit und Sterblichkeit
Jedes strukturelle Moment der Menschenwürde ist nicht vollständig an sich und kann sich im Zusammenhang mit den anderen erhalten. Wir sollen die Komplexität der Sinnfaktoren der Menschenwürde überblicken und dann intentional die weitere Perspektive eröffnen. Dabei gilt es, zu einem Ursprung zurückzukehren, aus dem vier Strukturmomente von Menschenwürde herkommen. Um ihr Vermögen oder ihre Funktion wirken zu lassen, muß ein wirkliches Individuum, das sie in sich trägt, vorausgesetzt werden. Es ist Leiblichkeit, was ihm Realität geben und sich von den anderen unterscheiden kann. Wir thematisieren aufs Neue das einheitliche Wesen mit Seele und Leib. Dieses ganzheitliche Seinskönnen begrenzt und bestimmt endgültig die Sterblichkeit. Wenn diese gar nicht mit dem Menschen zu tun hätte, könnte man kein Interesse daran nehmen. Man soll auf die Grundstruktur des realen Menschen schauen und insbesondere Leiblichkeit und Sterblichkeit des Menschseins reflektieren. Dafür sollen wir eine neue Denkrichtung suchen. Die oben bezeichneten Gehalte der Menschenwürde gründen sich auf den kognitivistischen Standpunkt, der von der Allherrschaft der Vernunft ausgeht. Um diese Begrenztheit zu durchbrechen, müssen wir in die Dimension eintreten, die die traditionellen Methoden der Philosophie nicht in den Blick genommen Zur Demütigung gehört eine existentielle Bedrohung, weil der Täter … über sein Opfer Macht ausübt. Ein wesentlicher Bestandteil der Demütigung ist, daß der Täter seinem Opfer das Gefühl totalen Ausgeliefertseins vermittelt. Die Hilf- und Wehr-losigkeit des Opfers manifestiert sich in der Angst, nicht mehr für die eigenen lebenswichtigen Interessen sorgen zu können. Vgl., Margalit, (Fn. 22), 127. 23
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürd
haben. Wir mögen die Erfahrungsmöglichkeit beachten, die in der Gestimmtheit oder der Befindlichkeit liegt24. Es gibt eine Möglichkeit des Weges innerhalb des Bereichs unserer Gestimmtheit oder Befindlichkeit, der der Endlichkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins innewird. 1.
Leiblichkeit als die tragende Basis der Menschenwürde
a)
Das Werk eines japanischen Pioniers
Prof. Kyo Tsunetoh, ein japanischer repräsentativer Rechtsphilosoph (1888–1967), kritisiert Kants Gedanke von der Würde der Person und versucht aufs neue die Würde des Individuums angesichts der rechtlichen Wandlung nach dem zweiten Weltkrieg zu begründen25. Vom Standpunkt des reinen Vernunft-Denkens konzipiert Kant zwar die Würde der Person anhand der Heiligkeit des sittlichen Gesetzes, des allgemein gesetzgebenden Willens (sittlicher Autonomie) und dem vernünftigen Wesen als Person (Zweck an sich), aber er erkennt eine Würde im einzelnen Menschsein nicht an. Das geistige Sein und das leibliche Sein von Menschen bestehen in den engen Abhängigkeitsverhältnissen und gestalten eine unteilbare Einheit. Die Grundlage der Würde des Individuums bildet das wirkliche Sein des Individuums mit diesem Grundcharakter. Tsunetoh begründet die Würde des Individuums nicht auf die Ebene des abstrakten und isolierten Individuums vom aufklärischen Standpunkt her, sondern auf der Ebene des gesamten Seins des wirklichen Individuums in der Welt. Das geistige und leibliche Sein bemüht sich darum, die neue Basis der Menschenwürde nicht auf das allgemeine Vernuftwesen, sondern auf die gesamte Struktur des konkreten Menschen in der Welt zu stützen. b)
Rückkehr zur Leiblichkeit des Menschen
In der in organischen Strukturen wurzelnden Leiblichkeit treten die fundamentalen Phasen des Lebens des Menschen auf: Geburt, Erwachsen, Krankheit, Alter, Tod. In ihr ziehen sich Verletzlichkeit oder Hinfälligkeit, ja sogar schicksalhafte Endlichkeit hindurch. Wenn man über die Verletzung der Menschenwürde spricht, betrifft das dadurch geschädigte Objekt nicht Vernunft oder freie Wille als solche, sondern das
Husserl zeigt, daß es eine dem Erkennen vorausliegende ursprüngliche Dimension vorreflexiven, vorprädikativen Verstehens gibt. Heidegger zeigt, daß es eine dieses ursprüngliche Verstehen begleitende, ursprünglich erschließende Befindlichkeit oder Gestimmtheit gibt, die dem Menschen sein eigenes Sein eröffnet. 25 Kyo Tsunetoh, Kojin no Songen (Die Würde des Individuums), in: Kyo Tsunetoh, Ho no Seisin (Geist des Rechts) 1969, 169–201. 24
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leibliche Wesen, das Vernunft oder freie Wille in sich trägt. Nicht Personalität, sondern die leibhaftige Person gerät in eine Notlage und ist in dieser härtesten Umständen ausgeliefert26. Ohne die leibliche Präsenz eines Menschen können wir seine Würde gar nicht erfahren. Würde realisiert sich nicht in einem abstrakten reinen Willen, sondern im Willen der Person, insofern er auch ihre Leiblichkeit und Emotionalität integriert hat. Der Leib wird zum organischen Träger der Würde. Der menschliche Körper ist von Anfang an nicht nur ein beliebiger biologischer Organismus, der zusätzlich personal geprägt und kultiviert wird. Er ist vielmehr selbst von seiner organsichen Struktur her so geartet, daß er diese Personalität und Freiheit ermöglicht. Er ist angelegt auf die interpersonale Beziehung, etwa durch die dem Baby von Geburt an mögliche Nachahmung der Mimik anderer, durch das biologisch veankekerte Bindungssystem, durch die Befähigung zur Sprache und zur Perspektivenübernahme und Selbstreflexion. Seine besondere Potentialität und Plastizität macht den Leib zum natürlichen Organ der Person. Die unbedingte Achtung vor dem Anderen bedeutet wesentlich, ihn in seinem leiblich-organischen Selbstsein zu achten. In der leiblichen Gestalt liegt die Inkarnation seiner personalen Freiheit. Die Person realisiert sich nur durch ihren Leib: Er ist nicht bloß das Vehikel einer transzendentalen Vernunft, sondern selbst lebendiger und sichtbarer Träger der Würde. Nicht als äußerer Körper, sondern als natürliches Subjekt liegt der Leib meinen bewußten und reflektierenden Akten voraus und zugrunde. Leiblichkeit bedeutet nicht eine äußerliche Beziehung zwischen einem organischen Substrat und einem psychischen oder geistigen Überbau. Vielmehr sind Organisches und Psychisches durchdrungen und getragen von ein und derselben Bewegung der Existenz, die sich ebenso in der Leiblichkeit wie in den seelisch-geistigen Leistungen realisiert. Wir gewinnen den Begriff einer leibhaftigen Vernunft, die dem Leib nicht gegenübersteht, sondern durch ihn ermöglicht wird27. 2.
Endlichkeit (Sterblichkeit) als Ansatz zur Erschließung des Sinnes der menschlichen Würde
a)
Der neue Horizont der Sterblichkeit in einer an Emotionen orientierten Denkweise
Es gibt auch für jeden, der nicht gläubig oder nicht mehr metaphysisch orientiert ist, etwas absolut Gewisses: er als ein Sterblicher geboren wurde. Die Tatsache unseres eigenen Sterblichseins hat für uns eine merkwürdige Gewissheit. Der Tod bedeutet
26 27
Thomas Fuchs, Die Würde des menschlichen Leibes, 2008, 202–204. Fuchs, (Fn. 26), 211–217.
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hier weder das Ende des Lebens noch die Verwesung des Leibes. Der Tod ist nicht als der Gegensatz zum Leben gemeint. Es ist vielmehr der Tod in dem Sinne, in dem wir ihn erfahren können. Jeder kann dessen innewerden, daß er ein Sterblicher in dem Sinne ist, daß er von Geburt an und in jeder Stunde seines Lebens dem Tod überantwortet ist28. Wie taucht das Phänomen der Sterblichkeitserfahrung durch die Gestimmtheit oder die Befindlichkeit auf? Wir können uns auf die beide Versuche von Martin Heidegger und von Werner Marx beziehen. [Heideggers Weg] In der Alltäglichkeit verdeckt aber man das Eigentümliche der Gewissheit des Todes29. Faktisch verhält sich das Dasein30 zunächst und zumeist in einem uneigentlichen Sein zum Tode. Es gilt, das Sein zum Tode als ein Sein zu einer ausgezeichneten Möglichkeit des Daseins zu kennzeichnen. Das Sein zur Möglichkeit als Sein zum Tode soll zu ihm sich so verhalten, daß der Tod sich in diesem Sein als Möglichkeit enthüllt. Solches Sein zur Möglichkeit heißt Vorlaufen in die Möglichkeit. Das Vorlaufen erweist sich als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinskönnens d. h. als Möglichkeit eigentlicher Existenz31. Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins. Das Sein zu ihr erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinskönnen. Die eigenste Möglichkeit ist eine unbezügliche. Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Die eigenste, unbezügliche Möglichkeit ist unüberholbar. Die eigenste, unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit ist gewiß. Die eigenste, unbezügliche, unüberholbare und gewisse Möglichkeit ist hinsichtlich der Gewißheit unbestimmt32. Das Vorlaufen vereinzelt das Dasein und läßt der Ganzheit seines Seinkönnens in dieser Vereinzelung seiner selbst gewiß werden. Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, es selbst zu sein. Werner Marx, Ethos und Lebenswelt, 1986, 15–17. Die Öffentlichkeit des alltäglichen Miteinander kennt den Tod als Todesfall. Der Tod begegnet als bekanntes innerweltlich vorkommendes Ereignis. Die „flüchtige“ Rede will darüber sagen: man stirbt am Ende auch einmal, aber zunächst bleibt man selbst unbetroffen. Das alltägliche Sein zum Tod ist als verfallendes eine ständige Flucht vor ihm. Im „auch einmal, aber vorläufig noch nicht“ gibt die Alltäglichkeit so etwas wie eine Gewißheit des Todes zu. Man sagt: es ist gewiß, daß der Tod kommt. Man erfährt doch täglich das Sterben Anderer. Der Tod ist eine unleugbare „Erfahrungstatsache“. Vgl. Matin Heidegger, Sein und Zeit, 1972, 252–255. 30 Zur ontologischen Struktur des Daseins gehört Seinsverständnis. Befindlichkeit und Verstehen konstituieren die Seinsart dieser Erschlossenheit. Eine der weitergehendsten und ursprünglichsten Erschließungsmöglichkeiten ist Angst. Existentialität, Faktizität und Verfallensein bilden den fundamentalen ontologischen Charakter des Daseins. In ihnen webt ein ursprünglicher Zusammenhang, der die gesuchte Ganzheit des Strukturganzen ausmacht. Zur Seinsverfassung des Daseins gehört Erschlossenheit, Geworfenheit und Entwurf. Vgl., Heidegger, (Fn. 29), 182–191. 31 Heidegger, (Fn. 29), 262–263. 32 Heidegger, (Fn. 29), 263–264. 28 29
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Die Selbstheit des Daseins wurde formal als eine Weise zu existieren bestimmt. Das Wer des Daseins ist zumeist nicht ich selbst, sondern das Man-selbst. Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existentielle Modifikation des Man. Die existentielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen33. Dasein existiert doch immer faktisch. Es ist kein freischwebendes Sichentwerfen, sondern durch die Geworfenheit bestimmt als Faktum des Seienden, da es schon wurde und ständig der Existenz überantwortet bleibt. Daß es faktisch ist, mag hinsichtlich des Warum verborgen sein, das „Daß“ selbst jedoch ist dem Dasein erschlossen. In der Angst befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz. Die Geworfenheit des Seienden gehört zur Erschlossenheit des „Da“ und enthüllt sich ständig in der jeweiligen Befindlichkeit. In der Angst befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz. Die Unheimlichkeit enthüllt sich eigentlich in der Grundbefindlichkeit der Angst34. [Marxs Weg] Derjenige, der der Tatsache seines Sterblichseins unausweichlich begegnet ist, erfährt diese mit anhaltendem Schrecken und Entsetzen. Der entsetzte Schrecken vermag die Gestimmtheit der Gleichgültigkeit in der Alltäglichkeit völlig aufzuheben und in die äußerste Verlassenheit und Hilflosigkeit zu führen. Mit dieser Gestimmtheit beginnt eine neue Strecke des Erfahrungsweges. Wenn das Entsetzen über sein ständiges Sterben ihn in die Gestimmtheit des Verlassenseins und der Isolation getrieben hat, kann die Sehnsucht nach Gemeinschaft im Menschen wieder wach werden. Diese im Dasein gründende Möglichkeit, sich auf gestimmte und intuitiv verstehende Weise35 zu den anderen zu verhalten, nennt W. Marx das „Mit-Leiden-Können“. Es ist das dem Menschen gegebene Vermögen, am Leben schlechthin und an der dem Leben zugehörigen Vergänglichkeit mitleiden zu können. Das in einem Dasein erschlossene MitLeiden-Können äußert sich als eine eigentümliche Kraft36. Ich erkenne den anderen als Meinesgleichen an. Der Mitmensch ist so in seinem Wesen wie ich. Der von A bemitleidete B erfährt sich als des Mitleids würdig, und es könnte sich in ihm die Bereit-
Heidegger, (Fn. 29), 267–269. Heidegger, (Fn. 29), 276–277. Es gibt ein nichtsinnliches Wahrnehmen in der Gestalt eines „Sehens“, das vor allen diskursiven Überlegungen und jedem ausdrücklichen Urteilen liegt. Dieses Sehen läßt sich als eine „intuitive sehende Vernunft“ heißen. Der emotionale Nähe zu den Nächsten entspricht eine bestimmmte Weise, sie intuitive vernünftig zu sehen. Vgl., Marx, (Fn. 28), 22–23. 36 Diese Gestalten, welche die philosophysche Tradition als Tugenden zu bestimmen suchte, vermögen durch die wirksam gewordene Kraft des Mit-Leiden-Könnens zu ihrer vollen Ausbildung zu gelangen. Die wirkende Kraft des Mit-Leiden-Könnens ist das Maß, das die einzelnen Gestalten wie Anerkennung, Mitleid und Nächstenliebe durch und durch bestimmt. Die anteilnehmende Zuwendung zu einem Mitmenschen als dem anderen meiner selbst durchläuft viele Grade. Vgl., Marx, (Fn. 28), 24–26. 33 34 35
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schaft entfalten, dieser bisher von ihm nie erfahrenen Würde zu entsprechen. A geht in die Richtung, die ihn dahin bringt, seines Sterblichseins inne zu werden und ihn dann zu der Einsicht führt, daß all die anderen, ebenso dem Tode überantwortet, Sterbliche, somit Schicksalsgenossen sind. Es gehört zur Wahrheit menschlichen Seins daß ein jeder der Möglichkeit überantwortet ist, leidend zu sein. Die Bereitschaft des B, das Leiden nicht nur mit einem A, sondern mit jedem anderen zu teilen, ist genauso im Sein des Menschen angelegt, wie die seines Sterbenmüssen. In diesen Phänomenen läßt sich zeigen, daß es immer eine gestimmte Intersubjektivität gibt37. [Vergleich von Heidegger und Marx] Heideggers Philosophie besteht aus der Polarität: einerseits Alltäglichkeit, Mitsein, Verfallensein und andererseits Existentialität, Selbstsein, Eigentlichkeit. Der Mensch ist zumeist und zunächst das Man (Mitsein) in der Welt, das in Gerede, Neugier und Zweideutigkeit verfallen ist. Im Vorlaufen zum Seinskönnen zum Tode kann sich der Mensch zum eigentlichen Selbstsein erhöhen. Dadurch muß er zugleich auf die Geworfenheit des Seins zum Tode stoßen. Er kann diese Geworfenheit nicht überholen, in der die Unheimlichkeit gestimmt ist. Die Erfahrung kann nur das eigentliche Selbstsein bekommen, das vom anderen getrennt ist. Im Gegensatz zu Heideggers Intention nach dem isolierten Selbstsein nimmt Marx die Mitmenschlichkeit als grundlegend an. Von der Erfahrungsmöglichkeit der Sterblichkeit wird der Mensch der Verlassenheit und der Hilflosigkeit inne und es erwächst eine Solidarität. Marx betont das Mitleidenkönnen für die Vergänglichkeit des Menschenseins. Das wird uns zu der Einsicht führen, daß die andere so wie ich gleich sind und alle zusammen den Tod überantwortet werden, sozusagen Schicksalgenossen sind. Marx verfolgt eine Möglichkeit der nicht-metaphysischen Nächstenethik, die zu den alten Tugenden der Liebe, des Mitleids und der Gerechtigkeit hinführen kann. Ich möchte einen Weg suchen, der die beiden philosophischen Beiträge komplementär verwerten und ihre Standpunkte weiter vertiefen kann. b)
Eine Wendung von der Vergänglichkeit zur Unersetzbarkeit meines Daseins
Von meinem Erlebnis, daß ich mich dem ständigen Vergehen meines Daseins überantworten muß, konstruiert sich die Stimmung der Vergänglichkeit. Man kann zwar leicht daraus zum Nihilismus kommen. Aber durch die Emotion der Vergänglichkeit kann man paradoxerweise auch von der Unersetzbarkeit meines Daseins gestimmt werden38. Mein Sein ist eigentlich schon da vor meinem Wollen und ist gar kein Produkt Marx, (Fn. 28), 25–29. Das Seinskönnen zum Tode stellt uns vor dem Nichts. Wir sehen uns gezwungen, das Schicksal des Todes stillschweigend hinzunehmen. Die Geworfenheit zum Tode verursacht zwar die Stimmung der Un37 38
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meines Wollens. Könnte diese geworfene Struktur meines Daseins nicht die ontologische Grundlage liefern, um über mein Dasein nicht verfügen zu können? Könnte daraus nicht doch ein sogenanntes Sinn wie Ehrfurcht (vor dem Leben) erweckt werden? c)
Die durch die Schicksalgemeinschaft der Sterblichen konsttituierte Stimmung
In der Mitwelt ermöglicht mir die Stimmung der Vergänglichkeit in meinem Dasein, die anderen nicht mehr als Vorhandene wie Dinge zu sehen, sondern als den der Endlichkeit überantworteten Sterblichen zu sehen. Ich kann die anderen als die dasselbe Schicksal wie meines übernehmenden Mitmenschen verstehen, weil ich die Vergänglichkeit des Lebens erleiden kann, die sowohl mir als auch den anderen in gleicher Weise auferlegt ist. Wenn das Mitleid nicht nur mir, sondern auch den anderen zuteil wird, werden die Emotion der Unersetzbarkeit meines Lebens und des der anderen und dann der Sinn der Erfurcht davor intersubjektiv entstehen. Das Begegnen miteinander aus Mitleid für das uns alle ergreifende Schicksal ermöglicht erst, das Mitsein lebendig zu machen und ontologisch zu begründen. Schließlich scheint es mir, daß die Würde des Menschen in der durch die Schicksalsgemeinschaft des Sterblichen konstituierten Stimmung steckt. Schluss
Man kann den Begriff der Menschenwürde nicht mit einer einfachen Formel bestimmen. Die Komplexität des Menschenwürdebegriffs darf nicht negativ bewertet werden, sondern muss vielmehr positiv aufgenommen werden. Dadurch soll man weiter eine umfassendere Perspektive anstreben39. Man darf bei diesen Punkt nicht stehen
heimlichkeit, weil jeder zuletzt auf das Nichts hinausläuft. Wir dürfen aber nicht übersehen, daß nur ein Seiendes zum Nichts werden kann. Vor allem muß die Existenz des individuellen Menschen vorausgesetzt werden, um das Nichts thematisieren zu können. Im Gegenlicht vom Tode kann jeder der Einmaligkeit seines Lebens innewerden und seine Unersetzbarkeit wahrnehmen. 39 Maihofer begreift den Menschen nicht in der Abstraktion, sondern aus „dem Seindes Menschen im Verhältnis zum Menschen, wie er wirklich alltäglich in der Welt lebt“. Von diesem Gesichtspunkt stellt sich uns „das Ganze des Menschlichen als ein Zusammenhang verschiedener Aspekte und Dimensionen“ dar, welche die Menschen in je konkreter Situation konstituieren. Der Mensch im Verhältnis zum Menschen erscheint in folgenden drei Dimensionen: in der ersten Dimension des Menschsein überhaupt, das jeden Menschen wie alle anderen zum Menschen macht, in der zweiten Dimension des Alsseins, das sein Sein als ein bestimmter Jemand ausmacht, und in der dritten Dimension des Selbstseins, das diesen Menschen von allen anderen Menschen unterscheidet. Der Mensch besteht aus dem abstrakten Gattungswesen mit der Humanität, dem konkreten Sozialwesen mit der Sozialität und dem konkreten Individualssein mit der Singularität. Diese universale und integrale Individualität des Menschen kann durch das Recht in diesen
Ein Versuch zur Grundlegung der Menschenwürd
bleiben. Denn man braucht ein tragendes Fundament, unter dem die Strukturfaktoren der Menschenwürde miteinander zusammenhängen und ohne das sie nicht allein wirken können. Er ist nämlich die Existenz des realen Individuums. Indem man seine fundamentale Seinsverfassung, d. h. Leiblichkeit und Endlichkeit weiter reflektiert, wird der ganzheitliche und ursprüngliche Horizont der Menschenwürde eröffnet werden40. Dafür ist man nicht mehr auf die bisherige Vernunft-Position wie die transzendentale Analytik und das funktionale bzw. relationale Denken angewiesen, sondern man soll sich eines emotionalen Zugangs bedienen. Die Menschenwürde eröffnet sich vielmehr in der Gestimmtheit von seinem eigenen Seinskönnen zum Tode. Prof. Dr. Mototsugu Nishino
Juristische Fakultät (Aichi Universität), Hiraike-cho 4-60-6, Nakamura-ku, Nagoya 453–8777, Japan, [email protected]
verschiedenen Hinsichten nur auf eine unterschiedliche Weise gewährleistet warden: durch Freigabe des Selbstseins, durch Vorgabe des Alsseins und durch Aufgabe des Menschseins in allen Verhältnissen zwischen Menschen. Die Würde des Menschen muß deshalb mehrseitig entsprechend der komplexen Seinstruktur des Menschen aufgefaßt werden. Vgl. Werner Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, 49–53. 40 Darin können wir von der Konzeption der Würde als gelungene Selbstdarstellung zum existentialen Entwurf des eigensten Seinskönnen zum Tode und zugleich von der Konzeption der Würde als gegenseitige Anerkennung zu Mitleidenkönnen der Vergänglichkeit des Sterblichens emotional vertiefen. Es braucht die Voraussetzung der Existenz des Würde-besitzenden Menschen, um von der Verletzung der Menschenwürde sprechen zu können. Würde ist nicht die Eigenschaft, die dem Menschen innewohnt, sondern ist vom Mitleiden der Vergänglichkeit des Sterblichens gestimmt.
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Brüchigkeit der Menschenwürde MARIJAN PAV Č NIK (Ljubljana)
Abstract: The paper deals with some aspects disclosed by the Decision of the Constitutional Court
of the Republik Slovenia of 2011 in the matter Tito Street (U-I-109/10). The Decision repealed Art. 2 of the Ordinance, by which the Municipality Ljubljana decided that a street should be named Tito Street. The fundamental argument of the Decision was that the name of Josip Broz Tito (1892–1980) was a symbol of the totalitarian regime in the former Yugoslavia. The Constitutional Court reasoned that the repealed Ordinance was issued in 2009, i. e. eighteen years after Slovenia had become independent and established a constitutional order “based on constitutional values contrary to the values of the regime before the independence”. Such new namings were contrary to the principle of respecting human dignity having its basis in the constitutional principle that Slovenia was a democratic republic (Art. 1 of the Constitution of the Republic Slovenia). Human dignity and democracy are an important pair. Their connection does not lie in that human dignity would necessarily result from the principle of democracy, but in that human dignity as the central element of constitutional democracy contentually binds the forms of democratic decisionmaking. The closer this connection is and the more intensively the democratic decision-making strengthens and deepens the dimensions of human dignity, the higher the quality of the democracy based on human dignity is. Keywords: human dignity, constitutional interpretation, interpretation of basic rights, constitutional democracy, rule of law
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I.
Entscheidung U-I-109/10–11 des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien
1. Der nachfolgende Kommentar befasst sich mit einigen Gesichtspunkten, die durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien (in der Fortsetzung: VerfGERS) aus dem Jahr 2011 in der Angelegenheit Titostraße eröffnet wurden.1 Diese Entscheidung hob den Artikel 2 des Erlasses, mit dem die Stadtgemeinde Ljubljana die Neubenennung einer Straße mit dem Namen Titostraße bestimmt hatte, auf. Das tragende Argument der Entscheidung war es, dass der Name von Josip Broz Tito das totalitäre Regime im ehemaligen Jugoslawien symbolisiert. In der Entscheidung heißt es, dass „die Neueinführung einer nach Josip Broz Tito als Symbol des jugoslawischen kommunistischen Regimes benannten Straße objektiv als eine Auszeichnung des ehemaligen undemokratischen Regimes verstanden werden könnte.“ 2. In der Begründung der Entscheidung wird dieses tragende Argument eingehender aufgegliedert. Eine charakteristische Stelle: „In der Republik Slowenien, wo die Entwicklung der Demokratie und einer auf der Achtung der Menschenwürde beruhenden freien Gesellschaft durch den Bruch mit der vorherigen Ordnung begann, ist eine obrigkeitliche Verherrlichung des kommunistischen totalitären Regimes durch Benennung einer Straße nach dem Führer dieses Regimes verfassungswidrig. Die Benennung einer Straße nach Josip Broz Tito ist nämlich keine Benennung, die sich noch aus der ehemaligen Ordnung erhalten hätte und heute nur ein Teil der Geschichte wäre. Der angefochtene Erlass wurde 2009 verabschiedet, also achtzehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Konstituierung einer Verfassungsordnung, basierend auf Verfassungswerten, die den Werten des Regimes vor der Unabhängigkeit widersprechen. Solchen Neubenennungen sollte man in heutiger Zeit keinen Raum mehr geben, da sie dem Prinzip der Achtung der Menschenwürde, das seine Grundlage in Art. 1 der Verfassung hat und zum wahren Kern der Verfassungsordnung der Republik Slowenien gehört, widersprechen.“
II.
Einige offene Fragen
3. Die slowenische Verfassung enthält keine ausdrückliche Erklärung über Menschenwürde, doch diese kann unbestreitbar aus einer Reihe von Verfassungsbestimmungen abgeleitet werden. Das VerfGERS ordnet „das Prinzip der Achtung der MenschenwürDer Text der Entscheidung U-I-109/10 (zusammen mit Sondervoten) wurde ins Englische übersetzt und an erster Stelle in den ausgewählten Entscheidungen des VerfGERS zu seinem 25-jährigen Jubiläum veröffentlicht. Siehe Constitutional Court of the Republic of Slovenia. Selected Decisions (1991–2015), 2016, 55–81. 1
Brüchigkeit der Menschenwürde
de“ in Art. 1 der Verfassung der Republik Slowenien (in der Fortsetzung: VRS) ein, nämlich in den Text, dass Slowenien „eine demokratische Republik“ ist.2 In Punkt 19 der Begründung hebt es ausdrücklich hervor, dass Menschenwürde „eine Eingrenzung beim Entscheiden von demokratisch gewählten repräsentativen Organen“ bedeutet.3 Die Einordnung der Menschenwürde in die Verfassung und wie sie verstanden werden sollte, wird im zustimmenden Sondervotum der Richterin Etelka Korpič-Horvat ausführlich erklärt: „Dadurch erfüllt das Verfassungsgericht als Hüter der Verfassungsmäßigkeit zum ersten Mal den Art. 1 der Verfassung und verleiht dem Schutz der Menschenwürde besondere Bedeutung und Gewicht. Wie in der Entscheidung angeführt wird, hat in einigen Ländern bereits der Verfassungsgeber die Unantastbarkeit der Menschenwürde als einen Wert bestimmt und sie unter die Grundsätze der Verfassung eingeordnet. In der Republik Slowenien hat dies jetzt das Verfassungsgericht getan.“
4. Dieser Standpunkt darf nicht täuschen. Das Verfassungsgericht ist kein Verfassungsgeber, sondern ein Gerichtsorgan, das aufgrund der Verfassung entscheidet.4 Das Verfassungsgericht legt die Verfassung aus und bestimmt sie inhaltlich (d. h. auslegungsmäßig) an konkreten Fällen. Das Feld der Kreativität ist breit und groß, doch sei die Breite auch noch so groß, so handelt es sich „lediglich“ um Auslegung und nicht um reine Erzeugung von Verfassungsprinzipien und -normen.5 Die auslegende Einordnung des Prinzips der Menschenwürde in Art. 1 der Verfassung ist nur teilweise begründet. Die Definition, dass Slowenien eine „demokratische Republik“ ist, ist eine verfassungsmäßige Bestimmung der Staatsform. Für den vorliegenden Diskurs ist von besonderer Bedeutung, dass die Republik „demokratisch“ ist. Demokratie ermöglicht, dass im Staat der Wille des Volkes angemessen ausgedrückt wird, zugleich ist Demokratie jedoch auch durch Verfassungswerte eingegrenzt, die durch demokratisches Entscheiden geachtet und geschützt werden müssen. Einer dieser Verfassungswerte ist auch Menschenwürde, über die die Bürger nicht nach dem
Art. 1 der VRS aus dem Jahr 1991: „Slowenien ist eine demokratische Republik.“ Der vollständige Text von Punkt 19 lautet: „Aufgrund der obigen Ausführungen befand das Verfassungsgericht, dass Art. 2 des Erlasses verfassungswidrig ist, weil er gegen das Prinzip der Achtung der Menschenwürde verstößt. Dieses Prinzip ist in Art. 1 der Verfassung begründet und bedeutet eine Eingrenzung beim Entscheiden von demokratisch gewählten repräsentativen Organen. Ebenso wie der Staat ist auch die Kommune bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse an die Verfassung gebunden. Die Entscheidung des Stadtrats der Stadtgemeinde Ljubljana, dass eine Straße in Ljubljana neu nach Josip Broz Tito benannt wird, ist deshalb den aus der Verfassung hervorgehenden inhaltlichen Eingrenzungen unterworfen, insbesondere wenn es sich um den Schutz der grundlegenden Verfassungswerte der Verfassungsordnung handelt, unter denen der Menschenwürde eine zentrale Stellung zukommt. Da Art. 2 des Erlasses unvereinbar mit dem Prinzip der Achtung von Menschenwürde ist, hat ihn das Verfassungsgericht aufgehoben.“ 4 Vgl. Jutta Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2001, 27. 5 Siehe z. B. Marijan Pavčnik, Constitutional Interpretation (2007), in: Marijan Pavčnik: Auf dem Weg zum Maß des Rechts Ausgewählte Schriften zur Rechtstheorie, 2011, 139–153. 2 3
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Prinzip der Mehrheitsentscheidung verfügen können. Die Demokratie, von der die Rede ist, nennt man konstitutionelle Demokratie 5. Wenn ich mich auf den Standpunkt des ehemaligen deutschen Verfassungsrichters und Vizepräsidenten des deutschen Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer stütze, sind die besonderen Merkmale der konstitutionellen Demokratie wie folgt: „Im Begriff der konstitutionellen Demokratie ist der Zusatz ‚konstitutionell‘ nicht ein schmückendes Beiwort oder eine milde Umleitung des substantivischen Wortsinns wie etwa der Zusatz ‚liberal‘ im Begriff des liberalen Rechtsstaats. Der Zusatz ‚konstitutionell‘ ist im Begriff der konstitutionellen Demokratie vielmehr ein Einbruch in das leitende Substantiv. Er legt nicht mehr und nicht weniger als die Grenze des demokratischen Prinzips fest; er bringt zum Ausdruck, dass die Richtigkeit von Mehrheitsentscheidungen jetzt unter einem fundamentalen Vorbehalt steht, nämlich unter dem Vorbehalt der Übereinstimmung dieser Entscheidungen mit der Verfassung.“6
Ein Ausgangspunkt und wesentlicher Bestandteil der konstitutionellen Demokratie ist auch Menschenwürde. Es ist zu eng, Menschenwürde lediglich aus der „demokratischen Republik“ abzuleiten. In der Entscheidung des Verfassungsgerichts wird begründeterweise der geschichtliche Verlauf der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowohl auf internationaler Ebene als auch vom Standpunkt der slowenischen Staatlichkeit angegeben. Auslegungsmäßig ist es von Bedeutung, dass auch die Präambel (zur VRS), die eine starke teleologische Ladung aufweist, von „Menschenrechten und Grundfreiheiten“ ausgeht. In diesem Sinne ist Menschenwürde die Grundlage und der Kitt der Grundrechte,7 die man als einen Verfassungswert achten und schützen muss (siehe auch Punkte 8 und 9). 6. In der Begründung der Entscheidung wird besonders betont, dass das Verfassungsgericht nicht „die Persönlichkeit und die konkreten Handlungen von Josip Broz Tito“ beurteilt und sich nicht mit der geschichtlichen Beurteilung von „Tatsachen und Umständen“ befasst hat.8 In diesem Zusammenhang sollte man auch den Standpunkt über die gegen die Menschenwürde verstoßenden Symbole anführen: „Über die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift oder eines anderen obrigkeitlichen Handelns, das Symbolbedeutung hat, kann man sprechen, wenn dieses Symbol mit Obrigkeitsautorität Werte ausdrückt, die mit den Verfassungsgrundwerten wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat unvereinbar sind. (…) Die Obrigkeit muss immer
Winfried Hassemer, Ustavna demokracija (Konstitutionelle Demokratie), Pravnik (Ljubljana), 58 (2003) 4–5, 214 7 Die VRS spricht über Menschenrechte und Grundfreiheiten. Diese Formulierung verwende ich auch selbst, wenn ich den Verfassungstext zitiere, sonst liegt mir der Ausdruck Grundrechte näher, den auch das Grundgesetz für die Republik Deutschland (in der Fortsetzung: GG) kennt. 8 Das wird von der Richterin Jadranka Sovdat in ihrem zustimmenden Sondervotum eingehend erörtert. Siehe Constitutional Court of the Republic of Slovenia. Selected Decisions (Fn. 1), 2016, 72–77. 6
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im öffentlichen Interesse handeln und dabei die aus den Verfassungsprinzipien und den Menschenrechten und Grundfreiheiten hervorgehenden verfassungsmäßigen Begrenzungen berücksichtigen. Da das Ausdrücken von Werten, die den grundlegenden Verfassungswerten entgegengesetzt sind, nicht im öffentlichen Interesse sein kann, ist die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des obrigkeitlichen Handelns nicht dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit (d. h. dem Abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse und den verletzten Verfassungswerten) unterworfen, sondern solches Handeln an sich ist verfassungswidrig.“9
Symbolische Benennungen haben mehrere Aspekte. Im konkreten Fall sind wenigstens zwei von Bedeutung. Die erste Möglichkeit ist, dass man eine Straße oder einen Platz mit einer konkreten Person verbindet, die zweite ist, dass man ein Symbol, das ein bestimmtes Phänomen benennt, verwendet. Wenn man über eine konkrete Person spricht, muss man auch deren Würde berücksichtigen. In diesem Fall ist es rechtlich unrichtig, wenn man den Namen als ein Symbol, das man nicht mit der Beurteilung der konkreten Handlungen einer konkreten Person verbindet, verwendet. Wenn die Benennung nach einer bestimmten Person rechtlich unzulässig ist, muss man genug überzeugende Tatsachen anführen, dass diese Person bestimmte Taten begangen hat und dass deshalb die Menschenwürde anderer Personen verletzt würde, wenn die Straße nach dieser Person benannt würde.10 Konkrete Tatsachen braucht man nicht anzugeben, wenn der Name symbolisch ein allgemein bekanntes Phänomen mit einem notorischen Hintergrund angibt. Nehmen wir an, dass eine Straße „Nationalsozialistische Straße“ hieße. In diesem Fall genügt es, dass man das Symbol entsprechend erklärt, ohne es durch konkrete Tatsachen begründen zu müssen. So kann man sich auch bei Benennungen nach Personen (z. B. nach Hitler), von denen allgemein bekannt ist, dass sie Gräueltaten verübten, verhalten. III.
Menschenwürde als Rechtsargument
7. Menschenwürde ist ein sensibles Argument.11 Sensibel sind sowohl sein Bedeutungskern als auch sein Bedeutungshof, der vom Kern befruchtet werden soll. Der Bedeutungskern wäre somit das Wort Menschenwürde. Der Wahrheit zuliebe ist zu sagen,
Punkt 14 der Begründung Über Josip Broz Tito (1892–1980) als historische Persönlichkeit siehe das reich dokumentierte Werk von Jože Pirjevec, Tito in tovariši (Tito und Genossen), 2011. Über die grobe Missachtung der Menschenwürde siehe z. B. die Abschnitte über die außergerichtlichen Hinrichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg (200– 204) und über Goli otok (eine Insel in der Kvarnerbucht), den jugoslawischen Gulag nach dem Streit mit Stalin 1948 (275–277). Das Buch von Pirjevec ist auch ins Englische übersetzt: Tito and His Comrades, 2018. 11 Über die Aspekte der Menschenwürde siehe die ausgezeichnete Monografie von Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff Eine philosophische Klärung, 2007. Über die Natur der Menschenwürde siehe auch Franz Joseph Wetz (Hrsg.), Texte zur Menschenwürde, 2011, Winfried Brugger, Stephan Kirste 9 10
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dieses Wort ist so ungenau, dass man damit den Bedeutungshof nicht näher beleuchten kann. Offensichtlich muss man einen anderen Weg gehen. Für einen dieser Wege setzt sich Ulfrid Neumann ein, der das Prinzip der Menschenwürde als „Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse“ versteht.12 Eine ähnliche Frage habe ich mir selbst vor Jahren gestellt. Ich fragte mich, um Neumanns Terminologie zu benutzen, welche diejenigen menschlichen Interessen und Bedürfnisse seien, die durch Menschenwürde verknüpft, gedeckt und auch geschützt werden sollten. Ich sprach mich dafür aus, Menschenwürde sei „der gemeinsame Wertausgangpunkt, aus dem das ganze Verfassungsgebäude erwächst: sie bezieht sich auf den Schutz der Würde von lebenden und bereits verstorbenen Personen, als Wertungsmaßstab ist sie auch bezüglich unserer Pflichten gegenüber künftigen Generationen aktuell – sei es betreffend den Schutz einer gesunden Umwelt, des Naturund Kulturerbes oder etwa betreffend die Dilemmas in Zusammenhang mit Gentechnologie und technischer Beeinflussung von menschlichen Embryos. In Ländern mit einer totalitären Vergangenheit ist der Schutz von Menschenwürde noch ganz besonders empfindlich in (Straf- und anderen) Verfahren vor Staatsorganen und während der Durchführung von Freiheitsstrafen.“13
8. Die angeführte Definition ist kein positivrechtlicher Begriff, der unmittelbar aus der Verfassung und ihrer Bestimmungen hervorginge, trotzdem handelt es sich um eine Definition, die indirekt aus der Verfassung (besonders aus deren Bestimmungen über Grundrechte) und aus den Werten, die den Ausgangspunkt der Verfassung bilden, hervorgeht. Und ich würde sagen, dass das wesentlich ist. Wenn ich von der Ausnahme, die als Radbruchsche oder eine ihr ähnliche Formel bekannt ist, absehe, ist es von wesentlicher Bedeutung, dass es sich um ein Verständnis der Menschenwürde, das sich innerhalb des Bedeutungshofes der Verfassung befindet, handeln muss. In diesem Kontext bin ich besonders an der Frage interessiert, wie man Menschenwürde als Rechtsargument anwenden kann. Es sind besonders zwei Ausführungen bekannt. Die erste ist für das GG typisch, das mit der Bestimmung über die Würde des Menschen beginnt,14 wonach ein Katalog der Grundrechte in den ersten 19 Artikeln folgt. Die VRS nimmt nicht diesen Weg. In
(Hrsg.), Human Dignity as a Foundation of Law, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie – Beiheft 137 (2013), Aharon Barak, Human Dignity, 2015, und Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, 2016. 12 Siehe Ulfrid Neumann, Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse. Versuch einer Eingrenzung, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 103 (2017) 3, 287 ff., 299 ff. 13 Pavčnik (Fn. 5), 143 14 Art. 1. GG lautet: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. / (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. / (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“
Brüchigkeit der Menschenwürde
der slowenischen Verfassung sind zuerst die Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung angegeben (einschließlich der Grundsätze, dass Slowenien eine demokratische Republik ist (Art. 1), dass es ein Rechts- und Sozialstaat ist (Art. 2) und dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Gewalt unmittelbar und durch Wahlen nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung in die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt (Art. 3/2) ausüben. Der Gruppe der Grundsätze folgen die Kapitel über Grundrechte (Art. 14–65) und das Kapitel über wirtschaftliche und soziale Verhältnisse (Art. 66–79), worin sich die Grundrechte aus diesem Gebiet befinden. In der deutschen Ordnung ist die Würde des Menschen, wie bereits gesagt, ausdrücklich und mit Betonung bereits am Anfang des GG angegeben, während in der slowenischen Verfassung der Ausdruck Menschenwürde gar nicht unmittelbar vorkommt. Dem Begriff der Menschenwürde am nächsten kommen noch der Schutz der Persönlichkeit und der persönlichen Würde (im Straf- und allen anderen rechtlichen Verfahren) aus Art. 2115 und das Recht auf persönliche Würde und Sicherheit aus Art. 34.16 Dessen ungeachtet kann und soll man auch die slowenische Verfassung dahingehend verstehen, dass ihr Katalog der Grundrechte aus dem Menschen und seiner Würde hervorgeht.17 9. Menschenwürde ist auch der Wert, der bestimmt und mitbestimmt, wie man den Verfassungstext verstehen soll. Das ist von besonderer Bedeutung bei der teleologischen Auslegung der Verfassungsinstitute und -rechte. Als Beispiel möchte ich die verfassungsgerichtliche Entscheidung anführen, die ich vor Jahren als das Argument „menschenwürdiges Leben“ bezeichnete. Die Ratio decidendi dieser Entscheidung war es, dass es sich um eine Verletzung des Rechtes auf persönliche Würde und des Rechtes auf soziale Sicherheit handle, wenn einem Verurteilten, außer der obligatorischen Ersparnis, durch Zwangsvollstreckung sein ganzes Geld abgenommen würde; auch einem Verurteilten muss man einen Betrag lassen, „über den er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, deren Befriedigung ihm ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, frei verfügen kann, und dass rechtsmäßigen Unterhaltsansprüchen auch bei Vollstreckung der Entlohnung im Strafvollzug derselbe Vorrang wie bei Vollstreckung auf andere Einnahmen gesichert ist.“18
Art. 21 (Schutz der Persönlichkeit und der persönlichen Würde): „Die Achtung der Persönlichkeit und der persönlichen Würde in Strafverfahren und in allen anderen rechtlichen Verfahren, sowie während des Freiheitsentzuges und Strafvollzuges wird gewährleistet. / Jegliche Gewaltanwendung gegen Personen, deren Freiheit in irgendeiner Weise beschränkt ist, sowie jegliche Erzwingung von Geständnissen und Aussagen ist untersagt.“ 16 Art. 34 (Recht auf persönliche Würde und Sicherheit): „Jedermann hat das Recht auf persönliche Würde und Sicherheit.“ 17 So wird ausdrücklich in einer der Entscheidungen des VerfGERS aus dem Jahre 2019 festgestellt: siehe Up-672/16, Punkt 8. 18 VerfGERS U-I-66/93 [OdlUS (Decisions of the Constitutional Court of the Republic of Slovenia) II, 113). – Zu einer ähnlichen Erkenntnis kam auch die Entscheidung über das Existenzminimum, das bei der Vollstreckung dem Schuldner gesichert werden muss (VerfGERS U-I-339/98). 15
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Das Argument, das ich gerade kurz beschrieben habe, könnte man ein Unterstützungsargument nennen. Es geht darum, dass man durch das Argument der Menschenwürde eines der in der Verfassung ausdrücklich anerkannten Grundrechte unterstützt und vertieft. Dieses Argument hat ein zusätzliches Gewicht in allen jenen Ordnungen, wo Menschenwürde nicht ausdrücklich als ein selbstständiges Grundrecht definiert wird. Es ist interessant, dass auch ein Teil der deutschen Rechtstheorie der Meinung ist, Menschenwürde sei kein selbstständiges Recht.19 Im Rahmen dieses Beitrags kann ich mich nicht darüber auslassen. Grundsätzlich möchte ich dazu nur sagen, dass Menschenwürde als Unterstützungsargument ebenfalls ihr Gewicht hat. In der slowenischen verfassungsgerichtlichen Praxis hat die (persönliche) Würde des Menschen zahlreiche Grundrechte gefestigt. Als Beispiele20 erwähne ich das Recht auf Leben21, das Folterverbot22, das Recht auf freies Entscheiden über Therapie23, den Schutz personenbezogener Daten24, die Bewahrung der Würde und Achtung der Verstorbenen25, den gleichen Schutz der Rechte26, das Privileg gegen Selbstbeschuldigung27, den Schutz des Kindeswohls28, das Recht auf soziale Sicherheit (einschließlich des Rechts auf Altersrente)29 usw. Verallgemeinert kann ich sagen, dass in allen diesen Fällen das Unterstützungsargument verwendet wird, um das einzelne Recht auch durch das Argument der Menschenwürde zu begründen oder es durch Menschenwürde auszubauen oder um das einzelne Recht noch klarer und bestimmter zu schärfen.30 Das Unterstützungsargument steht der Menschenwürde als Grundrecht sehr nahe. Das Unterstützungsargument kann in hohem Maße erreichen, dass sich Menschenwürde durch alle jene Grundrechte, die bedeutungsmäßig lose sind und eine Angleichung ihres normativen Inhalts an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse und vielfältige Lebensfälle erlauben, durchsetzt. Die Veränderlichkeit der Wertung beStandpunkte pro und contra werden von Horst Dreier angegeben, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band I, 3. Aufl., 2013, 230 ff. 20 Auf die meisten Entscheidungen, die sich auf einzelne Fälle beziehen, wurde ich von Sebastian Nerad, dem Generalsekretär des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien, aufmerksam gemacht. Siehe Sebastian Nerad, Human Dignity in Slovenia, in: Paolo Becchi, Klaus Mathis (Hrsg.), Handbook of Human Dignity in Europe, 2019, 817–850. 21 VerfGERS Up-679/12 22 VerfGERS Up-763/09 23 VerfGERS Up-2595/08 24 VerfGERS U-I-70/12 25 VerfGERS U-I-54/99 26 VerfGERS Up-117/12 27 VerfGERS Up-1293/08 28 VerfGERS Up-383/11 29 VerfGERS U-I-67/16, Up-195/13 30 Siehe z. B. VerfGERS U-I-70/12: „Wenn es sich um den Schutz von besonders sensiblen Daten handelt, die aus dem Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und dem Arzt, dessen wesentliche Voraussetzung die ärztliche Schweigepflicht ist, herstammen und deren Enthüllung die persönliche Würde des Menschen gefährden kann, wird das Bedürfnis nach einer klaren und bestimmten Definition des gesetzgeberischen Ziels hervorgehoben.“ 19
Brüchigkeit der Menschenwürde
zieht sich auch auf die Menschenwürde selbst, die notwendigerweise mit der Zeit im Kultur- und Zivilisationsraum atmet. Die Veränderlichkeit der Wertung verlangt zusätzlich, dass man von Fall zu Fall und nicht nur in abstracto begründet, wenn man nicht will, dass die Menschenwürde in ihren Gegensatz umschlägt. Dabei ist Kants kategorischer Imperativ über den Menschen als Subjekt und nie als lediglich Objekt31 richtunggebend. 10. An anderer Stelle wurde bereits erklärt, dass Menschenwürde die Grundlage und das Bindemittel der Grundrechte ist. Es liegt in der Natur der Grundlage, dass sie auch ein Wertungsprinzip ist, das eine ähnliche Natur wie die Rechtsprinzipien hat. Auf der Begriffsebene ist das Recht nicht nur ein System von Rechtsnormen, die das Ergebnis des Verständnisses von Verfassung, Gesetzen und anderen Rechtsakten sind. Das Recht ist auch ein System von Prinzipien und Normen, die zusammen eine Bedeutungseinheit bilden. Von Rechtsprinzipien sagt man, dass sie Wertungsmaßstäbe sind, die die inhaltliche Definition der Rechtsnormen, deren Verständnis und die Art deren Durchführung lenken. Es liegt in der Natur der Rechtsprinzipien, dass sie das Ziel der rechtlichen Regulierung ausdrücken, die Breite, in der sich die Normen bewegen sollten, bestimmen und zugleich ein Gewicht mitbringen, das einem hilft, Konflikte (Zusammenstöße) zwischen mehreren Normen (z. B. zwischen Rechten) zu lösen. Alle drei Eigenschaften der Rechtsprinzipien sind für die Auslegung von großer Bedeutung. Eine besondere Eigenheit hat das Gewicht, das den Normen nicht schon an sich eigen ist.32 Menschenwürde ist in fast alle Grundrechte eingepflanzt (siehe Punkt 9). Die Grundrechte sind einerseits Normen, die aussagen, welche Rechtsfolgen eintreten sollen, wenn man sich in entsprechenden konkreten Umständen (also in einem Sachverhalt, der ein Fall des Tatbestands auf der konkreten Ebene ist) vorfindet. Hinter den Rechten stehen Rechtsprinzipien, die noch ganz besonders wichtig sind, wenn es zu einem Konflikt von zwei Rechten kommt oder wenn durch niedrigere Rechtsakte (z. B. Gesetze) normativ abgeleitet und ausführlicher bestimmt werden muss, wie man einzelne Verfassungsrechte umsetzen sollte. Die slowenische Gerichtspraxis befasste sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit der Frage des Konflikts zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung (Anführung personenbezogener Daten verstorbener Familienangehöriger auf einer Gedenktafel) und dem Recht auf Pietät, das ein Bestandteil des Rechts auf seelische Unversehrtheit des Einzelnen ist. Das Gericht stellte fest, dass die Anführung personenbezogener
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke (hrsg. von W. Weischedel), Band VII, 61 (BA 65, 66): „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest “ – Siehe auch Winfried Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, 9 ff., 45 ff., und von der Pfordten (Fn. 10), 110. 32 Siehe Marijan Pavčnik, Interpretative Importance of Legal Principles for the Understanding of Legal Texts, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 101 (2013) 1, 53 ff. 31
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Daten an einer den während des Zweiten Weltkriegs (als Opfer) Verstorbenen gewidmeten Gedenktafel in das Recht auf Pietät, die die Antragssteller gegenüber den Verstorbenen entgegenbrachten, eingegriffen hatte. Im Kern der Entscheidung heißt es, der Eingriff in das Recht auf Pietät stand „nicht im Verhältnis zum öffentlichen Interesse, die Daten über Kriegsopfer in diesem Jahrhundert und des Antragsgegners zur Idee der Volksaussöhnung zu erfahren.“33 Der Konflikt zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und dem Schutz des Rechts auf Privatsphäre gehört zu den häufigsten Fällen, in denen die Entscheidung vom Gewicht der in den sich gegenüberstehenden Rechten befindlichen Prinzipien abhängt. Dieser Frage begegnet man oft auch in der (verfassungs-)gerichtlichen Praxis. Die Entscheidung hängt davon ab, ob die beiden Rechte gemäß ihres Gewichts koexistieren können oder ob es sich um zwei Rechte handelt, von denen das Recht mit einem geringfügigen Gewicht dem Recht mit einem verhältnismäßig wesentlich höheren Gewicht Platz machen muss.34 Zu den sensibelsten Fällen gehören solche, die sich auf Kunstfreiheit und Besonderheiten des künstlerischen Schaffens beziehen. Jemand kann sich in einem künstlerischen (z. B. literarischen) Werk wiedererkennen, ohne dass dadurch in den geschützten Hof der Privatsphäre eingegriffen würde.35 Wenn der Künstler das Problem überarbeitet und verallgemeinert hat, handelt es sich um die Freiheit des künstlerischen Schaffens, die man nicht einengen darf. Von Bedeutung sind auch jene Fälle, bei denen in der verfassungsgerichtlichen Praxis festgestellt wurde, dass die gesetzlichen Bestimmungen im Widerspruch zu einem noch durch Menschenwürde gestützten Verfassungsprinzip standen. Als konkretes Beschluss II Ips 428/96 des Obersten Gerichts der Republik Slowenien, in: Zbirka odločb Vrhovnega sodišča RS – civilni oddelek (Collection of Decisions of the Supreme Court of the Republic of Slovenia – Department of Private Law), 1999, 129 ff. 34 In der „Rauchersache“ [U-I-218/07 (OdlUS XVIII, 12)] hat so das Verfassungsgericht begründeterweise entschieden, dass das Verbot des Rauchens in geschlossenen und öffentlichen Räumen „ein Eingriff in die allgemeine Freiheit des Handelns (Art. 35 VRS)“ ist. Ungeachtet dessen handelt es sich um keinen unzulässigen Eingriff, da man „nur auf diese Weise das vom Gesetzgeber angestrebte, verfassungsmäßig zulässige Ziel, nämlich den Schutz von Beschäftigten und allen Personen vor den schädlichen Auswirkungen des passiven Rauchens oder des Tabakrauchs aus der Umwelt, erreichen kann.“ – Wenn es sich um einen Konflikt von zwei Grundrechten handelt, ist es unvermeidbar, dass man sie gegeneinander abwägt. Geschärft werden durch den Abwägungstest sollen „jene verfassungsrechtlich entscheidenden Umstände, die die Waage in die Richtung des einen oder des anderen Rechts geneigt haben. Sonst wird einem der Grundrechte in Kollision eine absolute Wirkung zugeschrieben.“ (Up-444/09) Die Hauptsache ist es, dass der Abwägungstest durchgeführt wird und dass aufgrund dessen Ergebnisses eine entsprechende Entscheidung getroffen wird. 35 Vgl. Up-422/02 (OdlUS XIV/1, 36): „When searching for an answer to the question of the extent of artistic freedom (as a specific manifestation of the right to freedom of expression) or regarding the boundary between this constitutional right and the constitutionally protected personality rights, including the protection of honour and reputation, the particularities of artistic endeavour must undoubtedly be considered. The essence of artistic endeavour is free creativity, which reflects an artist’s impression and experience, which the artist presents to the public through a certain manifestation of artistic expression. For literary art it is essential that the artist be ensured free choice of the theme and free description of the chosen theme.“ 33
Brüchigkeit der Menschenwürde
Beispiel soll eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, die sich mit dem Schutz personenbezogener Daten (Art. 38 VRS) auseinandersetzte, angeführt werden. Eines der Probleme war es, wie man den Umfang der Daten, deren Verarbeitung noch erlaubt war, bestimmen sollte: „Art. 128/7 des Luftfahrtgesetzes widerspricht Art. 38/2 VRS, weil es offenlässt, welche personenbezogene Daten (noch) verarbeitet werden können. Da das Luftfahrtgesetz nicht alle personenbezogenen Daten bestimmt, die über eine Person gesammelt werden dürfen, und das von den jeweiligen Bedürfnissen des Betreibers der personenbezogenen Daten abhängt, ist der Eingriff in die Privatsphäre nicht voraussehbar.“36
In die Gruppe derartiger Fälle gehört auch die Angelegenheit Titostraße, die das Ausgangsproblem dieses Beitrags ist (siehe Punkte 1 und 2). IV.
Anstatt eines Schlusses
11. Menschenwürde und Demokratie sind ein bedeutungsvolles Paar.37 Deren Verbindung besteht nicht darin, dass Menschenwürde zwangsläufig aus dem Prinzip der Demokratie hervorgehen würde, sondern darin, dass Menschenwürde als zentrales Element der konstitutionellen Demokratie die Formen des demokratischen Entscheidens inhaltlich verpflichtet. Je enger diese Verbindung ist und je intensiver durch demokratisches Entscheiden die Dimensionen der Menschenwürde gefestigt und vertieft werden, desto hochwertiger ist eine menschenwürdige Demokratie. 12. Doch da besteht noch die Kehrseite der Medaille. Es liegt in der Natur der Grundrechte, dass sie die Conditio sine qua non der menschlichen Freiheit sind. Wenn es diese Freiheit nicht gäbe, wäre Demokratie verknöchert und ausgehöhlt. Die Voraussetzung für eine tätige und schöpferische Demokratie ist es, dass der Wille der Menschen inhaltlich gestaltet und verwirklicht werden kann. Die Grundrechte (zusammen mit Menschenwürde in allen ihren Dimensionen) sind somit auch ein konstitutives Element der Demokratie als Form.38 Eine qualitative Form macht es leichter, dass Menschenwürde als ein elementares menschliches Bedürfnis39, das man rechtlich absichern muss, zum Ausdruck kommt. Dr. Marijan Pavčnik
Faculty of Law, Poljanski nasip 2, 1000 Ljubljana, Slovenia. [email protected]
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U-I-411/06 (OdlUS XVII/2, 43) Siehe Tiedemann (Fn. 10), 568. Vgl. Aharon Barak, The Judge in a Democracy, 2008, 23 ff. Siehe auch Punkt 7 dieses Beitrags.
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Zu einem adäquaten Verständnis der inhärenten, unveräußerlichen Menschenwürde DIETMAR VON DER PFORDTEN (Göttingen)
Abstract: Human dignity is treated in this text in three respects. First it will be asked which symp-
toms the recognition of human dignity in the newer development of law and politics shows. Secondly four partial concepts of human dignity will be clarified which try to explain these symptoms. Some emphasis will be laid on the so called “great” concept of dignity. At this juncture dignity is understood as self-determination of one’s own interests. In a third part a special question of application will be raised: Namely, whether sadistic cruelty, which is in its outer performance like torture, has to be qualified as a violation of human dignity. Keywords: dignity, human dignity, self-determination, cruelty
I.
Einleitung
Die Menschenwürde ist mittlerweile in Ethik, Moral und Recht allgemein anerkannt. Sie wird in Tausenden von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und internationalen Verträgen und Dokumenten genannt, darunter so hochrangigen wie der UN-Charta, der UN-Menschenrechtserklärung und der EU-Grundrechtecharta. Nur einige wenige Philosophen zweifeln die Menschenwürde noch an.1 Aber es gibt bekanntlich nichts, was nicht von einigen wenigen Philosophen angezweifelt wird. Der Zweifel an allem gehört seit Sokrates zum Rollenverständnis mancher Philosophen. Der wahre Hintergrund dieser Zweifel an der Menschenwürde ist nicht selten ein radikaler politischer: Im Dienste einer als „fortschrittlich“ angesehenen politischen Auffassung, sollen alle Vgl. z. B. Achim Lohmar, Falsches Moralisches Bewusstsein, Hamburg 2017. Vgl. auch einzelne Beiträge, etwa der radikal ablehnende von Bittner und die gemäßigteren von Brandhorst, Weber-Guskar und Wetz, in: Menschenwürde Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, hg. von Mario Brandhorst und Eva Weber-Guskar, Berlin 2017. 1
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vermeintlichen und tatsächlichen Beschränkungen für eine Umgestaltung von Staat und Gesellschaft beseitigt werden, etwa im Hinblick auf die Umverteilung materieller Güter, aber auch im Bereich der Bio- und Medizinethik.2 Dass diese Ablehnung der Menschenwürde viele Menschenwürdeverletzungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte nachträglich legitimiert, scheint von diesen radikalen Menschenwürdeskeptikern nicht bedacht zu werden. Sieht man Bürger, Gerichte, Parlamente usw. nicht in einem permanenten kollektiven Irrtum befangen, so kann es heute nicht mehr darum gehen, die Menschenwürde als solche und in abstracto anzuzweifeln, sondern nur noch darum, sie besser zu verstehen und zu erklären. Gelangt man so zu einem gut begründeten inhaltlichen Verständnis der Menschenwürde, dann widerlegt dieses auch alle fundamentalen philosophischen Zweifel. Im Folgenden wird die Einsicht in die Menschenwürde in drei Teilen entfaltet. Zunächst wird in einem ersten Teil gefragt, welche Symptome die empirisch erkennbare Berücksichtigung der Menschenwürde aufweist und welche Anforderungen daran anschließend an eine wissenschaftliche Erklärung der Menschenwürde gestellt werden müssen. Dann werden in einem zweiten Teil vier Teilbegriffe der Menschenwürde erläutert, wobei der Schwerpunkt auf der „großen“ Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange liegen wird, denn vor allem diese große Menschenwürde ist in der Lage, die vier Symptome aus dem ersten Abschnitt zu erklären. Schließlich wird in einem dritten Teil eine Spezialfrage der Anwendung der Menschenwürde diskutiert, welche das Verständnis der Menschenwürde vertiefen kann. Diese Spezialfrage lautet: Ist das sadistische Quälen eines anderen, das in der äußeren Handlungsausführung nicht von der Folter als eindeutiger Verletzung der Menschenwürde zu unterscheiden ist, auch eine solche Verletzung der Menschenwürde? II.
Vier Symptome der Berücksichtigung der Menschenwürde, welche zu vier Anforderungen an eine wissenschaftliche Erklärung der Menschenwürde führen
Jede wissenschaftliche Erklärung der Menschenwürde muss wenigstens vier Symptome der allgemein praktizierten Berücksichtigung der Menschenwürde erklären, also wenigstens vier Anforderungen erfüllen: 1. Die Berücksichtigung der Menschenwürde ist in Politik und Recht später aufgetreten als die Berücksichtigung der anderen Menschenrechte. Die Menschenwürde ist als Begriff also viel später ins politische Bewusstsein gelangt und im Recht verankert worden als die anderen Menschenrechte. Und doch hat sie sich als Höchstwert sowohl
Vgl. Steven Pinker, The Stupidity of Dignity. Conservative bioethics’ latest most dangerous ploy, The New Republic v. 28. Mai 2008, 28–31. 2
Zu einem adäquaten Verständnis der inhärenten, unveräußerlichen Menschenwürde
in der Moral als auch im Recht vor alle übrigen Menschenrechte geschoben, etwa in Art. 1 des deutschen Grundgesetzes von 1949: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“3 Diese späte Berücksichtigung der Menschenwürde als politische und rechtliche Realität lässt sich als erstes wesentliches Symptom ansehen, das wissenschaftlich erklärt werden muss. 2. Die Menschenwürde ist mittlerweile international zum fest etablierten Rechtsbegriff geworden, etwa in der UN-Charta, der UN-Menschenrechtserklärung, der EU-Grundrechtecharta sowie vielen einzelnen Pakten, Verfassungen, Gesetzen und Gerichtsurteilen. Da das Recht keine bloße Möglichkeit ist, sondern eine Wirklichkeit, muss jede Beschäftigung mit der Menschenwürde diese Wirklichkeit der rechtlichen Anerkennung und Regelung der Menschenwürde als zweites Symptom erklären. Dabei ist der Begriff der Menschenwürde kein bloß normativer Begriff, wie etwa der Begriff der Verpflichtung zum Schadensersatz, sondern enthält einen deskriptiven Gehalt, welcher sich auf etwas in der Welt bezieht, das vor der Anerkennung der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde besteht. Die Rechtsnormen, welche zur Achtung der Menschenwürde verpflichten, beziehen sich mit dem Ausdruck „Menschenwürde“ also auf eine normunabhängige Wirklichkeit in der Welt, so wie sich die Menschen- bzw. Grundrechtsnormen, etwa diejenige der Handlungsfreiheit auf tatsächliche Handlungen, der Religionsfreiheit auf tatsächliche religiöse Betätigungen, der Wissenschaftsfreiheit auf tatsächliche Wissenschaft, der Kunstfreiheit auf tatsächliche Kunst, der Vereinigungsfreiheit auf tatsächliche Vereinigungen, der Berufsfreiheit auf tatsächliche Berufswahlen und Berufsausübungen von Menschen beziehen. Es gibt nur ein einziges klassisches liberales Grund- und Menschenrecht, bei dem die deskriptive Dimension eines Bezugs auf eine wirklich bestehende, nicht erst durch Rechtsnormen erzeugte Tatsache zweifelhaft sein kann. Dies ist die Eigentumsfreiheit. Alf Ross hat in einem bekannten Artikel mit dem Titel „Tû-tû“ dafür argumentiert, dass man rechtliche Begriffe wie den des Eigentums auf Beziehungen zwischen Rechtsnormen reduzieren kann.4 Diese rechtlichen Begriffe sollen keine Bedeutung im Sinne einer Referenz haben. Ross erzählt eine fiktive Geschichte, in welcher drei Ereignisse dazu führten, dass jemand „tû-tû“ werde: ein Verhältnis mit der Schwiegermutter, Essen von der Nahrung des Häuptlings und das Töten eines Totemtieres. Werde eine Person durch derartige Verfehlungen tû-tû, so müsse sie sich einer Reinigungszeremonie unterziehen. Ross behauptet, dass der Mittelbegriff tû-tû – sofern ein Aberglaube über tû-tû vermieden werde – keine Bedeutung im Sinne einer Referenz auf etwas Normunabhängiges in der Welt aufweise. Er könne nur als Mittel zur Vereinfachung gerechtfertigt werden, das heißt zur Verbindung der Voraussetzungen Vgl. zur Entstehung: Manfred Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde Die Debatten seit 1949, Berlin 2016. Vgl. Alf Ross, Tû-Tû, Harvard Law Review (1957) Vol. 70, No. 5, 812–825; Siehe auch: Lothar Philipps, Tû-Tû 2. Von Rechtsbegriffen und neuronalen Netzen, in: Rechtsentstehung und Rechtskultur, hg. von L. Philipps / R. Wittmann, Heidelberg 1991. 3 4
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einer Norm mit dem Verpflichtungsteil der Norm, also der Pflicht zur Durchführung der Reinigungszeremonie. Anders als Ross annimmt, gilt das aber jedenfalls im Bereich der Grund- und Menschenrechte allenfalls für das Eigentum. Und selbst dort ist es sehr zweifelhaft, weil selbst dem Eigentum reale zwischenmenschliche Machtbeziehungen bezüglich Sachen zu Grunde liegen.5 Zum Beispiel das menschliche Handeln, die Religionsausübung, die Wissenschaft, die Kunst, die Vereinigung von Menschen und die Berufswahl sowie Berufsausübung muss man aber als reale, vom positiven Recht unabhängige Tatsachen ansehen, auf welchen sich die Menschen- und Grundrechtsregelungen deskriptiv beziehen. Allenfalls beim Eigentum mag es Zweifel geben. Diese Zweifel an der rechtsunabhängigen Realität des Eigentums weisen aber mehrere Besonderheiten auf: Zum Ersten gibt es beim Eigentum mit dem Besitz als tatsächlicher Sachherrschaft ein unzweifelhaft reales Korrelat. Das Eigentum ist phänomenal derart auf den Besitz als realen Sachverhalt bezogen, dass der Besitz historisch und sachlich in vielfältiger Weise eine Bedingung für den Erwerb und Erhalt des Eigentums darstellt. Das Eigentum muss deshalb im historischen Ausgangspunkt und sachlichen Verständnis als rechtliche Sicherung des gegenwärtigen, vergangenen oder zukünftigen Besitzes mit seinen realen Verfügungsmöglichkeiten angesehen werden. Zum Zweiten sind für den Erwerb des Eigentums bereits bestimmte Rechtsakte notwendig, etwa eine Übereignung, eine Vermischung oder eine Aneignung herrenloser Sachen. Schließlich ist die Rückführung des Eigentums auf einen positivrechtlichen Setzungsakt in der Literatur schon sehr alt und immer wieder vertreten worden, etwa von Hobbes und Rousseau.6 Alle drei Aspekte sind bei der Menschenwürde divergent: Es gibt zur Menschenwürde kein reales Korrelat wie den Besitz zum Eigentum, sondern die Würde des Menschen ist wie die menschliche Handlung oder die Religionsausübung selbst eine Realität, welche nicht erst durch das Recht konstituiert wird. Es gibt, anders als beim Eigentum, keine Rechtsnormen, welche den Erwerb oder die Übertragung der Menschenwürde regeln. Und die Anerkennung der Menschenwürde ging seit ihrer ersten Erwähnung bis in die jüngste Zeit mit keinen erkennbaren Behauptungen einher, dass der Menschenwürde nichts Reales in der Welt zugrunde liegt, sondern diese erst durch Annahmen bzw. Normen des Recht oder der Moral konstituiert wird. Derartige Thesen der nur positiv rechtlichen Konstitution oder sogar Fiktion der Menschenwürde sind erst seit einigen Jahren aufgetaucht,7 als für manche deutlich wurde, dass die Anerkennung der Menschenwürde möglicherweise ein Hindernis für eine radikale Vgl. Dietmar von der Pfordten, About Concepts in Law, in: Jaap Hage / Dietmar von der Pfordten (Hg.), Concepts in Law, Dordrecht 2009, 17 ff., 32. 6 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, Cambridge 1991, Ch. XIII, XV, 90, 101; Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social / Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 2010, 45. 7 Eine Version dieser Behauptung einer bloß normativen Konstitution der Menschenwürde liegt darin, sie als bloßes Tabu zu beschreiben: vgl. etwa Ralf Poscher, Die Würde des Menschen ist unantastbar, JZ 2004, 756–762. 5
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politische Umgestaltung von Staat und Gesellschaft darstellen könnte, insbesondere auf dem Feld der Bio- und Medizinethik, aber auch in anderen Gebieten, etwa im Hinblick auf die von manchen propagierte „Rettungsfolter“ von Geiselnehmern durch den Staat.8 Diese Skepsis gegenüber der Menschenwürde ist Teil einer politischen und theoretischen Bewegung, welche die liberalen Grund- und Menschenrechte als für die gesellschaftliche Umgestaltung hinderlich überwinden möchte,9 oder sogar das Recht als solches. Im Hintergrund steht selbstredend Marx’ und Lenins These vom Recht als entbehrlichem Überbauphänomen, das im vollendeten Sozialismus bzw. Kommunismus absterben soll.10 Die nachweislich emanzipatorische Kraft der subjektiven Rechte und besonders der Menschenwürde für jeden einzelnen Menschen wird dabei missachtet. Angesichts der allgemeinen Anerkennung der Menschenwürde in Tausenden von Texten des Rechts bleibt den radikalen philosophischen Skeptikern nur eine Option: Sie müssen behaupten und erklären, warum sich alle Wissenschaftler, Politiker und Juristen, welche die Menschenwürde annehmen und verteidigen, in einem fundamentalen Irrtum über deren Realität in der Welt befinden. Eine derartige Erklärung ist nicht erkennbar. 3. Das dritte Symptom, dass jede wissenschaftliche Untersuchung der Menschenwürde erklären muss, liegt in der systematischen Vorordnung der Menschenwürde vor alle anderen Menschenrechte. Es muss gerechtfertigt werden, warum die Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde dort, wo die Menschenwürde explizit normiert wurde, regelmäßig die Spitzenstellung einnimmt, etwa in der UN-Charta, der UN-Menschenrechtserklärung, dem deutschen Grundgesetz oder der EU-Grundrechtecharta. Warum wird die Menschenwürde in diesen Menschenrechtskatalogen nicht wie die Freiheit der Kunst auf Platz 5 im deutschen Grundgesetz oder an anderer, vorderer oder hinterer Stelle der Menschen- bzw. Grundrechtskataloge eingereiht? Das muss einen sachlichen, in dem Spezifikum der Menschenwürde selbst liegenden Grund haben und kann kein bloßer Zufall sein. 4. Schließlich muß als viertes Symptom erklärt werden, warum die UN-Menschenrechtserklärung, das Grundgesetz, die EU-Grundrechtecharta und andere Gesetze, Verfassungen und Pakte die Menschenwürde in Form einer Metacharakterisierung als angeboren (Art. 1 UN-Menschenrechtserklärung), inhärent (Präambel der UN-Menschenrechtserklärung) und unantastbar (Art. 1 Grundgesetz, Art. 1 EU-Grundrechtecharta) beschreiben. Diese Charakterisierungen sind nicht vom Himmel gefallen oder schnell und probeweise vorgenommen worden, sondern sie sind das Ergebnis
Vgl. zur Propagierung der staatlichen „Rettungsfolter“ z. B. Rainer Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung?, Paderborn 2006. 9 Vgl. Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2018. 10 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 25, Berlin 198814, 801; Wladimir Lenin, Staat und Revolution, Berlin 197014, 86 ff.; Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Freiburg 1991, 207. 8
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von langandauernden, intensiven Beratungen einer Vielzahl von ethisch, politisch und rechtlich erfahrenen Experten. Es erscheint bizarr anzunehmen, dass diese Experten aus unterschiedlichen Nationen, die in ganz verschiedenen Kulturen aufgewachsen sind und in divergenten Regelungszusammenhängen tätig wurden, einfach einem falschen Bewusstsein, einem allgemeinen Verblendungszusammenhang aufgesessen sind, während ein einzelner philosophischer Autor ohne Stützung auf empirische Untersuchungen den allgemeinen Irrtum entlarvt hat. Man kann zwar auf historische Fehlvorstellungen, wie das geozentrische Weltbild vor Kopernikus und Galilei verweisen. Dabei handelte es sich aber um naturwissenschaftlich-metaphysische Annahmen, deren empirische Widerlegung technische Hilfsmittel wie das Fernrohr voraussetzte. Die anthropologische, philosophische und sozialwissenschaftliche Einsicht in die Realität der Menschenwürde stützt sich dagegen auf einen vielfältigen menschlichen und sozialen Erfahrungshintergrund, der mit technischen Hilfsmitteln nicht widerlegbar ist. Die Menschenwürde muss allerdings als Wirklichkeit im Detail dargestellt und erklärt werden. Bemüht man sich, diese vier Symptome der allgemeinen Berücksichtigung der Menschenwürde zu erklären, so kommt man zu einem wissenschaftlich besser begründeten Ergebnis und kann die Menschenwürde besser diagnostizieren. III.
Die Erklärung dieser Symptome durch die Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange
Man kann vier Teilbegriffe der Menschenwürde unterscheiden:11 Eine große, also inhärente bzw. intrinsische Menschenwürde als nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen,12 eine kleine, äußere, kontingente Würde des Menschen im Sinn seiner wesentlichen sozialen Stellung, eine mittlere Menschenwürde der natürlichen Gleichheit dieser wesentlichen sozialen Stellung sowie eine ökonomische Würdebedingung für ein menschenwürdiges Dasein, wie sie sich bereits in Art. 151 I Weimarer Reichsverfassung fand.13 Vgl. zum Folgenden: Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, München 2016; Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange, Philosophisches Jahrbuch 124 (II/2017), 242–261. 12 Vgl. zur inhärenten, großen Würde: Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Menschenrechte und Menschenwürde: historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, hg. von R. Spaemann / E. W. Böckenförde, Stuttgart 987, 295–313; Walter Schweidler / Herbert A. Neumann / Eugen Brysch, Menschenleben – Menschenwürde, Münster 2003; Walter Schweidler, Über Menschenwürde Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens, Wiesbaden 2012. 13 Zu den anderen Begriffen der Menschenwürde: Viktor Pöschl, Würde im antiken Rom, Art. Würde, in: Geschichtliche Grundbegriffe Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 7, hg. von O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck, Studienausgabe 2004, Stuttgart 1978, 637–645; ders., Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse Jahrgang, 1989, Bericht 3; Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge, 11
Zu einem adäquaten Verständnis der inhärenten, unveräußerlichen Menschenwürde
Die vier im ersten Abschnitt genannten Symptome lassen sich nur mittels der großen Menschenwürde als nichtkörperliche, innere, unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen erklären. Deshalb wird sie im Folgenden genauer dargestellt. Die kleine Menschenwürde der Pflicht zur Achtung der sozialen Stellung des Menschen könnte weder das späte Auftreten noch die Spitzenstellung der Menschenwürde in den Menschenrechtspakten und Verfassungen plausibel machen, denn zum einen war diese Pflicht schon immer bekannt und zum anderen wird man sie kaum für wichtiger erachten als Leib, Leben, körperliche Unversehrtheit, Religions- und Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Eigentumsfreiheit usw. Würde man nur die kleine und mittlere Menschenwürde der sozialen Stellung als alleinige Interpretation der Menschenwürde akzeptieren, so wären weder das späte Auftreten noch die Spitzenstellung der Menschenwürdenormen in Politik und Recht zu legitimieren. Vergleichbares gilt für die ökonomische Würdebedingung, die ja nicht zufällig erst in Art. 151 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 unter der Überschrift „Fünfter Abschnitt. Das Wirtschaftsleben“ auftaucht, während der Grundrechtsteil dieser Verfassung mit Art. 109 beginnt. Wie lässt sich die große, inhärente Menschenwürde, wie sie seit zweitausend Jahren vor allem von Cicero,14 christlichen Denkern,15 Pufendorf16 und Kant17 entwickelt und durch die Charta und Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sowie Art. 1 des deutschen Grundgesetzes und der EU-Grundrechtecharta statuiert wurde, verstehen? Ausgangspunkt ist der Begriff einer inneren, im Kern unveränderlichen bzw. angeborenen, notwendigen und allgemeinen Eigenschaft des Menschen. Insbesondere Kant hat diese Eigenschaft von metaphysischen und religiösen Fundamenten gelöst und als Selbstbestimmung bzw. Autonomie des Menschen konkretisiert.18 Die weiterführende Frage lautet dann: Wie lässt sich diese inhärente Menschenwürde als
MA 1996; Tatjana Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, 41–61; Michael Rosen, Dignity Its History and Meaning, Cambridge, MA 2012; Peter Schaber, Instrumentalisierung und Würde, Münster 2013; Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, München 2016, 9 f., 66 ff. 14 Vgl. Cicero, De officiis / Vom pflichtgemäßen Handeln, Stuttgart 1992, I, 105 f. Vgl. Hubert Cancic, ‚Dignity of Man‘ and ‚Persona‘ in Stoic Anthropology: Some remarks on Cicero, De officiis I 105–107, in: The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, hg. von D. Kretzmer / E. Klein, Den Haag 2002, 19–39. 15 Vgl. z. B. Thomas v. Aquin, Summa theologiae, Deutsche Thomasausgabe, Bonn 1987, II–II. qu. 64, Art. 2 resp. ad 3. Vgl. zu einem Überblick: Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, München 2016, 21 ff.; Franz Josef Wetz, Texte zur Menschenwürde, Stuttgart 2011, 43–71. 16 Vgl. Samuel von Pufendorf, Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht, Neuausgabe Berlin 1998, I, III, 1. 17 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, Berlin 1911, Nachdruck 1968, 434: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. […] das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde.“ 18 Vgl. Dietmar von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, in: ders., Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009, 9–26.
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Selbstbestimmung bzw. Autonomie genauer interpretieren? Die wesentlichen allgemeinen sowie praktisch bedeutsamen inneren Eigenschaften des Menschen, welche sowohl tatsächlich bestehen als auch verpflichtend sind, sind seine Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele.19 Diese vier Eigenschaften stehen in einem Kontinuum bzw. einer Reihe von Abstufungen zwischen körperlicher und mentaler Bestimmtheit: Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Einheit jenseits der bloßen Wirkung der physikalischen Grundkräfte dienen. Bedürfnisse haben häufig eine körperliche Basis, sind aber geistig beeinflussbar, etwa im Hinblick auf den Zeitpunkt und den Umfang der Befriedigung. Sie finden sich nur bei Tieren und Menschen, etwa das Bedürfnis nach Nahrung, nach Flüssigkeit etc. Wünsche haben gelegentlich auch eine körperliche, primär aber eine geistige Komponente. Die geistige Komponente kann sich anders als bei Bedürfnissen vollständig durchsetzen, also die Befriedigung des Wunsches gänzlich verändern oder sogar ganz verhindern. Beispiele wären etwa der Wunsch nach Abenteuer, neuen Erlebnissen, Unterhaltung, Vergnügen, Reisen. Ziele (Absichten) sind schließlich rein mentale Eigenschaften, etwa das Verfassen eines Buches, das Finden eines Lebenspartners. Die vier normativ-ethisch relevanten Begriffe der Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele lassen sich mit den abstrakteren Begriffen der Belange bzw. Interessen zusammenfassen. Diese Belange und Interessen schützen die Menschenrechte, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in den klassischen Menschenrechtserklärungen und dann in vielen Verfassungen und internationalen Verträgen statuiert wurden: das Recht auf Leben, auf körperliche und psychische Unversehrtheit, auf Freiheit der Handlung, der Bewegung, der Religion, der Meinung, der Kunst, der Vereinigung, des Eigentums usw. Sind aber diese Belange schon durch die klassischen Menschenrechte gesichert, dann stellt sich die zentrale Frage: Worin kann dann noch die später anerkannte Menschenwürde bestehen? Hier muss man sich an die eingangs geschilderten Symptome des späten Bewusstwerdens, der spät erreichten Vorrangstellung der Menschenwürde in der Normenhierarchie sowie der Kennzeichnung als angeboren, inhärent und unantastbar erinnern. Die Menschenwürde ist spät zum Bewusstsein gelangt, spät statuiert worden und ohne Zweifel und Einschränkung angeboren, inhärent und unantastbar, weil sie kein einfacher, primärer Belang des Menschen, wie sein Interesse an Leben, Leib, Psyche, Freiheit der Handlung, Bewegung, Religion, Meinung, Vereinigung, Kunst, Wissenschaft, Eigentum etc. ist. Worin liegt dann aber die normative Eigenschaft der Menschenwürde, wenn sie einerseits ein wesentlicher Belang des Menschen ist, andererseits aber kein derart inhaltlich primärer Belang?
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Ders., Normative Ethik, Berlin 2010, 50 ff.
Zu einem adäquaten Verständnis der inhärenten, unveräußerlichen Menschenwürde
Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich vor Augen führen, dass wir sekundäre Wünsche und Ziele mit Bezug auf primäre Belange haben. Wir können also etwa den sekundären Wunsch fassen, das primäre Bedürfnis nach Sport oder den primären Wunsch nach schöner Musik zu entfalten.20 Und wir können das sekundäre Ziel ausprägen, unseren primären Wunsch nach Schokolade einzuschränken und uns ehrgeizigere politische Ziele zu setzen. Wünsche und Ziele sind also im Gegensatz zu Bedürfnissen und Strebungen aufeinander beziehbar bzw. iterierbar, das heißt mögliche Eigenschaften zweiter und höherer Ordnung gegenüber primären Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen, also anderen normativ relevanten Eigenschaften primärer bzw. niederer Ordnung. Die mit der Eingangsfrage gesuchte weitere Konkretisierung der großen Menschenwürde als Selbstbestimmung ist damit gefunden: Die innere, unveränderliche Eigenschaft der großen Menschenwürde ist die Eigenschaft der tatsächlichen oder wenigstens potentiellen Selbstbestimmung über die eigenen Belange, das heißt die Bestimmung der eigenen Belange primärer bzw niederer Stufe durch die Wünsche und Ziele zweiter bzw höherer Stufe. Ein wesentlicher Teil unseres Selbstverständnisses beruht auf dieser Selbstbestimmung über unsere eigenen Belange. Die Auffassung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange erster bzw. niederer Stufe passt gut zur häufigen – wenn auch textinterpretatorisch zum Zeitpunkt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht gerechtfertigten – Identifikation des Menschenwürdebegriffs mit dem Verbot der ausschließlichen Instrumentalisierung des Menschen in Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs.21 Fragt man sich, was es überhaupt bedeuten kann, den anderen nicht nur als Mittel zu gebrauchen, so genügt es nicht, einzelne Belange erster Stufe zu berücksichtigen. Werden die Wünsche und Ziele hinsichtlich eigener Belange, also die normativen Eigenschaften zweiter bzw. höherer Stufe negiert, dann impliziert das auch eine Verneinung aller Belange erster bzw. niederer Stufe. Darf jemand nicht einmal mehr über seine Wünsche und Ziele bezüglich seiner eigenen Belange entscheiden, dann sind auch alle Belange erster Stufe als eigenständige Interessen entwertet. Auf diese Weise wird verständlich, wie ein Anderer vollständig instrumentalisiert werden kann, ohne dass es sich nur um die allgemeine ethische Anforderung handelt, andere überhaupt als ethisch relevante Wesen mit eigenen Belangen zu respektieren. Das Verständnis der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange kann erklären, warum man sich der Menschenwürde sehr viel später als der
Zu derart sekundären Bezugnahmen, allerdings beschränkt auf Wünsche: Harry Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: ders., The Importance of What We Care About, Cambridge 1988, 11–25; Robert Spaemann, Personen – Versuch über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 1996, 217–234 und passim. 21 Vgl. Dietmar von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, in: ders., Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009, 9–26. 20
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anderen Menschenrechte bewusst wurde, warum die Menschenwürde die Vorrangstellung in der Normhierarchie erreicht hat und warum sie als angeboren, inhärent und unantastbar verstanden wird. Der Schutz der primären Belange wie Leben, Leib, Freiheit und Eigentum war zunächst erheblich wichtiger, insbesondere politisch am Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Rechteerklärung von Virginia und der französischen Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger. Erst nachdem man diese primären Belange bedacht und insbesondere als Grund- und Menschenrechte anerkannt und geschützt hatte, konnte die Reflexion und Normierung zu den Belangen und damit Rechten zweiter und höherer Ordnung übergehen. Wie bei allen Metaphänomenen ist auch beim Phänomen der Selbstbestimmung über die eigenen Belange eine abstraktere und damit weitergehende Reflexion erforderlich, die vorab die Erkenntnis der konkreteren, zum Teil angeborenen, zum Teil erworbenen Belange der ersten Stufe wie Leben, Leib, körperliche Unversehrtheit, Religion, Kunst, Wissenschaft, Vereinigung usw. voraussetzt. Die Konkretisierung der Menschenwürde als innere Eigenschaft der Selbstbestimmung über die eigenen Belange bezieht sich auf eine nicht bezweifelte, allgemeine, in äußeren Anzeichen und verbalen Selbstbeschreibungen empirisch feststellbare, angeborene und inhärente Eigenschaft des Menschen. Es wird soweit ersichtlich von niemandem bestritten, dass der Mensch derartige Belange zweiter und höherer Stufe aufweist, das heißt entweder aktuell hat oder zumindest im Verlauf der normalen Kindheitsentwicklung entfalten wird.22 Diese Konkretisierung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange bedarf also keiner starken metaphysischen, ontologischen oder religiösen Annahmen. Sie muß somit auch von metaphysischen Skeptikern und Agnostikern akzeptiert werden. Es ist nicht erkennbar, wie einer der eingangs erwähnten radikalen Skeptiker der Menschenwürde bestreiten könnte, dass der Mensch von Natur aus Ziele und Wünsche zweiter und höherer Ordnung aufweist. Diese Skeptiker können ihre Zweifel gegenüber der Realität der Menschenwürde nur ausbilden und aufrechterhalten, weil sie die empirische Realität ausblenden und die Würde des Menschen nicht mit dieser grundlegenden und schlechterdings unbezweifelbaren menschlichen Eigenschaft in Verbindung bringen.23
Vgl. zur Diskussion über die Zeiten davor und danach: Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, München 2016, 81 ff.; ders., Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange, Philosophisches Jahrbuch 124 (II/2017), 254–258. 23 Dies ist etwa der Fall bei Achim Lohmar, Falsches moralisches Bewusstsein, Hamburg 2017, 78 ff., der weder die Selbstbestimmung über die eigenen Belange noch den sozialen Wert eines Menschen als Eigenschaft in Erwägung zieht und diskutiert, sondern nur behauptet, dass es keine menschenspezifische natürliche Eigenschaft geben könne, welche einen moralischen Status verleihen könnte. 22
Zu einem adäquaten Verständnis der inhärenten, unveräußerlichen Menschenwürde
IV.
Ist das sadistische Quälen eines anderen Menschen eine Verletzung der Menschenwürde?
Im letzten Teil soll eine Anwendungsfrage diskutiert werden, durch welche sich die Menschenwürde besser verstehen lässt. Ist das sadistische Quälen eines anderen Menschen, das in der äußeren Durchführung der Handlung nicht von der Folter als eindeutiger Menschenwürdeverletzung zu unterscheiden ist, ebenfalls eine Verletzung der Menschenwürde?24 Zur Beantwortung dieser Frage wird man zunächst kurz fragen müssen, worin die Verletzung der Menschenwürde bei der Folter besteht. Sowohl die Zufügung von großem Leid ohne die Zustimmung des Betroffenen als auch der Zweck der Willensbrechung widersprechen wichtigen Bedürfnissen des Gefolterten und sind schon deshalb negativ zu bewerten. Manchmal sind entweder die Zufügung von Leid oder die Brechung des Willens gerechtfertigt, etwa durch die Polizei beim unmittelbaren Zwang. Das Spezifikum der Folter liegt in der zweckgerichteten Verbindung beider negativen Einwirkungen, also der instrumentellen Verbindung des physischen oder psychischen Leids mit der Willensbrechung: Das physische oder psychische Leid wird zugefügt, um den Willen zu brechen. Durch das große Leid und den großen Schmerz wird der Gefolterte durch den eigenen Körper oder die eigene Psyche dazu gebracht, dem fremden Willen des Folterers zu folgen. Der Wille des Gefolterten, nichts preiszugeben, und sein eigener Körper oder seine eigene Psyche, welche das große Leid und den großen Schmerz für den Betroffenen unerträglich machen und so die Preisgabe erzwingen, werden auf diese Weise zueinander in einen für den Betroffenen zerstörerischen Widerspruch gezwungen. Die natürliche Einheit des Menschen von Wille und Empfindung wird „auseinandergerissen“. Die natürliche Fähigkeit, durch Wünsche und Ziele zweiter Stufe über die eigenen primären körperlichen Strebungen und körperlichen und seelischen Bedürfnisse und Wünsche zu entscheiden, wird stark reduziert oder sogar ganz aufgehoben. Die Folter verletzt so die Selbstbestimmung über die eigenen Belange und ist damit eine paradigmatische Verletzung der Menschenwürde. Wie ist aber der spezielle Fall eines sadistischen Quälens eines anderen Menschen zu bewerten, das in der äußeren Durchführung der Handlung nicht von der Folter als eindeutiger Menschenwürdeverletzung zu unterscheiden ist? Stellt auch dieses sadistische Quälen eine Verletzung der Menschenwürde dar? Man wird hier zunächst zwischen einem sadistischen Quälen mit und ohne informierter und freier Einwilligung einwilligungsfähiger Personen unterscheiden müssen, also vereinfacht gesprochen zwischen dem Masochisten, der die Quälerei durch den Sadisten selbst will und dem unfreiwilligen Opfer, welches die Quälerei durch den Sadisten nicht will.
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Ich verdanke die Frage Ulfrid Neumann, der sie berechtigterweise aufgeworfen hat.
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1. In der ersten Alternative willigt der Gequälte bei Verfügbarkeit der relevanten Informationen und persönlicher Einwilligungsfähigkeit in die Handlung des Sadisten ein. Der Gequälte ist also ein Masochist, der Freude an sadistischen Handlungen durch andere empfindet. In Rede steht hier dasjenige, was offensichtlich – sofern man einschlägigen Reportagen glauben will – privat aber auch geschäftsmäßig in sog. Domina-Studios stattfindet. Derartige Handlungen werden in der modernen Literatur ebenfalls nicht selten geschildert. Ist diese Praxis, welche einvernehmlich geschieht, eine Verletzung der Menschenwürde? Anders als bei der Folter ist dabei nicht die Willensbrechung das Ziel und eine derartige Willensbrechung geschieht auch nicht, da ja keine Aussage erzwungen werden soll. Somit scheidet der Aspekt der Verletzung der Belange zweiter Stufe durch Instrumentalisierung des eigenen Körpers und der eigenen Psyche des Gequälten aus. Vielmehr liegt hier ein Widerspruch zwischen dem normalen Bedürfnis eines Menschen nach Schmerzfreiheit und dem speziellen Bedürfnis bzw. Wunsch des Masochisten nach lokal und in der Intensität sowie Dauer beschränkten Schmerzen vor. Dies ist ein Konflikt zwischen zwei Bedürfnissen erster Stufe, welchen der Masochist durch eine eigenständige Entscheidung gemäß seinen eigenen Belangen zweiter Stufe löst. Insofern ist keine signifikante Beeinträchtigung der Selbstbestimmung über die eigenen Belange erkennbar und damit auch keine Verletzung der großen, inhärenten Menschenwürde. Das sadistische Quälen durch einen anderen Menschen hat natürlich auch einen Aspekt der Abwertung der sozialen Stellung des Gequälten, so dass eine Verletzung der kleinen und mittleren Menschenwürde in Frage käme. Aber sofern der Betroffene einwilligt, wird man darin eine Neutralisierung dieser Abwertung sehen müssen. Stimmt jemand zu, so wird er – sofern dies informiert und freiwillig geschieht und er einwilligungsfähig ist – nicht gedemütigt. Man kann in derartigen Fällen weiter fragen, wie das sadistische Quälen denn zu beurteilen ist, wenn es öffentlich erfolgt, also etwa auf einer Bühne oder im Freien. Hier nähert man sich den Konstellationen, welche teilweise und durchaus umstritten als Menschenwürdeverletzungen angesehen wurden, nämlich dem Fall des sog. Zwergenweitwurfs25 und nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts der Darstellung von
In Deutschland, Frankreich und weiteren Ländern haben die Behörden, anders als etwa in den angelsächsischen Staaten, gewerbliche Veranstaltungen untersagt, bei denen kleinwüchsige Menschen zum Amüsement des zahlenden Publikums möglichst weit durch die Luft geworfen werden. Dies geschah, obwohl der kleinwüchsige Betroffene, der auf diese Weise seinen Lebensunterhalt bestritt, in den Wurf seiner eigenen Person eingewilligt hatte. Das Verwaltungsgericht Neustadt (NVwZ 1993, 98 f.) und der französische Conseil d’Etat haben das Verbot bestätigt (27.10.1995 Commune de Morsang-sur-Orge, Recueil Dalloz Sirey 1996, 177). Die UN-Menschenrechtskommission hat die Klage eines vom Verbot betroffenen Kleinwüchsigen abgewiesen. Sie hat im Verbot des „Zwergenweitwurfs“ zum Schutz der Menschenwürde keine unzulässige Einschränkung der Berufsfreiheit des Kleinwüchsigen gesehen (Manuel Wackenheim v. France, United Nations Human Rights Committe, Selected Decisions under the Optional Protocol, Communication No 854/1999, 110 ff.). 25
Zu einem adäquaten Verständnis der inhärenten, unveräußerlichen Menschenwürde
Personen in einer kommerziellen Peep-Show.26 Der Unterschied zum Fall des Zwergenweitwurfs besteht aber darin, dass beim sadistischen Quälen nicht der unaufhebbare körperliche Mangel eines Menschen zum Gaudium der Zuschauer gemacht wird. Und der Unterschied zur Peep-Show besteht darin, dass das Verhältnis zwischen Ausführenden und Zuschauern nicht derart agonal-instrumentalisierend ausgestaltet ist, wie bei der Guckkastenbeobachtung in der Peep-Show, bei welcher der Beobachter für die Ausführenden unerkennbar bleibt. Der Zuschnitt der Veranstaltungen ähnelt vielmehr typischerweise denjenigen von Stripteasedarbietungen, vorausgesetzt die Quälerei findet nicht in einer Peep-Show statt. Man wird wohl kaum bezweifeln können, dass die Beobachtung sadistischer Handlungen anderer eine gewisse menschliche Verrohung ausdrückt und weiter befördert. Wer an so etwas Spaß hat, der lässt seinen niederen Trieben freien Lauf. Aber die Schwelle zur Verletzung der Menschenwürde dürfte durch eine solche Veranstaltung noch nicht überschritten sein, sofern eine informierte Einwilligung des Gequälten vorliegt sowie sich die Grausamkeit noch in Grenzen hält und nicht zu schweren Verletzungen oder gar dem Tod des Gequälten führt. 2. Wie ist die Situation zu beurteilen, wenn der Betroffene nicht einwilligt, wenn die sadistische Quälerei der Folter also auch darin ähnelt, dass die Zustimmung des Gequälten fehlt? Der Körper des Gequälten wird bei dieser Straftat der Körperverletzung nicht dazu benutzt, um dessen Willen zum Schweigen, also dessen Selbstbestimmung über die eigenen Belange zu brechen. Allerdings unterscheidet sich der Vorgang von einer einfachen Körperverletzung, welche nur das primäre Bedürfnis des Verletzten missachtet, nicht in seinem Körper beeinträchtigt zu werden, etwa im Falle eines Streits, der in eine Rauferei ausartet, oder eines Raubüberfalls mit Körperverletzung. Der spezifische zusätzliche Faktor liegt im Sadismus des Quälers. Der sadistische Quäler empfindet dadurch Lust, dass der gequälte Mensch körperliche Schmerzen erleidet. Natürlich wird der Gequälte hierdurch für die eigene Lustbefriedigung des Quälers instrumentalisiert. Der Schmerz des Anderen ist aber im normalen Fall einer relativ kurzen sadistischen Handlung nicht so lang anhaltend und intensiv, dass die Selbstbestimmung über die eigenen Belange wie bei der lebenslangen Freiheitsstrafe oder wie bei der gravierenden Armut faktisch ausgeschaltet wird. Der Gequälte hat natürlich das Ziel, seine Schmerzen zu beenden, welche auch kurzzeitig alles dominieren. Aber eine solche kurzzeitige Dominanz eines Belangs erster Stufe, welcher dann auch auf Belange zweiter Stufe einen gewissen Einfluss hat, wird man noch nicht als hinreichend für einen Menschenwürdeverletzung ansehen können, denn dieser gewisse Einfluss auf Belange zweiter Stufe wird bei allen Frustrationen von Belangen erster Stufe auftreten, z. B. auch wenn man eine Prüfung nicht bestanden hat. Anders wäre die Lage aber natürlich, wenn der Gequälte über Tage, Wochen oder sogar Monate in
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BVerwGE 64, 274 (278 f.).
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der Gewalt des Sadisten bliebe, also quasi wie ein Sklave gehalten würde. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dann eine Verletzung der Selbstbestimmung über die eigenen Belange und damit der großen Menschenwürde vorliegen würde. Für den typischen Fall der bloß kurzen Quälerei wird man sich fragen müssen, ob die sadistische Handlung nicht wenigstens die kleine und mittlere Menschenwürde der gleichen sozialen Stellung tangiert. Der sadistische Quäler nimmt einen nicht unerheblichen Eingriff in die Körpersphäre des anderen Menschen vor, um sich selbst eine abnorme, krankhafte und sozial geächtete Befriedigung zu verschaffen. Das Verhältnis von Sadist und Opfer ist von einer hohen Asymmetrie der Macht geprägt. Der Gequälte wird als Mittel zur eigenen Lustbefriedigung benutzt. Das impliziert eine schwerwiegende Abwertung der sozialen Stellung des Anderen. Damit ist die Schwelle zur Demütigung sicher regelmäßig überschritten. Das kurzzeitige sadistische Quälen stellt also zwar keine Verletzung der großen Menschenwürde der Selbstbestimmung über die eigenen Belange dar, aber eine Verletzung der kleinen und mittleren Menschenwürde der gleichen sozialen Stellung des Gequälten. Die Gefahr, dass eine solche Praxis des Sadismus generell die Achtung vor den anderen Menschen herabsetzt und zur Gewöhnung an gravierende Demütigungen führt, ist überdies nicht unerheblich. Man kann das Ergebnis dieser Überlegungen im III. Teil wie folgt zusammenfassen: Das kurzzeitige sadistische Quälen eines anderen Menschen stellt bei typisierender Betrachtung nur dann eine Verletzung der kleinen und mittleren Menschenwürde der gleichen sozialen Stellung dar, wenn es ohne Einwilligung des Gequälten erfolgt. Dietmar von der Pfordten
Abteilung für Rechts- und Sozialphilosophie, Georg-August-Universität Göttingen, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen
Das Gedächtnis als epistemisches Element zum Verständnis der Menschenwürde JOSÉ-ANTONIO SANTOS (Madrid)
Abstract: The article aims to define and analyze from a hermeneutical perspective the concept of
memory and human dignity in the post-metaphysical era. The section I presents a brief introduction to the topic. The section II provides a concise overview of the concept of memory understood as historical consciousness, which is analyzed from a conception characterized by the fact that the present decisions have your foundations in the past. It is understood from a reasonable past in line with the political equality of all human beings. The section III offers an understanding of human rights, which consists of a rethinking of the present historical consciousness. The concept of historical consciousness allows us to understand the importance of spatial-temporal changes and future prospects. In the section IV, a conception of human nature in relationship with human dignity has been more extensively analyzed, establishing that humanity is past, present and future. Finally, the last section draws some conclusions. Keywords: hermeneutics, human dignity, human rights, memory, nature
I.
Einleitung
In diesem Aufsatz möchte ich einige Wege ausloten, um das Konzept der Menschenwürde und des Gedächtnisses in der postmetaphysischen Ära besser zu verstehen. Daher basiert mein Ansatz auf einer hermeneutischen Auffassung, die vorsichtig mit Begriffen wie Natur, Menschenwürde oder Mitgefühl agiert. Zu beachten ist, dass derzeit diese Begriffe sehr stark von der Biotechnologie und dem digitalen Zeitalter beeinflusst sind. So gelten Wissenschaft und Technik im Allgemeinen und die Medizin und ihre Technik im Besonderen als Leitideen des Fortschritts und beherrschen das ganze Gesundheitswesen. Sie werden zu den dominierenden Mächten im Bereich der Gesundheit. Die Möglichkeiten werden unendlich groß und die Maxime „Wenn ich das
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kann, warum sollte ich es nicht tun?“ setzt sich durch. In dieser Perspektive erscheint die Wissenschaft als Gut per se, als wohltuend und Perspektiven eröffnend. Ich glaube indessen, dass der Rechtsphilosoph seine eigenen philosophischen und juristischen Werkzeuge hat, die es ihm ermöglichen, Wissensfortschritte zu machen. Die Erklärungen der Wissenschaft und der Technik, bezogen auf den Menschen, sind nicht erschöpfend, wenn Wissenschaft nur die Natur- und Biowissenschaften meint. Diese Wissenschaften können nicht den Lebenssinn vermitteln und auch nicht zur Begründung von Lebenssinn beitragen. In diesem Kontext würde ich die Verwendung von Gedächtnis (oder besser gesagt historischem Bewusstsein) als epistemisches Instrument zur Analyse der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Menschenwürde und der möglichen praktischen Konsequenzen des Einsatzes vorschlagen. Diese Perspektive ist besonders wichtig für die Zukunft, weil sie das Selbstbewusstsein des Subjekts, das ein zeitliches Wesen und Schöpfer der Geschichte ist, ins Zentrum stellt. In diesem Sinne sagt Dilthey: „Denn was dem Menschen wertvoll sei und welche Regeln das Tun der Gesellschaft leiten sollen, das kann nur mir Hilfe der geschichtlichen Forschung mit irgendeiner Aussicht auf allgemeingültige Fassung untersucht werden. Und so stehen wir wieder vor demselben Grundverhältnis: die Philosophie der Geschichte, anstatt sich der Methoden der geschichtlichen Analysis und der Selbstbesinnung zu bedienen (welche ihrer Natur nach ebenfalls analytisch ist), verbleibt in Allgemeinvorstellungen, welche entweder den Totaleindruck des geschichtlichen Weltlaufs in einer Abbreviatur wie eine Wesenheit hinstellen oder dieses zusammengezogene Bild von einem allgemeinen metaphysischen Prinzip aus entwerfen.“1
II.
Historisches Bewusstsein: Konzept und Konzeption
Das Gedächtnis ist ein Produkt der Intelligenz, das von der Vernunft, aber auch von Wünschen und Leidenschaften beeinflusst wird. Es ist die Fähigkeit, sich an Ideen, Konzepte und Eindrücke zu erinnern, die auf irgendeine Weise erlebt wurden, und unsere Art zu sein mitzugestalten. Es ist eine Suche nach Erinnerung und verfolgt letztendlich eine Erinnerung an das Vergessen, wie Augustinus von Hippo sagt. So schreibt er in seinem Werk Confessiones: „Wenn ich mich nun des Gedächtnisses erinnere, so ist das Gedächtnis selbst sich gegenwärtig. Wenn ich aber des Vergessens mich erinnere, so ist das Gedächtnis zur Stelle und auch das Vergessen, das Gedächtnis, wodurch, und
Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Gesammelte Schriften. Bd 1, 1922, 98. 1
Das Gedächtnis als epistemisches Element zum Verständnis der Menschenwürde
das Vergessen, woran ich mich erinnere.“2 Damit stelle ich eine bestimmte anthropologische Auffassung vom Menschen vor und nehme Abstand von bloßem Wunschdenken. Nun gehört die Rechtsphilosophie zur Philosophie der praktischen Vernunft; die praktische Vernunft und damit die Philosophie der praktischen Vernunft3 (inwiefern diese die Probleme der praktischen Vernunft in ihrer Universalität betrachtet) versucht aber, die Rationalität der Überlegungen und Entscheidungen, durch die die Menschen ihre frei gewählten Handlungen gestalten, zu sichern, so dass eine erfolgreiche menschliche soziale Praxis und gelingende Gemeinschaften möglich sind. Die Rechtsphilosophie ist dabei dadurch gekennzeichnet, dass die von ihr gewonnenen Grundlagen für gegenwärtige Entscheidungen, welche die Zukunft gestalten, auf vergangenen Ereignissen beruhen. Darin liegt ihre hermeneutische Dimension. Das Gedächtnis des Geschehenen zu erhalten heißt, das Denken nach 1945 zu befruchten. Die Philosophie des Gedächtnisses – jenseits einer parteilichen Instrumentalisierung – hat den Sinn, die politischen Zwänge nicht mit intellektueller Strenge zu verwechseln. Die Philosophie des Gedächtnisses ist als politische Waffe verwerflich. Eine (neue) Interpretation des Gedächtnisses ist ein Problem, das die ganze Menschheit angeht. Damit stelle ich eine bestimmte anthropologische Auffassung vom Menschen vor und nehme Abstand von bloßem Wunschdenken. So geht es nicht darum, das Trauma aus Auschwitz zu überwinden, sondern vielmehr darum, das historische Bewusstsein für die Gegenwart neu zu denken und auszulegen. Es geht mehr um Gedächtnis als um Geschichte, d. h. um mehr Unparteilichkeit. So benutze ich nicht den Begriff des historischen Gedächtnisses, da dieses ein Oxymoron ist.4 Das Vergangene neu zu denken bringt es mit sich, die Gegenwart mit anderen Augen zu sehen, deshalb ist das Gedächtnis immer selektiv. Die Erinnerung ist ein Werk des Lernens, die Frage ist hier das Wie, das Verständnis dessen, woran man sich erinnern soll. Die Vergangenheit dient als Grundlage für die Auslegung der Gegenwart und stellt eine Beziehung zur Gegenwart her. Es geht darum, die Gegenwart unter Berücksichtigung der Vergangenheit zu analysieren, einer vernünftigen Vergangenheit, die für die politische Gleichheit aller Menschen eintritt. An diesem Punkt wird diese „Pflicht des Gedächtnisses“ zu einer Erinnerung des Vergessens, die im Wesentlichen aus der „Pflicht des Nichtvergessens“5 besteht, die in diesem Fall mit einem anderen nicht weniger problematischen Begriff verbunden wird, nämlich der Menschenwürde. Analysiert werden soll die Gegenwart aus der Vergangenheit, aus der bitteren Erfahrung
Augustinus von Hippo, Confessiones/Bekenntnisse. Übersetzung und Anmerkungen von W. Thimme mit einer Einführung von N. Fischer, 2004, 457. 3 Vgl. John Finnis, Foundations of Practical Reason Revisited, American Journal of Jurisprudence 50 (2005), 109–131. 4 Gustavo Bueno, Sobre el concepto de ‚memoria histórica común‘ (Über das Konzept des ‚gemeinsamen historischen Gedächtnisses‘), El Catoblepas 11 (2003), 2. 5 Paul Ricoeur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, 2000, 37. 2
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der Vergangenheit im Einklang mit der politischen Gleichheit aller Menschen.6 Das historische Bewusstsein nimmt die Vergangenheit als Erfahrung. Es ermöglicht uns, die Bedeutung des zeitlichen Wandels und die Zukunftsperspektiven zu verstehen. III.
Bedeutung der Nachkriegszeit überdenken
Verschiedene Intellektuelle übten – wohl aus unterschiedlichen theoretischen Anschauungen – die Rolle von „Feuermeldern“7 aus, um diesen benjaminischen Ausdruck zu verwenden, als sie letztlich die beginnende Sittenlosigkeit der Zeit unmittelbar vor 1933 betonten. Alle diese Anstrengungen wirkten am Anfang nicht, wurden aber plausibel, als man das Gedächtnis neu dachte: Das Jahr 1933 und das demokratische Aufkommen des Naziregimes war der Beginn einer historischen Epoche des moralischen Verfalls. Einige würden behaupten, dass dieser moralische Niedergang das Erbe der theoretischen Grundlagen der vorigen Epoche sei und es nur eines Funken bedurfte, um die Zündschnur zu entzünden. Im Kontext dieses moralischen Debakels erkennt man die Wichtigkeit des Zieles einer Fundamentierung, die nicht in einen ethischen Relativismus fällt. Relativismus muss nicht gleich Atheismus oder Apathie bedeuten, kann aber u. U. sich ihnen anlehnen. Die Stellung des Apathischen ist die des Indifferenten, der in der Figur des Neutrums personifiziert wird. Diese Apathie wurde zu einer „Apathie des Herzens“8 in der Vergangenheit und auch jetzt in der Gegenwart. Während des Nationalsozialismus war die Haltung gegenüber den Normen auf den ersten Blick durch Unterwerfung unter die Autorität geprägt. Die Autorität gab aber dem Massenkonformismus nach, der zum wirklichen Motiv für die Massensterilisierungen und -vernichtungen wurde. Die Unterwerfung vor der Autorität blieb sekundär. Wer diesem Unsinn widerstand, wollte nicht als zu gut oder zu schwach erscheinen, denn es fanden sich keine Widerstandsmassen. Wenn Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem sich auf die Banalität des Bösen9 bezieht, meinte sie, wie leicht ein Mensch zum Scharfrichter werden kann. Als zentraler Einschnitt zeigen sich hierbei die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die sowohl auf der staatlichen als auch auf der überstaatlichen Ebene zu einem veränderten Bild der Menschenrechte führten. In den Nürnberger Prozessen werden zum ersten Mal Einzelne persönlich für die im Namen des Staates begangenen Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen. Und so wandelt sich die Bedeutung der Philosophie und des Rechts (somit auch der Rechtsphilosophie). Zugespitzt gesagt stellt sich die Frage, ob man nach 1945 noch philosophieren kann, ohne Auschwitz zu bedenken. 6 7 8 9
Es ist nicht weniger subjektiv als die Beschlüsse der Gerichte. Walter Benjamin, Einbahnstrasse, 1928, 51–52. Arthur Kaufmann, Über die Tapferkeit des Herzens, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 77 (1991), 16. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem A Report on the Banality of Evil, 1963, 231.
Das Gedächtnis als epistemisches Element zum Verständnis der Menschenwürde
Im kontinentalen Europa scheint dies kaum noch möglich zu sein. Adornos kategorischer Imperativ, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“, muss daher wichtig werden für die Art und Weise, Philosophie und Recht zu praktizieren.10 Diese Denkart nach Auschwitz heißt, das Verständnis des Holocausts als eines singulären Ereignisses zu überschreiten, obwohl (oder vielleicht sogar gerade weil) sie nicht nur den Holocaust, sondern auch den Rest des Vergessenen und Verdrängten mit einbegreift – d. h. die Bekämpfung aller Formen der Erniedrigung im weiteren Sinne. Offensichtlich kann man nicht die vor der Zeit des Nationalsozialismus herrschenden juristisch-theoretischen Anschauungen verantwortlich machen, aber es ist wohl wahr, dass eine gut strukturierte Idee manchmal bösartig werden und sogar verheerende Folgen haben kann. Und gerade hier begegnen wir einer der Schwierigkeiten: festzustellen, wann die Auffassung eines Autors sich als gefährlich erweist. Das Urteil kommt unvermeidlicherweise ex post. Es ist nur aus der Retrospektive möglich. In diesem Sinne haben retrospektive Studien unwillkürlich eine betrügerische Komponente. Betrügerisch sind sie deshalb, weil die historische Extrapolation vergangene Taten stets mit heutigen Augen bewertet. Betrügerisch sind sie aber auch deshalb, weil sie den Rechtsphilosophen zwingen, eine Hermeneutik auszuüben und mehr Fragen zu stellen, als der Autor sich bei seinem Entwurf stellte. Die nahe Vergangenheit, das ist nicht nur das Lager Auschwitz-Birkenau, sondern auch die Kongogräueln unter König Leopold II. von Belgien, die stalinistischen Säuberungen, die Revolution Pol Pots, der Abu-Ghraib-Folterskandal, der Bürgerkrieg in Syrien usw. Dafür ist es notwendig, das Gedächtnis mit Hilfe von anderen Diskurs leitenden epistemischen Elementen wie der Bewertung der aufgetretenen Ereignisse, den geretteten Zeugnissen, den erfassten Bildern, den gezeigten Symbolen oder der Sprache früherer und gegenwärtiger Zeiten zu analysieren. Ein Dialog macht Normen erforderlich, bei denen man sich ausschließlich an die Bedeutung von Wörtern, an die Kohäsion und die syntaktischen Beziehungen hält. Sich an den Zusammenhang und an die Einheit der Signifikanten zu halten, scheint nicht so einfach zu sein. Man muss den Wörtern einen Inhalt geben, man muss sich davor hüten, dass sie das sagen, was wir11 wollen, dass sie meinen. Ich gehe der Frage nach, wie man eine Philosophie nach Auschwitz verstehen kann. In diesem Sinne stellt man in der Retrospektive fest, wie der Sinn der Termini, jenseits einer natürlichen logischen Entwicklung im allgemeinen Sinn, sich gewandelt und geweitet hat. Von da an gehen die Schritte rückwärts und werden die Begriffe aufgespürt, was indirekt zu einer Rechtfertigung werden könnte, es bisher nicht genug getan zu haben.
Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz (1966), Gesammelte Schriften (hg. von R. Tiedemann), Bd 10. Zweite Hälfte, 1977, 674–690. 11 Im juristischen Kontext kann gelegentlich dieses Wir durch ein hohes Gericht aufgebürdet werden. 10
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IV.
Ein Verständnis der menschlichen Natur und der Menschenwürde
In der Antike charakterisierte Aristoteles die Natur als das Wesen der Dinge mit einem stabilen und entschlossenen Charakter.12 In seinem Werk Physik kann man lesen: „Auf eine Art also heißt die Natur [dieser Gestalt] der erste, allem demjenigen zum Grunde liegende Stoff, was in sich einen Ursprung von Bewegung und Veränderung trägt. Auf andere Art aber: die Form und wesentliche Gestalt nach dem Begriffe. Denn gleichwie man Kunst nennt das Kunstgemäße und das Künstliche, so auch Natur das Naturgemäße und das Natürliche.“13
In jüngerer Zeit gab es einen Paradigmenwechsel in Bezug auf dieses Konzept der menschlichen Natur, der hauptsächlich auf die Sequenzierung des menschlichen Genoms im Jahr 2001 zurückzuführen ist. Damit verliert die These vom Wesen der menschlichen Natur an Überzeugungskraft, obwohl sie nach wie vor vertreten wird. Das Problem wird nicht nur kompliziert, wenn es um die Frage der Existenz geht, sondern auch, wenn versucht wird, herauszufinden, was es ist, bis zu dem Punkt, dass für Mosterín die menschliche Natur keine ätherische Entelechie ist, sondern in der robusten Realität des Genoms verankert ist.14 Die menschliche Natur ist das Programm zur Verbesserung eines freien Wesens, das eine Reihe gemeinsamer Elemente umfasst, nämlich genetische Faktoren einerseits und die Umgebung, in der es sich entwickelt, andererseits. Viele der Merkmale, die früher den lebenden Menschen identifizierten, sind durch den bloßen Fortschritt der Wissenschaft fragwürdig geworden, weil festgestellt wurde, dass sie auch bei nicht vernunftbegabten Tieren auftreten. An dieser Stelle kommt das Mitleid ins Spiel. Das Mitleid erscheint in der Beziehung zum Anderen, wenn man den Schmerzen und das Leid des Anderen verstehen möchte. Das lässt die Frage zu, ob, wenn man die Natur des Menschen mit größerer Klarheit erkennen will, dafür eine Einstellung des Mitgefühls notwendig ist. Womöglich kann man das Mitleid mit der christlichen Idee der Nächstenliebe gleichstellen, aber ohne dessen Ehrgeiz und Tiefe zu erreichen. Es geht um eine Beziehung, die Mitleidende und Bemitleidete einschließt und das Verständnis des Individuums als Anderen, als Teil einer Spezies, einfordert. So ist die wahre Natur des Menschen eine mitleidende. Die Zeit des Nationalsozialismus zeigt uns aber, dass Menschen nicht notwendig durch Mitleid bestimmt werden. Der Mensch hat nicht nur eine Natur, er hat auch Geschichte und die Geschichte des Menschen ist eine kulturelle Realität.
Vgl. Aristoteles, Metaphysik. Erster Teil. Übersetzt von E. W. Hengstenberg und mit Anmerkungen und erläuternden Abhandlungen von C. H. Brandis, 1824, 84–85. 13 Aristoteles, Physik. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C. H. Weisse, 1829, 28. 14 Jesús Mosterín, La naturaleza humana (Die menschliche Natur), 5. Aufl., 2006, 12. Auch 11. 12
Das Gedächtnis als epistemisches Element zum Verständnis der Menschenwürde
In Anbetracht dieses Szenarios kann es angebracht sein, eine Überwindung der rein wissenschaftlichen Konzeption der Dinge zu befürworten. Ein Merkmal, das den Menschen vom nicht vernunftbegabten Tier unterscheidet, ist daher seine Menschenwürde. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit Abstraktion und Ambiguität behaftet ist und Gegenstand operationeller Probleme in der Praxis ist. Das Konzept der Menschenwürde ist ein Konstrukt, das entwickelt worden ist, um Situationen wie die in der Vergangenheit aufgetretenen so weit wie möglich zu vermeiden oder zu stoppen.15 Aus nahe liegenden Gründen widmete das Bonner Grundgesetz der Menschenwürde besondere Aufmerksamkeit und hob seine Nichtverfügbarkeit und seinen Charakter als Leitprinzip der Verfassungsordnung16 hervor. Eine andere Frage ist, ob jede konkrete Anwendung der Grundrechte aus der Menschenwürde17 abgeleitet werden kann. In Deutschland dominiert die Auffassung, dass alle Grundrechte eine Grundlage enthalten, die mit der Menschenwürde zu tun hat. Meiner Meinung nach ist die Menschenwürde eine innere, unveräußerliche, unverletzliche und inhärente Eigenschaft oder Qualität eines jeden Menschen, „die bedingungslos akzeptiert werden muss, nicht das, was er sagt oder tut, sondern einfach durch die Tatsache, dass er ist.“18 Es ist eine Eigenschaft, die unabhängig davon besteht, ob sie von anderen Menschen oder aus politischem Konsens anerkannt wird oder nicht. Man kann daher von einem inneren Wert des menschlichen Lebens sprechen.19 Aus einer gegenteiligen Position behauptet Luhmann, dass die Würde und Freiheit der Persönlichkeit oder die Unantastbarkeit des Eigentums nicht letzter Bezugspunkt des Grundrechtsverständnisses bleiben können. So sagt er: „Grundrechte sind nicht lediglich Träger der Sollsuggestion von Werten dieser Untersysteme der allgemeinen Gesellschaftsordnung. Ihre Funktion ergibt sich letztlich aus den Problemen der Systembildung und der sozialen Differenzierung. In einer differenzierten
In diesem Sinne wird ein Schritt unternommen, wenn man sich für die Menschenwürde der Neugeborenen anstelle ihrer bloßen Körperlichkeit entscheidet. 16 Vgl. Art. 1 GG: 1. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ 2. „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräuβerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ 3. „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Art. 2 GG: 1. „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. 2. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ 17 Arthur Kaufmann, Juristische Überlegungen im Umkreis von Sterbehilfe und Früheuthanasie, in: Soll das Baby leben? Über Früheuthanasie und Menschenwürde, hg. von Evangelische Akademie Baden, 1991, 13. 18 Francesc Torralba, ¿Qué es la dignidad humana? Ensayo sobre Peter Singer, Hugo Tristram Engelhardt y John Harris (Was ist Menschenwürde? Essay über Peter Singer, Hugo Tristram Engelhardt und John Harris), 2005, 400. 19 Singer kritisiert, dass die „konservativen Bischöfe und Bioethiker“ immer noch „ehrfürchtig über den inneren Wert des menschlichen Lebens sprechen, unabhängig von seiner Natur oder Qualität“. Peter Singer, Rethinking Life and Death. The Collapse of Our Traditional Ethics, 1994, 4. 15
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Sozialordnung wird die Existenzmöglichkeit der Untersysteme durch die Gesamtordnung vermittelt. Darauf gründet sich die Möglichkeit, dass sie im Verhältnis zueinander relativ autonom gesetzt und an eigenen Wertideen ausgerichtet werden können. Das bedeutet aber für die wissenschaftliche Analyse, dass diese Wertideen, z. B. die Würde und Freiheit der Persönlichkeit oder die Unantastbarkeit des Eigentums, nicht letzter Bezugspunkt des Grundrechtsverständnisses bleiben können.“20
Eine entgegen gesetzte Ansicht, wie Mosteríns, behauptet, dass „die Rechte und innere Werte nicht existieren und es nur gerechtfertigt ist, von ihnen in rhetorischen Kontexten zu sprechen, wo vielleicht der gute Zweck das böse Mittel eines verwirrenden und mythologischen Gebrauchs der Sprache rechtfertigt. Nichts hat einen inneren Wert. Der Wert ist eine Auswirkung der Bewertung. Etwas hat einen Wert in dem Maße, wie wir diesen schätzen, und nicht umgekehrt. Der wirtschaftliche Wert einer Ware oder Dienstleistung ergibt sich aus den Bewertungen, die die auf dem Markt tätigen Agenten für diese Ware vornehmen. Wenn niemand sie schätzt, hat die Ware keinen Wert. Das gleiche passiert mit dem ästhetischen und moralischen Wert“.21
Dieses Argument impliziert, dass die Tragödie des Holocaust erneut wiederholt werden kann, denn es ermöglicht eine Betrachtungsweise, wonach der Mensch nicht als Wert an sich betrachtet wird. Kant hat gut das Problem zwischen Menschenwürde und Wert erklärt: Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. So schreibt Kant: „Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so nothwendigen Selbstschatzung Anderer, als Menschen, entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem Anderen Menschen nothwendig zu erzeigende Achtung bezieht.“22 Bei Kant hat der Mensch keinen Wert, er hat Würde. Bekanntlich sprach er von der „Würde der Menschheit.“23 In diesem Sinne hat auch, die Menschheit Würde. In einem anderen Sinne sage ich, dass die Menschheit nicht nur aus gegenwärtigen Menschen besteht, sondern auch aus vergangenen und zukünftigen Menschen Die Menschheit ist nicht nur durch gemeinsame Aktion miteinander verbunden, sondern auch durch die Erzählung und das Wort. Die Menschheit ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution Ein Beitrag zur politischen Soziologie, 1965, 197. Jesús Mosterín (Fn. 14), 380. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 1797, 140. Siehe auch 96 (zitiert nach der Paginierung der Kantischen Originalausgabe). 23 Immanuel Kant (Fn. 22), 68, 84, 96, 118, 134, 135, 140, 172. Vgl. Dietmar von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), 501–517. 20 21 22
Das Gedächtnis als epistemisches Element zum Verständnis der Menschenwürde
Eine (neue) Interpretation der Erinnerung (oder des Gedächtnisses) der inklusiven Bürgerschaft ist ein Problem, das die ganze Menschheit angeht. Daher ist die Menschenwürde eine Eigenschaft, die einem Individuum ein Verdienst zuschreibt, und zwar lediglich dadurch, dass es zur menschlichen Spezies gehört und nicht unterschiedliche Grade von Menschen oder Unterscheidungen zwischen ihnen und Menschen herstellt. Es gibt wirklich Fortschritt, wenn die Menschenwürde aller Menschen garantiert ist. Es ist vernünftig anzunehmen, dass „es kein vor-menschliches (prepersonas) oder kein nach-menschliches Stadium (expersonas) gibt, sondern nur Menschen mit jeweils unterschiedlichem Grad an Verletzlichkeit und einzigartigen Möglichkeiten“. Es ist nicht weniger wahr, dass „es keine apodiktischen Argumente gibt, die den Philosophen überzeugen können“, die die Anerkennung der „inneren Würde“ ablehnen, weil letztendlich „die ontologische Würde des Menschen“ „ein Mysterium“ ist24 Folglich basiert es auf der politischen Gleichheit aller Individuen der menschlichen Spezies. In diesem Sinne formuliert Habermas die beiden Formeln des kategorischen Imperativs neu und verbindet sie mit der Existenz einer zweiten Person als Gesprächspartner: „Die Idee der Menschheit verpflichtet uns dazu, jene Wir-Perspektive einzunehmen, aus der wir uns gegenseitig als Mitglieder einer inklusiven Gemeinschaft ansehen, die keine Person ausschließt.“25 Daher ist es vorzuziehen, den Begriff des Menschen als den der Person oder des Individuums zu verwenden, obwohl eine sorgfältige Analyse zeigt, dass „die beschreibende Verwendung und die normative Verwendung dieser Begriffe nicht so weit voneinander entfernt sind, wie angenommen werden kann.“26 Es ist daher nicht möglich, endgültige ethische Normen oder völlig schlüssige rechtliche Argumente festzulegen. Das heißt, man steht vor der Aufgabe der Argumentationsfähigkeit. Es liegt auf der Hand, wie Neumann sagt, dass der religiöse Standpunkt nicht die Perspektive einer rationalen Ethik oder einer säkularen Verfassungsordnung sein kann. Das gilt auch dann, wenn man sich für die Auffassung entscheidet, dass das Prinzip der Menschenwürde als Verfassungsprinzip nicht nur historisch und ideologisch in der Philosophie der Aufklärung verwurzelt ist, sondern in gleicher Weise auch in der christlichen Tradition. Der Inhalt dieses Grundsatzes muss bestimmt werden, ohne auf den Inhalt des Glaubens zurückzugreifen.27 Es geht darum, nach einem gangbaren Weg zu suchen, um religiösen Fanatismus und übertriebenen Rationalismus zu überwinden und gleichzeitig das religiöse Phänomen und den unvermeidlichen Rationalismus mit der gebotenen Natürlichkeit und Francesc Torralba (Fn. 18), 398, 402. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4. Aufl., 2002, 98. 26 María Teresa López de la Vieja, La pendiente resbaladiza La práctica de la argumentación moral (Das Dammbruchargument Die Praxis der moralischen Argumentation), 2010, 234. 27 Ulfrid Neumann, Die Tyrannei der Würde. Argumentationstheoretische Erwägungen zum Menschenwürdeprinzip, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 84 (1998), 158. 24 25
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wie in der öffentlichen Debatte erforderlich anzugehen. Vielleicht liegt es in einer Art „immanenter Transzendenz.“28 die Habermas’ Konzeption der Beziehung zwischen Religion und Philosophie perfekt widerspiegeln würde. Er plädiert dafür, den Prozess der kulturellen und gesellschaftlichen „Säkularisierung als einen doppelten Lernprozess zu verstehen, der die Traditionen der Aufklärung ebenso wie die religiösen Lehren zur Reflexion auf ihre jeweiligen Grenzen nötigt“. Dies bedeutet, dass „[s]äkularisierte Bürger […], soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen [dürfen], noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten [dürfen], in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen.“29 Eine „sprachliche Intersubjektivität“ ist sinnvoll ist, die das „Erbe des hellenisierten Christentums“30 berücksichtigt. V.
Schlussfolgerung
Das Gedächtnis als epistemisches Element hat eine transformative Komponente, die nicht verzerrt werden darf, obwohl das Gedächtnis als Produkt der Intelligenz durch Wünsche und Leidenschaften kontaminiert ist. Eine Aufgabe dieser Größenordnung gewinnt in der gesamten Tradition eine besondere Bedeutung, die das Gedächtnis zum Grad der ars memoriae31 und die Interpretation zum Grad der ars interpretandi erhebt. Es ist ein Weckruf an Gesetzgeber, Machthaber und Richter, den Wert der Erinnerung für ein besseres Verständnis der Menschenwürde an ihrem Auslegungshorizont zu haben. Kurz gesagt, die Vergangenheit hilft die Gegenwart zu erklären, und gleichzeitig führt eine unzureichende Reflexion der Gegenwart zu einer schlechten Zukunft. Bibliographie
Adorno, Theodor, Erziehung nach Auschwitz (1966), Gesammelte Schriften (hg. von R. Tiedemann), Bd. 10. Zweite Hälfte, 1977, 674–690. Augustinus von Hippo: Confessiones/Bekenntnisse. Übersetzt von W. Thimme mit einer Einführung von N. Fischer, 2004. Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem A Report on the Banality of Evil, 1963. Vgl. Thomas M. Schmidt, Immanente Transzendenz und der Sinn des Unbedingten. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Philosophie bei Jürgen Habermas, in: Im Netz der Begriffe Religionsphilosophische Analysen, hg. L. Hauser / E. Nordhofen, 1994, 78–96. 29 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: hg. von J. Habermas / J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung Über Vernunft und Religion (2005). Vorwort von F. Schuller, 8. Aufl., 2011, 17, 36. 30 Jürgen Habermas, Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits, in: derselbe, Texte und Kontexte (1991), 2. Aufl., 1992, 156. 31 Paul Ricoeur (Fn. 5), 73–77, 453, 538, 553. 28
Das Gedächtnis als epistemisches Element zum Verständnis der Menschenwürde
Aristoteles, Metaphysik. Erster Teil. Übersetzt von E. W. Hengstenberg und mit Anmerkungen und erläuternden Abhandlungen von C. H. Brandis, 1824. –, Physik. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C. H. Weisse, 1829. Benjamin, Walter, Einbahnstrasse, 1928. Bueno, Gustavo, Sobre el concepto de ‚memoria histórica común‘, El Catoblepas 11 (2003), 2. Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften Bd 1, 1922. Finnis, John, Foundations of Practical Reason Revisited, American Journal of Jurisprudence 50 (2005), 109–131. Habermas, Jürgen, Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits, in: derselbe, Texte und Kontexte (1991), 2. Aufl., 1992. –, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung Über Vernunft und Religion (2005). Vorwort von F. Schuller, 8. Aufl., 2011, 15–37. –, Die Zukunft der menschlichen Natur Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4. Aufl., 2002. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 1797. Kaufmann, Arthur, Über die Tapferkeit des Herzens, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 77 (1991), 1–16. –, Juristische Überlegungen im Umkreis von Sterbehilfe und Früheuthanasie, in: Soll das Baby leben? Über Früheuthanasie und Menschenwürde, hg. von Evangelische Akademie Baden, 1991, 10–24. López de la Vieja, María Teresa, La pendiente resbaladiza La práctica de la pendiente resbaladiza, 2010. Luhmann, Niklas, Grundrechte als Institution Ein Beitrag zur politischen Soziologie, 1965. Mosterín, Jesús, La naturaleza humana, 5. Aufl., 2006. Neumann, Ulfrid, Die Tyrannei der Würde. Argumentationstheoretische Erwägungen zum Menschenwürdeprinzip, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 84 (1998), 153–166. Ricoeur, Paul, La mémoire, l’histoire, l’oubli, 2000. Schmidt, Thomas, Immanente Transzendenz und der Sinn des Unbedingten. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Philosophie bei Jürgen Habermas, in: Im Netz der Begriffe Religionsphilosophische Analysen, hg. von H. Linus / E. Nordhofen, 1994, 78–96. Singer, Peter, Rethinking Life and Death. The Collapse of Our Traditional Ethics, 1994. Torralba, Francesc, ¿Qué es la dignidad humana? Ensayo sobre Peter Singer, Hugo Tristram Engelhardt y John Harris, 2005. Von der Pfordten, Dietmar, Menschenwürde, 2016. Prof. Dr. José-Antonio Santos
Universität Rey Juan Carlos, Fakultät für Rechts- und Sozialwissenschaften, 28032 Madrid, Spanien; [email protected]
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Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit PAUL TIEDEMANN (Giessen/Frankfurt am Main)
Abstract: The personhood-theory of human dignity is subject to three objections. According to the
first objection, the theory is not convincing because it depends on strong metaphysical assumptions whose truth cannot be verified. However, it can be shown that normative theories cannot do without metaphysical background assumptions, namely a metaphysics of freedom. The second objection is directed against the possibility of absolute values. Here, according to the critics, too much metaphysics is unnecessarily used. However, the possibility of absolute values does not require metaphysical assumptions. The third objection argues that the personhood-theory does not meet the requirement of inclusion set for the concept of human dignity because, just to avoid metaphysics, it excludes all people who are not persons from the scope of human dignity. This analysis is correct, but the accusation is unfounded. Keywords: absolute value, freedom, human dignity, metaphysics, non-personal humans
I.
Einleitung
Der Ausdruck Würde ist mehrdeutig. Von vielen (Rechts-)Philosophen, die sich mit der Bedeutung von Menschenwürde befassen, wird er im Sinne von Rang oder Status verstanden.1 Die Personalitätstheorie der Menschenwürde folgt einer anderen Auffassung. Danach ist unter Würde im Anschluss an den von Immanuel Kant vor-
Ralf Stoecker / Christian Neuhäuser, Erläuterungen der Menschenwürde aus ihrem Würdecharakter, in: Joerden/Hilgendorf/Thiele, Menschenwürde und Medizin Ein interdisziplinäres Handbuch, 2013, 37–72; Jeremy Waldron, Dignity and Rank, European Journal of Sociology 48/2 (2007), 201–237 1
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geschlagenen Sprachgebrauch ein anderes Wort für absoluter Wert zu verstehen.2 Die Personalitätstheorie der Menschenwürde betrachtet die Eigenschaft der Personalität als den einzigen Gegenstand, der für jede Person nicht nur einen relativen, sondern einen absoluten Wert, also Würde hat, wobei Personen als jene Lebewesen definiert sind, die überhaupt in der Lage sind, einen Willen zweiter Ordnung zu bilden, also den Gegenständen Werte zuzuordnen.3 Wenn es sich bei den Menschenrechten um subjektive Rechte handelt, die aus der Menschenwürde abgeleitet werden können4, dann unterscheiden sich die Menschenrechte von anderen subjektiven Rechten dadurch, dass sie den Schutz der Personalität gegen verschiedene Formen und Arten ihrer Bedrohung zum Inhalt haben. Diese Personalitätstheorie der Menschenwürde ist drei Einwänden ausgesetzt, mit denen sich dieser Aufsatz befassen wird. Nach dem ersten Einwand ist die Theorie deshalb unbrauchbar, weil sie von starken metaphysischen Annahmen abhängt, deren Wahrheit weder empirisch noch mit den Mitteln der Philosophie überprüft werden kann, und die deshalb auf rein subjektiver Spekulation beruhen. Hier wird also das Laster der Metaphysikhaltigkeit zum Vorwurf gemacht. Der zweite Einwand wendet sich gegen die Möglichkeit absoluter Werte. Selbst wenn eine Theorie der Menschenwürde nicht ganz ohne Metaphysik auskommen sollte, sei doch die Behauptung absoluter Werte nicht mehr tolerabel. Hier wird also ein Zuviel an Metaphysik – das Laster metaphysischer Verschwendung – zum Vorwurf gemacht. Der dritte Einwand stellt darauf ab, dass die Personalitätstheorie die an den Begriff der Menschenwürde gestellte Anforderung der Inklusion nicht erfüllt, weil sie, nur um Metaphysik zu vermeiden, alle Menschen, die keine Personen seien, aus dem Geltungsbereich der Menschenwürde ausschließe. Hier wird ein Zuwenig an Metaphysik – das Laster des metaphysischen Geizes – zum Vorwurf gemacht. Es ist zu zeigen, dass keiner dieser Einwände hinreichend überzeugend ist.
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1786, 78; ders., Metaphysik der Sitten – Tugendlehre. 1797, 94. 3 Ich habe die Theorie der Menschenwürde, die ich hier „Personalitätstheorie“ nenne, in früheren Arbeiten stets mit dem Ausdruck „Identitätstheorie“ bezeichnet (vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 3. Aufl. 2012, 283 f.), weil es bei der Menschenwürde um die personale Identität geht (vgl. dazu aber die abweichende Begrifflichkeit bei Philipp Gisbertz, Overcoming Doctrinal School Thought: A Unifying Approach to Human Dignity, Ratio Juris 31/2 (2018), 197–207; derselbe, Die Achtung des autonomen Selbst. Grenzen und Brücken in der Philosophie der Menschenwürde, in diesem Band. Die Bezeichnung „Personalitätstheorie“ erscheint mir jedoch aussagekräftiger zu sein, weshalb ich mich für diese Umbenennung entschieden habe. 4 Vgl. die insoweit gleich lautenden Präambeln des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (BGBl 1973 II 1553 und BGBl 1973 II 1569; vgl. auch Christoph Menke / Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, 2007, 129 ff.; Peter Schaber, Human Rights without Foundations?, in: Ernst/Heilinger (Hrsg.): The Philosophy of Human Rights Contemporary Controversities, 2012, 61–72. 2
Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit
II.
Der Vorwurf der Metaphysikhaltigkeit
Die Feststellung, dass eine philosophische Begriffsanalyse auf metaphysischen Voraussetzungen beruht, gilt in der Philosophie häufig als ein K. O.- Kriterium für die jeweilige Theorie. Diese Auffassung verdankt sich dem großen Einfluss der Wiener Schule aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die alles, was nicht empirisch zu überprüfen war, für Unsinn erklärte.5 Großen Einfluss hatte insoweit auch Jürgen Habermas, in dessen Argumentation das Metaphysik-Verdikt gleichsam wie ein Fallbeil wirkt, das jeder metaphysikhaltigen philosophischen Theorie den Todesstoß versetzt.6 Im angelsächsischen Sprachraum ist die Metaphysik-Skepsis jedenfalls dann, wenn es um die Menschenwürde geht, nach meinem Eindruck noch weiter verbreitet als auf dem Kontinent. Die Gründe hierfür hat kürzlich Philipp Gisbertz sehr luzide herausgearbeitet.7 Die Folge dieser radikal Metaphysik-feindlichen Herangehensweise zeigt sich darin, dass eine Philosophie der Menschenwürde nur noch aus analytischen Sätzen bestehen kann. Eindrucksvoll erweist sich das etwa in den Menschenwürde-Theorien von Eric Hilgendorf und Jeremy Waldron.8 Hilgendorf hat dafür die eingängige Bezeichnung „Ensembletheorie der Menschenwürde“ geprägt. Danach bezeichnet der Ausdruck Menschenwürde die Summe aller subjektiven Rechte, die in den internationalen Menschenrechtspakten aufgelistet sind. Diese Definition von Menschenwürde lässt es wiederum zu, daraus die einzelnen Menschenrechte im Wege der Deduktion abzuleiten. Man holt dabei genau das aus dem Begriff heraus, was man vorher per Definition in ihn hineingesteckt hat. Ein irgendwie gearteter Erkenntnisgewinn ist mit diesem Spiel mit Worten nicht verbunden. Die Personalitätstheorie der Menschenwürde weist demgegenüber einen semantischen Gehalt auf. Sie liefert eine Erklärung dafür, worum es bei den Menschenrechten geht, nämlich um den Schutz eines Gutes, dem ein absoluter Wert zukommt, und das Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2 (1931), 219–242 6 Jürgen Habermas, Rückkehr zur Metaphysik – eine Tendenz in der deutschen Philosophie?, Merkur 349/440, 39 (1985), 898–905; ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, 2005; dazu kritisch: Volker Gerhardt, Metaphysik und ihre Kritik. Zur Metaphysikdebatte zwischen Jürgen Habermas und Dieter Henrich, ZphilForsch 42/1 (1988), 45–70; Daniel C. Henrich, Jürgen Habermas: Philosoph ohne metaphysische Rückendeckung?, DZPhil 55/3 (2014), 389–403 7 Philipp Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, 2018. 8 Eric Hilgendorf, Problemfelder der Menschenwürdedebatte in Deutschland und Europa und die Ensembletheorie der Menschenwürde“, Zeitschrift für Evangelische Ethik 57/4 (2014), 258 – DOI: https://doi. org/10.14315/zee-2013-57-4-258; ders., Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde, in: Paeffgen et al. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion Festschrift Ingeborg Puppe zum 70 Geburtstag, 2011, 1653 ff. [1665 ff.]; Jeremy Waldron, Is Dignity the Foundation of Human Rights?, in: Cruft/Liao/Renzo (Hrsg.), Philosophical Foundations of Human Rights, 2015, 117 ff. Siehe auch: Alexander Hevelke, Die Würde als Sammelbegriff. Moralisches Grundprinzip und Überbegriff mehrerer spezifischer Rechte, in: ZphilForsch 68 (2014), 57–77 5
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deshalb auch absolut geschützt werden muss. Dieses Gut, nämlich die Personalität, besteht in der Fähigkeit eines Organismus, auf der Grundlage eigener Reflexionen und Überlegungen einen eigenen freien Willen zu bilden und damit einen eigenen Plan zu entwerfen, wie er sein Leben führen will. Die Fähigkeit der Willensbildung ist die Fähigkeit rational zwischen alternativen Optionen entscheiden zu können sowie spontane Neigungen und Begehren nach Maßgabe von Volitionen zweiter Ordnung bewerten zu können.9 Diese Idee freier Selbstbestimmung kommt nicht ohne metaphysische Grundannahmen aus. Sie setzt notwendigerweise eine Metaphysik der Freiheit voraus. Ohne eine solche Metaphysik kann nicht klar werden, was mit Willensfreiheit, Selbstbestimmung, autonomer Lebensführung und Personalität gemeint sein kann. Die Metaphysik der Freiheit scheint auf den ersten Blick nicht alternativlos zu sein. In der Tat gibt es immer wieder den Versuch einer Rechtstheorie auf der Grundlage einer Metaphysik der Determination.10 Immerhin lässt auch diese Debatte den Schluss zu, dass es ohne Metaphysik nicht geht. Wenn man nicht nur analytische Sätze produzieren will, setzt jede Rechtstheorie und damit auch jede Theorie der Menschenwürde metaphysische Hintergrundannahmen voraus. Die Frage kann also allenfalls die sein, für welche Art von Metaphysik man sich entscheidet. Eine Wahl zwischen Metaphysikhaltigkeit und der Abwesenheit von jeglicher Metaphysik gibt es dagegen nicht. Eine nähere Betrachtung zeigt indessen, dass es im Rahmen einer Rechtstheorie auch keine Möglichkeit der Wahl zwischen einer Metaphysik der Freiheit und einer Metaphysik der Determination gibt. Vielmehr ist jede Rechtstheorie zwingend und unvermeidlich auf eine Metaphysik der Freiheit angewiesen. Das lässt sich an dem Versuch Martin Weicholds demonstrieren, die Ansätze und Erkenntnisse der so genannten Praxeologie für die Theorie des Strafrechts fruchtbar zu machen.11 Weichold hält die Vorstellung von einem autonomen Subjekt für eine Chimäre, d. h. für eine Vorstellung, die einer kritischen wissenschaftlichen Forschung nicht standhält. Menschliches Handeln werde primär nicht durch einen Willen oder durch Vorsätze geleitet, sondern durch Stimmungen, die körperliche Verfassung, die momentane Energie, den Stresslevel, Gewohnheiten etc.12 Deshalb sei für die Idee der Schuld, auf der das Strafrecht beruhe, kein Platz. Die Kognitionswissenschaft erweise die Betrachtung des Menschen als autonomen Akteur als wissenschaftlich falsch.13 Dieser Ansatz sei aber nicht nur
Harry G. Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, The Journal of Philosophy 68/1 (1971), 5 (deutsch: Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, hrsg. v. Monika Betzler u. Barbara Guckes, 2001, 65 ff.). 10 Aus jüngster Zeit vgl. Martin Weichold, Strafrecht als gefährliches Spiel: Wie man Täter schafft, RphZ 5/1 (2019), 35–51 11 Zur Praxeologie vgl. Martin Weichold / Jan-Christoph Marschelke / Peter Wiersbinski / Falk Hamann, Das autonome Subjekt: Ermöglichungsbedingungen oder Produkt sozialer Praktiken? – Eine Einleitung, RphZ 5/1 (2019), 5–7 12 Weichold (Fn 10), 37 f. 13 Weichold (Fn 10), 39 9
Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit
wissenschaftlich falsch, sondern auch ethisch bedenklich. Angeklagte würden für ein Verhalten verantwortlich gemacht, dass sich aus den Umständen und nicht aus persönlicher Schuld erklärt.14 Weichold empfiehlt deshalb, das Strafrecht diesem Sachverhalt anzupassen und so die „problematischen Subjektivierungseffekte“ einzudämmen. Das Problem dieser Überlegungen besteht darin, dass Weichold den Menschen nur als potentiellen oder aktuellen Angeklagten oder Straftäter in den Blick nimmt und dessen Verhalten praxeologisch erklärt, statt es verantwortungsethisch zuzurechnen. Zugleich macht er aber aus ethischen Gründen (!) Vorschläge zur Reform des Strafrechts und unterstellt damit, dass diejenigen, an die sich seine Reformvorschläge richten, also die Politiker und Beamten in ihrer Funktion als Gesetzgeber und die Staatsanwälte und Strafrichter in ihrer Funktion als Gesetzesanwender nicht nur praxeologisch determiniert, sondern rationalen Argumenten zugänglich und für ihr Verhalten moralisch verantwortlich sind. Es geht aber nur eines von beidem: Entweder sind alle Menschen determiniert und deshalb für ihr Verhalten nicht verantwortlich, dann kann man die gegenwärtige Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht moralisch kritisieren, sondern nur praxeologisch erklären, oder man hält Gesetzgeber und Richter für ethisch verantwortlich, dann muss das auch für potenzielle oder aktuelle Straftäter und Angeklagte gelten. Im ersten Falle geschieht Strafrecht ebenso wie das Verbrechen in einer Weise, für die niemand verantwortlich ist. Man kann das, was geschieht, nur beobachten und beschreiben, aber weder bewerten noch durch entsprechende Willensakte ändern. Im zweiten Fall unterstellen wir so etwas wie Willensfreiheit und erlauben uns deshalb die Frage, was wir tun sollen. Das alles heißt nicht, dass die Theorien der Praxeologie falsch sind oder dass sie nicht empirisch bestätigt werden könnten. Es heißt vielmehr nur, dass wir zwischen der Rolle des unbeteiligten Beobachters, die der Wissenschaftler einnimmt, und der Rolle des praktisch handelnden Akteurs, der Gegenstand der Beobachtung ist, unterscheiden müssen. So wie Wissenschaft nicht sinnvoll betrieben werden kann, wenn man ihr nicht eine Metaphysik des Determinismus zugrunde legt, so lässt sich aus der Perspektive des Akteurs, aus der Erst-Person-Perspektive, kein angemessenes Selbstverständnis gewinnen ohne Zugrundelegung einer Metaphysik der Freiheit.15 Eine gehaltvolle Theorie der Menschenwürde ist ohne Metaphysik also nicht denkbar. Die Forderung einer von Metaphysik gänzlich befreiten Rechtstheorie ist sinnlos. Was indessen mit guten Gründen gefordert werden kann, ist eine Theorie, die den Anforderungen metaphysischer Sparsamkeit genügt.16 Sparsamkeit ist, aristotelisch
Weichold (Fn 10), 48 Vgl. Stephan Kirste, Willensfreiheit, Kultur und Recht, in: Saliger et al. (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafrecht Festschrift Ulfrid Neumann zum 70 Geburtstag, 2017, 213–232 16 Zu den Anforderungen an eine Theorie der Menschenwürde vgl. Paul Tiedemann, Human Dignity as an Absolute Value, in: Brugger/Kirste (Hrsg.): Human Dignity as a Foundation of Law. ARSP Beiheft 137, 2013, 25 [28 f.]. 14 15
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gesprochen, die Tugend des Mittleren zwischen dem Laster der Verschwendung und dem Laster des Geizes. Sie verlangt nicht mehr, aber auch nicht weniger Metaphysik einzusetzen als notwendig ist. Es stellt sich damit die Frage, welche Metaphysik notwendig und welche Metaphysik überflüssig ist. Spätestens an dieser Stelle ist es unvermeidbar, den Begriff der Metaphysik etwas genauer zu erläutern. Hilfreich ist dabei die von Uwe Meixner getroffene Unterscheidung zwischen einer Allgemeinen Metaphysik und einer Speziellen Metaphysik.17 Die Allgemeine Metaphysik wird in der Tradition der Philosophie auch Ontologie genannt (Lehre vom Sein), weil es ihr ursprünglich (bei Aristoteles) darum ging, das nicht empirisch wahrnehmbare Sein hinter (meta) dem empirisch Seienden (physica) zu erforschen.18 Seit Kant besteht eine gewisse Skepsis darüber, ob uns eine empirisch nicht wahrnehmbare Wirklichkeit überhaupt irgendwie zugänglich ist. Seitdem neigen viele Philosophen dazu, nicht mehr nach den allgemeinen Grundstrukturen des Seins zu fragen, sondern nach den allgemeinsten Grundstrukturen unserer Ideen und Gedanken, und zwar insbesondere nach den allgemeinen Grundstrukturen jener Ideen, die sich in unserer empirisch wahrnehmbaren menschlichen Praxis widerspiegeln. Die Ergebnisse beider Betrachtungsweisen sind aber praktisch die gleichen. Was man früher für das Sein hielt, versteht man heute als grundlegende Ideen in unseren Köpfen. Es geht also nicht um verschiedene Wirklichkeiten, sondern nur um verschiedene Deutungen. Deshalb ist es nicht nur üblich, sondern auch gerechtfertigt auch den nachkantischen Forschungsansatz als Metaphysik oder Ontologie zu bezeichnen, obwohl es eigentlich angemessener wäre, von einer Metapraxis zu sprechen. Die Allgemeine Metaphysik (Ontologie) beschränkt sich auf die Frage, was die allgemeinsten Strukturen der Ideen sind, die unseren Praxen zugrundeliegen. Sie fragt in der Tradition Kants nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit einer bestimmten Praxis, bzw. nach den notwendig mitzudenkenden Bedingungen einer Idee, die einer menschlichen Praxis zugrundeliegt. Sie beschreibt diese Bedingungen, aber sie erklärt sie nicht. Sie antwortet also auf eine „Was“-Frage und nicht auf eine „Warum“oder „Wozu“-Frage. In diesem Sinne ist die oben erwähnte Metaphysik des Determinismus eine notwendig mitzudenkende Bedingung jener Idee, die unserer Praxis der wissenschaftlichen Forschung zugrundeliegt. Denn die Wissenschaft fragt nach den Ursachen der zu erforschenden Phänomene und setzt damit vor ihrem Anfang schon voraus, dass es so etwas wie Ursachen und einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gibt. Ebenso ist die Metaphysik der Freiheit eine notwendig mitzudenkende
Uwe Meixner, Einführung in die Ontologie, 2004, 9 Der Ausdruck „Metaphysik“ ist ursprünglich einfach nur der Titel, den man für eine Sammlung von Schriften des Aristoteles fand, die nach einem von Andronikos von Rhodos festgelegten Kanon hinter (meta) den Schriften über die Natur (physica) aufgelistet waren. Erst später wurde bemerkt, dass der Titel auch hervorragend zu dem Inhalt jener Schriften passt – vgl. dazu Theo Kobusch, Metaphysik, in: Ritter/ Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5, 1980, Sp. 1188 17 18
Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit
Bedingung der Idee des Rechts und der Praxis des menschlichen Zusammenlebens auf der Grundlage des Rechts. Denn das Recht beruht auf der Idee der personalen Verantwortung, die ihrerseits nicht ohne die Idee einer Freiheit (von Determination) zu denken ist. Die „Was“-Metaphysik ist jene, auf die wir nicht verzichten können, wenn wir die geistigen Voraussetzungen unserer menschlichen Praxen verstehen wollen. Von der Allgemeinen Metaphysik zu unterscheiden ist die Spezielle Metaphysik. Sie fragt nicht nach den denknotwendig allgemeinsten Strukturen des Seienden bzw. der Ideen, die unseren Praxen zugrundeliegen, sondern nach den allgemeinsten Gründen, aus denen sich das Seiende bzw. die Ideen erklären oder rechtfertigen lassen. Sie fragt also nicht nach der Freiheit als der notwendigen Bedingung von Verantwortung und Recht, sondern nach dem Warum oder Wozu der Freiheit. Als Antwort auf diese Fragen gelten metaphysische Theorien über eine letzte Ursache oder einen letzten Zweck der Welt.19 Solche Antworten werden hauptsächlich von Theologien oder metaphysischen Weltanschauungen geliefert.20 Im Unterschied zur „Was“-Metaphysik hat die „Warum/Wozu“-Metaphysik keinen festen Grund. Denn auf die Frage nach dem Warum und Wozu gibt es keine Antworten, die denknotwendig sind und deshalb von unserem Verstand schlechterdings gefordert werden. Menschen sind deshalb frei darin, sich die verschiedensten Antworten auszudenken, zu präferieren und zu propagieren. Manche theologischen Metaphysiker behaupten zwar, dass beispielsweise die Existenz Gottes denknotwendig sei.21 Aber ihre Unfähigkeit, sich etwas anderes zu denken, beruht nur auf einem Mangel an Phantasie und nicht auf echter Denknotwendigkeit. Es gibt kein rationales Kriterium, mittels dessen man eine der konkurrierenden theologischen Konstruktionen (besser: Erzählungen) als die gültige oder beste auszeichnen könnte.22 Daraus folgt, dass „Warum/Wozu“-Metaphysiken entbehrlich sind und in einer am Ideal der metaphysischen Sparsamkeit orientierten philosophischen Forschung vermieden werden sollten. Das gilt nicht nur unter dem allgemeinen wissenschaftspraktischen Postulat von Ockhams Rasiermesser, wonach von mehreren wissenschaftlichen Theorien für ein und denselben Sachverhalt die einfachste vorzuziehen ist, also jene, die mit möglichst wenig Variablen und möglichst wenigen Hypothesen auskommt.23
Meixner (Fn 17), 10 Eine metaphysische Weltanschauung ist eine Theologie, die ohne Gott auskommt. Vgl. Gunther Wenz, Gott. Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie, 2007, 30; Hansjürgen Knoche, Theologiekurs für Atheisten und zweifelnde Christen, 2017, 129 22 Angesichts der Haltlosigkeit einer Warum/Wozu-Metaphysik kann man auch nicht auf deren motivationalen oder kritischen Wert verweisen (so aber: Ludger Honnefelder, Menschenwürde und Transzendenzbezug, DZPhil 57/2 (2009), 273–287 [284]). Gut erfundene Narrative können zwar motivationale Kraft verleihen, aber die Frage bleibt offen, ob das auch gut ist. Denn die Bonität wäre nur gesichert, wenn wir sicher sein könnten, dass das Narrativ wahr ist. Das aber wissen wir gerade nicht. 23 Hermann J. Cloeren, Ockham’s razor, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 1094 f. 19 20 21
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Für eine Theorie der Menschenwürde ist metaphysische Sparsamkeit auch deshalb geboten, weil anders der Anspruch auf die Universalität des Menschenwürdebegriffs nicht erfüllt werden kann. Denn „Warum/Wozu“-Metaphysiken beruhen auf partikularen Weltanschauungen und Religionen, die den Angehörigen anderer Denktraditionen nicht mit hinreichend rationalem Zwang vermittelt werden können. Schließlich ist auch zu bedenken, dass aus dem Rechtsbegriff der Menschenwürde nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten abgeleitet werden, also Beschränkungen der individuellen und kollektiven Handlungsfreiheit. Dazu bedarf es einer rationalen Legitimation und nicht nur schöner Erzählungen. III.
Der Vorwurf der metaphysischen Verschwendung
Die Personalitätstheorie der Menschenwürde beruht auf der Idee von absoluten Werten. Sie ist deshalb dem Vorwurf eines Zuviel an Metaphysik ausgesetzt. Dabei gehen die Kritiker wie selbstverständlich davon aus, dass die Idee von absoluten Werten nur im Rahmen einer Warum/Wozu-Metaphysik zu haben sei. Werte, die absolut seien, könnten nicht aus subjektiven Präferenzen abgeleitet werden. Denn Absolutheit fordere gerade die Loslösung und Unabhängigkeit vom Subjekt. Absolute Werte seien daher nur als Elemente einer objektiv vorgegebenen Wertordnung verstehbar. Als solche setzten sie aber entweder die Metaphysik einer in der kosmischen Natur vorgegebenen Normordnung oder die Metaphysik eines göttlichen Gesetzgebers voraus und somit jene Art von Metaphysik, die mit kritisch rationaler Wissenschaft und Philosophie nicht vereinbar sei.24 Zumindest die Version der Personalitätstheorie der Menschenwürde, für die ich mich stark mache, kann diesen Vorwurf indessen zurückweisen. Sie beruht nicht auf irgendeiner Art von Wertrealismus oder auf der Annahme einer Norm setzenden Gottheit, sondern vielmehr auf einer Überlegung zu den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit jedweder subjektiven Wertung. Ein absoluter Wert in dem von mir gemeinten Sinne ist nicht etwas, das dem Menschen objektiv vorgegeben ist. Es handelt
Jürgen Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, DZPhil 58/3 (2010), 343–357 [351]; Stephan Kirste, Die Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung der Rechtsperson, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenrechte Begründung-Universalisierbarkeit-Genese, 2017, 45. Zur „Sakralität“ als Grundlage der Menschenrechte vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011. Kritisch zur „Sakralisierung“ der Menschenwürde im Wege der Absolutheitsthese Karl E. Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde Philosophische, theologische und juristische Analysen, 2007, 87, 113 f.; Rolf Gröschner / Oliver W. Lembcke, Dignitas absoluta. Ein kritischer Kommentar zum Absolutheitsanspruch der Würde, in: dies. (Hrsg), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 1, 13. Zur Kritik der Absolutheitsthese mittels einer reductio ad absurdum (Unvermeidbarkeit von Abwägungen) vgl. Manfred Baldus, Menschenwürdegarantie und Absolutheitsthese. Zwischenbericht zu einer zukunftsweisenden Debatte, AöR 136 (2011), 529–552. 24
Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit
sich vielmehr um subjektive Wünsche, aber um solche, die von uns unabhängig von Vorlieben und Neigungen mit gleichsam logischer Notwendigkeit gewünscht werden, so dass es für uns insoweit keine Alternative gibt. Es lässt sich zeigen, dass ein absoluter Wert in diesem Sinne nicht, wie Wittgenstein meinte, ein Hirngespinst ist.25 Das Argument lautet dabei so: Normalerweise sprechen wir den Gegenständen stets einen relativen Wert oder Unwert zu. Etwas ist normalerweise immer nur gemäß unserer subjektiven Präferenzen in Bezug auf ein Anderes wertvoller und in Bezug auf ein Drittes weniger wertvoll. Der Wert eines Gegenstandes entspricht also stets seinem Rang in einer subjektiven Präferenzordnung. Von dieser Regel gibt es aber eine Ausnahme: die Bewertung der Personalität. Denn die Eigenschaft der Personalität ist die notwendige Bedingung dafür, dass überhaupt irgendwas einen Wert haben kann. Wer über diese Eigenschaft nicht verfügt oder wer sie verliert, hat keinen freien Willen und verfügt daher nicht über die Fähigkeit, den Gegenständen Werte zuzuordnen. Für ein solches Wesen hat nichts mehr einen Wert. Personalität ist also die notwendige Bedingung der Möglichkeit jedweder Wertung und jedweder Präferenzordnung. Es ist undenkbar, dass etwas anderes einen höheren Wert haben könnte als die Personalität, so dass jemand um dieses Etwas willen auf seine Personalität verzichten könnte. Denn im Moment des Verzichts verlöre dieses Etwas wie überhaupt alles seinen Wert. Daraus folgt, dass die Personalität für jede Person nicht nur einen relativen, sondern einen absoluten Wert hat. Zugleich zeigt das Argument, dass es außer der Personalität nichts geben kann, dem ein absoluter Wert zugesprochen werden kann. Man sieht, dass diese Argumentation völlig ohne Rekurs auf metaphysische Annahmen über Werte als Inventar der Natur oder über göttliche Gesetzgebung auskommt. Die Frage nach einem letzten Grund oder Ziel der Welt oder des Daseins stellt sich nicht. Absolutheit (von Werten) darf nicht mit der Objektivität (der Werte) verwechselt werden. Objektive Werte, wenn es sie gäbe, wären solche, die ohne und unabhängig von subjektiver Wertung existierten. Absolute Werte können dagegen sehr wohl aus subjektiver Wertung resultieren. Absolut (losgelöst) sind sie nur im Hinblick auf eine (beliebige) Präferenzordnung. Absoluter Wert kommt demjenigen zu, das die Bedingung der Möglichkeit jedweder Wertung ist. Gleichwohl kann es so scheinen als ob diese Argumentation einen Fehler aufweist, der ihre Unhaltbarkeit zur Folge hat. Der Verdacht liegt nahe, dass das Argument auf einem logischen Fehler beruht, nämlich auf dem, was ich den evalualistischen Fehlschluss nenne.26 Als evalualistischen Fehlschluss bezeichne ich den Schluss vom Wert eines Gegenstandes auf den Wert der Bedingungen, unter denen der Gegenstand wertvoll ist. Ein Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik, 6. Aufl. 2012 Mir ist kein Autor bekannt, der diesen Einwand gegen die Personalitätstheorie der Menschenwürde tatsächlich erhoben hätte. Er ist mir selber eines Nachts eingefallen und war imstande, mich längere Zeit zu beunruhigen. 25 26
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klassisches Beispiel für einen derartigen Fehlschluss bietet das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Abtreibungsurteil. Dort heißt es, dass das menschliche Leben „wie nicht näher begründet werden muss, […] ein […] Höchstwert [ist]; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“27 Ähnlich hat schon die Naturrechtslehre des 19. Jahrhunderts argumentiert: Um ein menschenwürdiges Leben führen zu können, müsse man erst einmal leben. Wenn also die Menschenwürde einen absoluten Wert habe, dann erst recht das Leben.28 Dass dieser Schluss falsch ist, zeigen folgende Beispiele: Aus dem zweifellos hohen Wert, den eine Goldmedaille für die Siegerin bei den Paralympics hat, folgt nicht, dass der Querschnittlähmung, ohne die sie an den Spielen gar nicht hätte teilnehmen können, ebenfalls ein hoher Wert zukommt.29 Aus dem Umstand, dass die Passagiere eines Fluges eine hohe Wertschätzung dem Umstand entgegenbringen, dass der Pilot nicht betrunken und das Essen nicht vergiftet ist, folgt nicht, dass die Flugreise selbst einen hohen Wert hat. Für abgeschobene afghanische Staatsbürger auf dem Weg nach Kabul hat der Flug keinen (positiven) Wert. In eben dem Sinne wie die Nüchternheit des Piloten und die Bekömmlichkeit des Essens wertvoll sind während man fliegt, so sind Personalität und Menschenrechte wertvoll während man lebt. Aber aus dem Wert der Menschenrechte im Leben folgt nicht der Wert des Lebens. Wer gleichwohl einen solchen Schluss zieht, begeht einen evalualistischen Fehlschluss. Die Personalitätstheorie der Menschenwürde schließt von den (relativen) Werten der Dinge, die wir als solche bewerten, auf den (absoluten) Wert der Fähigkeit zu solchen Bewertungen. Liegt hier nicht ebenfalls ein evalualistischer Fehlschluss vor? Wird hier nicht auch vom Wert der für relativ wertvoll gehaltenen Gegenstände auf den absoluten Wert der notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Bewertung geschlossen, ähnlich wie von dem Wert der Nüchternheit des Piloten auf den Wert des Fluges oder vom Wert der Goldmedaille auf den Wert der Querschnittlähmung? Eine genauere Betrachtung zeigt indessen, dass dem nicht so ist. Man muss zwischen dem Wert einer Eigenschaft und dem Wert einer Situation unterscheiden, in der die Eigenschaft wertvoll ist. Aus dem Wert einer Eigenschaft in einer bestimmten Situation ergibt sich nicht der Wert der Situation selbst. Anders ist es aber, wenn es um den Wert einer Eigenschaft geht, die aus dem Wert einer anderen Eigenschaft abgeleitet wird, die in derselben Situation relevant ist. Es ist an Bord eines Flugzeuges wertvoll, wenn man die Sicherheitshinweise lesen kann. Daraus lässt sich folgern, dass die Fähigkeit zu lesen in dieser Situation ebenfalls wertvoll ist. Man stelle sich ein Schulkind vor, das unter
BVerfG, Urt. v. 25.02.1975–1 BvF 1–6/74 –, BVerfGE 38, 1 [42] Gustav v. Struve, Menschenrecht, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon Enzyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 9, 1847, 64 ff. [Reprint 1990]; P. Pfizer, Urrechte oder unveräußerliche Rechte; vorzüglich in Beziehung auf den Staat, in: Rotteck/Welcker a. a. O. Bd. 12, 1848, 689 ff. 29 Das Beispiel stammt von Jörg Löschke, Solidarität als moralische Arbeitsteilung, 2015, 144. 27 28
Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit
großer Mühe gerade zu lesen gelernt hat und bisher noch keinen rechten Sinn in dieser Anstrengung sehen kann. Nun macht es die Erfahrung, dass es gut ist, die Sicherheitshinweise lesen zu können, weil es dadurch das gute Gefühl bekommt, sich im Notfall retten zu können. Dann wird ihm vielleicht auffallen, dass es doch ganz gut war, sich der Mühe des Lesen-Lernens unterzogen zu haben. So schließt das Kind völlig korrekt vom Wert des Lesens der Sicherheitshinweise auf den Wert des Lesens überhaupt. Ein evalualistischer Fehlschluss liegt also nicht vor, wenn man vom Wert einer Eigenschaft auf den Wert einer anderen Eigenschaft schließt, die die Bedingung zur Ausbildung oder Aufrechterhaltung der ersteren ist. Ein evaluativer Fehlschluss liegt dagegen dann vor, wenn man vom Wert einer Eigenschaft in einer bestimmten Situation auf den Wert der Situation schließt. Der Schluss von der Wertschätzung unserer alltäglichen Wertungen auf den absoluten Wert der Personalität als der Fähigkeit des Bewertens überhaupt ist also logisch nicht zu beanstanden. Denn beide Wertungen beziehen sich auf ein und dieselbe Situation, nämlich auf die Situation, ein menschliches Leben zu führen. Mit dem Nachweis, dass die eigene Personalität für eine Person A ein absoluter Wert ist, folgt allerdings noch nicht, dass die Personalität jeder anderen Person N für Person A ein absoluter Wert ist. Dazu lässt sich mit den Mitteln der philosophischen Analyse nur sagen, dass die Gleichwertigkeit der eigenen und der fremden Personalität nur dann gegeben sein kann, wenn die eigene und die fremde Personalität gleichursprünglich sind. Ob das der Fall ist, kann nicht mittels metaphysischer Erzählungen geklärt werden, sondern nur mittels empirischer Forschung.30 IV.
Der Vorwurf des metaphysischen Geizes
Gegen die Personalitätstheorie wird indessen nicht nur (zu Unrecht) der Vorwurf eines Zuviel an Metaphysik erhoben. Es gibt auch den umgekehrten Vorwurf eines Zuwenig an Metaphysik, also der Vorwurf des metaphysischen Geizes. Dieser Vorwurf zielt auf den Umstand, dass die Personalitätstheorie der Menschenwürde letztlich zu einem Bestand an Menschenrechten führt, die nur den Schutz der Personalität von Personen zum Gegenstand haben, nicht aber das Leiden oder den Tod von Menschen als Menschen. Das habe zur Folge, dass ausgerechnet die Menschen, die wegen des Verlustes ihrer Personalität oder wegen eines schon anfänglichen Mangels an derselben in einer besonders schwachen Position seien und des menschenrechtlichen Schutzes daher in besonderer Weise bedürften, davon ausgeschlossen würden.31 Mithin sei die Personalitätstheorie insoweit ungenügend als sie Menschen, die über keine Dazu vgl. Paul Tiedemann, Johann Gottlieb Fichte und die Identitätstheorie der Menschenwürde, ARSP 103 (2017), 337–369 31 Ralf Stoecker, Menschenwürde und Hirntod, in: Joerden/Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin Ein interdisziplinäres Handbuch, 2013, 833; Frederik von Harbou, Empathie als Element einer 30
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Personalität verfügten, aus dem Schutzbereich der Menschenrechte ausschlösse.32 Von anderer Warte wird die Personalitätstheorie deshalb als ungenügend eingeschätzt, weil sie die Identität der menschlichen Spezies als solcher nicht unter den Achtungsbereich der Menschenwürde bringe und damit die Funktion der Menschenwürde als Bollwerk gegen die biotechnische Veränderung des menschlichen Genoms vereitele.33 Zunächst dürfte es nützlich sein, sich ein genaueres Bild von jenen Menschen zu machen, die nach der Personalitätstheorie nicht vom Begriff der Menschenwürde und der Menschenrechte erfasst werden. Das sind Exemplare der menschlichen Spezies, denen es dauerhaft und irreversibel an der Eigenschaft der Personalität mangelt. Dazu gehören zunächst einmal weder kleine Kinder, noch menschliche Embryonen und Föten. Denn diese Menschen besitzen Personalität. Die Fähigkeit zur personalen Selbstbestimmung hängt einerseits von gewissen biologischen oder neurologischen Bedingungen ab, andererseits aber vom Bestehen eines interpersonalen Anerkennungsverhältnisses. Embryonen und Föten sind ebenso wie Neugeborene oder Kleinstkinder noch nicht in der Lage, sich autonom selbst zu bestimmen. Sie werden diese Fähigkeit jedoch ausbilden, wenn ihre biologisch/neurologische Entwicklung nicht gestört und ihnen die interpersonale Anerkennung nicht verweigert wird. Wer einem menschlichen Fötus oder einem Kleinstkind die Anerkennung verweigert, weil er/es neurologisch noch nicht zur personalen Willensbildung in der Lage ist, will, dass es eine bestimmte Person nicht geben soll und verweigert der Personalität dieser Person damit die Anerkennung. Das ist mit dem absoluten Wert der Personalität nicht vereinbar. Die Abtreibung und die Tötung oder Misshandlung eines Kleinstkindes implizieren also schon immer auch eine Missachtung von Personalität. Nichts anderes gilt für geistig Behinderte. Menschen, die etwa mit Trisomie 21 geboren werden, sind zweifellos (und waren schon als Föten) menschliche Personen. Ihre Fähigkeit zur reflexiven Selbstbestimmung mag insoweit eingeschränkt sein als sie im Prozess der Willensbildung eine geringere Zahl von Informationen verarbeiten können als Menschen, die nicht von dieser genetischen Abweichung betroffen sind. Sie mögen auch die Fähigkeit zur Kontrolle ihrer Emotionen in geringerem Maße ausgebildet haben. Das ändert aber nichts an ihrer Personalität. Denn Personalität ist ein Schwellenwertkonzept. Eine Entität ist entweder eine Person oder keine Person. Sie kann aber nicht eine Person geringerer Stufe oder eine Person höherer Stufe sein, obgleich Personen in sehr unterschiedlichem Grade in der Lage sind, sich von Fremdbestimmung zu befreien.34 Ebenso wenig wird man Menschen die Personalität absprerekonstruktiven Theorie der Menschenrechte, 2014, 303 f.; Kristi Giselsson, Rethinking Dignity, Human Rights Review 19/3 (2018), 331–348 32 Mit diesem Vorwurf habe ich mich mit einer etwas anderen Argumentation schon an anderer Stelle beschäftigt, vgl. Paul Tiedemann, Drei Einwände gegen die Würde-Konzeption der Menschenrechte und ihre Zurückweisung, Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 12 (2017), 588–592 33 Paolo Becchi, Das Prinzip Menschenwürde – eine Einführung, 2016, 44 ff. 34 Michael Quante, Person, 2007, 33 f.
Menschenwürde und die Tugend der metaphysischen Sparsamkeit
chen können, die sich in einem Koma befinden, solange die Möglichkeit besteht, dass sie wieder als Personen aufwachen. Man kann Personen die Personalität also nicht deshalb absprechen, weil sie diese Eigenschaft zeitweise nicht besitzen, solange der Besitz noch hergestellt oder wiederhergestellt werden kann. Es gibt allerdings Menschen, die keine Personen sind, weil ihnen schon das Potential zur Entwicklung von Personalität fehlt oder weil sie dieses Potential irreversibel verloren haben. Das gilt beispielsweise für Menschen, die ohne Großhirn geboren werden oder für Menschen, bei denen der Hirntod eingetreten ist oder bei Menschen, die sich irreversibel im Koma befinden. Für solche Menschen, die sich auf Dauer niemals auch nur minimal selbst bestimmen können, ist es müßig darüber nachzudenken, ob sie Träger des Menschenrechts auf Meinungsfreiheit oder Gewissensfreiheit sind. Denn sie verfügen auf Dauer nicht über die Güter, die durch diese Rechte geschützt werden. Die Sorge um diese Menschen kann sich deshalb nur auf die Aufrechterhaltung ihres Lebens und auf die Freiheit von körperlichen Schmerzen beziehen. Die vorstehenden Überlegungen zeigen bereits, dass die Reichweite der Exklusion, die man der Personalitätstheorie entgegenhält, nicht so groß ist, wie es vielleicht zunächst scheinen mag. Gleichwohl bleiben menschliche Individuen übrig, denen in der Tat keine Personalität zugesprochen werden kann und die als mögliche Opfer einer Exklusion aus dem Schutzbereich der Menschenrechte in Betracht kommen. Robert Spaemann hat ein Argument vorgetragen, das, wenn es zuträfe, auch die Inklusion dieser menschlichen Nicht-Personen in den Geltungsbereich der Menschenwürde zur Folge hätte. Spaemann startet sein Argument mit dem Hinweis, dass Personalität absolut wertvoll ist und daher bedingungslos anerkannt werden muss. Die Unbedingtheit dieses Anspruchs wäre jedoch illusorisch, wenn zwar der Anspruch als solcher unbedingt, sein tatsächliches Vorliegen aber von empirischen Voraussetzungen abhängig wäre, die immer hypothetisch sind. Sobald man über das Vorliegen der Bedingungen streiten könne oder die Kriterien selbst strittig sein könnten, sei eine Anerkennung niemals mehr unbedingt. Deshalb sei das einzige Kriterium für Personalität die Zugehörigkeit zur Menschheit. Dieses Argument beruht offenbar auf dem Fehlschluss einer quaternio terminorum, was man erkennen kann, wenn man das Argument in die Form eines Syllogismus bringt:35 Prämisse 1: Personalität muss unbedingt anerkannt werden. Prämisse 2: Anerkennung ist unbedingt, wenn sie nicht von empirischen Feststellungen abhängt. Schlusssatz: Also muss Personalität anerkannt werden, ohne ihr Vorliegen empirisch festzustellen.
Zur Quaternio Terminorum vgl. Jan C. Joerden, Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 2. Aufl. 2010, 365 ff. 35
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Der logische Fehler einer quaternio terminorum liegt darin, dass in einem Syllogismus nicht drei Begriffe verwendet werden (hier: Personalität, unbedingte Anerkennung, empirische Feststellung), sondern vier. Genau das ist in Spaemanns Schlussfolgerung der Fall. Der Ausdruck „Anerkennung“ bezeichnet in Prämisse 1 nämlich einen anderen Begriff als in Prämisse 2. In der ersten Prämisse meint Anerkennung die absolute Achtung und Wertschätzung von Personalität (da wo sie vorliegt). In Prämisse 2 meint Anerkennung die Erkenntnis von Personalität (dass Personalität vorliegt). So kommt es zu dem falschen Schluss, dass aus der Unbedingtheit der Wertschätzung auf die Unbedingtheit der Erkenntnis geschlossen wird, also darauf, dass die Erkenntnis nicht von empirischer Kontingenz abhängen darf. Das ist natürlich kompletter Unsinn. Dass nicht-personale Menschen nicht vom Schutzbereich der Menschenwürde und der Menschenrechte erfasst sein können, hängt einfach damit zusammen, dass Würde einen absoluten Wert meint. Es gibt aber nichts auf der Welt, dem ein absoluter Wert zukommen kann als allein der Personalität. Denn nur die Personalität ist unverzichtbar, wenn überhaupt irgendetwas einen Wert haben soll. Das pure Leben und die Schmerzfreiheit von Menschen, die keine Personen sind und deren Personalität durch die Schmerzerfahrung daher auch nicht affiziert werden kann, können unvermeidlich immer nur als relativ wertvoll bewertet werden. Die Ausdehnung des Würdebegriffs auf nicht-personale Menschen müsste dazu führen, dass dieser Begriff seinen Sinn verliert. Der Ausdruck „Würde“ wäre nur noch synonym mit „Preis“. Nichts hätte mehr eine Würde, sondern alles nur noch einen Preis. Die Ausweitung des Würdebegriffs auf nicht-personale Menschen gleicht deshalb dem Verlängern einer Suppe mit so viel Wasser, dass sie für alle reicht, aber keiner mehr satt wird. Wer mit diesem Ergebnis unzufrieden ist und daran etwas ändern will, der ist genötigt, zu den Mitteln einer Warum/Wozu-Metaphysik zu greifen. Er muss ein Narrativ erfinden, aus dem sich dann logisch der absolute Wert des Lebens und der körperlichen Integrität nichtpersonaler Lebewesen ableiten lässt. Damit schafft er die Basis einer Argumentation, die auf Wunschdenken beruht: Es steht schon vor Erfindung des Narrativs fest, was dieses genau leisten soll und entsprechend wird es gestaltet. Warum aber sollen wir einen solchen Aufwand treiben? Genügt es nicht, dass wir es einfach für richtig halten, nicht-personale Lebewesen nicht zu quälen und nicht ohne Not zu töten? Brauchen wir unbedingt eine Geschichte, die uns genau das erzählt, was wir ohnehin richtig finden? Prof. Dr. iur. Dr. phil. Paul Tiedemann
c/o Professur für öffentliches Recht und Europarecht (Professur Bast), Licher Straße 64, 35394 Gießen, [email protected]
Register
Manche Begriffe im Register verweisen auf den angegebenen Seiten auf sinngemäße Inhalte. Personennamen sind nur aufgenommen, wenn sie im Haupttext, nicht wenn in den Fußnoten vorkommen. Absolutheit 52, 100, 147 Abtreibung 110, 240, 242 Abwägung 9, 51, 52, 100, 141 Alexy, Robert 26, 52, 54, 60 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 137 allgemeines Persönlichkeitsrecht 58, 59 Anerkennung 71, 116, 118, 124, 129, 131, 133, 141, 142, 174, 180, 183 Anerkennungstheorie 97 animal symbolicum 68 Anthropologie 17, 92 Arendt, Hannah 136, 222 Aristoteles 138, 236 Aufklärung 227 Augustinus, Aurelius 220 Autonomie 33, 63, 76, 91, 102, 104, 112, 116, 119, 168, 170, 179, 185, 211 Baier, Kurt 34 Behinderung (geistige) 64, 69, 83, 242 Bewusstsein, historisches 220 Bioethik 209 Biotechnologie 219 Birnbacher, Dieter 97 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 162 Brugger, Winfried 29 Bundesverfassungsgericht 27, 100, 105, 113, 172, 240 Bundesverwaltungsgericht 105, 172
Bürgerrechte 9 Bushido 77, 87 Cassirer, Ernst 68, 69 Chang, Peng-Chun 55 Christentum 90, 91, 124, 178, 227 Cicero, Marcus Tullius 11, 12, 106, 129, 211 Dasein, menschenwürdiges 210 Demenz 64, 82 Demokratie, konstitutive 196 Demokratieprinzip 195, 196 Demütigung 65, 67, 98, 116, 118, 119, 168, 216 Dilthey, Wilhelm 220 Diskurstheorie 160 Dreier, Horst 91 Dreier, Ralf 34 Dürig, Günter 27, 113, 115, 181 Durkheim, Emile 96 Dworkin, Ronald 74 Ehre 25, 66, 77, 103 Eigentum 207 Embryo 91, 102, 242 Entscheidungsfreiheit 98, 156 Erst-Person-Perspektive 235 Ethik, partikulare 166 Eugenik 78 Euthanasie 82 Existenzialismus 125 Existenzminimum 29, 53, 120, 171 Exklusion 134, 136, 232, 241, 243
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Register
exzentrische Positionalität 17, 18 Fehlschluss – evalualistischer 239 – naturalistischer 60, 114, 161 Folter 105, 209, 215 französische Revolution 130 Freiheit 127, 130 Freiheitsrechte 53 Freiheitsstrafe 104 – lebenslange 29, 105 Fujiwara, Masahiko 87 Gedächtnis 219, 220 Gemeinwohl 46, 127 Gerechtigkeit 46 Gesellschaftsvertrag 144 Gewirth, Alan 74 Gisbertz-Astolfi, Philipp 233 Gleichheit 107, 127, 210 Goethe, Johann Wolfgang v. 107 Gott 237, 238 Gottesebenbildlichkeit 10, 91, 112, 127, 130, 161, 166, 178 Grausamkeit 67 Grimmelshausen, Hans Jakob Chr. 130 Grundgesetz 9, 11, 26, 27, 47, 99, 198, 225 Grundrechte 51, 52, 100 – soziale 53 Habermas, Jürgen 39, 159, 165, 227, 228, 233 Handlungsfähigkeit 13, 63 Handlungsfreiheit 98 Hashida, Sugako 82 Hassemer, Winfried 196 Hegel, G. W. F. 36, 78, 135, 138 Heidegger, Martin 87, 187, 189 Henrich, Dieter 35 Herdegen, Matthias 28 Herder, Johann Gottfried 107 Hilgendorf, Eric 97, 110, 233 Hirohama, Yoshio 85 Hobbes, Thomas 130 Hoerster, Norbert 109 Höffe, Otfried 29, 31, 91 Hofmann, Hasso 97 Holocaust 21, 223, 226 homo noumenon 38, 58, 102, 112 homo phaenomenon 38, 58, 102, 112 Horn, Christoph 65, 69, 119
Hruschka, Joachim 102 Humanität 107 Humiliationismus 65, 66, 168 Hüther, Gerald 98 Identität 138, 139 – kulturelle 169 – personale 168-170 – sexuelle 169 Individualismus 43 Inhärenz 209 Institutionen 16 Instrumentalisierung 9, 115 Instrumentalisierungsverbot 98, 112, 169 Interesse 168, 212 Islam 125 Japan 76 Jaspers, Karl 88, 138 Joas, Hans 163 Judentum 125 Kant, Immanuel 11, 25, 31-34, 36, 40, 58, 60, 76, 78, 86, 90, 91, 100, 101, 112, 125, 132, 145, 168, 173, 178, 179, 185, 201, 211, 226, 231, 236 kategorischer Imperativ 32, 34, 101 Kaufmann, Arthur 117, 150, 151 Kausalität 236 Kelsen, Hans 120, 128, 134 Kleinstkinder 64, 69, 242 Klonen 94 Knoepffler, Nikolaus 101 Koma 243 Kommunikationstheorie 97 Konfuzianismus 55, 78, 125 Konsistenz, praktische 14 Konstitutionsprinzip 99 Kontinuitätsargument 91 Korpič-Horvat, Etelka 195 Kulturrevolution 55 Künstliche Intelligenz 20 Larenz, Karl 135 Lassalle, Ferdinand 86, 87, 135 Lebenssinn 220 Leerformel 110 Leiber, Theodor 95 Leiblichkeit 17, 184, 186 Leidensfreiheit 98 Leistungstheorie 112 Leitidee 126
Register
Lindemann, Gesa 96 linguistic turn 159 Luf, Gerhard 92 Luhmann, Niklas 96, 112, 179, 225 Margalit, Avishai 66, 111, 116 Marx, Karl 125, 135 Marx, Werner 187, 189 Medizinethik 209 Meixner, Uwe 236 Mensch 17, 64, 136, 137, 162, 163, 178, 221, 225, 227 Menschenbild 10, 17, 28, 40, 47, 50 Menschenrechte 9, 11, 18, 20, 26, 32, 46, 56, 206, 232 Menschenwürde – als Argument 200 – als Eigenschaft 64, 67, 91, 95, 111, 113, 116, 160, 161,180, 210-212, 225 – als Grundlage des Rechts 144 – als Integrationsformel 109 – als Rang 106, 107, 116 – als Realität 208 – als Menschenrecht 209 – als metaphysische Qualität 166 – als Rechtsprinzip 168 – als Selbstbestimmung 211, 212, 213 – als soziale Konvention 176 – als Wert 180 – absolute 24, 25 – Beeinträchtigung der 174 – große 76, 210 – kleine 76, 210 – mittlere 76, 210 – Personalitätstheorie der 231 – Skepsis gegenüber 206, 209 – Träger der 120 – Verletzung der 174 – Verstorbener 198 s.a. unter Würde Menzius (Mo Zi) 25, 30, 55, 152, 155, 158 Metaphysik 10, 12, 16, 60, 64, 72, 86, 90, 92, 114, 159, 214, 232, 236 Metaphysik – allgemeine 236 – der Determination 234 – der Freiheit 234, 236 – spezielle 236
Minimalmoral 94, 95 Mitgifttheorie 91, 97, 112 Mitleid 188, 190, 224 Mobbing 82 Moral 128, 132 moral point of view 34 Mosterίn, Jesús 224, 226 Nächstenliebe 224 Nationalsozialismus 135, 222-224 Natur, menschliche 224 Naturrecht 91, 112, 240 Neumann, Ulfrid 64, 71, 92, 115, 126, 148, 198, 227 Nida-Rümelin, Julian 69 Nietzsche, Friedrich 138 Nipperday, Hans Carl 163 Nitobe, Inazo 77, 87 Normativität 14, 26 Nussbaum, Martha 72 Objektformel 27, 100, 101, 115, 169, 173, 181, 201 Ockhams Rasiermesser 237 ökologische Krisen 20 Ontologie 115, 236 Ordinary Language Philosophy 65 Patzig, Günther 35 Peep-Show 105, 217 Person 45, 67,102, 112, 129, 132, 133, 136, 179, 227, 232 Person, juristische 45, 134 Personalität 232, 234, 239 Personalitätstheorie 231 persönliche Identität 119 Persönlichkeit 58, 96,103, 116, 136, 169, 179 Pflicht 32 Philosophie, ostasiatische 116 Pico della Mirandola, Giovanni 138 Pindar 138, 144 Plessner, Helmuth 16, 19, 96 Pluralismus 93 Praxeologie 234 Preis 101, 102, 130 principium diiudicationis 35 principium executionis 35 Prinzipientheorie des Rechts 52 Privatsphäre 19 Puchta, Friedrich 134 Pufendorf, Samuel v. 132, 145
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Quaternio terminorum 243 Radbruch, Gustav 28, 40, 41, 42, 43, 45, 53, 58, 60 Radbruchsche Formel 46, 198 Rang 231 Rechtssicherheit 46 Recht 128, 140, 237 Recht auf Leben 121 Recht, subjektives 19, 32, 120, 127, 141, 232 Rechte – negative 16 – positive 16 Rechtsperson 124, 137, 141 Rechtspositivismus 26, 91 Rechtsprinzipien 201 Rechtstheorie 234 Rechtsverhältnis 137 Religion 91, 162, 165, 214, 238 Renaissance 125, 130 Respekt 19 Rettungsfolter 105, 209 Rolle, soziale 138 Ross, Alf 207 Sadismus 215, 217 Savigny, Friedrich Carl v. 134 Schiller, Friedrich 107 Schmitt, Carl 85 Schopenhauer, Arthur 36 Schuld 149, 234 Schuldprinzip 148, 150, 151, 153 Schweitzer, Albert 86 Seelmann, Kurt 38 Sein zum Tode 187 Selbstachtung 66, 169 Selbstbestimmung 63, 91,104, 110, 119, 121 Selbstbewusstsein 138 Selbstdarstellung 182 Selbstreflexion 17 Selbsttötung 120, 167 Selbstverhältnis 138 Selbstverständnis 11 Selbstwertgefühl 66 Selbstzweck 32, 33 Semantik 109 Shinto 78 Smuts, Jan Christiaan 136 Soziologie 96
Spaemann, Robert 114, 243 Sprachphilosophie, analytische 64, 159 Staat 21 Staat, säkularer 165 Staatszielbestimmungen 51 Stammzellenforschung 94 Status 12, 24, 76, 104, 107, 127, 129, 131, 133, 134, 163, 181, 231 Sterbehilfe 82, 95,110, 121 Sterben 82 – menschenwürdiges 171 – Recht auf selbstbestimmtes 172 Sterblichkeit 184, 186, 188 Stoa 125, 130, 138 Strafe 102, 103, 149 Strafrecht 107, 148, 234 Strafzweck 103 Substanzontologie 65, 68, 74 Suizid 120 Suizidassistenz 172, 174 Symbol 72, 196 Technik 220 Technologie 20 Teilhabe, politische 20 Theologie 91, 92, 165, 237 Tiedemann, Paul 74 Tito, Josip Broz 194 Transpersonalismus 43 Tsunetoh, Kyo 185 Überindividualismus 43 Unantastbarkeit 109, 140, 143, 209 Unbestimmtheit 109 Ungeborene 64, 120 Universalität 147 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 46 Verdinglichung 54 Verfassung – China 26, 47, 55 – Japan 79 – Schweiz 137 – Slowenien 194, 199 Verfassungsgericht Slowenien 194, 198 Vergeltungsprinzip 156 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 51 Verletzungshandlung 70, 117, 118, 167, 181 Vernunft 12, 63, 91, 130, 184, 185 Vernunftbegabung 178
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Vernunftfähigkeit 12 Versprechen 180 Volitionen zweiter Ordnung 213, 234 Von der Pfordten, Dietmar 76 Vormundschaft 82 Waldron, Jeremy 233 Weber, Max 88 Weichold, Martin 234 Weltanschauung 237, 238 Wert – absoluter 10, 102, 141, 232, 233, 238 – innerer 102, 226 – objektiver 10, 239 Wertbegriff 70 Wertentscheidung 9, 10 Wertrealismus 238 Wertschätzung 66 Werttheorie 16, 91, 97 Wertungsmaßstäbe 201 Wetz, Franz Josef 92 Wiener Schule 233 Wille 32, 36, 37, 98, 185 Willensfreiheit 156, 157, 178, 235
Willkür 37 Wissenschaft 220, 236 Wittgenstein, Ludwig 239 Würde – des Kaisers 86, 87 – der Kreatur 137 – künftiger Generationen 198 – der menschlichen Persönlichkeit der Bürger 48, 55 – der Natur 84 – ontologische 227 – des Rechtssystems 48 – des Staatsbürgers 103 – des Verbrechers 103 – der Verfassung 48 – Rechtsprinzip der 144, 145 – relative 24 Würdebegriff, japanisch 76 Yoshida, Seichi 78 Zugehörigkeit 133, 163 Zurechnung 132 Zuschreibung 71, 117, 173 Zwergenweitwurf 106, 216
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a rc h i v f ü r r e c h t s - u n d s o z i a l p h i l o s o p h i e
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beihefte
Herausgeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Die Bände 1–4 sind im Luchterhand-Fachverlag erschienen.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–079x
147. Paul Tiedemann (Hg.) Right to Identity Proceedings of the Special Workshop “Right to Identity” held at the 27th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Washington DC, 2015 2016. 185 S., kt. ISBN 978-3-515-11244-4 148. Hajime Yoshino / Andrés Santacoloma Santacoloma / Gonzalo Villa Rosas (Hg.) Truth and Objectivity in Law and Morals Proceedings of the Special Workshop Held at the 26th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Belo Horizonte, 2013 2016. 158 S., kt. ISBN 978-3-515-11260-4 149. Alain Papaux / Simone Zurbuchen (Hg.) Philosophy, Law and Environmental Crisis / Philosophie, droit et crise environnementale Workshop of the Swiss Society for Philosophy of Law and Social Philosophy, September 12–13, 2014, Swiss Institute of Comparative Law, Lausanne / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 12–13 septembre 2014 2016. 153 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11387-8 150. Markus Abraham / Till Zimmermann / Sabrina Zucca-Soest (Hg.) Vorbedingungen des Rechts Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg 2016. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-11389-2
151. André Ferreira Leite de Paula / Andrés Santacoloma Santacoloma / Gonzalo Villa Rosas (Hg.) Truth and Objectivity in Law and Morals II Proceedings of the Second Special Workshop held at the 27th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Washington D.C., 2015 2016. 210 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11484-4 152. Kosuke Nasu (Hg.) Insights about the Nature of Law from History The 11th Kobe Lecture, 2014 2017. 146 S., kt. ISBN 978-3-515-11570-4 153. Jochen Bung / Armin Engländer (Hg.) Souveränität, Transstaatlichkeit und Weltverfassung Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau 2017. 133 S., kt. ISBN 978-3-515-11620-6 154. Bénédict Winiger / Matthias Mahlmann / Sophie Clément / Anne Kühler (Hg.) La propriété et ses limites / Das Eigentum und seine Grenzen Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 26 septembre 2015, Université de Genève / Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 26. September 2015, Universität Genf 2017. 274 S., kt. ISBN 978-3-515-11688-6 155. Gralf-Peter Calliess / Lorenz Kähler (Hg.) Theorien im Recht – Theorien über das Recht Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2016 in Bremen 2018. 224 S., kt. ISBN 978-3-515-12102-6
156. Dennis-Kenji Kipker / Matthias Kopp / Peter Wiersbinski / Jan-Christoph Marschelke / Falk Hamann / Martin Weichold (Hg.) Der normative Druck des Faktischen: Technologische Heraus forderungen des Rechts und seine Fundierung in sozialer Praxis Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2016 in Bremen und im September 2017 in Regensburg 2019. 261 S., geb. ISBN 978-3-515-12196-5 157. Miguel Nogueira de Brito / Rachel Herdy / Giovanni Damele / Pedro Moniz Lopes / Jorge Silva Sampaio (Hg.) The Role of Legal Argumentation and Human Dignity in Constitu tional Courts Proceedings of the Special Workshops Held at the 28th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Lisbon, 2017 2019. 239 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12235-1 158. André Ferreira Leite de Paula / Andrés Santacoloma Santacoloma Law and Morals Proceedings of the Special Workshop held at the 28th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Lisbon, Portugal, 2017 2019. 377 S., geb. ISBN 978-3-515-12278-8 159. Daniel Kipfer / Anne Kühler (Hg.) Justizberichterstattung in der direkten Demokratie Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22.–23. Juni 2017 in Bellinzona 2019. 170S., geb. ISBN 978-3-515-12368-6 160. Joshua Kassner /Colin Starger (Hg.) The Value and Purpose of Law Essays in Honor of M. N. S. Sellers 2019. 262 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12460-7
161. Hirohide Takikawa (Hg.) The Rule of Law and Democracy The 12th Kobe Lecture and the 1st IVR Japan International Conference, Kyoto, July 2018 2020. 229 S. mit 3 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12482-9 162. Ruwen Fritsche / Philipp Gisbertz / Philipp-Alexander Hirsch / Franziska Bantlin / Rodrigo Cadore / David Freudenberg / Sabine Klostermann / Laura Wallenfels (Hg.) Unsicherheiten des Rechts. Von den sicherheitspolitischen Heraus forderungen für die freiheitliche Gesellschaft bis zu den Fehlern und Irrtümern in Recht und Rechts wissenschaft Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im April 2018 in Göttingen und im September 2018 in Freiburg 2020. 338 S., geb. ISBN 978-3-515-12561-1 163. Matthias Jestaedt / Ralf Poscher / Jörg Kammerhofer (Hg.) Die Reine Rechtslehre auf dem Prüfstand / Hans Kelsen’s Pure Theory of Law: Conceptions and Misconceptions Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 27.–29. September 2018 in Freiburg im Breisgau 2020. 427 S. mit 8 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12568-0 164. Kristin Y. Albrecht / Lando Kirchmair / Valerie Schwarzer (Hg.) Die Krise des demokratischen Rechtsstaats im 21. Jahrhundert Tagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im April 2019 in Salzburg 2020. 257 S., geb. ISBN 978-3-515-12670-0
Das Prinzip der Menschenwürde findet heute als moralisches und rechtliches Prinzip eine nahezu weltweite Anerkennung. Als normatives Prinzip verbietet es, Menschen einer „unwürdigen“ Behandlung auszusetzen. Fraglich und umstritten ist, ob dieses normative Prinzip in einer spezifischen Eigenschaft des Menschen fundiert ist. Kann oder muss man eine metaphysische Eigen schaft der „Menschenwürde“ voraussetzen, um das normative WürdePrinzip stabil zu begründen? Oder bildet das universelle menschliche Interesse, keiner demütigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, die Basis des normativen Prinzips („Humiliationismus“)? Die Autoren beantworten diese Fragen auf unterschiedliche Weise. „Menschenwürde“ verstehen sie dabei nicht als eine Eigenschaft, die dem Menschen von einer transzendenten Instanz verliehen werden kann. Soweit die Autoren der Ansicht sind, dass zur Begründung des normativen Prinzips der Menschenwürde auf metaphysische Elemente nicht verzichtet werden kann, geht es nicht um ontologische Annahmen, sondern um „denk notwendige“ Voraussetzungen der Anerkennung eines normativen Prinzips der Menschenwürde. Einhellig ist das Urteil darüber, dass das Prinzip der Menschenwürde aktive staatliche Hilfeleistungen in menschenunwürdigen Situationen fordern kann. Der Band informiert zudem über ein spezifisch ostasiatisches Verständnis der Menschenwürde, das von den in Westeuropa vertretenen Ansätzen teilweise erheblich abweicht.
ISBN 978-3-515-12828-5
9
7835 1 5 1 28285
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