Menschenrechte und Religionsunterricht [1 ed.] 9783788732240, 9783788732233, 9783788732226


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Menschenrechte und Religionsunterricht [1 ed.]
 9783788732240, 9783788732233, 9783788732226

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Menschenrechte und Religionsunterricht

Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) Band 33 (2017)

Herausgegeben von Stefan Altmeyer, Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3223-3 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Umschlagabbildung: Rawpixel.com (shutterstock.com) Satz: Andrea Töcker, Neuendettelsau

Inhalt

Einleitung ...........................................................................................

9

1

Menschenrechte in der Diskussion

1.1

Dietmar von der Pfordten Die Menschenrechte und ihre Begründung .............................

15

1.2

Elisabeth Gräb-Schmidt Menschenrechte und Christentum Metaphysische und rechtssystematische Überlegungen zur Frage ihrer Geltung und Universalisierung .............................

26

Zekirija Sejdini Menschenrechte und der Islam Eine andere Perspektive ..........................................................

38

Oliver Hidalgo Menschenrechte als Zivilreligion? Eine ideengeschichtliche, theoretische und politische Annäherung .............................................................

50

Heiner Bielefeldt Verletzungen der Religionsfreiheit Versuch eines typologischen Überblicks ................................

61

Hans-Georg Ziebertz Menschenrechte in der Wahrnehmung junger Christen und Muslime ............................................................................

72

Elisabeth Naurath Zum Recht des Kindes auf religiöse Bildung »… so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen sich viele Blüten schenken lässt …« (Rainer Maria Rilke) ............

84

1.3

1.4

1.5

1.6

1.7

6

Inhalt

2

Pädagogische Zugänge

2.1

Annette Scheunpflug Erziehungswissenschaftliche Reflexionen und pädagogische Ansätze im Kontext von Menschenrechtsbildung ...................

99

2.2

Manfred L. Pirner Religionspädagogische Perspektiven zur Menschenrechtsbildung ........................................................... 110

2.3

Friedrich Schweitzer Menschenrechte in Religionspädagogik und Religionsunterricht Grundsätzliche Verhältnisbestimmungen ............................... 122

2.4

Vanessa Albus Menschenrechtsbildung im Philosophie- und Ethikunterricht Ein Beitrag zur Schulbuchanalyse ........................................... 134

3

Didaktische Konkretionen: Menschenrechte im Religionsunterricht

3.1

Andrea Lehner-Hartmann Ohne Frauenrechte keine Menschenrechte?! .......................... 145

3.2

Helga Kohler-Spiegel Kinderrechte »Kinder haben Rechte, das gilt für jedes Kind …« ................ 153

3.3

Ilona Nord Mit Menschenrechtsbildung gegen Hate Speech Religionspädagogische Erörterungen ...................................... 162

3.4

Bernhard Grümme Menschenrechte und Rechte der außermenschlichen Natur: ein Thema für religiöse Bildung? ............................................ 172

3.5

Peter Müller Würde und Recht des Menschen Biblische Perspektiven ............................................................ 180

7

Inhalt

3.6

Heidrun Dierk Menschenrechtsdiskurse in der Kirchengeschichte? Fallbeispiele zu Entdeckungszusammenhängen von Menschenrechten ..................................................................... 194

3.7

Gerhard Kruip Asyl: Menschenrechte zwischen Unbedingtheit und Zumutbarkeit ........................................................................... 202

3.8

Wolfhard Schweiker Inklusion als Menschenrecht Grundlagen, Kontexte und religionsdidaktische Reflexionen

3.9

210

Thomas Schlag Rassismus ................................................................................ 218

3.10 Bernd Schröder Todesstrafe .............................................................................. 226

Einleitung

Aktueller denn je stellt sich in der internationalen wie auch nationalen Politik das Thema der Achtung der Menschenrechte: Gibt es ein Erstarken des Rechtsextremismus und Rassismus in unserem Land? Wie weit kann und soll ein Recht auf Asyl gehen? Dürfen Menschen in Länder rückgeführt werden, in denen ihnen Verfolgung und Todesstrafe drohen? Aber auch: Wie kann man das Recht auf Inklusion in unserer Gesellschaft, in unserem Bildungswesen, in unseren Schulen und Kindergärten umsetzen? Und: Wie steht es mit der Entwicklung der Kinderrechte in Deutschland, einem Land, das zu den reichsten Ländern dieser Welt zählt? Welches Recht auf Bildung haben Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen, welchen Schutz vor sexuellem Missbrauch, welches Recht zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben, wenn Armut als wachsendes Phänomen auszumachen ist? Wenn gegenwärtig ein deutlicher Rückschritt in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit festzustellen ist und längst erkämpfte Rechte für Frauen wieder zur Disposition stehen? Aber die Frage nach den Menschenrechten betrifft auch den konkreten Alltag von Lehrkräften wie auch von Schülerinnen und Schülern der so genannten Generation 2.0: Wie können sie geschützt werden vor irritierenden Informationsfluten und einer Allmacht der Algorithmen bzw. wie können sie sich selbst schützen vor medialen Übergriffen wie Cyber-Mobbing oder Hate speeches etc.? Welche kritische Rolle spielt längst auch Religion in all diesen Zusammenhängen? Es erstaunt daher nicht, dass »Menschenrechte« zu einem zentralen Thema des Religionsunterrichts geworden sind. Gesellschaftliche, kirchliche, theologische und pädagogische Gründe sprechen gleichermaßen für eine nachhaltige Menschenrechtsbildung. Gerade im Religionsunterricht als dem einzigen durch das Grundgesetz geschützten Unterrichtsfach geht es um den fachlich kompetenten und sensiblen Diskurs zur Ermöglichung und Erhaltung menschlicher Grundrechte. Der Religionsunterricht – so der Ausgangspunkt des Bandes – kann und soll dazu einen spezifischen Beitrag leisten, vor allem im Blick auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Begründung einer unverlierbaren Würde, aber auch durch eine pädagogisch reflektierte Didaktik. Nicht zuletzt bietet dieser Unterricht zahlreiche Möglichkeiten, aktuelle Fragen einer an den Menschenrechten orientierten gesellschaftlichen Praxis aufzunehmen.

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Einleitung

Wenn diese Aufgabe verstärkt wahrgenommen werden soll, bedarf es aber einer fundierten didaktischen Grundlegung, wie sie bislang nicht zur Verfügung steht. Es muss geprüft werden, auf welche Art und Weise der Religionsunterricht Menschrechtsfragen in der Praxis aufnehmen und wie er dafür sorgen kann, dass dabei nicht nur anscheinend Selbstverständliches – etwa dass alle Menschen gleiche Rechte haben usw. – einfach wiederholt wird. Wie überhaupt sieht eine Menschenrechtsbildung aus, die ihren Namen verdient? Und worin kann eine spezifisch religionsunterrichtliche Zugangsweise bestehen? Vor welchen Aufgaben steht religiöse Bildung, die sich auch als Menschenrechtsbildung versteht, und welchen Beitrag kann der Religionsunterricht hier im Fächerkanon und interdisziplinär für unsere Gesellschaft leisten? Wie können entsprechende Lern- und Bildungsprozesse Nachhaltigkeit gewinnen? Solchen religionsdidaktischen Fragen gehen notwendig Sachfragen und Klärungsaufgaben voraus, die das Thema in inhaltlicher Hinsicht erschließen helfen. Das beginnt schon bei der genaueren Klärung dessen, wie Menschenrechte zu definieren und zu verstehen sind und was sie gegenüber anderen Rechten auszeichnet. Weiterhin müssen unterschiedliche Begründungsformen in den Blick genommen werden, einschließlich der Kontroversen, die dabei zwischen verschiedenen rechtlichen, philosophischen und theologischen Sichtweisen aufbrechen. So werden dann auch rasch grundlegende Themen von Menschenbild und Gesellschaftsform in lokalen und globalen Zusammenhängen berührt und kommen religiöse oder theologische Perspektiven ins Spiel. Welche Menschenrechte rekurrieren auf die jeweiligen Menschenbilder, wie sie in Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen zum Ausdruck kommen? Es versteht sich inzwischen von selbst, dass solche Perspektiven nicht nur das Christentum und eine christlich geprägte Gesellschaft betreffen, sondern dass gerade der Islam im gegenwärtigen Diskurs um Menschenrechtsfragen – auch im Zusammenleben mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern muslimischen Glaubens – besonders in den Fokus getreten ist. Damit entsteht ein noch wenig bedachtes Handlungsfeld, nämlich die didaktische Umsetzung einer Menschenrechtsbildung, die sich im Kontext interreligiöser Bildung auch als konstruktiver Beitrag zur Friedenspädagogik versteht. Nicht zuletzt geht es bei Menschenrechten immer auch und vielfach sogar an erster Stelle um ihre Verletzung. Menschenrechte gewinnen ihre Bedeutung nicht selten gerade daraus, dass sie kontrafaktisch formuliert sind und damit einen Horizont der Kritik allererst eröffnen. Kinder und Jugendliche wollen aber auch wissen, ob sich solche Rechte überhaupt einlösen lassen und was sie selbst eventuell tun können, wenn sie sich dafür einsetzen wollen. Insofern will eine religionspädagogisch begründete Menschenrechtsbildung auch zum Diskurs motivieren, zur Reflexion sensibilisieren und zur Mit-Gestaltung inspirieren.

Einleitung

11

Das Konzept des Bandes verbindet mehrere Dimensionen miteinander: – Zunächst wird der aktuelle Stand der Diskussion über Menschenrechte vorgestellt – mit Beiträgen u.a. aus rechtlicher Sicht, aus der christlichen und islamischen Theologie, der Politikwissenschaft und der Religionspädagogik. – Im zweiten Teil des Bandes werden Zugänge aus Pädagogik und Religionspädagogik in ihren gemeinsamen und unterschiedlichen Begründungszusammenhängen beleuchtet sowie religionsdidaktisch konkretisiert. Auch der Bezugsrahmen zur Didaktik des Ethikunterrichts wird präsentiert, um Differenzen und Kohärenzen aufzuzeigen und gegebenenfalls unterichtspraktisch nutzbar zu machen. – Zahlreiche didaktische Konkretionen entfalten Unterrichtsthemen – etwa zu Gender, Kinderrechten, Inklusion, Ökologie, aber auch zu Rassismus und Todesstrafe

1 Menschenrechte in der Diskussion

1.1 Dietmar von der Pfordten

Die Menschenrechte und ihre Begründung

I Die Menschenrechte: eine späte, schwer erkämpfte Errungenschaft Die Menschenrechte sind für uns heute selbstverständlich. Aber man darf nicht vergessen: Die Menschenrechte waren sowohl im Rahmen der allgemeinen Geschichte der Menschheit wie der besonderen Rechts- und Geistesgeschichte eine späte, mit vielen blutigen Opfern erkämpfte Errungenschaft. Die Virginia Declaration of Rights sowie die amerikanische Declaration of Independence von 1776 und die französische Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 enthielten erste umfassendere politische bzw. verfassungsrechtliche Statuierungen natürlicher, also vorstaatlicher Menschenrechte, die langjährige Kriege nach sich zogen. Und in deutschen Deklarationen und Verfassungen setzten sich die Menschenrechte erst im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nach zahllosen Verfolgungen, Zensurmaßnahmen und damit Menschenrechtsverletzungen durch – auf gesamtstaatlicher Ebene erst in der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Vor dem 18. Jahrhundert finden sich erste Ansätze und Spuren der Einschränkung staatlicher Souveränität, nur in Freiheitsbriefen und Wahlkapitulationen, etwa in der Magna Carta Libertatum von 1215 die Gewährung einiger Freiheitsgarantien und Privilegien seitens des englischen Königs für den Adel, in Art. 3 der Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauern von 1525 die Forderung nach Befreiung von der Leibeigenschaft, in der britischen Petition of Right von 1628 eine Sicherung der Freien vor willkürlicher Verhaftung, welche 1679 in der HabeasCorpus-Akte erweitert wurde, schließlich in der Bill of Rights von 1689 die Straffreiheit bei der Eingabe von Petitionen und das Verbot grausamer Bestrafungen. Vergleichbare Freiheitsbriefe und Privilegierungen gab es in einigen Ländern Europas.1 Ab Ende des 17. Jahrhunderts erscheinen dann ethische bzw. philosophische und damit nicht-religiöse Schriften, welche den Staat auf die Beachtung individueller Rechte der Bürger verpflichten.2 Zu nennen wären 1 Vgl. Andreas Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, Potsdam 42010; Peter Blickle, Die Revolution von 1525, München 42004. 2 Zu wenig überzeugenden Versuchen, die Menschenrechte bereits bei antiken Denkern zu lokalisieren: Christoph Horn, 1.1 Antike, in: Arnd Pollmann / Georg Lohmann (Hg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2012,

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Dietmar von der Pfordten

etwa John Lockes Two Treatises of Government von 1689/1690, Jean Jacques Rousseaus Discours sur l’origine et les fondaments de l’inégalite parmi les hommes von 1759, Thomas Paines Rights of Man von 1791/92 und Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre von 1797.3 Mit diesen Schriften beginnen die Versuche, die Menschenrechte säkular-ethisch bzw. philosophisch, also nicht religiös und damit für alle Menschen gleich welcher Religion, Kultur oder Gesellschaft, das heißt universell, zu begründen. Und zwar geschieht dies zu Beginn noch naturrechtlich, dann aber zunehmend mit Verweis auf den Menschen als autonomes Individuum und allgemeinethische Prinzipien. II Allgemeine geistige Hintergründe Was waren die allgemeinen geistigen Hintergründe bzw. Entwicklungen, welche – neben religiösen Einflüssen, die in anderen Teilen dieses Bandes behandelt werden – zur allmählichen Erkenntnis, Anerkennung und schließlich universellen Begründung der Menschenrechte führten? Wenigstens fünf lassen sich nennen: (1) Im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit wird der einzelne Mensch in verstärktem Maße neben bzw. unabhängig von sozialen Kollektiven wie Familie, Sippe, Stamm, Volk, Dorf, Stadt, Polis oder Imperium als singuläres Individuum wahrgenommen und beschrieben (deskriptiver Individualismus bzw. Humanismus). Er taucht etwa im 15. und 16. Jahrhundert als zentraler Gegenstand in der wissenschaftlichen und künstlerischen Literatur auf,4 aber auch in der Kunst der italienischen Renaissance in Plastiken und Gemälden, etwa bei Leonardo da Vinci, Michelangelo oder Raffael. (2) Auf dieser zunehmenden Wahrnehmung und Beschreibung des einzelnen Menschen baut zweitens die Annahme bzw. Forderung auf, diesen einzelnen Menschen auch normativ als letzte Quelle von Verpflichtungs- und Wertungsordnungen wie Moral, Recht und Ethik anzusehen sowie anzuerkennen (normativer Individualismus bzw. Humanismus), etwa mit Einschränkungen schon bei Hugo Grotius, Thomas Hobbes und Samuel v. 1–5. Zu den Forderungen der Bauernbewegung und der sog. spanischen Spätscholastik mit ersten theoretischen Begründungsspuren: Matthias Kaufmann, 1.3 Frühe Neuzeit, ebenda, 13–20. 3 Naturrechtliche Vorläuferschriften waren: Hugo Grotius, Vom Recht des Krieges und des Friedens (De Jure Belli ac Pacis) von 1625 und Samuel v. Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (Officio Hominis et Civis Juxta Legem Naturalem) von 1673. In Thomas Hobbes, Leviathan von 1651 findet sich immerhin ein erster, wenn auch materialistisch reduzierter Individualismus. 4 Bartolomaeo Facio, De excellentia ac praestantia hominis ad Pium Papam Secundum liber incipit, EA 1447, Biblioteca Nazionale Rom; Gianozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen / De dignitate et excellentia hominis, EA 1452, Hamburg 1990.

Die Menschenrechte und ihre Begründung

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Pufendorf, dann aber vor allem bei Locke, Rousseau, Paine, Kant, Humboldt, Bentham, Mill usw. (3) Der normative Individualismus wird durch die Anerkennung subjektiver Rechte dieser einzelnen Menschen formalisiert sowie verrechtlicht und so wesentlich verstärkt. Der Einzelne gewinnt auf diese Weise einen anerkannten und durchsetzbaren Anspruch, in seinen individuellen Belangen bzw. Interessen berücksichtigt zu werden. Er wird vom bloßen Objekt zum Subjekt der eigenen Interessendurchsetzung. Dabei ist umstritten, wann subjektive Rechte im Privatrecht zum ersten Mal auftauchen. Während einige schon im römischen Recht erste Ansätze zu erkennen glaubten, lokalisiert sie die überwiegende Auffassung erst im Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit.5 (4) Der nächste Schritt ist die ethische und politisch-rechtliche Wendung dieser subjektiven Rechte als natürliche, vorstaatliche Rechte, also als Menschenrechte gegen den Staat. Diese Wendung geschieht erst im 18. Jahrhundert in den oben erwähnten großen Menschenrechtserklärungen und philosophischen Schriften, und zwar explizit erst bei Thomas Paine. Vorher finden sich faktisch nur die erwähnten fürstlichen Gewährungen bzw. Privilegien für den Adel und dann auch Freie. (5) Schließlich wird der Kreis derjenigen einzelnen Menschen, welche als mit subjektiven Menschenrechten ausgestattet angesehen werden, langsam Schritt für Schritt ausgeweitet, da sich Beschränkungen nicht rational rechtfertigen lassen: Während es bei den Privilegien der Feudalordnungen noch vor allem Adlige und dann eine beschränkte Gruppe von Freien waren, sollen es nach der amerikanischen und französischen Erklärung nominell alle freien Menschen sein. Real waren es aber zunächst nur alle freien, erwachsenen, weißen, christlichen und europäischstämmigen Männer. Die Erstreckung auf Frauen, Kinder, Nichtweiße, Nichtchristen und Nichteuropäer sowie die Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft war ein Prozess, der weitere zweihundert Jahre in Anspruch nahm und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem gewissen rechtlichen, nicht aber faktischen Abschluss kam, etwa in der Universellen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. Hans Joas hat versucht, diesen Prozess mit dem Begriff der »Sakralität der Person« zu beschreiben.6 Aber dieser Versuch entdifferenziert erstens diese fünf Schritte bzw. Elemente, verwendet zweitens mit dem Personenbegriff einen Begriff, der auch die drei Personen des christlichen Gottes sowie Kollektive wie juristische Personen einschließt und verfehlt drittens gerade die wesentliche Säkularisierung also Entsakralisierung des Menschenbildes durch die modernen Menschenrechte. 5 Helmut Coing, Zur Geschichte des Begriffs »subjektives Recht«, in: Ders. / Frederick H. Lawson / Kurt Grönfors (Hg.), Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, Frankfurt a.M. 1959, 7–23. Historisch und sachlich kritisch: Michel Villey, Droit subjectif I, in: Seize essais de philosophie du droit, Paris 1969, 140ff.; Ders., Leçons d’histoire de la philosophie du droit, Paris 1962, 167ff. 6 Hans Joas, Die Sakralität der Person, Frankfurt a.M. 2015.

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Dietmar von der Pfordten

Ab dem 20. Jahrhundert werden die Menschenrechte dann von bloßen Freiheits- bzw. Abwehrrechten gegen den Staat auf Teilhabe- und Anspruchsrechte sowie auf Rechte von Kollektiven, etwa das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach Art. 1, 2. der UN-Charta erweitert. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts fordern manche sogar die Ausdehnung der Menschenrechte auf die großen Menschenaffen oder andere höhere Tiere.7 III Säkulare, ethische und damit universelle Begründungen Angesichts innerstaatlicher und internationaler Pluralisierungen der Religionen und Meinungen stellt sich jenseits religiöser Begründungen die Frage, wie sich die Menschenrechte säkular-ethisch bzw. philosophisch und damit universell begründen lassen. Dazu kann es keine bloß spezifische, isolierte Ethik der Menschenrechte geben, sondern man muss letztlich auf allgemeinethische Theorien zurückgreifen. Mittlerweile gibt es eine unübersehbare Vielzahl von Begründungsansätzen, von denen hier nur die drei wichtigsten Theoriegruppen erwähnt werden können.8 Für eine säkulare, normative Ethik bestehen seit der Zurückdrängung religiöser und naturrechtlicher Rechtfertigungen zwei grundsätzliche Alternativen. Die Begründung kann entweder die betroffenen anderen Menschen als Individuen mit ihren auch altruistischen individuellen Belangen bzw. Interessen berücksichtigen oder nur als Teil eines Kollektivs und damit das Kollektiv. Die erste Alternative lässt sich als normativer Individualismus bzw. Humanismus bezeichnen, die zweite Alternative als normativer Kollektivismus.9 Der normative Individualismus bzw. Humanismus behauptet, dass ausschließlich Individuen letzter Ausgangspunkt einer legitimen ethischen Verpflichtung bzw. Wertung und damit als betroffene Akteure bzw. Andere erstes Element einer adäquaten normativen Rechtsethik sein können, nicht aber Gemeinschaften oder Kollektive, etwa der Staat, die Nation, das Volk, die Gesellschaft usw. Der ethisch zu berücksichtigende Andere ist also in letzter Instanz in einer säkularen Perspektive immer die bzw. der Einzelne. Dabei handelt es sich – das muss betont werden – um die Behauptung der normativen, also wertenden und verpflichtenden Berücksichtigung als Individuen. Nicht bezweifelt wird, dass die Menschen faktisch auch in mehr oder minder engen Gemeinschaften leben. Nicht bestritten wird auch, dass es vorletzte Werte von Kollektiven geben kann. Nicht bestritten wird schließlich, dass jenseits der säkularen 7 Paola Cavalieri / Peter Singer, Menschenrechte für die großen Menschenaffen, München 1994. 8 Vgl. für weitere Ansätze: Stefan Gosepath / Georg Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 62015; Jens Hinkmann, Ethik der Menschenrechte, Marburg 2002. 9 Vgl. Dietmar von der Pfordten, Normative Ethik, Berlin 2010, 28ff.

Die Menschenrechte und ihre Begründung

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Perspektive göttliche Verpflichtungen bzw. Wertungen bestehen (können). Seit der Neuzeit haben – wie oben bereits erwähnt wurde – sowohl die großen Strömungen der normativen Ethik als auch das Recht – mit einzelnen zum Teil gravierenden retardierenden Momenten – zunehmend den normativen Individualismus bzw. Humanismus anerkannt, also den einzelnen Menschen in säkularer Perspektive als letzte normative Instanz moralischer, rechtlicher und ethischer Verpflichtungen angesehen. Viele der nachfolgend skizzierten, großen Ethikentwürfe stimmen zumindest im Ausgangspunkt oder in manchen Zügen mit dem normativen Individualismus überein, etwa der Kantianismus bzw. die deontologische Ethik, der Utilitarismus bzw. Konsequentialismus, aber auch die Vertragsethik/Diskursethik. IV Die deontologische Ethik und Kant Die deontologische Ethik mit dem Kantianismus als Hauptversion hält Pflichten für ethisch entscheidend. Wie werden diese Pflichten begründet? Nach Kant ist der gute Wille des Einzelnen Ausgangspunkt aller Pflichten. Nur der gute Wille ist unabhängig von allen zufälligen Einflüssen und Konsequenzen allein und ohne Einschränkung gut.10 Einziger Maßstab des guten Willens kann das Sittengesetz in der einzelnen Person sein. Das Sittengesetz konkretisiert Kant zum kategorischen Imperativ mit dem Prinzip der Verallgemeinerung als zentralem Kriterium: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«11 Nach Kants zweiter Formel des kategorischen Imperativs dürfen sowohl der Akteur als auch jeder andere als Personen (genauer: als die Menschheit in ihnen) niemals bloß als Mittel, sondern sie müssen jederzeit zugleich als Zweck »gebraucht« werden.12 Die Allgemeinheit des Gesetzes erfordert die Berücksichtigung aller autonomen Individuen. Kants Ethik ist somit ohne Zweifel normativ-individualistisch. Allerdings grenzt Kant den Kreis der zu beachtenden Individuen auf vernünftige Wesen ein, schließt also Lebewesen ohne Vernunft, etwa Tiere, als letzte Quelle der ethischen Rechtfertigung aus. Der Begriff bzw. die Aufgabe des Rechts im objektiven Sinn besteht für Kant darin, die »Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit« zu vereinigen.13 Kant postuliert 10 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, EA 1785, AkademieAusgabe Bd. IV, Berlin 1911, 393. 11 Kant, Grundlegung (s.o. Anm. 10), 421. 12 Ebd., 429. 13 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, EA 1797, Akademie-Ausgabe Bd. VI, Berlin 1907/14, 230.

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ein einziges umfassendes subjektives, überpositives Recht bzw. Menschenrecht aller Menschen gegen den Staat: das Recht der Freiheit.14 Kant vertritt also sowohl in der allgemeinen Ethik als auch in der Rechtsethik ausgehend vom normativen Individualismus das Prinzip der Verallgemeinerung zur Begründung des Menschenrechts der Freiheit. Das Prinzip der Verallgemeinerung ist heute in der ethischen Theoriediskussion als Grundprinzip der Vermittlung zwischen gegenläufigen Interessen umstritten. In der kantschen Variante führt es zur Begründung von Verboten und Geboten in Fällen, in denen ein Handeln eine gemeinschaftliche Praxis bzw. Institution zugleich voraussetzt und zerstört, also nur dadurch zum Ziel führt, dass es nicht die allgemeine Handlungspraxis ist, wie etwa bei der Lüge oder dem unaufrichtigen Versprechen. Das ist zwar überzeugend, aber lediglich einige wenige Handlungen, welche im Widerspruch zu gemeinschaftlichen Institutionen stehen, können mit diesem Kriterium ausgeschlossen werden, aber nicht einmal das allgemeine Tötungsverbot. Deshalb kann das Verallgemeinerungsprinzip nicht alle Menschenrechte rechtfertigen. Eine deontologische Begründung der Menschenrechte hat neben Onora O’Neill etwa Otfried Höffe mit seiner Theorie des transzendentalen Tausches von Interessen vorgelegt.15 Grundlegende Interessen wie Leben, Leib, körperliche Unversehrtheit usw. sind die Grundlage aller anderen Interessen und damit notwendiges Element der wechselseitigen Tauschgerechtigkeit. Das Problem dieser Konzeption liegt darin, dass die Richtung der Menschenrechte gegenüber dem Staat bzw. anderen Kollektiven nicht erklärt, die Abwägung nicht genau bestimmt und weniger gravierende Menschenrechte nicht gerechtfertigt werden können. V Der Utilitarismus bzw. Konsequentialismus Für den Utilitarismus bzw. Konsequentialismus (teleologische Ethik) sind der größte Nutzen aller oder, genereller, die besten Konsequenzen einer Handlung bzw. Regelung ethisch entscheidend. Der klassische Utilitarismus nimmt dabei seinen Ausgang bei Lust und Leid der betroffenen Individuen, ist also zumindest im Ursprung normativ-individualistisch.16 Auf dieser Basis wird die Nutzensumme ermittelt. Im modernen Präferenzutilitarismus werden statt Lust und Leid die Präferenzen als entscheidend angesehen. 14 Kant, Metaphysik (s.o. Anm. 10), 237. 15 Otfried Höffe, Transzendentaler Tausch. Eine Legitimationsfigur für Menschenrechte?, in: Gosepath/Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte (s.o. Anm. 8), 29–47; Onora O’Neill, Transnationale Gerechtigkeit, ebd., 188–232. 16 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, EA 1789, 1f.; John Stuart Mill, Utilitarianism / Der Utilitarismus, EA1861, Stuttgart 2010.

Die Menschenrechte und ihre Begründung

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Jeremy Bentham, der Ahnherr des Utilitarismus, hat die Menschenrechte als »nonsense upon stilts«, also als »Unsinn auf Stelzen« bezeichnet.17 Und nach Mill kann der Utilitarismus die Menschenrechte nur indirekt und damit sekundär rechtfertigen: Um des größten Gesamtnutzens willen soll man als sekundäre Regeln die Beachtung der Menschenrechte annehmen.18 Dies kann dann auch im positiven Recht zur Anerkennung von Grundrechten führen. Aber es ist klar, dass diese Grundrechte vollständig um des Gesamtnutzens willen eingeschränkt werden können. In der einzelnen Anwendung können sie also weitgehend oder sogar ganz durch den Gesamtnutzen bzw. das Gemeinwohl relativiert werden. Der Utilitarismus muss aber auch noch grundsätzlicher kritisiert werden: Das Maximierungsprinzip des Utilitarismus gerät, universal angewandt, zum normativen Individualismus in Widerspruch, weil es die von der fraglichen Handlung betroffenen Individuen mit ihren Interessen nur als Ausgangspunkt, nicht aber immer als Ziel der Abwägung ernst nimmt. Es erlaubt, dass um des größten Gesamtnutzens willen einzelne Individuen in bestimmten Fällen auf die gleiche bzw. gleichberechtigte Erfüllung ihrer Interessen teilweise oder ganz verzichten müssen, und negiert damit die Trennung der Individuen. Man denke beispielsweise an eine vertragliche Verpflichtung, deren Bruch einen größeren Nutzen erzeugen würde. Trotzdem erwarten wir als Betroffene die Einhaltung dieser Verpflichtung. Die Maximierungslösung des Utilitarismus ist also in manchen Konfliktsituationen grundsätzlich und prinzipienbedingt ungerecht, und zwar dann, wenn die individuellen Belange der kollektiven Maximierung prinzipiell nicht untergeordnet werden dürfen. Es gibt Fälle, in denen eine Einschränkung grundlegender Belange, wie etwa Leib, Leben, körperliche und psychische Unversehrtheit nicht gerechtfertigt ist. Bei diesen Belangen handelt es sich vor allem um die subjektiven ethischen, moralischen und juridischen Rechte und damit gerade um die Menschenrechte. Das absolute Folterverbot ist etwa ein Ausfluss dieser Einschränkung universaler Maximierung zugunsten individueller Menschenrechte. Das Maximierungsprinzip erscheint deshalb nur in gewissen Fällen, und zwar bei gemeinsamen Projekten ohne Verletzung gravierender individueller Kerninteressen, also v.a. individueller Menschenrechte, als Begründungs- und Abwägungsprinzip gerechtfertigt, z.B. bei der Finanzplanung des Staates.

17 Jeremy Bentham, Nonsense upon stilts, in: Ders., Rights, representation, and reform, Oxford 2002, 317ff., 330. 18 Mill (s.o. Anm. 16), 177, 185ff.; On Liberty / Über die Freiheit EA 1859, Stuttgart 2009, 37.

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VI Die Vertragstheorie/Diskurstheorie Die Vertragstheorie (Kontraktualismus, Zustimmungstheorie) hält den hypothetischen Vertrag für den Kern der normativen Ethik und damit für die Quelle der Begründung von Normen und Bewertungen. Sie geht in ihren verschiedenen Varianten bei Hobbes, Locke, Rousseau, Rawls und Scanlon trotz gewisser Unterschiede in Einzelheiten immer von Individuen aus, die in letzter Instanz fiktiv als vertragsschließend angesehen werden. Die Unterschiede betreffen die Frage, wie die Individuen zu verstehen sind, welche ihrer Eigenschaften entscheidend sein sollen und wie der Vertragsschluss zu interpretieren ist. Nach einer modernen Version des Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzips, die Scanlon vorgeschlagen hat, soll eine Handlung genau dann ethisch falsch sein, wenn ihre Durchführung unter den gegebenen Umständen von jeder Menge von Prinzipien zur Regelung des Verhaltens verboten würde, die niemand als Basis informierter, ungezwungener und allgemeiner Zustimmung vernünftigerweise zurückweisen könnte.19 »Vernünftig« wird dabei nicht wie bei manchen anderen Theoretikern als »zweckrational« im Verhältnis zu den Zielen des Akteurs verstanden, sondern setzt beim jeweils zu Berücksichtigenden eine gewisse Menge an Informationen und relevanten Gründen voraus. Wie ist die Vertragstheorie zu beurteilen? Zwar fordert das Vertragsbzw. Zustimmungsprinzip wie die bisher erörterten Ethiken eine Abwägung der individuellen Belange und ist somit ohne Zweifel normativindividualistisch. Das Vertragsprinzip kann aber selbst nicht zeigen, wie diese Abwägung konkret vonstattengehen soll. Das Vertragsprinzip liefert selbst kein konkretes Abwägungsprinzip, das die notwendige Vermittlung zwischen den individuellen Belangen inhaltlich bestimmen könnte. Die Bewertung einer Handlung als falsch, wenn sie von jeder Menge von Prinzipien verboten würde, die niemand vernünftigerweise zurückweisen könnte, ist mit allen möglichen konkreten Prinzipien der Abwägung kompatibel, etwa mit dem Verallgemeinerungsprinzip Kants, dem Maximierungsprinzip des Utilitarismus, dem Gleichheitsprinzip, dem Paretoprinzip (Ungleichheiten sind gerechtfertigt, wenn sich die Situation eines Einzelnen verbessern lässt, ohne andere schlechter zu stellen) oder dem von John Rawls vorgeschlagenen Maximin- bzw. Differenzprinzip, also der Beststellung der am schlechtesten Gestellten.20 Rawls glaubte, dass das Vertragsprinzip im Rahmen einer ursprünglichen, fiktiven Wahl aller Bürger das Maximinprinzip begründet, während Scanlon die Rechtfertigung des Maximinprinzips als allgemeinem Prinzip der Ethik ablehnt,21 also faktisch zugesteht, dass das Vertrags-

19 Thomas Scanlon, What we owe to each other, Cambridge 1998, 153. 20 John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1971, 27ff., 81ff. 21 Scanlon (s.o. Anm. 19), 223, 228f.

Die Menschenrechte und ihre Begründung

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prinzip allein nicht zu einem konkreten Abwägungsprinzip führt. Das Vertragsprinzip allein kann also die Menschenrechte nicht begründen. Die tatsächliche Durchführung des Vertragsschlusses, welche in individuellen Konflikten selbstredend zu konkreten Ergebnissen führen würde, kann das fehlende Abwägungsprinzip nicht ersetzen, denn diese Durchführung würde zwar den Konflikt im Einzelfall faktisch lösen. Diese faktische Lösung des Konflikts im Einzelfall könnte aber kein allgemeines normativ-ethisches Abwägungsprinzip rechtfertigen, denn warum sollten andere Individuen durch die individuelle Standfestigkeit oder Nachgiebigkeit im Aushandlungsprozess, also das jeweilige Verhandlungsgeschick der Vertragspartner, normativ-ethisch gebunden sein? Jürgen Habermas hat folgendes Diskursprinzip D vorgeschlagen: »Jede gültige Norm müsste die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen würden, finden können.«22 Während Scanlon nur die hypothetische Unmöglichkeit der Zurückweisung seitens aller Betroffenen als Kriterium ansieht, fordert Habermas also die hypothetische Zustimmung. Von dieser etwas anderen Formulierung abgesehen, ist ein wesentlicher sachlicher Unterschied zwischen Vertragsprinzip und Diskursprinzip nicht erkennbar, so dass die soeben wiedergegebene Einschätzung des Vertragsprinzips auch für das Diskursprinzip gilt. VII Eine Ethik des normativen Individualismus Wie kann dann eine adäquate normative Ethik bzw. Rechtsethik aussehen, die auch die Menschenrechte begründen kann? Eine adäquate normative Ethik muss wenigstens fünf Elemente enthalten:23 (1) den normativen Individualismus als Ausgangspunkt, wonach rechtliche Normen in letzter Instanz nur durch Rekurs auf alle betroffenen Individuen und ihre Eigenschaften gerechtfertigt werden können; (2) die Berücksichtigung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) aller dieser betroffenen Individuen als rechtfertigende Eigenschaften; (3) einen Pluralismus des Bezugs dieser Belange und damit der moralischen Normen und Werte auf alle möglichen Elemente unseres Handelns im weitesten Sinne, also nicht nur den guten Willen wie bei Kant oder die Konsequenzen wie im Utilitarismus bzw. Konsequentialismus; (4) die prinzipielle Notwendigkeit eines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzips dieser Belange der Individuen; (5) schließlich als zentrales Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip das sog. Prinzip der relativen Individual- und Anderer- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange, das als typisierendes Metaprinzip die An22 Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: Ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 31988, 103. 23 von der Pfordten (s.o. Anm. 9); Ders., Rechtsethik. München 22011.

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wendung konkreterer Prinzipien und Abwägungen steuert. Dieses fünfte Element des Abwägungs- und Zusammenfassungsprinzips lautet: Je stärker der Belang bzw. das Interesse eines moralisch zu berücksichtigenden Individuums in der Entstehung oder Realisierung notwendig von anderen Betroffenen bzw. einer Gemeinschaft abhängt, desto eher muss sich das Individuum eine Relativierung in der Abwägung gefallen lassen bzw. darf die Gemeinschaft nach Gemeinschaftszielen entscheiden. Das begründet die Menschenrechte gegenüber dem Staat und anderen Kollektiven. Dabei können diejenigen Belange, welche kaum vom Staat bzw. Kollektiv abhängen, die stärksten Rechte gegen ihn rechtfertigen: Menschenwürde, Leben, Psyche, Leib bzw. körperliche Unversehrtheit. Diese zentralen Menschenrechte darf der Staat wie bei der Menschenwürde überhaupt nicht oder wie bei Leben, Psyche und Leib nur im Wege der Notwehr und Nothilfe gegen Verbrecher einschränken. Jenseits dieses zentralen Kerns von Menschenrechten gegen den Staat liegen etwas stärker gemeinschaftsabhängige Rechte, etwa die Freiheit der einzelnen Menschen in Religion, Meinung, Wissenschaft, Kunst, Versammlung, Demonstration, Wohnung, Eigentum usw. Hier darf bzw. muss der Staat eine Abwägung mit den Menschenrechten anderer Menschen vornehmen und in weniger zentralen Belangen auch mit dem Gemeinwohl als Ausdruck der individuellen Interessen aller Menschen. VIII Bestehen auch Menschenpflichten? Die subjektiven Menschenrechte wurden als Freiheit gegenüber Verpflichtungen des Staates erkämpft, welche vom Staat schon immer behauptet und durchgesetzt wurden, etwa die Pflicht zur Steuerzahlung oder die Pflicht zu sonstigen Dienstleistungen für das politische Gemeinwesen. Insofern bedarf es in den Verfassungen keiner expliziten Statuierung von Pflichten des Menschen gegenüber dem Staat. Die Anerkennung der Menschenrechte setzt solche Pflichten notwendig voraus. Allerdings taucht mit der Anerkennung der Menschenrechte die Frage der staatlichen Vermittlung zwischen den Menschenrechten zweier oder mehrerer Bürger auf. Erkennt der Staat etwa die freie Religionsausübung Einzelner an, so kann es sein, dass er damit im Konflikt faktisch auf den Schutz der Religionsausübung anderer verzichtet. Es muss also eine Abwägung zwischen den subjektiven Menschenrechten der einzelnen Bürger bzw. Gemeinschaften wie Kirchen, Unternehmen, Vereinen usw. stattfinden. Und diese Abwägung impliziert natürlich auch wechselseitige Pflichten der Bürger, die Rechtssphäre der anderen nicht zu verletzen. Das religiöse Glockengeläut darf also z.B. nicht gesundheitsschädlich sein. Das Menschenrecht des einen Bürgers auf Religionsausübung findet somit seine Grenze in der Pflicht, bei dieser Religionsausübung die Menschenrechte der anderen Bürger zu beachten. Das Menschenrecht auf Religionsausübung kann folglich keine gravierende Einschrän-

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kung der Religionsfreiheit anderer oder gar Gewalt und Terror gegenüber anderen legitimieren. Insofern implizieren alle Menschenrechte auch Menschenpflichten gegenüber anderen Menschen. Der Staat muss diese Vermittlung zwischen den individuellen Freiheits- bzw. Verpflichtungssphären im Rahmen seiner Verfassungs- und Rechtsordnung, genauer der Abwägung zwischen den einzelnen subjektiven Rechten und Pflichten, vornehmen und sichern. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen und dort Direktor der Abteilung für Rechtsund Sozialphilosophie.

1.2 Elisabeth Gräb-Schmidt

Menschenrechte und Christentum Metaphysische und rechtssystematische Überlegungen zur Frage ihrer Geltung und Universalisierung

1 Einleitung »Freiheiten und Privilegien, Rechte für einzelne Menschen oder Menschengruppen hat es auch in älteren, vorrevolutionären Gesellschaften gegeben. Aber Menschen- und Bürgerrechte als Katalog, System, Bestandteil von Verfassungen sind erst in den modernen Revolutionen erkämpft und durchgesetzt worden.«1 Es war ein langer Weg, bis die Menschenrechte in einer allgemeinen Erklärung und mit dem Anspruch auf weltweite Geltung kodifiziert wurden. Dies ergab sich nicht von selbst, sondern erwuchs aus dem Erleben kapitaler Unrechtserfahrungen im 20. Jahrhundert, vor allem des Terrors des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg, dem nicht nur sechs Millionen Juden, sondern auch zahlreiche politische Gegner zum Opfer gefallen sind. Im Jahr 1948 wurde von den Vereinten Nationen in Paris die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« verabschiedet.2 Der prominente erste Artikel lautet: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«3 Auch wenn die Kirchen sich den Kampf um die Menschenrechte damals zu ihrer eigenen Sache machten,4 ist es nicht zu übersehen, dass sie diesem Rahmen neuzeitlicher Freiheitsgeschichte reserviert bis feindlich 1 Hans Maier, Christentum und Menschenrechte, Historische Umrisse, in: Walter Odersky (Hg.), Die Menschenrechte. Herkunft – Geltung – Gefährdung, Düsseldorf 1994, 49–64, 50. 2 48 der damals 56 UN-Mitgliedsländer stimmten in der Vollversammlung für die Erklärung (vgl. Wolfgang Huber / Heinz-Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart 1978, 16). Diese ist als universal gültige Norm aufzufassen und soll als unveräußerliches Recht gelten, auch wenn dieses völkerrechtlich nicht verbindlich ist. Sechs kommunistische Staaten sowie Saudi-Arabien und Südafrika enthielten sich. 3 Wolfgang Heidelmeyer (Hg.), Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Erklärungen, Verfassungsartikel, Internationale Abkommen, Paderborn (1972) 4 1997. 4 Hier ist die Arbeit des Ökumenischen Rats der Kirchen hervorzuheben (vgl. Huber/Tödt, Menschenrechte, s.o. Anm. 2., 62f.), namentlich Frederik Nolde, Direktor der Kommission der Kirche für interreligiöse Angelegenheiten, und Giuseppe Roncalli, päpstlicher Nuntius in Paris und späterer Papst Johannes XXXIII.

Menschenrechte und Christentum

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gegenüberstanden.5 Dies erstaunt vor allem deshalb, da der inhaltliche Kern der Menschenrechte doch weitgehend selbst im Christentum verankert war und das Freiheits- und Gleichheitspathos der Revolutionen seine Impulse nicht zuletzt aus dem christlichen Erbe empfangen hat. Freiheit – Gleichheit – Solidarität, der auf der Menschenwürde basierende innere Kern der Menschenrechtsthematik, ist im Neuen Testament mit dem Freiheits- und Gleichheitsversprechen in den Evangelien und den paulinischen Briefen, aber auch schon im Alten Testament in der Solidarität mit den Schwachen und Armen bei den Propheten und vor allem dem Menschen als Ebenbild Gottes in der Genesis angelegt.6 Dennoch haben sich Theologie und Kirche erst spät und zögerlich zu den Menschenrechten bekannt.7 Dabei war es nicht nur der säkulare Horizont der Französischen Revolution und ihres Autonomiebestrebens, sondern bereits das bei Augustin formulierte Sündenverständnis des Menschen, das wesentlich zu der Behinderung der Aufnahme des Menschenrechtsdenkens seitens der christlichen Theologie geführt hat. Kern der Kritik war der Verlust der Gottebenbildlichkeit durch die Sünde. In Anschluss an die Lehre von der Erbsünde bei Augustin wird eine negative Sicht des Menschen leitend, die den Anspruch auf Menschenrechte problematisch machte. So galten die Menschenrechte als Überhebung des Geschöpfes über den Schöpfer, als Ausdruck menschlicher Sünde. Das Geschöpf fordert anmaßend Rechte für sich ein, wo ihm doch nur die Pflicht gebührt, die es in moralischer Schuld seinem Schöpfer gegenübertreten lässt. Diese Ansicht wurde durch das Mittelalter hindurch beibehalten. Der Humanismus der Renaissance nahm dann zwar sowohl die biblische Gottebenbildlichkeitsvorstellung als auch die stoisch-humanistische Linie im Zeichen der Freiheit und Würde des Menschen wieder auf. Durch die weitere Entwicklung jedoch, vor allem durch die Menschenrechtserklärung der Französische Revolution, die ausgesprochen kirchenfeindlich aufgetreten war, wurde die abwehrende Haltung wieder verstärkt. Nun befürchtete man erst recht, auf diesem Weg in den Sog sündiger, weltlicher Emanzipationsprozesse hineingezogen zu werden. Alles in allem haben die christlichen Kirchen sich sogar in der politischen Entstehungsgeschichte der Menschenrechte als deren vehemente Gegner präsentiert, und zwar

5 Vgl. hierzu i.F. auch Ulrich H.J. Körtner, Rechtfertigung und Recht, in: Ders., Evangelische Sozialethik, Göttingen 1999, 141–174. 6 Vgl. Eberhard Jüngel, Zur Verankerung der Menschenrechte im christlichen Glauben, in: Günter Nooke / Georg Lohmann / Gerhard Wahlers (Hg.), Gelten Menschenrechte universal? Freiburg 2008, 166–179. 7 Über die historische Entwicklung und den Zusammenhang insgesamt s. Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie, Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive der öffentlichen Theologie, München 2000 (dort auch Lit.).

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in den verschiedenen christlichen Konfessionen gleichermaßen.8 Man sah die Forderung nach Menschenrechten nicht als Resultat der Lehren des Christentums, sondern vielmehr als einen Angriff auf die christlichen Grundlagen im Ganzen.9 Das mit den Menschenrechten in Anspruch genommene Rechtsbestreben des Menschen galt als Ausdruck zügelloser Freiheit und eines unbotmäßigen Individualismus. Aus heutiger Sicht erweist sich diese Einschätzung als fundamentaler Irrweg und Missverständnis dessen, worum es im Christentum und seiner Anthropologie geht. Übersehen wurde letztlich die christologische Dimension des Glaubens. Sie verweist uns in Christus auf den Mitmenschen, aber auch auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die ihm schöpfungstheologisch zugesprochene Würde, deren Kern in der Freiheit und Gleichheit der Menschen zum Ausdruck kommt. Gleich wie Gott sich in Jesus Christus den Menschen zugewandt hat, so ist das Menschsein eines jeden in seiner Würde anzuerkennen, auch und gerade im Rahmen der Sündenverfallenheit des Menschen. Auch wenn christliche Theologie und Kirche erst spät zu den Befürwortern der Menschenrechte wurden, kann daher doch dieses ihr systematisches Erbe hervorgehoben werden, das Beachtung und Einhaltung von Menschenrechten fordert und das darüber hinaus für heutige Geltungsfragen relevant werden kann. Sich über die eigene Verblendung Rechenschaft zu geben, kann daher als eine Revisionsaufgabe christlicher Theologien und Kirchen aufgenommen werden. Dies gilt auch für die rechtssystematische Dynamik der Menschenrechte. Denn die Aufgabe der Fortentwicklung der Menschenrechte entsteht nicht nur aufgrund der veränderten historischen, sozialen und politischen Bedingungen, sondern vor allem auch aufgrund der Geschichtlichkeit des Menschen, seiner Natur und Vernunft. Diese selbst fordert ein dynamisiertes Verständnis der Gestalt des Rechts. Die Geschichte der Entwicklung der Menschenrechte zeigt bereits diese rechtssystematische Dynamik an, indem diese aus sich selbst heraus zu verschiedenen Generationen der politisch-freiheitlichen, der sozialen und der entwicklungspolitischen Menschenrechte geführt hat.10 8 Vgl. zum orthodoxen Verständnis auch Klaus Buchenau, Orthodoxes Christentum und Menschenrechte, in: Nicole Janz / Thomas Risse (Hg.), Menschrechte – Globale Dimensionen eines universellen Anspruchs, Baden Baden 2007, 161–176; Rudolf Uertz u.a. (Hg.) Die Grundlagen der Russisch-Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte, Moskau 2008. 9 Vgl. Fabian Wittrek, Christentum und Menschenrechte. Schöpfungs- oder Lernprozess?, Tübingen 2013, 10f. 10 Neben einer ersten, die die klassischen Bürger- und Freiheitsrechte meint, die neben den Freiheitsrechten auch politische Partizipationsrechte umfassen, die seit den Bills of Rights des 18. Jahrhunderts geltende Norm sind, bezieht sich die zweite Generation auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, die den Sozialstaat kennzeichnen. Sie umfassen »Rechte auf Fürsorge, Arbeit, Wohnung, Bildung, also Leistungsrechte im engeren Sinn. Dies sind Rechte des Einzelnen gegen-

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Im Horizont von Globalisierung und Pluralisierung stellt sich darüber hinaus verschärft die Frage nach der Universalisierung der Menschenrechte sowie die Frage nach der Möglichkeit ihrer rechtlichen Kodifizierung in verschiedenen Kontexten. Das ist umso dringlicher, da seit der Erklärung der Menschenrechte fast 70 Jahre vergangen, sie aber nach wie vor in weiten Teilen der Erde nicht oder nur sehr eingeschränkt anerkannt, geschweige denn eingehalten sind.11 Denn auch wenn der Begriff der Menschenrechte in der Gegenwart in den Medien und öffentlichen Organen allgegenwärtig zu sein scheint, heißt dies nicht, dass sie verwirklicht sind. Erwähnung finden sie dort gerade, weil sie weltweit immer noch verletzt werden, sei es in Bürgerkriegen, politischen Verfolgungen oder häuslicher und zwischenmenschlicher Gewalt. Es geht im Folgenden um die Frage des Beitrags christlicher Theologie zu den (grund-)rechtssystematischen Fragen universaler Geltung der Menschenrechte im Lichte christlicher Theologie. Dabei ist die Problematik der Transformationsmöglichkeit der Menschenrechte, die ihrer Dynamisierungsforderung entspricht, ebenso wie die Universalisierungsproblematik im postmodernen multikulturellen Kontext ernst zu nehmen, und den damit verbundenen Fragen ist theologisch zu begegnen. 2 Begriffliche Klärung und Systematischer Gehalt der Menschenrechte Die Menschenrechte sind von der Menschenwürde abgleitet. Das Menschenrecht ist allumfassend, es betrifft jeden Einzelnen unabhängig von Nation, Rasse, Geschlecht oder Stand. Das moderne Thema der Menschenrechte kreist um den Rechtscharakter der Menschenrechte als den Rechten, die dem einzelnen Menschen allein kraft seines Menschseins zukommen. Es zählt allein das »menschliche Antlitz«, um Träger von Menschenrechten zu sein. Der einzelne Mensch ist Träger der Rechte, nicht Gruppen, Nationen oder Stände. So geht es bei ihnen auch »um den Schutz und die Befriedigung von fundamentalen Interessen und Bedürf-

über einer Gemeinschaft […] auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leistungen oder Güter« (Stefan Gosepath, Zur Begründung sozialer Menschenrechte, in: Ders. [Hg.], Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 1998, 146–187, 146). Darüber hinaus spricht man noch von einer dritten Generation von Menschenrechten. Sie bezeichnen derzeit noch kaum in Vertragswerke konkretisierte Rechte, wie das Recht auf Entwicklung, Frieden und saubere Umwelt. 11 Das gilt auch dann, wenn etwa für die Menschenrechte im Islam Geltung beansprucht wird, vorbehaltlich der Regelungen der Scharia (vgl. Sayyid A. Mawdudi, Human Rights in Islam, Leicester 1976). Unter solchen Voraussetzungen werden ggf. wesentliche Ansprüche der Menschenrechte, wie etwa die Gleichberechtigung der Frau, nicht anerkannt.

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nissen«12 des Einzelnen. Die Rechtsposition wird jetzt dem Einzelnen zugeordnet, und sie kann von ihm auch erzwungen werden, ist also einklagbar.13 Menschenrechte gelten universal. In ihnen trägt man der Einsicht Rechnung, dass Menschenrechtsfragen zu untersuchen sind unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs von verschiedenen Gesellschaften und der Forderung von deren Wohl unter Einschluss »der Förderung der vollen Würde der menschlichen Persönlichkeit«.14 Ausdruck der Menschenrechte ist der Anspruch auf Gleichheit und Freiheit aller Menschen sowie auf Solidarität. Hier gewinnen auch die religiösen und kulturellen Unterschiede an Gewicht und vor allem die Herkunftsfrage der Menschenrechte.15 Ob und in welchen Grenzen Überzeugungen, die einer religiösen oder moralischen Sphäre angehören, derjenigen des Christentums und der westlichen Kultur, in positives Recht transportiert werden können, fordert die rechtsphilosophischen Implikationen der Lehre von den Menschenrechten heraus. 3 Grundrechtssystematik der Menschenrechte und die Problematisierung des Status des Universalen Die Menschenrechte sind der Versuch, Überzeugungen von der Würde des Menschen, die einer vor- und außerrechtlichen Sphäre angehören, in die Sphäre des Rechts zu transportieren. Als Grundrechte beanspruchen Menschenrechte eine Stellung, die vor allen übrigen Rechtssätzen einen Vorrang hat. Es geht mithin um die rechtliche Kodifizierung eines vorrechtlichen – sozusagen moralischen – Sachverhalts, der auch unabhängig von seiner rechtlichen Kodifizierung grundsätzlich Geltung beanspruchen können soll. Der Zweistufigkeit, die damit ins Recht einzieht, 12 »Ein Interesse ist fundamental, wenn seine Verletzung oder Nichtbefriedigung entweder den Tod oder schwere Leiden bedeutet oder den Kernbereich der Autonomie trifft«, Robert Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Stefan Gosepath / Georg Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 1998, 244–264, 251. 13 Damit sind die Menschenrechte als Abwehrrechte formuliert, d.h. als Rechte gegenüber Eingriffen des Staates, die die Einzelnen gegenüber dem Staat geltend machen können, also an diesen gerichtete Verbote, die den Einzelnen in seinem Leib und Leben schädigen, aber etwa auch davor, Eigentum zu konfiszieren oder ihn aus politischen Gründen – entgegen der Meinungsfreiheit – einzusperren, vgl. Wittrek, Christentum und Menschenrechte (s.o. Anm. 9), 8. 14 Resolution 32/130 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 16.12.1977, vgl. Hans-Jörg Sandkühler, Art. Menschenrechte, in: Ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010, 1530–1553, 1544. Sie wurde mit der Resolution 41/128 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 4.12.1986 mit dem gemeinschaftlich anerkannten Recht auf Entwicklung der Völker, auf Frieden und Bewahrung der Umwelt benannt (vgl. ebd.). 15 Vgl. Thomas Göller (Hg.), Philosophie der Menschenrechte. Methodologie, Geschichte, kultureller Kontext, Göttingen 1999.

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kommt hinsichtlich der Implementierung der Menschenrechte im Recht eine Schlüsselfunktion zu.16 Durch die Erklärung der Menschenrechte werden vorrechtliche Prinzipien dem Bereich des geltenden Rechts zugeordnet.17 Der Staat kann sie anerkennen, aber nicht verleihen oder schaffen. Dabei kommt es in der internationalen Staatengemeinschaft zu umfassenden Kodifizierungen in verschiedenen Pakten.18 Durch die Positivierungen der Menschenrechte, die an das Recht der Staaten gebunden sind, stellt sich jedoch die Frage, mit welchem Legitimationsgrund behauptet werden kann, dass bestimmte positive Normen für die gesamte Menschheit unbedingte Gültigkeit besitzen. Der Grund ihrer vorpositiven Geltung ist die basale Norm der Menschenwürde, die »allein in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung, im egalitären Umgang von Personen miteinander«19 beruht. Noch für Kant war die Universalisierbarkeit von Menschenwürde und den daraus ableitbaren Menschenrechten unaufgebbar und begründet in einem universalen Vernunftverständnis. Die Zweckformel des kategorischen Imperativs hielt diesen Gedanken für die Bestimmung des Menschen unverbrüchlich fest: Der Mensch hat nicht nur einen Wert, er hat Würde, für die es kein Äquivalent gibt.20 Kant bindet also die Autonomie ein in die Vernunftanlage des Menschen durch Begründung und Rückführung der Freiheit der Person auf die praktische Vernunft. Mit ihr wird der Boden der Universalität gewahrt. Dieser Boden bekommt allerdings einen Riss, sobald die praktische Vernunft nicht mehr im Horizont einer allgemeinen Vernunft interpretiert wird. Ohne metaphysische oder transzendentale Rückbindung kann nicht mehr von einer Freiheit des Vernunftsubjekts ausgegangen werden. Zugespitzt wird die moderne Legitimierungsproblematik im Zuge der Positivierung der Menschenrechte durch ihre weitere Bestimmung als Anspruchsrechte. Die Freiheit des Subjekts droht sich so in die Freiheit subjektiver Interessen zu verkürzen. Aus dem Allgemeinen der Menschheitsvernunft ist das individuelle Interesse einzelner Bürger geworden. Indem Freiheit zum Interesse degradiert wird, haben die bürgerlichen Grundrechte nun eine reale Funktion, von der in der Grundrechtslehre nicht die Rede ist, nämlich individuelle Freiheit im Dienste der Interes16 Vgl. hierzu Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 32006, 269–293. 17 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1986, 71ff. 18 Nach 1948 sind die Menschenrechte immer detaillierter positiviert worden. 1966 wurde der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IpbpR) verabschiedet, vgl. Sandkühler, Art. Menschenrechte (s.o. Anm. 14), 1543. 19 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M. 2001, 67. 20 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), in: Ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1983, 11– 102, 68.

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sen zu sichern. Problematisch aber ist die Subsumtion dieser Freiheitsrechte unter den Oberbegriff der Menschenrechte. Denn diese lassen sich durch die Hinwendung zu allein empirisch-funktionalen Bestimmungen von Rationalität und Freiheit im Sinne der Interessen als solche nicht mehr begründen. Mit dem Verlust der Universalität der Vernunft ist der Boden für einen einklagbaren Ort von Menschenrechten entzogen und die Universalität des Menschenrechtsgedankens aufgehoben. Er wird partikular. Mit dem Verlust von Universalansprüchen fällt aber der Begriff der Menschenrechte selbst diesem Verlust zum Opfer. Ob Universalität und Geltung wiedergewonnen werden können, wird nachneuzeitlich nicht durch Postulate oder Ideologien entschieden werden können, aber eben auch nicht durch die Durchsetzung von Interessen. Hier möchte ich nun ein bestimmtes Menschenrecht ins Spiel bringen, das Recht auf Religionsfreiheit. Mit ihr könnte ein Begriff der Geltung im Recht Einzug halten, der weder naturrechtlich legitimiert ist wie in der Antike noch jenseits allen Scheiterns von Letztbegründungsversuchen anzusiedeln ist. Vielmehr möchte er über die Erinnerung an den Gedanken der Unantastbarkeit der Menschenwürde, der sich in der Gewissensfreiheit Ausdruck verschafft und die religiöse Dimension des Menschen umfasst, die Universalität und Geltung auch der Menschenrechte zu sichern versuchen. 4 Religionsfreiheit als kritisch-metaphysischer Anhalt eines Geltungsgrundes von Menschenrechten Die Erklärung der Menschenrechte wurzelt nicht nur in der französischen Revolution, sondern auch in der amerikanischen Freiheitsbewegung. In der Unterscheidung der beiden Traditionslinien wird die Eigenart der Menschenrechte in ihrer kulturspezifischen Ausprägung ebenso wie in ihrer religionsaffirmativen oder -feindlichen Begründung sichtbar. Während die französische Erklärung allein vernunftrechtlich ausgerichtet war, kann die amerikanische auch als religionsrechtliche und religionsaffirmativ gesehen werden. Über die Akzentuierung der Religionsfreiheit ist diese universalisierungsoffen angelegt und zudem pluralismusfähig. Diese Linie ist daher auch von Gewicht, um den Vorwürfen vor allem von afrikanischen und asiatischen Kulturkreisen zu begegnen, die Menschenrechte seien kulturspezifisch westlich rational orientiert.21 In der Argumentation gilt es hier, Genesis und Geltung der Menschenrechte zu unterscheiden. Menschenrechte haben sich zwar im Westen entwickelt, sie sind aber gleichwohl zur Implementierung in anderen

21 Vgl. Johannes Hoffman (Hg.), Universale Menschenrechte im Widerspruch der Kulturen, Frankfurt a.M., 1994. Nooke u.a., Gelten Menschenrechte universal? (s.o. Anm. 5).

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Kulturen geeignet.22 Es muss mithin um jene eingangs genannte Dynamisierung der Menschenrechte gehen, hin zu einer interkulturellen Formation der Ausgestaltung rechtlicher Bestimmungen, die dem universalen Anspruch der Menschenrechte ihre rechtliche Anerkennungsbasis auch in anderen Kulturkreisen sichern können. Denn: »Die Gewährleistung der Menschenrechte ist, wie das Prinzip der Demokratie, eine unerlässliche Bedingung jedes gerechten Staatswesens […]. Mögliche Differenzen der institutionellen Implementation der Menschenrechte oder deren Hintergrundüberzeugungen können nicht als Gründe für die kulturrelativistische Interpretation der Menschenrechte geltend gemacht werden.«23 Gegen einen Kulturrelativismus lässt sich nun vor allem auch religionsbezogen argumentieren. Bereits Georg Jellinek24 hat gegen Max Webers These der Rationalisierung der neuzeitlichen Errungenschaft der Menschenrechte darauf insistiert, dass es nicht die Ideengeschichte der Französischen Revolution und ihrer Errungenschaften für Freiheit, Gleichheit und Solidarität bzw. Partizipation waren, die für den modernen Gedanken der Menschenrechte verantwortlich zeichnen, sondern eben jene Freiheitsbewegungen im amerikanischen Bürgerkrieg, in denen es auch um das Erkämpfen des Rechts auf Religionsfreiheit ging.25 Über die dort geforderte Religionsfreiheit kann auch das Potential für eine Kultur- und Mentalitätsoffenheit der Menschenrechte plausibilisiert werden.26 Diese Bezogenheit auf Religion scheint zunächst einer Pluralismusoffenheit zu widersprechen. Aber mit der Einsicht in die Bedeutung der Religionsfreiheit ist mit dem Bezug zu einer bestimmten Religion gerade keine sich abschließende Haltung verbunden. Das Individuum tritt in 22 Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998, 203. 23 Hong-Bin Lim, Menschenrechte im Zeitalter der Globalisierung im Kontext der koreanischen Kultur, in: Raúl Fornet-Betancourt / Hans-Jörg Sandkühler (Hg.), Begründungen und Wirkungen von Menschenrechten im Kontext der Globalisierung, Frankfurt/London 2001, 142f. 24 Vgl. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, München/Leipzig (1895) 31919. 25 In der Linie, die sich auf die Französische Revolution beruft, ist aber immer wieder die Auffassung der religionsfeindlichen Linie des Ursprungs der Menschenrechte hervorgehoben worden. Das wird heute differenzierter gesehen (vgl. hierzu Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt 2011, 40f.). Nach Hans Joas verdankt sie sich durchaus religions- und christentumsnahen Impulsen. Die dortigen Freiheitsbewegungen bilden genau durch die Meinungs- und Religionsfreiheit eine wichtige Gegenüberstellung zu den abstrakten Freiheits- und Gleichheitsidealen der Französischen Revolution, die ohne religiösen Ankerpunkt dem totalitären Gedankengut – wie es dann in Robespierre seinen Höhepunkt fand – nichts entgegensetzen konnte (vgl. ebd. 27). 26 Vgl. zur Bedeutung der Gewissensfreiheit für die Menschenrechte Martin Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie, Heidelberg 1987.

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dieser Linie nicht hervor als die freie und unabhängige Reflexionssubjektivität, als letzte Instanz der Geltung und Normativität wie in der Tradition der Aufklärung und Säkularisierung, sondern das Individuum ist als Individuelles hier Platzhalter für eine Offenheit des Allgemeinen, ohne die Normativität der eigenen Überzeugungen zu verlieren. Eine solche Entwicklungslinie liegt in der protestantischen Freiheit des Gewissens, die allen Individuen Raum lässt für je eigene Überzeugungen. Eine solche kann mit der Kulturoffenheit und Pluralismusfähigkeit die Geltungsbestimmtheit der Menschenrechte festhalten. Die grundlegende Bedeutung der Religionsfreiheit für die Menschenrechte erweist sich darin, dass eine solche Freiheit nicht nur für den christlichen Kulturkreis gilt, sondern auch für alle andern Kulturen und Religionen, die sich selbst im Rahmen solcher Freiheit verstehen. Im Recht der Religionsfreiheit ist daher der moderne Weg einer globalen Bedeutung der Menschrechte über eine pluralismusfähige Kulturoffenheit gebahnt. Dass in verschiedenen Religionen solches Humanes immer schon als Universales durchscheint und diesem Geltung verleiht, zeigt der Respekt vor dem Anderen, etwa in der Geltung der Goldenen Regel oder den Zehn Geboten als dem »Ewig kurz gefassten« (Thomas Mann), in nahezu allen Kulturen.27 Angesichts solcher kategorialen Bestimmung von Religion und Transzendenz des Menschen als anthropologischem Grunddatum verweist die religiöse Dimension der Menschenrechte im Einklagen von Religionsfreiheit als Menschenrecht auf die universelle Bedeutung der Menschenrechte, an der alle Menschen verschiedener Kulturen und Religionen Anteil haben können.28

27 Zu fragen ist hier allerdings, ob dieses Gemeinsame als Gemeinsames tatsächlich trägt, wie es das »Projekt Weltethos« von Hans Küng vorsieht (1980), oder ob hier der Rekurs auf das Humanum oder die Evidenz des Ethischen nicht auch mit guten Gründen infrage gestellt werden kann (vgl. dazu die Kontroverse zwischen Ebeling und Pannenberg über diesen Begriff: Gerhard Ebeling, Die Evidenz des Ethischen und die Theologie, in: Ders., Wort und Glaube II, Tübingen 1969, 318– 356; Wolfhart Pannenberg, Die Krise des Ethischen und die Theologie, in: Ders., Ekklesiologie und Ethik, Ges. Ausätze, Göttingen 1977, 41–54). Hier ist jedenfalls zu unterscheiden zwischen einem allgemeinen Ethos der Weltreligionen und einem Allgemeinem, das sich in je individuelle Aneignung in den verschiedenen Religionen partikularisiert, ohne den Anspruch des Universalen zu verlieren. 28 Dies erfolgt in der Konzentration auf den Menschenwürdegedanken, wie er im Grundgesetz aufgenommen und wie er als interpretationsoffene Klausel nicht Beliebigkeit signalisiert, sondern die unverfügbar entzogene, geltungsbewehrte Position individueller Freiheit (vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 49, 2004, Nr. 10, 1216–1227).

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5 Die religiöse Dimension der Menschenrechte vor dem Hintergrund ihres Universalitätsanspruchs im Zeichen des pluralen und interreligiösen Diskurses Menschenwürde wird daher heute philosophisch nicht metaphysisch oder naturrechtlich, sondern via negationis, in einer Entzogenheitsstruktur über religiös-weltanschauliche Kommunikationen legitimiert werden müssen. Menschenrechte sind daher unabdingbar und bleibend an die kategorial unverfügbare Menschenwürde gekoppelt. Genau so symbolisiert die Menschenwürde die Dimension des Vorrechtlichen im Recht. Diese Unterscheidung muss in der Kodifizierung der Menschenrechte durchscheinen. Sie darf nicht nivelliert werden und aus dem Blick geraten. In den heutigen Diskussionen um die Stellung von Art. 1 GG wäre in dieser Linie darauf zu insistieren, dass Menschenwürde nicht als eine Norm unter anderen, sondern als Grundnorm angesehen wird. Die Menschenwürde gälte so als Prinzip, das aufgrund seines apodiktischen Status allen normativen Regelungen des Grundgesetzes vorausgeht und auf diese ausstrahlt. Eine solche Stellung von Art.1,1 GG ist nun aber bereits unter Juristen strittig.29 Diese Strittigkeit macht jedoch vor allem auf eines aufmerksam, worauf bereits Max Weber hingewiesen hat: dass nicht die Positivität des Rechts allein und das Verfolgen der Funktionalisierung von Interessen für den Staat und die Gesellschaft von Bedeutung sind, sondern auch Legitimität und Legalitätsglauben.30 Dieser Glaube kann aber nicht allein durch das Recht bewahrt oder gar gewonnen werden, nicht durch äußere Sanktion bewehrt, sondern hier bedarf es einer moralischen Gesinnung für das Recht. Hier gewinnt die Ebene von Überzeugungen der Bürger Gewicht, in denen es um die Grundlage der Anerkennung auch solcher Sachverhalte wie der Menschrechte geht. Und insofern gilt es, das besondere Recht der Religionsfreiheit hervorzuheben, auch und gerade als positives Recht. Mit dieser kann in der Öffentlichkeit auch die Frage der Bestimmung des Menschen im gesellschaftlichen Diskurs wachgehalten werden. Aufgabe der christlichen Theologie und Kirche in ihrem gesellschaftsgestaltenden Anspruch ist damit, das Universalismus- und Geltungsproblem der Menschenrechte als vordringliches Thema der theologischen Anthropologie deutlich zu machen und dieses zu kommunizieren. Genau solche Debatten müssen in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist und in ihren pluralen Vorstellungen diskutiert werden.

29 Vgl. Heike Baranzke, Menschenwürde zwischen Pflicht und Recht. Zum ethischen Gehalt eines umstrittenen Begriffs, in: Zeitschrift für Menschrechte 1 (2010), 10–24. 30 Vgl. Ulrich Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 345–371, 363.

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Das Recht auf Religionsfreiheit erweist sich für die Legitimation des Verständnisses von Menschenrechten als zentral. Im Blick auf die Dynamik der Entwicklung der Menschenrechte seit Neuzeit und Moderne gilt es daher, das Menschenwürdekonzept auf der Linie Kants über die Bestimmung des Menschen offen für das Religiöse in den verschiedenen Kulturen zu halten. Ein solch pluralismusfähiges Verständnis von Religion hat den Vorzug, Universalität gerade nicht verabschieden zu müssen, sondern als kontextsensible Grundlage eines Pluralismus zu begreifen, die Religion selbst zum Wettstreit – zum Agon – in der Darlegung ihrer Perspektiven aufruft. Das Recht tut gut daran, seine positive Gestalt nicht zu lösen von einem vorrechtlichen Bereich, in dem sich Begründungen von Humanität in ihrer Universalität auf dem Boden verschiedener Kulturen und Religionen verdichten. Dann kann deutlich gemacht werden: Nicht die westliche Vernunft, wohl aber die religiöse Bestimmung des Menschen erlaubt es, jenen Universalitätsanspruch der Menschenrechte festzuhalten, der ihnen Geltung zusichern kann. Mit der Sakralität der Person nimmt gegenwärtig etwa Hans Joas dieses Anliegen auf 31, ebenso wie Ronald Dworkin mit der Heiligkeit des Lebens.32 Aber auch bereits Hans Jonas spricht im Zusammenhang von Universalisierungsfragen vom Heiligen.33 Christlich verstanden liegt dieser »sakrale« Moment der Menschenwürde als Grund der Menschenrechte jedoch nicht in einer Dignitas, die in einem besonderen Rechtsanspruch der Herrschaft zu verorten ist. Die Würde des Menschen taucht vielmehr auf aus ihrem Verletztwerden. In ihrer Verletzlichkeit zeigt sie ihr Antlitz und erhebt ihren Anspruch auf Geltung. Mit dem Begriff der Menschenwürde als Gottebenbildlichkeit blendet das Christentum diese Einsicht in die Verletzlichkeit der Würde nicht aus, sondern sie hält sie fest. Sie ist dem Anderen als Anderem menschenfreundlich zugewandt. Diese Linie, die die Gefährdungen der Freiheit und die Missachtung der Würde betont, kann betonen, dass die Idee der Menschenrechte gerade nicht als kulturimperialistisch vereinnahmend verstanden wird. In ihrer Verletzlichkeit sind Menschenrechte nicht beschränkt auf einen Kulturkreis, etwa des christlichen oder westlichen Abendlandes, sondern ihnen wohnt die dem Menschsein des Menschen in der Würde – gerade in ihrer Verletzlichkeit – inhärente Universalität inne. Menschenrechte und Universalität entsprechen sich dann gegenseitig, sie sind nicht ohne einander denk- und vertretbar. Mit diesem Verständnis der Würde als mit der Endlichkeit und Fehlbarkeit menschlicher Freiheit und Perspektivität der Vernunft zusammengeschlossen, können Menschenrechte Universalität

31 Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person (s.o. Anm. 25). 32 Vgl. Ronald Dworkin, Die Grenzen des Lebens (engl. = Life’s Dominium, 1993), Reinbek 1994, 38. 33 Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1984, 57f.

Menschenrechte und Christentum

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und Geltung auch und gerade unter den pluralen Bedingungen des globalen Zeitalters beanspruchen. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt ist Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Instituts für Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.

1.3 Zekirija Sejdini

Menschenrechte und der Islam Eine andere Perspektive

1 Einführung Die Themen »Menschenrechte und Religionen« im Allgemeinen und »Menschenrechte und Islam« im Besonderen gehören zweifellos zu den komplexesten und problematischsten Themen unserer Gegenwart. Allgemein betrachtet hängt die Schwierigkeit dieser Thematik schon mit der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte zusammen, die in Europa durch den langwierigen Widerstand christlicher Kirchen gekennzeichnet ist.1 Diese geschichtliche Entwicklung der Menschenrechte hat im europäischen Kontext dazu geführt, dass die Etablierung der Menschenrechte von einem erheblichen Teil der Gesellschaft als Zeichen des Triumphs der Aufklärung gegenüber dem institutionalisierten Glauben verstanden worden ist und teilweise immer noch verstanden wird. Auch wenn das nachträgliche Bekenntnis der großen christlichen Kirchen zu den Menschenrechten die Kritik einigermaßen besänftigt zu haben scheint, ist der latente Verdacht einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit der Religion mit den Menschenrechten im kollektiven Gedächtnis vieler Europäer erhalten geblieben, was sich auch in den Diskussionen rund um das Thema Menschenrechte und Islam bemerkbar macht. Im Unterschied zur allgemeinen Problematik besteht die Schwierigkeit im spezifisch islamischen Kontext nicht so sehr in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Ereignisse wie die weltweiten Terroranschläge muslimischer Terroristen, die Gründung des sogenannten »Islamischen Staates« im Irak und in Syrien und die menschenverachtenden Praktiken einiger muslimischer Länder haben maßgeblich zur Verhärtung der bestehenden Vorurteile und zur Entstehung eines äußerst negativen Islambildes beigetragen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Gedanke, der Islam lasse sich mit den Menschenrechten nicht vereinbaren, immer mehr an gesellschaftlicher Akzeptanz gewinnt. Auch wenn diese essentialistische Sichtweise, die medial verbreitet und von bestimmten WissenschaftlerInnen forciert wird, weder geschichtlich noch wissenschaftlich haltbar ist, so zeigt sie dennoch, wie komplex und 1 Vgl. Heiner Bielefeldt, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen, in: http://www.humanrights.ch/upload/pdf/070108_bielefeldt_universali taet.pdf [abgerufen am 06.11.2016], 14.

Menschenrechte und der Islam

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schwierig, aber ebenso notwendig ein sachlicher Zugang zu diesem mittlerweile emotional beladenen Thema ist. Um dem Anspruch eines sachlichen Zuganges einigermaßen gerecht zu werden, bedarf es zunächst einer kurzen Erläuterung der diesem Beitrag zugrundeliegenden Perspektive, die auch die Grundlage der methodischen Vorgehensweise dieses Beitrags bildet. In Anbetracht der Vielfalt von möglichen Zugängen kann unser Zugang als ein eher theologischreligionspädagogisch ausgerichteter verstanden werden, in dem es nicht um die Frage nach der Vereinbarkeit des Islams mit den Menschenrechten geht, sondern darum, welcher Zugang zur islamischen Theologie und Religionspädagogik erforderlich ist, um ein Islamverständnis zu entwickeln, das den Ansprüchen der allgemeinen Menschenrechtserklärung nicht nur nicht widerspricht, sondern welches die Menschenrechte als vom Islam her begründbare allgemeingültige Werte ansieht, ohne dabei einen Vereinnahmungsanspruch zu erheben. Um aufzeigen zu können, welche theologisch-religionspädagogischen Ansätze für einen menschenrechtskompatiblen Zugang aus islamischer Perspektive vonnöten sind, werden wir uns im ersten Abschnitt dieses Beitrages der innerislamischen Vielfalt widmen. Ziel ist es, auf die Gefahren einer essentialistischen Darstellung des Islams aufmerksam zu machen. Im darauffolgenden Abschnitt soll die historische Begegnung der MuslimInnen mit den Menschenrechten erläutert werden, um Einblicke in die Umstände zu geben, die zur Entstehung einer eher ablehnenden Haltung gegenüber den Menschenrechten unter einigen MuslimInnen geführt haben. Im dritten Abschnitt soll dann ein theologisch-religionspädagogisches Konzept vorgestellt werden, das als Grundlage für einen menschenrechtskonformen Zugang aus islamischer Perspektive dienen kann. 2 »Den Islam« gibt es nicht Angesichts der aktuellen Diskussionen über den Islam wäre es nicht übertrieben zu behaupten, dass die wichtigste Voraussetzung einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Islam zweifelsohne in der Verabschiedung vom konvergenten Islambild liegt, mit dem gegenwärtig stark operiert wird. Dieses allgegenwärtige essentialistische Verständnis widerspricht nicht nur der islamischen Geschichte mit ihren vielen Rechtsund Denkschulen und unterschiedlichen mystischen, rationalistischen u.a. Strömungen, sondern verkennt auch die generierende Rolle des Subjektes im Entstehungsprozess religiöser Traditionen und Lehren.2 Eine nicht zu unterschätzende Folge dieser Herangehensweise ist die

2 Vgl. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011.

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Zekirija Sejdini

»Verdinglichung«3 des Islams und damit verbunden auch die Annahme einer für alle MuslimInnen verbindlichen Interpretation des Islams, die keine Abweichung toleriert.4 Bedenklich ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass sowohl konservative MuslimInnen wie auch Islamgegner, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, den Gedanken eines ihren eigenen Vorstellungen entsprechenden »Urislams« unterstützen. Damit schaffen sie sich ein Werkzeug, mit dem sie jegliche Abweichungen vom eigenen Islambild – pro oder contra – als unislamisch abstempeln.5 Diese gemeinsame Geisteshaltung scheinbar unversöhnlicher Positionen von muslimischen Fundamentalisten und Islamgegnern erörtert Bassiouni auch in der Diskussion rund um das Thema Islam und Menschenrechte, indem er sagt: »So paradox es auch klingen mag: die schärfsten Kritiker des Islams und seine eifrigsten Verteidiger sind sich in den meisten Punkten einig, […] Beide gehen vom gleichen Islambild aus, beiden unterliegt die gleiche Konzeption des islamischen Rechts, beide verneinen eine Synthese von Islam und Menschenrechten, und beide sehen den Islam als Antithese zum Westen.«6

Diese essentialistische Haltung, die die gegenwärtige Diskussion auch im Bereich Menschenrechte und Islam dominiert, erschwert den Zugang zur eigentlichen Problematik und verhindert dadurch mögliche Lösungen, die dringend notwendig wären. Die Sensibilisierung für die innerislamische Vielfalt und gegen eine essentialistische Sichtweise soll nicht ausblenden, dass es Gemeinsamkeiten gibt, welche die MuslimInnen zu einer Gemeinschaft werden lassen, und dass sich darunter auch solche befinden, die als problematisch eingestuft werden können. Sie soll lediglich bewusstmachen, dass trotz gemeinsamer Referenzen diese unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich wahrgenommen und interpretiert werden. So zum Beispiel gehen alle MuslimInnen davon aus, dass der Koran Gottes Wort ist, was aber nicht bedeutet, dass unter MuslimInnen ein Konsens darüber herrscht, was unter Gottes Wort verstanden werden soll, wie dieses zu interpretieren ist 3 Heiner Bielefeldt, Menschenrechte Islam, in: http://www.kompetenz-interkul turell.de/userfiles/Grundsatzartikel/Menschenrechte%20Islam.pdf [abgerufen am 14.10.2016], 3. 4 In diesem Zusammenhang spricht Abu Zaid von der Notwendigkeit einer »Entmystifizierung«, von der »[…] Idee des vermeintlich überall gleichen Islam[s], des immer gleichen Muslim-Seins […]«. Vgl. Nasr Hamid Abū-Zaid / Hilal Sezgin, Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam, Freiburg i.Br. 22008, 215. 5 Zekirija Sejdini, Zwischen Gewissheit und Kontingenz. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von islamischer Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext, in: Ders. (Hg.), Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung. Neue Ansätze in Europa, Bielefeld 2016, 15–31, 17. 6 M. Cherif Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität, Berlin 2014, 81.

Menschenrechte und der Islam

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und welche seiner Aussagen einen normativen Charakter besitzen und welche nicht.7 Die Liste der Kontroversen über einen adäquaten Zugang zum koranischen Text kann beliebig weitergeführt werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die divergierenden Meinungen bezüglich des Koran als primäre Quelle des Islams keine moderne Erscheinung sind, sondern bereits kurz nach dem Ableben des Propheten entstanden und weitergeführt worden sind.8 Dies bedeutet: Auch wenn MuslimInnen auf dieselben Quellen zurückgreifen, verstehen sie diese unterschiedlich, weil einerseits die einzelnen Subjekte, die diese Texte »zur Sprache bringen«9, sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden, andererseits, weil die Texte mitunter selbst ambivalent formuliert sind und somit mehrere Deutungsmöglichkeiten zulassen.10 So gesehen ist das Wort »Islam« ein Überbegriff für eine enorme Anzahl divergierender Meinungen und Strömungen, die sich aufgrund gravierender Unterschiede in der Lehre in einigen Fällen sogar gegenseitig die Zugehörigkeit zum Islam aberkennen.11 Wenn zusätzlich bedacht wird, dass der Islam keine kirchenähnlichen Strukturen besitzt und damit auch kein Lehramt kennt12 und ihm geschichtlich gesehen eine vergleichsweise hohe »Ambiguitätstoleranz«13 nachgewiesen wird, fällt es schwer, die Reduktion des Islams auf einen monolithischen Block nachzuvollziehen. Um dieser Wahrnehmung entgegenwirken zu können, ist, wie bei jeder Auseinandersetzung um das Thema Islam, auch im Bereich der Menschenrechte eine Sensibilisierung unerlässlich. Zum einen verhilft diese Bewusstwerdung der muslimischen Vielfalt dazu, die Probleme der MuslimInnen nicht automatisch zu »islamisieren«, sondern diese in einem viel breiteren Kontext zu verstehen. Zum anderen werden dadurch die Vielfalt innerhalb des Islams und die Schwierigkeit, um nicht zu sagen die Unmöglichkeit der Rede von »dem Islam« sichtbar. In seiner 7 Vgl. Ömer Özsoy, Dekontextualisierung des Korans: moderne Koraninterpretation oder Konstruktion moderner Korane, in: Zekirija Sejdini (Hg.), Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung. Neue Ansätze in Europa, Bielefeld 2016, 73–90. 8 Vgl. Dorothea Krawulsky, Eine Einführung in die Koranwissenschaften ’Ulūm al-Qur’ān (Welten des Islams Bd. 1), Bern 2006. 9 Vgl. Frank-Olaf Radtke, Kulturen sprechen nicht. Die Politik grenzüberschreitender Dialoge, Hamburg 2011. 10 Vgl. Zekirija Sejdini, Inmitten von Ambivalenzen im Islam, in: Maria Juen / Gunter Prüller-Jagenteufel / Johanna Rahner / Zekirija Sejdini (Hg.), Anders gemeinsam – gemeinsam anders?, in: Ambivalenzen lebendig kommunizieren, Ostfildern 2015, 57–69. 11 Vgl. Naṣr Ḥāmid Abū-Zaid, Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt a.M. 1996. 12 Vgl. Hansjörg Schmid, Islam im europäischen Haus. Wege zu einer interreligiösen Sozialethik, Freiburg i.Br. 2012, 534. 13 Vgl. Bauer, Die Kultur der Ambiguität (s.o. Anm. 2), 56.

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Abhandlung über die muslimischen Positionen zum säkularen Rechtsstaat weist Heiner Bielefeldt auf diese Problematik hin, indem er sagt: »Hier stellt sich die Frage, was unter einer muslimischen Position zu verstehen ist. Sollen alle Aussagen, die Muslime zu Politik, Staat und Gesellschaft machen, als ›muslimische‹ Stellungnahmen gewertet werden? Oder ist eine solche Qualifizierung nur dann angebracht, wenn ein expliziter Rückbezug auf islamische Quellen oder auf muslimisches Selbstverständnis vorliegt?«14

Anknüpfend an das zuvor Gesagte lässt sich festhalten, dass auch in der Auseinandersetzung um das Thema Menschenrechte und Islam nicht von »dem Islam« ausgegangen werden kann, sondern von verschiedenen muslimischen Positionen, die von totaler Ablehnung bis zur bedenkenlosen Übernahme der Menschenrechte reichen. Bassiouni meint dazu: »Muslimische Ansichten über die Beziehung von Islam und Menschenrechten sind so divers und komplex, dass es sehr schwer ist, eine gültige Verallgemeinerung über dieses Thema herauszuarbeiten. Tatsächlich ist es unmöglich anhand der religiösen Zugehörigkeit vorauszusagen, welche Position ein Muslim in Bezug auf Menschenrechte einnehmen wird.«15

2 Die Begegnung mit den Menschenrechten Die Haltung vieler MuslimInnen zu den Menschenrechten, speziell jener, die in muslimischen Ländern leben, kann nicht ausreichend beleuchtet werden, wenn sie nicht im Lichte der allgemeinen Beziehungen zwischen der »muslimischen Welt« und dem Westen betrachtet wird. Dies hat mehrere Gründe. Einer der wichtigsten Gründe liegt darin, dass die Beziehungen zwischen »der muslimischen Welt« und dem Westen durch die Kolonialzeit stark vorgeprägt sind. Selbst wenn diese Beziehungen auch vor der Kolonialzeit nicht konfliktfrei gewesen sind, so hat die Kolonialisierung der »muslimischen Welt« im kollektiven Gedächtnis vieler MuslimInnen das Bild »des Westens« und alles, was damit in Verbindung gebracht wird, maßgeblich und nachträglich geprägt.16 Die Kolonialisierung, aber auch weitere negative Ereignisse, die mit dem Westen in Verbindung gebracht werden, haben zur Entwicklung einer ablehnenden Haltung gegenüber jeglichen westlichen Ideen geführt. Eine Übernahme von westlich geprägten Vorstellungen und Idealen wurde meist als eine Art Kapitulation vor den Feinden verstanden:

14 Heiner Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat. Integrationschancen durch Religionsfreiheit, Bielefeldt 2003, 59. 15 M. Cherif Bassiouni, Islamische Menschenrechtsdiskurse, in: Antonius Liedhegener / Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Wiesbaden 2010, 177–218, hier 177. 16 Vgl. Abū-Zaid/Sezgin, Mohammed und die Zeichen Gottes (s.o. Anm. 4), 207.

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»Als die Kolonialisierten begannen, sich gegen ihre Kolonisatoren zu erheben, werteten sie auch die Werte ab, für die diese standen. Natürlich war es wichtig, die kolonialistischen Regimes abzuschütteln, aber es hatte auf politisch-ideologischem Gebiet eben auch so manchen Umweg zur Folge. Wenn sich die Kolonisatoren für Demokratie aussprachen, konnte Demokratie nichts Erstrebenswertes sein, so meinte man. Denn sobald man beginnt, einen Unterdrücker zu bekämpfen, bekämpft man immer auch die Kultur und Geisteshaltung, die man mit ihm verbindet.«17

Diese allgemeine Ablehnung gegenüber westlichen Zugängen und Werten findet sich auch in der Diskussion rund um das Thema Menschenrechte und Islam. Denn auch die Menschenrechte sind im Westen entstanden und werden – im Übrigen nicht nur – von MuslimInnen als spezifisch westlich betrachtet. Die exklusivistischen Ansprüche des Westens auf die Menschenrechte als genuin jüdisch-christliche Errungenschaft machen die Übernahme der Menschenrechte für andere Religions- und Kulturkreise nicht einfacher. Bassiouni dazu: »Nicht zu verkennen ist dabei das Ungleichgewicht der Kräfte, mit denen über soziale und politische Werte debattiert wird. Zu deutlich tritt das Dominanzverhältnis in der Gegenüberstellung von westlicher Fortschrittlichkeit und islamischer Rückständigkeit hervor, zu stark der Dualismus zwischen westlicher Friedfertigkeit und islamischer Gewaltbereitschaft, zu verwurzelt ist die Vorstellung einer spezifisch westlichen Rationalität jenseits islamischer Frömmigkeit und zu selbstverständlich die Auffassung der Freiheit und der Toleranz als Merkmale der westlichen und Defizite der islamischen Kultur.«18

Zusätzlich zur geschichtlichen Entwicklung und zur westlichen Vereinnahmung der Menschenrechte gibt es auch weitere weltpolitische Ereignisse, welche die geschichtlich geprägte Aversion gegenüber allem, was westlich ist, zusätzlich verstärken. Nicht selten werden weltpolitische Ereignisse, die von westlichen Staaten ohne bzw. mit wenig Rücksicht auf die Menschenrechte initiiert werden, von vielen MuslimInnen als Beispiel für die Relativierung und Instrumentalisierung der Menschenrechte durch den Westen selbst wahrgenommen. Dies führt zu der Annahme, der Westen würde die Menschenrechte als Druckmittel gegen die MuslimInnen verwenden.19 Die angesprochene ablehnende Haltung lässt sich jedoch allein mit der Kolonialisierung und der aktuellen weltpolitischen Lage nicht erklären. Hier darf die religiöse Komponente nicht außer Acht gelassen werden. Sie spielt in der Auseinandersetzung mit den Menschenrechten eine sehr bedeutende Rolle. Nicht selten wird die Ablehnung gegenüber den Menschenrechten damit erklärt, dass die allgemeinen Menschenrechte nicht immer mit dem Islam bzw. mit der Scharia in Einklang zu bringen seien. 17 Ebd., 211. 18 Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität (s.o. Anm. 6), 12. 19 Ebd., 16.

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Nach dem Hinweis auf zwei wichtige Phänomene, die für das Verständnis des islamischen Kontextes von Bedeutung sind, soll es im nächsten Abschnitt um die theologische Auseinandersetzung mit der Thematik Menschenrechte und Islam gehen. 3 Haltungen zu den Menschenrechten In Anbetracht der innerislamischen Pluralität kann es nicht um die Frage gehen, ob der Islam mit den Menschenrechten zu vereinbaren ist, sondern darum, welche Haltung eingenommen werden muss, um eine die Menschenrechte berücksichtigende Interpretation des Islams zu entwickeln. Über das Thema Menschenrechte und Islam gibt es unter MuslimInnen eine breite Palette an unterschiedlichen Meinungen, die auf verschiedenen Prämissen gründen.20 Auch wenn die Anzahl jener, die von einer grundsätzlichen Kompatibilität des Islams mit den modernen Menschenrechten ausgehen, kontinuierlich steigt, gibt es diesbezüglich etliche divergierende Meinungen, die sich nach dem Ansatz von Fred Halliday folgendermaßen kategorisieren lassen: I.

»Ablehnung: das Argument, dass die Menschenrechte nicht mit dem Islam übereinstimmen und somit abgelehnt werden müssen. II. Unvereinbarkeit: die Ansicht, dass der Islam nicht in Übereinstimmung mit den Menschenrechten gebracht werden kann. III. Aneignung: die Auffassung, dass Menschenrechte nur ›im Rahmen der Scharia‹ gültig seien. IV. Angleichung: das Argument, dass es keine Probleme in der Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten gebe.«21

Alle vier erwähnten Haltungen lassen sich in der einen oder anderen Weise einer der beiden gegensätzlichen theologischen Positionen zuordnen, die den aktuellen Diskurs über die Menschenrechte im Islam dominieren und bis zu den frühen Anfängen des Islams zurückgeführt werden können. Hierbei handelt es sich einerseits um ein eher »statisches« und andererseits um ein eher »dynamisches« Verständnis von Religion und Theologie.22 Im statischen Verständnis werden die Religion und die Theologie als abgeschlossene Wahrheiten betrachtet. Dementsprechend wird die Aufgabe der MuslimInnen in der Perpetuierung des bereits Gesagten gesehen. Die Rolle des Subjektes in der Entstehung theologischer Inhalte bleibt unberücksichtigt, so dass sogar dem Propheten Muhammad im Offenbarungsprozess keine zusätzliche Bedeutung als die des bloßen Überliefe20 Vgl. Bielefeldt, Menschenrechte Islam (s.o. Anm. 3), 1. 21 Bassiouni, Islamische Menschenrechtsdiskurse (s.o. Anm. 15), 178. 22 Vgl. İlhami Güler, Sabit din dinamik şeriat (Ankara Okulu yayınları 19), Ankara 2 2002.

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rers beigemessen wird. Eine auf Rationalität gründende Auseinandersetzung mit religiösen Dogmen wird am mildesten als überflüssig, gelegentlich jedoch als Verwässerung oder Ketzerei betrachtet. Das eigenständige Denken wird unter der Bedingung toleriert, dass es zur Untermauerung der vorhandenen Wahrheiten verwendet wird, um diese durch neue Methoden zusätzlich zu unterstützen. Dieser Zugang zu religiösen bzw. theologischen Wahrheiten kann weder zur Mündigkeit noch zu einer Kompatibilität mit dem modernen Verständnis von Menschenrechten führen.23 Denn diese Haltung ist gegen jegliche Erneuerung und verachtet alles, was sich, der eigenen Meinung nach, von den religiösen Quellen nicht direkt ableiten lässt. Eine Progression wird nicht angestrebt. Tradition wird nicht als die Weitergabe des Feuers von einer zur nächsten Generation verstanden, sondern als die der Asche. »Die selbstständige Interpretation im Bereich der Glaubenslehre oder der religiösen Geschichten [wird] verneint […] [und kann] zum Vorwurf der Apostasie [werden].«24 Nicht die Anpassung an die Umstände steht im Mittelpunkt der theologischen Überlegungen, sondern die Autorität der früheren Gelehrten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Vertreter dieser Position die Menschenrechte nicht als westliche, sondern genuin islamische Errungenschaften betrachten, die lange vor dem Westen in Form von Religionsfreiheit in der Frühzeit des Islams bekannt gewesen und in Medina implementiert worden seien.25 Auch wenn das »muslimische Modell« des Umgangs mit Andersgläubigen »viele Jahrhunderte hinweg ein Maß an Toleranz und Sicherheit bescherte, dem die mittelalterliche Christenheit nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen hatte«,26 kann dieses nicht als Ersatz für die allgemeinen Menschenrechte betrachtet werden. Ein gutes Beispiel für die Folgen eines eher statischen Theologieverständnisses im Kontext der Menschenrechte bildet der Versuch einiger mehrheitlich muslimischer Staaten, eine alternative »islamische« Menschenrechtserklärung zu entwerfen. Zur Veranschaulichung dieser Problematik bietet sich die Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990 an, die von einer Außenministerkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) angenommen, von der Organisation selbst jedoch nicht bestätigt worden ist und daher nur den Status eines Entwurfes

23 Vgl. Norbert Mette / Friedrich Schweitzer, Neuere Religionsdidaktik im Überblick, in: Christoph Bizer / Roland Degen / Rudolf Englert / Norbert Mette / Folkert Rickers / Friedrich Schweitzer (Hg.), Religionsdidaktik (JRP 18), Neukirchen-Vluyn 2002, 21–43, hier 37. 24 Abū-Zaid, Islam und Politik (s.o. Anm. 11), 82. 25 Rotraud Wielandt, Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religion im zeitgenössischen Islam, in: Peter Kräme / Sabine Demel / Libero Gerosa / Alfred E. Hierold / Ludger Müller (Hg.), Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand, Berlin u.a. 2007, 53–83, hier 58. 26 Ebd., 56.

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besitzt.27 Bei einer Analyse dieser Erklärung fällt auf, dass durch ihr inhaltliches Grundprinzip der Restriktion auf die Übereinstimmung mit dem Scharia-Gesetz in einer Vielzahl der Artikel diese Erklärung dem Vorwurf der Unvereinbarkeit des Islams mit den Menschenrechten weniger entgegenwirkt als ihn bekräftigt. Aus diesem Grund wird diese Erklärung zu Recht generell als inkompatibel mit der Idee der allgemeinen Menschenrechte betrachtet.28 Mit den Worten von Cherif Bassiouni: »Es bedarf wohl keiner näheren Erwähnung der Tatsache, dass einige Menschenrechte entscheidend eingeschränkt werden, indem sie in den Rahmen der traditionellen Scharia gepresst werden.«29 Im Gegensatz zum statischen Zugang geht es beim dynamischen Verständnis von Religion und Theologie, das auch unter MuslimInnen immer mehr Zuspruch findet, nicht um ein buchstabengetreues Verständnis, sondern um die Entschlüsselung der den Texten zugrundeliegenden Prinzipien unter Berücksichtigung der Entstehungskontexte. Damit wird der Kontextbezogenheit und der Subjektorientiertheit der religiösen Texte eine besondere Bedeutung beigemessen. Sie werden nicht mehr als von der Realität der Adressaten unabhängige und vorgefertigte Wahrheiten, sondern als durch die menschliche Realität und Sprache geprägte Offenbarung Gottes verstanden.30 Eine konkrete niedergeschriebene Offenbarung, wie es der Koran ist, wird in diesem Zusammenhang nicht als das umfassende Wort Gottes, sondern als »bestimmte Manifestation des Gotteswortes«31 verstanden, das an sich unerschöpflich bleibt, auch wenn alle Bäume zu Schreibrohren und alle Meere zu Tinte umgewandelt werden würden.32 Durch die Konzentration auf die hinter den konkreten koranischen Aussagen liegenden Prinzipien wird die Möglichkeit einer kontinuierlichen Anpassung der Bestimmungen, speziell jener, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln, offengelassen. Diese Haltung ist notwendig, um überhaupt positiv auf moderne Werte wie Menschenrechte und Demokratie reagieren zu können. Insbesondere im konfessionellen Religionsunterricht ist diese Haltung von enormer Bedeutung. Sie bringt die notwendige Sensibilität bei den Schülerinnen und Schülern so früh wie möglich hervor.

27 Vgl. Bielefeldt, Menschenrechte Islam (s.o. Anm. 3), 4. 28 Vgl. Wielandt, Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religion im zeitgenössischen Islam (s.o. Anm. 25), 64. 29 Bassiouni, Islamische Menschenrechtsdiskurse (s.o. Anm. 15), 193. 30 Vgl. Abū-Zaid, Islam und Politik (s.o. Anm. 11), 165. 31 Naṣr Ḥāmid Abū-Zaid, Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran (Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung Religion und Gesellschaft 3), Freiburg i.Br. 2008, 126. 32 Vgl. Der Koran: 18:109, 31:27.

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4 Menschenrechte im islamischen Religionsunterricht Angesichts des bisher Gesagten zeigt sich die Notwendigkeit einer fundamentalen Wende in der islamischen Bildung. Dazu gehört vor allem eine »anthropologische Wende« in der islamischen Theologie, aus der ein für das dynamische Verständnis von Religion brauchbares Offenbarungsverständnis entwickelt werden kann.33 Diese »anthropologische Wende« hätte auch auf das islamische Rechtsverständnis eine positive Auswirkung, das in diesem Zusammenhang als größtes Hindernis für eine Kompatibilität der Menschenrechte mit dem Islam erscheint, wenn das islamische Recht nicht kontextuell verstanden und ausgelegt wird. So gesehen kann ein bloßes Bekenntnis zu den Menschenrechten in den Lehrplänen oder Schulbüchern, mit dem Hinweis, diese seien schon immer Teil des Islams und könnten daher diesem nicht widersprechen, der Sache nicht dienlich sein, da dieses eine dringend notwenige Auseinandersetzung verhindert. Sollen die Menschenrechte durch den Religionsunterricht auch von muslimischen Schülerinnen und Schülern verinnerlicht werden, was für den Erhalt der pluralen Gesellschaft unabdingbar wäre, braucht es mehr als eine bloße Auseinandersetzung mit dem Thema während des islamischen Religionsunterrichtes. Es braucht eine islamische Religionspädagogik, die sich in Anlehnung an die eigenen Quellen zu den Werten bekennt, die die Grundlagen der Menschenrechte bilden. Dabei wären folgende Grundsätze34 von enormer Bedeutung: – Alle Menschen sind in ihrer Würde gleich.35 – Der Glaube ist eine persönliche Erfahrung und ein Angebot Gottes.36 – Zwang vernichtet den Glauben und die Religiosität.37 – Glaube darf Vernunft und Wissenschaft nicht ausschließen.38 – Nicht alles lässt sich in den Offenbarungstexten finden.39 – Mündigkeit im Sinne von Eigeninitiative als Prinzip der religiösen Bildung begreifen. Säkularität und Demokratie sind konstitutive Ideen der Religionspädagogik. So gesehen können sich aus den genannten Grundsätzen auch die 33 Vgl. Zekirija Sejdini, Grundlagen eines theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells islamischer Religionspädagogik und Religionsdidaktik im deutschsprachigen Kontext, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 23 / 2015, 21–28. 34 Ausführlich behandelt in: Vgl. Sejdini, Zwischen Gewissheit und Kontingenz (s.o. Anm. 5), 27–29. 35 Der Koran: 17:70. 36 Der Koran: 18:29. 37 Der Koran: 18:26. 38 Der Koran: 6:32. 39 Vgl. Andreas Renz, Die «Zeichen Gottes» (ayat Allah). Sakramentalität im Islam und ihre Bedeutung für das christlich-islamische Verhältnis, in: Theologische Zeitschrift 3/61 / 2005, 239–257.

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wichtigsten Menschenrechte aus muslimischer Perspektive legitimieren. Außerdem finden sich im Koran zahlreiche weitere Verse, welche die Menschenwürde mit sowohl theologischen als auch philosophischen Argumenten begründen lassen. So wird die Menschenwürde u.a. in der Darstellung des Menschen als Nachfolger und Stellvertreter (Kalif) Gottes auf Erden und zugleich in der Zuteilung einer Mündigkeit als Vernunftwesen, das durch seinen Verstand zu gesellschaftlicher und politischer Ordnung befähigt ist, geäußert.40 Mehrfach wird zudem das Untersagen, die Menschenwürde zu verletzen, betont.41 In diesem Zusammenhang sei zusätzlich auf die Religionsfreiheit als fundamentales Menschenrecht hingewiesen, die mit der Menschenwürde eng verknüpft ist und somit auch die Grundlage einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft bildet.42 Das Grundprinzip der Zwanglosigkeit in Sachen des Glaubens wird vor allem in Sure 2:256 sehr deutlich, die Muhammad Asad in seiner Übersetzung mit dem Kommentar versieht, dass der versuchte Zwang zum Glauben bereits eine schwere Sünde sei.43 Das fundamentale Recht auf Religionsfreiheit wird unter anderem auch in der Sure 10:99 unmissverständlich als gottgewollt zum Ausdruck gebracht. Darin heißt es: »Und (also ist es:) hätte dein Erhalter gewollt, alle jene, die auf Erden leben, hätten sicherlich Glauben erlangt allesamt: denkst du denn, daß du die Leute zwingen könntest zu glauben.« In Anlehnung an diese und ähnliche Koranverse, die sowohl auf die Würde als auch auf die Freiheit und Verantwortung jedes Menschen hinweisen, kommt der muslimische Denker Mohamed Talbi in seiner Abhandlung über die Religionsfreiheit zur folgenden Schlussfolgerung: »Aus der Sicht des Koran läßt sich also sagen, daß der Ursprung der Menschenrechte in dem liegt, was alle Menschen von Natur aus, und d.h. aufgrund des Planes Gottes und seiner Schöpfung sind. Daraus ergibt

40 Vgl. Zekirija Sejdini, Zwischen Gewissheit und Kontingenz. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von islamischer Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext, in: Ders. (Hg.), Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung. Neue Ansätze in Europa, Bielefeld 2016, 15–31. 41 Rotraud Wielandt, Menschenwürde und Freiheit in der Reflexion zeitgenössischer muslimischer Denker, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, 179– 209, hier 187. 42 Leider werden wir immer öfter Zeugen von Versuchen, die darauf abzielen, die Religionsfreiheit des Anderen unter Berufung auf heilige Schriften einzuschränken. Paradoxerweise gehen solche Versuche nicht selten auch von manchen religiösen Kreisen aus, von denen man eigentlich eine höhere Sensibilität für die Religionsfreiheit erwarten würde. Auch wenn diese Einschränkungen der Religionsfreiheit, speziell in muslimischen Kontexten, in denen selbst die Einheimischen die Menschenrechte nicht im vollen Umfang genießen dürfen, oft auf das politische Establishment zurückzuführen sind, soll hier nochmal unterstrichen werden, dass die Einschränkung der Religionsfreiheit der koranischen Lehre vom Glauben dezidiert widerspricht. 43 Vgl. Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, Ostfildern 42015, 95.

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sich von selbst, daß Eckstein aller Menschenrechte die Religionsfreiheit ist.«44 Auch wenn der Koran eine Reihe von Versen beinhaltet, die deutlich für die Religionsfreiheit sprechen und betonen, dass es keinen Zwang im Glauben gibt und jedem seine Religion selbst überlassen ist, so zeigen die Praktiken einiger mehrheitlich muslimischer Staaten klar, dass dieser Geist nicht überall in der muslimischen Welt eingedrungen ist. In diesem Zusammenhang ist der europäische Kontext für uns MuslimInnen eine gute Möglichkeit, um uns mit dieser Thematik selbstkritisch auseinanderzusetzen und neue theologische und religionspädagogische Impulse zu entwickeln, die dann in islamischen Religionsunterricht einfließen würden. Mag. Dr. Zekirija Sejdini ist Universitätsprofessor für islamische Religionspädagogik am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik der Universität Innsbruck, Österreich.

44 Mohamed Talbi, Religionsfreiheit – eine muslimische Perspektive, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, 53–71, hier 57.

1.4 Oliver Hidalgo

Menschenrechte als Zivilreligion? Eine ideengeschichtliche, theoretische und politische Annäherung

1 Einleitung Der Begriff Zivilreligion verweist auf die vorpolitischen, soziokulturellen und moralischen Grundlagen eines Gemeinwesens, insbesondere des demokratischen Rechtsstaates. Angezeigt wird dadurch zum einen ein Kontrast zu Offenbarungsreligionen, denen gegenüber die religion civile offensichtlich stärker (und maßgeblicher) auf das soziale und politische Diesseits ausgerichtet ist. Zum anderen impliziert das Konzept eine Abgrenzung von alternativen Begriffen, die vergleichbar mit der Zivilreligion auf die sogar in säkularen Gesellschaften unvermeidlichen Verbindungslinien zwischen Politik und Religion pochen. Zu nennen sind einerseits die Politische Theologie, die – trotz diverser Ausprägungen – vor allem um die Frage der vorgeschalteten Autorität und Legitimation politischer Herrschaft bzw. die generelle ›Strukturähnlichkeit‹ theologischer und politischer Denkmuster kreist;1 und andererseits die politische Religion, die nach dem von Eric Voegelin geprägten Sprachgebrauch auf religiöse Merkmale von (totalitären) säkularen Ideologien hindeutet.2 Von diesen performativen Identitätsmerkmalen abgesehen ist umstritten, welche Art religiöser Phänomene der schillernde Begriff der Zivilreligion erfassen soll und wie sein Verhältnis zur herkömmlichen ›Religion‹ als sorgsamer Beachtung von Glaubensvorschriften und/oder ›Rückbin1 In dieser Hinsicht ließe sich zumindest eine ideengeschichtliche Linie der Politischen Theologie nachzeichnen, die vom Alten Ägypten und Israel über die römische theologia civilis bei Varro und ihrer Kritik bei Augustinus bis zu Hobbes, Tocqueville und Carl Schmitt reicht. Ausgeklammert hiervon wären indes politische Hermeneutiken des Christentums, wie sie bevorzugt Johann Baptist Metz oder Jürgen Moltmann in den 1960er Jahren in Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie angestrengt haben, oder auch die Vorstellung Politischer Theologie als Herrschaftsbegrenzung (Henning Ottmann). Für einen Überblick siehe Oliver Hidalgo, Politische Theologie – ein belasteter Begriff und eine Unvermeidlichkeit, in: Philipp Hildmann / J. Christian Koecke (Hg.), Christentum und Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt a.M. 2017, 129–146. 2 Siehe Eric Voegelin, Die politischen Religionen (1938), München 1996. Für eine alternative Begrifflichkeit, die von der politischen Grundierung jeder Religion ausgeht, siehe hingegen Oliver Hidalgo / Holger Zapf / Philipp Hildmann (Hg.), Christentum und Islam als politische Religionen – Ideenwandel im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen, Wiesbaden 2017.

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dung‹ an eine göttliche Ordnung zu denken ist. Wird hier womöglich Säkulares und Religiöses kombiniert im Sinne von unhintergehbaren Wertbeständen, auf die jedes (autonome) Gemeinwesen angewiesen ist? Und bezeichnet die ›Zivilreligion‹ dann überhaupt noch eine ›Religion‹ oder nur deren funktionales Äquivalent? Mit solch schwer zu beantwortenden Fragen rückt zugleich die Idee der Menschenrechte ins Visier, bekleiden die Prinzipien, die gemeinhin als Human Rights deklariert werden, doch jenen Status als quasi sakrosankte, vor- und überpolitische Normen, an denen sich der demokratische Rechtsstaat orientieren muss: Menschenwürde; Folterverbot; freie Entfaltung der Persönlichkeit; Gleichheit vor dem Gesetz; Diskriminierungsverbot wegen Geschlecht, Abstammung, Hautfarbe oder Glaube; Meinungs- und Gewissensfreiheit; Schutz der Privatsphäre; Sicherung der natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen; politische Teilhaberechte. Können ›Menschenrechte‹ demnach als ›Zivilreligion‹ verstanden werden, die Offenbarungsreligionen ersetzt oder zumindest ergänzt? Handelt es sich eventuell sogar um gleichläufige Konzepte bzw. um unterschiedliche Namen für ein und dieselbe Sache? Oder muss es stattdessen nicht als Clou der Menschenrechte angesehen werden, dass sie – historisch wie politisch – unabhängig von jeder religiösen Begründung agieren? Als Rechte des Menschen, die keine Einbettung in einen religiösen Kosmos benötigen, sondern jedem Individuum allein kraft seiner Existenz zustehen und demzufolge seine vollkommene Emanzipation von religiösen Überlieferungen dokumentieren? Der vorliegende Beitrag wird angesichts dieser komplexen Problemlage versuchen, vor dem Hintergrund einer komprimierten Rekonstruktion beider Diskurse erstens das Verhältnis zwischen Zivilreligion und Menschenrechten zu klären, zweitens die vorhandenen Schnittmengen und Grenzen auszuloten, um so drittens zu einer fundierten Einschätzung zu gelangen, ob die Rede von den Menschenrechten als Zivilreligion angebracht ist oder nicht. 2 Der Begriff »Zivilreligion« – ein ideengeschichtlicher Abriss In den aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde der Begriff ›civil religionʻ von dem amerikanischen Soziologen Robert N. Bellah.3 Mit diesem Konzept wollte er erklären, weswegen die Religion in der US-Gesellschaft trotz der dort strikten institutionellen Trennung von Staat und Kirchen unverändert eine Schlüsselrolle für die kollektive Identitätsbildung einnimmt. Als Zivilreligion bezeichnete Bellah dabei den zentralen Anteil jener wertbasierten politischen Kultur in den Vereinigten Staaten, der sich aus der Erinnerung an die (religiösen) Überzeugungen der Gründerväter, die alttestamentarische Bundesidee sowie 3 Vgl. Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus 96 (1967), 1–21.

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die symbolisch-normative Erhöhung der USA als auserwähltes Land in der Nachfolge Israels speist. Den einst von Rousseau geprägten Begriff einer ›religion civile‹, welche als soziales Band fungiert und die Freiheit des Einzelnen mit der Verantwortung für die Mitbürger koppelt,4 hielt Bellah für adäquat, da er konfessionsübergreifend im religiös vielgestaltigen Amerika den kulturellen Wertekonsens und das davon indizierte Gemeinschaftsgefühl zu erfassen vermochte. Im deutschsprachigen Raum adaptierte zunächst Niklas Luhmann den Begriff »Zivilreligion« und subsumierte darunter die »Grundwerte« einer Gesellschaft, das heißt »die Anerkennung der in der Verfassung kodifizierten Wertideen« sowie weniger formalisierte »Vorstellungen über Gerechtigkeit, Fairness, Durchsetzungswürdigkeit des Rechts, Gleichheit des Zugangs aller zu allen Funktionen«.5 Für die Einordnung der sozial erwünschten und forcierten Wertorientierungen als (quasi-)religiöses Phänomen argumentierte Luhmann sowohl historisch wie theoretisch: Weil auch moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften in der Lage sein müssen, die Gesamtbevölkerung, das heißt Gläubige und Nichtgläubige, in ihre moralische Identität zu integrieren, sei zumindest ein Arrangement mit der Religion unerlässlich. Der genuine Vorteil einer Zivilreligion bestehe hier darin, dass sie sich an die von der Moderne geschaffenen Bedingungen leichter anpassen könne als Offenbarungsreligionen mit ihren universalen Wahrheitsansprüchen.6 Offen bleibt allerdings, ob für Luhmann ein solcher zivilreligiöser Wertekanon (wie bei Rousseau) vorzugeben ist oder sich (wie bei Bellah) der politischen Steuerbarkeit geradewegs entzieht und ob das Verhältnis zwischen Zivilreligion und herkömmlicher Religion entsprechend konkordant oder konkurrierend ausfällt. Die Wahrheitsfrage ausklammernd, insistiert Luhmann lediglich darauf, dass die Zivilreligion nicht als eine Religion neben anderen gelten könne, zu der man sich bekenne oder nicht, da sie die Grundlage einer wertbasierten sozialen Kommunikation schlechthin bilde.7 Hermann Lübbe wandte sich kurz darauf gegen die inhaltliche Flexibilität und deskriptive Auffassung der Zivilreligion bei Luhmann und hob stattdessen den präskriptiven Charakter der Zivilreligion als Legitimitätsgrundlage des liberalen Staates hervor. Als konfessionsübergreifender Minimalkonsens über die »bekenntnisförmig ausformulierbaren Ge4 Der Sache nach fand sich die Überlegung einer kultursensiblen zivilreligiösen Identität des politischen Gemeinwesens freilich schon bei Montesquieu. Dazu Oliver Hidalgo, Die Religion des Bürgers – Montesquieu und die Grenzen des Politischen, in: Ders. / Karlfriedrich Herb (Hg.), Die Natur des Staates. Montesquieu zwischen Macht und Recht, Baden-Baden 2009, 137–158. 5 Niklas Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion. Zur wissenschaftliche Karriere eines Themas (1978), in: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, 293–308, hier 293. 6 Vgl. Luhmann, Grundwerte (s.o. Anm. 5), 295–300. 7 Vgl. ebd., 303.

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halte« bedürfe die Zivilreligion der Existenz Gottes als nominalen Geltungsgrund der Rechts- und Verfassungsordnung, ganz so, wie es aus der Präambel des Grundgesetzes und der »Erwähnung Gottes als Verantwortungsinstanz des deutschen Volkes« hervorgehe.8 Ihre kulturelle Präsenz sei demgegenüber nachrangig.9 Als normative Festlegung dessen, »was prinzipiell menschlicher Dispositionsfreiheit entzogen sein soll«, stehe die Zivilreligion somit dafür, dass die »in letzter Instanz religiös legitimiert[en]« Institutionen und Repräsentanten des Staates die Bürger unbeschadet ihrer Religionsfreiheit und »unabhängig von ihren konfessionellen Zugehörigkeitsverhältnissen auch in ihrer religiösen Existenz an das Gemeinwesen« binden. Letzteres werde dadurch »auch aus religiösen Gründen anerkennungsfähig« und drohe zudem nicht länger in totalitäre Politikformen abzudriften, da der Staat auf eine eigenhändige weltanschaulich-ideologische Infiltrierung seiner Untertanen verzichten kann.10 Die bis hierhin skizzierten Positionierungen zur Zivilreligion suggerieren, dass das Konzept höchst heterogen besetzbar ist und sich keine einheitlichen Standards zu dessen Definition und Verwendung etablieren konnten. In ihrem erstmals 1986 erschienenen Band zur Religion des Bürgers sind die Herausgeber Heinz Kleger und Alois Müller daher um Klärung bemüht, die Zivilreligion nicht nur von Politischer Theologie und politischer Religion zu unterscheiden, sondern ebenso von einer privatistischen bürgerlichen Religion bzw. einer Staats- oder Kulturreligion. Denn nur der ›Religion des Bürgers‹, das heißt der ›Zivilreligion‹ gelinge es, die Autonomie von Religion und Politik zu wahren sowie einen normativen Grundkonsens und generalisierte Werte festzulegen, die das Gebot der (Religions-)Freiheit respektieren.11 Unter diesem verbindenden Merkmal weisen die Zivilreligionen in verschiedenen Ländern sodann auffällige Besonderheiten auf, wie etwa die Eidgenossenschaft in der Schweiz, der synkretische Republikanismus-Kult in Frankreich (der 8 Hermann Lübbe, Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität (1981), in: Heinz Kleger / Alois Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Münster 22004, 195–220, hier 197f. 9 Lübbe, Staat und Zivilreligion (s.o. Anm. 8), 198ff. 10 Lübbe, Staat und Zivilreligion (s.o. Anm. 8), 206ff. Obwohl Lübbes Fokus auf Religionsfreiheit in diesem Kontext den Unterschied zu Rousseaus (bekenntnispflichtiger) religion civile unterstreicht, rückte er die Debatte doch wieder näher an den Genfer Philosophen heran. Abgesehen von der christlichen Grundierung, die Lübbes Zivilreligion wie ehedem bei Rousseau als Vorlage wie Vorgabe dient, zeigt sich dies ebenso anhand des Versöhnungsversuchs zwischen der Wahrheit und der politischen Funktion des Glaubens sowie dem grundlegenden Ziel, die politische Autonomie und Verfügungsgewalt des Volkes durch die (heteronome) Existenz Gottes zu begrenzen. Daher wirft Lübbes Konzeption das Problem auf, wie die Vorschriften der Zivilreligion (christlich) bestimmbar sein sollen, wenn die Gebiete der Religion und Politik zugleich getrennt sind und der Wille Gottes auf dem Sektor des Rechtlichen und Politischen nicht mehr allgemein verbindlich darstellbar ist. 11 Vgl. Kleger/Müller, Religion des Bürgers (s.o. Anm. 8), 7–15.

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laizistische und katholische Elemente zusammenfügt), die zivilreligiösen »Sonderwege« in Israel, Großbritannien und den Niederlanden bzw. auch der Shintoismus in Japan belegen.12 Die ›Zivilreligion‹ in Deutschland wird von Kleger und Müller explizit mit dem Ansatz Lübbes assoziiert13 und (in der zweiten Auflage von 2004) durch die Auffassung Wolfgang Vögeles ergänzt, der darunter seinerzeit die »religiösen und theologischen Gehalte des politischen Diskurses«14 in der Bundesrepublik, das heißt Werte wie Freiheit, Menschenwürde, Verantwortung, Nächstenliebe und Solidarität verstand. Allerdings wird auch von den genannten Differenzierungen das Grundproblem der Zivilreligion nicht gelöst, nämlich, dass ihr Verhältnis zu den traditionellen (Offenbarungs-)Religionen amorph bleibt. Fraglich scheint insbesondere, ob zivilreligiöse Werteüberzeugungen von der soziokulturellen Dominanz konkreter Religionsgemeinschaften bestimmt werden oder aber eine Art übergreifenden Konsens zwischen konkurrierenden Glaubensrichtungen markieren. Unklar ist weiterhin, ob die Zivilreligion als bereits säkulares Phänomen eher als Konvolut weltanschaulicher Überzeugungen zu verstehen ist oder ob allein ihr Begriff davon zeugt, dass sie ohne religiösen Hintergrund gar nicht zu denken wäre und mithin selbst die moderne Gesellschaft unverändert auf einem religiösen Fundament ruht. Und falls dies so ist, fügen sich die herkömmlichen Religionen dann als eine Ressource unter mehreren in den zivilreligiösen Konsens ein oder muss die Zivilreligion nicht trotzdem als religiös-kulturelles Phänomen gelten, das von seinem Kontrast zu den (Welt-)Religionen zehrt? Schließlich – wenn es wirklich der Vorteil der Zivilreligion ist, sich auf der normativen Ebene an die soziokulturellen Entwicklungen in der säkularen Gesellschaft besser anzupassen als Offenbarungsreligionen, wie kann sie dann zugleich jenen festen moralischen Ankerpunkt bedeuten, den ihre Befürworter vermuten und der den modernen Individualisierungstendenzen ein soziales Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühl entgegenhält? Im Zweifelsfall gehört es freilich zu den Merkmalen der säkularen Gesellschaft, dass die angeführten Fragestellungen gar nicht zu beantworten sind. Stattdessen dürfte sich anhand der Heterogenität der Beziehungslinien zwischen Zivilreligion und herkömmlichen Religionen die Komplexität des religiösen Zustands in der Moderne in toto widerspiegeln. In dieser Hinsicht ist die Forschung in der Zwischenzeit davon abgekommen, die säkulare Moderne einseitig mit einer Verfallsgeschichte, einem sukzessiven ›Verschwinden‹ der traditionellen Religionen zu verbinden, 12 Vgl. ebd., XII. 13 Vgl. ebd., XII, XLIV, Anm. 37. 14 Vgl. Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh 1994, 18. Inwieweit der Begriff Zivilreligion aufgrund der besonderen religionspolitischen Verfassung in Deutschland, für die sich das Aperçu einer »hinkenden Trennung« zwischen Religion und Staat eingebürgert hat, hierzulande überhaupt überzeugend ist, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden.

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selbst wenn der Rückgang ihrer institutionalisierten und sozial abgestützten Formen in den meisten westlichen Demokratien dokumentiert ist. Vielmehr ist heute verstärkt von einem generellen Brüchigwerden religiöser Glaubensüberzeugungen die Rede, aus der eine dauerhafte Koexistenz von religiösen und säkularen Optionen resultiert15 bzw. multiple Modernitäten, die je nach den Besonderheiten einer Gesellschaft stärker säkulare oder auch religiöse Ausprägungen erfahren.16 Auf dem Feld der Zivilreligion bestätigt sich der Befund, dass es sich keineswegs um einseitige Prozesse handelt, vor allem am Beispiel Israels, wo eine einst dominante säkulare Kultur der Zivilreligion – der sozialistische Zionismus in der Gründungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg – durch die Renaissance orthodox-religiöser Überzeugungen im Rahmen des Nationalbewusstseins modifiziert, wenn nicht überwunden wurde.17 Jene ›Standortunabhängigkeit‹ der Zivilreligion, die wie gesehen dafür verantwortlich ist, dass das Konzept epistemologisch schwer greifbar bleibt, legt es im Gegenzug nahe, tatsächlich eine signifikante Nähe zur Idee bzw. dem normativen Status der Menschenrechte anzunehmen. Dieses scheinbare Paradox ist im nächsten Abschnitt zu erläutern. 3 Zivilreligiöse Komponenten des Menschenrechtsdiskurses Begriff, Geschichte und Politik der Menschenrechte sind allesamt eigene Probleme eingeschrieben, die hier nur kurze Erwähnung finden können. So ist zwar explizit von ›Rechten‹ die Rede, jedoch handelt es sich nach gängigem Sprachgebrauch nur unter der Voraussetzung um juridische, einklagbare Ansprüche, falls sich diese als Grundrechte positivieren lassen. Das aber knüpft jede politisch-praktische Realität der – an sich vorstaatlich und universal zu denkenden – Menschenrechte an ein souveränes Staatswesen, das diese als Grundrechte konstitutionell garantiert und Zuwiderhandlungen sanktioniert. Zwar gab es zahlreiche Versuche, die Menschenrechte in bestimmten ›Pakten‹ auch völkerrechtlich bzw. zwischenstaatlich zu verankern, ihrer faktischen Anbindung an eine partikulare politische Kultur und Rechtsprechung tat dies bis dato aber keinen Abbruch. Die (praktische) Kontext- und Kulturabhängigkeit der Menschenrechte korrespondiert indes nicht nur mit ihrem abgeleiteten Rechtsstatus. Vielmehr fließt in jede konkrete Vorstellung und Ausgestaltung der ›Rechte des Menschen‹ das jeweilige Menschenbild ein, das eine bestimmte Kultur zu einer bestimmten Zeit konstruiert. Aus diesem Grunde beobachten wir nicht nur, dass regionale Dokumente des Menschenrechtsschutzes wie die African Banjul Charter on Human and 15 Vgl. Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge 2007. 16 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. 17 Dazu bereits Charles S. Liebman / Eliezer Don-Yehia, Civil Religion in Israel. Traditional Judaism and Political Culture in the Jewish State, Berkeley 1983.

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Peoples’ Rights (1981), die Universal Islamic Declaration of Human Rights (1981) oder die Cairo Declaration of Human Rights in Islam (1990) in ihrer Betonung von Pflichten gegenüber der Gemeinschaft zum Teil massiv von der Individualethik der UN-Erklärung von 1948 abweichen, sondern ebenso, wie sich im Vergleich der Jahrhunderte auch innerhalb von Kulturen höchst divergente Handhabungen auffinden lassen. Dies betrifft nicht nur die Frage, was die Menschenrechte inhaltlich umfassen und welche menschlichen Lebewesen de facto Träger sein sollen (hier sah man etwa in früheren Zeiten keinen Widerspruch darin, Frauen oder Sklaven von der Norm auszuschließen, und auch die Gegenwart ist keineswegs vor ›blinden Flecken‹ gefeit); allein die Frage, was überhaupt ein Mensch ist, wird, wie die moralpolitischen Debatten über Abtreibung, Gentechnik etc. belegen, keineswegs einheitlich beantwortet, weder innerhalb einer Kultur noch transkulturell. Was überdies die theoretische Begründung der Menschenrechte angeht, belegt schon die vorhandene Fülle an inkompatiblen Ansätzen die dahinterstehende, unentscheidbare Kontroverse. Traditionelle Instanzen wie der Glaube (Gottähnlichkeit des Menschen), die Natur (Naturrecht) oder die Vernunft (Logik, Vertrag/Zustimmung, Reziprozität, Diskursethik) werden hier von utilitaristischen, hedonistischen, historischen und konstruktivistischen Ansätzen ergänzt und teilweise abgelöst.18 Alle diese Ansätze implizieren jeweils Stärken und Schwächen, ohne dass sich ein Königsweg herauskristallisiert hätte. Falls demnach die Begründbarkeit der Menschenrechte im Gefolge postmoderner Kritik an Metakonzepten nicht generell bezweifelt wird, scheint immerhin eine Pluralität von Legitimationsbemühungen auch für die Zukunft unausweichlich. Die genannten Schwierigkeiten im Hinblick auf Rechtscharakter, Menschenbild und Begründung der Menschenrechte münden in das Kardinalproblem ihrer kaum zu leistenden Universalisierung. In dieser Hinsicht reicht es nicht aus, auf den kategorialen Unterschied zwischen Genese und Geltung zu verweisen, um den universalen Anspruch der Menschenrechte zu unterstützen, trotzdem sie sich als Idee primär der europäischen Aufklärung verdanken.19 Poststrukturalistische (Foucault, Derrida, Lyotard), postkoloniale (Fanon, Saïd, Spivak, Chakrabarty) oder kommunitaristische (Taylor, Walzer) Kritiken an Universalansprüchen jeder Couleur haben die Risiken von eurozentrischen Chiffren innerhalb des Menschenrechtsdiskurses längst freigelegt. Wo gleichwohl an einem (relativierten) Universalismusbegriff festgehalten wird, dort ist zumindest keine Einebnung kultureller Besonderheiten (mehr) gemeint und wird respektiert, dass verschiedene Kulturen die Materie der Men18 Für einen Überblick siehe z.B. Norbert Brieskorn, Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart 1997. 19 Vgl. Heiner Bielefeldt, Westliche versus islamische Menschenrechte? Zur Kritik an kulturalistischen Vereinnahmungen der Menschenrechtsidee, in: Mechthild Rumpf (Hg.), Facetten islamischer Welten, Bielefeld 2003, 123–142.

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schenrechte auf je eigene Weise rechtfertigen und situationsspezifisch von ›westlichen‹ Standards abweichen.20 Die Gefahr, dass die hiervon berührte allgemeine Distanz zu essentialistischen Positionen umgekehrt zur Legitimation menschenverachtender Praktiken missbraucht wird, schwingt dabei allerdings stets mit.21 Die Praxis des Menschenrechtsdiskurses sowie der davon abgeleiteten Politiken lässt sich aufgrund der genannten (unlösbaren) Probleme am ehesten dahingehend beschreiben, dass eine universale Rede – nämlich die von der Unantastbarkeit der Menschenrechte – in eine partikulare, dynamische gesellschaftliche Verständigung darüber überführt wird, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als unantastbar gelten soll. Aus diesem Grund werden die Menschenrechte heute meist nach ›Generationen‹ klassifiziert. Dabei sind vor allem die liberalen Abwehr- und demokratischen Mitwirkungsrechte des 18. und 19. Jahrhunderts von den stärker wirtschaftlich und sozial geprägten Menschenrechten nach 1945 sowie den kollektiven Rechten auf Entwicklung, Frieden, saubere Umwelt und Selbstbestimmung der Völker der dritten Generation Ende des 20. / Anfang des 21. Jahrhunderts zu unterscheiden. Kulturelle Eigenheiten und historische Erfahrungen schlagen sich in solchen wandelbaren Interpretationen der materialen Substanz von Menschenrechten wieder, ohne dass deren universaler Horizont insgesamt verabschiedet werden könnte oder dürfte. Vor diesem Hintergrund präsentiert sich das vieldeutige Konzept der Zivilreligion als bemerkenswert brauchbar, um die komplexe Stellung der Menschenrechte zwischen Universalität und Partikularität zu konturieren. Nicht nur, dass in den sozialen Wertekanon, der als ›Zivilreligion‹ titulierbar ist, universale Werte wie nationale kulturelle Eigenheiten einfließen, ähneln sich Menschenrechte und Zivilreligion auch darin, dass sich in ihren Begrifflichkeiten jeweils religiöse und säkulare Ansätze respektive Begründungsmuster bündeln (können). Auch historisch-genealogisch wären die Menschenrechte einleuchtend als (eine) Zivilreligion zu beschreiben, sofern man in der dialektischen Entwicklung der Menschenrechtsidee, die sich entlang der diskursiven Auseinandersetzung zwischen dem jüdisch-christlichen Erbe des Abendlandes und den moralischen Idealen der Aufklärung vollzogen hat, einen eigenständigen religiösen Vorgang, namentlich denjenigen der »Sakralisierung der Person« erkennt.22 Die daraus resultierende kulturelle Transformation zeichnet 20 Als Beispiel für einen solchen ›kultursensiblen‹ Menschenrechtsuniversalismus siehe Abdullahi An-Na’im, Die kulturelle Vermittlung der Menschenrechte, in: Zeitschrift für Menschenrechte 1.1 (2007), 87–98. 21 Vgl. Nicole Janz / Thomas Risse (Hg.), Menschenrechte. Globale Dimensionen eines universellen Anspruchs, Baden-Baden 2007. 22 Ausführlich zu diesem bereits von Durkheim lancierten Gedanken Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 2011.

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sich darin aus, einen einheitlichen normativen Maßstab mit einer Pluralität an konkreten Auffassungen zu amalgamieren. Eine Assoziation der Menschenrechte als Zivilreligion besitzt als weiteren Vorteil, dass sie performativ die historisch spannungsgeladene Beziehung zur christlichen Religion reflektiert. Denn obwohl die Devise Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, die den Charakter der Französischen Revolution mitsamt der Menschenrechtserklärung von 1789 nachhaltig prägte, ursprünglich christlichem Gedankengut entstammt23 und ebenso eine inhaltliche Nähe zum Dekalog zu monieren ist,24 war es doch alles andere als ein Zufall, dass die führenden Akteure und Historiographen der revolutionären Ereignisse überwiegend den säkularen Charakter des ›neuen‹ Absolutums der Menschenrechte betonten. Vor allem Jules Michelet, der das Selbstverständnis der Initiatoren von 1789 wohl am authentischsten wiedergab, markierte in seiner Histoire de la Révolution française (1847) einen scharfen Gegensatz zwischen der ›alten‹ Religion Gottes und der ›neuen‹ Religion der droits de l’homme. Umgekehrt vermuteten zahlreiche (reaktionäre) christliche Denker vom Schlage Joseph de Maistres oder Louis de Bonalds in der Deklaration der Menschenrechte 1789 eine fatale Hybris oder sogar einen teuflischen Plot. Tatsächlich ist es schwierig zu leugnen, dass sich der revolutionäre Fokus auf individueller Freiheit, sozialer und rechtlicher Gleichheit sowie nationaler Brüderlichkeit weitgehend im Widerspruch zur christlichen Tradition befand, weshalb es in der Folge einer langwierigen, reziproken »Lerngeschichte«25 bedurfte, ehe die Menschenrechte in die christliche (vor allem in die katholische, zum Teil aber auch in die protestantische) Sozialverkündigung aufgenommen wurden. Jene synchrone Nähe und Distanz zwischen Menschenrechten und Christentum ist abermals einsichtig mit dem Begriff Zivilreligion zu etikettieren. Trotz aller Parallelen sollte man es jedoch vermeiden, die Menschenrechte mit einer Zivilreligion schlicht gleichzusetzen, kann doch der zivilreligiöse Bestand eines Landes sehr wohl Werthaltungen umfassen, die eine signifikante Spannung zu Menschenrechtsdiskursen aufweisen oder sich gegebenenfalls sogar in striktem Gegensatz dazu befinden. An den USA fällt in diesem Zusammenhang beispielsweise auf, dass die Zivilreligion dort eher den Konsens über eine Bürgerrechts- und weniger über eine Menschenrechtskultur abbildet, wobei der entscheidende Unterschied sein dürfte, dass Bürgerrechte anders als Menschenrechte als

23 Analog suggerierte der Urheber der Formel liberté – égalité – fraternité, François Fénelon, im 17. Jahrhundert eine unmittelbare Nähe zu den christlichen Dogmen der Menschenwürde, Gottähnlichkeit und Nächstenliebe. 24 Vgl. Walter Harrelson, The Ten Commandments and Human Rights, Macon 1997. 25 Vgl. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität, Düsseldorf 1991, 162f.

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veräußerlich anzunehmen sind.26 Insofern erhöht sich durch die Vergleichbarkeit von Zivilreligion und Menschenrechten weniger das Verständnis für die materialen Prinzipien, die beide Konzepte gleichermaßen beinhalten, als vielmehr für den informellen normativen Status, den Menschenrechtspraktiken und zivilreligiöse Identität miteinander teilen. Zivilreligion und Menschenrechte leisten damit in ihren Schnittmengen eine Gewähr dafür, dass trotz gesellschaftlichem Wertepluralismus und religiöser Vielfalt eine gemeinsame moralische Orientierungs- und Kritikfolie existiert, an der sich politisch-rechtliche Entscheidungen ausrichten können und dies – in Abhängigkeit von den jeweiligen kollektiven Willensbildungsprozessen und deren verfassungsrechtlicher Kontrolle – zumeist auch müssen. 4 Fazit Nach reiflicher Abwägung der in den beiden vorherigen Abschnitten diskutierten Argumente ist eine Affinität der Menschenrechte zu einer bestimmen Form der Zivilreligion vorsichtig zu bejahen. Indem sich die universalen Menschenrechte in partikulare Moralvorstellungen, Weltanschauungen und eben auch verschiedene religiöse Konfessionen inkulturieren müssen,27 nimmt die Verwirklichung ihrer theoretischen Idee in der politischen Praxis die phänotypischen Züge einer Zivilreligion an. Von dieser ist nicht nur eine moralisch-affektive Unterfütterung rechtsstaatlich garantierter Grundrechte zu erwarten, sondern ebenso eine sakrale Aura, welche den Menschenrechten erst den verwendbaren Status des Unbedingten und Unantastbaren verleiht. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass die partikularen, zivilreligiös imprägnierten nationalen und verfassungspatriotischen Diskurse, die die Menschenrechte als Grundrechte positivieren, ihrerseits wiederum durch universale theologische Gründe für die Menschenrechte zu transzendieren28 oder womöglich auch von einem »zivilreligiösen Menschenrechtsuniversalismus«29 26 Für die Vielzahl an Widersprüchen, die zwischen der besonderen nationalen Rechtskultur in den USA und internationalen Völker- und Menschenrechtsstandards bestehen und die weit über evidente Beispiele wie die unveränderte Anwendung der Todesstrafe in zahlreichen US-Bundesstaaten, das verfassungsrechtlich geschützte Recht, Waffen zu tragen, oder die Menschenrechtsverletzungen in Guantánamo oder Abu Ghraib hinausgehen, siehe Michael G. Ignatieff (Hg.), American Exceptionalism and Human Rights, Princeton 2005. 27 Vgl. Otfried Höffe, Menschenrechte im interkulturellen Diskurs, Berlin 2009. (http://www.bpb.de/internationales/weltweit/menschenrechte/38723/interkulturellerdiskurs?p=all) (Zugriff 15.10.2016). 28 Vgl. Wolfgang Vögele, Glaube und Würde. Die Aktualität der Menschenrechte für die christliche Theologie und den interreligiösen Dialog, in: Friedrich Johannsen (Hg.), Die Menschenrechte im interreligiösen Dialog, Stuttgart 2013, 41–51. 29 Patrick Bahners, Haben wir eine christliche Leitkultur? FAZ vom 19.10.2010.

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getragen sind. Aufgrund der ungebrochenen faktischen Angewiesenheit einer effektiven Menschenrechtspolitik auf intakte staatliche Strukturen und ihrer (bislang) nahezu unvermeidlichen Korrosion in sogenannten failing states aber ist im Kontext der Universalität-Partikularität-Antinomie der Menschenrechte das (zivil-)religiöse Moment aktuell doch weit eher auf der Seite des Partikularen zu verorten. Alternative Zusammenhänge mögen hier zwar wünschenswert sein, sie lassen sich jedoch empirisch noch kaum bestätigen. Entsprechend bleibt am Ende festzuhalten, dass Menschenrechte offensichtlich gerade dann mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine erfolgreiche politische Praxis münden, wenn es ihnen gelingt, mit den zivilreligiösen Beständen einer konkreten Gesellschaft zu verschmelzen. Inwieweit hiervon wiederum eine globale Bewegung auszugehen vermag, die dem eigentlich universalen Anspruch der Menschenrechte gerecht wird, muss die Zukunft zeigen. PD Dr. Oliver Hidalgo ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg und derzeit Vertretungsprofessor für Politische Theorie an der WWU Münster.

1.5 Heiner Bielefeldt

Verletzungen der Religionsfreiheit Versuch eines typologischen Überblicks

1 Vorbemerkung Die Spannweite der Verletzungen der Religionsfreiheit wird vielfach unterschätzt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der volle Umfang dieses Menschenrechts nicht immer präsent ist. Deshalb sei vorweg wenigstens kurz darauf hingewiesen, dass der Begriff der Religionsfreiheit als Kurzformel für ein umfassendes Menschenrecht fungiert, dessen vollständiger Titel »Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit« lautet. Gewährleistet ist die Religionsfreiheit auf internationaler Ebene insbesondere in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966, darüber hinaus auch in anderen Menschenrechtskonventionen sowie in zahlreichen nationalen Verfassungen. Der vorliegende Aufsatz stellt eine Zusammenfassung des letzten thematischen Berichts dar, den ich in meiner Funktion als UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Oktober 2016 in der UN-Generalversammlung vorgetragen habe.1 Dort finden sich auch weitere Quellenhinweise. Ich stütze mich vor allem auf die verschiedenen fact-finding Missionen, die meine Vorgänger im Amt und ich selbst im Rahmen der UN-Berichterstattung erstellt haben.2 Alle diese Berichte sind auf der Website des UN-Hochkommissars für Menschenrechte verfügbar.3 2 Exemplarische Felder von Menschenrechtsverletzungen Wenn es um Verletzungen der Religionsfreiheit geht, richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst meist auf restriktive Maßnahmen, denen die religiös diskriminierende Absicht gleichsam auf die Stirn geschrieben ist. Dazu zählt die Ahndung von »Religionsdelikten« wie Apostasie, Proselytismus und Blasphemie. Entsprechende Strafgesetze, die es in verschiedenen Regionen der Welt gibt, repräsentieren die offen sichtbare 1 Vgl. UN Doc. A/71. 2 Das Mandat existiert seit März 1986 und gehört damit zu den ältesten Themenmandaten des UN-Menschenrechtsrats. 3 Vgl. www.ohchr.org.

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Spitze eines Eisbergs, dessen vollen Umfang man schwer bemessen kann. Denn in vielen Fällen kommen repressive Gesetze zum Einsatz, die vordergründig »neutral« gehalten sind und mit Religion wenig zu tun haben scheinen. Dies gilt etwa für Antiterrorismusgesetze, deren Formulierungen oft auffallend vage gehalten sind, so dass jede missliebige Religionsausübung im Zweifel unter terrorismusverdächtigen »Extremismus« fällt. Der vielleicht größte Teil des schwer zu umreißenden Eisbergs staatlicher Verletzungen liegt jedoch im Bereich administrativer Schikanen. In manchen Staaten wird die Ausübung der Religionsfreiheit von komplizierten administrativen Genehmigungen abhängig gemacht. Für Religionsgemeinschaften kann dies auf einen permanenten Kampf mit der Bürokratie hinauslaufen, die ihnen immer wieder neue Unterschriften, Beglaubigungen, Finanzauskünfte, Mitgliederkarteien und Unterschriften abverlangt. Im Falle unkorrekter oder unvollständiger Angaben (die man im Wust der Formulare, wenn man will, immer finden kann!) drohen Geldstrafen, Schließungen oder Konfiskationen. Strukturelle Probleme für die Religionsfreiheit existieren darüber hinaus im Bereich des Familienrechts, insbesondere in Ländern, in denen das Familienrecht stark religiös geprägt ist, wie dies vor allem für die Staaten des Nahen Ostens gilt. Typischerweise ist dabei für manche interreligiösen Konstellationen gar kein Raum gegeben, was Menschen von Staats wegen unter Druck bringt, um der Ehe willen ihre Religion zu wechseln; Atheisten und Agnostiker sind in solchen Systemen erst recht nicht vorgesehen. Im Falle von Ehescheidungen kann für Angehörige religiöser Minderheiten oder für Konvertiten der Verlust des Sorgerechts für die eigenen Kinder drohen. Auch die Schule ist ein Ort, an dem Verletzungen der Religionsfreiheit geschehen können, etwa wenn Kinder von Minderheiten gegen ihren Willen und ohne Zustimmung der Eltern religiöser Unterweisung ausgesetzt sind, der sie faktisch nicht entrinnen können. Diskriminierungen und andere Verletzungen der Religionsfreiheit geschehen darüber hinaus im Wirtschafts- und Arbeitsleben, etwa in Gestalt von restriktiven Kleidungsvorschriften am Arbeitsplatz. Bekanntlich gehen viele der brutalsten Verletzungen der Religionsfreiheit derzeit von terroristischen Gruppierungen aus. Nicht selten finden sie in einem Klima der Straflosigkeit statt, was ein Hinweis auf Verstrickungen von Teilen des Staates sein kann. Der Staat trägt in jedem Fall die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen, die in seinem Jurisdiktionsbereich stattfinden, auch wenn sie durch nicht-staatliche Akteure begangen werden. Falls der Staat nicht fähig oder nicht willens ist, den geforderten Schutz effektiv zu gewährleisten, kann er dafür international zur Verantwortung gezogen werden.

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3 Typische Motive für Verletzungen der Religionsfreiheit a) Durchsetzung religiöser Wahrheits- bzw. Reinheitsansprüche Kriege oder Terrorakte im Namen religiöser Wahrheit, Todesurteile wegen des Abfalls vom Glauben, systematische Ketzerverfolgung, Bevormundung und Überwachung der Bevölkerung durch eine Art Religionspolizei, die sich in Fragen der Kleiderordnung und des Alkoholgenusses in das Leben der Menschen einmischt – all dies stellt auch im 21. Jahrhundert für zahllose Menschen eine alltägliche Bedrohung dar. Zwangsmaßnahmen richten sich vor allem gegen »Ungläubige«, »Abtrünnige«, »Häretiker«, aber auch andere Menschen, deren Einstellung und Lebenswandel den Sachwaltern religiöser Rechtgläubigkeit ein Dorn im Auge ist. Staaten wie Saudi-Arabien, Katar, Jemen, Iran, Sudan, Afghanistan, Mauretanien oder Brunei stützen ihren Herrschaftsanspruch wesentlich darauf, dass sie sich als Vollstrecker göttlicher Gesetze zum Schutze der Wahrheit und Reinheit des islamischen Glaubens inszenieren. Nichtislamischen Minderheiten – Christen, Hindus oder Buddhisten –, sofern sie in diesen Ländern leben, ist offenes Eintreten für ihre Glaubensüberzeugungen untersagt. Erst recht gilt dies für Atheisten oder Agnostiker. Wechsel vom Islam zu einer Religion oder zum Atheismus ist in all den genannten und einigen weiteren Ländern de jure oder de facto ausgeschlossen. Einige Staaten sehen sogar die Todesstrafe für Abfall vom Islam vor. In Iran erleben die Angehörigen der post-islamischen Baha’iReligion systematische Verfolgung; wichtige Führungsfiguren ihrer Gemeinde sind seit Jahren in Haft. Repressive Maßnahmen richten sich nicht nur gegen »Ungläubige«, sondern auch gegen inner-islamische Minderheiten. In einigen sunnitisch geprägten Staaten trifft dies primär die Schiiten, die in Saudi-Arabien, Bahrain, Malaysia und selbst im traditionell toleranten Indonesien zunehmend unter Druck stehen. Wenn Mitglieder der mancherorts verketzerten Ahmadiyya-Gemeinde, die sich selbst als Muslime verstehen, in der Öffentlichkeit den islamischen Gruß verwenden, gilt dies in Pakistan bereits als strafwürdiges Delikt. Zu den innerislamischen Minderheiten, die oft dem Verdacht der Häresie ausgesetzt sind, zählen auch Sufis. Bei der Durchsetzung religiöser Geltungsansprüche geht es neben dem wahren Glauben auch um die Lebenspraxis, also um Fragen von Kleidung, Ernährung oder den Umgang der Geschlechter miteinander. Oft leiden vor allem Frauen und Mädchen unter den demütigenden Kontrollen einer Religionspolizei oder selbsternannter Vigilanten, die meinen, Tugend und gottgefälligen Lebenswandel in Zentimetern Rocklänge bemessen oder an der Haartracht erkennen zu können. Für Schwule und Lesben, die sich outen oder geoutet werden, gilt dies erst recht. In manchen Staaten sind Essen und Trinken in der Öffentlichkeit während des Ramadans mit Strafen bedroht, die sich vor allem an Muslime, manch-

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mal aber auch an Nicht-Muslime richten. Aber auch in Israel ärgern sich religionsdistanziert oder liberal eingestellte Israelis schon lange über religionspolitisch motivierte Verhaltensauflagen, die nicht nur am Sabbat ihre Freiheit unverhältnismäßig einschränken. Verletzungen der Religionsfreiheit mit dem Ziel der Durchsetzung eines wahren Glaubens oder eines bestimmten religiös normierten Lebenswandels geschehen nicht nur durch staatliche, sondern auch durch nichtstaatliche Organisationen. Terrorgruppen wie Boko Haram in Nigeria, Al Shabab im Osten Afrikas oder der sogenannte Islamische Staat in Syrien und Irak ziehen eine breite Blutspur hinter sich. Zu den Opfern des IS zählen zunächst nicht-islamische Minderheiten, die als »Ungläubige« getötet, verschleppt, erpresst und um ihr Eigentum gebracht werden. Für die Jesiden, deren religiöses Zentrum im Norden Iraks liegt, steht letztlich die künftige Entwicklung ihrer Religionsgemeinschaft als ganzer auf dem Spiel. Die Christen sehen das Erbe von zweitausend Jahren Kirchengeschichte gefährdet. Auch Menschen, die des Atheismus’ verdächtigt werden oder religionskritische Äußerungen tun, geraten schnell ins Fadenkreuz der Gewaltakteure. Die Attacken sunnitischer Terrorgruppen richten sich darüber hinaus auf innerislamische Minderheiten wie Schiiten oder Sufis, die als »Ketzer« verfolgt werden; viele ihrer Wallfahrtstätten sind beschädigt oder zerstört worden. Die Gewalt bedroht darüber hinaus nicht zuletzt sunnitische Muslime, die sich dem Druck eines erzwungenen Konformismus nicht beugen wollen oder die zu den vielen Zufallsopfern der oft ziellos wirkenden Anschläge gehören. b) Wahrung nationaler Identität Während Verletzungen der Religionsfreiheit zur Durchsetzung religiöser Wahrheit oder Reinheit derzeit vor allem in islamisch geprägten Staaten bzw. durch islamistische Terrororganisationen verübt werden, finden sich Beispiele für Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung einer religiös untermauerten nationalen Identität in praktisch allen Regionen der Welt; sie geschehen unter den Vorzeichen ganz unterschiedlicher Religionen. Während in dem zuvor beschriebenen Muster die Spaltungslinie entlang der Differenz zwischen Glauben und Unglauben bzw. wahrem Glauben und Häresie verlief, geht es in einer religiös aufgeladenen nationalen Identitätspolitik primär darum, wer zur nationalen Gemeinschaft dazu gehört und wer »fremd« bleibt und deshalb gefälligst draußen oder zumindest am Rande bleiben soll. Kurz: Die Linie verläuft zwischen »dem Eigenen« und »dem Fremden«. Ein vom Staat identitätspolitisch beschworenes nationales Erbe kann eine oder mehrere Religionen umfassen. In Myanmar wird die nationale Identität wesentlich durch den Buddhismus definiert. Vor allem die muslimischen Rohingyas haben darunter zu leiden; sie gelten als »Bengalen«, die man am liebsten alle ins Nachbarland Bangladesch abdrän-

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gen würde, wo sie allerdings ebenfalls als fremde Eindringlinge gelten. Auch in Sri Lanka sind nationale Identität und Buddhismus eng miteinander verwoben; buddhistische Mönche gehören dort zu den treibenden Kräften aggressiver singhalesischer Identitätspolitik und machen Stimmung gegen ungeliebte Minderheiten. In Indien ist der Kosmos der Religionen, die zum nationalen Erbe gezählt werden, zwar ungemein weit gespannt; neben dem Hinduismus gelten auch Buddhismus, Sikhismus, Jainismus und die indigenen Religionen der »Adivasis« als autochthone indische Religionen.4 Ungeachtet der jahrhundertelangen Präsenz des Islams in Indien werden Muslime hingegen von Hindunationalisten als fremd und womöglich gar als »fünfte Kolonne« Pakistans angesehen. Die Ausgrenzung trifft auch Christen, vor allem Protestanten, die als Exponenten des Westens stigmatisiert werden. Organisationen militanter Hindunationalisten wie die RSS sorgen für ein Klima der Einschüchterung. Auf der Ebene einiger Bundesstaaten bestehen Gesetze, die die Menschen gegen »Proselytismus« schützen sollen und zu diesem Zweck aktive Missionstätigkeit mit Sanktionen bedrohen. Wenn Dalits, d.h. Menschen aus unteren Kasten oder Kastenlose, vom Hinduismus zu einer anderen Religion konvertieren, drohen sie ihre »affirmative action benefits« zu verlieren, was erhebliche Nachteile im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt nach sich ziehen kann. Die Instrumentalisierung der Religion als Bestandteil nationalromantischer Identitätspolitik geschieht auch unter christlichen Vorzeichen. In Russland hat Putin die Russisch-Orthodoxe Kirche zu einem Pfeiler des Nationalbewusstseins aufgebaut. Die Kirche macht bei diesem Spiel weitgehend mit, obwohl die pompöse nationalistische Rhetorik nicht nur Anleihen bei der Zarenzeit sucht, sondern ebenso an die ehemalige Größe des kirchenfeindlichen Sowjetimperiums anknüpft. Gemeinsamer Nenner der willkürlich aneinandergereihten ideologischen und ikonographischen Bruchstücke ist ein dezidierter Antiliberalismus, der für Religionsfreiheit nicht viel Raum lässt. Hart trifft es protestantische Freikirchen, die als Exponenten des ungeliebten Westens verdächtigt werden. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen religiösen Extremismus werden die Zeugen Jehovas landesweit mit Prozessen und Razzien überzogen. Innerhalb der christlichen Orthodoxie sind Vorstellungen einer »Symphonie« mit nationalem Staat und Kirche traditionell besonders ausgeprägt, was die Anfälligkeit für identitätspolitische (Selbst-)Instrumentalisierungen erhöhen mag. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste die Regierung der Republik Moldau vor einigen Jahren daran erinnern, dass die Moskau-orientierte Moldawische Orthodoxe Kirche kein Monopol im Lande beanspruchen kann und dass auch Raum

4 Nicht allen Angehörigen dieser Gruppen passt es, dass sie pauschal dem HinduKosmos zugeschlagen werden.

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für eine auf Bukarest hin orientierte Richtung, die Bessarabisch-Orthodoxe Kirche bestehen muss.5 Religiös unterfütterte nationalistische Reflexe zeigen sich auch in Westeuropa, vor allem im Umgang mit Flüchtlingen aus Syrien, Irak und anderen nahöstlichen Staaten. Die Regierungen einiger EU-Mitgliedstaaten äußerten sich dahingehend, dass sie, wenn überhaupt, allenfalls christliche Flüchtlinge aufnehmen würden. Insbesondere die Ungarische Politik scheint das in der Verfassung betonte christliche Erbe des Landes derzeit weniger inhaltlich als vielmehr territorial, nämlich über Grenzzäune und Stacheldraht, zu definieren. Manche aktuelle Positionierungen erinnern an das Motto »cuius regio, eius religio«, mit dem in der frühen Neuzeit die Einheit von Territorium und Religion auf eine Formel gebracht wurde. Vom Geist und Buchstaben der Religionsfreiheit ist das weit entfernt. c) Kontrollobsessionen autoritärer Regierungen Systematische Verletzungen der Religionsfreiheit finden auch in Staaten statt, die von Haus aus gar keine Affinität zu irgendeiner Religion oder Konfession zeigen. Was sie an der Religionsfreiheit stört, ist vor allem die zweite Komponente des Begriffs: die Freiheit. Je autoritärer eine Regierung strukturiert ist, desto größer die Angst, dass die Freiheitsrechte – darunter die Religionsfreiheit – zur Einbruchstelle für »subversive« Aktivitäten werden könnten. Kommunistische Staaten wie China, Vietnam oder Laos haben in den letzten Jahrzehnten aus wirtschafts- und außenpolitischen Gründen zwar manche Flurbereinigung vorgenommen. Die Zeiten, in denen die Regierungen dieser Staaten Religion als »Opium des Volkes« ideologisch bekämpften, sind weitgehend vorbei. Im touristisch weitgehend erschlossenen Vietnam sehen die Besucher alte und neue Tempel, Pagoden und Kirchen, in denen Gläubige ihre Rituale verrichten. Daraus zu schließen, dass es in Sachen Religionsfreiheit keine allzu großen Probleme mehr gäbe, wäre allerdings ein Fehlschluss. Tatsächlich haben sich die Muster der staatlichen Repression lediglich verschoben. Im Vordergrund steht anders als vor vierzig Jahren nicht mehr die ideologische Gegnerschaft einer kommunistisch-atheistischen Ideologie zu religiösen Weltdeutungen. Treibendes Motiv hinter staatlichen Repressionsmaßnahmen ist heute vielmehr das Interesse an umfassender Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens. Vermutlich sind wenige Funktionäre autoritärer Staaten so verblendet, nicht wenigstens zu ahnen, dass die inszenierten Beifallsbekundungen womöglich nicht ganz echt sein könnten. Auf eine bloß forcierte Loyali5 Vgl. Metropolitain Church of Bessarabia and others v. Moldova (Application no. 45701/99).

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tät kann nie wirklich Verlass sein, und wenn Opposition sich nicht offen artikulieren kann, ist umso mehr zu befürchten, dass sie im Untergrund überall präsent sein könnte. Dies erklärt die nervösen Kontrollobsessionen autoritärer Regimes, die deshalb auch mit der Religionsfreiheit ihre notorischen Schwierigkeiten haben. Beispiele finden sich in vielen Teilen der Welt: in China und Vietnam, in Zentralasiatischen Republiken, in despotisch beherrschten Staaten Afrikas und erst recht in Nordkorea mit seinem pharaonenhaften Personenkult. Wie ausgeprägt die Angst vor der Subversion freier Religionspraxis beispielsweise in China offenbar ist, zeigt sich darin, dass die Regierung selbst die Reinkarnation tibetanischbuddhistischer Würdenträger administrativ unter Kontrolle zu nehmen versucht. Die Spaltungslinien, die aus staatlichen Kontrollobsessionen resultieren, verlaufen noch einmal anders als in den beiden zuvor skizzierten Mustern. Während vielen autoritären Regimen Fragen der Rechtgläubigkeit eher gleichgültig sein dürften und auch das Interesse an religiös definierter nationaler Identität jedenfalls nicht im Vordergrund steht, unterscheidet der Staat vor allem zwischen solchen religiösen Gemeinden, die mit den Behörden kooperieren, und solchen, deren Kooperationsbereitschaft und Loyalität fraglich erscheint. Das ist die entscheidende Linie. Diejenigen, die sich der Kontrolle entziehen, riskieren Repression in Gestalt von Haftstrafen, Folter, Entlassung aus dem Staatsdienst, Ausbürgerung, Konfiskation des Eigentums und anderen Sanktionen. Typischerweise verläuft die Differenz mitten durch die verschiedenen Religionen hindurch. In Vietnam spaltet sie die Buddhisten, die Hoa Hao und die Cao Dai, von denen es jeweils staatsloyale und staatsdistanzierte Gruppen gibt; unter den Protestanten kooperieren einige mehr oder weniger notgedrungen mit den Behörden, während andere versuchen, als unabhängige Hauskirchen zu überleben. Auch in China gibt es neben den offiziell anerkannten christlichen Kirchen eine wachsende Zahl von Hausund Untergrundgemeinden. Muslimische Uighuren und tibetanische Buddhisten sind ebenfalls gespalten. d) Überlappungen und weitere Faktoren Die drei soeben typologisch rekonstruierten Motive für Verletzungen der Religionsfreiheit – (a) wahrer Glaube versus Unglaube/Häresie, (b) nationales Religionserbe versus fremde Religionen und Sekten, (c) Staatsloyalität versus unabhängig-subversive Gruppen – kommen in der Realität in »reinen« Formen vielleicht sogar nie vor. Die typologische Differenzierung der drei Muster dient denn auch nicht dazu, klare Sortierungen vorzunehmen. Ihr Zweck besteht vielmehr darin, dafür zu sensibilisieren, dass es relevante Unterschiede in den Motivlagen überhaupt gibt.

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Ohne Bewusstsein für die Differenz der Motive kann es zu krassen Fehleinschätzungen kommen. Wer etwa davon ausgeht, dass Verletzungen der Religionsfreiheit stets zu religionspolitischen Monopolstrukturen führen, könnte geneigt sein, Indien schon aufgrund der unübersehbaren religiösen Vielfalt ein gutes Zeugnis auszustellen; vernachlässigt würde dabei jedoch die Spaltung des Landes in autochthone und »fremde« Religionen, woraus Stigmatisierungen, Diskriminierungen und gewaltsame Übergriffe folgen. Wenn sich Besucher Vietnams überrascht davon zeigen, dass religiöses Leben in einem kommunistischen Staat gedeihen kann, nehmen sie implizit Maß an einer in der Tat überholten ideologischen Konfrontation; sie verkennen dann aber, dass der Kampf um Religionsfreiheit im Kampf um autonome Gemeindestrukturen mit großer Erbitterung weitergeht. Während der Religionswechsel vom Islam zum Christentum in Jordanien ausgeschlossen ist, stellt er in China kein Problem dar; daraus zu schließen, dass die Situation der Religionsfreiheit in China generell besser ist als in Jordanien, wäre jedoch völlig falsch. Die relevanten »Testfragen« unterscheiden sich eben von Land zu Land, und es ist wichtig, dies in Rechnung zu stellen. Die typologische Differenzierung zwischen den drei skizzierten Grundmustern ist nur der erste Schritt zu einem Verständnis der Komplexität möglicher Motive, die Verletzungen der Religionsfreiheit zugrundeliegen können. Hinzu kommen zahlreiche weitere Faktoren, die wiederum von Land zu Land variieren. Ein in seiner Bedeutung gar nicht zu überschätzender Faktor im Kontext von Menschenrechtsverletzungen ist endemische Korruption. Wo Korruption alltägliche Erfahrung ist und Mentalitäten und Erwartungen prägt, zerstört sie jedes Vertrauen in das faire Funktionieren öffentlicher Institutionen bzw. verhindert, dass ein solches Vertrauen überhaupt entstehen kann. Um ihr Leben zu organisieren, bleibt den Menschen oft nichts anderes übrig, als auf ihre eigenen Netzwerke zu setzen. Wo solche Netzwerke durch ethnische, religiöse oder konfessionelle Zugehörigkeiten definiert sind, besteht die Gefahr, dass Gruppen beziehungslos nebeneinander leben oder sich gar, wie jüngst in der Zentralafrikanischen Republik, wechselseitig gegeneinander bewaffnen. Der Raum des Vertrauens schrumpft dann schnell zum Binnenraum innerhalb eines Umfelds, das schon deshalb bedrohlich wirkt, weil man die Verhältnisse nicht begreift und weil Kommunikation über die Grenzen der eigenen Gruppe hinweg nur wenig stattfindet. Religionsfreiheit kann sich unter solchen Bedingungen kaum entwickeln. Das Klima der Religionsfreiheit kann außerdem entscheidend davon abhängen, wie ein Land mit den Traumata der jüngeren Geschichte umgeht. Die blutige Geschichte der Teilung des indischen Subkontinents liegt gerade einmal ein Menschenalter zurück. Während in Pakistan und Bangladesch die Hindus mit Indien in Verbindung gebracht werden, assoziieren Hindunationalisten in Indien muslimische junge Männer vielfach mit pakistanisch gesteuerten Extremisten. Dass christliche Minder-

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heiten – vor allem Protestanten – vielerorts in der Gefahr stehen, als Exponenten des Westens stigmatisiert zu werden, hängt nicht zuletzt mit nicht aufgearbeiteten Verwerfungen der Kolonialgeschichte zusammen. Ähnliche Probleme gibt es auch in den aus der Erbmasse der UdSSR hervorgegangen zentralasiatischen Republiken, im subsaharischen Afrika oder im Nahen Osten. Wenn die »Geister der Vergangenheit« aber nicht zur Ruhe kommen, besteht die Gefahr, dass sie die Wahrnehmung auch aktueller politischer Situationen prägen. Auch Landkonflikte können eine Ursache für Verletzungen der Religionsfreiheit sein. Im Jahre 2012 gingen in den zu Bangladesch gehörenden Chittagong-Hill-Tracts auf einen Schlag mehr als zwanzig buddhistische Tempel in Flammen auf. Die Buddhisten in dieser Region, nahe an der Grenze zu Myanmar, gehören indigenen Völkern an, die oft keine Besitztitel im modernen Verständnis für die von ihnen seit jeher genutzten Ländereien vorweisen können. Der Kampf um die wertvolle Ressource Land macht auch nicht Halt bei solchen Ländereien, auf denen Klöster, Kirchen, Pagoden, Friedhöfe oder andere religiöse Infrastruktur aufruhen. Nicht zu vergessen sind schließlich frauenverachtende patriarchale Strukturen und Gender-bezogene Vorurteile, die sich mit der Diskriminierung religiöser Minderheiten verbinden können. Besonders dramatisch sind Fälle, in denen Mädchen oder junge Frauen gleichzeitig Opfer von Entführungen und Zwangskonversionen werden; möglicherweise werden sie außerdem noch gegen ihren Willen mit ihrem Peiniger »verheiratet«. Es fällt auf, dass religionsbezogene Hassmanifestationen oft eine ausgesprochene Gender-Komponente aufweisen. In einem südasiatischen Land hörten wir Gerüchte über eine von Muslimen geführte Unterwäsche-Fabrik, von der es hieß, dass sie chemische Substanzen einsetze, um die Fruchtbarkeit der Frauen gezielt zu manipulieren und auf diese Weise eine langfristige demographische Überlegenheit für den Islam zu erreichen. Dieses bizarre Gerücht ist nicht ganz untypisch; es zeigt, dass Verschwörungsphantasien auch unter Gender-Gesichtspunkten analysiert werden müssen. 4 Die betroffenen Menschen Wechseln wir nun die Perspektive von den Tätern zu den Opfern. Wer sich der verwirrenden Vielfalt von Verletzungen der Religionsfreiheit in verschiedenen Ländern und Regionen über längere Zeit aussetzt, entwickelt unvermeidlich Skepsis gegenüber allen Projekten, die darauf abzielen, die Situation der Religionsfreiheit weltweit übersichtlich zu kartographieren oder in Hitlisten des Schreckens nach Punkten zu bewerten. Gerade in Staaten, in denen Repression erfolgreich funktioniert, kommt es vielleicht gar nicht zu sichtbaren »Ereignissen« wie Verhaftungen oder Verurteilungen, weil ein durchgängig geschürtes Klima der Ein-

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schüchterung dafür sorgt, dass die Menschen von vornherein »vorsichtig« bleiben. Das in Washington ansässige »Pew Forum on Religion and Public Life« ist deshalb dazu übergegangen, nicht die aktuell, sondern die potenziell von Verletzungen der Religionsfreiheit betroffenen Menschen zu quantifizieren. Etwa 75 Prozent der Weltbevölkerung, so der Befund des Pew Forum, leben in Staaten, in denen die Religionsfreiheit nicht angemessen respektiert wird.6 Diese Meldung wird vermutlich aufgrund der spektakulär hohen Quote allseits zitiert – »bad news is good news«. Es fragt sich jedoch, welcher Realitätsgehalt hinter solchen Aussagen steht. Falls China seine restriktive Familienpolitik tatsächlich nachhaltig lockern sollte, würde bei gleichbleibender Lage der Religionsfreiheit im Land die negative Quote allein schon aufgrund des demographischen Wandels steigen. Mit dieser Art von Berichterstattung ist nichts gewonnen. Betroffen von Verletzungen der Religionsfreiheit sind jedenfalls Menschen aus ganz unterschiedlichen religiösen oder auch nicht-religiösen Richtungen. Obwohl letztlich Angehörige aller Religionen und Weltanschauungen betroffen sind, muss man allerdings feststellen, dass bestimmte Gruppierungen – beispielsweise Baha’i in Iran oder Jemen, Ahmadis in Pakistan, Falun Gong in China, Zeugen Jehovas in verschiedenen Ländern – besonders stark gefährdet sind. Lange Zeit vernachlässigt wurde die Verfolgung von Atheisten bzw. Agnostikern, die in manchen Staaten harte Strafen zu gewärtigen haben. Viel zu wenig wissen wir auch über die Problemlagen indigener Völker, deren spirituelle Praktiken sich nicht leicht in die etablierte Rechtspraxis zur Religionsfreiheit einfügen. Wenig Aufmerksamkeit hat ferner die Religionsfreiheit von Arbeitsmigrantinnen und -migranten einschließlich ihrer Familien erfahren. Bei der Analyse der Betroffenengruppen müssen interne theologische Differenzierungen berücksichtigt werden; sie spielen oft eine entscheidende Rolle. Seit im Jahre 1974 in Pakistan die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinde, die sich selbst als Muslime verstehen, von Staats wegen als Nicht-Muslime bezeichnet wurden, stehen Ahmadis systematisch unter Verfolgungsdruck. Von terroristischen Gewaltakten ist in Pakistan derzeit vor allem aber auch die schiitische Minderheit betroffen; hunderte Schiiten sind dort in den letzten Jahren ermordet worden. Auch anderswo ist das Klima für Schiiten rauer geworden. Selbst im traditionell toleranten Indonesien nimmt ihre Ausgrenzung zu. Im sunnitisch beherrschten Bahrain, in dem die Mehrheit der Bevölkerung der Schia angehört, sind von Staats wegen Dutzende schiitische Moscheen zerstört worden. Anderswo – z.B. im schiitischen Iran – trifft die Diskriminierung umgekehrt die Sunniten.

6 Vgl. die jüngste Meldung in diesem Zusammenhang: www.pewforum.org/2016/ 06/23/trends-in-global-restrictions-on-religion/.

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Ähnliche Binnendifferenzierungen sind innerhalb des Christentums von Belang. Der manchmal recht pauschal verwendete Begriff der »Christenverfolgung« verdeckt, dass Repressionen und Diskriminierungen nicht überall alle christlichen Gruppierungen gleichermaßen treffen. Vielerorts werden vor allem protestantische bzw. evangelikale Gemeinden mit Misstrauen beäugt; denn sie gelten als Exponenten Amerikas bzw. des Westens und stehen außerdem (zu Recht oder zu Unrecht) im Ruf, aktive Missionstätigkeit zu betreiben. In Russland geschieht die Stigmatisierung von Protestanten als »landesfremd« mit zumindest stillschweigender Zustimmung der Orthodoxen Kirche, was zeigt, dass Spaltungslinien auch innerhalb des Christentums verlaufen. Die Zeugen Jehovas stoßen nicht nur wegen ihrer Missionstätigkeit auf Ressentiments, sondern sind autoritären Regierungen außerdem aufgrund ihrer Ablehnung des Militärdienstes suspekt. Die schlimmsten Verfolgungserfahrungen machen christliche Gemeinden derzeit zweifellos im Nahen Osten. Hunderttausende haben in den letzten Jahren Syrien und Irak verlassen. Der IS hat sich offenbar zum Ziel gesetzt, den Christen in der Region nicht nur jede Zukunft zu verbauen, sondern auch die Spuren der Vergangenheit, die bis in die Zeit der christlichen Urgemeinde zurückreichen, restlos zu tilgen. Hier sind deshalb gerade die altansässigen autochthonen Kirchen – Syrisch Orthodoxe, Chaldäer, Assyrer, Armenier und andere – betroffen. Ein historisches Erbe von zwei Jahrtausenden droht verloren zu gehen. Die Verbitterung vieler nahöstlicher Christen darüber richtet sich auch auf die Europäer, von denen man mehr Einsatz erwartet hätte. – Wenn von den Gräueltaten des IS die Rede ist, müssen insbesondere auch die Jesiden genannt werden, die Opfer genozidaler Gewalt geworden sind. Nicht vergessen werden sollte, dass Verletzungen der Religionsfreiheit auch Angehörige der jeweils dominanten Mehrheit treffen können, insbesondere wenn sie sich kritisch zu Fragen der Religionspolitik äußern. In allen Religionsgemeinschaften gibt es Menschen, denen polarisierende Verhärtungen ihres Glaubens zuwider sind, die sich öffentlich gegen die Instrumentalisierung der Religion zu Zwecken nationalistischer Identitätspolitik aussprechen und sich gegen kontrollpolitisch motivierte Infiltrationen des Staates aktiv zur Wehr setzen. Manche von ihnen berufen sich ausdrücklich auf die Religionsfreiheit. Dies schützt sie nicht immer davor, als Verräter oder »Nestbeschmutzer« an den Pranger gestellt und bedroht zu werden. Dr. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt ist Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2010 bis 2016 war er UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit.

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Menschenrechte in der Wahrnehmung junger Christen und Muslime 1 Einführung Die Menschenrechte werden mit dem Anspruch vertreten, überall auf der Welt in gleicher Weise gültig zu sein. Sie sollen weder verkürzt oder eingeschränkt, noch sollen sie irgendeiner kulturellen Tradition untergeordnet werden. Sie beruhen auf der Einsicht, dass keine partikulare Ideologie und keine partikulare Religion in der Lage sind, Verbindliches für alle Länder der Erde zu formulieren. Diese Einsicht positiv zu verarbeiten, d.h. die Menschenrechte nicht als Konkurrenz zu religiösen Überzeugungen zu verstehen, ist für alle Religionsgemeinschaften eine große Herausforderung, die teilweise mehr und teilweise weniger gelingt bzw. gelungen ist. Die Menschenrechte sind der Versuch, unabhängig von religiösen, kulturellen oder ideologischen Prämissen einen übergreifenden universalen Rechtsrahmen zu schaffen, von dem angenommen wird, dass ihn alle Staaten und Bürger teilen können. In der jüngsten Geschichte ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UN 1948) ein solcher Rahmen, der durch die völkerrechtlich bindenden Pakte, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (beide 1966), sowie durch eine Vielzahl weiterer Erklärungen und Protokolle konkretisiert und ergänzt wurde.1 Die rechtsverbindlichen Dokumente umfassen drei juristische Bereiche: einmal die negativen Freiheiten, d.h. das Recht der einzelnen Personen, sich gegen jedwede Gewaltanwendungen vonseiten eines Staats zu schützen, zweitens die positiven Mitbestimmungsrechte, die das Recht garantieren, jeder politischen und/oder sozialen Partei beizutreten, und drittens eine Gruppe von sozialen Teilhaberechten, die gleiche Lebensbedingungen als Menschenrecht garantieren sollen.2 Stefanie Schmahl betont, dass es keine bindende Rangliste gebe, auf der die Rechte ihrer Bedeutung bzw. Wichtigkeit nach verzeichnet wären. Jedes einzelne Recht musste erkämpft werden, 1 Siehe auch: Die Europäische Menschenrechtskonvention (1950); Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000). 2 Vgl. G. Lohmann, Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte. Eine Einführung, in: G. Nooke / G. Lohmann / G. Wahlers (Hg.), Gelten die Menschenrechte universal?, Freiburg 2008, 47–60.

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deshalb seien alle ein Sieg über die Unterdrückung des Staats und ein Sieg der Freiheit.3 Die UN Konferenz 1993 in Wien hat die Unteilbarkeit der Menschenrechte bestätigt, allerdings sehen Beobachter durchaus eine unterschiedliche Gewichtung einzelner Menschenrechtsbereiche.4 Hinzu kommt das Interesse, die Menschenrechte jeweils aus einer speziellen Perspektive zu interpretieren. Was als unausweichlicher Grundsatz der Hermeneutik vertraut ist, schafft ein Problem in der Anwendung. So haben beispielsweise einzelne Organisationen und Verbände eigene Erklärungen verfasst, die sich zwar auf UN Dokumente beziehen, aber teilweise nicht unwesentliche Nuancieren anbringen (z.B. Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam 1990; Afrikanische Erklärung der Menschenrechte 1981; Asiatische Erklärung der Menschenrechte 1993). Solche kulturellen bzw. religiösen Adaptionen heben die Grundlagen der Menschenrechte nicht nur hervor, sondern sind auch geeignet, diese zu verändern.5 Will die Menschenrechtsidee nicht beliebig sein, muss sie universale Gültigkeit reklamieren. Juristisch gesehen bedeutet universal gültig, dass die Anwendung dieser Rechte und ihre Gewährung nicht von Rasse, Geschlecht, Religion, Sprache oder Nationalität abhängen darf.6 Jedoch ist universale Gültigkeit nicht mit der Proklamation einer Erklärung gegeben, sondern bedarf der Umsetzung durch die praktische Politik. Obwohl die große Mehrheit der Staaten die Menschenrechtsdeklarationen unterzeichnet haben, zeigt die Praxis, dass der Einsatz mancher Staaten für die Menschenrechte zum Teil völlig ausbleibt. Eine weitere Herausforderung für die Ankerkennung der Menschenrechte sind die Religionen. Glaubenssätze, religiös begründete Werte und Normen beeinflussen die Kultur in den meisten Gesellschaften. Jede Religion hat ein mehr oder weniger striktes Konzept von der exklusiven Gültigkeit ihrer eigenen Doktrin, und auch dieser Anspruch wird nicht 3 Vgl. St. Schmahl, Überlegungen zur Kategorisierung der Menschenrechte, in: H.G. Ziebertz (Hg.), Menschenrechte, Christentum und Islam, Münster 2010, 27–38. 4 Zum Beispiel problematisiert Günter Nooke den unterschiedlichen Charakter der zivilen, politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte. Die Erweiterung des Katalogs dürfe nicht dazu führen, dass die Menschenrechte für alles, was wertvoll und erstrebenswert sei, instrumentalisiert würden, um die fundamentalen Schutz- und Freiheitsrechte nicht aus dem Blick zu verlieren. Zweitens hinterfragt er die Gleichwertigkeit der Rechte der ersten Generation mit den jüngsten Solidar- und Kollektivrechten (Frieden, Sicherheit, Entwicklung und Umwelt). Individuelle Rechte sollten nicht von kollektiven Rechten (Rechten für bestimmte Gruppen) abhängig gemacht werden. Vgl. dazu G. Nooke, Universalität der Menschenrechte – Zur Rettung einer Idee, in: G. Nooke / G. Lohmann / G. Wahlers (Hg.), Gelten die Menschenrechte universal?, Freiburg 2008, 16–46. 5 Auf diese überaus interessante Thematik wird hier nicht weiter eingegangen, weil der Fokus des Beitrags auf der empirischen Untersuchung liegt. 6 Vgl. H. Bielefeldt, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen, in: H.-R. Reuter (Hg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee, Tübingen 1999, 43–73.

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selten als universal gültig verstanden. Deren implizites Wahrheitsverständnis betrifft nicht nur die eigenen Mitglieder, sondern reicht mitunter weit darüber hinaus. Das gilt auch für das Christentum und den Islam, die im Fokus der späteren empirischen Studie stehen. Beide Religionen erheben denselben Anspruch auf die Gültigkeit ihrer Glaubensüberzeugungen und ähneln damit strukturell dem Anspruch, den die Menschenrechte erheben. Vielleicht liegt darin ein Grund für die Rivalität zwischen manchen religiösen Bekenntnissen und den Menschenrechten. Es lassen sich einige Felder benennen, auf denen religiöse Überzeugungen in Konflikt zu Freiheitsrechten stehen, das gilt beispielsweise für eine Reihe von moral- und familienbezogenen Positionen, für die Gleichheit von Männern und Frauen oder für das Verbot der Diskriminierung. Der Diskurs über die Form, den Inhalt und die Reichweite der Menschenrechte verdeutlicht, dass dieses Konzept noch nicht abgeschlossen ist.7 Ein Pendant zur Aneignung der Menschenrechte auf politischer Ebene ist das Rezeptionsverhalten des Einzelnen. Die Rezeption der Menschenrechte unter christlichen und muslimischen Jugendlichen steht im Zentrum dieses Beitrags. Für die meisten Jugendlichen werden die Menschenrechte ein Begriff sein, aber die wenigsten werden wissen, was sie genau beinhalten. Wahrscheinlich werden viele der befragten Jugendlichen zum ersten Mal die (beinahe) vollständige Liste der Menschenrechte sehen, wenn sie einen Fragebogen durchlesen, wie er in dieser Studie verwendet wurde. Es kann also vermutet werden, dass sich der größte Teil von ihnen noch nicht intellektuell mit den Menschenrechten auseinandergesetzt hat. In den Lehrplänen führen die Menschenrechte eher ein Schattendasein. 2 Untersuchungsfrage und Vermutungen Die Forschungsfragen lauten: Welche inhaltliche Struktur sehen christliche und muslimische Jugendliche hinter einer Reihe von Aussagen zu den Menschenrechten? Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Muslimen und Christen in Bezug auf die Struktur der Menschenrechte, und wie werden die empirisch gefundenen Menschenrechtsgruppen bewertet? Eingangs wurde auf das Verständnis hingewiesen, die Menschenrechte seien gleich, universal und unteilbar. Ebenso kam die Position zur Sprache, angesichts der kontinuierlichen Erweiterung der Menschenrechte in den letzten 50 Jahren eine Kerngruppe von Menschenrechten zu identifizieren, wozu die zivilen, politischen und juridischen Rechte zählen, weil sie am unmittelbarsten die ursprüngliche Bedeutung der Menschenrechte repräsentierten, nämlich das Leben des Individuums zu schützen. Der

7 K.P. Fritsche, Menschenrechte, Paderborn 22009.

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normative Anspruch auf Einheit evoziert daher die empirische Frage, ob die Menschenrechte tatsächlich als eine Einheit verstanden werden.8 3 Instrumente, Sample und Vorgehen Die in dieser Untersuchung verwendeten Daten wurden im Rahmen des internationalen empirischen Projekts Religion and Human Rights9 erhoben, in diesem Beitrag werden jedoch nur die Daten aus Deutschland verwendet. Um die notwendige Anzahl von Muslimen einschließen zu können, wurde die Studie in Ballungsräumen durchgeführt (Nürnberg, Duisburg, Köln, Dortmund, Bochum). Die folgende Analyse ist an Gemeinsamkeiten bzw. Unterschieden zwischen christlichen und muslimischen Schülern interessiert, daher werden von den insgesamt 1785 Befragten – entsprechend der Angabe zur Religionszugehörigkeit – nur Christen (N=782) und Muslime (N=422) einbezogen (Gesamt-N=1204). Die Befragten sind durchschnittlich 16 Jahre alt.10 Von den rund 180 Items im Fragebogen thematisieren 30 Items die Menschenrechte. 18 Items sprechen zivile Rechte an, in 6 Items geht es um das Recht auf Leben, 4 Items thematisieren politische Rechte und 2 Items juridische Rechte. Diese Rechte spiegeln die historische Entwicklung der Menschenrechte wider. Die zivilen Rechte und das Recht auf Leben waren im Fokus der Deklaration von 1948, die politischen und juridischen Rechte sind Teil der internationalen Pakte von 1966. Die allgemeinen Zivilrechte bzw. Freiheitsrechte umfassen u.a. die Freiheit des Lebensstils, die Redefreiheit (hier zugespitzt auf religiöse und moralische Rede), Versammlungs- und Pressefreiheit, das Recht auf Privatsphäre, Religionsfreiheit und Schutz vor Folter. Die religiöse Dimension wird in drei Unterpunkte gegliedert: Trennung von Staat und Kirche, Religionsfreiheit und Freiheit religiöser Rede. Einer der Gründe für frühere Menschenrechtserklärungen war die Erfahrung von Religionskriegen und -aufständen. Deshalb gilt der Schutz der Person in Bezug auf die Religion als ein besonderes Thema der Menschenrechte. Die Befreiung der einzelnen Personen wird auch über die Freiheit der morali8 Als diesbezügliche Auswahl von Publikationen aus dem internationalen Projekt »Religion and Human Rights« wird verwiesen auf: J.A. van der Ven / H.-G. Ziebertz (eds.), Tensions within and between Religions and Human Rights, Leiden/Boston 2012; Dies. (eds.), Human Rights and the Impact of Religion, Leiden/Boston 2013; H.-G. Ziebertz / E.H. Ballin (eds.), Freedom of Religion in the 21st century. A Human Rights Perspective on the Relation between Politics and Religion, Leiden/ Boston 2015. 9 Vgl. dazu: www.rhr.theologie.uni-wuerzburg.de. 10 Weitere Hinweise zur Durchführung der Studie und zur Stichprobe: H.-G. Ziebertz / T. Benzing, Menschenrechte – trotz oder wegen Religion? Eine empirische Studie unter jungen Christen, Muslimen und Nicht-Religiösen, Münster 2013, bes. 27–64.

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schen Rede, Freiheit des Lebensstils und dem Recht auf Privatheit ausgedrückt. Im öffentlichen Bereich werden die modernen Auffassungen von Individualität und Freiheit durch die Versammlungsfreiheit und die Pressefreiheit unterstrichen. Im Folgenden einige Beispielitems zur Kategorie »Zivile Rechte«: 31 Zivile Rechte 31-1 Unsere Gesetze müssen sicherstellen, dass jeder Bürger das Recht hat, nach seiner eigenen moralischen Orientierung zu leben. 31-2 In Bezug auf Sterbehilfe müssen Politiker unabhängig von Vorstellungen einer religiösen Autorität entscheiden. 31-3 Es muss rechtlich möglich sein, z. B. in einem Kabarett, religiöse Menschen lächerlich zu machen. 31-4 Moralische Normen unserer Gesellschaft müssen im Unterricht kritisch diskutiert werden können. 31-5 Es muss Minderheitsgruppen möglich gemacht werden, für Protestveranstaltungen das Rathaus zu benutzen. 31-6 Zeitungsredakteure müssen die Freiheit haben, in einer Zeitung auch extreme Auffassungen ausdrücken zu können.

Das Recht auf Leben zielt auf die Unversehrtheit der Person und den Schutz des Lebens unter allen Umständen. In dieser Untersuchung wird das Lebensrecht in der folgenden Weise angesprochen: Wann und unter welchen Bedingungen soll es erlaubt sein, das unbedingte Recht auf Leben einzuschränken? Beispiele für Ausnahmen sind Abtreibung und Sterbehilfe (international: Euthanasie); sie werden in vielen Ländern öffentlich kontrovers diskutiert. Politische und juridische Rechte werden unter anderem mithilfe von Items, die den Schutz von Flüchtlingen, und Items, die das Recht zu öffentlichen Protesten und Demonstrationen behandeln, gemessen. 34 Politische Rechte (PR) 34-1 Die Polizei darf keine Gewalt gegen politische Demonstranten anwenden. 34-2 Die Regierung muss es politischen Flüchtlingen ermöglichen, frei reisen zu dürfen. 34-3 Die Regierung darf kein Gesetz beschließen, das alle Formen öffentlichen Protests verbietet. 34-4 Die Regierung ist verpflichtet, politischen Flüchtlingen einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. 35 Juridische Rechte (JR) 35-1 Terroristen Zugang zu einem Anwalt zu gewähren ist notwendig, um ihre individuellen Rechte zu schützen. 35-2 Ein Massenmörder muss darüber informiert werden, dass er vor Gericht das Recht hat, zu schweigen.

Die statistischen Analysen werden mit SPSS 23 ausgeführt. Um herauszufinden, welche Struktur die Befragten den Aussagen hinterlegen, werden zunächst explorative Faktoranalysen durchgeführt. In einem zweiten Schritt werden aus den Faktoren Skalen gebildet, deren Zuverlässigkeit

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geprüft wird (Reliabilität). In einem dritten Schritt werden die Mittelwerte der Skalen analysiert und mittels Anova-Scheffé Tests geprüft, ob Unterschiede signifikant sind.11 4 Empirische Befunde Die erste empirische Frage, die im Folgenden beantwortet werden soll, lautet: Welche konzeptuelle Struktur entdecken die befragten Jugendlichen in den 30 Einzelaussagen zu den Menschenrechten,12 d.h. welche Aussagen gehören nach Meinung der Jugendlichen zusammen? Dies wird mittels explorativer Faktorenanalyse erhoben.13 Diese Untersuchung konzentriert sich auf Christen und Muslime, so dass für jede Gruppe eine anhand der oben genannten Kriterien separate Faktorenanalyse durchgeführt wird. 5 Die Struktur der Menschenrechte unter Christen Die Faktoranalyse für christliche Jugendliche weist acht Faktoren auf. Alle Ladungen unterscheiden sich ausreichend in den Faktoren. Faktor 1 (Recht auf Leben – Erlaubtheit von Abtreibung) beinhaltet alle vier Items des Rechts auf Leben und die Frage, ob und unter welchen Bedingungen das Lebensrecht durch eine Abtreibung eingeschränkt werden darf. Diese Items geben verschiedene Gründe für eine bewilligte Abtreibung an. Abtreibung ist vor allem in Ländern mit einer christlichen Bevölkerungsmehrheit ein öffentliches Thema. Debatten in Spanien und Italien, aber auch in Deutschland haben in den letzten Jahren deutlich gezeigt, wie wichtig gerade dieses Thema als Teil des Rechts auf Leben genommen wird. Die EU hat Irland die Einhaltung ihrer (im Gegensatz zum EU Standard) äußerst strikten Abtreibungsgesetze genehmigt, als Irland 2009 für den EU Lissabon Vertrag gestimmt hat. Faktor 2 (Recht auf moralische Freiheit) wird durch zwei Items über die Trennung von Kirche und Staat ausgedrückt. Diese Items verdeutlichen, dass Politiker sich ihre eigene Meinung zu Euthanasie und Abtreibung bilden sollten, unabhängig von irgendwelchen religiösen Interessen. 11 Zur Begrenzung des Umfangs wird auf tabellarische Darstellungen verzichtet. 12 Diese Frage impliziert, dass das primäre Interesse nicht in Zustimmungs- oder Ablehnungswerten zu bestimmten Menschenrechten liegt. Dazu sei u.a. verwiesen auf H.-G. Ziebertz / M. Reindl, Christian and Muslim Youth in Germany about Human Rights, in: Panorama. Intercultural Annual of Interdisciplinary Ethical and Religious Studies Research 23/2011, 164–182; H.-G. Ziebertz / T. Benzing, 2013 (s. Anm. 10); H.-G. Ziebertz, Empirische Befunde zur Einstellung christlicher und muslimischer Jugendlicher zu den Menschenrechten, in: M.L. Pirner / J. Lähnemann / H. Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung, Berlin 2015, 160–176. 13 Zu methodischen Einzelheiten vgl. Anm. 10.

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Zwei Items beinhalten Aussagen über sexuelle Freiheit als Teil der Freiheit des Lebensstils, und ein Item drückt die Freiheit der moralischen Rede aus. Dieser Punkt wird wahrscheinlich von der Auffassung von Selbstverantwortlichkeit beeinflusst; jeder sollte selbst seine eigenen Entscheidungen zu den wichtigen Lebensaspekten treffen können. Faktor 3 (Rede- und Versammlungsfreiheit) beinhaltet zwei Items über die Pressefreiheit und zwei über die Versammlungsfreiheit. Beide Aspekte können als die Quintessenz eines modernen demokratischen Staates verstanden werden. Faktor 4 (Asylrecht) ist ein Faktor, der aus zwei Aussagen über politische Rechte besteht, die als Rechte für Asylbewerber präzisiert werden. Sie sind in Europa ein heißes Eisen. In vielen westeuropäischen Staaten hat der Umgang mit den Flüchtlingen große wahlpolitische Auswirkungen. Faktor 5 (juridische Rechte) beinhaltet zwei Items über Rechte, die jedem Menschen zustehen, auch wenn er/sie in einem schweren Fall gegen das Gesetz verstoßen hat (Terroristen, Mörder). Der moderne Rechtsstaat verpflichtet sich, auch die Rechte derjenigen zu schützen, die erheblich gegen sie verstoßen haben. Gerade dieser Grundsatz wird in Reden von Populisten teilweise verwässert. Faktor 6 (Persönlichkeitsrecht) betrifft die Frage nach der Privatsphäre. Die beiden Items sagen aus, dass die Polizei ohne richterliche Verfügung z.B. keine privaten Autos oder Wohnungen durchsuchen darf. Faktor 7 (Religionsfreiheit) enthält zwei Items, die die Thematik der Religionsfreiheit in negativer Hinsicht behandeln. Schulgebete sollten verboten werden und Politiker sollten Abstand zu religiösen Gemeinschaften halten. Das zweite Item ist der deutschen Gesellschaft eher fremd, weil Staat und Kirche in vielerlei Hinsicht kooperieren. Der Inhalt des ersten Items hat 2009 für einige Aufregung gesorgt, als ein Gericht in Berlin entschied, dass Schulen einen Gebetsraum für muslimische Schüler bereitstellen müssen. Ein muslimischer Schüler hatte in diesem Fall für sein Recht auf Ausübung der Religion geklagt.14 Und zum Schluss: Faktor 8 (Recht auf Leben – Euthanasie) beinhaltet zwei Items, in denen eine Einschränkung des Rechts auf Leben thematisiert wird, wenn etwa bestimmte Gründe für eine Sterbehilfe akzeptiert werden. Die Frage, ob Sterbehilfe erlaubt sein soll und wenn ja, unter welchen Bedingungen, ist eine andauernde Debatte. 2008 hat ein Fall in Italien für internationale Aufmerksamkeit gesorgt, als die lebenserhaltenden Maschinen eines Patienten im Wachkoma nach 15 Jahren abgeschaltet wurden. Der Papst hatte öffentlich dagegen protestiert. 14 Vgl. dazu H.-G. Ziebertz, Religionsfreiheit in der Pluralität, in: Ders. (Hg.), Religionsfreiheit. Positionen – Konflikte – Herausforderungen, Würzburg 2015, 11–34; Ders., Religionsfreiheit angesichts der Vielfalt religiöser Bekenntnisse, in: F. Dünzl / W. Weiß (Hg.), Umbruch – Wandel – Kontinuität (312–2012). Von der Konstantinischen Ära zur Kirche der Gegenwart, Würzburg 2014, 219–247.

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6 Die Struktur der Menschenrechte unter Muslimen Das Ergebnis der Faktorenanalysen unter Muslimen weist sechs Faktoren auf. Alle Ladungen unterscheiden sich ausreichend in den Faktoren. Faktor 1 (Religions- und Pressefreiheit) repräsentiert eine Kombination von verschiedenen Zivilrechten. Dieser Faktor beinhaltet die Freiheit der religiösen Rede, Religionsfreiheit und Pressefreiheit. Der Inhalt dieser Items gibt an, dass es erlaubt sein soll, sich sowohl über religiöse als auch über atheistische Personen lustig zu machen, dass Gebete in öffentlichen Schulen verboten werden sollten und dass extreme Ansichten in der Presse erscheinen dürfen. Im Kontext der ›political correctness‹ kann es allerdings als ›nicht-korrekt‹ gelten, sich über bestimmte Personengruppen lustig zu machen und extreme Meinungen in der Presse zu vertreten. Wie problematisch sich eine Satire auswirken kann, haben beispielsweise die weltweiten Proteste von Muslimen nach den Mohammed-Karikaturen in der dänischen Presse gezeigt und Anfang 2016 der Konflikt mit dem türkischen Präsidenten Erdogan aufgrund einer Satiresendung im ZDF. Faktor 2 (Recht auf Leben – Abtreibung) beinhaltet vier Items, die das Recht auf Leben in Relation zur Abtreibung konkretisieren. In diesem Faktor werden soziale und gesundheitliche Items zusammengefasst, die als Zustimmung zu einer Abtreibung angegeben werden. Faktor 3 (Freiheit der persönlichen Lebensanschauung) umfasst ein Item über die Freiheit des Lebensstils, ein Item über die Freiheit der moralischen Rede und zwei Items über das Recht auf Privatheit. Jeder sollte seinen eigenen moralischen Standpunkt wählen dürfen und Kinder sollten die Möglichkeit haben, jede moralische Anschauung in der Schule zu diskutieren. Diese beiden Items stehen für ein Konzept der moralischen Freiheit, das mit dem Persönlichkeitsschutz verbunden ist. Die Exekutive des Staates (die Polizei) darf sich nicht in die privaten Angelegenheiten der Bürger einmischen, wenn kein dringender Verdacht vorliegt. Freiheit wird in diesem Faktor als individuelle Freiheit ausgedrückt. Faktor 4 (Asylrechte) enthält zwei Items über politische Rechte. Die Items betreffen die Rechte von Asylbewerbern. Der Inhalt des Faktors 5 (Recht auf Leben – Euthanasie) bezieht sich auf die Sterbehilfe, deren Erlaubtheit als Einschränkung des Lebensschutzes aufgefasst werden kann. Nach diesen Items kann ein Arzt entweder Euthanasie grundsätzlich befürworten, oder nur dann, wenn keine medizinische Hilfe mehr möglich ist. Faktor 6 (juridische Rechte) beinhaltet schließlich Aussagen, nachdem es jedem Menschen zusteht, elementarste Grundrechte gewährt zu bekommen.

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7 Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Muslimen Unterschiede in der Struktur zwischen Christen und Muslimen können nur in der Gruppe der Zivilrechte ausgemacht werden. Ansonsten zeigt die Analyse, dass junge Muslime und Christen eine vergleichbare Strukturierung von Rechten vornehmen, so dass die gemeinsamen Faktoren verglichen werden können.15 Sowohl bei Christen als auch bei Muslimen werden zwei Faktoren für das Recht auf Leben gebildet. Der erste Faktor beinhaltet die vier Items zu Abtreibung. Christen halten eine Abtreibung eher für »erlaubt« (M=3,23), während Muslime »teils-teils« antworten (M=2,96). Der zweite Faktor umfasst die beiden Items zum Recht auf Sterbehilfe. Junge Muslime akzeptieren Sterbehilfe eher weniger (M=2,82), während christliche Befragte diese leicht befürworten (M=3,23). Das bedeutet, dass junge Muslime in beiden Fällen mehr für den unbedingten Lebensschutz eintreten als junge Christen. Der dritte Faktor, den beide Gruppen gemeinsam haben, betrifft politische Rechte, genauer, Rechte für Flüchtlinge und Asylsuchende. Christen urteilen über diese Rechte leicht negativ (M=2,89), Muslime dagegen leicht positiv (M=3,28). Der Unterschied kann sich aus der Erfahrung der Migration der Familien der muslimischen Schüler heraus erklären, aber auch durch Berichterstattung in den Medien über den Umgang mit Asylbewerbern, von denen viele »Glaubensgeschwister« sind. Als Minorität sind Muslime diesen Themen gegenüber mehr sensibilisiert. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen in der Bewertung der politischen Rechte ist hoch signifikant. Der vierte Faktor umfasst juridische Rechte, in denen es um Grundrechte geht, die selbst Massenmördern und Terroristen zustehen sollten. Wiederum sind Christen leicht negativ eingestellt (M=2,83), während Muslime leicht positiv reagieren (M=3,12). Vergleicht man diese Tendenzen, sind Christen liberaler hinsichtlich des Lebensschutzes, wenn sich dieser auf die Frage der Erlaubtheit von Abtreibung und Sterbehilfe bezieht. Muslime sind die stärkeren Lebensschützer. Muslime bewerten auch die politischen und juridischen Rechte positiver als Christen. Es ist fraglich, ob dies mit den religiösen Wurzeln der Schüler ausreichend erklärt werden kann. Es ist anzunehmen, dass auch das soziale Milieu relevant ist, etwa im Bereich der politischen Rechte (Asylrecht), das aufgrund der Migrationsbewegungen Muslime mehr betrifft als Christen.

15 Dazu wurden Anova Scheffé Tests durchgeführt. Die Mittelwerte (M) beziehen sich auf eine 5-Punkt Skala: 1 = starke Ablehnung, 2 = Ablehnung, 3 = teils-teils, 4 = Zustimmung und 5 = starke Zustimmung.

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8 Ausblick Die Debatte über die Menschenrechte ist eine normative Diskussion darüber, welche Standards in einer globalen Welt Gültigkeit besitzen sollten. Die UN hat mit der Deklaration von 1948 und den nachfolgenden Pakten wichtige Schritte unternommen, um zu völkerrechtlich verbindlichen Standards zu kommen. Es wird zwar politisch das Ideal vertreten, die Menschenrechte seien unteilbar und – ungeachtet kultureller Unterschiede – universal gültig, aber die Geschichte und die Praxis zeigen, dass die Menschenrechte interessengeleitet interpretiert und angewendet werden, sowohl auf politischer als auch auf individueller Ebene. Diese Untersuchung hat aufgezeigt, dass christliche und muslimische Schüler ihre eigene Ansicht zur Gleichheit, Unteilbarkeit und Interdependenz der Menschenrechte haben. Aus der Liste von 30 Menschenrechten bilden die Christen acht und die Muslime sechs verschiedene Gruppen von Menschenrechten. Die Anerkennung dieser Rechte ist unterschiedlich, wobei junge Muslime den Schutzgedanken, der ja der Kern der Menschenrechte ist, insgesamt etwas stärker befürworten. Ein Grund kann der gesellschaftliche Status als Minorität in der Gesellschaft sein, der durch Kultur und Religion vermittelt wird. Die Erklärung wäre dann: Weil Muslime mit rund fünf Prozent Bevölkerungsanteil eine Minderheit sind, legen sie größeren Wert auf politische und juridische Rechte genauso wie auf Rechte, die die Privatsphäre und persönliche Freiheit betreffen. Dies sind Rechte, die die Mehrheitsgesellschaft eher selbstverständlich voraussetzt und genießt. Eine Minorität hat hingegen ein größeres Bedürfnis, dass diese Rechte auch für sie gelten und, falls nötig, eingeklagt werden können. Wenn eine Kultur der Menschenrechte behalten und entfaltet werden soll, braucht es dafür eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Erziehung und Bildung sind wichtige Instrumente für die Sensibilisierung hinsichtlich der Bedeutung der Menschenrechte. Bildung stattet Jugendliche mit Wissen über die Menschenrechte aus und sie verhilft zu Einsicht in die Bedeutung der Menschenrechte für das Individuum und die Menschheit als Ganze. Es fällt nicht schwer, schlechte Beispiele für eine Politik zu sammeln, die verdeutlicht, was geschieht, wenn die Menschenrechte ignoriert werden bzw. wenn Staaten nichts oder zu wenig dafür tun, dass Menschen diese Rechte wahrnehmen können.16 Schlechte Beispiele lassen verstehen, warum die Menschenrechte ein nicht rückgängig zu machender Schritt in der modernen Zivilisation sein sollten. Bildung über Menschenrechte greift zu kurz, wenn sie sich auf die Weitergabe von Informationen beschränkt. Notwendig ist ein problemorientiertes Lernen, das die existentielle Bedeutung der Menschenrechtsidee erschließt, auf der das moderne Zusammenleben aufbaut. 16 Beispiele in den Länderanalysen in: H.-G. Ziebertz / G. Crpic (eds.), International Studies about Religion, Human Rights and Youth, Heidelberg 2015.

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In einer Zeit, in der populistische Strömungen Zulauf verzeichnen, haben es manche Rechte schwer. Populistisch lässt sich leicht dafür werben, dass zum Beispiel gefährliche Kriminelle nicht dieselben Rechte vor Gericht beanspruchen können sollten, sondern auch mal ein »kurzer Prozess« erlaubt sein müsse. Dass damit das grundlegende Recht verletzt wird, allen Menschen eine gleiche Behandlung zukommen zu lassen, unabhängig davon, wie sie sich verhalten haben, wird leichtfertig preisgegeben. Ebenso bleibt die Anerkenntnis auf der Strecke, dass allen Menschen die gleiche Würde zukommt.17 Genauso leichtfertig wird oftmals der Schutz vor Diskriminierung behandelt. Gilt das Recht der Selbstbestimmung in der eigenen Lebensgestaltung auch für Homosexuelle? Einige Staaten unterlaufen dieses Recht durch ihre praktische Politik, andere gehen radikal gegen unerwünschte Lebensstile vor und greifen selbst zu Inhaftierungen. Leider sind auch einige Religionsgemeinschaften beteiligt, etwa die Russisch-Orthodoxe Kirche, aber auch die Römisch-Katholische Kirche, die zwar das »so Sein« nicht verurteilt, aber eine entsprechende Praxis. Letztes Beispiel für eine angespannte Situation hinsichtlich der Menschenrechte ist die schon seit einigen Jahren schwindende Bereitschaft in der Bevölkerung (trotz vieler guter Gegenbeispiele), Flüchtlinge und Asylsuchende, die an Leib und Leben bedroht sind, eine Tür zu öffnen. Ohne Frage gibt es eine Reihe ungelöster Probleme auf der internationalen politischen Agenda, aber das Schicksal der Menschen, die alles aufgeben, um ihr Leben zu retten, darf diejenigen nicht unberührt lassen, die ansonsten eine Kultur der Menschenrechte verteidigen. Die Menschenrechte sind nicht nur dann von Bedeutung, wenn man selbst (als Land oder Individuum) einen Vorteil davon hat, ihre Geltung ist vielmehr zu verteidigen, damit sie immer dann in Anspruch genommen werden können, wenn Freiheitsrechte bedroht sind. Daraus ergibt sich eine Verpflichtung für den Staat und die Zivilgesellschaft, deren Schutz und Ermöglichung insgesamt im Auge zu behalten. Die Ereignisse in der gegenwärtigen Welt fordern auf vielfache Weise heraus, das Verständnis der Menschenrechte zu vertiefen. Der Auftrag an die Bildung lautet allgemein, eine verantwortungsvolle Einstellung gegenüber den Menschenrechten zu entwickeln, eine aktive positive Haltung gegenüber den Menschenrechten zu fördern, die Bereitschaft zu wecken, sich für ihre Gültigkeit einzusetzen, und die Courage, ihren Missbrauch zu bekämpfen.18 Keine partikulare Religion ist in der gegenwärtigen Welt in der Lage, ein universales Schutzsystem bereitzustellen, wie es 17 Vgl. H.-G. Ziebertz / A. Unser / S. Döhnert, Predictors of attitudes towards human dignity: an empirical analysis among youth in Germany, in: H.-G. Ziebertz / Carl Sterkens (eds), The legitimization of civil human rights on the grounds of human dignity and religious considerations: empirical research and theoretical reflections, Leiden 2016. 18 Vgl. A. Sjöborg / H.-G. Ziebertz (eds.), Human Rights, Religion and Education, Heidelberg 2016.

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die Menschenrechte sein wollen. Daher ist die religiöse Bildung aufgefordert, ihren Beitrag zu formulieren, wie eine Unterstützung der Menschenrechte aus einer religiösen Perspektive Wirklichkeit werden kann. Dr. Hans-Georg Ziebertz ist Professor für katholische Religionspädagogik an der Julius-Maximilian-Universität Würzburg.

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Zum Recht des Kindes auf religiöse Bildung »… so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen sich viele Blüten schenken lässt …« (Rainer Maria Rilke) ›Kindheit heute‹ bedeutet, auch in weltanschaulicher und religiöser Hinsicht pluralen Einflüssen ausgesetzt zu sein. Diese Vielfalt als Fülle und Bereicherung des Lebens zu sehen, setzt voraus, nicht mit Orientierungslosigkeit, Irritationen oder gar Abgrenzungen (Fundamentalismen) reagieren zu müssen, sondern ordnende Strukturmuster sichten, mit WegbegleiterInnen kompetent Diskurse führen, eigene Deutungen finden und zugleich pluralitätsfähig1 werden zu können. Religiöse Bildung ist demnach ein Prozess, ein Weg2, der gerade der gesellschaftlichen Ermöglichung bedarf, damit der/die Einzelne in religiöser Hinsicht quasi nicht im Blätterwind untergeht, sondern im Blütenmeer wächst. So ist gerade auch in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht evident, dass Kinder in ihrem geistigen bzw. spirituellen Entwicklungsprozess unter Achtung ihrer Würde als Personen unterstützt und begleitet werden. Es liegt daher auf der Hand, ein Recht auf religiöse Bildung für selbstverständlich zu halten. Und doch scheint gerade dieses umstrittener und angefochtener denn je. Allgemein zählt das Recht auf Bildung zu den subjektiven Rechten, die ohne Ausnahme jedem Menschen gewährt werden müssen. So wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 in Artikel 26 das menschliche Grundrecht auf Bildung deklariert. Es heißt dort in Absatz 2: »Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.« Anknüpfend an dieses Grundrecht wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Klärung bzw. Reflexion der religiösen Dimension des eigenen Selbst als grundlegend für die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gesehen wird und damit auch das Recht auf religiöse Bil1 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, Gütersloh 2014. 2 Vgl. auch Peter Graf, Religiöse Bildung als Weg. Selbstfindung in einer Welt der kulturellen Vielfalt, Frankfurt 2016.

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dung zu den Grundrechten des Menschseins zu rechnen ist. Unabhängig davon, ob sich ein Mensch positiv, negativ oder gleichgültig/unentschieden zu einer möglichen religiösen Dimension seiner/ihrer selbst verhält, bedarf er/sie doch der Möglichkeit zur Information, Reflexion und freien Entscheidungsmöglichkeit in einem freiheitlichen Sinne, wie dies im Grundgesetz zur positiven und negativen Religionsfreiheit (Art. 4 GG) garantiert ist. So wird auch in der Kinderrechtskonvention von 1989 in Artikel 14 deklariert, dass »das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit« zu achten sei. Zu Recht betont Schweitzer, dass das Kind damit nicht nur einen »Schutz vor religiöser Überfremdung […], sondern vor allem auch eine Begleitung seiner religiösen Entwicklung«3 brauche. Im Folgenden soll daher das Recht auf religiöse Bildung näher und zugleich auch weiter als nur im juristischen Sinn betrachtet und mit Blick auf den Religionsunterricht in Deutschland konkretisiert werden, wobei in einem ersten Schritt das frühkindliche Recht auf religiöse Bildung im Fokus steht. Bei all dem ist zunächst nach dem inhärenten Zusammenhang von Bildung und Religion zu fragen. 1 Klärungen zum Begriff religiöser Bildung Die Frage nach dem Recht auf religiöse Bildung schließt ein, den äußerst komplexen Diskurs um die weiten Begriffe von Religion, Theologie, aber auch Spiritualität und Bildung in den Blick zu nehmen. Dies kann an dieser Stelle jedoch nur sehr verkürzt geschehen4: Für die Fragestellung des Rechts auf religiöse Bildung ist es auch wichtig, den Zusammenhang zum religiösen Lernen bzw. zur religiösen Erziehung deutlich zu machen, d.h., es geht auch immer um Akzente lebensgeschichtlich bedingter religiöser Sozialisation, die im Kontext eigener familiärer oder gemeindlicher Erfahrungen als religiös bildend anzusehen sind. Darüber hinaus ist jedoch unabdingbar, im theologisch fundierten Bildungsverständnis das zentrale Kriterium christlicher Freiheit und damit die Subjektorientierung grundzulegen, um letztlich Bildung als Selbst-Bildung verstehen zu können. Gemeint ist, dass über religiöse Sozialisations- und Erziehungsvorstellungen hinaus das Individuum als befähigt und berechtigt gesehen wird, in kritische Distanz zu treten, um sich selbst reli3 Vgl. auch Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion. Gütersloh 2000, 132. 4 Einen Überblick zur Fülle des hierzu geführten Diskurses bietet: Martin Rothgangel / Robert Schelander, Bildung, in: https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/daswissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/ bildung/ch/bfbb54107f7bea5f2f109815854937fb; vgl. bes. auch Friedrich Schweitzer, Menschenwürde und Bildung. Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive, Theologische Studien Neue Folge 2, Zürich 2011; Ders., Bildung (Theologische Bibliothek 2), Neukirchen-Vluyn 2014.

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giös bzw. theologisch oder auch weltanschaulich frei zu verorten. Tradition und Subjekt stehen in einem wechselseitigen Verhältnis der gegenseitigen, nicht spannungsfreien Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, mit der Welt. Hierzu bedarf es demnach sowohl fachlicher Kompetenzen einer kognitiven Durchdringung von religiösen/theologischen Fragestellungen als auch einer selbstreflexiven Beziehung, die – durchaus im Sinne emotionaler Bildung5 – auch religiöse Erfahrungen einbezieht. Auf der Basis einer kritisch-konstruktiven Positionierung zur Welt impliziert religiöse Bildung dann auch Verhältnisbestimmungen im Sinne ethischer Bildung bzw. der Genese von Werthaltungen. 2 Das Recht auf religiöse Bildung als Ermöglichung eigener Weltbildkonstruktionen 2.1 ›Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn‹ (Julian Barnes) Die Überschrift suggeriert einen Widerspruch: Wie kann man etwas vermissen, an dessen Existenz man nicht glaubt? Indem der Bereich des Religiösen doch eher dem Möglichen als dem Wirklichen zuzurechnen ist, macht die Überschrift im Blick auf die Ausgangsfrage Folgendes deutlich: Religion ist weiter zu fassen als bekennender Glaube. Auch ein Sich-Vorstellen-als-ob, ein Wünschen und ein Sehnen zu thematisieren und zu reflektieren im Sinne einer Option, Grenzen des Wirklichen zu überschreiten, können Aspekte religiöser Bildung sein, die der Identitätsfindung unabhängig von einem bekenntnismäßigen Glauben förderlich sind. Schon von klein auf stellen sich Kinder Fragen, die zu klären versuchen, was wirklich und was möglich ist. Anfänglich sind die Phänomene noch im Spielraum dessen einzuordnen, dass ein Kind zu verstehen versucht, wie es möglich sein kann, einerseits die Stimme eines räumlich entfernten Menschen durch das Telefon zu hören und dies für wirklich zu halten, während es andererseits begreifen soll, dass seine Angst vor dem Drachen im kindlichen Kleiderschrank völlig unbegründet ist. Diese Beispiele der Klärung und Etablierung eines realitätsnahen Wirklichkeitsverständnisses begleiten den Menschen ein Leben lang, denn auch für den naturwissenschaftlich gebildeten und sogenannten aufgeklärten Erwachsenen gibt es Phänomene, die nur schwer einzuordnen sind, wie zum Beispiel das Erstaunen darüber, dass ein Mensch mit einer infausten Prognose doch von der Krankheit wieder genesen kann. Unabhängig von der weltanschaulichen Positionierung spielen demnach Themen eine Rolle, die letztlich eine religiöse Dimension haben, wenn Religion mit Paul Tillich so verstanden wird, dass es hier um Fragen 5 Vgl. Elisabeth Naurath, Emotionale Bildung, in: https://www.bibelwissenschaft. de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/lexikon/sachwort/an zeigen/details/emotionale-bildung/ch/96bece9716b2fb431242d6300307d7db/.

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geht, die den Menschen und das Menschsein unbedingt angehen. Von daher kann religiöse Bildung als lebenslange Aufgabe und Herausforderung gesehen werden: »Die Situation von uns Menschen ist die, dass wir zeitlebens uns selbst eine Frage sind, dass wir zeitlebens an der Antwort feilen – und diese Antwort ist unser Leben.«6 Diese Suche nach Antworten ist eingebettet in lebensgeschichtliche Erfahrungskontexte von theologischen oder weltanschaulichen Antworten der Tradition, in die man hineingeboren wurde oder aufgrund von Immigration hineingezogen und sozialisiert ist. 2.2 Implizite und explizite religiöse Bildung im frühen Kindheitsalter Religiöse Fragen des Woher, des Warum und des Wohin sind kindliche Fragen, die jungen Eltern nicht selten zu schaffen machen. Schon früh – nämlich im Kleinkindalter – beginnt die Suche nach dem Verstehen des Selbst, das ein Kind im ursprünglichen Sinn des Wortes ›Religion‹ (religere: sich rückbeziehen) nach seinem Leben fragen lässt. Mit Schweitzer lassen sich fünf große Fragen im Aufwachsen der Kinder festhalten7, die als Frage nach dem eigenen Ich, nach Gott, dem Tod, der Ethik und den anderen Religionen grundlegenden Charakter haben. Demgemäß sieht Georg Langenhorst das Religiöse als Grunddimension des Menschen: »Auch in ihr geht es um Wahrnehmung, Empfindung, Ausdruck und Gestaltung von Wirklichkeit in all ihren Facetten, ja mehr noch: um das Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost.«8 Die Weite dieses zugrundeliegenden Religionsbegriffs, der sich noch nicht substantiell auf eine bestimmte Religion oder Konfession beziehen lassen muss, korrespondiert mit der Ausgangsthese einer religiösen Grunddimension als anthropologischer Konstante, die sich in den Fragehaltungen ausdrückt. Diese Interdependenzen der Entwicklung des kindlichen Weltbildes mit Fragen der religiösen Entwicklung sind seit der Rezeption Jean Piagets im religionspädagogischen Diskurs verwurzelt und in breitem Umfang durchaus auch kontrovers diskutiert worden.9 Die Komplexität der Entwicklung des kindlichen Gottesbildes zeigt sich daran, dass Einflüsse der Sozialisation (Religion, Kultur, Bildungshintergrund, Sprachfähigkeit, Geschlecht etc.) religiöse Gefühle, Gedanken, 6 Albert Biesinger / Christoph Schmitt (Hg.), Gottesbeziehung. Hoffnungsversuche für Schule und Gemeinde, Freiburg 1998, 41. 7 Vgl. auch Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion. Gütersloh 2000, 27ff. 8 Georg Langenhorst, Kinder brauchen Religion. Orientierung für Erziehung und Bildung, Freiburg 2014, 11. 9 Vgl. die grundlegende Zusammenstellung relevanter Texte zum Thema: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen. Ein Grundkurs, Stuttgart 2000.

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Einstellungen und Haltungen prägen. Aber auch die lebensgeschichtliche Entwicklung mit Beginn der Kleinkindzeit macht deutlich, dass religiöse Bildung noch nicht bzw. nicht vorrangig mit dezidiert theologischen – hier christlichen – Inhalten bzw. kirchlichen Bildungsangeboten gleichzusetzen ist. Im Sinne einer Unterscheidung von expliziter religiöser Bildung und impliziter religiöser Bildung10 kann die konkrete Vermittlung bekenntnisgeprägter Inhalte als explizit verstanden werden, während implizite religiöse Bildung das Umgehen von Eltern oder Erziehungspersonen mit ihren Kindern auf der Basis eines religiös geprägten Menschenbildes meint. Hierbei geht es also um eine Haltung und Einstellung, die dem Glauben entspricht – ohne ihn bekenntnismäßig auszuformulieren. Weniger verbal als nonverbal, weniger explizit konfessorisch als implizit ethisch – so könnte auf den Nenner gebracht werden, wie sich religiöse Bildung im frühkindlichen Alter vollziehen kann, weil die sprachliche Entwicklung des Kindes quasi einer anderen Form religiöser Verkündigung bedarf. Demgegenüber ist eine explizite religiöse Bildung im Sinne familiärer Sozialisation sowohl in einem identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Sinn intendiert. ›Wenn dein Kind dich morgen fragt‹ – diese recht freie Übersetzung aus Dtn 6, 20 erinnert im Rahmen der jüdischen PessachTradition an den familiären Ritus der nachfragenden Nachwuchsgeneration, warum die älteren Familienangehörigen sich an bestimmte religiöse Gebote halten.11 Hintergrund dieser Frage religiöser Identitätsbildung ist allerdings ein Kontext, der von familiärer religiöser Sozialisation ausgeht und im sozialisatorischen Sinn die nachwachsende Generation in eine Glaubensgemeinschaft zu integrieren sucht. Dies geschieht zum einen über Narration, indem gerade in einem entwicklungspsychologisch mythischen Stadium heilige Texte auch Kindern kindgerecht vermittelt werden. So konnte jüngst gezeigt werden, dass – trotz deutlich differierender hermeneutischer Zugänge – in den abrahamitischen Religionen speziell für Kinder konzipierte Ausgaben von Tora, Bibel und Koran im Sinne (früh-)kindlicher religiöser Bildung vorzufinden sind.12 Zum anderen geschieht dies auch über rituelle Formen wie Taufe oder Beschneidung (im Judentum wie auch im Islam), die im Sinne von ›rites de passage‹ gewissermaßen einen geistlich/geistigen Herrschaftswechsel mit Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft darstellen.

10 Im Rekurs auf Michael Domsgen, Familie und Religion. Grundlagen einer religionspädagogischen Theorie der Familie (Arbeiten zur Praktischen Theologie 26), Leipzig 2004. 11 Vgl. Karin Finsterbusch, Die kollektive Identität und die Kinder. Bemerkungen zu einem Programm im Deuteronomium, in: Martin Ebner u.a. (Hg.), Jahrbuch für Biblische Theologie – Gottes Kinder. Bd. 17, Neukirchen-Vluyn 2002, 99–120. 12 Vgl. Georg Langenhorst / Elisabeth Naurath (Hg.), Kindertora, Kinderbibel, Kinderkoran. Neue Chancen für (inter)religiöses Lernen, Freiburg 2017.

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2.3 Zur Relevanz religiöser Bildung im familiären Kontext Grundsätzlich ist die hohe Relevanz frühkindlicher Bildung im pädagogischen und gesellschaftspolitischen Diskurs der letzten beiden Jahrzehnte unabdingbar deutlich geworden – einhergehend mit der Erkenntnis, dass insbesondere der familiäre Kontext als primäre Sozialisationsinstanz hinsichtlich der Entwicklung von Weltanschauungen und der Genese von Wertvorstellungen biographisch prägenden Einfluss hat.13 Insofern erstaunt einerseits das empirische Forschungsdesiderat angesichts der schon lange etablierten Meinung der für den Lebenslauf hohen Bedeutung der Primärsozialisation14, während andererseits die Problematik der Erforschung von Einflüssen dieser der Privatsphäre zugeordneten Kontexte als Bedingungsgrund bleibender Intransparenz überzeugt. Der große Bereich religiöser familiärer Sozialisation in den ersten Lebensjahren bleibt mit wenigen Ausnahmen15 forschungswissenschaftlich weiterhin eine ›terra incognita‹, ein unentdecktes Land quasi hinter Wohnzimmergardinen und Kinderzimmertüren. Trotz dieser Einschränkung gibt es Wegmarkierungen, die grundsätzliche Strukturen erkennen lassen und die für das Recht auf religiöse Bildung – gerade angesichts abnehmender religiöser Sozialisation in den Familien – evident werden: So konnten beispielsweise mit der Tübinger Familienstudie von 2000–2002 – insbesondere auf der Basis von Interviews mit Jugendlichen und deren Eltern – Wirkungszusammenhänge religiöser Familienerziehung16 aufgezeigt werden, die für die zukünftige Forschung inspirierend scheinen: – Im positiven wie im negativen Sinn kann die Bedeutung der familiären Sozialisation für den weiteren religiösen oder nicht-religiösen Lebenslauf als evident festgehalten werden. – Der Begriff der Familienreligiosität ist hierbei in einem weiten, d.h. nicht unbedingt kirchlich gebundenen Verständnis zu sehen. Vielmehr können sich familienspezifische Sinngebungen und -rituale manifestieren.17 13 Vgl. Elisabeth Naurath, Die emotionale Entwicklung von Beziehungsfähigkeit fördern. Religionspädagogische Ziele in der Begegnung und im Zusammenleben mit Kindern, in: Bibel und Liturgie 82 (2009), 107–118. 14 Vgl. P.L. Berger / T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1980. 15 Vgl. Christoph Morgenthaler, ›… habe ich das halt für mich alleine gebetet‹ (Mirjam 6jährig). Zur Ko-Konstruktion von Gebeten in Abendritualen, in: Albert Biesinger / Hans-Jürgen Kerner u.a. (Hg.), Brauchen Kinder Religion? Neue Erkenntnisse – Praktische Perspektiven. Weinheim/Basel 2005, 108–121; vgl. Katharina Kammeyer, ›Lieber Gott, Amen!‹ Theologische und empirische Studien zum Gebet im Horizont theologischer Gespräche mit Vorschulkindern, Stuttgart 2009. 16 Friedrich Schweitzer, Wirkungszusammenhänge religiöser Familienerziehung, in: Albert Biesinger / Hans-Jürgen Kerner u.a. (Hg.), Brauchen Kinder Religion? Neue Erkenntnisse – Praktische Perspektiven, Weinheim/Basel 2005, 11–21. 17 Vgl. Ulrich Schwab, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozess der Generationen, Stuttgart 1995.

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– Ergänzende und die familiäre religiöse Sozialisation korrigierende Einflüsse durch sekundäre Sozialisationsinstanzen wie zum Beispiel gemeindepädagogische Initiativen haben nur geringe Wirkungen. Hier gilt es für die Zukunft, kompensatorische Angebote quantitativ, aber insbesondere auch qualitativ so auszuweiten, dass sie für Familien attraktiv werden. – Es gibt das Leben bejahende und bereichernde Formen religiöser Familiensozialisation wie auch negative Formen, die insgesamt einen differenziellen Blick notwendig machen. – Hierbei ist eine Inhaltsdimension von einer Beziehungsdimension zu unterscheiden: Familienkonstellationen und deren systemische Wirkungen sind – latent oder offensichtlich – in ihrer Bedeutung für die religiöse Biographie nicht zu marginalisieren. – Es ist nötig, »eine differenzierende und typologisierende Betrachtungs- oder Ansatzweise«18 in der religionspädagogischen Forschung zu etablieren, um Effekte religiöser Eltern- respektive Familienbildung besser einschätzen zu können. Dies alles macht in seiner Pluriformität informellen Lernens deutlich, dass auch schon im frühkindlichen Alter Angebote religiöser Bildung formaler Art (z.B. in Kindertagesstätten, Kindergärten, gemeindepädagogischer Arbeit etc.) nötig und hilfreich sind, um für die Genese des kindlichen Weltbildes orientierende, ergänzende oder korrigierende Sichtweisen einfließen zu lassen. Die Perspektive eines Rechts auf religiöse Bildung im frühkindlichen Alter, die bislang forschungswissenschaftlich und gesellschaftspolitisch zu wenig wahrgenommen wird, ist daher dringend zu erweitern. 2.4 Herausforderungen religiöser Bildung im ›Tal der Ahnungslosigkeit‹ Dies gilt insbesondere für den gegenwärtigen Kontext, der uns historisch betrachtet vor eine völlig neue Situation stellt: der zwar regional zu differenzierende, aber mehr oder weniger flächendeckende und damit evidente Abbruch religiöser Familiensozialisation christlicher Couleur. Mit einer drastisch sinkenden, familiären religiösen Sozialisation scheinen jedoch auch einhergehende Impulse religiöser Erziehung bzw. Bildung überhaupt verloren zu gehen. Zuletzt hat die V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Titel ›Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis‹ (2014) gezeigt, dass bei heutigen Kindern und Jugendlichen von wachsender Kirchenferne auszugehen ist. Die Bedingungsfaktoren religiöser Sozialisation haben sich gesamtgesellschaftlich betrachtet so stark 18 Schweitzer, Wirkungszusammenhänge religiöser Familienerziehung (s.o. Anm. 16), 19.

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verändert, dass den Heranwachsenden in zunehmendem Maße eine konfessionelle Identität, eine kirchliche Beheimatung sowie religiöse Sprachfähigkeit abhanden gekommen sind: »Fehlende religiöse Erfahrungen, kombiniert mit abnehmendem religiösem Wissen, führen möglicherweise dazu, dass vielen (gerade jüngeren) Menschen ein Leben ohne Religion als selbstverständlich erscheint und dass dementsprechend die Bereitschaft, wiederum eigene Kinder religiös zu erziehen, erkennbar sinkt.«19 Angesichts dieser (religions)soziologischen Entwicklung wird die mittlerweile sehr offen gestellte Frage verständlich, ob die Verfassungsvorgabe zum Religionsunterricht nach Art. 7 GG noch den gesellschaftlichen Einstellungen und Bedürfnissen entspricht. Doch ist das Recht auf religiöse Bildung über den zwar notwendigen, aber im Blick auf das Thema Religion/Religiosität zu kurz greifenden religionswissenschaftlichen Unterricht – z.B. in einem Fach Religionskunde – wirklich eingelöst? Oder meint religiöse Bildung – anknüpfend an die bisherige Argumentation – nicht vielmehr eine Beschäftigung mit authentischen, vor allem durch die Religionslehrkraft verkörperten Positionen, Einblicken in auch emotional bestimmte, auf religiösen Erfahrungen und deren Reflexionen basierende religiöse Selbst-Verortungen? Geht religiöse Bildung nicht viel tiefer als nur ein Reden ›über‹ Religion? Birgt nicht auch für religiös Unmusikalische das Angebot religiöser Bildung einen Gewinn, wie an folgendem Statement exemplarisch deutlich wird: »Stellt sich mir die Gretchenfrage: ›Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?‹, beeile ich mich, den Atheisten zu erklären, dass ich es für falsch halte, die Religion mit der These zu erledigen, dass es keinen Gott gibt. Ich glaube, ob es nun Gott gibt oder nicht, dass Religionen Ahnungen, Wissen und Erfahrungen enthalten, die man sogar als Ungläubiger entmystifizieren kann, um daraus zu lernen.«20 Zusammen muss also gefragt werden: Gibt es damit ein Recht auf religiöse Bildung für Kinder und Jugendliche, dem institutionell insbesondere der Religionsunterricht verpflichtet ist? Und darüber hinaus gefragt: Wie sieht es mit diesem Recht für Schüler und Schülerinnen aus, die nicht dem bislang institutionell etablierten konfessionell ausgerichteten, evangelischen oder katholischen Religionsunterricht angehören? 3 Das Recht auf religiöse Bildung am Lernort Schule – auch für muslimische Heranwachsende! Der allgemeine Bildungsauftrag intendiert, dass alle Kinder und Jugendlichen die Unterstützung finden, die sie zu einer aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigt. Diese Forderung muss auch im Blick 19 Kirchenamt der EKD (Hg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hannover 2014, 10. 20 Franz Schuh, Schuld und Sünde, in: Die Zeit (9/2017) vom 23.2.2017, 40.

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auf deren religiöse Prägungen zur Geltung gebracht werden – nicht zuletzt deshalb, weil die positive wie negative Religionsfreiheit als Grundrechte in unserer Verfassung garantiert sind und insofern ein Recht auf religiöse Bildung nicht marginalisiert werden darf. Das aber heißt, dass Heranwachsende Räume, Zeiten und AnsprechpartnerInnen für ihre religiösen Fragen brauchen und auf dieser Basis auch die Ermöglichung des Ausdrucks etwaiger religiöser Überzeugungen. Demgegenüber entwickelt sich jedoch die gegenteilige Einschätzung zum gesellschaftspolitischen Dauerbrenner, die dem »Recht des Kindes auf Religion«21 widerspricht oder doch zumindest kaum Aufmerksamkeit schenkt. Seit einigen Jahren findet sich vorwiegend in den Printmedien immer wieder die augenscheinlich populäre Frage: »Brauchen wir ›Reli‹ noch?«22 Die darin zum Ausdruck kommende Legitimationskrise eines konfessionellen Religionsunterrichts in Deutschland scheint nur die argumentative Spitze eines Eisbergs sein, der ein kulturelles Unbehagen gegenüber einer Öffentlichkeit der Religion bzw. Religionsausübung im gesellschaftlichen Diskurs verdeutlicht. Angekündigt hat sich die Problematisierung des Religiösen, das ganz nach dem Motto ›Totgeglaubte leben länger‹ gegenwärtig seine Wirkungsbereiche wie Schattenseiten medial vor allem durch auffallenden Fundamentalismus zeigt, allerdings schon längst: Die forschungswissenschaftliche Sichtung des Themas offeriert eine auffallende Häufung von tendenziell apologetischer Literatur, die dezidiert betont, dass Kinder in der Tat Religion bräuchten.23 Begründet wird dies üblicherweise mit drei grundlegenden Dimensionen des Religiösen: 1) kulturhermeneutisch wird betont, dass ein Sich-Verstehen der Schülerinnen und Schüler in der immer noch – zumindest in den bildungsrelevanten Traditionen – christlich geprägten Welt des Abendlandes durch religiöse Bildung gefördert werde; 2) anthropologisch seien genuin existenzielle Fragen des Menschen nicht religionskundlich, sondern bekenntnisorientiert zu beantworten und 3) die ethischen Herausforderungen machten deutlich, dass eine wertorientierte Herzensbildung quasi auch religiöse Anker benötige.24 Allerdings wird neben dem apologetischen Charakter dieses vorwiegend religionspädagogisch geführten Diskurses augenfällig, dass nicht einleuchten muss, was nicht einleuchten mag; genauer: Bei eher religiös unmusikalischen Kritikern bzw. solchen, die geradezu eine Aversion gegenüber religiösen Musikgeschmäckern mitbringen, überzeugen tradi21 Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion. Ermutigungen für Eltern und Erzieher, Gütersloh 2000. 22 Zuletzt in: Die Zeit vom 12. Januar 2017, 65. 23 Vgl. Martha Fay, Brauchen Kinder Religion?, Hamburg 1994; Klaus Hofmeister / Lothar Bauerochse (Hg.), Kinder brauchen Religion, Paderborn 2004; Christoph Th. Scheilke / Friedrich Schweitzer (Hg.), Kinder brauchen Hoffnung. Mit Geheimnissen leben, Münster 2011; Georg Langenhorst, Kinder brauchen Religion. Orientierung für Erziehung und Bildung, Freiburg 2014, 11. 24 So auch der oben genannte Artikel in der Zeit, a.a.O.

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tions- oder bekenntnisorientierte Kriterien sui generis wenig. Der Verdacht der ideologisierenden Manipulation – vom Kleinkindalter an – wiegt schwerer, nicht nur im Kontext eines ostdeutschen Atheismus, den man als ›dritte Konfession‹25 bezeichnen könnte. Doch gerade der als ordentliches Lehrfach institutionell verankerte Religionsunterricht als Bildungsangebot aller Schularten26 steht als Garant gegen Ideologisierung und Manipulierung, indem die Wissenschaftsorientierung des unter staatliche Aufsicht gestellten Faches – einschließlich der universitären Ausbildung der Religionslehrkräfte – bildungstheoretisch fundiert ist. Neben den bereits dargestellten Kriterien sollen daher abschließend insbesondere die kritische Urteilskraft, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und die dem religiösen Toleranzgedanken verpflichtete Pluralismusfähigkeit als bildungstheoretisch fundierte Ziele der in der Schule verorteten religiösen Bildung beleuchtet werden. Die – wenn man so will – Pflichten religiöser Bildung, die üblicherweise den Forderungen nach Rechten korrespondieren, werden hierbei m.E. als dem Gemeinwohl dienlich sehr deutlich, indem nämlich auf der Basis von Grundwissen entwickelte Reflexions- und Diskursfähigkeit der Genese von Vorurteilen entgegen stehen und damit dem sozialen Frieden dienen.27 »Er kann nicht sagen, wie viele seiner Schüler Islamisten seien, sagt Martin Finke, der Schulleiter der Freiherr-vom-Stein-Realschule (in Bonn, E.N.) […] Finke sieht eine Subkultur an seiner Schule, mit Schülern, die Gewaltvideos des Islamischen Staates und anderer Dschihadisten auf Youtube cool finden. […] Die meisten Eltern leben von Sozialleistungen, die Kinder sehen keine Perspektive. Die Schüler erleben Diskriminierung, im Bus, bei Bewerbungen, im Praktikum. Finke sagt: ›Die Armut paart sich mit dem Religiösen.‹«28 Eindrucksvoll ist in dem Artikel ›Held der Aufklärung‹ beschrieben, wie der islamische Religionslehrer Aziz Fooladvand an der Bonner Realschule im offenen Gespräch mit seinen Neuntklässlern versucht, das Weltbild gefährdeter islamischer Jugendlicher »zumindest ins Wanken zu bringen«29. Schon äußerlich – zum Beispiel durch streng gebundene Schleier bei den Mädchen – kann man sehen, dass die meisten seiner Schüler und Schülerinnen sehr religiös sind und alle Antworten auf ihre aktuellen Fragen im Koran bzw. einer dem Fundamentalismus naheste25 Horst Groschopp, Ostdeutscher Atheismus – die dritte Konfession? (http:// fowid.de/textarchiv; abgerufen am 8.10. 2015). 26 An dieser Stelle würde eine dezidierte Darstellung der verschiedenen Modelle von Religionsunterricht in den Bundesländern zu weit führen, so dass der Hinweis auf Art. 7 des Grundgesetzes als rechtlicher Verankerung hier genügen soll. 27 Vgl. zum Folgenden Elisabeth Naurath, Gewalt – ein Thema der Praktischen Theologie?, in: PThI 36 (2016), 23–34, 29f. 28 Roland Preuss, Held der Aufklärung, Süddeutsche Zeitung Nr. 190 vom 20.8.2015, 3. 29 Ebd.

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henden Auslegung zu finden meinen. Was demgegenüber religiöse Bildung bedeutet, ist in seiner friedenspädagogischen Evidenz kaum zu unterschätzen: »Aziz Fooladvand verurteilt seine Schüler nicht, er fragt nach, so oft, bis es in ihnen arbeitet, bis sie verstehen, dass man mit Versen aus dem siebten und achten Jahrhundert nicht alle Fragen im 21. Jahrhundert beantworten kann, dass man den Koran nicht wörtlich nehmen sollte. Aber es muss von ihnen selbst kommen.«30 Solche Beispiele zeigen auf beeindruckende Weise die Chancen, die religiöse Bildungsangebote in der Schulpraxis bieten, und signalisieren unter anderem die Notwendigkeit bzw. Dringlichkeit eines flächendeckenden Angebots für Islamischen Religionsunterricht, der sich im bundesdeutschen Kontext immer noch sehr zögernd etabliert und dessen Bedarf bislang zu wenig empirisch erforscht ist.31 Wo den Schülern und Schülerinnen kein Raum geschaffen wird, um ihre alltags- und lebensbezogenen Fragen auf der Basis ihres Glaubens zu formulieren, zu diskutieren und damit zu einer eigenen Position zu finden, droht die Gefahr, von fundamentalistischen Einflüssen jeglicher Art vereinnahmt zu werden. Nicht selten können sich so Vorurteile gegenüber fremden Kulturen und Religionen verfestigen und in Gewaltbereitschaft umschlagen. Demgegenüber kann das schulische Angebot eines wissenschaftsorientierten und im Rahmen des Grundgesetzes verankerten Angebots von Religionsunterricht, der sich im allgemeinen Bildungsauftrag der Schule verantworten muss, als Gewaltprävention gelten. Voraussetzung ist wiederum eine Bildungsorientierung, die in der Klasse als einem prinzipiell ›herrschaftsfreien Raum‹ ermöglicht, adaptierte Stereotypen, Vorurteile und Ängste zu äußern und mit der Hilfe einer kompetenten Lehrkraft zu diskutieren und zu reflektieren. Bedingungsgrund hierfür ist eine sowohl theologisch als auch pädagogisch kompetente Lehrkraft, die zum Einen hinsichtlich ihrer eigenen religiösen Überzeugung als authentisch erlebt werden kann, zum anderen aber die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler ernstnimmt und damit deren Reflexionsvermögen als Dialogfähigkeit fördert.32 Abschließend kann gesagt werden, dass die gesellschaftspolitische Säkularisierungsdebatte33 zwar einen Bedeutungsverlust der institutionali-

30 Ebd. 31 Beispielsweise haben in Bayern bislang nur 10% der muslimischen Schülerinnen und Schüler (ca. 11 000) die Möglichkeit, einen Religionsunterricht ihres Glaubens zu besuchen, wobei es sich hierbei – nach mehr als 10 Jahren – immer noch um einen Modellversuch (!) handelt. 32 Vgl. Musa Bagrac, Was ein kompetenzorientierter Islamischer Religionsunterricht leisten muss, in: Rainer Möller / Clauß Peter Sajak / Mouhanad Korchide (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht. Von der Didaktik zur Praxis, Münster 2014, 227–249. 33 Beispielhaft seien hier nur genannt: Detlef Pollack / Georg Pickel (Hg.), Individualisierung und religiöser Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeit-

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sierten Religion deutlich gemacht hat, jedoch das religiöse Leben weniger im Verschwinden als in Transformationsprozessen zu sehen ist.34 Die Ambivalenzen der Phänomene, die sich – vereinfacht ausgedrückt – zwischen einer Privatisierung bzw. einer damit einhergehenden Tabuisierung von Religion auf der einen Seite und einer Fundamentalisierung und Radikalisierung auf der anderen Seite abspielen, verlangen nach kritischen Sichtungen, Klärungen und Reflexionen, die für alle – und im besonderen Maße – für Heranwachsende ein Recht auf religiöse Bildung deutlich und dringlich machen. Dr. Elisabeth Naurath ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Evangelische Theologie der Universität Augsburg.

schrift für Soziologie, 6 (1999), 465–483; Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003. 34 Vgl. auch das 2014 erschienene Jahrbuch für Religionspädagogik (Bd. 30) mit dem Titel ›Religionspädagogik in der Transformationskrise‹, Neukirchen-Vluyn.

2 Pädagogische Zugänge

2.1 Annette Scheunpflug

Erziehungswissenschaftliche Reflexionen und pädagogische Ansätze im Kontext von Menschenrechtsbildung Erziehungswissenschaftliche Reflexionen und pädagogische Ansätze

In diesem Beitrag soll das Thema Menschenrechtsbildung aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive reflektiert werden. Zu dieser gehört die Perspektive auf Religion konstitutiv dazu; da aber viele andere Beiträge in diesem Band sich dem Verhältnis von Menschenrechten und Religion(sunterricht) widmen, wird diese Perspektive im folgenden Beitrag ausgespart. In einem ersten Schritt wird die Entwicklung der Debatte um die Menschenrechtsbildung oder Menschenrechtspädagogik nachgezeichnet. Sodann wird das Recht auf Bildung aufgegriffen und in seinen Implikationen für Inklusion und frühkindliche Bildung genauer in den Blick genommen. Im Anschluss werden einige pädagogische Konzepte vorgestellt und der Stand der empirischen Forschung zum Thema dargestellt. Abschließend sollen praxisbezogene wie forschungsbezogene Herausforderungen im Kontext von Menschenrechtsbildung diskutiert werden. 1 Von der Menschenrechtspädagogik zur Menschenrechtsbildung Seit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 ist es eine wichtige Aufgabe, die Menschenrechte zu vermitteln. Menschenrechtspädagogik bzw. Menschenrechtsbildung begleitet deshalb die Menschenrechte von Beginn an; sie ist in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte selbst festgeschrieben: »Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein.« Zur Unterstützung dieser Zielsetzung wurde im Jahr 1994 das UN-Programm für Menschenrechtserziehung in Kraft gesetzt, das im Jahr 2005 vom UN-Programm für Menschenrechtsbildung abgelöst wurde (2015 ausgelaufen). Mit beiden Programmen wurde auf der Ebene der Vereinten Nationen versucht, die Menschenrechte im Bewusstsein von Menschen zu verankern. Zentrales Ziel der Menschenrechtspädagogik ist die Entwicklung einer Haltung, die ein tiefes Verständnis für die Würde des Menschen und dessen Rechte ausdrückt, Respekt für die Menschenrechte bekundet und

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die Beteiligten befähigt, sich für diese einzusetzen.1 Damit Menschenrechte selbstverständlicher Teil der Alltagskultur werden, muss hinreichendes Wissen über Menschenrechte und deren historische Entwicklung vermittelt, sollten die entsprechenden Einstellungen gefördert und die Handlungskompetenz erhöht werden, Menschenrechte umzusetzen und sich für diese einzusetzen. Es geht darum, »eigene Menschenrechte kennen und einfordern [zu] können, die Menschenrechte anderer [zu] kennen und für ihre Wahrung einzutreten, die Menschenrechte als Werte der eigenen Moral an[zu]erkennen und handlungsleitend werden [zu] lassen«2, kurzum, es geht um das Lernen über, durch und für Menschenrechte.3 In der letzten Zeit wird vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es um die selbsttätige Auseinandersetzung lernender Subjekte mit dem Thema und die Arbeit an der eigenen Haltung geht, im deutschsprachigen Raum auch häufig der Begriff der Menschenrechtsbildung verwendet. In der Regel werden drei Generationen von Menschenrechten unterschieden.4 Mit den Rechten der ersten Generation werden die bürgerlichen und politischen Freiheits- und Beteiligungsrechte bezeichnet. Die Rechte der zweiten Generation umfassen die sozialen und kulturellen Menschenrechte, wie das Recht auf Arbeit, Sicherheit, Ernährung, Wohnen, Wasser, Gesundheit und Bildung. Die Rechte der dritten Generation sind bisher noch kaum in Vertragswerken kodifiziert und umfassen die Rechte auf Entwicklung, Frieden oder eine saubere Umwelt. Je nachdem, auf welche Generation von Rechten man sich bezieht, bestehen enge konzeptionelle Verbindungen und Ähnlichkeiten zu pädagogischen Konzepten, die sich mit einer lebenswerten, gerechten und nachhaltigen Gesellschaft beschäftigen, so zur antirassistischen Bildung, zur Bildung für Nachhaltigkeit, zum Globalen Lernen, zur Friedenspädagogik sowie zur Anti-Holocaustbildung. Konzepte der Menschenrechtsbildung unterscheiden sich angesichts der gesellschaftlichen Umgebung. In politisch stabilen und rechtsstaatlichen Gesellschaften kann über Menschenrechte anders gelehrt werden als in Staaten, in denen Menschenrechte zwar ratifiziert sind, aber diese nicht durchgängig garantiert werden. Die Konzepte differieren nach Zielgrup1 Vgl. im Überblick Katharina Batarilo-Henschen, Menschenrechtspädagogik, in: Gregor Lang-Wojtasik / Ulrich Klemm (Hg.), Handlexikon Globales Lernen, Ulm 2012, 178–180. 2 Volker Lenhart / Volker Druba / Katharina Batarilo-Henschen, Pädagogik der Menschenrechte, Wiesbaden 2006, 86. 3 Claudia Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte; mit einer Studie über aktuelle Entwicklungslinien der »Human Rights Education« in Südafrika. IKO-Verl. für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt a.M. 2004. 4 Vgl. Michael Krennerich, Zehn Fragen zu Menschenrechten. Dossier Menschenrechte, Bundeszentrale für politische Bildung 2009, online unter: https://www.bpb. de/internationales/weltweit/menschenrechte/38627/zehn-fragen?p=all; [20.3.2017].

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pen, denn es ist ein Unterschied, ob beispielsweise Schülerinnen und Schüler über Menschenrechte informiert werden und zu diesen eine Haltung entwickeln sollen oder ob Personen ausgebildet werden, die in potenziell menschenrechtskritischen Situationen mit deren Überwachung, etwa in Gefängnissen, als Wahlbeobachtende oder als Polizistinnen und Polizisten, befasst sind. Besondere Bedeutung haben in den letzten Jahren transformatorische Konzepte erhalten, in denen der Fokus auf dem Empowerment von Betroffenen in Konfliktsituationen liegt (siehe auch das unten dargestellte Beispiel). 2 Bildung als Menschenrecht Im pädagogischen Kontext erlangt das Menschenrecht auf Bildung eine besondere Bedeutung, da sich das Bildungswesen selbst an der Verwirklichung der eigenen Menschenrechtlichkeit messen lassen muss. In der jüngeren Zeit wurde dieses im deutschsprachigen Raum besonders hinsichtlich des Rechts auf Inklusion sichtbar und gesellschaftlich diskutiert. Das Menschenrecht auf Bildung ist sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 26) als auch in der Kinderrechtskonvention (Art. 28 und 29) kodifiziert. Das Recht auf Bildung umfasst vier Aspekte, die im Englischen als das »4-A-Scheme« bezeichnet werden, nämlich das Recht auf die Verfügbarkeit von Bildung (availability), die Zugänglichkeit von Bildung (access), die angemessene Bildungsqualität (acceptability, häufig übersetzt als »Eignung von Bildung«) und die Passung von Bildung auf die jeweilige Situation (adaptability, häufig übersetzt als Anpassbarkeit von Bildung)5. Vor diesem Hintergrund wurde die deutsche Bildungspolitik im Jahr 2006 durch den Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Bildung kritisiert, da die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft sowie der geringere Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund Indikatoren dafür seien, dass das Recht auf Bildung nicht hinreichend umgesetzt sei.6 Besondere Aufmerksamkeit erfährt in diesem Kontext auch das Recht auf Bildung für Flüchtlinge und Asyl-

5 United Nations, Economic and social council, Committee on economic, social and cultural Rights of the Unites Nations (1999): Twenty-first session, Implementation on the international Covenant on economic, social and cultural Rights, General Comment No. 13 (Twenty-first session, 1999) The right to education (article 13 of the Covenant), New York, E/C.12/1999/10, 8 December 1999. 6 Vgl. dazu im Überblick Bernd Overwien und Annedore Prengel (Hg.), Recht auf Bildung, Opladen 2007; vgl. zur geschichtlichen Entwicklung des Rechts auf Bildung in Deutschland Lutz R. Reuter, Das Recht auf Bildung in der deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, in: Frank-Rüdiger Jach (Hg.), 50 Jahre Grundgesetz und Schulverfassung, Berlin 2000, 17–38.

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bewerber7 – diese Gruppe war lange Jahre in Deutschland systematisch vom Recht auf Bildung ausgeschlossen.8 Erst Anfang des Jahrtausends wurde die Situation von Flüchtlingen und Asylbewerbern im Hinblick auf Bildung verbessert, indem Aufenthaltsrecht und Bildungsrecht in allen Bundesländern entkoppelt wurden. Der Bericht des Sonderberichterstatters lenkte den Blick auch auf die Herausforderungen, die im Hinblick auf das Recht auf Inklusion und das Menschenrecht auf Bildung in Deutschland bestehen. Die hohe Förderschulquote, der Zusammenhang zwischen Förderschulbeschulung und sozialem Hintergrund und der zum Teil geringe Kompetenzerwerb von Menschen im Sonderschulbereich (sieht man von denjenigen Förderschülern mit Sinnesbeeinträchtigungen ab), zeigten eindringlich, dass das Recht auf Bildung noch nicht hinreichend umgesetzt ist. Das menschenrechtsbasierte Grundverständnis von Inklusion durch die Behindertenrechtskonvention hat erheblich zur Verbreitung des Konzepts von Inklusion beigetragen und bewirkt, dass sich das Inklusionskonzept aus der Konnotation des Umgangs mit Menschen mit Behinderungen löste und zu einem generellen Prinzip für den gesellschaftlichen Umgang mit Vielfalt wurde. In den Blick kamen damit ebenso die zunehmende Spaltung zwischen Armen und Reichen in der deutschen Gesellschaft, die Genderfrage, das Miteinander der Generationen sowie die Herausforderungen kultureller und religiöser Vielfalt angesichts einer verstärkten Migration. Der Begriff Inklusion markiert, dass Separierungen überwunden werden sollen, Teilhabe für alle gleichberechtigt ermöglicht und Vielfalt wertgeschätzt werden soll. Mit diesem Grundverständnis von Inklusion ist ein entscheidender Paradigmenwechsel im Blick auf die Wahrnehmung und Gestaltung von Gesellschaft verbunden. Der erste Paradigmenwechsel markiert den Wechsel von der Versorgung zur gleichberechtigten Teilhabe und Selbstbestimmung: Grundlegend für das Verständnis von Inklusion ist der Anspruch aller auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Sonderwelten in Behinderteneinrichtungen, Förderzentren oder anderen separierten Umgebungen. Vielmehr geht es um ein selbstbestimmtes Leben mitten in der Gesellschaft, im Quartier, mit der Teilhabe an Schule, Jugendgruppen, Bands, Konfirmandenarbeit und allem dem, was das Leben ausmacht. Damit dieses möglich wird, sind entsprechend unterstützende Rahmenbedingungen – wie beispielsweise Barrierefreiheit – zu schaffen. Zweitens ist der Paradigmenwechsel von der Wohltätigkeit zu einer Rechtsnorm formuliert. Durch die menschenrechtliche Fundierung wird 7 Vgl. Axel Bohmeyer / Lothar Krappmann / Stefan Kurzke-Maasmeier / Andreas Lob-Hüdepohl (Hg.), Bildung für junge Flüchtlinge – ein Menschenrecht, Erfahrungen, Grundlagen und Perspektiven, Bielefeld 2009. 8 Vgl. die Analyse der Rechtssituation Ende der 90er Jahre in Lutz R. Reuter, Schulrechtliche und schulpraktische Fragen der schulischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Erstsprache, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 47 (1999), 26–43.

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deutlich hervorgehoben, dass alle Menschen mit gleichen Rechten ausgestattet sind und die Möglichkeit eröffnet bekommen müssen, uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Ebenso bedeutsam ist die Darstellung der frühkindlichen Bildung als ein Menschenrecht.9 Hier ist – wie in allen Feldern menschenrechtlicher Bildung – die Doppelperspektive bedeutsam, dass das Recht auf frühkindliche Bildung ein Menschenrecht ist und deshalb ein verbindliches Angebot darstellen muss und zugleich die frühkindliche Pädagogik in ihrer inhaltlichen Ausrichtung einer menschenrechtlichen Perspektive bedarf. Beide Diskussionsstränge könnten in der öffentlichen Debatte in Deutschland zum Ausbau und zur Qualität von Kindertagesstätten vermutlich noch höhere Resonanz erfahren. 3 Pädagogische Konzepte Für die nachfolgend beschriebenen pädagogischen Konzepte beschränke ich mich im Wesentlichen auf die menschenrechtliche Bildung im engeren Sinne, d.h. ich vernachlässige politische Strategien zur Verbesserung des Zugangs zur Bildung, zur Inklusion, zur Verbesserung der Angebote frühkindlicher Bildung und um die Verbesserung der Bildungssituation von Geflüchteten. Vielmehr soll es im Folgenden um Konzepte der Vermittlung der Menschenrechte im schulischen Kontext als dem wichtigsten Akteur intentionaler Bildung gehen. Hier lassen sich folgende Zugänge unterscheiden: a) Vermittlung von Inhalten der Menschenrechte Schulische Bildung kann dazu beitragen, Menschenrechte als Rechtsnorm und als Kulturwerte in einer Gesellschaft zu verankern. In diesem Ansatz geht es darum, die Inhalte der Menschenrechte bzw. diese selbst im Unterricht explizit mit Bezug auf die jeweiligen Menschenrechtsnormen zu vermitteln. Es geht auch darum, die historische Situation der Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und eines menschenverachtenden totalitären Systems als Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe und gegen die Verweigerung von Freiheiten zu verstehen. Diese explizite Thematisierung eignet sich für jene Gesellschaften, in denen die Menschenrechte auf der politischen Ebene bereits tief verankert sind, so dass ihre Thematisierung keine politische Herausforderung darstellt. Sie baut auf einer Rechtsbildung auf, in der Rechtsnormen vermittelt und erfahrbar werden 9 Forum Menschenrechte (Hg.), Menschenrechte und frühkindliche Bildung in Deutschland. Empfehlungen und Perspektiven. Forum Menschenrechte und Deutsche UNESCO-Kommission, Berlin/Bonn 2011.

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(beispielsweise in der Schulordnung). Bei diesem Ansatz geht es dann auch neben der Bestärkung der bürgerlichen und politischen Freiheitsund Beteiligungsrechte um die sozialen und kulturellen Menschenrechte sowie um Fragen der gerechten Entwicklung der Einen Welt. Hier kommen deshalb dann auch Ansätze der antirassistischen Bildungsarbeit, der Bildung für nachhaltige Entwicklung und des Globalen Lernens mit in den Blick. Neben der Arbeit an Wissensbeständen werden in diesem Kontext Erfahrungen des Perspektivenwechsels, der Begegnung und der Selbstreflexion von besonderer Bedeutung. b) Leben von und Engagement für Menschenrechte Die zweite Möglichkeit eines schulischen Zugangs zum Thema wird in Ansätzen beschrieben, in denen Schülerinnen und Schüler sich selbst menschenrechtlich betätigen, indem sie in der Schule ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen, von ihren Menschenrechten Gebrauch machen und sich für die Rechte anderer einsetzen. Es geht um die Analyse historischer Situationen und aktueller politischer Entwicklungen, z.B. durch Berichte von Amnesty International oder Human Rights Watch. Für dieses Lernen, das vor allem auf Handlungskompetenzen im Kontext von menschenrechtlichem Engagement abzielt, spielen Erfahrungen von eigenem Engagement, von inklusiver Sprache und inklusivem Handeln, von gelebter Solidarität und demokratischen Strukturen eine besondere Rolle. c) Transformatorische Menschenrechtsbildung In diesem Ansatz geht es darum, junge Menschen in ihrer Persönlichkeit so zu stärken, dass sie ihre Rechte wahrzunehmen und autoritäre Strukturen zu überwinden lernen. Autoritäre Strukturen sollen durchschaut werden und ihre vermeintliche Attraktivität verlieren, indem der Selbstwert und die Selbstwirksamkeit der Lernenden gestärkt werden. Menschenrechtliche Bildung in diesem Sinne setzt auf Teilhabe und die Entwicklung der Persönlichkeit. Auf den Lernenden zentrierte Methoden ermöglichen Eigenständigkeit und unterstreichen gewaltfreie soziale Interaktion. Damit werden mit diesem Ansatz die Grundlagen für menschenrechtliches Handeln gelegt und die Akzeptanz von Menschenrechten vorbereitet. Es geht somit um die Entwicklung von jungen Menschen hin zu demokratischem Verhalten, zum Umgang mit Pluralität und zur Akzeptanz von Rechtsstaatlichkeit. Gleichzeitig kann auch die Transformation von Gesellschaften mit adressiert werden: Dieser Ansatz ist auch in Ländern und Regionen von Bedeutung, in denen bürgerliche Freiheitsrechte nicht garantiert und Menschenrechte noch nicht in allen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens verwirklicht sind.

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d) Ein Beispiel Der letztgenannte Zugang transformatorischer Bildung soll im Folgenden durch ein Beispiel vorgestellt werden, das sowohl auf die Verbesserung der Unterrichtsqualität (und damit im weiteren Sinne auf die Verwirklichung des Rechts auf Bildung) abzielt als auch auf die Friedensfähigkeit und die Akzeptanz für Menschenrechte durch die beteiligten Lehrkräfte sowie ihre Schülerinnen und Schüler. Es handelt sich um die Einführung einer partizipativen und aktivierenden Pädagogik in Schulen in evangelischer Trägerschaft in Ruanda nach dem dortigen Genozid, ein Programm, an dessen Implementierung bis heute gearbeitet wird. In diesem pädagogischen Programm werden die Stärkung der Persönlichkeit und die Überwindung autoritärer Strukturen in den Mittelpunkt gestellt. Es handelt sich um ein Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte unterschiedlicher Schularten (mit einem separaten Fortbildungsangebot für Schulleitungen), das Lehrkräfte in die Lage versetzen soll, subjektorientierten und schülerzentrierten Unterricht durchzuführen. Das Konzept nutzt aktivierende Methoden, um Schülerpartizipation im Unterricht zu steigern und dadurch den Selbstwert und das Selbstvertrauen zu stärken. Darüber hinaus sollen friedliche Konfliktlösungen eingeübt werden. Inhaltlich geht es darum, die Lernenden in den Fokus des Lernprozesses zu stellen. Dadurch soll die traditionell passive Rolle der Lernenden im Unterricht und die autoritäre Schulstruktur überwunden werden. Unterricht soll so entwickelt werden, dass ein erfolgreicher Lernprozess stattfinden kann und dadurch Grundlagen für ein demokratisches Miteinander gelegt werden. Schulleitungen sowie Lehrkräfte lernen in einer dreiwöchigen Fortbildung, Schule und Unterricht schülerzentriert zu gestaltet. Die Fortbildung verbindet aktivierende didaktische Methoden (Gruppen- und Partnerarbeit, Interviews, Rollenspiele etc.) mit Einheiten zu Lerntheorie und -psychologie in einem konstruktivistischen Verständnis. Ergänzt wird dies durch Kommunikationstheorie und praktische Kommunikationsübungen (z.B. das Formulieren von Ich-Aussagen). Nach zwei Wochen Theorie können die Teilnehmenden in der dritten Fortbildungswoche das Gelernte in die Praxis umsetzen. Dazu werden in einer Schule vor Ort Einheiten unterrichtet und gemeinsam reflektiert.10 Nach der dreiwöchigen Fortbildung werden die Teilnehmenden bei der Implementierung des Programms durch regionale Programm-Koordinatoren professionell unterstützt. Seit Beginn des Programms 1998 wurden mehr als 3000 Lehrkräfte in über 350 Schulen ausgebildet. Bei der Auswahl der fortzubildenden Schulen wird besonders auf die Teilnahme von Frauen 10 Vgl. zu dem Programm Susanne Krogull / Annette Scheunpflug / Francois Rwambonera, Teaching Social Competencies, in: Post-Conflict Societies. A Contribution to Peace in Society and Quality in Learner-Centered Education, Münster / New York 2014; Vgl. Christian Grêt, Le system éducatif africain en crise, Paris 2009.

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geachtet und darauf, dass mehrere Lehrkräfte einer Schule, wenn nicht sogar das gesamte Kollegium, an der Fortbildung teilnehmen. Das Programm wird von Brot für die Welt finanziert und wurde mehrfach sehr positiv evaluiert.11 4 Empirische Befunde Das Feld, das im Hinblick auf Menschenrechtsbildung empirisch abzuschreiten ist, ist groß. Zum einen geht es um Studien, die den Fortschritt im Hinblick auf die Verwirklichung des Rechts auf Bildung nachzeichnen. Sowohl die Bildungsberichterstattung für Deutschland als auch die PISA-Untersuchungen haben deutlich machen können, dass die starke Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland in den letzten Jahren etwas gelockert werden konnte.12 Auch im Hinblick auf Inklusion und die Beteiligung an frühkindlicher Bildung hat sich die Situation in Deutschland in den letzten Jahren verbessert.13 Allerdings bestehen gerade in den letzten beiden genannten Bereichen noch erhebliche regionale Unterschiede, die nicht nur durch die Bildungspolitik des jeweiligen Bundeslandes bedingt sind, sondern auch auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der regionalen Aufwandsträger für Bildung zurückzuführen sind.14 Auf internationaler Ebene wird der Zugang zu Bildung durch den Global Monitoring Report der UNESCO reflektiert.15 Hier zeigen sich nach wie vor erhebliche regionale Defizite im Hinblick auf die Verwirklichung des Zugangs zu Bildung. So ist die Staatengemeinschaft noch weit davon entfernt, das Recht auf Zugang zu Bildung in weiten Teilen des Mittleren Ostens sowie in Subsahara Afrika verwirklicht zu haben. Im Hinblick auf die Beschulung von Flüchtlingen und Jugendlichen mit Migrations-

11 Vgl. ausführlicher Krogull/Scheunpflug/Rwambonera, Teaching (s.o. Anm. 9); Vgl. Susanne Krogull / Annette Scheunpflug, Empirische Perspektiven friedenspädagogischen Handelns in Post-War-Societies, in: Zeitschrift für Internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 4 (2016), 21–26. 12 Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2016, Bielefeld 2016; vgl. Kristina Reiss / Christine Sälzer / Anja Schiepe-Tiska / Eckhard Klieme / Olaf Köller (Hg.), PISA 2015. Eine Studie zwischen Kontinuität und Innovation, Münster 2016. 13 Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung (s.o. Anm. 11). 14 Vgl. Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklung Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft Jena (Hg.), Chancenspiegel – eine Zwischenbilanz. Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme seit 2002, Gütersloh 2017. 15 Vgl. UNESCO, Teaching and Learning: Achieving quality for all. Global Monitoring Report, Paris 2014.

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hintergrund sowie hinsichtlich der Umsetzung des Rechts auf frühkindliche Bildung sieht die Entwicklung noch deutlich dramatischer aus.16 Zum anderen geht es um Studien, die die Verwirklichung und die Effekte von Menschenrechtsbildung im engeren Sinne nachzeichnen. Hier ist die Forschungslage deutlich weniger gut ausgeprägt als im Hinblick auf die Frage der Verwirklichung des Rechts auf Bildung. Bisher liegen nur wenige Studien vor, die systematisch die Angebote wie die Effekte von Menschenrechtspädagogik in den Blick nehmen. Insgesamt ist dieses also einer jener pädagogischen Bereiche, die bisher noch wenig im Blick der empirischen Bildungsforschung liegen. Die wenigen vorliegenden Befunde sind jedoch interessant, da sie einerseits den bisher noch zu geringen Stellenwert menschenrechtlicher Bildung markieren, andererseits aber dort, wo diese systematisch betrieben wird, auch über ermutigende Befunde berichten. Auf der Seite des Angebots wurden bisher in Deutschland im Bereich des informellen Lernens die Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens analysiert.17 Hierbei konnte gezeigt werden, dass in der öffentlichen Darstellung die bürgerlichen und politischen Freiheits- und Beteiligungsrechte dominieren, hingegen soziale und kulturelle Menschenrechte nur wenig positive Darstellung erfahren. Die Autoren sprechen deshalb auch von im öffentlichen Kontext »halbierten« Menschenrechten.18 Auch im deutschsprachigen schulischen Kontext zeigen die Befunde zum Angebot der Menschenrechtsbildung noch Entwicklungspotenzial. Volker Druba konnte mit seiner Studie zur Thematisierung von Menschenrechtsfragen in Schulbüchern in Baden-Württemberg der Fächer Religion, Ethik, Geschichte und Politik (Gemeinschaftskunde) zeigen, dass von 95 untersuchten Schulbüchern 30% keine Aussagen zu Themen der Menschenrechte treffen und Menschenrechtsfragen nur in 2% aller Bücher als eigenständiges Kapitel thematisiert werden. Druba konnte kein Buch identifizieren, in dem Schüler aufgefordert werden, Fragen der Menschenrechte als Maßstab zur Beurteilung politischer Verhältnisse zu nutzen. Auf der Angebotsseite schulischen Lernens könnte die Perspektive auf Menschenrechte also durchaus eine substanzielle Stärkung erfahren.19 Gert Sommer und Jost Stellmacher untersuchten den Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen auf die Wahrnehmung und Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen. Sie konnten zeigen, dass Empathie für Menschenrechtsverletzungen sensibilisiert, hingegen Ethnozentrismus und Gerechtigkeitskonzepte, die stark auf die individuelle Leistung setzen, 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Gert Sommer / Jost Stellmacher, Menschenrechte und Menschenrechtsbildung. Eine psychologische Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2009. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. Volker Druba, Menschenrechte in Schulbüchern, Frankfurt a.M. 2006.

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die Akzeptanz von Menschenrechtsverletzungen befördern.20 Vor dem Hintergrund dieser Untersuchung dürfte ein Unterricht für den Umgang mit Menschenrechtsverletzungen sensibilisieren, in dem Empathie, ein differenzielles und selbstreflektiertes Gerechtigkeitskonzept sowie weltbürgerliches Bewusstsein gefördert werden. Zu den Effekten von schulischer Menschenrechtsbildung auf die Haltungen von Kindern und Jugendlichen liegen bisher nur wenige Befunde vor. Eine Längsschnittuntersuchung haben Katherine Covell und Brian Howe in Großbritannien durchgeführt.21 Sie haben in einem dreijährigen Längsschnitt das prosoziale Verhalten von Kindern verglichen, bei denen eine Gruppe ein intensives Menschenrechtstraining erhielt, die Kontrollgruppe jedoch nicht. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass auch über einen längeren Zeitraum hinweg die Schülerinnen und Schüler, die ein Training erhalten hatten, ihre Mitschüler als im Umgang miteinander für respektvoller wahrnehmen als jene ohne Training. Zudem zeigten sie positiveres soziales Verhalten und wiesen höhere Werte im Hinblick auf Partizipation auf. 5 Herausforderungen und Perspektiven Die Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass ein menschenrechtlicher Ansatz im Bildungskontext von hoher Bedeutung ist. Er spielt einerseits im Hinblick auf das Recht auf Bildung eine zentrale Rolle und markiert die Verpflichtung von Gesellschaften, für ein chancengerechtes, inklusives und qualitätsvolles Bildungsangebot von der frühkindlichen Bildung angefangen zu sorgen. Dass dieses auch für Industriestaaten eine Herausforderung darstellt, zeigen die Probleme in Deutschland, Inklusion und Chancengerechtigkeit flächendeckend zu verwirklichen. Weltweit ist dieser Anspruch eine noch nicht bewältigte Herausforderung. Andererseits soll dieses Bildungsangebot in inhaltlicher Perspektive einen menschenrechtlichen Zugang aufweisen. Hierbei sind sowohl im Hinblick auf die praktische Implementierung als auch im Hinblick auf die Forschung zahlreiche Defizite zu konstatieren. Im schulischen Angebot sollte die Menschenrechtsperspektive noch konsequenter verfolgt und auf alle Bereiche der Menschenrechte ausgedehnt werden. Menschenrechtsbildung sollte gleichermaßen als Vermittlung von Wissen, 20 Vgl. Sommer/Stellmacher, Menschenrechte. 21 Vgl. Katherine Covell / Brian R. Howe, Rights and Resilience: The Long-Term Effects of RRR, Cape Breton University Children’s Rights Centre 2009, online unter: http://www.childrensrightseducation.com/uploads/3/4/5/2/34521419/rrr_report_2009. pdf [20.3.2017]; vgl. Katherine Covell, Children’s Human Rights Education as a Means to Social Justice: A case study from England, in: International Journal of Education for Social Justice 2 (2013), 35–48.

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von positiven Einstellungen und Handlungskompetenzen angestrebt werden. Insgesamt ist dieser Bereich noch zu wenig erforscht. Es fehlen Studien zu den Wirkungen schulischer Angebote und zu den Prozessen erfolgreicher Vermittlung. Diese systematisch zu entwickeln und durchzuführen stellt eine weitere Herausforderung dar. Dr. Annette Scheunpflug ist Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

2.2 Manfred L. Pirner

Religionspädagogische Perspektiven zur Menschenrechtsbildung 1 Menschenrechte in religionspädagogischen Ansätzen Die Menschenrechte haben eine politisch-rechtliche und eine moralischethische Dimension: Sie sind als juristische Normen rechtlich einklagbar, soweit sie von Nationalstaaten als bindend anerkannt worden sind, und prägen zugleich als moralische Normen das Ethos und Wertebewusstsein der Bevölkerung wie der politisch Handelnden. Blickt man auf die Religionspädagogik der vergangenen 30 Jahre, so lässt sich feststellen, dass die Menschenrechte tendenziell v.a. in ihrer ethischen Dimension im Blick waren und nur wenig in ihrer politischen Dimension. So werden die Menschenrechte in verschiedenen religionspädagogischen Handbüchern und Lexika sehr eindeutig als ein Gegenstand des ethischen Lernbereichs des RU gefasst1, z.T. erfolgt eine Konzentration auf den Grundwert der Menschenwürde, während die Menschenrechte in ihrer rechtlichen und politischen Dimension unterbelichtet bleiben. In neueren religionspädagogischen Ansätzen und Konzepten spielen die Menschenrechte nur selten eine tragende Rolle. So werden z.B. in dem Buch »Religionsunterricht neu denken«, in dem »innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik« gesammelt vorgestellt werden2, Menschenrechte nur an einer einzigen Stelle am Rande erwähnt – was ich gerade als Mitherausgeber und Mitautor des Bandes bedauere. Diese Befunde scheinen die Diagnose von Rudolf Englert, Karl Ernst Nipkow, Bernhard Grümme, Thomas Schlag und anderen zu bestätigen, dass die Religionspädagogik nach dem Abklingen der ideologiekritischpolitikbewussten problemorientierten Phase Mitte der 1970er Jahre in den 1980er und 1990er Jahren »eine Wende zur Ästhetik, eine biographische Wende, eine Wende zur Wahrnehmung, zum religiösen Erleb1 Vgl. exemplarisch Werner Simon, Menschenrechte, in: Gottfried Adam / Friedrich Schweitzer (Hg.), Ethisch erziehen in der Schule, Göttingen 1996, 174–187; Josef Senft, Art. Menschenrechte, in: LexRP (2001), 1326–1331; Peter Biehl / Friedrich Johannsen, Einführung in die Ethik. Ein religionspädagogisches Arbeitsbuch, Neukirchen-Vluyn 2003, 55–77: Kap. »Menschenrechte/Grundrechte«; Arnulf von Scheliha, Menschenwürde: Humanität und Achtung, in: Reinhold Mokrosch / Arnim Regenbogen, Werte-Erziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende, Göttingen 2009, 86–94. 2 Bernhard Grümme / Harmut Lenhard / Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Stuttgart 2012.

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nis«3 vollzogen hat, die mit einer gewissen Entpolitisierung des RU und der Religionspädagogik einherging. Erst in den letzten Jahren zeichnet sich eine breitere Trendwende ab, die mit der verstärkt wahrgenommenen internationalen politischen und Öffentlichkeits-Bedeutung von Religion in Zusammenhang steht – welche leider häufig v.a. an Hand des islamistischen Terrorismus Beachtung findet. Bedeutsam als theologisch-religionspädagogische Grundlagenforschung sind v.a. die gehaltvollen Buchpublikationen von Hans-Georg Ziebertz u.a.4 Im Hinblick auf die inhaltliche Behandlung der Menschenrechte im RU ist v.a. das Heft von Wilhelm Schwendemann, »Menschenrechte im Religionsunterricht« von 2010 hervorzuheben, das neben einigen Basisinformationen anregende praktische Beispiele und Materialien bietet.5 Fragt man danach, wo die Menschenrechte eine konzeptionell-grundlegende Bedeutung für die Religionspädagogik gewonnen haben, so lässt sich v.a. auf die gesellschaftstheoretische Begründung des schulischen RU durch das Grund- und Menschenrecht der Religionsfreiheit verweisen (Art. 4 Grundgesetz), die evangelischerseits seit der Stellungnahme der EKD von 19716 sowie katholischerseits durch den Beschluss zum Religionsunterricht der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland von 19747 (bekräftigt in der EKD-Denkschrift von 19948 und der Stellungnahme der Deutschen Bischöfe von 19969) zum Standardrepertoire der Begründungen des RU gehört. Friedrich Schweitzer hat diese Begründungsargumentation unter Einbeziehung des Menschenrechts auf Bildung und der Kinderrechte weiter ausgearbeitet und jüngst zudem die Verwurzelung des menschenrechtlichen Grundwerts der Menschenwürde in der christlichen Tradition im Kontext von

3 Bernhard Grümme, Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts, Stuttgart 2009, 12. 4 Vgl. Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Menschenrechte, Christentum und Islam, Berlin 2010; Ders. / Tobias Benzing, Menschenrechte: trotz oder wegen Religion? Eine empirische Studie unter jungen Christen, Muslimen und Nicht-Religiösen, Berlin 2012; Ders. / Crpic, Gordan (Hg.), Religion and Human Rights. An International Perspective, Cham 2014; Ders. (Hg.), Religionsfreiheit. Positionen – Konflikte – Herausforderungen, Würzburg 2015. 5 Wilhelm Schwendemann (Hg.), Menschenrechte im Religionsunterricht. Bausteine für die Sekundarstufe I, Göttingen 2010. 6 Vgl. EKD-Kirchenkanzlei (Hg.), Die Evangelische Kirche und die Bildungsplanung, Gütersloh 1972, 119–127. 7 Vgl. v.a. Abschnitt 2.2. Der Beschluss ist online verfügbar unter: www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Synoden/gemeinsame_Synode/band1/synode.pdf. 8 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994, 4. 9 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die bildende Kraft des Religionsunterrichts, Bonn 52009, 68f.

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Bildungs- und Erziehungsfragen entfaltet.10 Beide Ansätze werden im vorliegenden Band eigens vorgestellt. Im Folgenden konzentriere ich mich darauf, die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte in der Perspektive einer Öffentlichen Religionspädagogik nachzuzeichnen, wie sie seit einigen Jahren programmatisch in Aufnahme des Diskurses um Öffentliche Theologie von einer Reihe von Autoren entwickelt wird.11 Dabei werde ich einen besonderen Akzent auf die Herausarbeitung von interreligiösen Perspektiven legen, die im menschenrechtlichen Kontext eine neue Beleuchtung erhalten.12 2 Menschenrechtstheoretische Grundlagen: ein pluralistisches Verständnis von Menschenrechten und Menschenrechtsbildung13 Die Rolle der Religionen im Diskurs um Menschenrechte und Menschenrechtsbildung ist umstritten. Eine Hauptströmung, die ich als säkularistische Lesart der Menschenrechte bezeichne, betont deren rein säkularen Charakter, um so auch ihre universalistische Geltung sicherstellen zu können.14 Selbst wenn zugestanden wird, dass bedeutsame Wurzeln des Menschenrechtsdenkens und des Grundwerts der Menschenwürde in religiösen Traditionen liegen, wird gerade deren erfolgreiche Säkularisierung als Voraussetzung für die allgemeine Anerkennung der Menschenrechte gesehen. Eine Vergegenwärtigung von solchen religiösen Bezügen zur Begründung, Interpretation oder konkretisierenden Entfaltung der Menschenrechte wird in dieser Sicht als unnötig oder gar hinderlich für deren Verbreitung betrachtet. Religionen erschei10 Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2013; Ders., Menschenwürde und evangelische Bildung. Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive, Zürich 2011. Vgl. hierzu seinen Beitrag in diesem Band. 11 Zu erwähnen sind v.a. Bernd Schröder, Bernhard Grümme, Thomas Schlag und Henrik Simojoki. Meine eigenen Überlegungen zu einer Öffentlichen Religionspädagogik lassen sich u.a. nachlesen in: Manfred L. Pirner, Religion und öffentliche Vernunft. Impulse aus der Diskussion um die Grundlagen liberaler Gesellschaften für eine Öffentliche Religionspädagogik, in: ZPT 67 (2015), H. 4, 310–318; Ders., Repräsentation und Übersetzung als zentrale Aufgaben einer Öffentlichen Theologie und Religionspädagogik, in: EvTh 75(2015) H. 6, 446–458. 12 Weitere Aspekte zum Verhältnis von Menschenrechtsbildung und religiöser Bildung finden sich in: Manfred L. Pirner, Art. Menschenrechtspädagogik, in: WiReLex (www.wirelex.de). 13 Vgl. genauer zum Folgenden: Manfred L. Pirner, Human Rights, Religion, and Education. A Theoretical Framework, in: Ders. / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (eds.), Human Rights and Religion in Educational Contexts, Cham 2016, 11–27. 14 Vgl. exemplarisch Gret Haller, Menschenrechte ohne Demokratie? Der Weg der Versöhnung von Freiheit und Gleichheit, Bonn 2013; Herbert Schnädelbach, Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt a.M. 2009.

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nen ausschließlich als Teil des Problems, als Hindernisse für die Entwicklung einer Kultur der Menschenrechte; sie müssen durch die Menschenrechte, insbesondere durch das Menschenrecht auf Religionsfreiheit, zivilisiert werden. Als Teil der Lösung, also als Förderer, Verbreiter und Unterstützer der Menschenrechte kommen sie dagegen nicht in den Blick. Dies spiegelt sich auch in aktuellen deutschsprachigen wie internationalen Konzepten der Menschenrechtsbildung wider, beispielsweise in dem ansonsten sehr hilfreichen und reflektierten Buch der britischen Autoren Audrey Osler und Hugh Starkey.15 Im Kapitel »Werte, Kulturen und Menschenrechte«, in dem die Notwendigkeit herausgestellt wird, die Menschenrechte in verschiedenen Kulturen zu kontextualisieren, wird bedauerlicherweise den religiösen Kulturen und ihrem Potenzial, zu Verständnis und Akzeptanz der Menschenrechte beizutragen, keine Beachtung geschenkt. Dementsprechend wird in dem Buch auch kein Bezug der Menschenrechtsbildung zum Religionsunterricht hergestellt, der ja in England ordentliches Unterrichtsfach an allen öffentlichen Schulen ist und durchaus von englischen Religionspädagogen in engen Zusammenhang mit »Citizenship Education« gebracht wird.16 Im deutschen Sprachraum findet sich eine ähnliche Vernachlässigung der Bedeutung religiöser Bildung für Menschenrechtsbildung z.B. in den Büchern von K. Peter Fritzsche und Volker Lenhart.17 Der skizzierten säkularistischen Strömung der Menschenrechtsdebatte steht eine Position gegenüber, die ich als pluralistische Lesart der Menschenrechte bezeichne. Sie geht davon aus, dass die Menschenrechte in ihren Wurzeln auf unterschiedliche weltanschauliche und religiöse Traditionen zurückgehen und deshalb auch aus solchen pluralen Perspektiven heraus verstanden, unterstützt, interpretiert und konkretisiert werden können. Die prominentesten philosophischen Vertreter dieser Position sind John Rawls und Jürgen Habermas, die beide dafür plädieren, dass religiöse Bürgerinnen und Bürger ihre religiösen Perspektiven in den öffentlichen politischen Diskurs einbringen können sollen, und die sich davon positive Beiträge zum Gemeinwohl versprechen.18 Umgekehrt gilt 15 Audrey Osler / Hugh Starkey, Teachers and human rights education, Oakhill 2010. 16 Vgl. z.B. Liam Gearon, Religious Education and Citizenship: Guidance for Teachers, Culham 2009; James Arthur / Liam Gearon / Alan Sears, Education, Politics and Religion. Reconciling the Civil and the Sacred in Education, London / New York 2010. 17 K. Peter Fritzsche, Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten. 3. erw. u. aktual. Aufl., Paderborn 2016; Volker Lenhart, Pädagogik der Menschenrechte. 2., überarb. u. aktual. Aufl., Wiesbaden 2006. 18 Vgl. v.a. John Rawls, Political Liberalism. Expanded Edition, New York 2005 (erste Aufl. 1993); Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2009; Ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Frankfurt a.M. 2012; grundlegend ebenfalls: Heiner Bielefeldt, Philosophie der Men-

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auch, dass anerkannte politische Werte und Konzepte wie die Menschenrechte idealerweise von religiösen Menschen in ihre jeweiligen religiösen Anschauungen integriert werden sollen – wie das in Deutschland die beiden großen christlichen Kirchen getan haben und wie es von einem »europäischen Islam« erhofft wird. Die Menschenrechte werden von religiösen Bürgern dann nicht nur aufgrund von rein politisch-pragmatischen Überlegungen akzeptiert, sondern auch aus genuin religiösen Gründen bejaht. Wenn das geschieht, gewinnt die Verankerung der Menschenrechte in der Gesellschaft eine tiefere und breitere Basis, womit zugleich die Verständigung und der Zusammenhalt zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Orientierung gefördert werden. John Rawls hat in diesem Zusammenhang von einem »overlapping consensus« gesprochen, der allerdings nicht lediglich eine Schnittmenge vorfindlicher Gemeinsamkeiten verschiedener Religionen und Weltanschauungen meint, sondern einen Konsens, der erst dadurch entsteht, dass diese sich von bereits konsensual festgelegten politischen Werten wie z.B. denen der Menschenrechte zu mehr Gemeinsamkeit und Humanität herausfordern lassen.19 Nach Einschätzung der Menschenrechtstheoretiker James Nickel und Jack Donelly sehen heute die meisten führenden Religionen der Welt die Menschenrechte als politischen Ausdruck ihrer eigenen tiefsten Werte, so dass sie aus ihren eigenen Sinnpotenzialen heraus eine Kultur der Menschenrechte unterstützen, befördern und weiterentwickeln helfen20 – auch wenn es weiterhin Konflikte zwischen bestimmten Menschenrechten und den Wertvorstellungen von bestimmten Religionen gibt. Wie besonders Jürgen Habermas betont hat, ist eine demokratische, freiheitlich-menschenrechtliche Gesellschaft darauf angewiesen, dass sich die Zustimmung der freien und gleichen Bürgerinnen und Bürger zu den politischen Grundwerten und das Engagement, an ihrer Weiterentwicklung mitzuarbeiten, immer wieder neu einstellt. Neben der oben bereits erwähnten moralisch-sozialisierenden Funktion, die auch kodifizierten Rechten eigen ist, spielen darum bei der Aneignung der Menschenrechte Lern- und Bildungsprozesse eine wesentliche Rolle und damit sowohl Orte formeller, öffentlicher Bildung als auch Orte informellen Lernens wie etwa Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Religionsgemeinschaften. Für Habermas werden religiöse Traditionen in diesem Zusamschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 2005. Vgl. auch Manfred L. Pirner, Religion und öffentliche Vernunft. Impulse aus der Diskussion um die Grundlagen liberaler Gesellschaften für eine Öffentliche Religionspädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67 (2015), H. 4, 310–318. 19 Vgl. hierzu auch Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998, 146. 20 Vgl. James Nickel, Human rights, in: Standford Ecyclopedia of Philosophy, 2014, online unter: http://plato.standford.edu/entries/rights-human; Jack Donelly, Human rights in theory and practice, Ithaca, NY, 32013, 59.

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menhang besonders bedeutsam als Quellen und »semantische Potentiale« von Sinn und Humanität. Zugleich macht er deutlich, um welche fundamentalen Lernprozesse es genauer geht: Religiöse Menschen müssen lernen, die Wahrheitsansprüche ihrer Religion ohne Ausübung von Zwang, Druck oder Manipulation zu artikulieren und im öffentlichen, politischen Raum die Priorität politischer Normen und Werte gegenüber religiösen Normen und Werten zu akzeptieren – insofern wird in der Tat das Menschenrecht auf Religionsfreiheit zu einem »Testfall« für die Modernitäts- und Pluralitätsfähigkeit von Religionen.21 Religiöse Menschen müssen zudem lernen, ihre gesellschaftlichen und politischen Anliegen so zu formulieren, dass auch nichtreligiöse und andersreligiöse Menschen sie verstehen können. Umgekehrt müssen, laut Habermas, nichtreligiöse Menschen lernen, religiöse Menschen als gleichwertige, gleichberechtigte Bürger zu akzeptieren, die grundsätzlich aus ihren religiösen Perspektiven wertvolle Beiträge in den gesellschaftlichen Diskurs um Humanität und Zusammenhalt einbringen können. Ja, nichtreligiöse Menschen sollten sich selbst eine Sensibilität für religiöse Sprache bewahren und sich an Versuchen beteiligen, diese für alle verständlich zu machen – unabhängig davon, wie sie zu den Glaubensinhalten einer Religion stehen. Habermas spricht hier von »komplementären Lernprozessen« von religiösen und nichtreligiösen Bürgerinnen und Bürgern. Letztlich geht es ihm darum, dass beide Seiten selbstreflexiv die Begrenztheiten ihrer jeweiligen eigenen Perspektiven erkennen und offen dafür werden, auf einander zu hören und voneinander zu lernen. Die Basis dafür bildet eine für alle zugängliche, vernunftgeleitete Kommunikation, die sich zudem an den bereits konsensual erreichten politischen Grundwerten orientiert. In einer analogen, an die vorgetragene Argumentation anschlussfähigen Weise hat Heiner Bielefeldt die Geschichte der Menschenrechte als einen nach vorne offenen gemeinsamen Lernprozess von Menschen unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen und Kulturen rekonstruiert. Dieser Lernprozess bleibt unabgeschlossen und offen und lebt somit auch weiterhin davon, dass sich Menschen unterschiedlicher kultureller und weltanschaulich-religiöser Orientierungen in ihn einbringen.22

21 Vgl. hierzu Heiner Bielefeldt, Testfall Religionsfreiheit, in: Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung, Berlin 2015, 44–60. 22 Vgl. Heiner Bielefeldt, Ideengeschichte(n) der Menschenrechte, in: Nicole Janz / Thomas Risse (Hg.), Menschenrechte – Globale Dimensionen eines universellen Anspruchs, Baden-Baden 2007, 177–186; Ders., Historical and Philosophical Foundations of Human Rights, in: Martin Scheinin / Catarina Krause (Hg.), International Protection of Human Rights. A Textbook, Turku, Finnland 2009, 3–18.

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3 Religionspädagogische Perspektiven Folgt man der vorgetragenen pluralistischen menschenrechtstheoretischen Perspektive, dann spielen Beiträge aus unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Perspektiven zum Menschenrechtsdiskurs sowie zur Menschenrechtsbildung eine wichtige Rolle und dann ist öffentliche religiöse Bildung wie etwa der schulische RU von erheblicher Bedeutung für die Förderung einer Kultur der Menschenrechte. Diesem Ansatz sind v.a. die Beiträge in den Sammelbänden von Pirner, Lähnemann und Bielefeldt verbunden23; die Bedeutsamkeit von religiösen Perspektiven und religiöser Bildung kommt aber z.B. auch in den Publikationen von Claudia Lohrenscheit und Wolfgang Benedek, sowie international in dem Buch von Fuad Al-Daraweesh und Dale T. Snauwaert in den Blick.24 Solche Bezüge zur religiösen Bildung sollen im Folgenden unter zwei Hauptaspekten etwas genauer skizziert werden. 3.1 Interreligiöser Dialog und interreligiöse Bildung Wie bereits angedeutet, erhalten im angedeuteten menschenrechtstheoretischen Rahmen interreligiöse Lernprozesse eine besondere Bedeutung, aber auch signifikante Akzentuierungen. Zum einen ist deutlich geworden, dass solche Lernprozesse nicht lediglich als dialogisch, sondern als trialogisch zu fassen sind: Es geht nicht lediglich darum, dass Religionen und Weltanschauungen in vielfältige Dialoge mit einander kommen, sondern es geht immer auch darum, die Basis und das primäre Bezugsfeld einer solchen Verständigung als dritten Faktor präsent zu halten: die gemeinsamen normativen Grundlagen unserer (Welt-)Gesellschaft, die am prägnantesten und zustimmungsfähigsten in den Menschenrechten festgehalten sind. Durch sie werden sowohl die prozessualen Kommunikationsregeln mitbestimmt – interreligiöse Kommunikation als Kommunikation zwischen gleichberechtigten und wechselseitig zu respektierenden Partnern – als auch wichtige Inhalte und Ziele der interreligiösen Kommunikation – z.B. die Auseinandersetzung über den Umgang mit behinderten Menschen oder mit Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung. 23 Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung, Berlin 2015; Dies. (Hg.), Human Rights and Religion in Educational Contexts, Cham 2016. 24 Claudia Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 2004; Wolfgang Benedek (Hg.), Menschenrechte verstehen. Handbuch zur Menschenrechtsbildung, Wien/Graz 22009; Fuad Al-Daraweesh / Dale T. Snauwaert, Human Rights Education beyond Universalism and Relativism. A Relational Hermeneutic for Global Justice, New York 2016.

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Das schließt natürlich nicht aus und macht es nicht überflüssig, dass dialogische Verständigungs- und Lernprozesse im Sinne einer Didaktik der Begegnung direkt zwischen Menschen verschiedener religiöser oder weltanschaulicher Orientierung stattfinden, wie dies v.a. Johannes Lähnemann wiederholt eingefordert hat.25 Bei ihm und Karl Ernst Nipkow lässt sich lernen, dass es solche spezifischen bilateralen Verständigungsprozesse auf der Basis einer »pluralisierenden Hermeneutik« braucht, weil die Beziehungen zwischen den Religionen und Weltanschauungen spezifisch und charakteristisch sind – das Verhältnis etwa des Christentums zum Judentum ist ein anderes als zum Islam oder zum Buddhismus.26 Die zunächst bilateral oder multilateral ausgeloteten Verständigungsergebnisse können dann auch den (welt-)gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Allerdings ist es m.E. auch in diesen Fällen ratsam, sich zu vergegenwärtigen, dass solche Verständigungsprozesse nicht im gleichsam voraussetzungslosen, wertefreien Raum stattfinden, sondern sie unter bewusster, konstruktiv-kritischer Einbeziehung des Grundwerte- und Menschenrechtsdiskurses zu führen. Und es macht guten Sinn, ihre Ergebnisse nicht als Alternativen, sondern als Ergänzungen oder Vertiefungen der menschenrechtlichen Konsense zu verstehen – zumal alle offiziellen Dokumente ihrerseits die Menschenrechte nicht als Grundlage einer ersatzreligiösen Ideologie verstehen, sondern sie bewusst für unterschiedliche kulturelle, weltanschauliche und ethische Kontexte offenhalten. Dementsprechend hat z.B. das Weltparlament der Religionen seine, maßgeblich von Hans Küng vorangetriebene, Erklärung zum Weltethos von 1993 explizit als eine solche Ergänzung und Unterstützung der Menschenrechte verstanden.27 Im Licht des Menschenrechtsdiskurses wird zudem besonders deutlich und schmerzhaft sichtbar, dass der religionspädagogische Diskurs um interreligiöse Bildung nicht selten an der Exklusion oder Marginalisierung nichtreligiöser weltanschaulicher Perspektiven krankt. Dies gilt begrifflich-konzeptionell auch dann, wenn säkulare Gesprächspartner bewusst einbezogen werden sollen, worauf u.a. der kanadische Professor für »Worldview Studies« John Valk wiederholt hingewiesen hat.28 Dabei 25 Vgl. Johannes Lähnemann, Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive, Göttingen 1998. 26 Vgl. Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, inbes. 33ff. 27 Vgl. http://www.weltethos.org/faq_zum_projekt_weltethos/. Demgegenüber sind Versuche, eine eigene »Universal Declaration of Human Rights by the World’s Religions« zu erstellen, nach meiner Sicht kritisch zu bewerten und haben sich glücklicherweise nicht durchsetzen können (vgl. Arvind Sharma, The Rationale for a Universal Declaration of Human Rights by the World’s Religions: Before and after September 11, 2001, in: ders. (ed.), The World’s Religions after September 11. Religion and Human Rights, Westport, Conn. / London, 2009, 187–189). 28 Vgl. z.B. John Valk, Religion or Worldview. Enhancing Dialogue in the Public Square, in: Marburg Journal of Religion 14 (2009), H. 1, 1–16; Mualla Selcuk / John

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ist es allerdings, zumindest im Deutschen, schwierig, eine alternative Begrifflichkeit zu finden. Die von Valk im Englischen programmatisch bevorzugte Bezeichnung »Worldview Education« lässt sich als »Weltanschauungsbildung« wegen der Assoziationen zum Weltanschauungsunterricht der Nationalsozialisten nicht übernehmen. Zudem würde die Subsummierung von Religionen unter »Weltanschauungen« wiederum diesen wohl kaum gerecht werden, weil Religionen über die weltanschauliche Dimension hinausgehende Merkmale einer individuellen und sozialen Lebensform umfassen. Als Kompromiss ließe sich vielleicht von »religiös-weltanschaulicher Bildung« sprechen, aber eine dem Begriff »interreligiös« entsprechende Alternative dürfte schwer zu finden sein (»inter-weltanschaulich«?). Weiterhin machen die Überlegungen von Habermas darauf aufmerksam, dass es bezüglich des Verhältnisses der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen in einer pluralistischen Gesellschaft um mehr Lernund Bildungsaufgaben geht als jene, die in der Regel religionspädagogisch unter dem Label »interreligiöses Lernen« gefasst werden. Es geht eben auch um die von Habermas so genannten »komplementären Lernprozesse«. Das heißt, es geht einerseits darum, dass religiösen Menschen spezifisch religiöse Zugänge zu den menschenrechtlichen, demokratischfreiheitlichen Grundwerten erschlossen werden, die ihr religiöses Selbstverständnis in Richtung einer Kompatibilität mit diesen Grundwerten verändern und ihre Bereitschaft zur konstruktiv-selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Tradition ebenso befördern wie zur Mitwirkung an der konstruktiv-kritischen Weiterentwicklung von Grundwerten und Menschenrechten. Hier sind unterschiedliche Religionen unterschiedlich ›weit‹ bzw. positionieren sich an unterschiedlichen Stellen; interreligiöser Dialog und interreligiöse Bildung können und sollten den Austausch sowie wechselseitige Anregungen zum Verhältnis zwischen Religionen und Menschenrechten mit beinhalten – wobei schulmeisterliche oder paternalistische Haltungen vermieden werden sollten. Andererseits geht es auch darum, säkularen Menschen die humanen Potenziale von Religionen, bzw. religiösen Menschen die humanen Potenziale der jeweils anderen Religionen und Weltanschauungen, so zu erschließen, dass deren Beiträge zum Gemeinwohl und zu einer Kultur der Menschenrechte in Vergangenheit, Gegenwart und – nach Möglichkeit – in der Zukunft sichtbar und wertschätzbar werden, und zwar gerade ohne die Religionen auf ihre Funktionalität zu reduzieren. Abschließend soll exemplarisch zumindest ein m.E. gewichtiger religiöser Beitrag zu einer Kultur der Menschenrechte und damit zur Menschenrechtsbildung angesprochen werden.

Valk, Knowing Self and Others: A Worldview Model of Religious Education in Turkey, in: Religious Education 107 (2012), H. 5, 443–457.

Religionspädagogische Perspektiven zur Menschenrechtsbildung

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3.2 Ein spezifisch religiöser Beitrag zur Menschenrechtsbildung: die Memoria Passionis Zu Recht hat Reinhold Boschki in seinem Beitrag zu dem bereits erwähnten Sammelband die gängige Darstellung der Geschichte der Menschenrechte, nach der sich die philosophische Idee der Menschenwürde und Menschenrechte immer mehr durchgesetzt habe, als legendenhafte »Standarderzählung« dekonstruiert.29 Er weist darauf hin, dass die Entwicklung, Proklamation und vertragliche Vereinbarung der Menschenrechte in erster Linie als Reaktion auf unermessliche Leid- und Unrechtserfahrungen zu verstehen sind. Die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte sei dementsprechend also »nicht die Folge der Durchsetzung von philosophischen ›Ideen‹ und der allmählichen Erkenntnis des wahren Guten durch die Menschheit«, sondern vielmehr »Antwort auf die Barbarei des 20. Jahrhunderts«, die im Holocaust ihren Höhepunkt gefunden hat.30 Kaum jemand hat so eindringlich und unermüdlich wie der katholische Theologie Johann Baptist Metz betont, dass eine humane Rationalität nicht ohne die Erinnerung an Leid und Unrecht zu haben ist und dass der Beitrag der jüdisch-christlichen Tradition zum Gemeinwohl in erster Linie in einer solchen »Memoria Passionis« besteht.31 Sie wirkt auch einer ›Verbürgerlichung‹ der Menschenrechte insofern entgegen, als die Leidenden, Entrechteten und Unterdrückten und ihre Erfahrungen immer wieder neu ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Als jüdische Religions- und Friedenspädagogin hat Zehavit Gross am Beispiel der jüdischen Erinnerung an den Exodus, welche insbesondere im Seder-Mahl ritualisiert ist, gezeigt, wie diese Erinnerung an geschichtliches Leid und Unrecht, aber auch an die Befreiung durch Gott, zu einer Kultur der Solidarität mit den Entrechteten und Unterdrückten führt, die nicht in erster Linie auf philosophischem Nachdenken, sondern auf einfühlendem, reflektierendem Nacherleben beruht.32 Auf der Basis solcher Überlegungen legt sich nahe, im Rahmen einer Didaktik der Menschenrechtsbildung elementare Zugänge nicht primär über die histo-

29 Vgl. Reinhold Boschki, Menschenrechtsbildung im Kontext einer »Culture of Remembrance«, in: Pirner/Lähnemann/Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und interreligiöse Bildung, 200–209; hier: 200. Er folgt damit dem kritischen Ansatz von Christoph Menke / Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung. Hamburg 2008. 30 Ebd., 201. 31 Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg i.Br. 42011. 32 Zehavit Gross, Educating for Human Rights from the Jewish Perspective – Principles and Methods, in: Pirner/Lähnemann/Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und interreligiöse Bildung, 210–220.

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rische Entwicklung der Menschenrechte und die Einführung in die diversen Menschenrechtserklärungen und -pakte zu suchen, sondern über konkrete Leid- und Unrechtserfahrungen konkreter Menschen. In schulischen Kontexten ist dabei zu bedenken, dass nicht wenige Schülerinnen oder Schüler nach empirischen Studien gerade hier in der Schule signifikante Unrechtserfahrungen machen, indem sie von Lehrkräften unfair behandelt oder bloßgestellt oder von ihren Klassenkameraden gemobbt werden.33 Noch gravierendere Unrechtserfahrungen machen manche Auszubildenden in ihren beruflichen Ausbildungskontexten, wie Andrea Roth in ihrer Dissertation eindrücklich aufgezeigt hat.34 Menschenrechtsrelevante Leid- und Unrechtserfahrungen lassen sich also nicht lediglich in anderen, häufig weit entfernten Ländern finden, sondern auch bei uns in Deutschland; sie fordern z.B. zur Gestaltung einer ›menschenrechtssensiblen‹ Schulkultur und Ausbildungskultur in Schulen und Betrieben heraus. Mit der Memoria Passionis kommt ein weiterer Aspekt in den Blick, der für Menschenrechtsbildung von hoher Relevanz ist und den Metz ebenso wie Gross besonders betont hat: Als zentrale pädagogische Aufgabe stellt sich nämlich die Entwicklung von Mitgefühl, von »Compassion« im Sinne der Solidarisierung mit und Zuwendung zu leidenden Menschen. In der katholischen, aber auch in der evangelischen Religionsdidaktik sind hierzu wegweisende Konzepte ausgearbeitet worden.35 Im Menschenrechtsdiskurs hat v.a. der amerikanische Philosoph Richard Rorty die philosophisch-kognitivistische Perspektive selbstkritisch und radikal in Frage gestellt und statt dessen die Entwicklung und Förderung von Mitgefühl als zentral für eine »Kultur der Menschenrechte« proklamiert.36 In der Menschenrechtspädagogik kann es sicher nicht darum gehen, in analoger Radikalität das emotional-affektive Lernen gegen das kognitiv-reflexive Lernen auszuspielen. Eine an der jüdisch-christlichen Memoria Passionis-Perspektive geschulte Religionspädagogik könnte aber wichtige Impulse dazu geben, dass erfahrungs- und mitgefühls33 In ihrer Dissertation hat Daniela Haas solche empirischen Befunde zusammengestellt und in den Kontext einer schulischen »Beschämungskultur« gestellt: Daniela Haas, Das Phänomen Scham. Impulse für einen lebensförderlichen Umgang mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht, Stuttgart 2013, Kap. VIII. 34 Vgl. Andrea Roth, Option Menschlichkeit im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität. Theologisch-ethische Perspektiven zum Hotel- und Gastgewerbe mit religionspädagogischen Implikationen, Diss. Universität ErlangenNürnberg. 35 Vgl. Lothar Kuld / Stefan Gönnheimer, Compassion. Sozialverpflichtetes Lernen und Handeln, Stuttgart 2000; Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2007. 36 Vgl. hierzu v.a. die erhellende Darstellung von Barbara Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl. Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte, Freiburg 2016.

Religionspädagogische Perspektiven zur Menschenrechtsbildung

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orientierte Zugänge mehr Gewicht in der Menschenrechtsbildung erhalten – auch, weil sie letztlich Kindern und Jugendlichen und ihren Lernmöglichkeiten besonders entgegenkommen. Dr. Manfred L. Pirner ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Universität Erlangen-Nürnberg.

2.3 Friedrich Schweitzer

Menschenrechte in Religionspädagogik und Religionsunterricht Grundsätzliche Verhältnisbestimmungen Die Frage nach Menschenrechten gehört nicht zu den traditionellen Themen von Religionsunterricht oder Religionspädagogik. Das ist insofern überraschend, als die in den Menschenrechten angesprochenen inhaltlichen Einzelfragen zumindest seit den 1960er Jahren und der Wendung zur Problemorientierung durchaus zum religionspädagogischen Themenbestand zählen. Die Menschenrechtsthematik als solche hat in der Religionspädagogik aber erst in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit gewonnen. Insofern kann es nicht überraschen, dass es bislang an grundsätzlichen Verhältnisbestimmungen fehlt, obwohl in jüngster Zeit zunehmend erste Ansätze zu einer solchen Verhältnisbestimmung vorgelegt werden. Zumeist geschieht dies allerdings noch unter ausgewählten Einzelaspekten, während die Gesamtthematik – was Menschenrechtsbildung für Religionspädagogik und Religionsunterricht bedeuten und umgekehrt – nur angeleuchtet wird.1 Auch der vorliegende, in seinem Umfang begrenzte Beitrag kann diese Lücke nicht füllen. Es sollen aber verschiedene Fragerichtungen aufgezeigt und darauf bezogene Antwort- und Entwicklungsmöglichkeiten beschrieben werden, die in der weiteren Diskussion verstärkt Beachtung verdienen.

1 Als frühes Beispiel vgl. Johannes Heide, »Soll ich meines Bruders Hüter sein?«. Zugänge zum Verständnis der Menschenrechte im Religionsunterricht. Eine Untersuchung zur Frage der didaktischen Rezeption des Themas »Menschenrechte« in unterrichtsrelevanten Materialien und Schulbüchern sowie in den Lehrplänen und Rahmenrichtlinien für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht, Frankfurt a.M. 1992; zur aktuellen Diskussion s. Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und interreligiöse Bildung. Referate und Ergebnisse des Nürnberger Forums 2013, Berlin 2015; vgl. auch den Beitrag von Manfred Pirner in diesem Band. Meine Darstellung im Folgenden berührt sich mehrfach mit Thomas Schlag, Menschenrechtsbildung im evangelischen Religionsunterricht, ebd., 177–189. In der englischsprachigen Diskussion hat besonders Liam Gearon die (religions-)pädagogische Diskussion vorangetrieben; vgl. u.a. Liam Gearon (Hg.), Human Rights and Religion. A Reader, Brighton 2002.

Menschenrechte in Religionspädagogik und Religionsunterricht

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1 Was haben Religionspädagogik und Religionsunterricht mit Menschenrechtsbildung zu tun? Wenn die Menschenrechtsthematik erst in den letzten Jahren eine verstärkte religionspädagogische Aufmerksamkeit gewonnen hat, liegt es nahe, nach den Gründen für diesen Wandel in der Diskussion zu fragen. An diesen Gründen sind dann auch religionspädagogische Verhältnisbestimmungen im Blick auf Menschenrechtsbildung abzulesen. Verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für die ausdrückliche religionspädagogische Aufnahme von Aufgaben der Menschenrechtsbildung legen sich nahe oder sind entsprechenden Darstellungen explizit zu entnehmen: – Die in den letzten 20 Jahren für die Religionspädagogik in einer paradigmatischen Weise immer bedeutsamer gewordene Pluralitäts- oder Pluralismusthematik2, in deren Hintergrund nicht zuletzt die Globalisierung steht, führt offenbar zu der Suche nach normativen Grundlagen, die gleichsam pluralisierungsresistent sind. Je vielfältiger sich Kultur und Gesellschaft darstellen, desto dringlicher wird offenbar die Frage nach gemeinsamen normativen Grundlagen. In diesem Sinne hat besonders Karl Ernst Nipkow versucht, »notwendige Grenzen des Werte- und Normenpluralismus« aufzuzeigen, »die nicht zur Disposition gestellt werden dürfen«. An erster Stelle verweist er dabei auf die »Grund- bzw. Menschenrechte und die Grundwerte«3. In einem solchen unverzichtbaren Bestand an Werten sieht er vor allem eine Basis für Moralpädagogik und Ethikunterricht, implizit bezieht sich sein Argument aber auch auf den Religionsunterricht und dessen Auseinandersetzung mit der Pluralität. So gesehen stellt das Interesse an Menschenrechten in erster Linie eine Antwort auf verunsichernde Pluralitätserfahrungen im Zuge des gesellschaftlichen Wandels dar. – Diese Deutung macht zugleich verständlich, warum auch auf der konkreteren Ebene der Schule der Bezug auf Grund- und Menschenrechte an Gewicht gewinnt. In einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft kann auch der schulische Erziehung- und Bildungsauftrag nicht mehr einfach durch den Bezug etwa auf die christliche Tradition begründet werden. Daran ändern auch entsprechende Bestimmungen vor allem in Landesverfassungen, die sich explizit auf die christlich-abendländische Tradition beziehen4, prinzipiell nur wenig, weil sie gegebenenfalls pluralitätskonform ausgelegt werden müssen. In solchen Auslegungen, die sich dann insbesondere 2 Vgl. Friedrich Schweitzer / Rudolf Englert / Ulrich Schwab / Hans-Georg Ziebertz, Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Freiburg/Gütersloh 2002. 3 Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt. Band 1: Moralpädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, 131. 4 Vgl. etwa die Landesverfassung Baden-Württemberg Art. 12 (Ziele der Erziehung).

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auf die Menschenrechte berufen5, kommt ein Universalisierungsprozess zum Tragen, der dann auch für den Religionsunterricht Folgen hat: Als Teil einer solchermaßen verstandenen Schule muss der Religionsunterricht wie jedes andere Fach deutlich machen können, in welchem Sinne er zur Menschenrechtsbildung beiträgt. – Aus dem – zugespitzt formuliert – neuen Zwang, explizit zur Menschenrechtsbildung beizutragen, erwächst in positiver Hinsicht zugleich aber auch eine neue Möglichkeit, wie sich der Religionsunterricht in seiner gesellschaftlichen Relevanz legitimieren lässt: Als Beitrag zur Menschenrechtsbildung ist dieser Unterricht auch in der Gegenwart unmittelbar plausibel. Dies ist umso bedeutsamer, als gerade auch Menschenrechtsverletzungen im globalen Horizont häufig im Namen von Religion zu geschehen scheinen, dann auch als religiös motovierte Einschränkung von Religionsfreiheit.6 Das gilt nicht nur für die naheliegende Möglichkeit von Verstößen gegen die Religionsfreiheit, die aus der Perspektive einer Mehrheitsreligion mitunter nicht allen Religionen gleichermaßen zugestanden wird, sondern auch für zahlreiche andere Menschenrechtsverletzungen im Sinne religiös motivierter Diskriminierung und Aggression. – Dem entspricht weiterhin, dass die Religionspädagogik durch die positive Aufnahme des Anliegens einer Menschenrechtsbildung in neuer Weise kommunikationsfähig werden kann: Im Horizont der Menschenrechte kann sie verdeutlichen, wie die Inhalte und Bezüge des Religionsunterrichts sich vielfach auch als Unterstützung für menschenrechtliche Bestimmungen und Einstellungen verstehen und auslegen lassen und dass auf diese Weise Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Fächern erschlossen werden können.7 Das aktuellste Beispiel dafür ist der Zusammenhang zwischen der Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 1,26f. auf der einen und der Begründung von Menschenwürde auf der anderen Seite (s. dazu noch unten), dessen verstärkte Wahrnehmung in der theologischen Diskussion auch einen spezifisch religionspädagogischen Beitrag zur Menschenrechtsbildung unterstützt.8 Der Bezug auf Menschenrechtsbildung macht die Religionspädagogik also in neuer Weise kommunikationsfähig. 5 Das zeigt sich etwa bei dem Brandenburger Schulfach LER; vgl. Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde. Jahrgangstufen 5–10, https://bildungsserver.berlinbrandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/rahmenlehrplaene/Rahmenlehrplanprojekt/a mtliche_Fassung/Teil_C_L-E-R_2015_11_10_WEB.pdf (eingesehen 30.1.2017), 6: »Den Orientierungsrahmen des Faches stellen die Menschenrechte dar.« 6 Vgl. dazu den Beitrag von Heiner Bielefeldt im vorliegenden Band. 7 Als Hintergrund vgl. bspw. die Beiträge in Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Menschenrechte, Christentum und Islam, Münster 2010; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band. 8 Vgl. dazu Friedrich Schweitzer, Menschenwürde und Bildung. Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive, Zürich 2011.

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– Schließlich spielt für die Aufwertung der Menschenrechtsthematik in der Religionspädagogik ohne Zweifel die Wiederentdeckung der politischen Dimension religionspädagogischen Denkens und Handelns eine wichtige Rolle.9 Sie führt dazu, dass der mitunter einseitig auf kulturelle und ästhetische Themen beschränkte Bestand wieder erweitert wird, nicht zuletzt im Blick auf Menschenrechtsfragen. Menschenrechtsbildung erlaubt es dem Religionsunterricht, seine unverzichtbare politische Dimension wahrzunehmen. So gesehen gibt es also plausible Gründe dafür, warum die Bedeutung von Menschenrechtsbildung für Religionspädagogik und Religionsunterricht zugenommen hat und wohl noch weiter zunehmen wird. Die Erwartung, dass die Gründe für die veränderte Gewichtung der Menschenrechtsthematik in Religionspädagogik und Religionsunterricht zugleich zu entsprechenden Verhältnisbestimmungen führen, bestätigt sich. Man kann es auch so weiter zuspitzen, dass die Menschenrechtsthematik eine konstitutive Bedeutung für die Religionspädagogik gewonnen hat und deshalb auch, im Unterschied zu früheren Zeiten, in den Konstitutionsdiskurs von Religionspädagogik als Disziplin eingehen muss, indem der grundlegende Bezug der Disziplin auf Menschenrechtsbildung herausgearbeitet wird. Im Folgenden soll allerdings zugleich deutlich werden, dass die religionspädagogische Integration von Menschenrechtsbildung nicht nur einen sicheren Gewinn bedeutet, sondern auch Folgeprobleme und Rückfragen entstehen lässt. Dazu gehört insbesondere das Problem einer Verwechselbarkeit religiöser mit politischer oder moralischer Bildung. Der Religionsunterricht könnte so gesehen zu einem austauschbaren funktionalen Äquivalent werden, da sich die Aufgabe der Menschenrechtsbildung offenbar auch durch andere Fächer erfüllen lässt. Deshalb ist im Folgenden auch bewusst im Blick zu behalten, welchen spezifischen oder unverwechselbaren und deshalb unverzichtbaren Beitrag der Religionsunterricht zur Menschenrechtsbildung zu leisten vermag. In die neue religionspädagogische Aufmerksamkeit für die Menschenrechtsthematik gehen auch weiter zurückliegende Entwicklungen ein, aus denen für die Zukunft ebenfalls Einsichten zu gewinnen sind. Zumindest in gewisser Hinsicht bezog sich die wohl am stärksten politisch ausgerichtete Phase der Religionspädagogik, in der Gestalt einer problemorientierten und ideologiekritischen Religionspädagogik, zumindest der Sache nach häufig auf menschenrechtlich bedeutsame Themen oder eben »Probleme«. Das gilt etwa für die Achtung vor der Würde des Menschen, aber auch für soziale Gerechtigkeit und Freiheit. Eine gewisse Fortsetzung fand diese Akzentuierung der Religionspädagogik 9 Vgl. bes. Thomas Schlag, Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg 2010; Bernhard Grümme, Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts, Stuttgart 2009.

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später, in den 1980er und 1990er Jahren, im sogenannten Konziliaren Prozess mit seinem dreifachen Schwerpunkt auf Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, wobei die Schöpfungsethik zugleich auf den damals stark beachteten Diskurs über eine mögliche und notwendige Erweiterung von Menschenrechten auf ökologische Rechte und Rechte der Natur verweist. Für das Verständnis von Menschenrechtsbildung in der Religionspädagogik heute ist dabei nicht nur die bereits beschriebene Gefahr einer Verwechselbarkeit des Faches bedeutsam, sondern auch die Ausweitung auf verschiedene Lernorte. Im Blick war bei den entsprechenden Themen und Herausforderungen zwar immer auch der schulische Religionsunterricht, daneben aber auch etwa das Lernen in Initiativund Aktionsgruppen, in Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen.10 Verallgemeinert liegt darin ein Grund dafür, dass sich Menschenrechtsbildung im religionspädagogischen Verständnis auch heute nicht auf die Schule oder auf den schulischen Unterricht beschränken sollte. Andere Handlungsfelder – angefangen beim Kindergarten über die Kinder- und Jugendarbeit bis hin zur Erwachsenenbildung auch in den genannten informellen und non-formalen Kontexten und Formen – müssen für das religionspädagogische Verständnis von Menschenrechtsbildung eine ebenfalls grundlegende Rolle spielen. Dieser Anspruch kann im vorliegenden Beitrag allerdings nicht weiter detailliert werden. Die im Folgenden für den Religionsunterricht beschriebenen didaktischen Anforderungen sind jedoch so gehalten, dass sie auch für andere Bereiche bedeutsam sind oder jedenfalls bedeutsam sein können. 2 Menschenrechte in religiösen Lernprozessen: Religionsdidaktische Perspektiven 2.1 Vorüberlegungen Im Zusammenhang der UN-Dekade für Menschenrechtsbildung hat die Politikwissenschaftlerin Anja Mihr eine griffige Einteilung vorgestellt, die sich auch als Ausgangspunkt für religionsdidaktische Perspektiven eignet: »Menschenrechtsbildung ist dann erfolgreich, wenn jede und jeder in einer Gesellschaft sowohl ein Wissen über die Menschenrechte, ein Verständnis und Bewusstsein von Menschenrechten sowie die Fähigkeiten erworben hat, sich für seine und die Menschenrechte anderer einzusetzen. Didaktisch ist dies so angelegt, dass Menschenrechtsbildung dann erfolgreich ist, wenn (1.) kognitiv ein Wissen über die Genese, Normen und Standards der Menschenrechte, ihre rechtlichen Grundlagen sowie Instrumentarien erworben werden kann, wenn (2.) aufgrund von persönlicher oder passiver Unrechtserfahrung ein Gefühl der Empörung über Menschenrechtsverlet10 Vgl. etwa Gottfried Orth, Erwachsenenbildung zwischen Parteilichkeit und Verständigung. Zur Theorie theologischer Erwachsenenbildung, Göttingen 1990.

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zungen und Unrecht ausgelöst wird und wenn (3.) dies zu einem aktiven Handeln führt, das den Einsatz für die Menschenrechte nach sich zieht.«11

Diese zusammenfassende Beschreibung erfolgreicher Menschenrechtsbildung im Blick auf »Wissen«, »Empörung« und »aktives Handeln« ist plausibel und auch religionsdidaktisch durchaus anschlussfähig. Zugleich lässt sich daran aber auch eine Reihe didaktisch zu problematisierender Aspekte aufzeigen12: – Ein auf die Menschenrechte bezogenes Wissen kann leicht vordergründig bleiben. Es ginge dann lediglich darum, ob Kinder und Jugendliche in der Lage sind zu sagen, was zu den Menschenrechten zählt und was nicht. Weiterreichende Verstehensleistungen und Einsichten in die Begründungszusammenhänge oder auch in die Hindernisse, die einer universellen Wahrung von Menschenrechten im Wege stehen, sind dafür nicht ohne weiteres erforderlich. Positiv ausgedrückt ist aus religionsdidaktischer Perspektive ein Verstehen zu fordern, das sowohl die Begründungszusammenhänge als auch den mitunter kontroversen Charakter von Menschenrechten einschließt. – Die von Mihr genannte »Empörung« ist kein sinnvolles Lernziel und schon gar keine Kompetenz. Empörung mag zum Teil erforderlich sein, um in engagierter Weise affektive Lernziele zu erreichen und den Kompetenzerwerb zu unterstützen. Bei Menschenrechtsverletzungen wird sie sich auch unvermeidlich einstellen. Didaktisch muss jedoch genauer beschrieben werden, was es hier zu lernen gibt. Gleichwohl weist der stark emotional getönte Empörungsbegriff zu Recht darauf hin, dass bei der Menschenrechtsbildung immer auch Einstellungen mit im Blick sein müssen, also im Sinne der persönlichen Bereitschaft, sich für Menschenrechte und deren Wahrung einzusetzen. Insofern geht die Menschenrechtsbildung notwendig auch über einen kompetenzorientierten Unterricht hinaus, soweit dieser sich auf kognitive Ziele und Fähigkeiten beschränkt. – Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Bildung und Konsequenzen für das Handeln, wie ihn Mihr einfordert, ist pädagogisch gesehen allerdings prinzipiell problematisch. Ein großer Teil von Bildung vollzieht sich ausdrücklich in Schonräumen wie der Schule, in denen 11 Anja Mihr, Die UN-Dekade für Menschenrechtsbildung – Eine Bilanz, in: Der Bürger im Staat H. 1/2, 2005, 51–56, 54 (Herv. F.S.). Zum Kontext s. auch Claudia Mahler / Anja Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven, Wiesbaden 2004. 12 Vgl. zum Folgenden jetzt auch die bildungstheoretische Darstellung von Dietrich Benner / Roumiana Nikolova, Der Berliner Ansatz zur Konstruktion und Erhebung ethisch-moralischer Kompetenzniveaus im öffentlichen Erziehungs- und Bildungssystem, in: Dies. (Hg.), Ethisch-moralische Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung, Paderborn 2016, 13–44, allerdings ohne direkten Bezug auf Menschenrechte sowie ohne angemessene Berücksichtigung der Frage nach Einstellungen.

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zwar Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, erörtert und erwogen werden können, bestimmte politische Handlungsoptionen aber auf keinen Fall als selbstverständlich dargestellt oder gar als verbindlich durchgesetzt werden dürfen. Zudem lassen pädagogische Schonräume und vor allem die Schule ein entsprechendes, vielfach notwendig politisches und dann auch kontroverses Aktivwerden gar nicht zu. Gleichwohl bleibt auch didaktisch gesehen richtig, dass die Klärung von Handlungsmöglichkeiten zur Menschenrechtsbildung hinzugehören muss. Wo dies nicht geschieht, besteht die Gefahr, dass das Aufzeigen von Menschenrechtsverletzungen ins Leere führt. Im religionspädagogischen Horizont muss zudem, über die in der Menschenrechtsbildungsdiskussion häufig genannten Aspekte hinaus, immer auch die religiöse Dimension mit im Blick sein. Andernfalls ginge der spezifische Beitrag des Faches Religion verloren. Um dies weiter zu verdeutlichen und dabei auch Konkretionsmöglichkeiten zu identifizieren, sollen im Folgenden die von Mihr genannten Aspekte in einer veränderten Betrachtungsweise – als Wissen/Verstehen, Einstellungen und Klärung von Handlungsmöglichkeiten – als drei grundlegende Dimensionen von Menschenrechtsbildung im Religionsunterricht genauer betrachtet werden. 2.2 Menschenrechtsbildung im Religionsunterricht als Wissen/Verstehen In dieser ersten Dimension und vor allem im Wissenserwerb kann die spezielle Domäne von Unterricht und deshalb auch von Religionsunterricht gesehen werden. Empirische Untersuchungen belegen, dass der Religionsunterricht vor allem beim Erwerb von Wissen erfolgreich sein kann.13 Um jedoch das Missverständnis auszuschließen, dass es dabei um ein reines Faktenwissen gehen könne, ist zugleich das Verstehen zu betonen, was vermutlich unmittelbar einleuchtet. Darüber hinaus soll, ebenfalls im Anschluss an empirische Untersuchungen, auch die Unterstützung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme aufgenommen werden. Zur Menschenrechtsbildung gehört ohne Zweifel ein Wissen dazu, was überhaupt als Menschenrecht bezeichnet wird. Warum werden bestimmte Rechte als Menschenrechte ausgezeichnet? Welche Geltungs13 Vgl. etwa Georg Ritzer, Interesse – Wissen – Toleranz – Sinn. Ausgewählte Kompetenzbereiche und deren Vermittlung im Religionsunterricht. Eine Längsschnittstudie, Wien/Berlin 2010; vgl. auch Friedrich Schweitzer / Magda Bräuer / Reinhold Boschki (Hg.), Interreligiöses Lernen durch Perspektivenübernahme. Eine empirische Untersuchung religionsdidaktischer Ansätze, Münster 2017, auf das ich mich auch im Folgenden beziehe.

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ansprüche verbinden sich damit? Welche Begründungen sind dafür erforderlich? usw.14 Weiterhin muss es um die einzelnen Rechte gehen, die als Menschenrechte anerkannt sind, einschließlich solcher Rechte, deren Status noch umstritten ist. Ebenfalls zum erforderlichen Wissenserwerb gehören die Kontexte, in denen die einzelnen Menschenrechte ihre Bedeutung häufig erst gewinnen. Wie auch die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, verlieren viele Menschenrechte erst dann ihre scheinbare Selbstverständlichkeit, wenn solche konkreten Kontexte aufgenommen werden.15 Erst dann kann es zu fruchtbaren Lernprozessen kommen und erscheinen Menschenrechte nicht einfach als Leerformeln, denen jeder zustimmen kann, ohne dass dies praktische Folgen hätte. Dass beispielsweise Kinder eigene Rechte haben, leuchtet heute auch den allermeisten Schülerinnen und Schülern sofort ein – dass diese Rechte gleichwohl eine kritische Bedeutung einschließen und nach Engagement zu ihrer Durchsetzung verlangen, tritt jedoch erst vor Augen, wenn auch die oft menschenunwürdige Situation von Kindern, nicht zuletzt in einem globalen Horizont, samt der Ursachen in die Betrachtung einbezogen wird. Der spezifische Beitrag des Religionsunterrichts kann dabei darin bestehen, dass die religiösen Aspekte, die sich zumindest mit einem Teil der Menschenrechte verbinden, hier besondere Aufmerksamkeit finden. Bei Kinderrechten könnten dies religiöse Begründungen sowohl für die besondere Achtung von Kindern sein, aber auch religiös bestimmte Formen der Kindesmisshandlung. Dies ist auch insofern notwendig, als religiöse Aspekte in anderen Fächern nicht immer verlässlich im Blick sind. Auch die Aufgaben des Verstehens im Kontext der Menschenrechtsbildung sind mehrdimensional zu bestimmen. Sie betreffen erstens die Begründung von Menschenrechten und damit Fragen einer philosophischen, theologischen und politischen Ethik. Zweitens geht es aber auch um die Herkunft und Entwicklung von Menschenrechten und ihre Anerkennung in der Geschichte, wobei im Religionsunterricht besonderer Wert auf die religiösen Hintergründe und Voraussetzungen von Menschenrechten gelegt werden sollte.16 Nach heutigem Verständnis ist dabei eine monopolisierende Inanspruchnahme der Menschenrechte als Ausdruck des biblisch-christlichen Glaubens ebenso zu vermeiden wie eine allein säkularistische Herleitung, die jeden Bezug von Menschenrechten auf religiöse Wurzeln verneint.17 Drittens ist Verstehen erforderlich, wenn es um die unterschiedliche Rezeption etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen durch verschie14 Vgl. dazu den Beitrag von Dietmar von der Pfordten in diesem Band. 15 Vgl. die auf einzelne Menschenrechte bezogenen Beiträge in diesem Band. 16 Vgl. dazu die Beiträge von Elisabeth Gräb-Schmidt und Oliver Hidalgo in diesem Band. 17 Stellvertretend genannt sei Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.

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dene kulturelle und religiöse Traditionen und Gemeinschaften geht (Warum gibt es eine islamische Menschenrechtserklärung? Worin unterscheidet sie sich von anderen Erklärungen?18). Dabei könnte es auch interessant sein, empirische Befunde zum Zusammenhang zwischen Religion oder Religionszugehörigkeit auf der einen und der Bejahung bzw. Ablehnung von Menschenrechten auf der anderen Seite zum Thema zu machen, nicht zuletzt im Blick auf Deutschland.19 Auch im gesamten Bereich des Verstehens kann ein spezifischer Beitrag des Religionsunterrichts zum Tragen kommen, etwa in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit religiösen Begründungen für Menschenrechte sowie, geschichtlich gesehen, deren Ablehnung vor allem durch die (katholische) Kirche. Die Fähigkeit, die Perspektive des Anderen zu übernehmen (Perspektivenübernahme), wird heute besonders mit interreligiöser Bildung verbunden.20 Der Perspektivenwechsel kann sich jedoch auch auf unterschiedliche Standpunkte oder, allgemeiner ausgedrückt, verschiedene Weltanschauungen beziehen.21 Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sichtweisen von Menschenrechten, die bereits bei der Aufgabe des Verstehens angesprochen wurde, eignet sich in besonderer Weise dazu, auch die Perspektivenübernahme einzuüben, indem beispielsweise den spezifischen Gründen für eine Ablehnung bestimmter Rechte etwa im Islam nachgegangen wird. Auch wenn solche Gründe – beispielsweise eine andere Sicht des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft – nicht übernommen werden (können), sind sie doch nicht einfach sinnlos. 2.3 Menschenrechtsbildung im Religionsunterricht als Entwicklung von Haltungen? Auch wenn oben darauf hinzuweisen war, dass »Empörung« kein Lernziel sein kann, bleibt es doch richtig, dass Menschenrechtsbildung ohne Berücksichtigung der emotionalen Dimension von vornherein unvollständig bliebe. Es geht nicht nur darum, etwas über den Begriff der Menschenrechte oder auch über einzelne Rechte zu wissen – es muss immer auch darum gehen, die Bereitschaft zu entwickeln, sich für solche Rechte 18 Vgl. dazu http://www.islamdebatte.de/konfliktfelder/menschenrechte-im-islam/ (eingesehen 30.1.2017) sowie den Beitrag von Zekirija Sejdini in diesem Band. 19 Vgl. dazu den Beitrag von Hans-Georg Ziebertz in diesem Band sowie ders. / Tobias Benzing, Menschenrechte: Trotz oder wegen Religion? Eine empirische Studie unter jungen Christen, Muslimen und Nicht-Religiösen, Münster 2012. 20 Vgl. Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014; Ders. u.a., Interreligiöses Lernen durch Perspektivenübernahme (s.o. Anm. 13). 21 Vgl. David Käbisch, Religionsunterricht und Konfessionslosigkeit. Eine fachdidaktische Grundlegung, Tübingen 2014.

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einzusetzen. Im vorliegenden Falle schließt dies ein, dass entsprechende Haltungen oder Einstellungen ausgebildet werden müssen. Dabei sind jedoch mehrere Grenzen zu bedenken. An erster Stelle gilt auch hier, dass jede Form von Bildung an das Überwältigungsverbot gebunden bleibt. Schärfer formuliert: Menschenrechtsbildung als Indoktrination wäre widersinnig. Bildung zur Toleranz beispielsweise darf nicht zur Intoleranz werden, so zwingend ein pädagogisches Engagement für Toleranzerziehung heute auch erscheinen mag. Zu dieser normativ bestimmten Grenze kommt zweitens die Grenze der Wirksamkeit. Zwei Wochenstunden Religionsunterricht sind offenbar kaum in der Lage, Einstellungsänderungen bei den Schülerinnen und Schülern zu erzielen. Daraus könnte gefolgert werden, dass die Schule eben überhaupt kaum in der Lage ist, die gewünschten Einstellungen zu gewährleisten. Denkbar ist aber auch, dass andere Arbeitsformen über den Unterricht hinaus einbezogen werden müssen, wenn die Ziele einer Menschenrechtsbildung erreicht werden sollen. Projekte und gemeinsame Aktionen beispielsweise könnten hier eine weiterführende Bedeutung gewinnen, ebenso der Schüleraustausch oder andere Formen der Begegnung. Im Übrigen ist an dieser Stelle noch einmal auf die religionspädagogische Bedeutung außerschulischer Lernorte zu erinnern, auf die in der Schule zumindest verwiesen werden kann und mit denen eventuell auch Kooperationen möglich sind. Damit ist zugleich eine weitere Frage berührt, auf die eigens eingegangen werden soll: 2.4 Menschenrechtsbildung im Religionsunterricht und der praktische Einsatz für Menschenrechte: Möglichkeiten und Grenzen Der Einsatz für Menschenrechte und deren Durchsetzung verlangt in vielen Fällen ein politisches Handeln, mit dem die Grenzen von Schule oder auch der Pädagogik insgesamt überschritten werden. Pädagogik ist nicht Politik, jedenfalls nicht im Sinne eines unmittelbaren Handelns oder des Aufrufs dazu. Zugleich bleibt pädagogisch aber auch richtig, dass eine Befassung mit Menschenrechtsfragen und Menschenrechtsverletzungen für die Kinder und Jugendlichen nur frustrierend sein kann, wenn sie keine Handlungsperspektiven erkennen können. In diesem Falle ist sogar zu befürchten, dass sie sich einer solchen Frustration am Ende dadurch entziehen, dass sie eine gleichgültige Haltung ausbilden. Man mag nicht ständig schmerzlich vor Augen haben, was man sowieso nicht ändern kann. Insofern ist die Frage auch nach dem praktischen Einsatz für Menschenrechte tatsächlich unausweichlich. Sie kann im Rahmen von Schule und Unterricht aber nur in zwei Hinsichten beantwortet werden: Zum einen ist es möglich und sinnvoll, kind- oder jugendgemäße Handlungsmög-

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lichkeiten aufzuzeigen, wobei offenbleiben muss, ob diese Möglichkeiten von den Schülerinnen und Schülern dann tatsächlich genutzt werden oder nicht. Zum anderen kann eine entsprechende Handlungskompetenz unterstützt werden, zu der auch bereits die genannten Aspekte von Wissen, Verstehen, Perspektivenübernahme und entsprechenden Einstellungen beitragen. Schulisch kann freilich nicht überprüft werden, ob eine solche Handlungskompetenz tatsächlich erreicht wird oder nicht. Die Probe besteht hier im Handeln selbst, und dieses Handeln hat seinen Ort nicht in der Schule. Auch in diesem Falle kann von einem spezifischen Beitrag des Religionsunterrichts gesprochen werden. Beispielsweise kann dieser Unterricht in besonderer Weise mit Handlungsmöglichkeiten im kirchlichen Bereich oder im Zusammenhang religiös motivierter Initiativen vertraut machen. Dabei kann auch verdeutlicht werden, welche religiösen Motive hier eine Rolle spielen und welche Zusammenhänge sich zwischen Glaubensüberzeugungen und dem Einsatz für Menschenrechte erkennen lassen. 3 Wird der Religionsunterricht austauschbar, wenn er Menschenrechtsbildung betreibt? Menschenrechtsbildung im Religionsunterricht steht im Horizont einer politisch akzentuierten Religionspädagogik. In dieser Hinsicht gibt es eine deutliche Verbindung zu früheren Ansätzen im Umkreis besonders des problemorientierten Religionsunterrichts. Insofern liegt aber auch die vor allem in den 1970er Jahren häufig gegen den problemorientierten Religionsunterricht erhobene Rückfrage nahe, ob der Religionsunterricht damit nicht zu einem verkappten Politikunterricht werde und insofern austauschbar wäre. Um diesem Einwand zu entgehen und dem Anliegen Rechnung zu tragen, dass zum Religionsunterricht auch ein unverwechselbares eigenes Profil gehört, wurde im vorliegenden Beitrag immer wieder auch ein möglicher spezifischer Beitrag des Religionsunterrichts im Rahmen der Menschenrechtsbildung aufgezeigt und angemahnt. Insofern soll und kann der Religionsunterricht auch dort, wo er sich der Aufgabe der Menschenrechtsbildung zuwendet, eindeutig Religionsunterricht bleiben. Umgekehrt ist dann aber auch zu betonen, dass ein profilierter Religionsunterricht gerade bei der Menschenrechtsbildung auf keinen Fall die Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben über die Fächergrenzen hinweg ausschließen kann oder darf. Ein so umfassendes Anliegen wie Menschenrechtsbildung in der Schule wird vielmehr nur gelingen, wenn sie nicht Angelegenheit nur eines Faches ist. Fächerverbindende Kooperation wird deshalb unverzichtbar. Sie findet ihre Begründung nicht nur in einem gemeinsamen Handeln, dem eine größere Wirksamkeit zugetraut werden kann, sondern auch in der wechselseitigen Ergänzung der

Menschenrechte in Religionspädagogik und Religionsunterricht

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jeweiligen fachlichen Beiträge. Insofern bedeutet Menschenrechtsbildung im religionspädagogischen Horizont dabei auch, dass eine religiöse Perspektive auf die Begründung und Anerkennung von Menschenrechten in einen weiteren fachlichen und gesellschaftlichen Horizont eingebracht werden kann, einschließlich der Bestärkung religiöser Motive, sich für die Durchsetzung von Menschenrechten einzusetzen. Das entspricht dem eingangs genannten Motiv, den Religionsunterricht neu zu plausibilisieren und seine Kommunikationsfähigkeit zu stärken. Menschenrechtsbildung im Religionsunterricht verspricht am Ende einen klaren Gewinn – für den Religionsunterricht und ebenso für die Menschenrechtsbildung. Dr. Friedrich Schweitzer ist Professor für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.

2.4 Vanessa Albus

Menschenrechtsbildung im Philosophie- und Ethikunterricht Ein Beitrag zur Schulbuchanalyse Menschenrechtsbildung im Philosophie- und Ethikunterricht umfasst drei Dimensionen: Menschenrechtskunde, Philosophie der Menschenrechte und Menschenrechtserziehung. Menschenrechtskunde zielt auf das materiale, informative und historische Wissen über Menschenrechte. Fachspezifisch hinzukommen die Erarbeitung und Kritik von Philosophien, die sich mit Problemen und Begründungen von Menschenrechtskonzepten auseinandersetzen oder historisch zu ihnen führten. Ferner basiert jeder Unterricht auf einem Wertekanon, der den Lernenden Orientierungshilfen zum Aufbau von sittlichen Haltungen anbietet. Wenn die Aneignung des Menschenrechtskonzepts als Haltung erstrebenswert erscheint, sprechen wir von Menschenrechtserziehung. Hier findet moralisches Lernen durch und für Menschenrechte statt. Menschenrechte können sowohl explizit als auch implizit im Unterrichtsgeschehen in allen drei Dimensionen wirken. Als implizit sind Themen, Problemstellungen, Ziele und Verfahren zu nennen, die den Menschenrechten zuzuordnen sind, ohne dass den Lernenden bewusst ist, dass Menschenrechtsrelevantes gelehrt und gelernt wird. So sind etwa Unterrichtsreihen zu Toleranz, Religionsfreiheit oder Zwangsehen denkbar, in denen keine ausdrücklichen Bezüge zu Menschenrechten hergestellt werden. Eine notwendige Bedingung für eine explizite Herangehensweise an das Themenfeld ist also die Verwendung des Begriffs der Menschenrechte. Ebenso kann im Geiste der Menschenrechte implizit erzogen werden, wenn antirassistische Einstellungen begrüßt oder demokratische Verfahren im Schulalltag praktiziert werden. Eine explizite Menschenrechtserziehung basiert dagegen auf Transparenz der pädagogischen Maximen durch bewusste Herstellung von Bezügen zwischen Handlungsmaxime und Menschenrechten. Strittig ist auf normativer Ebene die Frage nach dem Wert von impliziten Verfahren zur Menschenrechtsbildung. In einer Studie von Weinbrenner anlässlich einer von der UNESCO geförderten Konferenz zur internationalen Menschenrechtserziehung in den 90er Jahren wird mittels Lehrbuchanalyse zunächst auf deskriptiver Ebene festgestellt, dass deutschsprachige Schulbücher aller Unterrichtsfächer, Menschenrechtserziehung fast nur implizit betreiben. Obwohl den Schulbüchern ein Defizit an Menschenrechtsbewusstsein attestiert wird, folgt für Weinbrenner auf

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normativer Ebene keine grundlegende Kritik.1 Kaletsch und Rentsch plädieren sowohl für eine implizite als auch eine explizite Menschenrechtsbildung. Sie erachten ganz richtig aber nur die explizite Menschenrechtsbildung zur Schaffung eines reflektierten Menschenrechtsbewusstseins für förderlich.2 Aus diesem Grund soll in dieser Studie nur das Unterrichtsmaterial des philosophischen Fächerverbunds untersucht werden, das sich explizit mit dem Thema Menschenrechte in den drei genannten Dimensionen befasst. 1 Menschenrechtskunde Menschenrechtskundliche Lehreinheiten vermitteln den Schülerinnen und Schülern Kenntnisse über die historische Entwicklung der Menschenrechte und ihrer inhaltlichen Ausprägung in Form von Stichwortkatalogen; sie thematisieren die Bedeutung der Menschenrechte für das moderne Staatswesen und deren Gefährdung. Wie Schmolke richtig bemerkt, wird im Philosophie- und Ethikunterricht der Dimension der Menschenrechtskunde insgesamt ein sehr breiter Raum eingeräumt.3 Dies geht bisweilen sogar so weit, dass die Unterrichtsmaterialien zur Menschenrechtsbildung auf Information und historischen Wissenserwerb reduziert werden, so dass das menschenrechtsphilosophische Element kaum oder gar nicht zum Tragen kommt. Röser reduziert in seiner Materialsammlung zum Stationenlernen für den Ethikunterricht im Namen der Friedenspädagogik das Thema Menschenrechte auf reine Menschenrechtskunde und Analyse von Einzelschicksalen. Philosophische Vertiefungen suchen wir vergeblich.4 Diese Tendenz ist auch in anderen Unterrichtsmedien spürbar.5 Obwohl die Vermittlung von Wissen über Menschenrechte ein grundlegendes Ziel allen schulischen Unterrichts darstellt, sind empirische Studien zur Feststellung dieses Wissens in Deutschland sehr ernüchternd. Empirische Studien belegen überzeugend klare Defizite und 1 Vgl. Peter Weinbrenner, Menschenrechtserziehung. Ein Leitfaden zur Darstellung des Themas ›Menschenrechte‹ in Schulbüchern und im Unterricht. Schriften zur Didaktik der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nr. 70, o.V, o.J., 21. 2 Vgl. Christa Kaletsch / Stefan Rentsch, Heterogenität im Klassenzimmer. Methoden, Beispiele und Übungen zur Menschenrechtsbildung, Schwalbach 2015, 54ff. 3 Vgl. Sven Schmolke, »Menschenrechtserziehung in Schule und Unterricht«, in: Ethik und Unterricht, 2/2008, 15–16. 4 Winfried Röser, Stationenlernen. Ethik 9./10. Klasse. Glück und Lebenswirklichkeit, Umgang mit Natur und Technik, Menschenrechte, Spiritualität, Hamburg 2015, 83ff. 5 Barbara Brüning, Grundwissen Philosophie. Sekundarstufe II, Berlin 2013, 230ff; Lothar Aßmann / Reiner Bergmann / Roland W. Henke / Matthias Schulze / Eva-Maria Sewing, Zugänge zur Philosophie, Bd. 1, Berlin 2010, 60ff; Jörg Peters / Bernd Rolf (Hg.), Philopraktisch 2a, Bamberg 2011.

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schwerwiegende Mängel, die auf den Schulunterricht zurückzuführen seien.6 So wichtig und richtig Menschenrechtskunde in jedem Unterrichtsfach auch tatsächlich ist, es wird durch die Reduktion auf Menschenrechtskunde im Ethik- und Philosophieunterricht die Chance verspielt, das Fachprofil zu schärfen und eine Perspektive aufzuzeigen, die für eine umfassende Menschenrechtsbildung notwendig ist. Gerade ein tieferes Durchdringen menschenrechtsrelevanter Themen durch philosophische Reflexion könnte einen Beitrag zur Festigung des menschenrechtskundlichen Wissens leisten. Ebenso wäre zur Vermeidung von Redundanzen und zur Förderung von fächerverbindenden Wiederholungen zur Menschenrechtskunde eine bessere Vernetzung aller an der Menschenrechtsbildung beteiligten Unterrichtsfächer wünschenswert. 2 Philosophie der Menschenrechte Die Philosophie der Menschenrechte beschäftigt sich mit begrifflichen Bestimmungen, der Frage nach der Begründbarkeit von Menschenrechten sowie dem Umfang, der Reichweite und der Rangordnung von Menschenrechten. Auf diesem Weg lassen sich schon Anknüpfungspunkte in der antiken Philosophie finden. So wurde die Gleichheit aller Menschen seit der Stoa postuliert. Ab der neuzeitlichen Philosophie lassen sich schließlich naturrechtliche (Locke, Rousseau), vernunftrechtliche (Kant), kulturrelativistische (Rawls, Rorty, Tugendhat) Begründungen, aber auch die These von der Unbegründbarkeit der Menschenrechte (Bentham) unterscheiden.7 Blickt man auf Unterrichtsmaterialien für den Ethik- und Philosophieunterricht, die überhaupt die Philosophie der Menschenrechte berücksichtigen, fällt zunächst auf, dass Textabschnitte aus philosophischen Werken gerne mit menschenrechtskundlichen Informationen ergänzt werden. In Leben durchDenken sind Textauszüge von Tugendhat, Kant und Rousseau neben Infokästen zur Menschenrechtskunde abgedruckt.8 Rösch verbindet in ihren Unterrichtsvorschlägen die Lektüre von menschenrechtskundlichen Texten mit einem Studium von Spaemanns Schriften, der die These der Allgemeingültigkeit der Menschenwürde vertritt, und Rortys Texten, der die Gegenposition zu Spaemann – die 6 Vgl. Gert Sommer / Jost Stellmacher, Menschenrechte und Menschenrechtsbildung. Eine psychologische Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2009, 70ff. 7 Zur Einführung in die Philosophie der Menschenrechte siehe: Detlef Horster, Philosophische, rechtliche und historische Grundlagen der Menschenrechtsbildung, in: Bildung und Menschenrechte. Interdisziplinäre Beiträge zur Menschenrechtsbildung, hg. von Stefan Weyers / Nils Köbel, Wiesbaden 2016, 21–32; Christoph Menke / Arndt Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg 2006; Stefan Gosepath / Georg Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt 1998. 8 Ralf Glitza / Gunter Scholtz, Leben durchDenken. Haan-Gruiten 2010, 165ff.

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Auffassung einer kulturspezifischen und kulturabhängigen Moral – vertritt.9 Brüning verknüpft menschenrechtskundliches Unterrichtsmaterial mit Texten mit vornehmlich zeitgenössischer Philosophie aus der Feder von Bobbio, Brieskorn, Dicke, Margalit, Bujo und Habermas.10 Zweitens ist auffällig, dass in den neueren Materialsammlungen der Anteil an philosophischen Texten von Klassikern zur Menschenrechtsproblematik gering ist. Der Anteil an philosophischen Quellen in Hesedings Materialsammlung für den Ethikunterricht beträgt nur 1,2%.11 In Küllmeis Materialsammlung entfallen im Kapitel zum Thema Menschenrechte 2,6% der Materialien auf einen philosophischen Text von Otfried Höffe.12 Brüning erreicht 16% mit dem Abdruck von vornehmlich zeitgenössischen philosophischen Texten.13 Das Unterrichtsmagazin verzichtet ebenfalls gänzlich auf Klassiker und druckt allein Textauszüge von Heiner Bielefeldt.14 Dieser gehört neben Thomas Pogge ebenso zu den vorgesehenen Autoren im Kolleg Philosophie.15 Eine sehr dünne Präsenz von klassischer Menschenrechtsphilosophie bzw. gar ein völliger Verzicht auf Philosophisches stellt keine adäquate Aufbereitung dar. Es ist zukünftigen Autoren und Autorinnen von philosophischen Schulbüchern anzuraten, etwas mutiger aus dem Fundus der philosophischen Tradition zu schöpfen. Philosophiehistorisch weiter gefächert waren gemäß des damaligen philosophiedidaktischen Zeitgeistes noch die Unterrichtsvorschläge aus den 80er Jahren. Anzenbacher schlägt zum Beispiel eine Lektüre von Texten aus der Feder von Locke, Kant, Rousseau, Hegel, Smith, Bentham, Mill und Marx vor und begreift diesen breiten Textfundus nur als »Einführung in die Menschenrechtsproblematik«.16 In dieser Tradition stehen heute nur noch Angelika und Arnim Regenbogen. Sie schöpfen aus einem bemerkenswert reichen Fundus an philosophischer Literatur. Ihr Themenheft Menschenrechte für die Sekundarstufe II enthält nicht nur menschenrechtskundliches Material, sondern auch Textpassagen von Cicero, Augustinus, Locke, Hobbes, Voltaire, Kant, Nietzsche, Marx, Rawls, Jonas, Habermas und Höffe.17 9 Anita Rösch, Frauenrechte – Menschenrechte?! Eine Unterrichtsreihe für die Sekundarstufe II, in: Ethik und Unterricht, 2/2008, 45–47. 10 Barbara Brüning, Kurshefte Ethik/Philosophie. Recht, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Berlin 2001, 88ff. 11 Georg Heseding, Menschenrechte und Folter. Werte und Normen. Ethik/Religion, Bd. 3, Göttingen 1991. 12 Sebastian Küllmei, EinFach Philosophieren. Politische Ethik – Mensch und Gesellschaft, Braunschweig 2016, 45ff. 13 Brüning, Kurshefte, a.a.O. 14 Unterrichtsmagazin Spiegel@Klett: Menschenrechte, Leipzig 2008. 15 Monika Sänger, Kolleg Philosophie, Bamberg 2014, 298ff. 16 Arno Anzenbacher, Zur Einführung in die Menschenrechtsproblematik, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 4/1980, 220–225. 17 Angelika und Armin Regenbogen, Menschenrechte. Arbeitshefte Ethik Sekundarstufe II, Donauwörth 2001.

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3 Menschenrechtserziehung Die Lerngruppen im Philosophie- und Ethikunterricht sind gewöhnlich sehr heterogen.18 Dies ist insbesondere im wertesensiblen Unterricht ein großer Gewinn, weil sich das gemeinsame, vernunft- und vor allem auch konsensorientierte Nachdenken über Moral in religiöser und kultureller Vielfalt um einen Minimalkonsens eines für alle erträglichen Zusammenlebens bemüht, der sich in nichts anderem als einem Menschenrechtskonzept ausbuchstabieren kann. Deshalb ist auch in der Inklusionspädagogik der konsequente Menschenrechtsbezug die basale »Sicherheit« allen erzieherischen Handelns.19 In der globalisierten und pluralistischen Gesellschaft stellen die Menschenrechte einen moralischen Minimalkonsens dar, der im Vernunft geleiteten Dialog erarbeitet und immer wieder neu hinterfragt und überdacht werden muss. Es lassen sich drei Ansätze der Werteerziehung aufzeigen, die in aktuellen philosophischen Unterrichtsmaterialien zur Menschenrechtsbildung Anwendung finden. Damit sind jedoch nicht alle in der Theorie entwickelten Modelle ausgeschöpft.20 1. Belehrende Werteerziehung Ein wesentliches Merkmal belehrender Werteerziehung besteht in der »Vorgabe und Präsentation eines Moralkodex« zum Zwecke der Vermittlung und Einnahme einer sittlichen Haltung. Im Fokus der belehrenden Werteerziehung steht nicht das Nachdenken über Werte, sondern der moralische Appell an die Lernenden, sich an den Menschenrechten in Urteil und Handlung zu orientieren. Sie zielt auf Internalisierung von Normen mittels Autorität. Die philosophiedidaktische Kritik am Modell der belehrenden Werteerziehung liegt auf der Hand: Moralische Belehrung ist dem primären Lernziel des mündigen, aufgeklärten und kritikfähigen Selbstdenkens zuwider; sie fördert weltanschauliche Intoleranz gegenüber andersartigen Haltungen und wirkt indoktrinierend. Blickt man auf die Geschichte des Philosophieunterrichts, so lässt sich feststellen, dass die belehrende Werteerziehung vom Mittelalter bis zur Institutionalisierung der Philosophiedidaktik in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts das Standardmodell im philosophischen Unterricht darstellte.21 Obwohl der Ansatz der belehrenden Werteerziehung in der phi18 Markus Bartsch, Gesellschaftlicher Dialog im Klassenzimmer: Didaktische Implikationen interkultureller Hermeneutik im Fach Praktische Philosophie, Münster 2009. 19 Vgl. Kaletsch/Rentsch, a.a.O., 7. 20 Eine übersichtliche und umfassende Darstellung aller Werterziehungsmodelle legt Stein vor. Vgl. Margit Stein, Wie können wir Kindern Werte vermitteln? Werteerziehung in Familie und Schule, München 2008, 160ff. 21 Vanessa Albus, Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, Dresden 2013; Dies., Wissen ohne Bildung. Adelungs Enzyklopädie im Philosophieunterricht des 18. Jahrhunderts, in: Philosophie und Bildung, Beiträge zur

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losophiedidaktischen Theoriebildung heutzutage einvernehmlich und konsequent abgelehnt wird, lässt sich auf der Basis von Drubas Schulbuchanalyse – die aus einem Fundus von in Baden-Württemberg zugelassenen Religions-, Geschichts- und Ethikschulbüchern schöpft – dennoch feststellen, dass belehrende Werteerziehung hauptsächlich im katholischen Religionsunterricht, aber auch im Ethikunterricht an allen Schulformen noch immer praktiziert wird.22 Die Bevorzugung belehrender Methoden in den Ethikschulbüchern geht häufig einher mit dem Abdruck lehrbuchartiger Autorentexte. Im Gegensatz zu authentischen Quellentexten von Philosophen handelt es sich hier um sprachlich einfache Texte über Menschenrechte, die die Schulbuchautoren selber verfasst haben. Druba zufolge variiert der Anteil der Autorentexte in den untersuchten Ethikschulbüchern zwischen 25 und 83,3%.23 Aufgrund von sachlichen Mängeln, Simplifizierungen und der Möglichkeit zur Indoktrination wird diese Textsorte in der Philosophiedidaktik sehr kritisch beleuchtet.24 2. Entwickelnde Werteerziehung Das Ziel der entwickelnden Werteerziehung besteht in der Findung, Formulierung und Prüfung von Normen und Werten durch die Schülerinnen und Schüler selbst. Die Lehrkraft agiert hier als Lernbegleiter moderierend und in Bezug auf die fraglichen Werte neutral. Sie regt zum Wertekonsens an, ohne den Wertekanon inhaltlich zu bewerten, und fordert eine kritische Auseinandersetzung mit den Lösungsvorschlägen der Lerner durch beständige Hinterfragung ein. Das Verfahren selbst ist freilich nicht wertneutral, weil es auf dem Boden der Demokratiepädagogik die Kulturtechniken des Argumentierens, Abwägens und Urteilens vorrangig schult. Die Arbeits- und Denkmethoden auf dem Weg der Wertefindung und ggf. -revision werden deshalb auch zum Gegenstand der Reflexion und Evaluation im Unterrichtsgeschehen. Wer den Wertekonsens seiner Schülerinnen und Schüler moderierend zu entwickeln sucht, hat ggf. das Ergebnis zu akzeptieren, dass die Lernenden gar nicht oder nur teilweise menschenrechtliche Konzeptionen begrüßen.25 Philosophiedidaktik, hg. von Ekkehard Martens / Christian Gefert / Volker Steenblock, Münster 2005, 9–22; Dies., Weltbildpluralismus tolerieren? Zur Genese der Toleranzerziehung im Philosophieunterricht, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 2/2016, 3–15. 22 Volker Druba, Menschenrechte in Schulbüchern. Eine produktionsorientierte Analyse, Frankfurt 2005, 126.181.227.277. 23 A.a.O., 111.152.211. 24 Albus, Kanonbildung, a.a.O., 546ff; Dies., Leif Marvin Jost: Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen!, in: Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, hg. von Vanessa Albus / Magnus Frank / Thomas Geier, Münster 2017, 220–233. 25 Eine Vorstellung von den Schwierigkeiten, die sich auf dem steinigen Weg der Findung eines Minimalkonsenses ergeben können, vermittelt auf akademischer

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Zu den gängigen Methoden der entwickelnden Werteerziehung gehören das Gedankenexperiment, inszenierte Debatten bzw. Streitgespräche und das neosokratische Gespräch. Gedankenexperimente stellen den Versuch dar, auf der Basis kontrafaktischer Vorstellungen philosophisch relevante Erkenntnisse und Haltungen zu gewinnen und zu begründen. So werden z.B. die Schülerinnen und Schüler gedanklich in eine Situation versetzt, in der Menschenrechte gezielt verletzt werden oder in der sie als Regierende eines Inselstaates nur drei Menschenrechte umsetzen können. Philosophische Debatten sind mündlich oder schriftlich durchgeführte verbale Auseinandersetzungen zu strittigen Fragestellungen. Sowohl zu den unterschiedlichen Formaten des Debattierens über Menschenrechte als auch zum Experimentieren in Gedanken über menschenrechtliche Fragestellungen hält die Philosophiedidaktik aufbereitete Unterrichtsmaterialien für die Hand der Lehrkraft bereit.26 Ebenso regen Philosophieschulbücher häufig zum Durchführen von Gedankenexperimenten zu menschenrechtlichen Belangen an.27 Die im Bereich der Demokratie- und Menschenrechtserziehung wirksame und einschlägige Methode des neosokratischen Gesprächs bedarf hingegen keiner Unterrichtsmaterialien in Form von Texten, Arbeitsblättern oder anderen medialen Gegenstände, die in publizierter Form den Lehrkräften vorliegen könnten. Die unmittelbar an die Figur des nicht-wissenden Sokrates anknüpfende Methode des neosokratischen Philosophierens praktiziert in festgesetzten Verfahrens- und Disputierregeln die Kunst der »Maieutik«, in der jeder Gesprächsteilnehmer dem jeweils anderen bei der »Geburt« von Wahrheiten assistiert.28 Ebene die in der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik entfachte Kontroverse, ob ein an der Scharia orientierter Islam mit Menschenrechten vereinbar sei. Vgl. Egon Flaig, Die Scharia, der Feind der Menschenrechte, in: ZDPE, 1/12, 43–52; Schirin Amir-Mazami / Johanna Pink: Die diskursive Ordnung des Egon Flaig, in: ZDPE, 1/12, 53–59. 26 Roland W. Henke, Philosophie und Verständigung in der pluralistischen Gesellschaft. Anregung und Hilfen für die Planung und Durchführung eines Unterrichtsmodells zur Frage: Gelten die Menschenrechte absolut und universell?, in: Philosophie und Verständigung in der pluralistischen Gesellschaft, hg. von Markus Tiedemann / Johannes Rohbeck, Dresden 2014, 83–93. Zu den Unterrichtsmethoden des Gedankenexperiments und der Debatte siehe: Helmut Engels, Gedankenexperimente, in: Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. 1, hg. von Julian Nida-Rümelin / Irina Spiegel / Markus Tiedemann, Paderborn 2015, 187–196; Bärbel Montag, Debatten im Ethikund Philosophieunterricht, in: Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. 1, hg. von Julian Nida-Rümelin / Irina Spiegel / Markus Tiedemann, Paderborn 2015, 196–205. 27 Vgl. Gabriele Münnix / Joachim Kalcher / Andreas Baranowski, Horizonte Praktischer Philosophie, 9/10, Leipzig 2002, 114; Barbara Brüning / Roland W. Henke / Konrad Heydenreich, Ethik 9/10, Berlin 1998, 232; Bernd Rolf / Jörg Peters, Philo. Einführungsphase, Bamberg 2014, 81. 28 Zur Einführung in die neosokratische Methode siehe: Klaus Draken, Sokratisches Gespräch und Lehrgespräch, in: Neues Handbuch des Philosophieunterrichts, hg. von Jonas Pfister / Peter Zimmermann, Bern 2016, 293–312.

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3. Entwicklungspsychologische Werteerziehung Angeregt durch die Studien Piagets entwickelte bekanntlich Kohlberg Methoden zur Messung der moralischen Urteilskompetenz, indem er Probanden mit Dilemmageschichten konfrontierte, Interviews durchführte und die Antworten entwicklungspsychologisch analysierte. Die verschiedenen Argumentationsweisen spiegeln nach Kohlberg moralische Entwicklungsstufen wider. Dilemmadiskussionen im Unterricht dienen nicht allein der Einordnung auf ein Leistungsniveau, sondern auch der Beförderung der moralischen Urteilskraft, indem sich die Lerner mit den Argumentationsweisen der jeweils höheren Stufe auseinandersetzen.29 Auf der Basis von Kohlbergs Entwicklungspsychologie entwickelt Weber zur Beförderung der demokratischen Dialogkultur im Bildungsprozess einen Ansatz zum Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte, der die Bildung der kommunikativen Vernunft durch Dilemmadiskussionen um die Perspektive der Empathieförderung erweitert.30 Einen Niederschlag in der Form einer Gestaltung von adäquaten Unterrichtsmaterialien in Philosophieschulbüchern hat dieser recht junge Ansatz freilich noch nicht erfahren. Im Gegensatz dazu deuten Themenhefte für die Hand der Lehrkraft mit Unterrichtsmaterialien zu menschenrechtlich relevanten Dilemmadiskussionen auf eine Präsenz dieses Verfahrens im Philosophie- und Ethikunterricht hin.31 Die Unterrichtsmaterialien in gängigen Philosophieschulbüchern enthalten – wie Druba belegt – in der Regel keine Dilemmageschichten.32 4 Fazit Ausgehend von der Prämisse, dass insbesondere die explizite Thematisierung von Menschenrechten ein reflektiertes Menschenrechtsbewusstsein schult, kann auf der Basis einer Analyse der gegenwärtigen Unterrichtsmaterialien zum Ethik- und Philosophieunterricht festgestellt werden, dass alle drei Dimensionen der Menschenrechtsbildung abgedeckt werden, jedoch in unterschiedlicher Breite und Intensität. Die Vermitt29 Zur Einführung in Dilemmadiskussionen im Ethik- und Philosophieunterricht: Volker Pfeifer, Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen?, Stuttgart 2003, 148ff.220ff. 30 Barbara Weber, Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte. Vernunft und Mitgefühl als Grundvorrausetzungen einer demokratischen Dialogkultur, München 2013. 31 Inga Piel, Wie soll ich mich entscheiden? Dilemmageschichten mit Arbeitsanregungen für Jugendliche, Mühlheim 2009; Kaletsch/Rensch, a.a.O. 32 Vgl. Druba, a.a.O., 277. Selbst der Schülerband von Volker Pfeifer enthält trotz moralpsychologischer Expertise des Autors keine unterrichtspraktischen Anregungen zur Dilemmadiskussion; Volker Pfeifer, Pluralismus. Politisch. Kulturell. Lesehefte Ethik, Werte und Normen, Philosophie, Leipzig 1996, 80ff.

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lung von Wissen über Menschenrechte nimmt im philosophischen Unterricht einen breiten Raum ein, obgleich empirische Studien überzeugend belegen, dass Kenntnisse über Menschenrechte in Deutschland sehr defizitär sind. Um hier nachhaltiger zu bilden und auch unnötige Redundanzen zu vermeiden, empfiehlt sich nicht nur eine bessere Vernetzung und Abstimmung mit Vertretern anderer Unterrichtsfächer, in denen ebenfalls Wissen über Menschenrechte vermittelt wird, sondern auch eine tiefere Durchdringung des Gegenstandes durch philosophische Reflexion. Während Menschenrechtskunde Gegenstand vieler Unterrichtsfächer sein kann, ist die Thematisierung von Fragestellungen aus der Philosophie der Menschenrechte ein profilierendes Element im Ethik- und Philosophieunterricht. Ein nicht hinzunehmender Mangel besteht daher in dem radikalen Verzicht oder der sehr starken Ausdünnung dieser Dimension der Menschenrechtsbildung. Hier ist eine stärkere Einbindung der philosophischen Tradition wünschenswert. Nicht zuletzt zeigt die Analyse, dass im Bereich der Werteerziehung zu Recht vielfältige Verfahren zum Einüben einer kritischen Werteentwicklung dominieren. Die leider vereinzelt noch immer praktizierten moralischen Belehrungen erweisen sich dagegen auf dem Bildungsweg zu mündigen und autonomen Bürgerinnen und Bürgern als kontraproduktiv. Ferner ist abschließend auf ein Desiderat in der Ausschöpfung möglichst vieler werteerzieherischer Modelle hinzuweisen. Die in der Theorie entwickelten Ideen zur Formung einer menschenrechtskonformen Haltung durch Empathieförderung oder handlungsorientiertes Service Learning haben noch keinen Eingang in die einschlägigen Unterrichtsmaterialien für den Ethik- und Philosophieunterricht gefunden. PD Dr. Vanessa Albus ist Studiendirektorin am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen.

3 Didaktische Konkretionen: Menschenrechte im Religionsunterricht

3.1 Andrea Lehner-Hartmann

Ohne Frauenrechte keine Menschenrechte?!

Junge Menschen in Europa wachsen heute in einem demokratisch geprägten Umfeld auf, in dem sie Menschenrechte, die ihnen Schutz und Freiheit in ihrer Lebensgestaltung gewähren, als selbstverständlich erleben. Erst recht gilt dies im Hinblick auf Frauenrechte, die mittlerweile für überflüssige Sonderrechte gehalten werden. Dass diese gefühlte Selbstverständlichkeit in Bezug auf die Einhaltung von Menschen-/Frauenrechten eine ziemlich fragile ist, zeigt sich, wenn man einen Vergleich in ihrer Auslegung und Handhabung zwischen den europäischen Staaten und erst recht auf internationaler Ebene anstellt. Man denke an den Umgang mit der Pressefreiheit, mit Gewalt gegen Frauen und Kinder oder pluralen Lebensformen. Gerade in Situationen großer Herausforderung, wie es aktuell der Umgang mit geflüchteten Menschen sichtbar macht, droht die Universalität der Menschenrechte auf gefährliche Weise ausgehöhlt zu werden. Deutlich wird dies an der erhöhten Vulnerabilität von Frauen und Kindern auf der Flucht. Da nur gelebtes Recht, das auf die unterschiedlichen Ausgangslagen verschiedener Menschengruppen Rücksicht nimmt, ein gutes Leben ermöglicht, ist es als eine vorrangige Bildungsfrage anzusehen, ein Bewusstsein für umfassende Menschenrechte zu schaffen. Dazu wird man gleichermaßen den Blick auf die historische Entwicklung und auf aktuelle Gefährdungen richten müssen. 1 Warum brauchen wir überhaupt Frauenrechte? Historisch betrachtet umfassten die Grundrechte nie alle Menschengruppen in gleichem Maße. So war die »Bill of Rights« nicht eindeutig auch auf Frauen, Sklavinnen und Sklaven, Indigene anwendbar, ebenso war die französische »Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers« lediglich eine Männerrechtserklärung.1 Der Diskurs der Menschenrechte verband sich zwar von Anfang an zentral mit der Geschlechterfrage, diese wurde aber nicht explizit verhandelt, sondern musste von Frauen

1 Katharina Ceming, Religionen und Menschenrechte. Menschenrechte im Spannungsfeld religiöser Überzeugungen und Praktiken, München 2010, 45f.

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beharrlich angemahnt werden.2 Impulsgebend war die Französin Olympe de Gouges, die der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus dem Jahr 1789 eine »Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin« gegenüberstellte, um auf die Anerkennung der Rechte der Frauen zu drängen, was ihr letztendlich den Tod durch die Guillotine bescherte. Es bedurfte eines langen Entwicklungsprozesses, bis schließlich 1945 in der Charta der Vereinten Nationen, also deren Gründungsvertrag, das Bemühen um die Einhaltung und Achtung der Grundrechte des Menschen eng mit der Achtung der Gleichberechtigung von Mann und Frau verknüpft wurde. Wie notwendig eine explizite Thematisierung von Frauenrechten geworden war, zeigte sich daran, dass zu diesem Zeitpunkt 30 von den 51 Mitgliedsstaaten noch kein Frauenwahlrecht hatten. 1947 erreichten Frauen, dass eine Frauenstatuskommission eingerichtet wurde, die Informationen über Missverhältnisse zwischen der rechtlichen und der tatsächlichen Situation sowie über die Lebensbedingungen von Frauen in den Mitgliedsstaaten sammelte und auswertete.3 Dadurch konnte aufgezeigt werden, dass die Menschenrechte auf männliche Unrechtserfahrungen hin konzipiert wurden und typische Gefährdungen für Frauen nicht in den Blick kamen und rechtlich keinen Niederschlag fanden.4 Dies betraf insbesondere Fragen der familiären Gewalt, der Genitalverstümmelung, der politischen Verfolgung, der erzwungenen Prostitution, der traditionellen Rollenzuweisung und Aufgabenteilung. Durch die 1979 abgeschlossene UN-Konvention CEDAW wurde versucht, einen eigenen Menschenrechtsvertrag für Frauen zu entwickeln, der »zur Herstellung substanzieller Gleichheit«5 zwischen den Geschlechtern führen sollte. Durch die spezifische Beachtung von Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen gegenüber Frauen sollte es geschafft werden, auch den strukturellen Machtungleichheiten und Abstufungen in den Gesellschaften zwischen den Geschlechtern entgegenzuarbeiten. Den Rahmen für die Rechte von Frauen bildeten somit einerseits das Diskriminierungsverbot aufgrund ihres Geschlechts und Familienstandes und andererseits das Gleichberechtigungs-, Gleichbehandlungs- und Gleichstellungsgebots mit Männern. 2 Beate Rudolf unterscheidet hier mehrere Etappen. Ausführlich dazu: Beate Rudolf, Menschenrechte und Geschlecht – eine Diskursgeschichte, in: Ulrike Lembke (Hg.), Menschenrechte und Geschlecht, Baden Baden 2014, 24–50. 3 Vgl. Dorothea Gaudart, Wie ist CEDAW entstanden? Entstehungsgeschichte der UN Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, in: Bundeskanzleramt/Bundesministerium für Frauen, Medien und öffentlichen Dienst (Hg.), Was ist CEDAW? Die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Menschenrechte von Frauen und was sie bedeuten, Wien 2009, 13–17, hier 14. 4 Ausführlicher: Marianne Heimbach-Steins, »… nicht mehr Mann und Frau«. Sozialethische Studien zu Geschlechterverhältnis und Geschlechtergerechtigkeit, Regensburg 2009, 233–315. 5 Rudolf, Menschenrechte (s.o. Anm. 2), 34.

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Daran setzt auch die Erklärung der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 an, wenn sie als vorrangige Zielsetzung für die internationale Gemeinschaft die volle und gleichberechtigte Teilnahme der Frau am politischen, bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene sowie die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts formuliert. Explizit erwähnt werden geschlechtsspezifische Gewalt und alle Formen sexueller Belästigung und Ausbeutung, einschließlich jener, die auf kulturelle Vorurteile und den internationalen Menschenhandel zurückzuführen sind. Diese werden als mit der Würde und dem Wert der menschlichen Person nicht vereinbar angesehen.6 Auch hier wird die Beseitigung von Diskriminierungen als wesentlicher Schritt betrachtet, damit Partizipationsrechte in Anspruch genommen werden können. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird nachvollziehbar, warum es sich bei Frauenrechten nicht um Sonderrechte handelt, sondern um eine Explizierung des Universalanspruchs der Menschenrechte. An ihnen wird deutlich, was bisher ausgeblendet wurde und einer universalen Verwirklichung entgegenstand. »Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zu dem für die ganze Menschenrechtsdiskussion zentralen Grundsatz der Gleichheit erscheinen mag, erweist sich vielmehr als eine notwendige Differenzierung des damit Gemeinten, wenn dieses Kriterium nicht entweder zu einer wertlosen Worthülse degenerieren oder zu einem der Personwürde letztlich widersprechenden Uniformismus führen soll.«7 Damit Menschenrechte also allen gleichermaßen zukommen können, ist es notwendig, einseitige Orientierungen am männlichen Individuum und männlichen Lebenswelten in der allgemeinen Rede vom Menschsein aufzudecken, da dadurch Diskriminierungspraktiken ausgeblendet werden, die der Einholung universaler Menschenrechte insbesondere im Hinblick auf Frauen im Weg stehen. Bei allen Errungenschaften müssen Menschenrechte selbst noch einmal auf ihr diskriminierendes Potenzial hin befragt werden, um für weitere Ausklammerungen von menschlichen Lebensrealitäten sensibel zu machen. »Das heißt, es gilt jene Auslassungen [in den Menschenrechten, Anm. ALH] zu thematisieren, die Ungleichheiten und Diskriminierungen bewirken, und es bedarf einer Diskussion jener Werte, die Normierungen und Privilegierung erzeugen.«8 In den geschlechtsspezifischen Diskriminierungen werden Menschheitsprobleme deutlich, womit den Frauenrechten eine her6 Vgl. Marianne Heimbach-Steins / Claudia Lücking-Michel, Frauen-MenschenRechte. Universalität und Partikularität von Frauenrechten am Beispiel des Rechtes auf Entwicklung, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, 39/1998, 161– 188, hier 163. 7 Ebd., 161. 8 Monika Mayrhofer, Zur Kritik der Menschenrechte aus postkolonialer und feministischer Sicht und deren Auswirkung auf die Menschenrechtsbildung, in: Claudia Brunner / Josefine Scherling (Hg.), Bildung, Menschenrechte, Universität (Jahrbuch Friedenskultur 2012), Klagenfurt/Celovec 2012, 225–244, hier 226f.

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ausragende Stellung für die Verwirklichung der Menschenrechte im Gesamten zukommt. Sowohl ökonomische, soziale als auch politische Entwicklungen werden mit der Frage nach einer Gleichberechtigung und gleichen Achtung von Frau und Mann in engster Weise verknüpft. Die Universalität der Geltung der Menschenrechte lässt sich daran prüfen, ob Frauen im internationalen Recht wie in der Anwendung des Rechts als Menschenrechtssubjekte anerkannt sind und ob sie auch tatsächlich in den Genuss der Menschenrechte kommen.9 Neben zahlreichen Verbesserungen für die Stellung der Frau in den weltweiten Gesellschaften werden heute aber vor allem noch zwei Hinderungsgründe angeführt, welche eine positive Entwicklung hin zu einer noch breiteren Umsetzung der Menschenrechte verhindern: gesellschaftliche Strukturen und geschlechtsspezifische Vorurteile.10 Auf struktureller Ebene ist Armut als der größte Risikofaktor für alle Menschenrechte anzusehen.11 Frauen und Kinder sind davon in erhöhtem Maße betroffen, sodass man auch von einer Feminisierung von Armut sprechen kann.12 Armut hält somit Frauen und Kinder in verstärkten Abhängigkeitsverhältnissen bis hin zur sozialen Isolation, die wiederum zu einer erhöhten Gefahr für körperliche und sexuelle Übergriffe führen kann. Geschlechterstereotype Sichtweisen und Aufgabenverteilungen arbeiten der Legitimation von Unrechtsverhältnissen zu. Der Schlüssel für die Bekämpfung von Armut liegt in der Einhaltung der Menschenrechte; sie sind kein Privileg reicher Länder. Armut bedeutet nicht nur den Mangel an Einkommen, sondern wesentlich Ausgrenzung, Rechtlosigkeit und Fremdbestimmung. Neben politischen und bürgerlichen Rechten geht es auch um Teilhabe an wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Der Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung sowie der Schutz vor Diskriminierung bilden Grundvoraussetzungen dafür, dass von Armut Betroffene überhaupt am politischen Leben teilnehmen und ihre Stimme erheben können. Nach dem UN-Report über unbezahlte Arbeit, Armut und Frauenrechte 201313, den die Sonderberichterstatterin Magdalena Sepúlveda Carmona vorlegte, stellt die unbezahlte Care-Arbeit in Form von Hausarbeit wie Kochen, Putzen, Waschen, Wasser und Brennstoffe sammeln und direkter Pflegearbeit von Kindern, kranken und älteren Menschen sowie Menschen mit Beein9 Heimbach-Steins / Lücking-Michel, Frauen-Menschen-Rechte (s.o. Anm. 6), 171. 10 Wolfgang Benedek (Hg.), Menschenrechte verstehen (Handbuch zur Menschenrechtsbildung), Wien/Graz 2009, 175. 11 Vgl. anschaulich und ausführlich in Irene Khan, Die unerhörte Wahrheit. Armut und Menschenrechte, Frankfurt a.M. 2010. 12 Heimbach-Steins/Lücking-Michel, Frauen-Menschen-Rechte (s.o. Anm. 6), 173f. 13 United Nations (2013), Extreme poverty and human rights. Unpaid work, poverty and women’s human rights, A/68/293, abrufbar unter: https://documentsdds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N13/422/71/PDF/N1342271.pdf?OpenElement [5.2.2017].

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trächtigungen global gesehen jenen Teil einer gesellschaftlichen Tätigkeit dar, dessen monetärer Wert von 10% bis über 50% des Bruttonationalprodukts geschätzt wird. HauptträgerInnen dieser unbezahlten Arbeit sind vorwiegend Frauen und Mädchen, der damit verbundene Zeitaufwand steht in direktem Verhältnis mit einem geringen sozioökonomischen Status. Care-Arbeit führt viele Frauen und Mädchen in eine Falle, weil durch die unbezahlte Arbeit oder durch prekäre Arbeitsverhältnisse die Vulnerabilität für Armut erhöht wird, welche Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden zeigt und die Möglichkeiten für gesellschaftliche Partizipation einschränkt, wenn nicht gar verhindert. Genderstereotype Zuschreibungen, wie »der verdienende Mann« und »die sorgende Frau«, werden damit gefestigt. Empfohlen wird den Staaten, die gesellschaftlich notwendige Sorge-Arbeit als gemeinsame Verantwortung von Frauen und Männern zu sehen und den Zugang für Frauen zu öffentlichen Dienstleistungen und Infrastruktur zu verbessern. Einer speziellen Aufmerksamkeit bedürfen Frauen mit ihren Kindern, die von Krieg, Flucht und Migration betroffen sind und die eine Verletzung ihrer Frauen-/Menschenrechte gehäuft erleben. Durch Krieg werden ihnen gewaltsam Lebensressourcen, wie Besitz, Bildung, Arbeit, Leben in Freiheit und Frieden und Schutz genommen. Dies teilen sie gemeinsam mit den Männern. Ihre Vulnerabilität zeigt sich darin, dass sie speziellen physisch-sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind, sei es, dass sie im recht- und schutzlosen Raum im Kriegsgebiet ausharren müssen oder auf der Flucht besonders gefährdet sind, wenn sie nicht gar ihren Kindern / ihrer Familie die Flucht durch die Nötigung zu sexuellen Diensten ermöglichen müssen. Religionen lassen im Umgang mit Menschenrechten, wie sich an Frauenrechten deutlich zeigt, große Ambivalenzen erkennen. »Das Haupt-Hindernis für die Umsetzung der Geschlechtergerechtigkeit in den Religionen ist die Aufrechterhaltung männlicher Privilegien und Machtverhältnisse. Traditionellerweise war die Minderbewertung und Dämonisierung der weiblichen Natur ein verbreitetes Muster für die Legitimation der Geschlechterhierarchie. In allen großen Religionen der Gegenwart finden sich aber auch mehr oder weniger starke Impulse für die Gleichstellung der Geschlechter im religiösen Bereich, vor allem im Sinn der Zuerkennung der gleichen Heilsfähigkeit.«14 Problematisierend kann festgehalten werden, dass zwar vielfach mit der gleichen Würde zwischen Mann und Frau argumentiert wird, aber gleichzeitig eine Andersartigkeit von Mann und Frau betont wird, die mit unterschiedlichen Merkmalen, Fähigkeiten und Aufgaben verbunden werden. Dies führt dazu, dass die 14 Birgit Heller, Geschlechtergerechtigkeit in den Religionen? Systematisch-religionswissenschaftliche Perspektiven, in: Christoph Elsas / Edith Franke / Angela Standhartinger (Hg.), Geschlechtergerechtigkeit: Herausforderung der Religionen. VII. Internationales Rudolf-Otto-Symposion Marburg. Göttingen 2014, 29–44, hier 40.

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Zuschreibungen an Frauen mit Fürsorglichkeit, Opferbereitschaft, Hingabe, etc. sie genau an jene Aufgaben bindet, die sie an einer gleichberechtigten Partizipation am politischen, ökonomischen und kulturellen und letztendlich auch am religiösen Leben hindern. Christlich gewendet wird die Würde von Mann und Frau in der Gottebenbildlichkeit begründet, die beiden unverwechselbar und in gleichem Maße zukommt, die aber strukturell in der katholischen und orthodoxen Kirche in der Ausübung religiöser Ämter keinen gleichberechtigten Niederschlag findet. Ebenso diskrepant ist die gleichberechtigte Anerkennung von nicht heterosexuell normierten Geschlechtervorstellungen und Lebensformen in den christlichen Konfessionen. Wenn Frauenrechte der besseren Durchsetzung universaler Menschenrechte verhelfen, sind sie nicht als exklusives Anliegen von Frauen zu qualifizieren, sondern verlangen nach einer Beteiligung aller. Damit wird ermöglicht, Diskriminierungspraktiken jenseits der Geschlechtergrenzen bzw. auch geschlechtsspezifische Diskriminierungen von Männern von der Zwangsrekrutierung für Kriege bis hin zu sexuellen Normierungen aufzudecken. 2 Didaktische Perspektiven Bildende Maßnahmen zu setzen bedeutet, die Ausbildung von Menschen-/Frauenrechtswissen in Gang zu bringen. »Menschenrechtsbildung muss Grundkenntnisse vermitteln über die Rechte, die ich und alle anderen haben, warum sie sich entwickelt haben und was sie für den einzelnen wie für die Gemeinschaft leisten.«15 Zur Ausbildung von Menschenrechtswissen gehört auch, ein reflexives »Geschlechter-Wissen« zu entwickeln.16 Lehrpersonen beanspruchen für sich, Kinder und Jugendliche gleich zu behandeln, d.h. sie individuell und nicht über ihr Geschlecht wahrzunehmen. Bei genauerer Betrachtung halten diese Beteuerungen einer realen Einholung nicht stand; vielmehr erfolgt in der Praxis eine Dramatisierung von Geschlecht, indem geschlechterstereotype Wahrnehmungen und Zuschreibungen vorgenommen werden.17 Eine Aneignung und Vermittlung von reflexivem Geschlechterwissen wird dadurch erschwert, weil Dominanz- und Unterwerfungspraktiken im alltäglichen Handeln von Frauen und Männern unsichtbar bleiben. Mit ausschließlich 15 Karl-Peter Fritzsche, Menschenrechtsbildung im Aufwind, in: Bernd Overwien / Annedore Prengel (Hg.), Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen 2007, 80–93, hier 81. 16 Ausführlicher dazu: Irene Dölling, ›Geschlechterwissen‹ – ein nützlicher Begriff für die ›verstehende‹ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen, in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23 / 2005, H.1 & 2, 44–62. 17 Vgl. Hannelore Faulstich-Wieland / Marianne Horstkemper, Schule und Genderforschung, in: Marita Kampshoff / Claudia Wiepcke (Hg.), Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik, Wiesbaden 2012, 25–38, hier: 32.

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theoretischem Genderlernen ist einem verschleiernden Gleichheitsdiskurs ebenfalls nicht beizukommen. »Genderwissen existiert ohnehin nicht nur bewusst im Kopf. Es ist im Habitus der Menschen inkorporiert und in Routinen wie auch Verfahrensregeln von Organisationen eingeschrieben […], die die Geschlechterhierarchie alltäglich reproduzieren, und muss dort auch praktisch bearbeitet werden.«18 Im Zusammenspiel von Kognition, Emotion und Aktion geht es darum, eine Kultur zu etablieren, in der Menschenrechte verstanden, respektiert und verteidigt werden können. Um Diskriminierungspraktiken zu erkennen, benötigen Lehrpersonen ein reflexives Menschenrechts- und Geschlechter-Wissen, damit sie ihr eigenes Verhalten und das ihrer Schülerinnen und Schüler in ihren Wirkungen wahrnehmen und bearbeiten können. Dazu bedarf es der Fähigkeit, sich in unterschiedliche Lebenslagen einfühlen und aus dieser Perspektive empathisches Verstehen für Bedürfnisse und Nöte entwickeln zu können. Für das didaktische Vorgehen bieten sich dazu biografische Impulse an, wie sie in den vielfältigen weiblichen und männlichen Flüchtlingsgeschichten19, Berichten aus Frauenhäusern und Gewaltschutzzentren oder prominenten Lebensgeschichten, wie jener von Malala20, vorliegen, aber auch wie sie im konkreten SchülerInnenleben vorkommen. Dabei sollen Jugendliche nicht von der Betroffenheit der Lebensgeschichten überwältigt werden, sondern erarbeiten, welche nächsten Schritte für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind und welche Möglichkeiten die betroffenen Personen zur Durchsetzung ihrer Rechte haben. Wem wird welches Recht mit welcher Begründung verweigert? Wo erhält man Hilfe und Unterstützung? Welche Gesetze werden benötigt? Wozu können Menschen-/Frauen-/Kinderrechte dienen? Wie ergänzen sie einander? Was würde fehlen, wenn es sie nicht gäbe? Wie werden sie begründet? Welchen förderlichen/hinderlichen Beitrag liefern Religionen? etc. Eine gute Durchmischung der biografischen Zugangsweisen sorgt dafür, dass Menschenrechte in ihren lokalen und globalen Dimensionen erfasst werden können. Werden Menschen-/Frauenrechte abstrakt als fertiges Produkt vorgestellt, begegnen ihnen Schülerinnen und Schüler oft mit Indifferenz oder sogar Widerstand und Abwehr. Wenn man sich aber vor Augen hält, dass der aktuellen Fassung der Menschen-/Frauenrechte jahrhundertelange Auseinandersetzungen vorausgegangen sind und sie auch heute immer wieder neu interpretiert werden müssen, lässt sich darin auch ein 18 Malwine Seemann, Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Eine Studie zum Gender Mainstreaming in Schweden, Bielefeld 2009, 236. 19 Maria von Welser, Kein Schutz – nirgends. Frauen und Kinder auf der Flucht, München 2016; Ute Schaeffer, Einfach nur weg. Die Flucht der Kinder, München 2016. 20 Christina Lamb / Malala Yousafzai, Ich bin Malala. Das Mädchen, das die Taliban erschießen wollten, weil es für das Recht auf Bildung kämpft, München 2013; Malala Yousafzai / Patricia McCormick, Malala. Meine Geschichte, Frankfurt a.M. 2014.

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didaktischer Anknüpfungspunkt finden: indem dieser Lernprozess, der den Menschen/Frauenrechten eingeschrieben ist, didaktisch nachgezeichnet wird. Dazu ist es notwendig, dass die Entstehungsanlässe und die damit verbundenen Diskussionen den Schülerinnen und Schülern zur vertieften Er- und Bearbeitung gegeben werden. Am besten geschieht dies, wenn sie mit Einblicken in das reale soziale Leben zur jeweiligen Zeit, das je nach sozialer Zugehörigkeit und Geschlecht unterschiedlich aussah, verknüpft werden. Ziel wäre es, sie in dahinterliegende Denkprozesse zu verstricken. Davon nicht auszusparen ist die Beziehung von Frauenrechten und Religion. Auch hier lassen sich im Vergleich jesuanischer Aussagen und Umgangsformen mit Lehrschreiben die leitenden Frauen-, Männer- und Geschlechterbilder erarbeiten und mit dem Menschenrechtsdiskurs verbinden und Widersprüche, Leerstellen, Anknüpfungspunkte etc. herausarbeiten.21 Eine Nachskizzierung der historischen Entwicklungen sowie eine Diskussion anhand konkreter Biografien und konkreter Realisierung von Menschen-/Frauenrechten in unterschiedlichen gesellschaftlichen und religiösen Kontexten kann deutlich machen, warum sie keine selbstverständliche Gegebenheit darstellen und jede Generation neu an deren Einholung zu beteiligen ist. Dr. Andrea Lehner-Hartmann ist Universitätsprofessorin für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

21 Kompakt und übersichtlich zusammengestellt in: Katharina Ceming, Ernstfall Menschenrechte. Die Würde des Menschen und die Weltreligionen, München 2010, 155–184.

3.2 Helga Kohler-Spiegel

Kinderrechte »Kinder haben Rechte, das gilt für jedes Kind …«

1 Kinderrechte und die Kinderrechtskonvention »Kinder kennen das Problem, sie haben nichts zu sagen, fragen sie etwas, hör’n sie schon: ›Komm, hör auf zu fragen!‹ Aber was wir wissen wollen, geht uns doch sehr wohl was an. Und wir wollen mitbestimmen, weil man alles ändern kann. Refrain: Kinder haben Rechte, das gilt für jedes Kind. Kinder haben Rechte, auch wenn sie noch klein sind. Kinder haben Rechte, doch nicht alle wissen das. Kinder haben Rechte, auch wenn vielen das nicht passt! …«1 1.1 Schritte zur UN-Kinderrechtskonvention Anfang des vorigen Jahrhunderts kamen völkerrechtliche Verträge zustande, die dem Schutz des Kindes und der Wahrnehmung seiner Rechte dienen sollten, so das Haager Abkommen vom 12. Juni 1902 zur Regelung der Vormundschaft über Minderjährige oder das Internationale Übereinkommen vom 4. Mai 1910 zur Bekämpfung des Mädchenhandels. 1924 verabschiedete die fünfte Versammlung des Völkerbundes die »Genfer Erklärung«, mit der die Belange der Kinder- und Jugendhilfe erstmals als Anliegen der internationalen Gemeinschaft anerkannt wurden: 1. »Das Kind soll in der Lage sein, sich sowohl in materieller wie in geistiger Hinsicht in natürlicher Weise zu entwickeln. 2. Das hungernde Kind soll genährt werden; das kranke Kind soll gepflegt werden; das zurückgebliebene Kind soll ermuntert werden; das verirrte Kind soll auf den guten Weg geführt werden; das verwaiste und verlassene Kind soll aufgenommen und unterstützt werden. 3. Dem Kind soll in Zeiten der Not zuerst Hilfe zuteil werden.

1 Text und Musik: Björn Oellers, Kinder haben Rechte. Zit nach: www.Für-Kinder rechte.de. Zugriff bei allen Internet-Quellen am 1. Mai 2017, 8.00 Uhr.

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4. Das Kind soll in die Lage versetzt werden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und soll gegen jede Ausbeutung geschützt werden. 5. Das Kind soll in dem Gedanken erzogen werden, seine besten Kräfte in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen.«2

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde – auf der Basis der Verkündigung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 – am 4. November 1950 die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Rom unterzeichnet, das am 3. September 1953 allgemein in Kraft getreten ist. In Artikel 25 Abs. 2 wurden Kinder als besonders schutzbedürftige Gruppe von Menschen genannt: »Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz.«3 Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 zur Verankerung des Menschenrechtsschutzes im Vertragsvölkerrecht widmet sich der Artikel 24 dem Schutz von Kindern: »(1) Jedes Kind hat ohne Diskriminierung hinsichtlich der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens oder der Geburt das Recht auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert. (2) Jedes Kind muss unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register eingetragen werden und einen Namen erhalten. (3) Jedes Kind hat das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben.«4

1.2 Konvention über die Rechte des Kindes 1959 nimmt die Generalversammlung der Vereinten Nationen ohne Gegenstimme die »Erklärung der Rechte des Kindes« an. 1979 findet ein »Internationales Jahr des Kindes« statt. Am 20. November 1989 wurde die »Konvention über die Rechte des Kindes« durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig angenommen. Am 26. Januar 1990 wurde das Übereinkommen in New York zur Zeichnung aufgelegt und trat am 2. September 1990 in Kraft. Beim Weltkindergipfel vom 29. und 30. September 1990 verpflichteten sich Regierungsvertreter aus der ganzen Welt zur Anerkennung der Konvention, mittlerweile ist die Konvention von fast allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ratifiziert. Für Deutschland trat sie am 5. April 1992 mit Vor-

2 https://www.kinderrechtskonvention.info/die-genfer-erklaerung-3336/. 3 https://www.menschenrechtskonvention.eu/konvention-zum-schutz-der-menschen rechte-und-grundfreiheiten-9236/. 4 http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereintenationen/menschenrechtsabkommen/zivilpakt-iccpr/.

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behalten in Kraft.5 In zwei Zusatzprotokollen wurden 2002 die Beteiligung Minderjähriger an bewaffneten Konflikten (Kindersoldaten) sowie Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie geächtet. 1.3 Kernaussagen Die Konvention6 definiert Kinder als Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben, vorbehaltlich der Regelungen einzelner Länder, die die Volljährigkeit früher ansetzen. Alle 54 Artikel des Übereinkommens lassen sich in drei Gruppen einteilen, die mit den sogenannten »drei P« bezeichnet werden: »Protection«, »Provision« und »Participation«, oder übersetzt: – Schutzrechte (z.B. Schutz vor körperlicher, sexueller und seelischer Gewalt, Schutz vor Verwahrlosung, vor wirtschaftlicher Ausbeutung, Schutz im Krieg oder auf der Flucht); – Versorgungsrechte (z.B. Recht auf angemessene Lebensbedingungen, Gesundheitsversorgung, Bildung, Recht auf Namen und Staatsangehörigkeit); – Beteiligungsrechte (z.B. Recht auf Meinungsfreiheit, Recht auf Gehör der Meinung des Kindes, Recht auf Zugang zu Informationen, Recht auf Privatsphäre und Freizeit).7 Der UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder hat vier Artikel der Konvention (Artikel 2, 3, 6 und 12) zu grundlegenden Prinzipien (»general principles«) erklärt, konkret: – Diskriminierungsverbot; – Kindeswohl; – Recht auf Leben; – Beteiligung, Berücksichtigung des Kindeswillens. Der ausführliche Text der Konvention mit insgesamt 54 Artikel wurde von der UNICEF in zehn Grundrechten zusammengefasst, diese zehn Grundrechte eignen sich auch als Fokus für die Kinderrechtsbildung in Schule, Elternarbeit und außerschulischen Bildungsprozessen: 1.

»Das Recht auf Gleichheit: Alle Kinder sind gleich. Niemand darf auf Grund seiner Hautfarbe, Geschlechts oder Religion benachteiligt werden.

5 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut und Materialien, Berlin 2007, 87. 6 Im vollen Wortlaut: UNICEF Deutschland (Hg.), Konvention über die Rechte des Kindes, Köln o.J. 7 Vgl. Claudia Kittel, Kinderrechte. Ein Praxisbuch für Kindertageseinrichtungen, München 2008, 27f.

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2.

Das Recht auf Gesundheit: Jedes Kind hat das Recht, die Hilfe und Versorgung zu erhalten, die es braucht, wenn es krank ist. 3. Das Recht auf Bildung: Jedes Kind hat das Recht zur Schule zu gehen und zu lernen, was wichtig ist. Zum Beispiel die Achtung vor den Menschenrechten und anderen Kulturen. Es ist wichtig, dass Kinder in der Schule ihre Fähigkeiten entwickeln können und dass sie dazu ermutigt werden. 4. Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung: Jedes Kind hat das Recht zu spielen und in einer gesunden Umgebung aufzuwachsen und zu leben. 5. Das Recht sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln: Jedes Kind hat das Recht, seine Gedanken frei zu äußern. Die Meinung der Kinder soll in allen Dingen, die sie direkt betreffen, beachtet werden. Alle Kinder haben das Recht auf Information und Wissen über ihre Rechte. Jedes Kind hat das Recht, Informationen aus der ganzen Welt durchs Radio, TV, durch Zeitungen und Bücher zu bekommen und Informationen auch an andere weiterzugeben. 6. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung: Jedes Kind hat das Recht auf eine Erziehung ohne Anwendung von Gewalt. 7. Das Recht auf Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung: Kein Kind soll schlecht behandelt, ausgebeutet oder vernachlässigt werden. Kein Kind soll zu schädlicher Arbeit gezwungen werden. 8. Das Recht auf Schutz im Krieg und auf der Flucht: Ein Kind, das aus seinem Land flüchten musste, hat dieselben Rechte wie alle Kinder in dem neuen Land. Wenn ein Kind ohne seine Eltern oder seine Familie kommt, hat es Recht auf besonderen Schutz und Unterstützung. Wenn es möglich ist, soll es mit seiner Familie wieder zusammengebracht werden. 9. Das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause: Jedes Kind hat das Recht, mit seiner Mutter und seinem Vater zu leben, auch wenn diese nicht zusammen wohnen. Eltern haben das Recht, Unterstützung und Entlastung zu bekommen. 10. Das Recht auf Betreuung bei Behinderung: Jedes Kind hat das Recht auf ein gutes Leben. Wenn du behindert bist, hast du das Recht auf zusätzliche Unterstützung und Hilfe.«8

1.4 Verbindlichkeit und rechtliche Umsetzung Am 19. Dezember 2011 wurde von der UN-Generalversammlung das 3. Fakultativprotokoll9 verabschiedet, mit dem Verletzungen gegen die Kinderrechtskonvention anzuzeigen möglich wird. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes überwacht die Einhaltung der Konvention und wertet periodisch die Berichte der Unterzeichnerstaaten aus. »Damit können sich Kinder und Jugendliche direkt an den Kinderrechtsausschuss wenden, wenn ein Recht aus der Kinderrechtskonvention von einem Staat verletzt worden ist. Diese Individualbeschwerde ist aber nur möglich, nachdem der nationale

8    http://www.unicef.lu/kinderrechte/. 9 Vgl. Resolution A/RES/66/138: https://www.kinderrechtskonvention.info/3-fakul tativprotokoll-zur-kinderrechtskonvention-3903/.

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Rechtsweg ausgeschöpft worden ist. Bei besonders schweren Kinderrechtsverletzungen kann der Ausschuss auch ohne Einlegung einer Beschwerde tätig werden.«10

Für die Bundesrepublik Deutschland hat der Deutsche Bundestag der Kinderrechtskonvention mit Gesetz vom 17. Februar 1992 zugestimmt, am 5. April 1992 ist sie zunächst mit Vorbehalten in Kraft getreten, 2010 wurden diese zurückgenommen. Ein »Nationaler Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010« knüpft an den »Weltkindergipfel«, der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen vom 8. bis 10. Mai 2002 in New York an und dient zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland.11 Das Grundanliegen dieses Nationalen Aktionsplans ist die Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern sowie ihrer Rechte.12 2 Kinderrechtsorientierte Pädagogik 2.1 Zum Grundverständnis Pädagogische Konzeptionen müssen dem Recht des Kindes auf ein Leben ohne Diskriminierung, unter Berücksichtigung des Kindeswohls und des Kindeswillens verpflichtet sein. Pädagogische Anthropologie muss von den Kinderrechten her aufgebaut werden, pädagogische Grundannahmen und Konsequenzen werden ebenso von den Kinderrechten her bedacht und im Blick auf diese kritisch diskutiert. Schulkultur und schulisches Handeln werden daran geprüft, ob sie die Kinderrechte einlösen, ob sie Kindeswohl und Kindeswillen beachten, ob sie Leben und Lernen ohne Diskriminierung und unter Beteiligung aller Kinder umsetzen. In den Leitbildern einzelner Schulen wird sichtbar, welche Kinderrechte im Vordergrund stehen, wie Heterogenität13 im Leben und Lernen in der Schule umgesetzt wird, wie Nicht-Diskriminierung, wie Gleichbehandlung und Inklusion unter den Geschlechtern, den Kulturen, den Religionen und den Stärken und Handicaps von Kindern schulisch gelebt wird, 10 https://www.kinderrechtskonvention.info/individualbeschwerdeverfahren-378/. 11  https://www.bmfsfj.de/blob/94406/9d8935dd8b9a186b595f831d5408c41c/napreport-data.pdf. Ähnliche Initiativen gab es auch in anderen Ländern. 12 Vgl. exemplarisch das umfangreiche Material zum Nationalen Aktionsplan: http://www.kinderumweltgesundheit.de/index2/pdf/dokumente/50137_1.pdf; https:// www.bmfsfj.de/blob/94404/5aa28b65de1e080ce2b48076380f90b1/nap-nationaler-ak tionsplan-data.pdf; https://www.bmfsfj.de/blob/94406/9d8935dd8b9a186b595f831d5 408c41c/nap-report-data.pdf; https://www.bmfsfj.de/blob/94116/590c05ad0f3f47448 a61f1b0572c7f8c/kindergerechtes-deutschland-abschlussbericht-data.pdf. 13 Vgl. exemplarisch: Bernhard Grümme, Heterogenität. Stand 2017. In: https:// www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexi kon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/heterogenitaet/ch/1e56e145b8d883647582cbb eac9c2dcf/.

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eine »Pädagogik der Vielfalt«14 steht im Vordergrund. Lernen geht damit vom Kind, seinem Entwicklungsstand und seinem Tempo aus, Lernen wird als aktiv konstruierende Leistung des Kindes gesehen, Beziehung zum Kind schafft die Basis für Lernprozesse im sachbezogen-fachlichen wie im erzieherischen Sinn. 2.2 Das Recht des Kindes … In diesem Zusammenhang zeigte Friedrich Schweitzer auch »das Recht des Kindes auf Religion« auf: Das Recht des Kindes auf Bildung beinhaltet auch das Recht auf die Beschäftigung mit religiösen Fragen. Zur Förderung des Kindeswohls gehört die Sorge für das Nützliche und Notwendige, für die Grundversorgung an Nahrung und Wohnung, die Sorge für die emotionalen Bedürfnisse sowie für die kognitive Entwicklung. Zum Wohl des Kindes gehört aber auch die Auseinandersetzung über all das, was ein Kind fragen und nachdenken, staunen und fasziniert sein lässt. Fünf große Fragen benennt Schweitzer, »die entweder die Kinder an uns richten oder mit denen wir uns selbst bei der Erziehung konfrontiert sehen. Und es sind ›große Fragen‹, weil sie zumindest potentiell nach einer religiösen Antwort verlangen.«15 – Wer bin ich und wer darf ich sein? Die Frage nach mir selbst; – Warum musst du sterben? Die Frage nach dem Sinn des Ganzen; – Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? Die Frage nach Gott; – Warum soll ich andere gerecht behandeln? Die Frage nach dem Grund ethischen Handelns; – Warum glauben manche Kinder an Allah? Die Frage nach der Religion der anderen. Kinder haben ein Recht darauf, mit diesen Fragen nicht alleine zu bleiben, sie haben ein Recht auf Bildung auch in religiöser Hinsicht, sie haben ein Recht auf Unterstützung, um sich auch in der religiös pluralen, komplexer werdenden Welt zu orientieren. Der Begriff »Pädagogik« erinnert daran, dass in der griechischen Antike der Begriff verwendet wurde, wenn der Sklave ein freies Kind zum Ort des Lernens begleitete. Es ist nicht das Lernen selbst, das Pädagoginnen und Pädagogen machen, sondern Kinder werden an Orte begleitet, an denen sie lernen können. Denn Lernen ist ein aktiver Prozess, im Hineinwachsen in Tradiertes geschieht zugleich eine Umgestaltung, inklusive der Entscheidung, was überhaupt übernommen und was vergessen

14 Vgl. Annedore Prengel, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Opladen 2 1995. 15 Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion. Ermutigungen für Eltern und Erzieher, Gütersloh 2000, 28.

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wird.16 Bildung geschieht in Begegnung und Beziehung, ist also personal und dialogisch – und wie jede Kommunikation ist damit auch Bildung konfliktträchtig und störungsanfällig.17 3 Kinderrechte im Unterricht Didaktische Überlegungen knüpfen an die Kernpunkte einer kinderrechtsorientierten Pädagogik und an die Frage der Haltung der Lehrperson an. Nur so kann die Konkretisierung des Themas im Blick auf Schule den Grundanliegen der Kinderrechte gerecht werden, nicht nur die Inhalte zu thematisieren, sondern vor allem an einer Welt zu arbeiten, in der Kinder ohne Diskriminierung leben und sich entwickeln können, in der sie an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt sind und gehört werden. Inhaltlich ist es sinnvoll, die Kinderrechtskonvention als Ganzes und den Entwicklungsprozess mit älteren Schülerinnen und Schülern zu thematisieren, verbunden mit der Verknüpfung zu Politischer Bildung und der Frage, was notwendig und was hilfreich ist, auf multinationaler Ebene Übereinkünfte zu formulieren, wie sie umgesetzt und auch eingefordert werden können. Das Angebot an kurzen Videofilmen zum Thema, an Comics und anderen Darstellungen ist sehr groß, sie dienen einer ersten Information, einem Überblick. Stellvertretend sei hier auf die Materialien von UNICEF verwiesen. Auch das Angebot an schriftlichen Unterrichtsmaterialien ist groß18, die »Zehn Grundrechte« können als Text genutzt werden in den verschiedenen Sprachen, die auch in der jeweiligen Schulklasse vorkommen. Die 16 Vgl. Helga Kohler-Spiegel, Identität lernen mit der Bibel. Ein biografiebezogener konstruktivistischer Zugang, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Religion lernen – Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik. Band 1: Lernen mit der Bibel, Hannover 2010, 83–97. Vgl. Helga Kohler-Spiegel, Jung und resilient. Bindungserfahrungen und Persönlichkeitsentwicklung im Kontext religiöser Bildung, in: Reinhold Boschki u.a. (Hg.), Person – Persönlichkeit – Bildung. Aufgaben und Möglichkeiten des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen (Glaube – Wertebildung – Interreligiosität. Berufsorientierte Religionspädagogik 8), Münster 2017, 55– 67. 17 Zur Frage nach den Schülerinnen und Schülern selbst vgl. exemplarisch: Elisabeth Naurath, Schülerinnen und Schüler. Stand 2015, in: https://www.bibelwissen schaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/lexikon/sach wort/anzeigen/details/schuelerinnen-und-schueler/ch/ab59318d186f15b773d998d8c2 58fdde/. 18 Vgl. sehr exemplarisch: eine Fülle von Hinweisen in Kittel, Kinderrechte (s.o. Anm. 7). Vgl. auch die Schulmaterialien von UNICEF: https://www.unicef.de/infor mieren/schulen/unterrichtsmaterial/-/kinderrechte/107392. Konkret z.B. Rosemarie Portmann u.a., Praxisbuch Kinderrechte. Eine Werkstatt für Kinder von 8 bis 12 Jahren. Hg. von Macht Kinder stark für Demokratie und UNICEF, Frankfurt 2010. https://www.unicef.de/blob/9440/8ef23b406f69bbe10009ece63799e0ed/praxis-buchkinderrechte-komplett-2010-pdf-data.pdf oder http://www.fuer-kinderrechte.de/.

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einzelnen Grundrechte können in der Verbindung von Text und einem Bild als Arbeitsmaterial genutzt werden, indem Schülerinnen und Schüler den Text eines Grundrechtes und ein passendes Bild zusammenfügen und so in ihr Heft einkleben. Text und Bild können auch als MemorySpiel vorbereitet werden, oder mehrfach kopiert und laminiert als Quartett. Wenn dabei den Schülerinnen und Schülern nur der Text der einzelnen Grundrechte zur Verfügung gestellt wird, können sie selbst Bilder dazu malen, sodass diese dann für ein Memory-Spiel oder ein Quartett genutzt werden können. Kinder können – im fächerübergreifenden Unterricht – einzelne Grundrechte in kleinen Gruppen bearbeiten, sie können Plakate dazu gestalten und diese als Ausstellung in der Schule oder z.B. im Gemeindezentrum außerhalb der Schule für eine größere Anzahl an Personen sichtbar machen. Plakate können auch verkleinert als kleine Zeitschrift oder als Broschüre bearbeitet und dann veröffentlicht werden. Ebenso können Szenen zu einzelnen Grundrechten entwickelt werden, die als Aufführung den Eltern, Großeltern und anderen interessierten Personen gezeigt werden. Darüber hinaus eignen sich bei diesem Thema besonders die Beteiligung an Projekt- oder Schwerpunktwochen an einzelnen Schulen, oder die Entwicklung eines Projektes zur Unterstützung von armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen, oder eine Zusammenarbeit mit sozialen Organisationen in der Region, die sich für Kinderrechte insgesamt einsetzen (z.B. Kinder- und Jugendanwaltschaften in Österreich) oder die sich für einzelne Kinderrechte engagieren (z.B. Institutionen, die mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen arbeiten), oder vieles mehr. Zur Bewusstseinsbildung kann folgende Übung ohne viel Aufwand umgesetzt werden: Schülerinnen und Schüler werden beauftragt, eine Woche lang einmal am Tag Nachrichten zu hören und in einem Tagebuch aufzuschreiben, was einzelne Nachrichtenmeldungen für die davon betroffenen Kinder bedeuten.19 Auch die Lehrperson macht diese Übung für sich selbst, um am Ende einer Woche mit den Schülerinnen und Schülern darüber ins Gespräch zu kommen. Dabei können die Kinderrechte als Ganzes oder einzelne davon ausführlicher thematisiert und vertiefend bearbeitet werden. Bereits in Kindergarten und Grundschule beginnt die Arbeit mit einzelnen Kinderrechten, auf dem Hintergrund der Information, dass die Erwachsenen weltweit sich zusammengeschlossen haben, um Kinder zu schützen. Da dies aber nicht immer funktioniert, müssen Kinder wissen, was Erwachsene dürfen und was nicht. Sie müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie an Körper und/oder Seele verletzt werden, wenn ihre Rechte missachtet werden. Ein Beispiel: 19 Hierbei zeigt sich auch die Notwendigkeit, auf kommunaler Ebene, auf Länderund Bundesebene sowie auf EU-Ebene im Berichtswesen, bei Analysen sowie Entwicklungskonzepten Kinder mitzudenken und – wo dies möglich und sinnvoll ist – auch einzubinden.

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Bereits Grundschulkinder lernen, wer sie wo berühren darf, und sie lernen die Worte dafür, sie lernen, was gute und was schlechte Geheimnisse sind, und was zu tun ist, wenn ein Geheimnis ein schlechtes Gefühl macht. Sie lernen, wie sie sich verhalten, wenn jemand ihre Grenze nicht wahren will, sie lernen früh, wie sie sehr klar »Nein« sagen können, sie lernen die »Inseln« auf ihrem Schulweg kennen, d.h. Geschäfte, in die sie gehen können, oder Häuser, die stark bewohnt sind. Ohne einzelne Literaturhinweise exemplarisch zu nennen, können so oder ähnlich bereits im Grundschulalter einzelne Rechte fächerübergreifend konkret thematisiert werden. Die internationalen Gedenktage eignen sich als Anlass im Kalender, allen voran der 20. November als »Weltkindertag« sowie der 1. Juni als »Internationaler Kindertag«. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands findet der »Deutsche Kindertag« am 20. September statt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Gedenktagen, z.B. Welttag gegen Kinderarbeit, Welttag der vermissten Kinder, Welttag des herzkranken Kindes u.v.m.20 4 Schluss »Kinder haben recht Kinder haben Recht, auf ganz viel Platz zum Toben, auf viel Zeit zum Spielen und auf Fantasie. Kinder haben Recht auf Liebe und auf Wärme und auf echte Freunde, auf das täglich Brot. Kinder haben recht, sagt mal, hört ihr schlecht? Kinder haben, Kinder haben, Kinder haben recht …«21 Kinderrechte schaffen Standards im Umgang mit Kindern, sie schützen und beteiligen Kinder nicht erst in der Zukunft, sondern Hier und Jetzt. Erwachsene haben die Pflicht, Kinder haben das Recht, die Kinderrechte zu kennen und sich zu engagieren für eine Welt, in der Kinder gut leben können. Dr. Helga Kohler-Spiegel ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Religionspädagogik im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg in Feldkirch, Österreich.

20 Vgl. http://www.kleiner-kalender.de/rubrik/00329-internationaler-kindertag.html. 21 Hans-Jürgen Netz (Text) und Fritz Baltruweit (Musik), Kinderlied: Kinder haben recht, tdv-Verlag Düsseldorf, o.J. Quelle unbekannt.

3.3 Ilona Nord

Mit Menschenrechtsbildung gegen Hate Speech Religionspädagogische Erörterungen

1 Einleitung Hate Speech und Cybermobbing sind die beiden Schlagworte, die in öffentlichen Debatten mit dem Missbrauch von medialen Kommunikationen verbunden sind. Schon immer gab es in Schulen und insgesamt in gesellschaftlichen Kulturen das Phänomen der Beleidigung und Entwürdigung von einzelnen Personen oder Personengruppen. Historische Forschungen zeigen, wie in verschiedenen Jahrhunderten die Hassrede eine häufig genutzte Form öffentlicher Polemik war. Im deutschen Kontext treten solche insbesondere im 16. (Reformations-)Jahrhundert und auch im 20. Jahrhundert während der nationalsozialistischen Diktatur hervor. Sowohl Hate Speech als auch das mit ihm verwandte (Cyber-)mobbing sind keine genuin neuen Phänomene.1 Mit der Digitalisierung von Lebenswelten treten diese aber noch einmal in einer anderen Intensität in die öffentliche Wahrnehmung. Offline-Mobbings werden nachweislich durch online Kommunikationen verstärkt.2 Dabei geht es um Diskriminierungen unter Schülerinnen und Schülern, aber zugleich medienwirksam um solche von Personen des öffentlichen Lebens.3 Bekannt ist auch, dass Hate Speeches in Social Media Kommunikationen bevorzugt auftreten und diese Formate für den Aufbau und die Konsolidierung extremistischer politischer Gruppen genutzt werden. Nationale und europäische Organisationen sind mit der Ausarbeitung von Gegenprogrammen 1 Hate Speech und Cybermobbing sind verwandte Phänomene. Evtl. kann man Hate Speech mehr im Bereich der wörtlichen Kommunikationen, Cybermobbing mehr im Bereich der visuellen Kommunikationen verorten. Doch es liegen m.E. keine eindeutig voneinander abgegrenzten Definitionen vor. Beide Phänomene wurden auch deshalb hier zusammengenommen, weil es zu Cybermobbing bereits empirische Erhebungen gibt, die auch für Hate Speech aussagekräftige Ergebnisse enthalten. 2 Vgl. Sabine Feierabend / Theresa Plankenhorn / Thomas Rathgeb, JIM-Studie – Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-jähriger, herausgegeben vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest, Stuttgart 2014, 39. 3 Vgl. für einen ästhetisch gebildeten zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen diese Attacken die Form des Hate Poetrys unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Hate_ Poetry (zuletzt eingesehen am 21.12.2016).

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wie z.B. Projekten gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus4 sowie gezielt gegen Hatespeech5 tätig geworden. Hiermit soll einerseits Medienerziehung gestärkt und andererseits regelgeleitetes Verhalten eingeübt werden. Als normative Grundlage gilt in der Regel die Menschenrechtsbildung. Aus religionspädagogischer Perspektive reicht diese Orientierung nicht aus. Es gilt eine domänenspezifisch ausgearbeitete Konzeption von Medienbildung zu entwickeln, die den ethischen Umgang in mediatisierten Lebenswelten vieldimensional reflektieren und fortbilden kann.6 Sie bezieht sich auf die Fähigkeit, digitale Techniken nicht nur zu bedienen, sondern ihre Funktionen zu nutzen und ihre Implikationen für spezifische Bildungsprozesse zu reflektieren.7 Menschenrechtsbildung8, die herkömmlicher Weise im Ethik- und Politikunterricht, aber eben auch im Religionsunterricht angesiedelt ist, wird dann auf die Ausbildung emotionaler Kompetenzen setzen müssen. Mediale Kommunikationen bewirken Immersionsprozesse, die starke Emotionen hervorrufen; den Umgang mit diesen zu reflektieren und auch religiös zu bilden, ist jedoch bislang kaum geschehen. Für eine exemplarische Vorgehensweise hierzu wird im Folgenden zunächst eine Definition von Hate Speech gegeben, sodann auf bisherige Forschungslinien eingegangen. Der Ausweis religionsdidaktischer Anschlussstellen sowie die Fokussierung eines möglichen religionspädagogischen Zugangs zum Thema sollen den fachdidaktischen Beitrag der Religionspädagogik zumindest skizzieren. 2 Definitorische Zugänge Hate Speech ist im Allgemeinen die Bezeichnung für Kommunikationen, in denen Hass gegen Personen oder Gruppen artikuliert wird, der sich in verschiedenen Variationen und Kombinationen von sprachlichen und visuellen Ausdrucksweisen zeigt, dazu gehören auch mimische, gesti4 http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/hatespeech.de (zuletzt aufgerufen am 21.12.16). 5 Ellie Keen / Mara Georggescu, Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Menschenrechtsbildung, Wien 2016 (englisches Original 2014); vgl. auch eine Studie zu Hate Speech in Deutschland des Forsa-Instituts unter der Website: http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/forsa-studie-hass-im-netz-sehen-vieleaber-im-umgang-hapert-es-noch-11108 (zuletzt aufgerufen am 20.11.2016) 6 Vgl. Horst Niesytho, Themen und Schwerpunkte in aktuellen medienpädagogischen Diskussionen, in: Ilona Nord / Hanna Zipernovszky (Hg.), Religionspädagogik in mediatisierter Welt, Stuttgart 2017, 186–207. 7 Vgl. Michael Kerres, Digitalisierung als Herausforderung für die Medienbildung: ›Bildung in einer digital geprägten Welt‹, in: William Middendorf (Hg.), Münstersche Gespräche zur Pädagogik, Münster 2017 (im Erscheinen). 8 Vgl. für eine erziehungswissenschaftliche Fokussierung Stefan Weyers / Nils Köbel (Hg.), Bildung und Menschenrechte. Interdisziplinäre Beiträge zur Menschenrechtsbildung, Wiesbaden 2016.

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sche oder andere bildhafte Ausdruckweisen.9 Sowohl Mehrheiten agieren mit Hate Speech gegenüber Minderheiten als auch Minderheiten gegenüber Mehrheiten oder anderen Minderheiten. Die sprachlichen Attacken richten sich gegen bestimmte Merkmale von Personen oder Gruppen wie zum Beispiel Hautfarbe, Nationalität, Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung, sozialer Status, Gesundheit bzw. Krankheit und Behinderungserfahrungen, sodann auch Religionszugehörigkeit bzw. religiöse Praxen sowie mit ihnen verbundenes abweichendes Aussehen oder Verhalten. Hinzu kommt eine Form von Hate Speech, innerhalb derer Kombinationen verschiedener Merkmale benannt werden. Insgesamt kann die Reflexion auf Hate Speech in den kulturwissenschaftlich und theologisch qualifizierten Diskussionsbereich zu gesellschaftlichen Inklusionsprozessen eingeordnet werden. Die genannten Merkmale werden ebenfalls als Diskriminierungsfaktoren erforscht, wobei ihre gegenseitige Verstärkung im Begriff der Intersektionalität gefasst wird.10 In der Erforschung von Hate Speech wird ferner darauf hingewiesen, dass diese nicht immer direkt und offen, sondern indirekt und verschleiert, zum Teil auch innerhalb von humoristischen Aussagen wie Witzen auftreten kann. So wird ein Talkshow-Statement, in dem es um eine sogenannte Integrationsunwilligkeit von Ausländern geht, durchaus auch als Teil einer Hassrede eingestuft. Es ist also zu beachten, dass Hate Speech in verschiedenen Intensitäten auftritt und ihre Wirkung von dem jeweiligen kulturellen Kontext und Milieu, in das sie hineingesprochen wird, abhängt. Hate Speech kann entweder ein allein sprachlich auftretendes Phänomen sein oder in Verbindung zu körperlichen Gewaltakten stehen. Schließlich gilt es zu reflektieren, dass mit Hate Speech eine Emotion verbunden ist, der Hass. Er kann als Affekt plötzlich auftreten, aber auch in Verbindung zu anderen bereits länger empfundenen Emotionen oder Grundgefühlen menschlichen Daseins wie der Wut oder der Enttäuschung stehen. Nicht hinter jeder Hassrede muss schließlich auch eine akut hassende Person stehen, vielmehr machen Forschungen zum Thema Rassismus darauf aufmerksam, dass und wie Hassrede konventionalisiert sein kann.11

9 Vgl. Jörg Meibauer, Von der Sprache zur Politik, in: Ders. (Hg.), Hassrede / Hate Speech. Interdisziplinäre Beiträge zu einer aktuellen Diskussion, Gießen 2013, 1–17, online unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2013/9251/pdf/Hassrede Meibauer_2013.pdf (zuletzt eingesehen am 21.12.2016). 10 Ilona Nord, Inklusion als Thema der Praktischen Theologie und Religionspädagogik, in: Theologische Literaturzeitung, 141 (2016), 1167–1184. 11 Vgl. wiederum Meibauer, Hate Speech, 2013, 15–17.

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3 Relevanz des Themas für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte Mehr als ein Drittel aller in Deutschland lebenden 12- bis 19-jährigen Jugendlichen geben an, dass in ihrem Bekanntenkreis im Internet oder via Handy »schon einmal jemand fertig gemacht wurde«12. Je älter Jugendliche werden, desto häufiger berichten sie über Erfahrungen mit Cybermobbing. Direkt von Cybermobbing betroffen gewesen zu sein, wird von acht Prozent aller Jugendlichen bestätigt, dabei wurde für die älteren 18- bis 19-jährigen Jugendlichen eine Quote von 13% Prozent errechnet. Mädchen sind etwas mehr als Jungen betroffen; an Gymnasien wird die persönliche Betroffenheit durch Cybermobbing mit einem Anteil von sieben Prozent gemessen, dies ist gegenüber anderen Schultypen eine etwas geringere Quote.13 Zusätzlich betrifft das Thema Hate-Speech auch Lehrkräfte. Die erste repräsentative Umfrage, die in Deutschland zum Thema Gewalt gegen Lehrkräfte durchgeführt und im November 2016 veröffentlicht wurde, zeigt, dass Lehrerinnen und Lehrer via Internet in bedrohlich werdendem Maß attackiert werden.14 Schlagzeilen hierzu lauten z.B.: »Viele Lehrer sind Opfer von Schülergewalt.«15 4 Mit Menschenrechtsbildung gegen Hate Speech In einer Handreichung des Europarats gegen Hate Speech wird Menschenrechtsbildung als ein Instrument zu ihrer Begrenzung eingesetzt: »Hate Speech ist heute in Europa eine der häufigsten Formen von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit […]. Wenn das Inakzeptable beginnt, akzeptiert zu werden, zur Norm wird, stellt das eine echte Bedrohung der Menschenrechte dar.«16 Doch der menschenrechtliche Zugriff auf solche Äußerungen ist nicht einfach und unmittelbar möglich. Für demokratisch verfasste Staaten ist die Freiheit der Meinungsäußerung ein hoch ge12 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM 2016. Jugend, Information, (Multi-)Media, Stuttgart 2016, 49. 13 Vgl. ebenda. 14 http://www.vbe.de/presse/pressedienste/aktuell/aktuell-detail/article/gewalt-ge gen-lehrkraefte-ist-nicht-nur-privatproblem.html (veröffentlicht und aufgerufen am 14.11.2016). 15 Vgl. für eine Pressemeldung unter vielen: Reiner Burger, Viele Lehrer sind Opfer von Schülergewalt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. November 2016, 9. 16 Thorbjorn Jagland, Vorwort, in: Ellie Keen / Mara Georggescu, Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Menschenrechtsbildung, Wien 2016 (englisches Original 2014), 3; vgl. auch eine Studie zu Hate Speech in Deutschland des Forsa-Instituts unter der Website: http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/forsastudie-hass-im-netz-sehen-viele-aber-im-umgang-hapert-es-noch-11108 (zuletzt aufgerufen am 20.11.2016).

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schätztes Gut: Jeder Mensch hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. »Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt die Freiheit der Meinungsäußerung, erlaubt allerdings neben einigen anderen Zwecken ihre Einschränkung zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer. Dieser Artikel ermöglicht es den Mitgliedsstaaten, bestimmte Fälle von Hate Speech in ihrem Hoheitsgebiet zu verbieten.«17 Frankreich, Österreich und Deutschland haben so Hürden gegen Hate Speech entwickelt, die Äußerungen wie die Leugnung des Holocaust oder anderer Genozide im Rahmen des Straftatbestands der Volksverhetzung (Strafgesetzbuch Artikel 130 [StGB 130]) verbieten. Am häufigsten tritt Hate Speech jedoch als Beleidigungskommunikation auf, die sich strafrechtlich nicht leicht erfassen lässt (StGB 185). Innerhalb der Fächer Ethik, Philosophie und Politik gehen didaktische Überlegungen überwiegend dahin, Fragen des Jugend- bzw. Jugendmedienschutzes sowie der Gewaltprävention mit der Verhinderung von Täterschaften und Viktimisierungen zu thematisieren.18 Die Grund- und Menschenrechte stehen insofern als Begründungsfigur hinter einem Präventionsmanagement Medienerziehung.19 Das vom Europarat initiierte Projekt »Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Menschenrechtsbildung«20 geht genauso vor und nennt vier Aspekte: Die Achtung der Menschenrechte zu fördern, ermögliche es, Einstellungen, auf denen Hate Speech beruhe, nicht gedeihen zu lassen. »Hate Speech entfremdet, marginalisiert und untergräbt die persönliche Würde, häufig bei denjenigen, die bereits in anderer Hinsicht benachteiligt sind.«21 Dies komme der Verletzung des Rechts auf persönliche Unversehrtheit und Sicherheit gleich: »Hassverbrechen, auch Genozide, werden immer von Hate Speech begleitet. Nicht jede Hate Speech führt zu Hassverbrechen, doch Hassverbrechen gehen immer mit Hate Speech einher.«22 Menschenrechtsbildung wird als ein wirksames Mittel zur Entwicklung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen von Jugendlichen im Umgang mit Hate Speech gesehen.23 Sie stärke Emphatie und Respekt gegenüber anderen, aktive Partizipation und den Sinn für individuelle Handlungsmöglichkeiten.

17 Keen/Georggescu, Hate Speech, 156. 18 Vgl. hierzu Hans-Bredow-Institut (Hg.), Aufwachsen mit digitalen Medien. Monitoring aktueller Entwicklungen in den Bereichen Medienerziehung und Jugendschutz, Heft Nr. 02/2014 sowie Catarina Katzer, Cybermobbing – Wenn das Internet zur Waffe wird, Berlin/Heidelberg 2014 und Keen/Georgescu, Hate Speeches, 2016. 19 Katzer, Waffe, 2014. 20 Vgl. Fußnote 5. 21 Keen/Georggescu, Hate Speeches, 160. 22 Ebd. 23 Ebd.

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5 Vom Paradigma der Medienerziehung zu dem der Medienbildung Die Debatte zu Hate Speech und Menschenrechtsbildung ist im deutschen Kontext deutlich von medienerzieherischen Perspektiven dominiert. Bereits vorhandene und oftmals außerschulisch in informellen und nonformalen Lernprozessen erworbene Medienkompetenzen bis hin zur Medienbildung von Kindern und Jugendlichen finden kaum Reflexion. Zur Jugendphase als Entwicklungsphase der Persönlichkeit gehört es überdies dazu, Konflikte zu führen, Positionen auszuhandeln und verschiedene Rollen in diesen zu testen.24 Zudem werden Online-Klatsch und -Tratsch als ein fester Bestandteil der Kommunikation von Kindern und Jugendlichen gesehen. Insbesondere im US-amerikanischen Kontext suchen Teenager im Internet Orte für ein Zusammentreffen ohne Aufsicht durch Erwachsene bzw. Eltern.25 Eltern strukturieren die Freizeit ihrer Kinder durch Aktivitäten inzwischen so weit vor, dass diese kaum mehr Freiheiten haben, sich unabhängig von diesen oder anderen institutionellen Orten zu treffen. Diese Hinweise sollen das Phänomen Hate Speech keineswegs verharmlosen26, sondern Aufmerksamkeit für die kommunikativen Kontexte von Kindern und Jugendlichen schaffen und sie selbst, entgegen des Ansatzes der Medienerziehung, als Subjekte von Medienbildungsprozessen ernstnehmen.27 6 Religionspädagogische Zugänge Innerhalb der Religionspädagogik liegt bereits eine reichhaltige Diskussion zum Verhältnis von Religion(en) und Menschenrechten, Religion(en) als Diskriminierungsfaktor sowie Menschenrechtsbildung vor.28 24 Vgl. zum Thema Cybermobbing kontrovers Jens Palkowitsch-Kühl, Cybermobbing als Problemkonstruktion und Moralpanik, in: Ilona Nord / Hanna Zipernovszky (Hg.), Religionspädagogik in mediatisierter Welt, Stuttgart 2017, 274–285 und Hanna Zipernovszky / Elisabeth Raddok, Die zunehmende Bedeutung von Cybermobbing – Eine Pilotstudie zur Problemidentifikation, in: Nord / Zipernovszky, Religionspädagogik, 260–273. 25 Vgl. Dana Boyd, It’s complicated. The social lives of network teens, Yale University Press New Haven / London 2014, vgl. auch ihre Buchpräsentation im Harvard-Bookshop unter: https://www.youtube.com/watch?v=2yCHI8WCbDY (zuletzt aufgerufen am 15.11.2016). 26 http://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/C.3/69/L.26, Stand 10.11. 2016. 27 Vgl. für die Religionspädagogik z.B. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 232ff. 28 Vgl. zum Thema Menschenrechte im Kontext der Inklusionsdebatte Ilona Nord, Inklusion als Thema der Praktischen Theologie und Religionspädagogik, in: Theologische Literaturzeitung, 141 (2016), 1167–1184 sowie für eine grundlegende Einführung in den Zusammenhang Religion(en) und Menschenrechte Manfred L. Pirner (Hg.), Human Rights, Religions and Education. A Theoretical Framework, in: Man-

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Hier gibt es viele Schnittflächen zum Reflexionshorizont, der im Bereich des Ethik-, Philosophie- sowie Politikunterrichts eröffnet wird. Religionspädagogisch lässt sich überdies die Frage nach Gerechtigkeit in Erfahrungen von Ungerechtigkeit innerhalb und außerhalb von Schule aufrufen.29 Ferner sind es die Ansätze einer alteritätstheoretischen Religionspädagogik und einer dialogisch-beziehungsorientierten Religionspädagogik, die Wege eröffnen, mit Heterogenität und auch mit der Einsicht, dass Beziehung kein Harmoniekonzept ist, im Sinne einer Menschenrechtsbildung umzugehen.30 Hate Speech und Cybermobbing kann als Ernstfall der Erfahrung des Anderen angesehen werden. Mediale Phänomene wurden in diesen Zugängen jedoch bislang kaum thematisiert. Kinder und Jugendliche sind in der Lage, sich religiös und theologisch reflektierend zu ihren Lebenserfahrungen zu äußern.31 Von diesem didaktischen Prinzip ist auch in der Erschließung von Medienmissbrauch im Religionsunterricht auszugehen. Quantitative Erhebungen des Medienverbundes Südwest32 zeigen, dass mehr als ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler selbst solche Erfahrungen benennen können, nicht nur als Betroffene, sondern auch als Zeugen und Zeuginnen. Hate Speech und Cybermobbing sind häufig mit belastenden Erfahrungen verbunden, weil sie Scham auslösen. Beleidigende und beschämende Kommunikationen aber enthalten stets auch Hinweise auf Diskriminierungsmerkmale, wie sie eingangs genannt wurden: Hautfarbe, Nationafred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Human Rights and Religion in Educational Contexts, Wiesbaden 2016. In diesem Buch wird Menschenrechtsbildung auch aus der Perspektive von verschiedenen christlichen Konfessionen und Religionen reflektiert (in deutscher Ausgabe Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung, Berlin 2015). Für den internationalen Kontext vgl. Karin Sporre / Jan Mannberg (Hg.), Values, Religions and Education in Changing Societies, Heidelberg / London / New York 2010 und Karin Sporre / H. Russel Botman (Hg.), Building a Human Rights Culture, Falun/Sweden 2003. Systematisch-theologische Arbeiten sind ebenfalls hinzuziehen, z.B. Peter Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive, Gütersloh 2012 sowie für die ältere Diskussion stellvertretend Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996. 29 Vgl. Bernhard Grümme / Thomas Schlag (Hg.), Gerechter Religionsunterricht, Stuttgart 2016. 30 Vgl. für einen Überblick Bernhard Grümme, Alteritätstheoretische Religionsdidaktik, 119–132 sowie Reinhold Boschki, Dialogisch-beziehungsorientierte Religionsdidaktik, in: Grümme u.a., Religionsunterricht, 173–184. 31 Vgl. insbesondere Friedrich Schweitzer, Kindertheologie und Elementarisierung. Gütersloh 2011, insbesondere 200f, dann auch Anton A. Bucher u.a. (Hg.), Jahrbuch für Kindertheologie, Stuttgart 2002ff. sowie Petra Freudenberger-Lötz u.a. (Hg.), Jahrbuch für Jugendtheologie, Stuttgart 2013ff, sowie Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie: Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012. 32 Vgl. Fußnote 12.

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lität, Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung, sozialer Status, Gesundheit bzw. Krankheit und Behinderungserfahrungen. Eine inklusiv orientierte Religionspädagogik arbeitet didaktisch folgerichtig an der Vermittlung von Entschämungsstrategien.33 Das Konzept einer medienweltorientierten Religionsdidaktik34 bzw. einer Religionspädagogik in mediatisierter Lebenswelt35 eröffnet Blickwinkel darauf, wie und dass der ganz alltägliche Mediengebrauch religionsanaloge Funktionen hat. Dies gilt auch in Erfahrungen von Medienmissbrauch. Die Heftigkeit, mit der Hate Speech und Cybermobbing in existentielle Krisen stürzen kann, lässt sich erst verstehen, wenn man anerkennt, welche hohe emotionale Bedeutung webbasierte Alltagskommunikationen für Kinder und Jugendliche haben. Besonders wichtig wird hierbei die emotionale Dimension ethischer Bildungsprozesse.36 Während das Phänomen Scham zunehmend religionspädagogisch reflektiert wird, liegt zu dem des Hasses noch keine religionspädagogische Untersuchung vor, die seiner religionspädagogischen Bedeutung in religionsproduktivem Sinne nachginge. Eine solche Aufarbeitung könnte bibeldidaktisch ansetzen. Innerhalb der biblischen Tradition wird Hass nicht tabuisiert, sondern es werden spezifische Umgangsweisen mit dieser Emotion vermittelt.37 So heißt es von Gott (Mal. 1,3) als auch von Menschen, dass sie hassen. Menschen bringen in den Psalmen ihren Hass gegenüber anderen Menschen oder den Hass, der sie durch andere Menschen trifft, vor Gott. Zugleich wird der Hass mit der Liebe verbunden, zuweilen dieser untergeordnet (Ps. 109).38 Innerhalb biblischer Narrative, aber auch in kulturwissenschaftlichen Reflexionen wird deutlich, dass Hass sich auf komplizierte persönliche Bindungen bezieht. 33 Vgl. Ilona Nord, ›Jetzt steht es im Netz‹ – Cybermobbing als Thema im RU. Über Lernprozesse, die die religiöse Dimension der Wirklichkeit erschließen, in: Dies. / Swantje Luthe (Hg.), Social Media, christliche Religiosität und Kirche, Jena 2014, 227–238 und Ilona Nord, Medien und Medieneinsatz im inklusiven Religionsunterricht, in: Dies./Zipernovszky, Religionspädagogik, 212–224. 34 Vgl. Manfred Pirner, Medienweltorientierte Religionsdidaktik, in: Bernhard Grümme / Hartmut Lenhard / Manfred Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken, Stuttgart 2012, 159–172. 35 Vgl. grundsätzlicher Nord/Zipernovszky, Religionspädagogik in mediatisierter Welt, Stuttgart 2017. 36 Vgl. Elisabeth Naurath, ›Es gibt kein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, dass man für andere Menschen etwas sein kann‹ (Bonhoeffer), in: Rudolf Englert / Helga Kohler-Spiegel / Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer (Hg.), Ethisches Lernen. Jahrbuch für Religionspädagogik, Band 31 (2015), Neukirchen-Vlyn 2015, 184–192. 37 Vgl. Huizing, Scham; Roderich Barth / Christopher Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015; Lars Charbonnier / Birgit Weyel (Hg.), Religion und Gefühl: praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen, Göttingen 2013. 38 Vgl. zu dieser Vorgehensweise auch die Unterrichtsvorlagen von Stephan Sigg, Hass & Liebe. Zentrale Lebensthemen im Religionsunterricht, Donauwörth 2014. Diese Unterrichtsvorlagen schließen an die Perspektive der Medienerziehung an.

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Hassen gehört zu den reaktiven Verhaltensweisen auf zumeist unbewusste Verletzungen, Kränkungen und Benachteiligungen, die einem Individuum oder einem Kollektiv zugefügt wurden, aber nicht verarbeitet werden konnten.39 Es kann ferner ein sogenannter gesunder von einem pathologischen Hass unterschieden werden. Während pathologischer Hass über Angst und Schuldgefühle gegen das eigene Ich gewendet wird oder zur maßlosen Entwertung von Objekten führt, stellt sich »beim gesunden Hass hingegen […] die Ableitung hasserfüllter Affekte nach außen auf eine Weise gelungen (dar, I.N.), die bei Freud eine ›wohltuende‹ Gefühlsbegleitung erhält«40. Hate Speech lässt sich so als Stimmungsregulator verstehen. Die religionspädagogische Reflexion zum Phänomen Hass bedarf also interdisziplinärer, vor allem empirischer und (religions-)psychologischer Forschungen. In der Perspektive des didaktischen Prinzips der Kinder- und Jugendtheologie entwickelt lassen sich gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen Lernwege eröffnen, die lebensweltlich eingebettet und zugleich in der Tiefe, die etwa die biblische Tradition enthält, auch ambivalente Emotionen wie den Hass ausloten können. 7 Curriculare Anschlussmöglichkeiten Innerhalb der 5. und 6. Klassen ist es vor allem das Thema Streiten und Versöhnen, an das zur Reflexion von Hate Speech und Cybermobbing angeschlossen werden kann. In den Klassen 9 und 10 bietet das Thema Menschenrechte hierzu expliziten Anlass. Inzwischen liegt eine Fülle an Material zu Schulfilmen im Bereich Cybermobbing vor41, die religionsdidaktischen Weiterentwicklungen zur Verfügung stehen. 8 Schlussfolgerungen Am Thema Hate Speech und Cybermobbing wird deutlich, dass die Religionspädagogik fachspezifische Beiträge zur Menschenrechtsbildung leisten kann. Dabei sollten diese aber stärker als bislang an den grundlegenden Bedeutungen, die Emotionen für religiöse Erfahrungen haben, orientiert werden. Dies ermöglichte es, die affektiven Bindungen an Werte, wie etwa die Menschenrechte, zu thematisieren. »Wir haben Werte nicht wie Meinungen; das eben drückt der Begriff Wertbindung 39 Vgl. Klaus Winkler, Haß. II. Psychologisch und ethisch, in: RGG Band 3 (4. Auflage), 1468. 40 Reimer Hinrichs, Was ist Haß? Zur Genese und Dynamik eines Phänomens, in: Eberhard Herdieckerhoff u.a. (Hg.), Hassen und Versöhnen, Göttingen 1990, 46. 41 Vgl. http://www.buendnis-gegen-cybermobbing.de/index.php?id=111 (zuletzt eingesehen am 29.10.2016).

Mit Menschenrechtsbildung gegen Hate Speech

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aus. Dem Charakter der Werte müssen wir uns nähern, indem wir diesen Aspekt der Bindung ernst nehmen.«42 Befragte man Schülerinnen und Schüler zu ihren emotionalen Bindungen an z.B. das Menschenrecht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist (Art. 1 GG), zeigten sich dabei sicher auch Ambivalenzen in der Wahrnehmung von Emotionen. Denn der Respekt vor anderen und die Liebe zu anderen schließt nicht aus, dass man zugleich Hass empfindet, z.B. als Reaktion auf die Verletzung der eigenen Integrität oder der anderer. Menschenrechtsbildung braucht die Thematisierung ambivalenter, bisweilen aggressiver Emotionen, will sie sich nicht in Rechtsdiskursen und für Schülerinnen und Schüler erwartbaren Morallektionen erschöpfen. Dr. Ilona Nord ist Professorin für Ev. Theologie mit dem Schwerpunkt der Religionspädagogik an der Julius Maximilians-Universität Würzburg.

42 Hans Joas, Die Sakralität der Person. Berlin 2015, 256f.

3.4 Bernhard Grümme

Menschenrechte und Rechte der außermenschlichen Natur: ein Thema für religiöse Bildung? Menschenrechte und Rechte der außermenschlichen Natur

Sei es in Mahnungen von Papst Franziskus,1 sei es in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Anthropozän:2 Immer deutlicher wird die ökologische Verantwortung des Menschen herausgestellt, die geradezu intrinsisch mit Fragen der Gerechtigkeit und des Zusammenhangs von Menschenrechten und den Rechten der außermenschlichen Natur zu tun hat. Für eine Öffentliche Religionspädagogik muss eine auf die Autonomie der Subjekte abzielende Bildung kritisch wie transformatorisch sein.3 Menschenrechtsfragen wie Fragen der Rechte der außermenschlichen Natur werden damit prinzipiell zu einem notwendigen Problem religiöser Bildung. Doch wie? Zunächst gehe ich der Frage nach Begründungen von Menschenrechten (1) und deren bildungstheoretischen Implikationen (2) nach, die dann auf den Komplex außermenschlicher Rechte hin geöffnet (3) und hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Anthropologie und Ökologie reflektiert wird (4). Dies wird dann religionspädagogisch (5) zuzuspitzen sein 1 Menschenwürde – Menschenrechte Menschenrechte gründen in der den Menschen zugeschriebenen Würde.4 Sie liegen in rechtlich verbindlicher Form Grundrechts- und Menschenrechtskatalogen zugrunde und lassen sich nach individuellen Freiheitsund Mitbestimmungsrechten sowie wirtschaftlichen, sozialen und kultu-

1 Papst Franziskus, Enzyklika Laudato Si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus, 2015, 215. 2 Jürgen Manemann, Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014, 15–35. 3 Helmut Peukert, Bildung – Reflexionen zu einem uneingelösten Versprechen, in: Bildung. Friedrich-Jahresheft VI, Seelze (1988), 12–17, hier, 14. 4 Jürgen Habermas, Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8 (2010), 43–53; Daniel Bogner, Art. Grundrechte/Menschenrechte, in: Wirelex 2016.

Menschenrechte und Rechte der außermenschlichen Natur

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rellen Rechten unterscheiden.5 Im Streben nach Emanzipation, Gleichheit und Freiheit liegt ihr geschichtlich unabgeschlossener, kritischer, normativer wie parteilicher Charakter, der im besonderen Engagement für »die Ansprüche der Rechtlosen oder Ausgeschlossenen« die Autonomie Freier und Gleicher gewinnen, ausdrücken wie schützen will.6 Die Religionspädagogik weiß um die Nichtuniversalisierbarkeit der theologischen Begründung der Menschenwürde. Fundiert in der Schöpfungstheologie der Gottesbildlichkeit, radikalisiert in einer christozentrischen wie heilsgeschichtlichen Offenbarungstheologie ist für eine christliche Anthropologie jeder Mensch als Mensch das von Gott gewollte, geschaffene und beschenkte Gegenüber seiner treuen unbedingten Liebe.7 Geschichtlich von besonderer Relevanz ist der Kategorische Imperativ Kants. Alles hat danach seinen Preis und Gebrauchswert, alles ist austauschbar, nur nicht das, was der Mensch in der Autonomie seiner praktischen Vernunft tut. Nur in der Moralität autonomer Freiheit, in der der Mensch sich im Reich der Zwecke selbst Gesetz und damit Zweck an sich selbst ist, gründet die Würde des Menschen.8 Mit anderen Worten: Menschenrechte sind kein Akt der Barmherzigkeit. Als Recht eines jeden sind sie eine Frage der Gerechtigkeit, die dann mit den Pflichten auf Anerkennung und Anerkanntwerden korrelieren.9 Es ist zu einfach, die Genese der Menschenrechte und die Idee der Menschenwürde einem Zusammentreffen von griechisch-humanistisch-aufklärerischen und jüdisch-christlichen Wurzeln zuzuschreiben. Vielmehr sind diese in einem »Prozess der Sakralisierung der Person« entstanden, in dem die Menschen für unantastbar, für unverfügbar gehalten werden, weil sie in das Heilige hineinreichen. Dabei ist entscheidend, dass sich dieser Prozess der Sakralisierung aus ganz unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Traditionen heraus speist.10

5 Andreas Lienkamp, Klimawandel und Gerechtigkeit, Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive, Paderborn 2009, 357. 6 Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung – Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2007, 327; Rainer Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik, Berlin 2011, 74. 7 Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Freiburg i.Br. 2011; Bernhard Grümme, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie (Grundlagen Theologie), Freiburg i.Br. 2012. 8 Forst, Kritik (s.o. Anm. 6), 125; Gret Haller, Menschenrechte ohne Demokratie? Der Weg der Versöhnung von Freiheit und Gleichheit, Bonn 2013. 9 Forst, Kritik (s.o. Anm. 6). 10 Hans Joas, Die Sakralität der Person, Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 204.

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2 Menschenrechtsbildung als Integral religiöser Bildung Genau an dieser Stelle jedoch wird die Relevanz von religiöser Bildung erkennbar. Denn in dem Maße, wie die Institutionalisierung und Verwirklichung von Menschenrechten brüchig ist, ist diese »auf die aktive Unterstützung durch die jeweils neuen Generationen angewiesen«11. Religiöse Bildung bringt dabei mit der Gottesebenbildlichkeit der Menschen eine ganz bestimmte Tradition in den Kanon der anderen Schulfächer ein, die das Ringen um die Menschenrechte gerade mit einer bestimmten Option für die Anderen anschärft. Eine theologische Perspektive bringt neben dem Superogatorischen den kritisch-selbstbegrenzenden Einspruch gegen jede Selbstverabsolutierung ein.12 Man kann durchaus aus der Erklärung der Menschenrechte von 1948 nicht nur ein Recht auf Bildung13, sondern auch ein Recht auf Menschenrechtsbildung ableiten,14 was aber in Bildungsplänen nicht die notwendige Explizitheit bekommt.15 In einer solchen Menschenrechtsbildung durchdringen sich kognitive, affektive und handlungsorientierte Ziele, insofern hier ein Lernen von Menschenrechten (kognitiv), durch Menschenrechte (affektiv) und für Menschenrechte (handlungsorientiert) streng aufeinander bezogen wird.16 Es geht also darum, die Menschenrechte kennenzulernen, Menschenrechte anzuerkennen und den Willen zu entwickeln, für sie im universalen Maßstab einzutreten sowie schließlich die Fähigkeit auszubilden, »Menschenrechte als Werte der 11 Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i.Br. 2004, 168. 12 Konrad Hilpert, Menschenrechte oder Gottes Gebote? Zwischen christlicher Genese und säkularer Geltung, in: Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Menschenrechte, Christentum und Islam, Berlin 2010 (Religion und Recht 2), 49–62, hier 60; Wolfgang Huber, Art. Menschenrechte/Menschenwürde, in: Theologische Realenzyklopädie 22 (1992), 577–602, hier 593; Werner Simon, Menschenrechte, in: Gottfried Adam und Friedrich Schweitzer (Hg.), Ethisch erziehen in der Schule, Göttingen 1996, 174–187, hier 181. 13 Volker Lenhart, Pädagogik der Menschenrechte, Opladen 22003, 89ff. 14 Axel Bernd Kunze, Menschenrechtsbildung – mehr als eine Modeerscheinung? Didaktische Anfragen und Perspektiven zu ihrem Ort in der Schule, in: Marianne Heimbach-Steins / Gerhard Kruip / Axel Bernd Kunze (Hg.), Bildung, Politik und Menschenrecht, Ein ethischer Diskurs (Forum Bildungsethik 6), Gütersloh 2009, 147–155, hier 147; Friedrich Schweitzer, Menschenwürde und Bildung, Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive, Zürich 2011, 91. 15 Thomas Schlag, Menschenrechtsbildung im evangelischen Religionsunterricht, in: Manfred Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und interreligiöse Bildung. Referate und Ergebnisse des Nürnberger Forums 2013, Berlin 2015, 177–189. 16 Thomas Schlag, Menschenrechtsbildung im Religionsunterricht, Religionspädagogische Reflexionen zeitgemäßer Werte-Bildung, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 55 (2011), 96–110, hier, 98–99; Kunze, Menschenrechtsbildung (s.o. Anm. 15), 147.

Menschenrechte und Rechte der außermenschlichen Natur

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eigenen Moral anzuerkennen und danach zu handeln«.17 Doch wie steht es mit den Rechten der außermenschlichen Natur? 3 Rechte für die außermenschliche Natur? Impulse aus der Tierethik und Umweltethik In der Naturrechtstradition ist es schwierig, auch den Tieren solche Rechte zuzugestehen, wenn Menschenrechte gerade, wie bei Pufendorf, im Kontrast zu ihnen gewonnen werden.18 Dennoch bleibt der Weg, Rechte der außermenschlichen Natur zu gewinnen, der Interdependenz von Würde, Rechten und Pflichten verhaftet. Selbst der radikalste Vertreter einer Tierethik, der Tierrechte mit Menschenrechten gleichsetzt, kommt an dieser Verhältnisbestimmung und damit zugleich an einer Hermeneutik des Anthropozentrikbegriffs nicht vorbei, wie nach einem kurzen Blick auf Tierethik und Umweltethik deutlich werden kann. Typologisch sind verschiedene Modelle zu finden:19 1. Ein strenger Anthropomorphismus nimmt die vom Vernunftgebrauch her abgeleitete Würde zum Anlass, den Tieren keinen Personenstatus und damit keine unmittelbaren Rechte zuzuschreiben. Ob bei Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes oder Kant: Den Tieren kommt (mit im Einzelnen ganz diversen Begründungen) allenfalls eine indirekte moralische Bedeutung und insofern auch ein indirekter Anlass zu Wohlwollen und Pflege zu, weil an ihnen der Mensch sich selber kultiviert und zivilisiert. 2. In dem Maße, in dem die Grenzen zwischen Anthropologie und Ökologie, zwischen Tier und Mensch porös werden, in dem Maße werden die Tiere geachtet und werden ihnen eigene Rechte zugestanden. Steht in der Anthropozentrik die Vernunft und Personenwürde im Vordergrund, ist es hier die Pathozentrik, die zumeist mit einer allen Lebewesen Achtung entgegenbringenden Mitleidsethik einhergeht. Das im Utilitarismus bei Jeremy Bentham, bei John Stuart Mill oder gegenwärtig bei Peter Singer vertretene Konzept schreibt denjenigen Lebewesen zu achtende Rechte zu, die leiden können. Rechte allein vom Vernunftgebrauch abzuleiten, sei ein ideologischer Speziesis-

17 Wilhelm Schwendemann, Menschenrechte und Menschenrechtsbildung, in: Wilhelm Schwendemann (Hg.), Menschenrechte im Religionsunterricht, Menschenrechte, Solidarität, Zivilcourage – Bausteine für die Sekundarstufe I, Göttingen 2010, 7–15, hier 9. 18 Puffendorf »Immerhin ist er kein Hund, sondern ein Mensch gleich dir«: nach Forst, Kritik (s.o. Anm. 6), 66. 19 Friderike Schmitz, Tierethik – eine Einführung, in: Friederike Schmitz (Hg.), Tierethik, Grundlagentexte, Berlin 2015, 13–73.

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mus in Analogie zu Sexismus oder Rassismus.20 Problematisch daran ist aber der damit verbundene Ausschluss der Pflanzen sowie der nicht-lebendigen Kreatur. Bei Singer spitzt sich dies nochmals zu, insofern er als weiteres Kriterium das der Zukunftsfähigkeit nennt, die er bei einigen hochintelligenten Tieren, nicht aber bei Dementen und Schwerstbehinderten anerkennt. 3. Der Tierrechteansatz will über eine Pathozentrik und utilitaristische Glückszuschreibung hinaus den Tieren je individuelle Rechte zuschreiben. Dessen Protagonist Tom Regan definiert alle Lebewesen im weitesten Sinne als Subjekte ihres Lebens und als empfindungsfähig. Als solche sind sie Zweck an sich selbst und dürfen weder benutzt noch gegessen werden. Eine solche »abolitionistische Tierrechtsposition« ist ebenso radikal wie eingeschränkt,21 hält doch auch sie die nicht-belebte Natur und die belebte Natur unterhalb der Säugetierschwelle für nicht rechtsfähig und damit nicht für moralisch verpflichtend. 4 Anthropozentrik revisited Daneben lassen sich eine Vielzahl weiterer Annäherungen finden, deren Spektrum von tugendethischen, pflichtethischen, care-ethischen bis hin zu tierökologischen Begründungen reicht.22 Spätestens dort aber, wo in einem Gradualismus Mensch und Tier so eng zueinander gerückt werden, dass das Spezifische der Anthropologie zu verschwinden droht, wird es problematisch.23 Dementsprechend versucht eine Neue Humanökologie, die als Verantwortung für die Mitgeschöpfe gefasste Anthropozentrik der biblischen Überlieferung und der philosophischen Tradition unter den Bedingungen des Anthropozäns neu zu reformulieren.24 Unbestreitbar ist, dass für die Bibel die außermenschliche Natur, anorganisch und organisch, belebt oder nicht belebt, als von Gott geschaffen, gewürdigt, geliebt und damit mit einem unverlierbaren Eigenwert ausgestattet ist.25 Insofern haben auch Tiere ein Recht auf »gerechte Behand-

20 Peter Singer, Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben, Berlin 2016, 170–184; Michael Rosenberger, Der Traum vom Frieden zwischen Mensch und Tier. Eine christliche Tierethik, München 2015, 98–100. 21 Schmitz, Tierethik (s.o. Anm. 19), 55. 22 Rosenberger, christliche Tierethik (s.o. Anm. 20). 23 Ulrich Heinz Jürgen Körtner, Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen; in: Wolfgang Huber, Torsten Meireis und Hans-Richard Reuter (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 585–648, hier, 608. 24 Margalit Avishai, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 2012, 71; Manemann, Kritik (s.o. Anm. 2), 118–129. 25 Rainer Hagenkord, Die Würde der Tiere, Eine religiöse Wertschätzung. Gütersloh 2011; Elisabeth Gräb-Schmidt, Umweltethik; in: Wolfgang Huber / Torsten Mei-

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lung«. Als Adressaten der Gerechtigkeit und Bundespartner Gottes gewürdigt, hat der Menschen deshalb »ihnen gegenüber direkte Pflichten«.26 Auch naturphilosophisch lässt sich zeigen, dass die »Achtung vor jedem Lebewesen« gefordert und mit dessen Natur begründet wird.27 In der Ethik ist es strittig, ob Tiere als Individuen oder als Gattung unbedingte Rechte besitzen.28 Es gibt Konfliktfälle, wo um eines höheren Zweckes willen wie des Überlebens der Menschen oder der Wahrung von Biodiversität Tiere getötet werden dürfen.29 Nach veränderter gegenwärtiger Rechtslage werden nun Tiere nicht mehr als Sachen den Personen strikt gegenübergesetzt, sondern mit einem besonderen gesetzlichen Schutz versehen.30 Doch der Minimalkonsens in der Tierethik und Umweltethik ist kristallklar, Tieren und Pflanzen mit Respekt gegenüberzutreten und deren Eigenanspruch und Eigenwert zu würdigen.31 Die Anthropozentrik wird damit nicht negiert, aber präzisiert. Eingriffe in die nicht-menschliche Natur sind legitimationsbedürftig und moralisch hoch relevant. Insofern Rechte von Tieren und Pflanzen letztlich nur vom Menschen zuerkannt und beachtet werden können, zeigt dies die Triftigkeit der Anthropozentrik. Jedoch bleibt eine Asymmetrie zwischen Menschenrechten und Rechten der außermenschlichen Natur. Diese sind insbesondere darin »asymmetrisch, als Tiere oder Pflanzen keine moralischen oder rechtlichen Pflichten gegenüber anderen Tieren und Pflanzen haben«.32 Darum ist es »nicht ethisch zu rechtfertigen, den Begriff der Menschenwürde« und damit den der Menschenrechte abzuschwächen, um Rechte der außermenschlichen Natur und die menschlichen Pflichten ihr gegenüber zu markieren.33 Menschenrechte und die Rechte von Umwelt und Natur stehen damit in einer engen, unlösbaren, und doch asymmetrischen Wechselwirkung im größeren Rahmen der Gerechtigkeit.34

reis / Hans-Richard Reuter (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 649–706. 26 Rosenberger, christliche Tierethik (s.o. Anm. 20), 127. 27 Rosenberger, christliche Tierethik (s.o. Anm. 20), 133. 28 Andreas Lienkamp, Klimawandel und Gerechtigkeit, Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive, Paderborn 2009, 317–325. 29 Rosenberger, christliche Tierethik (s.o. Anm. 20), 183–186. 30 Lienkamp, Klimawandel (s.o. Anm. 28), 322–324. 31 Lienkamp, Klimawandel (s.o. Anm. 28), 325. 32 Körtner, Bioethik (s.o. Anm. 23), 608. 33 Körtner, Bioethik (s.o. Anm. 23), 608. 34 Elisabeth Gräb-Schmidt, Umweltethik, in: Wolfgang Huber / Torsten Meireis / Hans-Richart Reuter, Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 649–709, hier 697–701.

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5 Rechte lernen? Bündelung und religionspädagogische Perspektiven Der außermenschlichen Natur und den Menschen jeweils Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihre Rechte zu würdigen und die Pflichten ihnen gegenüber wahrzunehmen, muss gelernt werden. Es geht darum, eine den Geschöpfen gemäße anerkennende Einstellung zu gewinnen, diesbezüglich relevante Einsichten aufzubauen und Verhaltensweisen einzuüben. Wenige Striche müssen genügen: Die vier elaborierten und weitgehend etablierten Verfahrensweisen werden dabei in den Mittelpunkt gerückt: die Wertübertragung, die Werterhellung, die Wertentwicklung und die Wertkommunikation.35 Gerade im Rahmen der Schöpfungs- und Umweltethik dürfte eine affektive Religionspädagogik relevant sein. Sie lässt die Impulse der Mitleidsethik in subjektorientierter Weise praktisch werden, um insbesondere Wahrnehmungsfähigkeit, nachhaltigkeitsorientierte Motivation und Handlungsfähigkeit anzubahnen, auch wenn gerade angesichts der Differenzen zwischen Menschenrechten und Rechten der außermenschlichen Natur eine Differenzierungsfähigkeit erfordert ist, die auf kognitiv angebahnte Urteilsfähigkeit angewiesen bleibt.36 Emotion und Reflexion, Emotionswissen und Emotionsregulation sind, wie Elisabeth Naurath am Beispiel der Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schülern mit Massentierhaltung und Hühnerhaltung auf den Bauernhöfen zeigt, aufeinander zu beziehen, um ethische Bildung zu ermöglichen.37 Eine Ethik des guten Lebens, die über Resonanzerfahrungen konstruiert wird und sich als Kritische Theorie profilieren will, kann die ethische Relevanz von praktischen Erfahrungen begründen. »Die Resonanzbeziehung zur Natur etabliert sich nicht über kognitive Lernprozesse und rationale Einsichten, sondern sie resultiert aus praktisch-tätigen und emotional bedeutsamen Erfahrungen.«38 Unterrichtliche, außerunterrichtliche und außerschulische Lernorte sind in diesen Lernprozessen produktiv aufeinander zu beziehen. Dementsprechend bilden subjektorientierte, erfahrungsorientierte und handlungsorientierte Zugänge wie die Dilemmamethode, die narrative Ethik, das Lernen an local heroes und local victims, ein Lernen aus Ungerechtigkeit, Projektbezogene Lernformen im Rahmen eines Lernen für die 35 Konstantin Lindner, Wertebildung im religionspädagogischen Horizont, Ein Systematisierungsversuch, in: Religionspädagogische Beiträge, 68 (2012), 5–18; Hans-Georg Ziebertz, Ethisches Lernen, in: Georg Hilger / Stephan Leimgruber / Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München 62010, 434–452, hier 439–445. 36 Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt, Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2007. 37 Elisabeth Naurath, »Es gibt kaum ein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, dass man für andere Menschen etwas sein kann« (Bonhoeffer). Die emotionale Dimension ethischer Bildung; in: JRP 31 (2015) 184–192. 38 Hartmut Rosa, Resonanz, Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, 461.

Menschenrechte und Rechte der außermenschlichen Natur

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Eine Welt, im Rahmen der Bewahrung der Schöpfung, schulpastorale Angebote, Gestaltung des Schullebens im Sinne eines just communityAnsatzes oder des service learning, Schulpartnerschaften mit Schulen in anderen Lebenswelten und Kontinenten oder auch Sozialpraktika wie das Compassionprojekt wichtige Elemente solcher Lernprozesse.39 Weithin unterschätzt scheint der Aspekt medienbezogener Lernprozesse, in denen nicht nur medienethische, sondern ethische Urteilsbildung vollzogen wird. Schnell wird im Hinblick auf Praktiken zwischen den Jugendlichen in sozialen Netzwerken wie Facebook und Whatsapp, aber auch in Bezug auf Werbung deutlich, wie sehr hier Menschen- und Tierrechtsfragen lebensweltlich hoch brisant werden. Wenn Bildungsprojekte zu Bekleidungsfirmen, die durch Billigprodukte und geschicktes Marketing vor allem viele Kinder und Jugendliche in ihren Bann ziehen, den mit ihnen verbundenen negativen ökologischen Fußabdruck und die Verletzung der Menschenrechte zugleich problematisieren,40 wird diese Relevanz eklatant. Dies alles sind performative Lernprozesse, in denen Menschenrechtsbildung und Tierrechtsbildung praktisch eingeübt und in denen die von Papst Franziskus in Anspruch genommene Vision bewahrheitet wird, dass Gott ein Gott des Lebens (Lk 20, 38) ist. Dr. Bernhard Grümme ist Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum.

39 JRP 31 (2015) Ethisches Lernen, Neukirchen-Vluyn 2015. Stefan Meyer-Ahlen, Ethisches Lernen. Eine theologisch-ethische Herausforderung im Kontext der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2010, 83–99; Ulrich Kropac, Ethik im Religionsunterricht? Der Beitrag der christlichen Religion zu ethischer Bildung; in: RpB 68 (2012) 19–34; Hans Mendl, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2014. 40 Gottfried Adam, Umwelt, in: Rainer Lachmann / Gottfried Adam / Martin Rothgangel (Hg.), Ethische Schlüsselprobleme. Lebensweltlich – theologisch – didaktisch (Theologie für Lehrerinnen und Lehrer 4), Göttingen 2006, 49–65, hier, 58–64.

3.5 Peter Müller

Würde und Recht des Menschen Biblische Perspektiven

In einem Band zu den Menschenrechten ist eine Erinnerung an die biblischen Grundlagen auf den ersten Blick einleuchtend. Immer wieder wird, wenn es um die Begründung dieser Rechte geht, auf die Rede vom Menschen als Ebenbild Gottes in Gen 1 verwiesen und überhaupt auf die Erschaffung aller Menschen durch Gott.1 Bei genauerem Hinsehen schwindet indes die Sicherheit. Durchgesetzt haben sich Menschenrechte nämlich zunächst durchaus nicht von Theologie und Kirche her, sondern vielfach gegen sie2, und dies obwohl der Mensch (jeder Mensch!) nach Ps 8,6 doch »wenig niedriger gemacht ist als Gott« und »gekrönt mit Ehre und Schmuck«. Wenn im Folgenden von Würde und Recht des Menschen in der Bibel und ihrem Zusammenhang mit den Menschenrechten die Rede ist, muss zuvor – zumindest ansatzweise – auf diese Problematik eingegangen werden. 1 Menschenrechte – Menschenwürde Als Menschenrechte bezeichnet man diejenigen Rechte, »die allen Menschen kraft ihres Menschseins und unabhängig von Hautfarbe oder Staatsangehörigkeit, politischer oder religiöser Überzeugung, sozialer Stellung oder wirtschaftlichem Einfluss, Geschlecht oder Alter zukommen«3. Anders als bei Bürgerrechten, die den Bürgern eines bestimmten Staates gelten, handelt es sich um Rechte jedes einzelnen Menschen als solchem. Deshalb sind sie individuell und universal zugleich und unabhängig von Gewährung oder Nichtgewährung durch irgendeine Instanz; 1 Boschki spricht von einer »Standarderzählung«, die sich freilich als Legende herausstelle, so in Reinhold Boschki, Menschenrechtsbildung im Kontext einer »Culture of Remembrance«, in: Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung. Referate und Ergebnisse des Nürnberger Forums 2013, Berlin 2015, 200–209, hier 200f. 2 Vgl. Johannes Gründel, Christliche Moral und Menschenrechte, in: Walter Odersky (Hg.), Die Menschenrechte. Herkunft – Geltung – Gefährdung, Düsseldorf 1994, 90–118, hier 98f.; Wolfgang Huber, Menschenrechte/Menschenwürde, TRE 22 (1992), 577–602, hier 578f.; Hans Maier, Christentum und Menschenrechte. Historische Umrisse, in: Walter Odersky (Hg.), Menschenrechte, 49–64, hier 49. 3 Wolfgang Huber, Menschenrechte, 583f.

Würde und Recht des Menschen

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ein Staat kann sie weder schaffen noch verleihen, sondern nur anerkennen. Insofern sind sie einerseits Abwehr- und Schutzrechte gegenüber dem Staat; andererseits übernimmt aber der Staat, der sie in Verfassung und Gesetzgebung integriert, die Verpflichtung, sie als Grundrechte des Einzelnen zu wahren und zu fördern. Allerdings: »Ein fester Kanon von Menschenrechten existiert nicht.«4 Zwar haben bestimmte Rechte hohen Rechtsrang (z.B. das Recht der Unversehrtheit der Person, der Meinungs- oder der Religionsfreiheit). Aber ihr »konkreter Schutzbereich unterliegt ständiger Diskussion«5 – und muss in der politischen Debatte immer wieder neu ausgehandelt werden (z.B. im Blick auf Sklaven, Frauen, Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, Migranten …). Hier liegt zugleich das Problem einer naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte: Denn was die menschliche Natur ausmacht, liegt nicht ein für alle Mal fest, sondern unterliegt geschichtlicher Wandlung.6 Festzuhalten ist (leider) auch: »Das objektive Verfügen über ein Recht bedeutet nicht notwendigerweise seine konkrete Inanspruchnahme.«7 Selbst in einer Zeit von in Verfassungen verankerten Menschenrechten kann es zu Differenzen zwischen der festgelegten Rechtsgestalt eines Staates und der konkreten Rechtssituation der Menschen kommen, die in seinem Gebiet leben. Menschenrechtsverletzungen sind vielerorts an der Tagesordnung.8 Schließlich ist zu unterscheiden zwischen Menschenrechten und Menschenwürde. Nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gilt die unantastbare Würde des Menschen als Voraussetzung der Menschenrechte und der daraus folgenden Grundrechte.9 Diese Verbindung ist allerdings erst ab der Menschenrechtserklärung der Vereinten Natio-

4 Eberhard Jüngel, Zur Verankerung der Menschenrechte im christlichen Glauben, http://www.kas.de/upload/dokumente/verlagspublikationen/Menschenrechte/mensch enrechte_juengel.pdf am 15.8.2016, hier 169 (Zugriff am 20.8.2016). 5 Daniel Bogner, Grundrechte / Menschenrechte, in: http://www.bibelwissenschaft. de/wirelex (Zugriff am 20.8.2016). 6 Werner Heun, Einflüsse der Stoa auf die Entwicklung von Menschenwürde und Menschenrechten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Gustav A. Lehmann u.a., Armut – Arbeit – Menschenwürde. Die Euböische Rede des Dion von Prusa, SAPERE, Tübingen 2012, 235–254, 245f., weist aber darauf hin, dass auf den naturrechtlichen Gedanken »eines für alle Menschen als Vernunftwesen allgemein verbindlichen Normensystems mit Vorrang auch gegenüber positiven Gesetzen« nicht ohne Not verzichtet werden kann. 7 Exemplarisch kann man dies von der Antike (vgl. z.B. Aristoteles, pol 1252b: Sklaven sind »belebtes Besitztum«) bis in die Gegenwart an der Sklaverei ablesen, die – trotz prinzipielle Anerkennung der Persönlichkeitsrechte – als Arbeitssklaverei bis heute vielfach begegnet. 8 Vgl. hierzu z.B. das Themenheft »Menschenrechte« der Bundeszentrale zur politischen Bildung, Nr. 297/2007. 9 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1,1–3.

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Peter Müller

nen von 1948 zu fassen.10 Bis dahin wurde die Menschenwürde vielfach als philosophisches Konzept diskutiert, ohne aber in Rechtscorpora einzugehen, auch nicht in die Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts.11 Im heutigen Kontext ist dieser Zusammenhang aber konstitutiv. Da jedem Menschen aufgrund des Menschseins Würde zukommt, kann sie von keinem anderen Menschen, auch nicht von Institutionen zu- oder abgesprochen werden. Sie kommt jedem einzelnen Menschen unabdingbar zu und setzt Rechte aus sich heraus. Berücksichtigt werden muss aber, dass Menschsein immer in Beziehung zu anderen Menschen Gestalt gewinnt. Menschenwürde und Menschenrechte »sind deshalb auch daran zu messen, inwiefern sie das gemeinsame Leben fördern. In dieser Sicht sind Menschenrechte nicht nur Abwehrrechte, sondern zugleich Gestaltungsaufträge«12. Die Gestaltung der Menschenwürde lässt sich deshalb nicht so sehr an einem »Würdediskurs« festmachen, sondern in der Interaktion zwischen den Menschen und mithin in »erzählten oder realisierten Vollzügen, die konkret damit verbunden werden«13. Kirche und Theologie haben lange gebraucht, bis sie sich zu einer vollen Anerkennung der Menschenrechte durchgerungen haben.14 Belastend wirkten die Vorstellungen vom Menschen als Sünder15 und besonders von der Erbsünde, der aufklärerische Gedanke vom Menschen als für sich selbst verantwortlichem Individuum, aber auch die Begleitumstände beispielsweise der Französischen Revolution, die mit ihrer antiklerikalen Haltung und mit der Gewalt, die sie freisetzte, den Widerstand der Kir10 Vgl. Präambel und Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die grundlegenden Texte zu Menschenrechten und Menschenwürde sind zusammengefasst in Bardo Fassbender (Hg.), Quellen zur Geschichte der Menschenrechte. Von der amerikanischen Revolution zu den Vereinten Nationen, Reclam-UB 19209, Stuttgart 2014; Franz Josef Wetz (Hg.): Texte zur Menschenwürde, Reclam-UB 18907, Stuttgart 2011. 11 Heun, Einflüsse, 235f. Seit der Antike und bis in die ständische Gesellschaft verstand man unter Würde in der Regel den besonderen Rang einer Person, in den man hineingeboren war (Adel) oder zu dem man erhoben wurde, z.B. im akademischen oder kirchlichen Bereich. 12 Huber, Menschenrechte / Menschenwürde, 582. 13 Ottmar Fuchs, Was sie ›kostet‹, das ist sie wert: die Menschenwürde. Universalisierung und Radikalisierung der Menschenwürde im Horizont jüdisch-christlicher Gottesbeziehung, in: JBTh 15, Neukirchen-Vluyn 2000, 265–292, hier 266. Fuchs spricht von einer »pragmatischen Hermeneutik des Würdebegriffs«. 14 Das beliebte religionskritische Argument, dass z.B. das Christentum faktisch immer wieder gegen seine eigenen Grundlagen gehandelt habe (z.B. Armin PfahlTraugbehr, Haben die modernen Menschenrechte christliche Grundlagen und Ursprünge? Kritische Reflexionen zu einem immer wieder postulierten Zusammenhang, http://www.kellmann-stiftung.de/index.html?/beitrag/Pfahl-Traughber_Menschenrech te-Christentum.htm am 12. 8.2016), trifft – leider – auf nahezu alle anderen Begründungsinstanzen in gleicher Weise zu. 15 Karl Barth z.B. sprach von einer »heillose(n) Verwirrung und Blasphemie«, wenn man die Würde des menschlichen Ich an ihm selbst festmache (Die kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 41948, 444f.).

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chen in Europa hervorrief. Erst im Lauf des 20. Jahrhunderts ist in den Kirchen die Einsicht gewachsen, dass von der eigenen jüdisch-christlichen Tradition her die Würde des Menschen tatsächlich ein unveräußerliches Gut ist, das Recht aus sich freisetzt.16 Deshalb kann es nicht darum gehen »jetzt nachträglich unmittelbar eine biblische Begründung der Menschenrechte nach(zu)schieben oder der Herausbildung der Menschenrechte voran(zu)stellen«17. Sehr wohl geht es aber darum, nach der Bibel zu fragen, wenn die Menschenrechte aus christlicher Perspektive in den Blick genommen werden – wohl wissend, dass dies keineswegs die einzige ist, aus der man die Menschenrechte betrachten kann.18 Denn wenn diese Rechte allen Menschen gelten, müssen sie auch allen Menschen mit der Fülle ihrer religiösen, weltanschaulichen und politischen Vorstellungen zugänglich sein. Der partikulare Zugang aus einer bestimmten Perspektive steht der Universalität der Menschenrechte so lange nicht entgegen, als er sich selbst nicht absolut setzt, sondern danach fragt, was er an Eigenem und Besonderem zum Verständnis und zur Praxis der Menschenrechte beitragen kann.19 2 Recht und Würde des Menschen in der Bibel 2.1 Wenn wir uns nun vor diesem Hintergrund der Bibel zuwenden, ist zunächst festzustellen: Menschenrechte im neuzeitlichen Sinn kommen in der Bibel nicht vor. Der Gedanke des Individuums als Träger unveräußerlicher Rechte ist sowohl der jüdischen als auch der griechisch16 Diese Entwicklung ist nachgezeichnet bei Huber, Menschenrechte, 591f. 17 Gründel, Moral, 98f. 18 Es gibt freilich Stimmen, die eine religiöse Begründung der Menschenrechte ablehnen, da die Verankerung in einer bestimmten religiösen Tradition ihre Universalität in Frage stelle; so z.B. Gret Haller, Menschenrechte ohne Demokratie? Der Weg der Versöhnung von Freiheit und Gleichheit (Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn 2013, 205f. Zu den Anklängen an religiöse Sprache in den Präambeln der Menschenrechtscharta und der Erklärung vgl. Wolfgang Vögele, Christliche Elemente in der Begründung von Menschenrechten und Menschenwürde im Kontext der Entstehung der Vereinten Nationen, in: Hans-Richard Reuter (Hg.), Zum Streit um die Universalität einer Idee, Ethik der Menschenrechte 1/1999, 103–133, hier 119–126; ders., Glaube und Würde. Die Aktualität der Menschenrechte für die christliche Theologie und den interreligiösen Dialog, in: Friedrich Johannsen (Hg.), Die Menschenrechte im interreligiösen Dialog: Konflikt- oder Integrationspotential? (Religion im kulturellen Kontext 2), Stuttgart 2013, 41–51, hier 45. 19 Vgl. hierzu auch Friedrich Lohmann, Die Menschenrechte zwischen Universalismus und religiösem Partikularismus, in: Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung. Referate und Ergebnisse des Nürnberger Forums 2013, Berlin 2015, 200–209, 33–43. Weil Religion sich zum Richter über anderslautende Erkenntnisse aufschwingen kann, ist Bildungsarbeit notwendig, »durch die das Bewusstsein einerseits der eigenen Fehlbarkeit und Endlichkeit, andererseits des bereichernden Potentials der eigenen und anderer Wirklichkeitsdeutungen gefördert wird«.

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römischen Antike fremd. Dies gilt gleichermaßen für die Stoa, deren Lehren häufig (und in Konkurrenz zum Christentum) als Ursprung der Menschenrechte bezeichnet werden. Die Stoa zielt aber, wie auch vergleichbare philosophische Strömungen der hellenistischen Zeit, auf ein gelingendes Leben und eine daraus resultierende Ethik. Ihre Grundbegriffe Leidenschaftslosigkeit (Apathie), Selbstgenügsamkeit (Autarkie) und Unerschütterlichkeit (Ataraxie) kennzeichnen die innere Haltung des Stoikers als Freiheit von äußeren Gegebenheiten und zielen gerade nicht auf die äußere Durchsetzung daraus sich ergebender Rechte.20 Dementsprechend bewirkt die durchaus hervorgehobene Gleichheit aller Menschen auch keine grundlegende Veränderung der sozialen Verhältnisse. Auch der Bibel ist die Vorstellung subjektiver Menschenrechte fremd. Im AT ist das Recht als Gottesrecht verstanden, das Gott am Sinai dem Volk Israel gegeben hat. Dabei ist der literarische Ort, an den die Sinaiüberlieferung mit ihren verschiedenen Gesetzessammlungen (Dekalog, Bundesbuch, Privilegrecht Jahwes, Heiligkeitsgesetz) gestellt wurde, von grundlegender Bedeutung: Sie richtet sich an das Volk, das nach der voranstehenden Exoduserzählung gerade von Gott aus der Gefangenschaft in die Freiheit geführt wurde. Zwei Aspekte sind dabei von Bedeutung: Das Recht ist von Gott gegeben (nicht vom König21, aber auch nicht vom Volk); dadurch ist es jeglicher politischen und ökonomischen Funktionalisierung entzogen. Und es zielt auf die Gemeinschaft des Volkes, das die nun gewonnene Freiheit bewahren soll. Der Grundsatz der Entsprechung (das sogenannte ius talionis22) verweist auf die Orientierung an der Gemeinschaft: Wenn ein Unrecht geschehen ist, soll es ausgeglichen werden, damit die Ordnung, die Gott für das Volk (und die ganze Welt) geschaffen hat, wiederhergestellt wird. Das Recht ist im AT insofern kein subjektives Recht, sondern zielt auf Gemeinschaft, und zwar »auf die Versöhnung zwischen Täter und Opfer in einem Maße, dass beide wieder zusammen … leben« können.23 Deshalb geht es im alttestamentlichen Recht nicht lediglich um Kasuistik oder Strafverfolgung, sondern immer um die Frage, wie das Leben in der Gemeinschaft gefördert oder, wenn es gestört ist, wiederhergestellt werden kann. Von Men20 Vgl Heun, Einflüsse, 245. 21 Vgl. Eckart Otto, Theologie online. Altes Testament, Menschenrechte und Bibel, http://www.theologie-online.uni-goettingen.de/at/otto.htm (Zugriff am 20.8.2016). 22 Klaus Grünwald, Recht (AT), in: www.bibelwissenschaft.de/wibilex/ am 12.8.2016: »Die Idee des Schadensersatzes bringt es mit sich, dass die Sanktion für ein Delikt in der Regel etwas mit diesem Delikt zu tun hat. Wer etwas stiehlt oder wer für den Verlust von fremdem Eigentum verantwortlich ist, der muss es erstatten.« Das gilt selbst für Ex 21,23f. (Auge um Auge …), wo ebenfalls der Ersatzgedanke vorherrscht. Deshalb übersetzen Buber/Rosenzweig: »Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebenersatz für Leben, Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn, Handersatz für Hand, Fußersatz für Fuß, Brandmalersatz für Brandmal, Wundersatz für Wunde, Striemersatz für Strieme.« 23 Grünwald, Recht (AT).

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schenrechten als Individualrechten in der Bibel zu sprechen wäre jedoch ein Anachronismus. Gleichwohl lassen sich – in »Entsprechung und Differenz«24 wichtige Analogien benennen, von denen hier nur einige Grundlinien zur Sprache kommen können. 2.2 An erster Stelle ist die Menschenwürde zu nennen, auch wenn dieser Begriff als solcher in der Bibel nicht vorkommt. In diesem Zusammenhang ist auf Gen 1,26f. einzugehen. Dort ist die Rede davon, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist. Diese Verse haben das Nachdenken über den Menschen immer wieder angeregt. Verschiedene Aspekte sind für die Frage nach der Würde des Menschen von Bedeutung: – Geschaffen ist der Mensch »in unserem Bilde nach unserer Ähnlichkeit«. Die hebräischen Begriffe zelem und demut (V. 27) rücken den Menschen nah an Gott heran, ohne aber die Grenze zu verwischen25; der Mensch ist nicht Gott, sondern Gottes Geschöpf – mit und neben anderen Geschöpfen, denen er in Solidarität verbunden ist.26 – Der Mensch (adam) ist »männlich und weiblich« erschaffen (1,27); das destruiert von Anfang an jede Idee einer Vorrangstellung zwischen den Geschlechtern (und lässt sich auf soziale Stellung etc. übertragen); zugleich ist die Beziehung zwischen den Menschen als konstitutives Element des Menschseins angesprochen; seine Würde zeigt sich nicht zuletzt darin, wie er die Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt gestaltet. – Zur Gottebenbildlichkeit gehört der Auftrag, über Erde und Tiere zu herrschen. Dadurch ist der Mensch ist besonderer Weise qualifiziert, ohne dass seine Geschöpflichkeit aufgehoben ist. Er bleibt Mitgeschöpf. Dass Gott die Menschen mit denselben Worten beauftragt und segnet, zeigt die positive Absicht und Wertung des Auftrags. – Die Herrschaft bringt Verantwortung und Freiheit mit sich. Der Mensch kann die Freiheit missbrauchen und ausnutzen; dies schlägt sich in den biblischen Erzählungen an vielen Stellen nieder. Was Gen 1,26–28 andeutet, formuliert das AT in verschiedene Richtungen aus. Deshalb gibt es im AT unterschiedliche Vorstellungen vom Menschen. Sie stimmen jedoch darin überein, dass Hoheit und Niedrigkeit den Menschen auszeichnen. Er ist endlich, und in dieser Endlichkeit 24 Dies ist nach Huber, Menschenrechte/Menschenwürde, 591–592, der Typus der theologischen Diskussion um die Menschenrechte, der dem biblischen und theologischen Sachverhalt am ehesten gerecht wird. 25 Vor allem durch die Übersetzung von »Bild« und »Ähnlichkeit« mit den lateinischen Worten imago und similitudo sind Vorstellungen in die Interpretation der Stelle eingetragen worden, die vom Ursprungssinn her nicht gedeckt sind. Dies betrifft vor allem die sogenannte »Urstandsgerechtigkeit«, die mit dem Sündenfall dahin sei, und im Gegenüber dazu die stark von Augustin beeinflusste Tradition der Erbsünde. 26 Vgl. Lohmann, Menschenrechte, 38.

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anfällig für Versuchungen aller Art, nicht zuletzt denen der Macht; umgekehrt kommt der Psalmdichter staunend zu der Erkenntnis, dass der »Sohn Adams« nur wenig niedriger gemacht ist als Gott (Ps 8,5f.) und als (bewahrender und schützender) König über die Schöpfung eingesetzt ist (Ps 8,6–9). Darin liegt seine Würde und seine Verantwortung gegenüber Gott, den Mitmenschen und der Welt, die aus seiner Hoheit folgt. Dabei kommt der Mensch weder als isoliertes Individuum noch als autonomes Subjekt in den Blick. Die Gottebenbildlichkeit begründet deshalb die neuzeitlichen Menschenrechte nicht; wohl aber gibt es Strukturanalogien zwischen beiden, da auch die Grundbegriffe der Menschenrechte – Freiheit, Gleichheit, Teilhabe – als »Relationsbegriffe« interpretiert werden müssen.27 So trägt der biblische Gedanke der Ebenbildlichkeit Gottes eigene Aspekte zum Verständnis der Würde des Menschen (jedes Menschen!) bei. 2.3 Dass das Recht der politischen und ökonomischen Funktionalisierung entzogen ist, zeigt sich in Israel besonders deutlich an der prophetischen Kritik. Vom Beginn des Königtums an begleiten Propheten den Gang der Ereignisse und stehen dabei als von Jahwe Beauftragte immer wieder in Opposition zum König. Die Nathanepisode in 2Sam 12 ist ein charakteristisches Beispiel: »Du bist der Mann« hält Nathan David vor, der in die Ehe von Uria und Bathseba eingedrungen und für Urias Tod verantwortlich ist. Das rücksichtslose Machtgebaren des Herrschers ist mit dem von Gott verliehenen Auftrag, das Volk zu leiten, unvereinbar. Wenn der Einzelne, der König oder das Volk den Weisungen Gottes folgen, werden sie leben; wenn aber nicht, wird ihnen Unheil widerfahren. In der harten Kritik des Amos am Verhalten der reichen Oberschicht (z.B. in Am 5,11–24) ist ein Grundmuster der Forderung nach Recht und Gerechtigkeit zu finden: Obwohl Israel die Befreiung aus der Gefangenschaft erfahren hat und sich gerne auf Gottes Begleitung und Schutz beruft, beugen die Mächtigen das Recht und wenden sich damit zugleich vom Gotteswillen ab, wie er in der Tora niedergelegt ist. Die Verfälschung des Rechts zugunsten der Macht führt aber zum Zusammenbruch der Gesellschaft, der auch die Mächtigen ereilt (vgl. Am 2,9.11). Deshalb treten die Propheten immer wieder als Anwälte der Armen, der sozial Benachteiligten und der Fremden auf. Sozialkritik (Am 2,6–8; 4,1f.; 5,10–12; 6,1–6; 8,4–6) und Kultkritik (4,4f.; 5,4f.21–25) haben ihren Grund gleichermaßen in dem Mangel an Recht und Gerechtigkeit. Besonders scharf wird die prophetische Kritik dann, wenn zur Schau getragene Frömmigkeit zum Deckmantel sozialer Ungerechtigkeit wird. Beides gehört ihrer Auffassung nach untrennbar zusammen: sich an Gott orientieren, und gleichermaßen Recht tun und Güte und Treue lieben (Mi 6,8; vgl. Jes 5,7). Vor diesem Hintergrund erschließt sich der durchgän27 So Wolfgang Huber / Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Kaiser-TB 22, München 31988, 190.

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gige soziale Grundzug des alttestamentlichen Rechtes: Aus der Erfahrung eigener Unterdrückung und Benachteiligung entwickelt sich die Motivation zum Schutz von Rechtlosen und Bedrückten, denn »ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen« (vgl. Ex 22,20–26). Der Begriff Solidarität für diesen Zusammenhang ist gut geeignet. Er umfasst das Recht – und dementsprechend wird in den Psalmen vom König wie von den Richtern erwartet, dass sie den Armen, Waisen und Bedürftigen zu ihrem Recht verhelfen (Ps 72,2; 82,3f.), wie auch die Wendung »Recht und Gerechtigkeit« (z.B. Ps 119,121) die Zuwendung Gottes zu seinem Volk eng mit dem Verhalten der Israeliten zusammenbindet; zugleich geht er über das Recht hinaus und schließt auch die Barmherzigkeit mit ein. Recht und Gerechtigkeit in Israel sind deshalb immer Ausdruck eines Verhältnisses zu Gott und den Menschen, das in einem umfassenden Sinn »in Ordnung« ist. 2.4 Dass Gott ohne Ansehen der Person richtet, ist in der Bibel vielfach formuliert, am eindringlichsten vielleicht in Sir 35,11–24: Gott »hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet der Unterdrückten«. Die Psalmen sprechen davon, dass gerade die Armen und Geringen bei Gott in Geltung stehen (9,10; 10,18; 12,6 u.ö.). An diesem Handeln Gottes soll Israel sich orientieren: »Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten« (Lev 19,15).28 Weil das Recht von Gott kommt, gilt es für alle gleichermaßen. Das Neue Testament kennt dafür einen eigenen Begriff (vgl. Röm 2,11; Eph 6,9; Kol 3,25; Jak 2,1), mit dem es den Gedanken aus dem Alten Testament weiterführt: Ohne »Ansehen der Person« sollen die Gemeindeglieder miteinander umgehen, die Armen nicht »unehrenhaft« behandeln – und sich nicht zuletzt dadurch von ihrer Umwelt unterscheiden (vgl. Jak 2,1–13), die den Einflussreichen besondere Ehre zuteilwerden lässt. Die Christen sollen ihr Handeln dagegen am Handeln Gottes orientieren, der die Armen erwählt hat. 2.5 Neben diese Orientierung am Gebot und Handeln Gottes tritt im Neuen Testament eine christologische Begründung für die Hinwendung zu den Geringen.29 In Phil 2,3f. schreibt Paulus an die Gemeinde in Philippi: »Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.« Hier 28 Vgl. Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz.« 29 In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass Christus in Kol 1,15 als »Bild des unsichtbaren Gottes« bezeichnet wird. Die Ebenbildlichkeit ist hier auf Christus selbst bezogen, an dem sich nun die an ihn Glaubenden orientieren sollen.

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stehen zwei Begriffe nebeneinander, die unterschiedliche Wertesysteme beschreiben: Ehre und Demut. In der griechisch-römischen Antike ist Ehre (griechisch doxa, time; lateinisch dignitas) eng mit Konnotationen verbunden, die in unserem Sprachhorizont mit Würde in Verbindung stehen. Ehre und Würde werden gesellschaftlich definiert und zuerkannt. Wer öffentliches Ansehen genießt, sei es durch gesellschaftliche Stellung oder herausragende Leistungen (nicht zuletzt durch Wohltaten für die Gemeinschaft), dem kommen Ehre und Würde zu. Ihr Ausdruck »sind etwa Name und Titel, Begrüßung und Geschenke, Kleidung und Schmuck, der Platz in der Sitzordnung beim gemeinsamen Mahl oder schließlich die Ausstattung von Grab und Begräbnis«30. Ehre und Würde werden dem Einzelnen als Auszeichnung zuerkannt und sind deswegen gerade nicht egalitär.31 Paulus dagegen mahnt die Gemeinde in Philippi zur Demut (wörtlich: Niedrig-Gesinnung). Dieses (von Paulus geprägte) Wort stellt in einer paganen Umwelt eine Zumutung dar, denn »mit nur wenigen Ausnahmen … hat die Wortgruppe bei griechischen wie römischen Autoren einen negativen Klang«32. Vor allem bei Epiktet wird »niedrig« mit einem geringen sozialen Status, unterwürfiger Haltung oder gedrücktem Gemütszustand verbunden, die zusammengenommen als Lebenssituation von Sklaven, als niedrige Gesinnung, erscheinen.33 Dieser Auffassung stellt Paulus in zweierlei Hinsicht eine neue Interpretation der »NiedrigGesinnung« gegenüber (Phil 2,5–11). Zum einen verbindet er sie mit dem Verhalten Jesu Christi selbst, der auf göttliches Recht und Privileg verzichtete (V.6f.) und dadurch den Namen erhielt, der über allen Namen ist (V.9–11); wer sich an Christus orientiert, soll dies eben darin tun, dass er oder sie »den anderen höher achtet als sich selbst« und immer das berücksichtigt, was dem anderen dient (V.3f.). Zum anderen stellt Paulus die Demut in den Zusammenhang des Verhaltens in der Gemeinde.34 »Ehre« und »Demut« kennzeichnen ein Verhalten, das das Verhältnis zu dem Anderen in den Blick nimmt und ein Gemeinschaftsverhalten umschreibt.35 Wenn Paulus in Gal 3,28 die Unterschiede zwischen religiöser Herkunft, sozialem Status und Geschlecht in der Gemeinde der an Christus Glaubenden aufgehoben sieht, entspricht dies genau diesem Denken. Die Erniedrigung Jesu bis hin zum Kreuz (Phil 2,8) dient auch anderorts 30 Nicole Chibici-Revneanu, Ehre/Scham/Schande (NT), https://www.bibelwissen schaft.de/de/stichwort/47875/ am 10.8.2016. Zwar gibt es auch philosophische Kritik an Ehrsucht und Hervorhebung des eigenen sozialen Status; sie hebt aber das Streben nach Ehre im Grundsatz nicht auf. Zum honor/shame-Modell in der Exegese vgl. den Überblick ebd. 31 Heun, 239. 32 Eve-Marie Becker, Der Begriff der Demut bei Paulus, Tübingen 2015, 87; dort auch die entsprechenden Belege. 33 Ebd., 88f. Vgl. bei Epiktet besonders Diss 3,24.56. 34 Vgl. Becker, Demut, 91–95. 35 Becker, Demut, 95.

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im Neuen Testament als Motivation für ein Verhalten, das das Wohlergehen des Anderen zum Maßstab nimmt (vgl. Kol 3,5–17 in Zusammenhang mit 1,20; 1Petr 3,8ff. in Zusammenhang mit 3,18 u.ö.). 2.6 In 7,12 formuliert Matthäus eine Regel, die als die goldene bezeichnet wird: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.« Das »nun« am Anfang zeigt, dass diese Regel das bis dahin in der Bergpredigt Gesagte aufgreift und zusammenfasst. Zwar begegnet der Satz (positiv wie hier oder auch negativ formuliert: »Was du nicht willst, dass man dir tu …«) auf ähnliche Weise in vielen Kulturen und Traditionen; hier aber ist er im Zusammenhang der Bergpredigt Jesu und des ganzen Matthäusevangeliums zu interpretieren. In diesem Zusammenhang greift er auf das Liebesgebot zurück, das sogar die Feinde einschließt (5,43–48), und die Vergebungsbitte des Vater Unsers (6,12), er weist auch voraus auf die Aufforderung zum Vergeben in 18,21f. und die Frage nach dem höchsten Gebot in 22,34–40: Gott lieben und den Nächsten lieben gehören untrennbar zusammen. Für Matthäus sind deshalb in 7,12 Tora und Propheten zusammengefasst. Die Bergpredigt formuliert kein einklagbares Recht; sie weiß, dass glückendes Leben weit über das hinausgeht, was sich rechtlich einfordern lässt. Deshalb ist die positive Formulierung der Goldenen Regel wichtig; sie zeigt, »dass christliche Praxis ein initiatives, kein reaktives Handeln ist«36 und zu einer Liebe anleitet, die rechtliche Forderungen übersteigt.37 Im Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25,31–46 wird denjenigen das Gottesreich verheißen, die Hungernde gespeist, Dürstende getränkt, Fremde aufgenommen, Nackte gekleidet, Kranke und Gefangene besucht haben (V. 35f.). Wer diesen Geringen hilft, hat zugleich Jesus selbst geholfen, der sich in V. 40 geradezu mit ihnen identifiziert. Vermutlich denkt der Verfasser des Matthäusevangeliums dabei in erster Linie an die Geringen in der christlichen Gemeinde und an wandernde Christusverkündiger.38 Dass dieser Text zum »Grundtext der Diakonie« geworden ist39, zeigt jedoch, dass in ihm eine Kraft steckt, die schon früh auf die Überschreitung dieser Begrenzung auf den eigenen Kreis drängte und generell die 36 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1, Zürich/Düsseldorf u.a. 1985, 392. 37 In ähnlicher Weise trifft dies auch auf den Fall des Onesimus im Philemonbrief zu, der häufig angeführt wird, wenn die Differenz zwischen christlicher Theorie und Praxis kritisiert wird. Faktisch geht Paulus mit seiner Forderung in V.16, den Onesimus als Bruder anzunehmen, aber weit über das hinaus, was im zeitgenössischen Rechtsrahmen von Philemon gefordert werden konnte (vgl. Peter Müller, Der Brief an Philemon, KEK 9/3, Göttingen 2012, 119–125). 38 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/3, Zürich/Düsseldorf u.a. 1997, 537–539. 39 Ebd., 522. Laktanz hat die matthäische Sechserliste noch um das Begraben der Toten ergänzt und so die »sieben Werke der Barmherzigkeit« geschaffen.

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Geringen und Rechtlosen einbezog. Parallelen zu den Menschenrechten liegen auf der Hand. Ein Unterschied aber wiederum auch: Wenn Jesus selbst sich nach Mt 11,28 den »Mühseligen und Beladenen« zuwendet, mit seinem Handeln »alle Gerechtigkeit« erfüllt (3,15) und auch wenn seine Nachfolger dazu aufgerufen werden, es ihm gleichzutun, geht es um ihre liebevolle Zuwendung zu den Geringsten (im Rahmen der zeitgenössischen Rechtsvorstellungen aber), nicht aber um ein diesen zustehendes Recht. Die Orientierung an der Gottesherrschaft ist für die Verkündigung Jesu insgesamt charakteristisch. Sie ist auf die Zukunft bezogen, in der Gott selbst sein Reich errichten wird. Sie wirkt sich aber, eben weil es Gottes Zukunft ist, bereits jetzt auf das Handeln derer aus, die an ihn glauben. Die Seligpreisungen weisen schon mit dem Begriff »selig« darauf hin, dass sie nicht als Rechtssätze verstanden werden wollen, und auch die Antithesen formulieren nicht, was eingefordert werden, sondern was sich über die Forderung dessen hinaus, was erwartet werden kann, in der Orientierung an Gott ergibt. 3 Biblische Impulse für eine Menschenrechtsdidaktik Menschenrechte im neuzeitlichen Sinn kommen – wie gezeigt – in der Bibel nicht vor. Von der Würde des Menschen ist dagegen, auch wenn der Begriff als solcher nicht vorkommt, in außerordentlicher Weise die Rede. Würde kommt ihm dabei nicht als autonomes Subjekt zu, sondern als von Gott geschaffenes und beauftragtes Geschöpf. Der Mensch ist nach biblischer Vorstellung nicht selbstbezogene Letztinstanz seines Handelns, sondern von Gott herkommend und auf ihn angewiesen. Gerade das verbindet ihn aber auch mit den anderen Menschen (und der gesamten Schöpfung), die sich in gleicher Weise Gott verdanken. Für das von Gott gegebene Recht ist deshalb eine soziale Grundstruktur charakteristisch. Die Katastrophen des 20. und – leider – bereits auch des 21. Jahrhunderts zeigen unübersehbar, dass der Mensch es nicht vermocht hat, »aus sich selber heraus die Quellen zu schöpfen, durch die er den Menschen in seiner Personalität unbedingt achten kann«40. Die Verkündung der Menschenrechte und ihre formale Ratifizierung reichen ganz offensichtlich nicht aus, sie tatsächlich in Geltung zu setzen. Auf erschreckend vielfältige Weise sprechen Menschen anderen Menschen faktisch Würde und Rechte ab, und so ist der Kampf für die Menschenrechte »keines-

40 Grümme, Menschenrechtsbildung im katholischen Religionsunterricht, in: Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung. Referate und Ergebnisse des Nürnberger Forums 2013, Berlin 2015, 191.

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wegs ein für alle Mal entschieden«41. Deshalb ist die Frage müßig, wer die Begründungshoheit für die Menschenrechte für sich beanspruchen kann.42 Vielmehr muss es darum gehen aus verschiedenen Quellen alles das zusammenzutragen, was ihnen dient und sie fördert. Dies gilt auch für die biblische Sicht des Menschen. Sie wird nicht von allen geteilt, sie ist religiös und partikular. Aber wie kann das, was sie an Eigenem formuliert, in die allgemeine Diskussion um die Menschenrechte eingebracht werden? – Mit dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit stellt die Bibel Hoheit und Würde des Menschen (aller Menschen!) heraus und hält zugleich grundsätzlich fest, dass der Mensch nicht Gott ist. Damit widerspricht sie einer »Sakralisierung« des Menschen43, die ihn als Letztinstanz nicht nur seiner selbst, sondern der ganzen Welt ins Zentrum stellt.44 Darin liegt zum einen eine enorme Entlastung: Kein Mensch kann (und muss) letzte Gerechtigkeit garantieren; umgekehrt muss niemand an Ungerechtigkeit völlig verzweifeln. Zum anderen erwächst aus der Beziehung zu Gott und Mitmensch konkrete Verantwortung in dem jeweiligen Bereich, in dem der Mensch tätig ist. Die Lernchance, die sich daraus ergibt, zielt auf die Erkenntnis, dass die Menschenrechte kein abstraktes Konstrukt sind, dass vielmehr eigenes Tun wichtig ist, und auf die Frage, wo eigenes Eintreten für die Menschenrechte möglich ist. – Im Alten Testament dienten die Erinnerung an die Unterdrückung in Ägypten und den Bund mit Gott am Sinai als »Motivationsressource«45 für aktuelles Handeln. Auch wenn dieser Rückblick verschiedentlich in Vergessenheit geriet oder unterdrückt wurde, hat er doch immer wieder neue Kraft entfaltet und sich in Erinnerung gebracht. Daran zeigt sich, dass die Erinnerung an erfahrenes Unrecht, aber auch an Recht und erfahrene Rettung dazu motivieren können, anderen zu ihrem Recht zu verhelfen.46 41 Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg 22004, 168. 42 Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 32012, 16: »Eine der häufigsten, aber auch unfruchtbarsten Debatten …« 43 Émile Durkheim, Der Individualismus und die Intellektuellen (1898), in: H. Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt 1986, 54–70, hier 56f. Vgl. dazu ausführlich Joas, Sakralität, 81–101. 44 Grümme, Menschenrechtsbildung, 193; Joas, Sakralität, 13: »Ich glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte. Schon die Formulierung der Aufgabenstellung erscheint mir als selbstwidersprüchlich. Wenn es sich wirklich um letzte Werte handelt, worauf kann dann eine rationale Begründung noch zurückgreifen?« 45 Bogner, Grundrechte, am 20.8.2016. 46 Boschki entwickelt daraus den bildungstheoretischen Gedanken, »dass sich in der Konfrontation mit historischen Ereignissen … eine Sensibilität für die Men-

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– Aus biblischer Sicht haben die Ordnung der Welt und damit auch das Recht ihren letzten Grund außerhalb des Menschen. Deshalb können sich weder König noch Staat, weder Mächtige noch Reiche außerhalb dieser lebensdienlichen Ordnung stellen, ohne diese selbst zu gefährden. Darauf weisen die Propheten mit großer Eindringlichkeit hin. Weil es nicht die Mächtigen sind, die das Recht setzen, ist auch ihre Macht durch das Recht begrenzt. Wie es bei Gott kein Ansehen der Person gibt, soll es auch in Israel oder in der christlichen Gemeinde keine Privilegien oder Zurücksetzungen geben. Weil aber genau dies immer wieder in Frage steht, braucht es die andauernde Bemühung, dem Recht konkret Raum zu verschaffen.47 Die Botschaft der alttestamentlichen Propheten macht dies ebenso deutlich wie der Blick auf langwierige und kontrovers verlaufende Entwicklung der neuzeitlichen Menschenrechte. – Im Blick auf das Recht kommen in biblischer Tradition vor allem die Armen und die Randgruppen in den Blick. Wer Einfluss, Wissen oder Macht hat, hat zu allen Zeiten einen vergleichsweise leichten Zugang zum Recht. Umgekehrt bleibt das Recht, gerade das elementare Recht der Armen und Bedrängten, oft folgenlos, wenn es nicht in konkretes Handeln umgesetzt wird. Im Blick auf eine Menschenrechtsdidaktik ergibt sich daraus die Frage nach dem Verhältnis von Macht, Wissen und Recht. – Recht allein reicht nach biblischer Überzeugung aber nicht aus, um eine menschendienliche Ordnung zu schaffen und zu fördern. Das Recht sanktioniert die Störungen dieser Ordnung und hat insofern einen reaktiven Grundzug. Barmherzigkeit, Solidarität und Nächstenliebe, die sich nicht kodifizieren lassen, treten hinzu, gehen über das rechtlich Geforderte hinaus und fügen ihm einen eigeninitiativkreativen Aspekt hinzu. Dieser lässt sich nicht einfordern, gewinnt aber am vorausgehenden Verhalten Gottes bzw. Christi Motivation und Orientierung. An der positiven wie der negativen Formulierung der »Goldenen Regel« lässt sich dies gut zeigen. – Nach der Vorgabe der UN-Dekade für die Menschenrechtsbildung 1995–200448 sollen sich die Verbreitung von Kenntnissen zu den schenwürde und die formulierten Menschenrechte entwickeln kann« (Menschenrechtsbildung, 202.207f). 47 Ein aktuelles Beispiel: Artikel 14 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« gibt jedem Menschen das Recht, »in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen«. Dies hat die Bundesrepublik Deutschland in Artikel 16 in das Grundgesetz übernommen. In einer parlamentarischen Demokratie kann der einzelne Bürger nur über die politischen Gremien Einfluss auf die konkrete Rechtsgestaltung nehmen. Sehr wohl ist er aber in der Lage, angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation dieses Grundrecht von Verfolgten konkret mit Leben zu erfüllen. 48 Vgl. Anja Mihr, Die UN-Dekade für Menschenrechtsbildung – eine Bilanz, http://www.anjamihr.com/resour-/Seiten+aus+LpBBW-Menschenrechte-Artikel.pdf, aufgenommen bei Thomas Schlag, Menschenrechtsbildung im evangelischen Reli-

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Menschenrechten, die Förderung persönlicher Einstellungen und Formen aktiver Teilhabe in einem Prozess wechselseitiger Einwirkung ergänzen. Das biblische Verständnis von Lehren und Lernen weist hierzu Analogien auf: Es geht nicht einfach um Wissen, sondern um Erinnerung, die aktualisiert wird (»denke daran, dass auch du ein Fremdling warst …«), um Stellungnahme zugunsten der Rechtlosen in Wertekonflikten (»Du bist der Mann …«), um Handlungsstrategien im Raum der Gemeinde als Gegenmodell zu herkömmlichen Sozialstrukturen (»Demut«). Wer in der Bibel Orientierung für das eigene Leben sucht, findet darin Begründungen für die Menschenrechte, Konkretionen zu ihrer Ausgestaltung und Anregungen für eine Menschenrechtsdidaktik. Es ist die Aufgabe von Theologie und Religionspädagogik, diese Aspekte in das Gespräch mit all denen einzubringen, die die Wahrung der Rechte jedes einzelnen Menschen als wichtige Aufgabe ansehen. Dr. Peter Müller ist Professor für Biblische Theologie und ihre Didaktik am Institut für Evangelische Theologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.

gionsunterricht, in: Manfred L. Pirner / Johannes Lähnemann / Heiner Bielefeldt (Hg.), Menschenrechte und inter-religiöse Bildung. Referate und Ergebnisse des Nürnberger Forums 2013, Berlin 2015, 177–189.

3.6 Heidrun Dierk

Menschenrechtsdiskurse in der Kirchengeschichte? Fallbeispiele zu Entdeckungszusammenhängen von Menschenrechten

1 Einleitung Über den Zusammenhang von Menschenrechten und Christentum ist schon viel und kontrovers geschrieben worden; das kann hier nicht einmal annähernd rezipiert werden. Häufig wird die These vertreten, dass die Menschenrechte keine Wurzeln im Christentum haben. Das mag in Hinblick auf die Haltung der beiden großen Konfessionskirchen gegenüber den Ideen der Französischen Revolution stimmen, bezogen auf einen Zusammenhang von religiösen Überzeugungen und Eintreten für Menschenrechte stimmt dieses Urteil nicht. Wenn man Menschenrechte als Freiheitsrechte des Individuums »gegen verschiedene Formen entwürdigender staatlicher wie nichtstaatlicher Herrschaft«1 versteht, dann zeigt die Christentumsgeschichte eine ganze Reihe von Entdeckungs- und Begründungskontexten menschenrechtlicher Ideen. Menschenrechte im Sinne individueller Freiheits- und Beteiligungsrechte haben auch eine Grundlage in der reformatorischen Theologie. So stärkte der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen in Kombination mit dem Schrift- und Christusprinzip die religiöse Selbständigkeit und Selbstverantwortung des Individuums, »ohne fremdbestimmte Vermittlung; daraus resultierte die Anerkennung der Gewissensfreiheit des Einzelnen«2. Auch der Gedanke religiöser Toleranz tauchte in der Reformationszeit auf: Vor Allem täuferische Gruppen forderten Duldung von Seiten der Konfessionskirchen und vom konfessionellen Staat. Wenn Menschenrechte ihren Ursprung auch in der Religions- und Gewissensfreiheit haben3, dann hat die Reformation einen Anteil daran. Einen zweiten Ent-

1 Antonius Liedhegener / Ines-Jacqueline Werkner, Religion und Menschenrechte als sozialphilosophische und politische Herausforderung der Gegenwart. Einleitung, in: Dies. (Hg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Wiesbaden 2010, 9–25, hier 11. 2 Eike Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009, 16. 3 Vgl. Thomas Schirrmacher, Christentum und Menschenrechte, in: Philipp Thull / Hamid Reza Yousefi (Hg.), Interreligiöse Toleranz. Von der Notwendigkeit des christlich-islamischen Dialogs, Darmstadt 2014, 84–92, hier 88.

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deckungskontext identifiziert Hilbert in der Diskussion über die Berechtigung kolonialer Expansion.4 In der Regel wird die Diskussion um die Begründungszusammenhänge der Menschenrechte berechtigt ideengeschichtlich geführt. Im Folgenden soll ein anderer Weg verfolgt werden, der sich kirchengeschichtlich und religionsdidaktisch als tragfähiger alternativer Ansatz erweist. Als ein geeigneter historischer Entdeckungskontext kann das Streben von Menschen nach leibhaftiger Freiheit bzw. körperlicher Unversehrtheit ausgemacht werden, der sich kirchengeschichtlich an verschiedenen Ereigniszusammenhängen aufzeigen lässt. Konkret geht es um folgende Frage: Wo haben kirchengeschichtlich bedeutsame Ideen bzw. Ereignisse leibhaftige Freiheit von Menschen befördert? Welche kirchengeschichtlichen Entdeckungszusammenhänge/ Durchsetzungszusammenhänge lassen sich aufzeigen? Peter Blickle hat die These entfaltet, dass sich die Menschenrechte auf einen realen historischen Kontext beziehen, nämlich auf den Wunsch von Menschen nach leibhaftiger Freiheit. Erst auf dieser Basis konnten sich bürgerliche Freiheitsrechte entwickeln. Christentumsgeschichtlich wirksam geworden ist der Wunsch nach leibhaftiger Freiheit in den Forderungen der Bauern 1525, angestoßen auch durch reformatorisches Gedankengut. Damit wäre die Reformation – gleichsam gegen ihre eigene Intention – eine Wurzel bürgerlicher Freiheits- und Partizipationsrechte.5 Ein vergleichbares Thema ist der Einsatz christlicher Gruppen für die Abschaffung der Sklaverei in den USA und England, der so genannte Abolitionismus. Martin Brecht hat in einem kleinen Aufsatz darauf verwiesen, dass die Infragestellung der Sklaverei nicht nur eine Folge der Freiheits- und Gleichheitspostulate von 1776 war, sondern dass sich der Protest schon deutlich früher in nonkonformistischen protestantischen Gruppen in den USA regte. Namentlich verweist er auf Franz Daniel Pastorius (1651–1719), der »die Gewissensunterdrückung in Europa und die Praxis der Sklaverei in Amerika auf eine Stufe«6 stellte und forderte, dass der Gleichheitsgrundsatz für alle Menschen gelten müsse. 2 Exemplarisches Themenfeld: Hexenverfolgungen Das Themenfeld, das ich im Folgenden näher ausführen möchte, ist der Einsatz christlicher Theologen für eine menschenwürdige Behandlung 4 Vgl. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte – ein christliches Erbe?, in: Klaus M. Girardet / Ulrich Nortmann (Hg.), Menschenrechte und europäische Identität – Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 146–160, hier 147. 5 Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003. 6 Martin Brecht, Die Menschenrechte in der Geschichte der Kirche, in: Jörg Baur (Hg.), Zum Thema Menschenrechte. Theologische Versuche und Entwürfe, Stuttgart 1977, 39–96, hier 87.

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von Frauen und Männern in den Hexenprozessen der frühen Neuzeit. Die Hexenverfolgungen markieren eine der dunklen Seiten der Christentumsgeschichte; gleichzeitig zeigt sich bei den Gegnern der Prozesse die Einsicht, dass christlicher Glaube und christliches Ethos nicht mit menschenverachtender Prozessführung und Folter zu vereinbaren sind. Zwar stehen die hier vorgestellten Personen nur für Einzelkonflikte bzw. -positionen, gleichzeitig verweisen sie konkret auf einen Entwicklungsprozess in Richtung körperlicher Freiheit.7 Sie sind auch deshalb zukunftsweisend, als sie sich nicht anmaßen, die Wahrheitsfrage zu beantworten (alle hier aufgeführten Theologen vermeiden es, Hexerei/Zauberei explizit zu widerlegen), sondern rationale und humane Prinzipien von der Obrigkeit im Umgang mit ihren Untertanen fordern. Im Folgenden werden die Positionen von Antonius Praetorius (1560– 1613), Friedrich Spee (1591–1635) und Johann Matthäus Meyfart (1590–1642) dargelegt. Von ihnen aus können Bezüge zu einzelnen Artikeln der UN-Charta hergestellt werden. Implizit wird damit auch eine Anregung für den Religionsunterricht gegeben. 2.1 Antonius Praetorius Praetorius – 1560 im westfälischen Lippstadt geboren – erlebte als Jugendlicher und auch später im Leben verschiedene Hexenprozesse mit. In seinem Berufsleben war er Lehrer, Diakon und später Pfarrer, unter anderem in der Kurpfalz und im Hessischen, d.h. dass er dem reformierten Bekenntnis anhing. 1597 musste er Hexenprozesse gegen vier Frauen in Birstein miterleben. Hier setzte er sich erfolgreich für die Befreiung einer der geschundenen Frauen ein, die dennoch an den Folgen der Folter verstarb. Dieses Ereignis gab den Anstoß zu seinem »Gründlichen Bericht von Zauberei und Zauberern«8, mit dem er den Zeitgenossen die Unsinnigkeit der Praxis in Hexenprozessen vor Augen führen wollte. In dem 1598 unter Pseudonym erschienenen Buch prangert Praetorius den Hexenwahn und die brutalen Foltermethoden aufs schärfste an.9 Er schreibt in deutscher Sprache und argumentiert – gut protestantisch – mit der Bibel, die ihm ein Reservoir an Gegengeschichten zum gegenwärtigen Prozesswesen ist. Daneben weist er kundig auf die grundlegenden Rechtskodifikationen hin, so besonders auf die Carolina von 1532. An 7 Vgl. dazu Bodo von Borries, Geschichtslernen und Menschenrechtsbildung. Auswege aus einem Missverhältnis? Normative Überlegungen und praktische Beispiele, Schwalbach/T. 2011, 72–77. 8 Eine digitale Faksimile-Ausgabe ist verfügbar unter https://www.hs-augsburg.de/ ~harsch/germanica/Chronologie/16Jh/Praetorius/pra_zaub.html (Datum des Zugriffs: 24.08.2016). 9 Zu Inhalt und Aufbau siehe Hartmut Hegeler, Anton Praetorius. Kämpfer gegen Hexenprozesse und Folter. Zum 400jährigen Gedenken an das Lebenswerk eines protestantischen Pfarrers, Unna 2002, 124f.

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verschiedenen Stellen im Buch fordert Praetorius die (christliche) Obrigkeit auf, die Angeklagten human, also unter Wahrung ihrer Menschenwürde, zu behandeln. Die Auszüge stammen aus Kapitel XI »Von dem Prozess und Wege, welchen christliche Obrigkeit wider die Zauberer richtig zu gehen und rechtmäßig zu gebrauchen« des »Gründlichen Berichts«. Die hier vorliegende Form wurde von der Verfasserin moderat modernisiert. »[178] Darum soll die Examination, Frage und Erforschung unverzüglich mit verhafteten Personen begonnen werden. Und das nicht durch Stockmeister und Henker, oder andere selbst lasterhafte und leichtfertige, oder störrische und blutdürstige Leute, sondern durch solche Männer, welche die Schrift zu Richtern [179] tüchtig erkannt, die gottesfürchtig sind, redlich, wahrhaftig, weise, verständige, erfahrene und geduldig im Zuhören, den Kleinen wie den Großen. Sie sollen als Christen einen christlichen und so viel als möglich der Heiligen Schrift gemäßen Weg gehen, damit sie die Wahrheit erfahren und sich selbst so wohl als andere, danach gebührlich und recht zu halten wissen. Der Henker gehört gar nicht zum Verhör, […], das ist der Pedell des Richters, der das ausgesprochene Urteil an dem Übeltäter wirklich vollbringt. Deswegen soll er keinen Gefangenen anrühren […]. Auch findet man in Gottes Wort gar nichts von Folterung, peinlichem Verhör, und durch Gewalt und Schmerzen ausgesagtem Bekenntnis, weder bei Gläubigen noch bei Ungläubigen, die gebilligt werden. [182] Weil nun die peinliche Verhörung so unchristlich, so scharf, so gefährlich, so schädlich, und dazu so betrüglich und ungewiss, soll sie billig von christlicher Obrigkeit nicht gebraucht werden, ungeachtet dessen, dass sie nun üblich und den kaiserlichen Rechten einverleibt ist. [187] Es soll auch niemandem vorgesagt werden, wie und was und auf wen er bekennen solle, sondern nur allgemein gefragt, ob er zaubern könne, von wem, wann, wo, durch welche Gelegenheit und wie er es gelernet, ob, warum, womit, wie und wann er jemand beleidigt, ob, worin, wozu, wie, wo und wann ihm jemand geholfen habe. […] Endlich, wenn nichts bekannt und danach auch nichts Gründliches von andern bewiesen wird, möchte der Gefangene mit [188] dem Eide bei dem allmächtigen und gerechten Gotte seine Unschuld dartun und sich purgieren […].«

Praetorius fordert hier eine rationale und faire Prozessführung ohne Vorverurteilung der Angeklagten. Gleichzeitig wird die Folter abgelehnt, da sie dem Prozess nicht dient und als unchristlich zu verurteilen ist. An anderen Stellen des Werkes werden die Richter selbst als die Bösen verurteilt, da sie solche Ungerechtigkeiten zulassen. 2.2 Friedrich Spee Der 1591 in Kaiserswerth geborene Friedrich Spee von Langenfeld ist erheblich bekannter als Praetorius. Spee trat 1610 in den Jesuitenorden ein und studierte Theologie und Philosophie. 1622 erhielt er die Priesterweihe. Der Orden betraute ihn mit vielfältigen Aufgaben und sandte ihn an die unterschiedlichsten Orte. So war er Gymnasiallehrer, Professor, Priester, Beichtvater. Einige Erfolge konnte er im Zuge der Reka-

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tholisierung verzeichnen. Als Seelsorger hatte er Opfer von Hexenprozessen zu begleiten und war dabei zu dem Schluss gelangt, dass unter seinen Beichtkindern keine einzige Hexe gewesen sei.10 Vom Beichtvater wurde er zum Hexenanwalt und verfasste (vermutlich zwischen 1629 und 1631) die »Cautio Criminalis seu De processibus contra sagas liber ad magistratus Germaniae […]«11. Das ursprünglich anonym in Latein erschienene Werk wurde um 1650 ins Deutsche übersetzt, und schon bald war Spee als Verfasser bekannt geworden und hatte entsprechende Konsequenzen durch seinen Ordensoberen zu erdulden. Die »Cautio Criminalis« ist gleichsam der Gegenentwurf zum »Hexenhammer«. Wie Praetorius ist Spee der Ansicht, dass erst Hexenprozesse die Hexen erzeugen. Fortschrittlich waren seine prozessrechtlichen Forderungen, nämlich die Unschuldsvermutung, die Haltung »in dubio pro reo«, das Recht der Angeklagten auf Verteidigung und die Abschaffung der Folter. Für unseren menschenrechtlichen Blickwinkel ist die letztere Forderung von besonderem Interesse. Friedrich Spee schreibt im 29. Kapitel: »Ferner habe ich gelehrt, die Tortur oder peinliche Frage werde heutzutage regelmäßig in einer Weise angewandt, dass tatsächlich immer wieder der Weizen12 in Gefahr ist. Das ist so wahr, dass ich wagen dürfte, einen Eid auf meine Überzeugung zu leisten, dass es tatsächlich immer und immer wieder so gegangen und arg viel Weizen mitausgetilgt worden ist. Nachdem nun diese allgemeine und besondere Voraussetzung unangreifbar begründet ist, muss sich diesem Vorsatz aufs beste die Folgerung anschließen, dass daher die Tortur völlig abzuschaffen und nicht mehr anzuwenden ist. Oder wenigstens muss jedes Moment im allgemeinen und im besonderen beseitigt oder anderweit geregelt werden, das die Tortur zu einer so gefährlichen Einrichtung macht. Einen anderen Ausweg gibt es nicht. Und vor allem will ich den Fürsten klarmachen, dass das eine Gewissenspflicht ist, um deretwillen nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Ratgeber und Beichtväter vor dem höchsten Richter werden Rechenschaft ablegen müssen, wenn sie mit Nichtachtung und Stillschweigen darüber hinweggehen. Ich verlange gar nicht, dass sie mir Glauben schenken. Sie sollen nur ihre Theologen zu Rate ziehen, da werden sie finden, dass man mit Menschenblut nicht Kurzweil treiben darf und dass unsere Köpfe keine Spielbälle sind, mit denen man so ohne weiteres zum Vergnügen leicht-

10 Vgl. dazu Heinz Zahrnt, Spiritualität und Politik – zum Beispiel Friedrich Spee, in: Theo G.M. van Oorschot (Hg.), Friedrich Spee (1591–1635). Düsseldorfer Symposion zum 400. Geburtstag. Neue Ergebnisse der Spee-Forschung, Bielefeld 1993, 10–29, hier 16–18. 11 Zum Aufbau siehe die Magisterarbeit von Navina Kleemann, Friedrich Spee: Cautio Criminalis (1631). Entstehung, zeitlicher Hintergrund, Wirkung, Münster 2008, verfügbar unter https://www.historicum.net/themen/hexenforschung/themen texte/magisterarbeiten/artikel/Friedrich_Spee_Cautio_Criminalis_1631_Entstehung_ zeitlicher_Hintergrund_Wirkung/ (Download 28.08.2016). 12 Spee bezieht sich auf das Gleichnis Mt 13,24–30. Dieses diente einerseits als Legitimation der Inquisition, wurde andererseits von den Gegnern der Inquisition und der Hexenprozesse gebraucht, um Langmut und Toleranz zu fordern.

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fertig um sich werfen darf, wie es jetzt vielleicht gar manches trefflichen Fürsten schlechter Inquisitor tut.«13

Spee argumentiert mit der Rationalität und dem Naturrecht, die ungerechte Prozesse verbieten. Hier wirft er den Richtern leichtfertigen Umgang mit menschlichem Leben vor und warnt sie vor dem Jüngsten Gericht. Seine Motivation ist die Nächstenliebe, wie er selbst an anderer Stelle schreibt. 2.3 Johann Matthäus Meyfart14 Rezeption in breiterem Stil erfuhr die »Cautio Criminalis« durch die »Christliche Erinnerung« Meyfarts. Der Pfarrerssohn wurde 1590 in Jena geboren und studierte Philosophie und Theologie bei angesehenen lutherisch-orthodoxen Theologen. Seit dem WS 1616/17 lehrte er als Professor am Coburger Casimirianum, einem akademischen Gymnasium, das er zeitweilig auch als Rektor leitete. In Coburg kam er auch mit Hexenprozessen in Berührung, ohne aktiv daran beteiligt gewesen zu sein. In dieser Zeit verfasste er das Manuskript zu seinem Werk gegen die Hexenprozesse. Nachdem er 1633 eine Professur an der Erfurter Universität angetreten hatte, ließ er das Buch 1635 – unter Nennung seines Namens – publizieren. Meyfart argumentierte darin theologisch und politisch, sein Stil war leidenschaftlicher als der von Spees wissenschaftlicher Abhandlung. Sein beinahe prophetisch zu nennender Protest aus Nächstenliebe und christlichem Gewissen wandte sich wie Spee gegen das Prozessverfahren, verband damit allerdings auch deutliche Fürstenkritik. 1642 starb Meyfart, und sein Buch geriet zeitweilig in Vergessenheit. Der Textauszug stammt aus Kapitel 12 der »Christlichen Erinnerung«15, modernisiert von der Verfasserin: »[98] Nun aber ist der gewöhnliche Hexenprozess ein solches Werk, in welchem durch Gottes Verhängnis aus Marterzwang und Sinnenbetörung derer, die man peinigt, auch Bosheit, Hass, Missgunst und Schwachheit der Menschen, sowohl der Gepeinigten als der Zeugen, Richter und Folterer, viel unschuldige Personen, denen alle Verteidigungsmittel genommen, können in greuliche Schande gestürzt und zuletzt gar um das Leben gebracht, ihre Blutsverwandten zu Witwern, Witwen und Waisen

13 Text bzw. Übersetzung aus Wolfgang Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, München 21993, 385f. 14 Zu Person und Werk siehe grundlegend Erich Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987 und Markus Schmid, Eine kritische Stimme zur Hexenverfolgung: Johannes Matthäus Meyfarts Christliche Erinnerung von 1635, in: Skriptum 2 (2012), Nr. 2, URN: urn:nbn:de:0289-2012110259 [26.08.2016]. 15 Text verfügbar als digitalisierte Ausgabe der Herzog August Bibliothek unter http://diglib.hab.de/drucke/323-5-theol-2/start.htm (Datum des Zugriffs: 26.08.2016).

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gemacht; und über dieses ganze Häuser, Geschlechter, Stämme, Flecken und Städte unbilligerweise verödet und ausgerottet werden. Darum kann in dem Gewöhnlichen Hexenprozess keine christliche Obrigkeit in welchem Stand oder Land sie sein, aus den bloßen Anzeigungen, Benennungen und Bekenntnissen den Gefangenen und Gemarterten gerichtlich mit einfangen, viel weniger peinlich mit Foltern verfahren. […], und ich halte dafür, der Teufel, welcher ein Lügner ist von Anfang und ein Vater der Lügen, unterstehe sich nicht zu verneinen. Denn er weiß, wie hoch das menschliche Blut in den Augen Gottes geschätzet wird dergestalt, dass um der Erhaltung des menschlichen Bluts CHRISTUS JESUS von dem Himmel sich hernieder gelassen, ein unbeflecktes menschliches Blut in dem keuschen Leib der jungfräulichen Mutter annehmen und dasselbige auf den Fronaltar des heiligen Kreuzes aufopfern und vergießen müssten. Er weiß, wie stark Gott das Blut der Menschen bewahrt und verschont haben will, dergestalt, dass, wer seinen Nächsten nur heimlich schlägt, verflucht sein soll, und alles Volk spricht Amen Deut. 27 V. 24.«

Auch Meyfart kritisiert die Prozessführung und warnt die Obrigkeit vor den Folgen dieser ungerechten Prozesse. Zugleich zeigt er unter Verweis auf Gottes Erlösungswerk in Jesus Christus den unendlichen Wert menschlichen Lebens vor Gott auf. 3 Fazit Die hier aufgeführten Theologen können als Vertreter menschenrechtlicher Ideen verstanden werden, wenn sie Folter als Mittel im Gerichtsprozess ablehnen. Sie sind sich einig, dass Folter nicht der Wahrheitsfindung dient, und in den Hexenprozessen auch gar nicht dienen soll, da das Urteil im Vorhinein feststeht. Sie alle plädieren für eine vernunftgemäße und rechtstaatliche Prozessführung in den Hexenprozessen, die sie insgeheim prinzipiell ablehnen, da sie den Vorwurf der Hexerei für unvernünftig erachten. Sie argumentieren alle mit der Bibel, der christlichen Tradition, der Nächstenliebe und dem christlichen Gewissen, die sie zu Gegnern von Hexenprozessen machen. Der Kontext der Hexenverfolgungen zwang sie, sich dafür einzusetzen, die Prozessopfer als Menschen zu betrachten, denen eine menschenwürdige Behandlung im Prozess zusteht. Bemerkenswert ist auch der konfessionsübergreifende Konsens: Nächstenliebe, Solidarität und Einsatz für Rechtstaatlichkeit sind nicht an konfessionelle Dogmen o.Ä. gebunden, sie verbinden Menschen als Menschen. Wir können hier christlich geprägte Vorläufer von Art. 5 der Menschenrechtserklärung sehen. In den Mahnungen und Warnungen an die Obrigkeiten, bei Meyfart sogar unter Androhung der Höllenstrafe im Jüngsten Gericht (vgl. Kapitel 36), scheint auch Art. 3 auf. Im Unterschied zur UN-Charta atmen die oben zitierten Texte das christliche Weltbild, der Einsatz für die Opfer erfolgt als christliche Compassion. Die Wirkungsgeschichte kann hier nicht nachgezeichnet werden. Allerdings wurden die Schriften Anfang des 18. Jahrhunderts von Christian

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Thomasius (1655–1728) im Kontext seiner Widerlegung des Hexenglaubens rezipiert, so dass sie damit eine späte Würdigung und Realisierung erfuhren. Dr. Heidrun Dierk ist Professorin für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

3.7 Gerhard Kruip

Asyl: Menschenrechte zwischen Unbedingtheit und Zumutbarkeit

1 Einleitung Am Morgen des Tages, an dem ich diesen Beitrag zu schreiben begann, stand plötzlich ein verzweifeltes junges Mädchen vor unserer Tür, die älteste Tochter eines Ehepaars, das mit drei Kindern aus Syrien geflohen war, in Deutschland subsidiären Schutz bekommen hatte und jetzt in unserer Straße wohnt. Das Mädchen bat meine Frau, zu ihnen zu kommen, weil ihre Mama total verzweifelt war. Es stellte sich heraus, dass sie einem Nervenzusammenbruch nahe war, weil sie gerade erfahren hatte, dass ihr Schwager in Aleppo von einer Bombe getroffen worden war und ihre jüngste Schwester mit zwei kleinen Kindern, eines davon behindert, zurückließ. Die große Trauer und Verzweiflung dieser syrischen Familie hat uns sehr berührt, und das aus zwei Gründen: Durch die nachbarschaftlichen Kontakte hatten wir uns angefreundet, fühlten uns durchaus mit betroffen und haben mit dieser Familie getrauert. Genauso betroffen, ja fast erschrocken waren wir aber durch die damit verbundene Erfahrung, dass es uns erst durch eine größere menschliche Nähe möglich wurde, die wirkliche Bedeutung einer solchen Todesnachricht erfassen zu können. Wie oft hören wir in den Nachrichten von -zig Menschen, die durch Krieg oder terroristische Anschläge etc. ums Leben kommen, nehmen dies mehr oder weniger gleichgültig zur Kenntnis und haben kein Gefühl dafür, dass auch der Tod dieser Menschen für ihre Freunde und Angehörigen eine katastrophale Nachricht ist, auf die man eigentlich nur mit großem Mitgefühl reagieren kann. Im Jahr 2015 sind so viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen und haben so viele Menschen in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt wie seit Beginn der 1990er Jahre nicht mehr. Viele von ihnen haben schwere Schicksale erlitten und auf der Flucht viel durchgemacht. Die größte Gruppe unter ihnen sind Menschen, die vor dem verheerenden Krieg in Syrien geflohen sind. Zunächst reagierten große Teile der deutschen Bevölkerung mit einer großartigen »Willkommenskultur«. Sie hat jedoch im Laufe der Zeit wieder erheblich abgenommen. Politikerinnen und Politiker am rechten Rand, aber auch innerhalb der C-Parteien haben Angela Merkel scharf kritisiert, einer nationalistisch-egoistischen Politik das Wort geredet und sie dadurch zu einer restriktiveren Politik gegenüber den Flüchtlingen gezwungen. Vor diesem Hintergrund ist es ange-

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bracht, dass wir uns die Frage stellen: Welche moralischen Rechte haben Flüchtlinge eigentlich – und welche Pflichten haben wir ihnen gegenüber? 2 Allgemeine Menschenrechte als Grundlage In der UN-Menschenrechtserklärung von 19481 heißt es im Artikel 13: »Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.« An der Formulierung fällt sofort auf, dass hier zwar von einem Recht auf Auswanderung, nicht aber von einem diesem korrespondierenden Recht auf Einwanderung die Rede ist. Wohin aber sollen Menschen auswandern, wenn sie nirgendwohin einwandern können? Zwar gibt es in Artikel 14 auch das Recht auf Asyl; dieses ist aber auf die Flucht vor »Verfolgung« eingegrenzt. Die Sozialenzyklika Pacem in Terris (1963) von Papst Johannes XXIII., in der sich die Katholische Kirche erstmals die Menschenrechte zu eigen machte, ist hier konsequenter: Dort ist von einem »Recht auf Auswanderung und Einwanderung« die Rede: »Jedem Menschen muß das Recht zugestanden werden, innerhalb der Grenzen seines Staates seinen Wohnsitz zu behalten oder zu ändern; ja, es muß ihm auch erlaubt sein, sofern gerechte Gründe dazu raten, in andere Staaten auszuwandern und dort seinen Wohnsitz aufzuschlagen […].« Interessant ist die Begründung: »Auch dadurch, daß jemand Bürger eines bestimmten Staates ist, hört er in keiner Weise auf, Mitglied der Menschheitsfamilie und Bürger jener universalen Gesellschaft und jener Gemeinschaft aller Menschen zu sein« (PT 25). Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 spricht übrigens in ihrer Präambel von »der angeborenen Würde und den gleichen und unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen«, kann sich aber trotzdem nicht zu einem »Recht auf Einwanderung« durchringen. Den wenigsten Katholiken (auch nur wenigen katholischen Amtsträgern oder katholischen Politikern) dürfte bewusst sein, dass auch der Katechismus der Katholischen Kirche in dieser Frage den Migranten sehr weit entgegenkommt: »Die wohlhabenderen Nationen sind verpflichtet, so weit es ihnen irgend möglich ist, Ausländer aufzunehmen, die auf der Suche nach Sicherheit und Lebensmöglichkeiten sind, die sie in ihrem Herkunftsland nicht finden können. Die öffentlichen Autoritäten sollen für die Achtung des Naturrechts sorgen, das den Gast unter den Schutz derer stellt, die ihn aufnehmen.« Freilich gibt es auch gewisse Einschränkungen: »Die politischen Autoritäten dürfen im Hinblick auf das 1 Der Text findet sich z.B. auf http://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemei nen-erklaerung-der-menschenrechte.

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Gemeinwohl, für das sie verantwortlich sind, die Ausübung des Einwanderungsrechtes verschiedenen gesetzlichen Bedingungen unterstellen und verlangen, daß die Einwanderer ihren Verpflichtungen gegenüber dem Gastland nachkommen« (KKK 2241).2 3 Allgemeine Pflichten, spezielle Pflichten und moralische Arbeitsteilung Im Hintergrund der unterschiedlichen Vorstellungen der Rechte der Migranten stehen verschiedene Auffassungen von der moralischen Rechtfertigung von Staaten. Der klassische (national-)liberale Ansatz geht von der Fiktion einer Gruppe von Menschen mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen (Sprache, Kultur, Religion) aus, die unter sich einen Gesellschaftsvertrag zur Verbesserung der gegenseitigen Kooperation und zum wechselseitigen Vorteil abschließen (nach der klassischen vertragstheoretischen Staatstheorie, wie sie u.a. Thomas Hobbes vertrat). Der Staat ist dann diejenige Institution, die aus dem Eigeninteresse der Vertragsschließenden heraus als Gewährleister von Rechten installiert wird, aber eben nur zugunsten dieser Vertragspartner. Menschen außerhalb dieses so begründeten Staates haben zunächst einmal keine Rechte, um die sich dieser Staat und seine Bürgerinnen und Bürger zu kümmern hätte. Als Konsequenz haben die Pflichten gegenüber den eigenen Staatsbürgern eine eindeutige Priorität gegenüber den Pflichten Ausländern gegenüber. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Vorstellung vom Staat als einer Einrichtung zum wechselseitigen Vorteil konsequenterweise dazu führen müsste, Menschen, die für diesen Staat und die Mitbürger gar keine Vorteile bereitstellen können, oder nur sehr viel weniger, als sie selbst in Anspruch nehmen, z.B. schwer behinderte Menschen, gar nicht als Vertragspartner akzeptiert werden dürften. Wenn die Zugehörigkeit zu einem solchen Staat an anderen Kriterien (Abstammung, Geburtsort etc.) festgemacht wird, ist dies schon ein Hinweis darauf, dass sich die Idee des Staates nicht nur rein vertragstheoretisch rekonstruieren lässt, sondern moralische Ansprüche auf Zugehörigkeit, die letztlich universell sind, ebenfalls eine Rolle spielen. Auch die Katholische Soziallehre geht davon aus, dass das Gemeinwohl die Existenz eines Staates begründet (PT 54) und dass »das Gemeinwohl vor allem in der Wahrung der Rechte und der Pflichten der menschlichen Person besteht« (PT 60). Diese Gemeinwohlorientierung und entsprechende Pflichten sind jedoch von vornherein nicht auf einen Staat oder eine Nation beschränkt. Denn »die Staatsgewalt [ist] ihrer Natur nach nicht dazu eingesetzt […], die Menschen in die Grenzen der jeweiligen politischen Gemeinschaft einzuzwängen, sondern vor allem für das Ge2 Online unter http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_INDEX.HTM. Die Nr. 2242 findet sich im Dritten Teil, zweiter Abschnitt, zweites Kapitel, Artikel 4, V.

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meinwohl des Staates zu sorgen, das von dem der ganzen Menschheitsfamilie gewiß nicht getrennt werden kann« (PT 98). Schon in Mater et Magistra hatte Johannes XXIII. 1961 betont: »Wenn nun die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in allen Teilen der Welt heute so eng geworden sind, dass sie sich gleichsam als Bewohner ein und desselben Hauses vorkommen, dann dürfen die Völker, die mit Reichtum und Überfluss gesättigt sind, die Lage jener anderen Völker nicht vergessen, deren Angehörige mit so großen inneren Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dass sie vor Elend und Hunger fast zugrunde gehen und nicht in angemessener Weise in den Genuss der wesentlichen Menschenrechte kommen« (MM 157). Auch die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et spes prangert »allzu große wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheiten zwischen den Gliedern oder Völkern in der einen Menschheitsfamilie« an, denn »sie widersprechen der sozialen Gerechtigkeit […]« (GS 29). Aus der Allgemeinwidmung der Güter an die ganze Menschheit (GS 69,76) ergebe sich zwingend die Forderung von Gerechtigkeit und Liebe »innerhalb der Grenzen einer Nation und im Verhältnis zwischen den Völkern«3. Geht man von dieser Idee der Einheit der Menschheitsfamilie und vorstaatlicher Menschenrechte aller Menschen aus, dann müssen auch die Grenzen der Staaten und das Recht von Staaten, Migranten abzuwehren, relativiert werden. Ähnlich wie auf dem Privateigentum lastet dann auch auf den Staatsgrenzen eine soziale Hypothek. Denn es genügt ja nicht, nur die Gleichheit der Rechte für alle festzustellen. Die Rechte müssen auch einlösbar sein. Es muss klar sein, wer die den Rechten entsprechenden Pflichten zu übernehmen hat. Bei negativen Rechten wie etwa dem Recht, nicht getötet zu werden, ist das weniger schwierig, denn ihnen entsprechen Unterlassungspflichten, die einfach allen anderen aufgebürdet sind. Bei positiven Rechten wie etwa dem Recht auf Nahrung ist das nicht so einfach, weil nicht so klar ist, wer die Pflicht hat, einen Hungernden zu versorgen. Es wäre wenig praktikabel, wenn dies zugleich alle anderen täten. Der Hungernde kann aber sein Recht auf Nahrung nicht realisieren, wenn niemand sich zuständig fühlt, weil alle erwarten, dass schon jemand anderer ihm helfen wird. Es müssen deshalb Zuständigkeiten für den Schutz von negativen Rechten und die Gewährleistung positiver Rechte festgelegt, entsprechende Institutionen geschaffen und entsprechende Maßnahmen gemeinsam organisiert werden. Dabei werden nicht alle die gleichen Aufgaben übernehmen können. Universell gültigen positiven Rechten entsprechen nicht universelle Pflichten. Für

3 Vgl. hierzu vertiefend Gerhard Kruip, The Unity of the Human Family. A Foundation of Global Justice, in: Fabian Klose / Mirjam Thulin (Hg.), Humanity. A History of European Concepts in Practice from the 16th Century to the Present, Göttingen 2016, 267–283.

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die Gewährleistung positiver Rechte braucht es eine differenzierte Zuweisung unterschiedlicher Pflichten, eine »moralische Arbeitsteilung«.4 In vormodernen, traditionellen Lebensformen hatte es eine hohe Plausibilität, diese moralische Arbeitsteilung so zu organisieren, dass die den Rechten korrespondierenden Pflichten mit der räumlichen Entfernung vom Träger der Rechte abnahmen. Zunächst hatte man Verantwortung für die engsten Verwandten, für Nachbarn und Freunde, für das eigene Dorf, erst danach für Mitbürger im eigenen Land und, wenn überhaupt, erst am Ende für »Fremde« im Sinne von »Ausländern«. Henry Shue hat jedoch gezeigt, dass räumliche Distanz kein überzeugendes Kriterium für moralische Arbeitsteilung sein kann.5 Es erschien nur deshalb als plausibel, weil es damals dem Prinzip der Kausalität entsprach: Nur durch räumliche Nähe konnte in der Regel geholfen werden, nur bei räumlicher Nähe ergaben sich Beziehungen mit wechselseitiger Verantwortung. Das ist aber in der heute stark globalisierten Welt, die gewissermaßen zu einem »global village« geworden ist, nicht mehr der Fall. Heute ergeben sich moralisch relevante Effekte und Möglichkeiten auch über große Distanzen hinweg. Erst recht gilt dies für moralische Wirkungen und Möglichkeiten internationaler Konzerne, internationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen, großer Staaten und weltweit vernetzter Medien. In einer solchen Welt haben alle Menschen Rechte, aber eben zugleich die Pflicht, einen ihren Möglichkeiten entsprechenden Beitrag dazu zu leisten, dass eine solche moralische Arbeitsteilung über Organisationen und Institutionen organisiert wird, die die Gewährleistung der Rechte aller Menschen bewerkstelligen können. »Besondere Pflichten« ergeben sich nicht aus räumlicher oder anderen Formen von Nähe, sondern aus der jeweils geltenden und praktizierten moralischen Arbeitsteilung, sie sind spezifisch verteilte allgemeine Pflichten.6 Fällt die moralische Arbeitsteilung aus oder verändert sie sich, verändert sich auch die Zuweisung von besonderen und allgemeinen Pflichten. Dort, wo ein gut organisiertes Rettungswesen existiert, hat jemand, der einen Unfall beobachtet, die Pflicht, die Rettungssanitäter zu alarmieren und bis zu deren Ankunft erste Hilfe zu leisten. Gibt es ein solches Rettungswesen nicht, muss er mehr leisten, z.B. die Verletzten selbst in ein Krankenhaus fahren oder möglichweise sogar mehr tun, als die typische erste Hilfe verlangt – und, langfristig gesehen, sich für die Etablierung eines Rettungswesens einsetzen.

4 Hierzu Henry Shue, Mediating Duties, in: Ethics 98 (1988), 687–704. 5 Ebd., 691–695 und Robert E. Goodin, What is so special about our fellow countrymen?, in: Ethics 98(1988), 663–686, hier 681. 6 So vor allem ebd., 678.

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4 Moralische Arbeitsteilung, Nationalstaaten und Rechte der Migranten Von daher lässt sich nun auch die Rechtfertigung von (National-)Staaten neu einordnen.7 Denn es ist sofort einsichtig, dass sich die Menschenrechte leichter realisieren lassen, wenn nicht ein Weltstaat dies übernimmt, sondern die »moralische Arbeitsteilung« kleinere Einheiten vorsieht. Deren Arbeit und Organisation kann auch einfacher demokratisch gestaltet werden. Es ist also sinnvoll, eine Vielzahl von Staaten entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip zu errichten und diese möglichst so zusammenzustellen, dass sich ihre Bürger (über eine oder mehrere gemeinsame Sprachen) gut miteinander verständigen können. (National-)Staaten sind nach dieser Vorstellung nicht mehr voneinander unabhängige Ergebnisse von Verträgen ihrer Bürger, sondern Ergebnis einer gelungenen moralischen Arbeitsteilung auf Weltebene zur Gewährleistung der Rechte aller Menschen, und zwar sowohl durch ihre Organisation als auch durch ihre Grenzen, durch die bestimmten Staaten bestimmte Pflichten gegenüber bestimmten Menschen zugewiesen werden. Diese Pflichten sind aber keine speziellen Pflichten, sondern nichts anderes als spezifisch zugeteilte, allgemeine Pflichten. Selbstverständlich sind Staaten historisch nicht nach dieser Idealvorstellung errichtet worden. Aber genauso, wie die moralische Legitimität eines Staates daran hängt, ob er die Rechte seiner Bürger gewährleistet, so hängt die Legitimität der Aufteilung der Welt in Staaten und die Zusammenarbeit unter den Mitgliedern der Staatengemeinschaft daran, dass tatsächlich allen Menschen ihre Rechte gewährleistet werden. Das hat dann aber zur Konsequenz, dass die Geltung der Rechte der Menschen innerhalb eines bestimmten Staates nicht allein von der Existenz oder dem guten Funktionieren dieses Staates abhängen darf. Vielmehr gilt dann: Wenn Menschen durch ihre Staaten nicht geschützt werden, obwohl die Staaten genau dafür errichtet wurden, dann fallen die entsprechenden, nicht mehr wahrgenommenen Pflichten auf die Menschheitsfamilie als Ganze zurück. Nicht erfüllte spezifisch zugewiesene allgemeine Pflichten müssen also neu verteilt werden. Denn, um nochmals Pacem in terris zu zitieren: »Auch dadurch, daß jemand Bürger eines bestimmten Staates ist, hört er in keiner Weise auf, Mitglied der Menschheitsfamilie und Bürger […] jener Gemeinschaft aller Menschen zu sein« (PT 25). Derzeit wird das Thema interessanterweise auch unter dem Stichwort »responsibility to protect«, einer internationalen Verantwortung aller Staaten für Menschen, deren Staaten versagen, diskutiert.8 Allerdings darf dieser Ansatz nicht allein auf die Rechtfertigung humanitärer Interventionen Anwendung finden. Er muss analog auch auf die Probleme bezogen werden, die sich durch Migration ergeben. Angesichts der mas7 Zum Folgenden besonders ebd., 682–686. 8 Vgl. dazu neuerdings Alex J. Bellamy / Timothy Dunne, The Oxford handbook of the responsibility to protect, Oxford 2016.

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siven Verletzung von Menschenrechten in vielen Staaten, die nicht nur in politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung bestehen, sondern auch in der Verletzung grundlegender positiver Rechte wie den Rechten auf Nahrung, Gesundheit, Bildung etc., muss es zu einer Neuverteilung von Pflichten kommen, durch die diese Rechte effektiv gewährleistet werden können. Pflichten gegenüber Staatsbürgern haben dann keine Priorität mehr gegenüber Pflichten anderen Menschen gegenüber, wenn diejenigen, die diese Pflichten ursprünglich hatten, sie nicht erfüllen (können).9 5 Schlussfolgerung Im Blick auf die Migrationskrise des Jahres 2015 ergibt sich daraus, dass man die Aufnahme von Flüchtlingen sicherlich nicht nur den Nachbarstaaten Syriens allein aufbürden darf, auch nicht nur denjenigen europäischen Staaten, bei denen die Flüchtlinge auf Grund ihrer geographischen Lage zuerst ankommen (Griechenland, Italien). Die ganze Welt, vor allem die reicheren Länder in Nordamerika und Europa und natürlich auch Deutschland sind hier in der Pflicht. Ideal wäre sicherlich ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen mit geteilter Verantwortung. Dies müsste letztlich zu einer Stärkung des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) und einem verbindlichen Verteilerschlüssel führen, durch den festgelegt wird, welches Land im Falle von Flüchtlingskrisen wie viele Flüchtlinge aufzunehmen hätte. Lässt sich dieses aber nicht organisieren, und danach sieht es leider derzeit aus, hat Deutschland durchaus weiterhin die Pflicht zur Aufnahme von Migranten, jedenfalls bis zu einer schwer zu definierenden Zumutbarkeitsgrenze, die jedoch 2015 und 2016 sicherlich noch nicht erreicht, geschweige denn überschritten worden ist. Darüber hinaus ist weiterhin daran zu arbeiten, die Fluchtursachen zu bekämpfen, d.h. Kriege zu beenden bzw. ihnen vorzubeugen, Armut und Not zu lindern, die Auswirkungen des Klimawandels zu mildern, oder, allgemein gesagt, Weltpolitik als »Weltinnenpolitik« zu begreifen, wie dies Weltbürger wie Carl Friedrich von Weizsäcker, Jürgen Habermas oder Ulrich Beck schon in den 1990er Jahren gefordert haben.10 Voraussetzung dafür, dass das ge9 Zu dieser Sichtweise siehe detaillierter: Brian Barry / Robert E. Goodin (Hg.), Free Movement. Ethical Issues in the Transnational Migration of People and of Money, Pennsylvania 1992; Joseph H. Carens, Aliens and Citizens. The Case for Open Borders, in: Will Kymlicka (Hg.), The Rights of Minority Cultures, Oxford, 1995, 331–349 und vor allem Goodin, What is so special about our fellow countrymen?, a.a.O. (Anm. 4). 10 Zur Vertiefung der Thematik vgl. Markus Babo, Rechte der Flüchtlinge und die Verantwortung der Staaten in einer globalen Solidargemeinschaft, in: ET-Studies 7 (2016), 213–226 und Marianne Heimbach-Steins, Grenzverläufe gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Migration – Zugehörigkeit – Beteiligung (Gesellschaft, Ethik, Religion. Neue Folge Band 5), Paderborn 2016.

Asyl: Menschenrechte zwischen Unbedingtheit und Zumutbarkeit

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lingen kann, ist freilich, dass alle Mitglieder der Menschheitsfamilie füreinander Mitgefühl entwickeln und die von Papst Franziskus bei seinem Besuch auf Lampedusa am 8. Juli 2013 angeprangerte »Globalisierung der Gleichgültigkeit«11 überwunden wird. Dr. Gerhard Kruip ist Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

11 Wortlaut seiner Predigt auf http://de.radiovaticana.va/storico/2013/07/08/papst predigt_auf_lampedusa_%E2%80%9Ewo_ist_dein_bruder%E2%80%9C/ted-708497.

3.8 Wolfhard Schweiker

Inklusion als Menschenrecht Grundlagen, Kontexte und religionsdidaktische Reflexionen

In einer Welt wachsender Ökonomisierung, Globalisierung und Vertreibung breiten sich Exklusionsprozesse aus und entwickeln eine zunehmende soziale Sprengkraft. Auch die sich weiter ausdifferenzierenden Gesellschaftsstrukturen und die weltweiten Migrationen verstärken vorhandene Ausgrenzungstendenzen. Sie äußern sich in gesellschaftlichen Phänomenen wie Ausländer-, Fremden- und Behindertenfeindlichkeit, Homophobie, Antisemitismus oder Antiziganismus. In unterschiedlicher Gestalt kommen sie aktuell unter anderem in bürgerlichen Protestbewegungen oder in den Wahlerfolgen rechtspopulistischer Parteien zum Ausdruck. Die Inklusions- und Exklusionsthematik1 steht im Zentrum gesellschaftlich-sozialer Herausforderungen. Sie gilt heute als »eine Leitunterscheidung der Gesellschaftstheorie«2 und als »die soziale Frage der Gegenwart«3. Heiner Bielefeldt, Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg, erkennt in der Inklusion nicht nur einen neuen Leitbegriff, sondern einen umfassenden Umbrella-Begriff, wenn er feststellt: »Es bietet sich an, darin eine zeitgenössische Fassung dessen zu sehen, was früher mit ›Brüderlichkeit‹ gemeint war.«4 Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft erkennt in der Inklusion nach dem Pisa-Schock und der flächendeckenden Einführung der Ganztagsschule eine »dritte Revolution« im bundesdeutschen Bildungswesen und innerhalb der Erziehungswissenschaft.5 1 Dieser Beitrag bezieht sich auf Erkenntnisse der Studie: Wolfhard Schweiker, Prinzip Inklusion: Grundlagen einer interdisziplinären Metatheorie in religionspädagogischer Perspektive, Göttingen 2017. 2 Rudolf Stichweh, Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, 179. 3 Martin Kronauer, Inklusion – Exklusion. Eine historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart, in: Ders. (Hg.), Inklusion und Weiterbildung. Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart, Bielefeld 2010, 24–58. 4 Heiner Bielefeldt, Inklusion als Menschenrechtsprinzip. Perspektiven der UNBehindertenrechtskonvention, in: Johannes Eurich / Andreas Lob-Hüdepohl (Hg.), Inklusive Kirche, Stuttgart 2011, 64–79, hier 74. 5 Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Hg.), Inklusion als Herausforderung für die Erziehungswissenschaft. Aufruf zu einer Debatte, 16.07.2015, 1.

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Die Menschenrechtsbildung verfolgt das Ziel, eine Kultur der Menschenrechte zu fördern. »Dabei geht es einerseits darum, dass Menschenrechte bekannt werden, andererseits auch darum, dass sie respektiert und verteidigt werden.«6 Dieser Beitrag geht der Frage nach, was das Menschenrecht auf Inklusion für die religiöse Bildung bedeutet. Er reflektiert theoretische Grundlagen, klärt den Menschenrechts- und Bildungskontext des neuen Leitbegriffs der Inklusion und skizziert, wie dieser in Bildungsprozessen didaktisch angemessen berücksichtigt werden kann. 1 Theoretische Grundlagen In diesem Beitrag geht es um die Zusammenhänge der drei grundlegenden Begriffe Inklusion, Menschenrecht und religiöse Bildung. In der Dynamik des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurses diversifizierte sich der Inklusionsbegriff so weit, dass er sich von einer Lehrformel in eine Leerformel verwandelt hat, entgegen der ursprünglichen Intention, mit der Inklusion eine Qualitätsverbesserung des pädagogischen Integrationsbegriffs zu verbinden.7 Im Kontext des Menschenrechts bleibt der pädagogische Inklusionsdiskurs8 weitgehend ausgeklammert, während religionspädagogische und rechtliche Bezüge eingehender in den Blick genommen werden. 1.1 Inklusion als neues Menschenrecht Die internationalen Menschenrechte kennen seit 1948 ein umfängliches Grundrecht auf Zugang, Partizipation und Mitwirkung, seit 1989 ein Grundrecht auf Integration bzw. Reintegration und seit 2006 – nach vier Dekaden der Menschenrechtsentwicklung – ein Grundrecht auf Inklusion. Bei dieser Entwicklung lassen sich in internationalen Deklarationen und Leitlinien Spuren vom impliziten zum zunehmend elaborierten expliziten Inklusionsbegriff entdecken. Die Standardregeln der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen 1993 markieren den begrifflichen Wendepunkt von der Integration zur Inklusion, während die Salamanca Erklärung 1994 der Weltkonferenz das Konzept der Inklusion eingehend entfaltet. Das Neue an der Inklusion waren dabei vor allem die neu zu schaffenden Strukturen, die in den »Guidelines for Action« www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Stellungnahmen/2015_Inklusion_Positio nierung.pdf. 6 Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Menschenrechte. Materialien für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen, Berlin 2016. 7 Siehe Andreas Hinz, Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 9/2002, 354–361. 8 Vgl. Schweiker, Prinzip (s.o. Anm. 1), 87–232.

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der UNESCO 1994 eingehend beschrieben wurden. Es wurde ein Paradigmenwechsel eingeleitet, aber noch kein neues Recht auf Inklusion begründet. Erst 2006 kam es mit der Behindertenrechtskonvention (UNBRK)9 zu einer Verrechtlichung der Inklusion. In der Analyse der UNBRK wurde deutlich, dass der explizite Inklusionsbegriff für die gesamte Konvention leitend und mit den übergeordneten zentralen Menschenrechtsprinzipien der Würde und Nichtdiskriminierung (ebd. Art. 3), aber auch mit anderen Rechten in der UN-BRK (Art. 19; 24; 32) sachlich eng verbunden ist. Das Menschenrecht auf Inklusion wird in der UN-BRK für Menschen mit Behinderungen konkretisiert, bezieht sich aber unteilbar als universales Grundrecht auf alle Menschen und alle öffentliche Lebensbereiche. Inklusion als Menschenrecht bezieht sich auf die Universalität, Egalität und Unteilbarkeit der Grundrechte und die Diversität aller Menschen (weites Inklusionsverständnis). Die UN-BRK ist die erste Konvention im Völkerrecht, die nicht nur ein individuelles Recht zuspricht, sondern die Vertragsstaaten kollektiv verpflichtet, angemessene Vorkehrungen seiner Verwirklichung zu treffen (effective inclusion). Inklusion kann rechtlich als Menschenrecht bestimmt werden, das sich an der Diversität aller Menschen orientiert, insbesondere von exkludierten und benachteiligten Personen zunehmende vollständige, effektive und aktive Partizipationen sowie (barriere-)freien Zugang ermöglicht und in gleichem Maße Exklusion in allen Bereichen des Lebens verringert.10 1.2 Geltung und Wirksamkeit des Rechts auf Inklusion Das Verhältnis der UN-BRK zum deutschen Bundesrecht wird aufgrund monistischer und dualistischer Rechtsauffassungen strittig beurteilt. Das Bundesverfassungsgericht favorisiert jedoch die monistische Auffassung, der zufolge das Völkerrecht durch die Ratifizierung via Vollzugsbefehl des Vertragsgesetzes zum Bestandteil des deutschen Rechts wird und auf das deutsche Recht unmittelbar durchschlägt. Damit besteht Gleichrangigkeit zwischen dem Menschenrecht der UN-BRK und dem Bundesrecht, gegebenenfalls ist auch der sogenannte interpretatorische Vorrang des Völkerrechts zu beachten. Die unmittelbare Gültigkeit der UN-BRK macht eine Anpassung der innerstaatlichen Rechtskorpora erforderlich, die noch längst nicht vollzogen ist. Auch ist die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, angemessene Vorkehrungen für eine inklusive Bildung zu schaffen, noch nicht eingelöst. Die Überprüfbarkeit und Kontrollierbarkeit der Umsetzungsverpflichtungen ist deutlich begrenzt. 9 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hg.), Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung, Berlin 2010. 10 Vgl. UN-BRK 2010, Art 3c und 26.

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Zu fragen ist, wie wirksam die Inklusionsrechte tatsächlich sind. Uwe Becker kritisiert in seiner Schrift »Die Inklusionslüge«11, dass Inklusion von der Politik in einer hochglanzpolierten Ankündigungs- bzw. Appellrhetorik inseriert wird, aber einer systematischen Sparpolitik folgend massiv unterfinanziert bleibt. Es wird eine aktive zivilgesellschaftliche Mitwirkung eingefordert, ohne einen Cent vom Kurs der Einsparpolitik und einer neoliberal ausgerichteten Ökonomie abzuweichen. Solange aber keine angemessenen personalen, strukturellen und pädagogischen Vorkehrungen getroffen werden, droht das Projekt Inklusion alle zu überfordern und gegen die Wand zu fahren. 2 Menschenrecht auf Inklusion im Kontext von Theologie und Bildung Zur Inklusion in theologischer Perspektive gibt es eine größere Zahl religionspädagogischer Beiträge. Gründliche systematisch-theologische Untersuchungen stehen jedoch noch aus. Das »Dass« einer theologischen Legitimation von Inklusion wird jedoch außer Frage gestellt. Es wurzelt in der bedingungslosen Anerkennung Gottes gegenüber jedem Menschen, die insbesondere durch die Theologumena der Gottebenbildlichkeit und der Rechtfertigung des fehlbaren Menschen entfaltet und begründet wird. Inklusion als gleiche Anerkennung des Fremden und Anderen lässt sich auf vielfältige Weise schöpfungstheologisch, anthropologisch, christologisch, ekklesiologisch und auch trinitätstheologisch entfalten.12 Die inclusio Dei erweist sich als die theologische Grundlage der inclusio hominis. Ein so bestimmtes Menschenbild verzichtet konsequent auf jede Form der Essentialisierung und der Ontologisierung (»Ableism«) der Gottebenbildlichkeit. Auf diese Weise können meritokratische Vorstellungen abgewehrt werden. Das Menschsein mit Besonderheiten ist Menschsein und nichts anderes. Darum gehören menschliche Besonderheiten ausnahmslos und ausgrenzungslos in jede Anthropologie. Offen und umstritten ist aber das »Wie« der Verwirklichung. »Wenn Inklusion aus christlicher Sicht unbedingt zu bejahen ist und wenn es dazu keine Alternative mehr geben kann, so sind damit doch längst nicht alle Fragen beantwortet.«13 Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist mit unauflöslichen Spannungen und mit anhaltenden Verletzungen des Menschenrechts auf Inklusion verbunden. Denn auf der einen Seite des Grabens steht das menschenrechtliche und theologische Sollen den 11 Uwe Becker, Die Inklusionslüge: Behinderung im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 22016, 15 und 182f. 12 Vgl. die theologischen Ausführungen in Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft, Gütersloh 2015, 38ff. und Schweiker, Prinzip (s.o. Anm. 1), 218–255. 13 Rainer Winkel / Friedrich Schweitzer, Die Sonderschulen abschaffen? Ein Pro und Kontra zur Inklusion von Behinderten an der Regelschule, in: Zeitzeichen 2012, H. 8, 12–15, 14.

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Realitäten des menschlichen Nicht-Wollens oder Nicht-Könnens auf der anderen Seite gegenüber. Auch wenn die menschenrechtsverletzende Sonderschulpflicht beispielsweise nun in den Novellierungen der Schulgesetze weitgehend abgeschafft ist, kann das Recht auf gemeinsame Beschulung aufgrund fehlender angemessener Vorkehrungen lange noch nicht allerorts realisiert werden. Andererseits wird es auch dort verwirkt, wo das gemeinsame Lernen formal eingelöst wird, es aber aufgrund mangelnder aktiver Teilhabe und Förderung zu Formen der exkludierenden Inklusion kommt. Darüber hinaus bleibt es in der Diskussion umstritten, ob eine volle Inklusion überhaupt möglich oder wünschenswert ist. Jedenfalls steht das Bildungssystem angesichts der in der UN-BRK (Art. 24) geforderten vollen und wirksamen Teilhabe vor langfristigen Transformationsprozessen. Bei ausreichender Finanzierung gilt es darum, Haltungen, Strukturen und Praktiken langfristig neu zu gestalten. Inklusion kommt nicht ohne ideelle wie auch materielle Solidarität aus. Sie bleibt auf die ausgleichende Gerechtigkeit einer sogenannten positiven Diskriminierung angewiesen. Dies kann am Befähigungsansatz von Martha Nussbaum14 plausibel aufgezeigt werden. Zum Gleichheitsprinzip der Anerkennung muss notwendigerweise das Ausgleichsprinzip hinzutreten. Beides, Gleichheit und Ausgleich, beschreiben eine gemeinsame, ungeteilte Aufgabe: »Die erste Antwort auf die Frage ›Wer hat die entsprechenden Pflichten?‹ lautet demnach, daß wir alle diese Pflicht haben.«15 Auf diesem Hintergrund ist Inklusion auch ganz zentral eine Bildungsaufgabe. Denn es geht darum, immer wieder neue Generationen zum wechselseitigen sozialen Einbezogensein zu befähigen. 3 Religionspädagogische und -didaktische Reflexionen Die religionspädagogische Reflexion von Inklusion beschränkte sich noch weitgehend auf religionsdidaktische Fragestellungen und Praxisfragen des schulischen Religionsunterrichts. Die theoretischen Anstöße der inklusiven Pädagogik wurden in religionspädagogischen Veröffentlichungen bislang erst in Ansätzen rezipiert. In der Entwicklung einer inklusiven Religionsdidaktik, die unter anderem einen Perspektivenwechsel von der Schulformspezifik zur Schülerorientierung zu vollziehen hat16, wurden schon unterschiedliche Schritte unternommen. Auf der Grundlage der von mir beschriebenen Bausteine 14 Siehe Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2010. 15 Ebd., 384. 16 Siehe Bernd Schröder / Michael Wermke (Hg.), Religionsdidaktik zwischen Schulformspezifik und Inklusion: Bestandsaufnahmen und Herausforderungen, Leipzig 2013.

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eines inklusiven Religionsunterrichts17 mit den Elementen der Individualisierung, inneren Differenzierung, Kooperation, Elementarisierung, Handlungsorientierung und vielfältige Aneignungsformen erweiterte Stefan Anderssohn dieses Modell insbesondere um die Entwicklungsorientierung zu einem »Haus der inklusiven Religionsdidaktik«18. Die Aufzählung der Prinzipien und Elemente macht bereits augenfällig, dass es sich hier nur um vereinzelte Bausteine handelt und nicht um ein schlüssiges, tragfähiges Gebäude einer inklusiven Religionsdidaktik. Rainer Möller kritisiert zu Recht, dass eine rein additive Verhältnisbestimmung von didaktischen Prinzipien zu kurz greift19. Die sechs Elemente wurden als ein erster fachdidaktischer Beitrag für die praktische Orientierung der Lehrenden konzipiert und zugleich betont: »Eine pädagogisch-theologische Grundlegung eines Gesamtkonzepts eines inklusiven RU und einer inklusiven Religionspädagogik steht jedoch noch aus.«20 Grundsätzlich besteht jedoch ein fachlicher Konsens, dass eine inklusive Didaktik eine heterogenitätssensible, allgemeine Didaktik zu sein habe21. Gleichzeitig bedarf es einer spezifischen »didaktischen Fundierung inklusiver Bildungsprozesse«, wie sie z.B. von Andrea Platte22 bereits vorgenommen wurde, ergänzt durch eine sonderpädagogische Expertise. Eine inklusive Didaktik bedarf auch fachspezifischer Kenntnisse, die in der Aus-, Fortund Weiterbildung erst noch ausreichend implementiert und erworben werden müssen. So betont unter anderem Karin Terfloth23: »Eine inklusive Unterrichtsdidaktik und -methodik beinhaltet daher sonderpädagogische Konzepte (wie z.B. Unterstützte Kommunikation, Basale Stimulation, etc.).« Praktiker bleiben im gemeinsamen Unterricht tagtäglich mit unterschiedlichen pädagogischen und didaktischen Dilemmata24 kon17 Vgl. Wolfhard Schweiker, Arbeitshilfe Religion inklusiv: Grundstufe und Sekundarstufe I. Basisband: Einführung, Grundlagen und Methoden, Stuttgart 2012, 30ff. 18 Vgl. zuletzt Stefan Anderssohn, Handbuch Inklusiver Religionsunterricht. Ein didaktisches Konzept. Grundlagen – Theorie – Praxis, Neukirchen-Vluyn 2016, bes. die Grafik 74. 19 Vgl. Rainer Möller, Guter (Religions-)Unterricht zwischen Kompetenzorientierung und inklusiver Didaktik. Münster 2012, 18. www.cimuenster.de/themen/ Religionsunterricht_Religionspaedagogik/Guter_Religions_Unterricht_Kompetenz orientierung_Inklusion_2012.pdf. 20 Schweiker, Arbeitshilfe (s.a. Anm. 17), 12. 21 Siehe Saskia Flake / Ina Schröder, Inklusive Pädagogik – Eine Herausforderung für die Religionspädagogik?!, in: Katharin Kammeyer u.a. (Hg.), Inklusion und Kindertheologie, Bd. 1: Inklusion, Religion, Bildung, Münster 2014, 30–64, hier 53. 22 Siehe Andrea Platte, Schulische Lebens- und Lernwelten gestalten: Didaktische Fundierung inklusiver Bildungsprozesse, Münster 2005. 23 Karin Terfloth, »Jeder macht einen Teil für die gemeinsame Sache«. Didaktische Ideen für den inklusiven Religionsunterricht, in: IRP (Hg.), Information und Material 2013/ 1, 41–46, hier 42. 24 Vgl. die in Schweiker, Prinzip Inklusion (s.o. Anm. 1), 150–163 sowie 272ff. beschriebenen pädagogischen bzw. religionspädagogischen Antinomien und Dilemmata.

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frontiert, für die sie auch durch Qualifikationsmaßnahmen, möglichst in interdisziplinärer Teamarbeit, vorbereitet sein müssen. 3.1 Menschenrecht auf Inklusion im Religionsunterricht Drei Formen der Menschenrechtsbildung können im Religionsunterricht unterschieden werden. Bildung über, durch und für das Menschenrecht auf Inklusion25. Der Unterricht über Inklusion kann im Bildungsplan der evangelischen und katholischen Religionslehre unterschiedlich verortet werden. Er lässt sich mit unterschiedlichen Bildungsplandimensionen wie Gott, Menschen, Jesus Christus oder Bibel verknüpfen und nimmt auch auf die entsprechenden theologischen Grundlagen Bezug. Die Bildung durch das Menschenrecht bezieht sich auf die persönlichen Einstellungen aller Beteiligten. Haltungen werden im Bildungsprozess bewusst gemacht, reflektiert und ggf. verändert. Sie prägt auch die Art und Weise des Unterrichts. Dies bedeutet, dass der konfessionelle Religionsunterricht in einem Setting und seiner Didaktik sich auch selbst inklusiv ausrichtet. Dies konfrontiert den nach Konfessionen getrennten Unterricht auch mit strukturellen Herausforderungen26. Drittens wird die Bildung für das Grundrecht auf Inklusion und Nichtdiskriminierung handlungsorientiert gestaltet. Schülerinnen und Schüler erhalten Möglichkeiten, sich für die Rechte von Menschen, die behindert oder diskriminiert werden, einzusetzen. Sie setzen sich in ihrem Umfeld für Antidiskriminierung, gleichberechtigte Anerkennung, Respekt sowie gegen Ausgrenzung, Mobbing und Menschenrechtsverletzung ein. Dies kann z.B. durch eine Plakatkampagne in der eigenen Schule oder Kommune geschehen oder indem sie sich an einer Internetkampagne zur Verwirklichung des Inklusionsrechts beteiligen bzw. eine eigene Initiative starten27. Im Bildungsprozess über, durch und für das Menschenrecht auf Inklusion erwerben sich die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Kompetenzen. Sie können das Menschenrecht auf Inklusion beschreiben und mit anderen Menschenrechten vergleichen, Inklusion biblisch begründen und kritisch reflektieren. Sie sind in der Lage, Verletzungen dieses Menschenrechts beispielhaft zu beschreiben, sich in von Diskriminierung betroffene Menschen einzufühlen und Handlungsalternativen aufzuzeigen. Sie können sich für die Rechte von Menschen einsetzen, die aufgrund bestimmter Merkmale ausgegrenzt werden. Diese Kompetenzen sind für die unterschiedlichen Altersgruppen entwicklungspsychologisch zu spezifizieren. Die für jedes Alter relevante Insider-Outsider-Thematik der 25 Siehe Deutsches Institut für Menschenrechte, Menschenrechte (s.a. Anm. 6), 6. 26 Vgl. das Dilemma von Konfessionalität und Inklusion in Schweiker, Prinzip Inklusion (s.o. Anm. 1), 274. 27 Siehe z.B. die Plakataktion www.inklusion-duichwir.de/kampagne oder das weltweite Kampagnen-Netzwerk Aavaz in: www.secure.avaaz.org/de.

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Inklusion kann fortschreitend vom sozialen Nahbereich in den gesellschaftlichen Kontext erweitert werden. Wird Inklusion zuerst innerhalb der Klassengemeinschaft und ihrer Regeln thematisiert, tritt in der Sekundarstufe auch die Bezugnahme auf rechtliche und globale Aspekte hinzu. Unterrichtspraktische Hilfen bieten Themenhefte zur Inklusion, die mittlerweile in fast allen religionspädagogischen Fachzeitschriften erschienen sind sowie die bis dato vierbändige Reihe »Arbeitshilfe Religion inklusiv«28. Dr. Wolfhard Schweiker ist Dozent am Pädagogisch-Theologischen Zentrum Stuttgart und Privatdozent für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.

28 Hg. von Anita Müller-Friese / Wolfhard Schweiker, Stuttgart 2012ff.

3.9 Thomas Schlag

Rassismus

1 Einleitung Die Rede von »Rassismus« löst weitreichende Assoziationen und erhebliche Emotionen aus – diese verbinden sich mit Intoleranz, Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt. Sie wecken die Erinnerung an die Täterschaft und das Opferleid der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Würde und Menschlichkeit auf der Grundlage rassischer und völkischer Zuschreibungen. Zugleich sind diese Gedanken und Gefühle mit eminent aktuellen Bezügen zur globalen Gegenwart verbunden, in der Menschen aufgrund von »Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand«1 stigmatisiert, verfolgt, vertrieben und ermordet werden. Auch in vermeintlich politikfernen Lebens-, Arbeits- und Freizeitbereichen demokratischer Zivilgesellschaften zeigen sich Phänomene rassistisch motivierter, bewusster oder unbewusster Ausgrenzung. Schon unter Kindern und Jugendlichen werden bestimmte rassistische Denkweisen bis in deren alltägliches Denken und Verhalten hinein festgestellt.2 Schul- und auch das Hochschulwesen sind keineswegs frei von rassistisch konnotierten Ausgrenzungsdynamiken.3 Rassismus ist nicht nur ein offen zu Tage liegendes Phänomen, sondern hat auch seine programmatisch subtilen und verborgenen Schattenseiten. Dabei sind die Grenzen zu einem inzwischen fast schon salonfähig ge1 So die Auflistung des Art. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. 2 Rudolf Leiprecht, Alltagsrassismus. Eine Untersuchung bei Jugendlichen in Deutschland und den Niederlanden, Münster 2001; in empirischer Hinsicht Andreas Zick / Anna Klein, Fragile Mitte – feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn 2014 und mit jetzt noch deutlicher werdenden Tendenzen: Andreas Zick, Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016, Bonn 2016. 3 Vgl. Anne Broden / Paul Mecheril (Hg.), Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld 2014; Karim Fereidooni, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen. Eine Studie zu Ungleichheitspraktiken im Berufskontext, Wiesbaden 2016; Emily B.N. Kuria, Eingeschrieben. Zeichen setzen gegen Rassismus an deutschen Hochschulen, Berlin 2015.

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wordenen rassistischen Populismus oftmals nur schwer zu bestimmen. Dies zeigt sich etwa gegenwärtig im bundesrepublikanischen Zusammenhang der medialen Wahrnehmung rechtsgerichteter Bewegungen wie Pegida und Parteien wie der AfD. In Aussagen zu Flüchtlingen und Migranten werden hier rassistisch begründete Urteile anhand einer dezidierten »Werte-Skala«4 und aus einer grundsätzlichen Superioritätshaltung heraus entweder bewusst undeutlich markiert oder unter dem Deckmantel vermeintlich naturgegebener oder kultureller Unterschiede verschleiert. Hoffnungsvollerweise stehen Politik, Verbände und Zivilgesellschaft diesen Entwicklungen nicht tatenlos gegenüber. Europäische, nationale und lokale Netzwerke gegen Rassismus sind inzwischen vielfältig im Rahmen politischer Aufklärungsarbeit aktiv.5 Der europäische Fußballverband UEFA hat gemeinsam mit dem Netzwerk »Fussball gegen Rassismus in Europa« (FARE) jüngst die eindrückliche Aufklärungskampagne »No to racism« lanciert – übrigens für pädagogische Prozesse hervorragend einsetzbare mediale Botschaften. Im Rahmen schulischer politischer Bildung ist die Auseinandersetzung mit dem Rassismus eines der zentralen Unterrichtsthemen. Und doch ist dessen Thematisierung – und dies gilt auch für den Religionsunterricht – ein komplexes Unterfangen. Eine sachliche und differenzierte Auseinandersetzung im Horizont offener Unterrichtsprozesse, wie sie als didaktisches Grundprinzip angezeigt ist, scheint schwierig. Denn ist gerade hier nicht unbedingte Eindeutigkeit gefragt? Kommen an diesem Punkt nicht die grundlegenden Prinzipien des Überwältigungsverbots, des Indoktrinationsverbots und des Kontroversgebots an ihre sachliche und fachliche Grenze? Und was kann der Religionsunterricht hier überhaupt leisten? Droht nicht im Fall eindeutiger Parteinahme sogleich die Emotionalisierung und Politisierung des Unterrichtsgeschehens, so dass – wie man es gegenwärtig schon der kirchlichen Flüchtlingsarbeit teilweise massiv vorwirft – mit dem Verdikt einer Art pädagogischen Gutmenschentums zu rechnen ist? So ist zu fragen, ob man im Religionsunterricht »lediglich« an die Menschenrechtsstandards anknüpft oder nicht auch bewusst einen weiteren Deutungshorizont einzieht. Bevor dies näher erläutert wird, sind einige Grundbegrifflichkeiten zu klären.

4 Vgl. Eidgenössische Komission gegen Rassismus (Hg.), Stichworte zu Rassismus [www.ekr.admin.ch/pdf/Stichworte_Rassismus_1998_df587.pdf]. 5 Beispielhaft ist hier auf europäischer Ebene das European Network Against Racism (ENAR) [www.enar-eu.org/], auf nationaler Ebene das 1995 ins Leben gerufene inzwischen größte thematische Schulnetzwerk »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« [www.schule-ohne-rassismus.org] zu nennen.

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2 Begriffsdefinitionen Grundsätzlich meint Rassismus eine bestimmte Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsweise gegenüber Anderen – seien es Einzelne oder Gruppen, die man aufgrund bestimmter zugeschriebener äußerlicher Eigenschaften als »anders« und minderwertig ansieht und denen man aufgrund biologistischer oder politischer Kategorisierungen bestimmte negative Merkmale oder Verhaltensweisen zuschreibt oder unterstellt.6 Im Sinn eines politischen bzw. sozialen Rassismus werden Einzelnen oder Gruppen bestimmte Wesenszüge und Charaktereigenschaften zugeschrieben, vom Ausgangspunkt der vorausgesetzten eigenen – individuellen oder kollektiven – Höherwertigkeit entsprechende Abwertungen vorgenommen und soziale Ausgrenzungsmechanismen in Gang gesetzt. Der Begriff selbst beinhaltet verschiedene Komponenten: Auf persönlicher Ebene bezieht er sich auf persönliche Einstellungen, Werte und Überzeugungen der Überlegenheit der eigenen Herkunft und der Minderwertigkeit Anderer; auf interpersonaler Ebene meint er Verhaltensweisen gegenüber anderen, die die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Herkunft reflektieren; auf institutioneller Ebene umfasst er Gesetze, Gebräuche, Traditionen und Praktiken, die systematisch zu »rasse«-bedingten Ungleichheiten und Diskriminierungen in einer Gesellschaft, in Organisationen oder Institutionen führen; auf kultureller Ebene bezieht er sich auf die Werte und Normen des sozialen Verhaltens, die die eigenen kulturellen Gewohnheiten als Norm und Maßstab setzen und andere kulturelle Gewohnheiten als minderwertig darstellen.7 In einem weiteren Sinn »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«8 ist zudem eine Art alltäglicher Rassismus zu konstatieren. 3 Politikdidaktische Annäherungen Die thematisch einschlägige Literatur für den schulischen Politikunterricht ist – ganz zu schweigen von den Materialien für die außerschuli-

6 Vgl. Klaus Schubert / Martina Klein, Rassismus, in: Das Politiklexikon, Bonn 6 2016; zur historischen Entwicklung und juristischen Bedeutung des Begriffs vgl. Hendrik Cremer, »und welcher Rasse gehören Sie an?« Zur Problematik des Begriffs »Rasse« in der Gesetzgebung, Berlin 22009; Tarek Naguib, Begrifflichkeiten zum Thema Rassismus im nationalen und im internationalen Verständnis. Eine Auslegeordnung unter Berücksichtigung des Völker- und Verfassungsrechts, Winterthur/ Bern 2014 sowie Andreas Zick, Vorurteile und Rassismus. Eine sozialpsychologische Analyse, Münster u.a. 1997. 7 Vgl. Informationsplattform Humanrights.ch [kompass.humanrights.ch/cms/front_ content.php?idcat=1932]. 8 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände: Folge 10, Berlin 2012.

Rassismus

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sche politische Bildung – inzwischen so vielfältig wie unüberschaubar.9 Weder zu den gegenwärtigen Materialien noch zu den Lehr- und Bildungsplänen liegt aber bisher eine aussagekräftige Überblicksdarstellung vor. Grundlegende politikdidaktische Abhandlungen sind ebenfalls bisher noch selten.10 Deshalb können im Folgenden lediglich einige grundlegende Aspekte zur Behandlung des Themas entlang einer kompetenzorientieren Grundstruktur benannt werden, wie sie sich in den einschlägigen Bestimmungen manifestieren und in den entsprechenden Materialien abbilden: Im Sinn kognitiver Kompetenz wird für den Unterricht die möglichst breite gesellschaftspolitische Analyse, die ihrerseits historische und aktuelle Aspekte umfassen muss, gefordert. Hier wird etwa nach den Entwicklungslinien rassistischen Denkens und seinen Folgen und nach aktuellen Phänomenen, die sich als Rassismus bezeichnen lassen, gefragt. Es wird zudem in differenzierender Hinsicht gefragt, welche Motive einzelnen rassistischen Phänomenen zugrunde liegen. Im Sinn der Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz sollen bei den Schülerinnen und Schülern bestimmte Fragehorizonte eröffnet werden wie etwa: Wonach konstituiert sich das Bild des Menschen, was macht sein Mensch-Sein und seine Person aus? Aus welchen Gründen machen wir selbst Unterschiede, die vermeintlich auf einer bestimmten biologischen Verfasstheit beruhen? Didaktisch wird es in diesem Zusammenhang als notwendig erachtet, die möglichen Gründe für Rassismus möglichst genau auszudifferenzieren und bei den Schülerinnen und Schülern Differenzkompetenz zu ermöglichen. Im Sinn der Reflexionskompetenz wird diese Wahrnehmungsebene in einzelnen Unterrichtsvorschlägen vertieft, indem die Hintergründe eigener Haltungen und Einstellungen näher in den Blick kommen. So wird etwa gefragt: Wie sprechen wir selbst in ab- und ausgrenzender Weise und weshalb eigentlich? Dies soll Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisieren, dass eine bestimmte Form dessen, was als rassistisch erscheint, möglicherweise auch entwicklungspsychologisch mit Prozessen der Identitätssuche und Selbstvergewisserung – für sich alleine oder in der jeweiligen Bezugsgruppe – zu tun hat.

9 Einen hervorragenden Überblick über Unterrichtsmaterialien, einschlägige Fachliteratur und auch die engagierten Organisationen im Feld liefern die von der »Stiftung für die Internationalen Wochen gegen Rassismus« jährlich herausgegebenen Hefte Unterrichtsmaterialien zur rassismuskritischen Bildungsarbeit; zuletzt 2015 [http://www.internationale-wochen-gegen-rassismus.de/wp-content/uploads/15_01_ 28_BHP_IKR_GEW_Unterricht_neu.pdf]; eine besonders hilfreiche Materialsammlung bietet der vom DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. inzwischen nur noch online greifbare »Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit« [http://www.baustein. dgb-bwt.de/Inhalt/index.html]. 10 Vgl. v.a. Wiebke Scharathow / Rudolf Leiprecht (Hg.), Rassismuskritik. Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach/Ts. 2009.

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Damit sich diese Analysen und Reflexionen auch mit der alltäglichen Praxis verbinden, wird im Sinn der Urteils- und Handlungskompetenz danach gesucht, welche Konsequenzen sich aus dem erworbenen Wissen und der vertieften Reflexion für das eigene Handeln ergeben. Dabei werden »Täter«- wie »Opfer«-Perspektive in den Blick genommen: Was tun wir, wie gehen wir damit um, wenn wir bestimmte Äußerungen als rassistisch empfinden? Wie würden wir reagieren, wenn man uns selbst aus »rassistischen Gründen« diffamiert, ausgrenzt und ausschließt? Damit die entsprechenden Debatten im Schulleben und im Alltag nicht folgenlos bleiben, wird im Sinn der Partizipationskompetenz sondiert, ob und wie persönliches Engagement, sei es die bewusste Intervention im persönlichen Gespräch, sei es das Engagement in Schulprojekten oder zivilgesellschaftlichen Netzwerken, möglich ist und was es dazu an Kompetenz und Motivation braucht. 4 Didaktische Konkretionen in religionspädagogischer Hinsicht Der Religionsunterricht muss in der Beschäftigung mit der Rassismusthematik grundsätzlich zweierlei deutlich machen: Zum einen, dass er selbst als Teil der schulischen Allgemeinbildung zu einer positiven und wertschätzenden Menschenrechtskultur am Ort der Schule als Lebensort beitragen will und eine konstruktive Bildungsleistung zum Umgang mit dem Thema Rassismus zu erbringen vermag. Zum zweiten, dass die spezifisch religionsbezogene theologische Perspektive einer solchen Thematisierung einen Mehrwert für die schulische Bildung selbst hat, insofern Sichtweisen und Bilder eingespielt werden, die sich klar gegen solche Aus- und Abgrenzungsabsichten wenden. Dafür ist zuallererst kurz von der gegenwärtigen religionsdidaktischen Bearbeitung zu sprechen: Diese findet sich in verschiedenen Lehr- und Bildungsplänen des Religionsunterrichts sowie in bereit gestellten Unterrichtsmaterialien in vielfacher Weise. Zum einen wird sie für Unterrichtseinheiten zum Thema »Kirche und Judentum« oder »Kirche und Nationalsozialismus« namhaft: In der Einheit »Kirche und NS-Zeit« soll der Unterricht deutlich machen, »in welcher Spannung zwischen Anpassung und Widerstand die Menschen während der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland gelebt und wie sie sich darin entschieden haben. […] Auch bieten sich Parallelen zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation an, in der Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung nach wie vor zur alltäglichen Lebenswirtlichkeit [sic!] zählen.«11

11 Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (Hg.), Lehrplan Evangelische Religion für die Sekundarstufe I der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule des Landes Schleswig-Holstein für die Klassen 9–10, o.J., 35.

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Die Thematik wird auch für die Frage des Zusammenlebens in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft aufgeworfen: Rassismus wird hier zu den Themen gezählt, die bei der Behandlung der »Welt« als zentraler Dimension menschlichen Lebens Berücksichtigung finden sollen.12 So wird formuliert: »Unbestritten ist, dass das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen in der Gesellschaft zu einer Herausforderung nicht zuletzt für den Einzelnen geworden ist. Nicht allein im Rahmen der großen gesellschaftlichen Konflikte (Migration, Asylfrage, Rassismus, Europäisierung), sondern auch auf der Ebene des Alltäglichen, in der Schule und in der Stadt begegnen sich unterschiedliche Kulturen und Stile.«13 Im Kompetenzbereich »Nach Religionen fragen« wird intendiert, dass Schülerinnen und Schüler »intolerantes Verhalten gegenüber Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen in Geschichte und Gegenwart« problematisieren können. Inhalte sind hier neben »Juden in Deutschland«, »Moscheebau in Deutschland« auch »›Alltäglicher‹ Rassismus« und dafür die Basistexte 2. Mose 20,1–17 und 5. Mose 5,1–22.14 Trotz der letztgenannten biblischen Referenzen ist auffällig, dass in den einzelnen Lehr- und Bildungsplänen eher selten explizit darauf verwiesen wird, welche biblischen und theologischen Orientierungspunkte für die Bearbeitung des Themas relevant sein könnten. Deshalb seien im Folgenden – und dies in Aufnahme der oben genannten politikdidaktischen Kompetenzdifferenzierungen – einige weiterführende Überlegungen angestellt. Auf der Ebene des Erwerbs kognitiver Kompetenz ist die Bezugnahme auf die biblischen Überlieferungen von zentraler Bedeutung. Nun ist allerdings der Umgang mit dem Fremden biblisch gesehen höchst ambivalent. Die biblische Überlieferung zeigt fraglos eben auch massive Ausgrenzungstendenzen des als »anders« Empfundenen oder ganzer Volksgruppen, etwa, was deren Gottesbilder, moralische Wertvorstellungen oder kultische Praktiken angeht – so etwa in Gottes Befehl, die Diener anderer Götter zu steinigen (5. Mose 17,2–5) oder sie mit dem Schwert zu zähmen (Jes 65,11). Die enge Verbindung von Volkszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit, etwa unter dem Label des »auserwählten Volkes Gottes«, geht historisch gesehen, mit problematischen Exklusivitäts-, Superioritäts- und Absolutheitsansprüchen sowie programmatischen Diffamierungen und Verfolgungen einher. Dass sich die christliche und kirchliche Wahrnehmung der jüdischen Religion und ih12 Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Lehrplan für das Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen. Evangelische Religionslehre. Fachklassen des dualen Systems der Berufsausbildung, Düsseldorf 2004, 25. 13 Hessisches Kultusministerium (Hg.), Lehrplan Evangelische Religion. Bildungsgang Hauptschule. Jahrgangsstufen 5 bis 9/10, 14; im Lehrplan für die Realschule 15; im Lehrplan für das Gymnasium, 17. 14 Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für die Hauptschule Schuljahrgänge 5–10 Evangelische Religion, Hannover 2009, 30f.

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rer Glaubensanhänger historisch gesehen in die Linie einer solchen programmatischen Abwertungskultur gestellt hat, darf im Religionsunterricht nicht tabuisiert werden.15 Hinsichtlich der Reflexions- und Urteilskompetenz sind solche biblischen Leitbilder und Grundvorstellungen stark zu machen, die von der unbedingten Würde des Menschen in seiner geschöpflichen Existenz (1. Mose 1,26) und des damit verbundenen unbedingten Schutzanspruchs sprechen. Hinzuweisen ist darauf, dass die Grundpflicht der Annahme des Fremden und zu Schützenden sowohl alt- wie neutestamentlich von den Geboten der Nächsten- und Feindesliebe (Mt 22,38ff.; Jak 2,8; Joh 13,34) umfasst wird. Von orientierender Bedeutung ist der Gedanke der Einheit des ganzen Menschengeschlechts (Apg 17,26; Joh 3,16; 1. Joh 2,2), Gottes Ansehen jeder Person (5. Mose 10,17; Apg. 10,34; Röm 2,11; Eph 6,9) und die Absage an jegliche diskriminierende Zuschreibung des Menschen (Gal 3,28). Von daher ist deutlich zu machen, dass die Rede von »Rasse« überhaupt – selbst wenn sich der Begriff noch in den einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen (etwa in Art. 3,3GG) findet, anthropologisch unhaltbar ist.16 In diesem Sinn kann das religionsunterrichtliche Geschehen im Sinn der Erhöhung individueller Wahrnehmungs-, Reflexions- und Urteilskompetenz dazu beitragen, unter den Schülerinnen und Schülern Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf den je Anderen und den Fremden zu erhöhen. Hier gilt es einen dialogischen Stil der Fremdbegegnung einzuüben, der »die Fremdheit der fremden (und der eigenen) Religion als Herausforderung, als Neugierde erweckender Widerstand, der einen ›Mehrwert‹ bietet«17, zu verstehen lehrt.18 Konkret können hier etwa die verschiedenen religiösen »Würde-Bilder« des Menschen thematisiert werden. Übrigens sind solche Erfahrungen sinnvollerweise bereits im Grundschulalter zu initiieren, um frühzeitig der Verfestigung bestimmter rassistischer Haltungen und Einstellungen zu wehren.19 Von diesen (inter-)religiösen und (inter-)theologischen Grundlegungen aus ist zu bedenken, ob und wann man im Fall des Falles gegen be15 Vgl. Thomas Schlag, Das reformatorische Menschenbild und die Bildung des Menschen – Konsequenzen für den interreligiös gebildeten Dialog und religionssensiblen Bildungsdiskurs, in: ZPT 68 (2016), 438–452. 16 Vgl. zum durchaus komplexen bildungstheoretischen Zusammenhang jetzt Ina Schaede, Bildung und Würde. Religionspädagogische Reflexionen im interdisziplinären Kontext, Leipzig 2014. 17 Heinz Streib, Wie finden interreligiöse Lernprozesse bei Kindern und Jugendlichen statt? Skizze einer xenosophischen Religionsdidaktik, in: Peter Schreiner / Ursula Sieg / Volker Elsenbast (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 230–243, hier 237. 18 Sehr eindrücklich hier etwa Asyl & Integration NÖ, Caritas Wien (Hg.), Vielfalt, Integration, Zusammenleben. Unterrichtsmaterialien für die 7. und 8. Schulstufe, Wien 2013. 19 Vgl. exemplarisch jüngst etwa Karlo Meyer u.a., Schabbat Schalom, Alexander! Christlich-jüdische Begegnung in der Grundschule, Göttingen 2016.

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stimmte diskriminierende Einstellungen und Aussagen im Klassenzimmer interveniert werden muss. Wie schon betont, gilt auch für den Religionsunterricht, dass Kontroversität nicht unterbunden werden darf, sondern ihr der notwendige Raum gegeben werden muss. Der Religionsunterricht sollte gerade angesichts der aktuellen politischen Polarisierungstendenzen mindestens versuchen, die dialogkompetente Suche nach Konsens mitzubefördern. Dies geschieht etwa dadurch, dass die allen Religionen gemeinsame Suche nach menschenwürdigem Zusammenleben herausgestellt wird.20 Im Blick auf die Partizipationskompetenz steht der Religionsunterricht vor der Herausforderung, sich in entsprechende schulische Projekte zur Antirassismusarbeit zu integrieren bzw. diese selbst zu initiieren. Hier hat er aufgrund seiner sachlichen und oftmals auch personalen Nähe zu den kirchlichen Gemeinden besondere Potentiale, schulische und außerschulische Bildungsarbeit im Sinn der Netzwerkarbeit zu verbinden. Gerade die aktuelle Flüchtlingsarbeit – und übrigens auch die mit ihr verbundenen kritischen Stimmen – liefern gegenwärtig die brisantesten und eindrücklichsten Möglichkeiten, sich mit dem politischen und »ganz alltäglichen« Rassismus theologisch und pädagogisch verantwortet auseinanderzusetzen. Dr. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

20 Vgl. im Sinn der »Kultivierung der Lebensdeutungskompetenz« Klaus Ebeling (Hg.), Orientierung Weltreligionen, Stuttgart 22011; mit anschaulichen Praxisbeispielen Oliver Arnhold / Manfred Karsch, Kooperatives Lernen im kompetenzorientierten Religionsunterricht. 20 Beispiele, Göttingen 2014, v.a. 78ff.

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Dem Vernehmen nach ist die »Todesstrafe« kein Thema, das Religionslehrer/innen gerne auf die Agenda ihres Religionsunterrichts setzen – nicht zuletzt deshalb, weil sich immer wieder Schüler/innen finden, die sich für die Todesstrafe aussprechen. Warum also das heikle Thema ansprechen? Die Antwort, kurz gesagt: erstens, weil Überzeugungsarbeit (nach wie vor) nötig ist, zweitens, weil am Thema »Todesstrafe« verschiedene Wege (religiös-)sittlicher Urteilsfindung erprobt werden können, drittens, weil anhand dieser Thematik christliche Perspektiven auf »Schuld«, »Mensch« und die »Unverlierbarkeit der Menschenwürde« verdeutlicht werden können. 1 Rechtslage und Fakten Vorab: Der Begriff »Todesstrafe« bezeichnet Tötungen, die auf der Grundlage eines Gesetzes (das einen Straftatbestand definiert) nach einem Gerichtsverfahren (in dem jemand für schuldig befunden wird) von einem Staat bzw. einem seiner offiziellen Organe vollstreckt werden. Unter den Begriff fallen hingegen nicht: Justizmord; Tötung durch staatliche Organe (Militär, Polizei) ohne Gerichtsverfahren, sei es in Kriegs- oder Friedenszeiten; Tötung von Menschen durch andere Individuen – auch dann nicht, wenn sie für ›schuldig‹ gehalten oder erklärt werden (»Lynchjustiz«); Tötung durch paramilitärische Gruppen oder Terroristen. Mit der Todesstrafe – und ganz ähnlich: mit Folter – verhält es sich eigentümlich: Einerseits ist sie durch internationale Abkommen unzweideutig geächtet, andererseits kommt sie in der Praxis einiger Staaten weiterhin vor, und die Debatte um sie kehrt vielerorts, auch da, wo sie längst untersagt ist, unregelmäßig wieder. Was die Ächtung der Todesstrafe angeht, so hat Artikel 5 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« vom 10. Dezember 1948 fundamentale Bedeutung: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen

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werden.« Diese Bestimmung schließt – eigentlich – das Verbot der Todesstrafe ein. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich Art. 5 und alle anderen Artikel der »Allgemeinen Erklärung« durch Art. 1 des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 als nationales Recht zu eigen gemacht; zudem stellt Art. 102 des Grundgesetzes ausdrücklich fest: »Die Todesstrafe ist abgeschafft.« Mit gleicher Rechtsdignität, also mit Verfassungsrang, haben auch Österreich und die Schweiz die Todesstrafe abgeschafft (Bundes-Verfassungsgesetz der Republik Österreich von 1994, Art. 85; Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1999, Art. 10); zunächst war dies jeweils per Gesetz (1950 bzw. 1942) geschehen. Allerdings ist die prinzipielle Absage an die Todesstrafe in der Weltgemeinschaft, in Europa und in den deutschsprachigen Ländern noch jung und unterschiedlich stark verbreitet: Die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe wurde zwar seit dem ›Zeitalter der Revolutionen‹, seit Ende des 18. Jahrhunderts, immer wieder erhoben, doch erst 1865 schaffte mit Rumänien der erste europäische Nationalstaat die Todesstrafe (vorläufig) ab. Auf breiter Front kam die Abschaffung der Todesstrafe erst nach 1945 zu Akzeptanz und Geltung. – Trotz des uneingeschränkten Geltungsanspruchs der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« forderte die Vollversammlung der Vereinten Nationen erstmals 1977 die Abschaffung der Todesstrafe und die Aussetzung bereits gefällter Todesurteile. Erst 1989 verpflichteten sich die – inzwischen 84 – Unterzeichnerstaaten des 2. Fakultativprotokolls zum »Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte« von 1966, die Todesstrafe ggf. nicht zu vollstrecken und sie im eigenen Land abzuschaffen.1 – In Europa sah noch die »Europäische Menschenrechtskonvention« des Europarates aus dem Jahr 1953 die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe bei bestimmten Delikten ausdrücklich vor; erst 1983 und 2002 schrieben das 6. und 13. Fakultativprotokoll die Abschaffung der Todesstrafe in Friedens- und dann auch in Kriegszeiten fest – 1997 ratifizierte das letzte Mitglied des Europarates das 6. Fakultativprotokoll; damit ist die Todesstrafe in den 46 Mitgliedsländern des Europarates in Friedenszeiten (und in 44 von ihnen auch in Kriegszeiten) abgeschafft. Seit 2004 ist die Abschaffung der Todesstrafe conditio sine qua non für Mitgliedschaft bzw. Beitritt in der Europäischen Union.2 – In Deutschland wurde die Abschaffung der Todesstrafe im Nachgang zur Paulskirchen-Verfassung von 1849 immer wieder diskutiert und in einigen deutschen Staaten auch zeitweise realisiert. Trotzdem sahen sowohl die Reichsverfassung von 1871 als auch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 sie weiterhin – wenngleich nur für wenige Straftatbestände – vor. Demgegenüber weitete das nationalsozialistische Regime die Zahl der Tatbestände, für die jemand mit dem Tod bestraft werden konnte, dramatisch aus; nicht minder dramatisch stieg die Zahl der Hinrichtungen – die Anzahl der zwischen 1933 und 1945 zivil und militärisch verhängten Todesurteile beläuft sich wohl auf ca. 50.000. In der Bundesrepublik 1 Roger Hood / Carolyn Hoyle, The death penalty. A worldwide perspective, Oxford 5., revised and updated edition 2015. 2 Andrew Hammel, Ending the Death Penalty: The European Experience in Global Perspective, Basingstoke 2010.

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wurde die Todesstrafe nicht zuletzt in Abkehr von Ideologie und Praxis der Todesstrafe im Nationalsozialismus 1949 grundsätzlich abgeschafft; in der DDR geschah dies 1987. (1981 war dort der letzte Verurteilte hingerichtet worden.)3

Was die Praxis der Todesstrafe angeht, stellt sich die Lage derzeit wie folgt dar: Von den Staaten der Erde (von denen 193 Mitglied der Vereinten Nationen sind) haben nach Angaben von »amnesty international« 104 Staaten die Todesstrafe vollständig, d.h. de jure und in praxi, abgeschafft; 30 weitere praktizieren die Todesstrafe nicht mehr, obwohl ihre Gesetze Verhängung und Vollstreckung prinzipiell noch zulassen (darunter z.B. Russland); weitere 7 Staaten sehen die Todesstrafe nur noch für sehr wenige Straftaten wie etwa Kriegsverbrechen vor. Somit wenden – mit Datum vom 10. Januar 2017 – 141 Staaten die Todesstrafe derzeit nicht mehr an, 57 Staaten halten an ihr fest.4 Auch wenn demnach bereits mehr als zwei Drittel aller Länder von Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe absehen, leben zugleich etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in der kleiner werdenden Zahl von Staaten, die an der Todesstrafe festhalten. Dazu gehören fast alle der zehn bevölkerungsreichsten Länder der Welt, nämlich China, Indien, USA, Indonesien, Pakistan und Bangladesh, Nigeria und Mexiko; Ausnahmen sind lediglich Brasilien und Russland. Der weitaus größte Teil – mehr als 95 % – der Verurteilungen und Vollstreckungen erfolgt seit Jahren in lediglich vier Staaten, angeführt von China (offizielle Zahlen liegen nicht vor; geschätzte Zahl für 2015: mehrere tausend Hinrichtungen), gefolgt von Iran (im Jahr 2015 offiziell: 977), Pakistan (326) und Saudi-Arabien (158). Vier weitere Länder, die USA, Somalia, Irak und Ägypten, haben im Jahr 2015 jeweils mehr als 20 Menschen hingerichtet.5 Was die Diskussion der Todesstrafe angeht, so vereinheitlicht und stabilisiert sich, so scheint es, die Auffassung weiter Teile der Weltgemeinschaft: »1899 […] waren es gerade einmal drei Staaten ohne Todesstrafe: Costa Rica, San Marino und Venezuela. Bis 1948, dem Jahr der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, war die Zahl auf acht Länder angewachsen. 1977, als Amnesty ihre Kampagne gegen die Todesstrafe startete, hatten erst 16 Länder sie für alle Verbrechen abgeschafft. […] Allein seit Beginn der

3 Richard J. Evans, Rituale der Vergeltung: Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987, Berlin/Hamburg 2001. Vgl. Yvonne Hötzel, Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990, Berlin u.a. 2011. 4 Amnesty international, »Wenn der Staat tötet. Zahlen und Fakten über die Todesstrafe« (Stand: 10. Januar 2017), hier 3 (http://www.amnesty-todesstrafe.de/files/ reader_wenn-der-staat-toetet.pdf; Zugriff am 10.2.2017). 5 Amnesty international, Zahlen und Fakten 2017 (s.o.), 5f. vgl. zudem die Jahresberichte von ai und darüber hinaus www.todesstrafe.de (Zugriff am 10. Januar 2017).

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1990er Jahre haben über 60 Staaten die Todesstrafe für alle Delikte abgeschafft, zuletzt Benin und Nauru in 2016.«6 Wiedereinführungen der Todesstrafe in Staaten, die sie bereits abgeschafft hatten, sind selten – derzeit ist es die Türkei, die diesen Schritt erwägt: 2002 war die Todesstrafe dort, nicht zuletzt in Vorbereitung auf Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, aus dem zivilen Recht entfernt worden; seit dem Putschversuch am 15./16. Juli 2016 wird die Revision dieser Entscheidung erwogen. In Deutschland plädiert – nach den Daten des »Freiheitsindex«, der jährlich vom Heidelberger John Stuart Mill Institut erhoben wird – wohl etwa ein Viertel der Bevölkerung für die Wiedereinführung der Todesstrafe;7 eine politische oder juristische Option ist dies nicht.

2 Argumente Gängige Argumente, die zugunsten der Todesstrafe angeführt werden, gelten inzwischen weithin als widerlegt: – Eine abschreckende Wirkung der Todesstrafe ist nicht nachweisbar (wenn man die einschlägige Kriminalitätsrate von Ländern mit und ohne Todesstrafe vergleicht). – Dass das Prinzip der Vergeltung legitimerweise insbesondere auf Kapitalverbrechen anzuwenden sei (wer tötet, soll getötet werden), mag zwar auf den ersten Blick plausibel sein, liegt aber rechtsstaatlicher Strafgesetzgebung bei keinem anderen Tatbestand zugrunde; zudem wird die Todesstrafe in den diesbezüglich aktivsten acht Ländern der Erde keineswegs nur bei Kapitalverbrechen verhängt, vielmehr auch bei Korruption oder Drogendelikten (China), Ehebruch oder Apostasie (Saudi-Arabien), Verunglimpfung des Propheten Muhammad (Iran). – Dass die Todesstrafe nur ›in eindeutigen Fällen‹ verhängt werde und insofern für gerechte Strafe sorgt, ist nicht zutreffend: Die Geschichte der Todesstrafe ist eine Geschichte voller Justizirrtümer und diskrimierender Urteile.8 In jedem Falle impliziert die Todesstrafe für den Staat und die an der Hinrichtung unmittelbar Beteiligten ein Dilemma: Das Verbot grausamer Bestrafung (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 5) und das Gebot, die Würde des Menschen zu achten (ebd., Art. 1), gelten uneingeschränkt – mit Vollstreckung der Todesstrafe handeln die Genannten jedoch unweigerlich beidem zuwider.

6 Amnesty international, Zahlen und Fakten 2017 (s.o.), 3. 7 Vgl. zuletzt Ulrike Ackermann (Hg.), Freiheitsindex Deutschland 2016, Frankfurt a.M. 2016. 8 Amnesty International (Hg.), Argumente gegen die Todesstrafe [2004] – https://www.amnesty.de/umleitung/2004/deu07/047 (Zugriff am 10.2.2017).

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Selbstkritisch muss man konstatieren, dass sich in der christlichen Tradition lange nur vereinzelt Skepsis gegenüber der Todessstrafe artikuliert hat – zumeist wurde sie, darin der jeweils allgemeinen Auffassung folgend, befürwortet: als Mittel zur Erhaltung der von Gott eingesetzten, vom Staat aufrecht zu erhaltenden Ordnung auf Erden und als Sühne eines Täters für ein begangenes (Kapital-)Verbrechen. Demgegenüber werden seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit Nachdruck die notwendige Selbstbeschränkung staatlichen Handelns (insbesondere angesichts unverlierbarer Menschenwürde) und die Unterscheidung von Person und Tat geltend gemacht.9 Die gegenwärtige deutschsprachige theologische Ethik evangelischer oder katholischer Provenienz behandelt die Todesstrafe kaum mehr – und wenn, dann eindeutig ablehnend.10 Allerdings gibt es in der Ökumene noch immer vereinzelt Stimmen, die sich unter Berufung auf christliche Glaubenseinsichten für die Todesstrafe aussprechen – ebenso gibt es allerdings entschiedene Initiativen gegen sie.11 Ähnlich stellt sich die Debattenlage im Judentum dar: Alttestamentliche und rabbinische Texte halten die Todesstrafe für bestimmte Vergehen für legitim, doch in den modernen Strömungen des Judentums (modern-orthodox, konservativ, liberal, rekonstruktionistisch) überwiegt bei weitem deren strikte Ablehnung.12 Demgegenüber hat die Todesstrafe im tradierten islamischen Recht (Scharia) einen festen Platz als Strafe für Vergehen gegen das Recht Gottes;13 dementsprechend wird sie insbesondere von den islamischen Staaten, die den Maßgaben der Scharia in ihrer staatlichen Rechtssetzung und -sprechung Genüge tun wollen, befürwortet. In der »Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam« (Cairo Declaration on human rights in Islam = CDHRI), die 1990 von den Mitgliedsstaaten der »Organisation für Islamische Zusammenarbeit« (heute: 57 Mitglieder) verabschiedet wurde, heißt es in Artikel 2: »Das Leben ist ein Geschenk Gottes, und das Recht auf Leben ist jedem Mensch garantiert. Es ist die Pflicht 9 Elisabeth Gräb-Schmidt, Art. Todesstrafe V. Ethisch, in: RGG VIII (42015), 453– 455. 10 Exemplarisch genannt sei das »Handbuch der evangelischen Ethik«, hg. von Wolfgang Huber u.a., München 2015, hier 177–182. 11 So hat etwa Papst Franziskus anlässlich des 6. »Weltkongresses gegen die Todesstrafe« (Oslo, 21.–23. Juni 2016) die Todesstrafe als Widerspruch gegen »Gottes Pläne für die Individuen und die Gesellschaft sowie seine barmherzige Gerechtigkeit« verurteilt; die Auslandsbischöfe der EKD haben sich mehrfach anlässlich des Internationalen Aktionstages gegen die Todesstrafe am 10. Oktober entsprechend geäußert; nicht zuletzt sei auf ACAT verweisen: die 1974 gegründete »Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter« (siehe www.acat-deutschland.de; Zugriff am 27.2.2017). 12 Instruktiv informiert Jonah Sievers, Todesstrafe, in: Ethik im Judentum: »Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg«, Ps. 86:11, hg. vom Zentralrat der Juden in Deutschland und Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Berlin 2015, 235–248. 13 Mathias Rohe, Das islamische Recht; Geschichte und Gegenwart, München, 3., erw. und akt. A. 2011.

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des Einzelnen, der Gesellschaft und des Staates, dieses Recht zu schützen und es ist verboten, Leben zu nehmen, es sei denn aus einem von der Scharia vorgeschriebenen Grund.«14 3 Grundlegendes zur unterrichtlichen Arbeit am Thema »Todesstrafe« 3.1 Rechtliche Kontexte Unterricht an staatlichen wie sog. privaten Schulen ist auf das Grundgesetz verpflichtet. Gewiss ist Bildung ein offener Prozess, in dem das Subjekt eine konstitutive und intrinsisch motivierte Rolle spielt, und ebenso gewiss müssen im Zeichen der Schülerorientierung Vorverständnisse, Meinungen und Überzeugungen von Schüler/inne/n zum Ausdruck kommen dürfen – und doch kommt eine ergebnisoffene Thematisierung der Todesstrafe angesichts von Art. 102 GG ebenso wenig in Betracht wie die der Menschenrechte überhaupt. Insofern kann hier – wenn auch vermutlich in nur wenigen Fällen – ein Konflikt zwischen dem inneren Gefälle von »Bildung« einerseits, Buchstaben und Geist des Grundgesetzes andererseits sichtbar werden. 3.2 Entwicklungspsychologische Kontexte Vermutlich kann bereits im Kindesalter eine ablehnende Haltung gegenüber der Todesstrafe nahegelegt, gefördert, induziert werden, indem entsprechende Bildmedien, Berichte und Erzählungen sowie Informationen mit der Autorität einer vertrauenswürdigen Person zur Kenntnis gebracht werden. Das mag in einzelnen Fällen möglich oder geboten sein, ist aber didaktisch nicht zu empfehlen. Die primär kognitive Auseinandersetzung mit Fallbeispielen, politischen Hintergründen, juristischen Fragen und damit eine begründete ethischtheologische Urteilsfindung setzen vielmehr das Erreichen der formaloperationalen Urteilsfähigkeit voraus. Mehr noch: Für eine angemessene Einschätzung ist die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel unerlässlich15 – konkret etwa die Fähigkeit, den Ruf nach harter oder ›gerechter‹ Bestrafung einer besonders folgenreichen oder abscheulichen Straftat ebenso nachzuvollziehen wie die Sichtweise der sozialen Gruppen, deren Angehörige nachweislich unverhältnismäßig oft zum Tod verurteilt werden, 14 http://www.oic-oci.org/ (Zugriff am 10.2.2017). In ihrer erneuerten Charta von 2008 bekennt sich die OIC zu den Menschenrechten (im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). 15 Zur kritischen Diskussion solcher entwicklungspsychologischer Einstufungen vgl. Anton A. Bucher, Mehr Emotionen und Tugenden als kognitive Stufen. Skizze der aktuellen Moralpsychologie, in: JRP 31 (2015), 87–97.

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oder die Fähigkeit, die juristischen Tücken der Todesstrafe (Unwiderruflichkeit; Übertretung der Grenzen staatlicher Handlungsautorität) und die Perspektive der Opfer von Straftaten nachzuvollziehen. 3.3 Curriculare Kontexte Die »Todesstrafe« ist (wie »Folter« und andere Menschenrechtsverletzungen) kein obligatorisches Thema in den Kerncurricula für den Religionsunterricht, etwa in Niedersachsen. Sie kann gleichwohl zum Thema gemacht werden; dies bietet sich etwa in ethischen und anthropologischen Zusammenhängen an. Exemplarisch sei auf mögliche Rahmenthemen hingewiesen: – »Kompetenzbereich: Ethik, Leitthema 9/10: Sterben und Tod als Anfragen an das Leben Schülerinnen und Schüler bedenken dem christlichen Menschenbild angemessene Verhaltensweisen gegenüber Sterben und Tod und verstehen den Zusammenhang zwischen menschlicher Endlichkeit und der Aufgabe, für das Leben Identität und Sinn zu finden.« – »Kompetenzbereich: Mensch, Leitthema 9/10: Zuspruch und Anspruch Gottes als Grundlage christlich orientierter Lebensgestaltung Schülerinnen und Schüler nehmen das christliche Menschenbild als in der Ebenbildlichkeit und der voraussetzungslosen Liebe Gottes begründet wahr und wissen, dass Selbstannahme und Nächstenliebe dankbare Reaktionen auf die vorausgehende Zuwendung Gottes sind.«16

Da »Menschenrechtsbildung« auch in anderen Fächern nicht verpflichtend vorgesehen ist (auch wenn die Genese der Menschenrechte und ihr rechtlich-politisches Gewicht im Geschichts- und Politikunterricht zur Sprache kommen), muss dies als Desiderat für eine allgemeinbildende Schule markiert werden.17 3.4 Fachliche Kontexte Die unterrichtliche Erschließung des Themas »Todesstrafe« ist kein Privileg des Religions- oder Ethikunterrichts. Im Gegenteil: Religiös grundierte Argumente spielten und spielen im Einsatz für die Abschaffung der Todesstrafe (und auch im Streben nach ihrer Beibehaltung) selten eine herausragende Rolle; sofern gegenwärtig (in Deutschland) eine öf-

16 Hier entnommen aus dem Kerncurriculum für das Gymnasium [sc. in Niedersachsen], Schuljahrgänge 5–10: Evangelische Religion, Hannover 2009, 19 und 26. 17 Dazu Volker Lenhart, Pädagogik der Menschenrechte, Wiesbaden, 2. überarb. und akt. A. 2006, und Anja Mihr / Nils Rosemann, Bildungsziel: Menschenrechte. Standards und Perspektiven für Deutschland, Schalbach 2003.

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fentliche Debatte stattfindet, ist sie nicht religiös, sondern humanitär oder sicherheitspolitisch grundiert. Im Spektrum der schulischen Fächer kann die Todesstrafe insofern mit Gewinn gerade auch im Geschichts- oder Politikunterricht behandelt werden; kooperativ sind ggf. die Fächer Deutsch, Englisch und Kunst einzubeziehen.18 4 Didaktische Zugänge Für die oberen Jahrgänge der Sekundarstufe I und II bieten sich viele didaktische Arrangements und methodische Zugänge für die Behandlung des Themas an. Beispiele: Interreligiöses Lernen: In einer multireligiösen Lerngruppe wird die Einstellung zur Todesstrafe in verschiedenen Epochen der Geschichte der je eigenen Religionsgemeinschaft – Judentum, Christentümer (ev., kath., orth.), Islam, Alevitentum – rekonstruiert. Die Ergebnisse werden ggf. dokumentiert. Die Schüler/innen wählen abschließend ein Land aus, in dem ihre Religion eine maßgebliche Rolle spielt, und diskutieren, ob hier eine ihres Erachtens angemessene Handhabung der Todesstrafe gewählt wurde. Lernen im Paradigma sittlicher Urteilsfindung: In einem Rollenspiel »Gerichtsverhandlung« werden Argumente zu Gunsten und gegen die Todesstrafe ausgetauscht.19 Als Beispiel könnte etwa der Fall Jens Söring dienen, ein wegen Mordes verurteilter Deutscher, der in den USA eine lebenslängliche Haftstrafe verbüßt (und nur auf Grund seiner Staatsbürgerschaft bzw. der seinerzeitigen Auslieferungsbedingungen nicht zum Tod verurteilt wurde).20 Informationelles Lernen zu christlichen Perspektiven auf die Todesstrafe: Anhand von Filmen wie »Dead man walking« (1995) oder »Die Kammer« (1996) wird die Lerngruppe in Todesstrafen-Thematik eingeführt. Der Fokus der unterrichtlichen Behandlung liegt auf der Frage nach dem angemessenen Umgang mit »Schuld« und »Sühne / Wieder-

18 Vgl. als Anthologie zum Thema: Der Weg zum Schafott: Dichter gegen die Todesstrafe, Berlin 2016. Vgl. etwa http://www.initiative-gegen-die-todesstrafe.de/ kunst-aus-dem-todestrakt/malerei-bildende-kunst.html (Zugriff 10.2.2017) oder die Bücher von Helen Prejean, Dead man walking, New York 1994, und Dies., The Death of Innocents: An Eyewitness Account of Wrongful Executions, New York 2005. 19 Kurzanleitung: http://www.juergenkalb.de/gerichtsverhandlung.pdf (Zugriff am 10.2.2017). 20 Vgl. dazu den Film »Das Versprechen« (2016) und weitere leicht recherchierbare Materialien im Internet.

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Bernd Schröder

gutmachung«21 oder auf der Befassung mit der Todesstrafe in einem konkreten Land, etwa den USA, und deren religiöser und ethischer Beurteilung.22 Perspektivwechsel lernen: Bücher und Berichte von zum Tod Verurteilten sowie Filme, die ihr Schicksal ins Bild setzen, ermöglichen kognitive und emotionale Anteilnahme.23 Ziel einer solchen Auseinandersetzung ist es nicht, Mitleid zu generieren oder die Schuld der Täter und das Gewicht der Tatfolgen zu ermäßigen, sondern nachzuvollziehen, dass und inwiefern die Todesstrafe eine »grausame, unmenschliche oder erniedrigende […] Strafe« ist (Art. 5 der Menschenrechtserklärung) und ihre Praxis die Menschenwürde der Täter wie der an der Hinrichtung Beteiligten verletzt. Handlungsorientiertes Lernen: Aus Anlass des UN-Welttags zur Abschaffung der Todesstrafe am 10. Oktober wird im Rahmen einer Unterrichtseinheit zu den Menschenrechten die Kampagne von Amnesty international gegen die Todesstrafe erkundet – nach entsprechender Diskussion entscheidet die Lerngruppe über eine Beteiligung an entsprechenden Aktionen.24 Geschichtliches Lernen: Die Geschichte der Todesstrafe bzw. ihrer Abschaffung dient als exemplarischer Fall für genetisches Lernen zum Themenkreis »Menschenrechte«, eines der probaten Themen für einen geschichtlichen Längsschnitt im kirchengeschichtlichen Religionsunterricht.25 Besondere Beachtung verdienen die Fragen: Wann, wo und warum kommt es zu Initiativen gegen die Todesstrafe? Welche Rolle spielen dabei Kirchen und ggf. andere Religionsgemeinschaften? Ggf. kann eine Ausstellung zur Geschichte der Todesstrafe in Deutschland bzw. in der jeweiligen Region erarbeitet werden. Dr. Bernd Schröder ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. 21 Evelyn Schneider, »Schuld – was ist das?« Eine Unterrichtseinheit für den RU an BBS zum Thema Schuld – Strafe – Versöhnung, in: Loccumer Pelikan 2001, Heft 3, 121–126. 22 Jürgen Martschukat, Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika: von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, München 2002; vgl. zudem beispielsweise die US-amerikanische NRO »Death Penalty Information Center« mit Sitz in Washington (http:// www.deathpenaltyinfo.org/about-dpic; Zugriff 10.2.2017). 23 Vgl. etwa Lena Schnabl, Sein längster Kampf [Iwao Hakamada], in: Amnesty Journal 2016, 06/07, 34–41, und »Nur ein anderer Tag und nur ein anderer Tod …«: Briefe aus dem Todestrakt, Ellis One Unit, Texas, hg. und übers. von Claudia von Trotha, Frankfurt 1997. 24 http://www.amnesty-todesstrafe.de/index.php?id=1 (Zugriff am 10.2.2017). 25 Siehe dazu den Beitrag von Heidrun Dierk in diesem Band und ihr Buch: Kirchengeschichte elementar. Entwurf einer Theorie des Umgangs mit geschichtlichen Traditionen im Religionsunterricht, Münster 2005.